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Full text of "Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse"

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BERICHTE 

ÜBER  DIE 

YERHANDLUNGEN 

DER  SÄCHSISCHEN 

GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN 

ZU  LEIPZIG 

PHILOLOGISCH-HLSTORISCHE  KLASSE. 

SIEBZIGSTER  BAND 
1918 


MIT    15   FIGUREN  IM   TEXT 


LEIPZIG 
BEI   B.  G.  TEUBNER 


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162 


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INHALT. 


Heft  Feite 

I    E.  Bethe,  Medea-Probleme ) —  22 

II     W.  H.  Röscher,    Der    Omphalosgedanke    bei   verschiedenen 

Völkern,  besonders  den  semitischen.  Mit  15  Figuren  im  Text  i  — 115 

III  A.  Köster,  Prolegomena  zu  einer  Ausgabe  der  Werke  Theo- 

dor Storms I —  73 

IV  R.  Heinz e,  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz i- —  91 

V     H.Zimmern,  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.  Zweiter  Beitrag  i—  52 

VI  K.  Brugmann,  Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  nach 
Maßgabe  der  seelischen  Grundfunktionen  in  den  indo- 
germanischen Sprachen i —  93 

Vn     A.  Körte,  Worte  zum  Gedächtnis  an  Rudolf  Hirzel    ....  3* — f^y 

G.  Seeliger,  Albert  Hauck I7»_30* 

V^erzeichnis  der  Mitglieder  der  Sächsischen  Gesellachaft  der 

Wissenschaften I 

Verzeichnis  der  eingegangenen  Schriften VP 

(^itzungsprotokolle l* — 2* 


Bericlite  über  die  Verhandlungen 
der  Konigl.  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-historisclie  Klasse 

70.  Band    1918     i.  Heft 


E.  Bethe 

Medea-Probleme 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1918 


/ 


Vorgetragen  tür  die  Berichte  am  4   Mai  19 18. 

D&a  Manuskript  eingeliefert  am  4.  Mai  19 J  8. 

Drucktertig  erklärt  am  30.  Juni  1918. 


Die  Unmöglichkeit,  zwei  Stelleu  der  Euripideisclien  Medea 
zu  verstehen,  haben  mich  zur  Überzeugung  geführt,  daß  daa 
Stück  nicht  ganz  nach  einheitlichem  Plane  ausgearbeitet  ist. 
Da  an  spätere  Überarbeitung  im  Ernst  nicht  zu  denken  ist  — 
die  Vermutung  stammt  aus  dem  unberechtigten  Verlangen, 
alle  Bruchstücke  der  Ennianischen  Medea  bei  Euripides  wieder- 
zufinden —  so  muß  der  Dichter  seinen  ursprünglichen  Ent- 
wurf während  der  Arbeit  geändert  haben. 

Mich  bekümmert  nicht  das  Bewußtsein,  wie  unwillkom- 
men und  verächtlich  modernen  Philologen  solche  "zersetzende 
Kritik'  ist. 

Heute  gilt  die  Losung:  das  Kunstwerk  als  Ganzes  künst- 
lerisch erfassen.  So  gewiß  das  richtig  und  gut  ist  —  von 
Verständigen  wurde  es  längst  still  betrieben  —  mit  pro- 
grammatischen Trompetenfanfaren  und  eigener  Anpreisung 
künstlerischer  Fähigkeiten,  mit  wahlloser  Begeisterung,  die 
triviale  Nachahmung  und  mühsam  Erquältes  ebenso  hoch  hält 
wie  das  Herrlichste,  mit  eilfertigem  Fleiße  alles  mit  ästheti- 
schem Schneckeuschleim  zu  verschmieren,  fördert  man  solche 
feinen  Aufgaben  nicht,  am  wenigsten  das  Verständnis  Homers. 
Doch  auch  seine  Kritiker  sind  heute  nur  gar  zu  geneigt,  ver- 
standesmäßige Einzelaiistöße  durch  Hinweise  auf  den  künst- 
lerischen Zweck  des  Ganzen  zu  beschönigen.  Nachdem  bald 
ein  Jahrhundert  lang  den  feineu  Vergil  die  Buben  gemeiatert 
und  grobe  Phiiologenhände  gemißhandelt  hatten,  war  es  not- 
wendig, ihm  wieder  Achtuno-  zu  schaffen  und  sein  Verständnis 
zu  erschließen.  Aber  nun  soU  auch  aUes  bei  ihm  im  Lote 
sein.  Ich  kann  nicht  finden,  daß  meine  Nachweise  (Rh.  Mu». 
XLVI,  XL VII  189 1/2),  die  Laokoonepisode  gehöre  nicht  zum 
ursprünglichen  Plane  des  zweiten  Aneisbuches  und  in  einigen 
Eklogeu  seien  zwei  nicht  zusammenpassende  Motive  vereinigt 


2  E.  Bethb:  [70, 1 

tlurc'li  IIkinzics  (Vergils  Epische  Technik)  iiiul  Leos  (Hermes 
XXXVIII  1903)  Vertei(li<2;iint;  an  zwinpfeMilci-  Knif't  verh)ren 
hätten.  Freilich  habe  ich  aber  auch  nie  behauj)tet,  (biü  die 
Gedichte  durch  diese  /wiespältif^^e  Entstehung  Schaden  ge- 
uommen  hätten.  Im  Gegenteil  hal)e  ich  ausdrücklich  hervor- 
gehoben [\\\\.  Mus,  Xli\'ll  590),  wie  stimmungsvoll  die  erste 
Ekloge  wirke,  trot/dem  sie  ein  l)is  in  alle  Voraussetzungen 
und  Einzelheiten  durchsichtiges  Bild  nicht  gebe,  sie  für  diesen 
ihren  Zweck  also  solcher  Klarheiti  gar  nicl^t  bedürfe.  Zum 
vollen  Verständnis  aber  des  Gedichtes  führt  m.  E.  nur  eine 
Analyse,  wie  ich  sie  vorgelegt.  Zugleich  kann  allein  diese 
Methode  bei  antiken  Schriftstellern  Einblick  in  das  Werden 
ihrer  Werke  geben,  um  das  man  sich  auch  bei  bescheideneren 
neueren  Dichtern  durch  Aufstöbern  ihrer  Entwürfe  und  Tage- 
bücher so  heiß  bemüht. 

Die  Aufhellung  der  Entstehungsgeschichte  der  Medea  ist 
ein  Ergebnis  der  vorliegenden  Arbeit,  aber  es  war  nicht  ihr 
Ziel,  sondern  ausgegangen  ist  sie  von  der  Interpretation.  Ihr 
Mißlingen  führte  mich  auf  die  Gründe  und  sie  zu  weiteren 
Schlüssen. 

I 

In  der  Euripideischen  Medea  beginnt  die  Heldin,  nach- 
dem sie  soeben  von  Kreon  mit  ihren  Kindern  des  Landes 
verwiesen  sich  die  Erlaubnis  errungen  hat,  bis  Sonnenunter- 
gang zu  bleiben,  ihren  Racheplänen  feste  Gestalt   zu  suchen. 

Dies  Bewußtsein,  wie  knapp  die  Stunden  sind,  die  ihr 
zur  Verfügung  stehen,  spornt  sie  aus  dumpfem  I^achebrüten 
und  ziellos  wilden  Verwünschungen  zur  Tat.  Die  Sicherheit, 
die  ihr  durch  die  gutmütige  Torheit  Kreons  für  diese  Zeit 
gewährt  ist,  gibt  ihr  die  Zuversicht,  daß  sie  sie  ausführen 
wird  (371 — 5).  Sie  erwägt,  welchen  von  den  vielen  ihr  offenen 
Mordwegen  sie  gehen  soll.  Da  verstehe  ich  die  Verse  386 — 394 
nicht. 

Vortrefflich  läßt  Euripides  zunächst  ihre  wilde  Leiden- 
schaft  sie  zu  handgreiflicher  Gewalttat  drängen.    Den  Palast 


70. 1 1  Medea-Probleme.  3 

will   sie    anzündeu,    der   Nebenbuhlerin    auf   dem    Brautbette 
das  Schwert  ins  Herz  stoßen. 

Doch  diesen  in  erster  Aufwallung  jäh  vorgestoßenen 
Worten  folgt  alsbald  stilles  und  ernüchtertes  Besinnen:  'schon 
bei  der  Annäherung  könnte  ich  ertappt  werden,  mein  Tod 
wäre  sicher  und  meine  Feinde  würden  höhnend  triumphieren. 
Am  besten  ist  mein  eigenster  Weg,  für  mich  der  grade: 
durch  Gift  will  ich  sie  morden.' 

Da  bricht  ^ie  ab.  Plötzlich  stellt  sie  die  Tat  als  ge- 
schehen hin,  ehe  sie  auch  nur  mit  einem  Worte  erwogen 
hat,  wie  sie  auszuführen  sei,  ob  sie  gelingen  könne.  'So  sind 
sie  denn  tot;  aber  keine  Zuflucht  habe  ich  vor  den  Rächern. 
Warte  ich  noch  eine  kleine  Weile  und  zeigt  sich  mir  dann 
ein  sicherer  Turm,  dann  will  ich 's  heimlich  listig  tun;  treibt 
mich  jedoch  unweigerlich  das  Unglück  hinaus,  so  will  ich 
sie  tollkühn  mit  dem  Schwerte  töten,  auch  wenn  ich  dabei 
sterben  soll.' 

Ich  stutze  zunächst  bei  ihrem  Worte  389  (isCvaö'  ovv 
6Ti  G^iXQOV  iQOvov  rjv  iiBV  Ttg  r^fttv  TtvQyog  KöcpaXijg  (pccvri,  öoXa 
lieteißi  tövds  ital  6iyfi  (p6vov.  Das  ist  das  Gegenteil  von  allem 
was  wir  erwarten  dürfen,  was  wir,  vom  Dichter  geleitet,  er- 
warten müssen.  Mit  feiner  Kunst  hat  er  Medea  aus  ihrer 
dumpfen  Schmerzversunkenheit  aufgepeitscht  durch  Kreons 
Befehl,  sofort  Haus  und  Land  zu  verlassen:  das  gibt  ihr 
rasch  ihre  Spannkraft  wieder.  Ohne  Besinnen  packt  sie  die 
Gelegenheit  der  Zwiesprache  mit  dem  aufgeregten  Schwäch- 
ling, der  unter  polternder  Energie  (27 ijff.,  352 ff.)  vergeblich 
seine  angeborene  dumme  Gutmütigkeit  zu  verbergen  sich  müht, 
und  lockt  ihm  Aufschub  um  wenige  Stunden  ab.  Doch  kaum 
ist  er  gegangen,  da  nutzt  sie  die  kostbare  mit  schwer  abge- 
rungener Demut  erkaufte  Spanne  Zeit  zu  Mordplänen,  die 
einander  überstürzen.  Schon  war  sie  auf  ihrem  'geraden  Weg' 
(385)  listigen  Giftmordes  —  da  soll  sie  plötzlich  warten? 
Worauf  warten?  Was  kann  ihr  auch  nur  die  leiseste  Hoff- 
nung geben,  daß  sich  ihr,  der  Verlassenen,  in  der  feindlichen 
Fremde  eine  Zuflucht  auftun  werde,  ehe  der  Tag  sinkt? 


^  E.  Hi'.iiir.:  |7(),  i 

Dies  Wiirtcu,  unvcrständlicli  an  :'i('li,  läuft  der  klaron 
kihistlerisi'hen  Linicnlilhriiiii:;   dos  DiolittTw   stracks   entzogen. 

Uoch  Jioili  nirlir:  Pfr  (icdiuike.  dou  sie  nun  39oflf.  ixus- 
ajiriclit,  ist  nur  sprachlii-li  Ivlar:  'ErölTnet  sich  eine  M()L,^licli- 
koit,  mich  in  Sicherheit  zu  bringen,  so  will  icli  meine  Zanher- 
künste  üben;  wenn  nicht,  setze  ich  auch  mein  Leben  aufs 
Spiel.'  Unverständlich  ist  auch  er.  Warum  will  sieden  sicheren 
Weg  der  Hinterlist,  ihr  gewiesen  durch  ihre  Art  und  Kunst, 
verschmähen,  falls  ihr  keine  Zuflucht  winkt,  um  den  gefähr- 
licheren, wahrscheinlich  aussichtslosen  einzuschlagen?  Sie  hut 
ja  doch  eben  (383)  die  offene  Gewalttat  doshalb  verworfen, 
weil  sie  vielleicht  schon  auf  der  Schwelle  des  Palastes  ge- 
packt, nicht  bis  an  ihre  Nebenbuhlerin,  geschweige  an  alle 
ihre  Feinde  herankommen  würde.  Dagegen  hat  sie  kein 
Mittel,  und  das  Entsetzen  vor  der  Möglichkeit,  statt  ihre 
Hache  zu  kühlen,  ihren  Feinden  billigen  Triumph  zu  ver- 
schaffen, sollte  die  unheimlich  kluge,  leidenschaftliche  Frau 
doch  jetzt  mit  derselben  Wucht  packen  wie  vorher.  Aber 
nichts  davon.  Als  wäre  plötzlich  ihr  die  Sicherheit  des  Ge- 
lingens der  tollkühnen  Tat  gegeben,  fährt  sie  395  fort:  'denn 
bei  meiner  Herrin  Helferin.  Hekate  Niemand  soll  es  gut  be- 
kommen, mein  Herz  zu  kränken.'  Was  begründet  sie  unter 
Anrufung  der  Hekate?     Die  offene  Gewalttat! 

y.xEva  6(f£,  r6X^i]g  ö'h^l  TCQog   ro   yMQTigov. 
395  Ol'  yaQ  ^u  trjv  dsönoLvav,  r^v  iyco  Geßoo 
^uccXiöra  TcdvTOV  zccl  ^vvsQybv  sD.ö^rjv^ 
'Exdzrjv  ^iv%otg  valovöav  eörCag  f,u^^, 
Xcdgav  rig  avrav  rov^bv  dXyvvsi  z£aQ. 
Das  ist  widersinnig.    Nicht  das  Schwert  drückt  ihr  He- 
kate in  die  Hand,  zur  Tücke  Gift  und  Zauberei  hilft  sie  ihr, 
auf  ihrem  'graden  Wege'  ist  sie  ihr  Fükrerin.     Und  das  ist 
denn    auch    der  Gedanke   des  Folgenden.     An   List   und    Gift 
denkt  sie  doch  allein,  nicht  ans  Schwert,  wenn  sie  401   sagt: 
dXX^   slu.  (pddov  nr/öhv  cov  i^mtörcidai, 
Mr]d£ia,  ßovXsvovöa  xal  TSXvcofiEvrj. 


70,  i]  Medea-Puobli^me.  5 

Zwischen  394  und  395  zerreißt  der  Zusammenhang  und 
die  ganze  Versreihe  389 — 393  ist  aus  dem  Gedankengange 
dieser  Rede  und  zum  Teil  aus  der  Situation  heraus  nicht  ver- 
ständlich. Mit  ihnen  gehören  386 — 388  untrennbar  zusam- 
men. Sie  fallen  mit  ihnen.  Und  siehe  da,  jeder  Anstoß  ist 
gehoben,  tadellos  fließen  nach  Aussonderung  von  386 — 394 
Rede  und  Gedanken.  Die  tollkühne  GcAvalttat,  ihr  zuerst  von 
der  Leidenschaft  eingegeben,  hat  sie  383  verworfen,  ihren 
eigentlichen  Weg  hat  sie  384/5  gefunden  q^aQ^axotg  avtovg 
iXtlv.  Dazu  paßt  die  Begründung  395  und  der  Schluß  der 
Rede:  'bei  meiner  Göttin  und  Helferin  Hekate  Niemand  soll 
mich  ungestraft  beleidigen,  ich  werde  ihnen  eine  bittere  Hoch- 
zeit bereiten-  Wohlan,  Medea,  übe  nun  deine  Listen  und 
Künste.' 

So  hatte  Euripides  diese  Medearede  zuerst  ge- 
schrieben ohne  die  Verse  386 — 394.  Und  doch  kann 
kein  Zweifel  sein,  auch  ihre  uns  überlieferte  Fassung  stammt 
von  Euripides.  Nur  er  konnte  Verse  von  solcher  drama- 
tischen Kraft,  Prachtstellen  für  den  Schauspieler  schreiben 
wie  3S6ff. 

dsv  nal  dij  re&väöL'  ri'g  ^s  de^stai  :i6Xig] 
Und  wie  ihr  Stil,  so  zeugt  der  Aufbau  der  Tragödie  für 
ihre  Echtheit.  Sie  bereiten  die  Aigeusszene  vor.  Seit  Aristo- 
teles (Poet.  1461  B  22)  und  gewiß  schon  vor  ihm  getadelt, 
wirkt  sie  immer  wieder  auf  den  kühlen  Leser  wie  auf  den 
begeisterten  Verehrer  wie  'ein  Guß  kalten  Wassers'.  Es  ist 
eine  Erlösung:  Euripides  hatte  seine  Medea  ursprüng- 
lich ohne  die  Aigeusszene  geplant,  erst  nachträglich 
hat  er  sie  eingefügt,  und,  um  sie  wenigstens  einiger- 
maßen zu  verbinden,  hat  er  386 — 394  eingelegt,  mit  starker 
Bühnenwirkung  aber  —  wie  das  zu  gehen  pflegt  —  nicht, 
ohne  Sinn  und  Zusammenhang  der  Rede  empfindlich  zu 
stören. 

Die  Aigeusszene,  ein  kümmerliches  Stück  Poesie,  trägt 
selbst,  wie  viele  gefühlt,  deutliche  Anzeichen  der  so  erwie- 
senen späteren  Einarbeitung.    Aigeus  kommt  hereingeschneit, 


6  E.  Betiie:  [70,  ' 

80   uuinotiviort    wie  wohl    nioiunls   oiiie  IVtsuii    in  ^\ns  orluil- 
tenen  Tragiulieu.    Er  brgrüßt  die  Mcdea,  uls  wäre  es  eelb.st- 
veistäiullicli,    lUiß    er    sie    iu    Koriuth    träfe,    und    mit    einer 
Herzlichkeit  tut  er  es  —  aucli  sie  erwidert  sie  —     die  weder 
in  dieser  Gelegenheit  ihres  Zusammentreflens  Erklärung  findet, 
noch  durch  alte  Freundschaft  motiviert  ist;  auch  die  Athener 
wußten  431    nichts  davon,  daß  die  beiden  in  alter  Beziehung 
gestanden  hätten.   An  den  Ilaaren  herbeigezogen  ist  das  Motiv 
zur  jetzigen   Reise  des  Aigeus    nach  Trözen   —    um   Pittheus 
das  Orakel    mitzuteilen,   das    ihn  doch   auf  geradestem  Wege 
nach  Hause  zu  eilen  hätte  veranlassen  sollen!   —   nur  damit 
er   Medea   in   Korinth   begegnen   kann.     Ebenso   oberHächlich 
Avindet  sich  der  Dichter  aus  der  aufklaffenden  Schwierigkeit, 
daß    Aigeus,    den    er    als    hilfsbereiten    Kavalier    hinstellen 
wiU,  Medea,  die  seinen  Schutz  so  dringend  augerufen,  nicht 
o-leicli  mitnimmt:  könnte  er  doch  nur  so  ihr  und  ihren  Kin- 
dern  wirklich  Sicherheit  geben:  'ich  wiU  mir  auch  von  Frem- 
den   keine   Schuld    vorwerfen   lassen  (730),    deshalb    sieh   du 
selber    zu,    wie    du    nach   Athen    kommst.'    Ein    sonderbarer 
Kitter  und  ein  wunderlicher  Logiker.    Kreon  hat  Medea  aus- 
gewiesen, nur  wider  Willen  ihr  noch  wenige  Stunden  Frist  ge- 
geben.   Jason  wiU  sie  los  sein.    Beide  würden  nur  mit  Freude 
die   Reisegelegenheit    begrüßen,    die    Aigeus    ihr    anzubieten 
die  Ritterpfliclit  hat.    Nein,  Anfang  wie  Schluß   der  Aigeus- 
szene  sind  wenn  überhaupt,  so  nur  dann  entschuldbar,  wenn  das 
Stück  schon  im  Entwurf  fertig  war  und  diese  Szene  noch  in 
den  vollendeten  Plan  ohne  Aufwand  an  Kunst  und  Liebe  ein- 
geschoben wurde. 

Es  kann  im  Ernst  nicht  behauptet  Averden,  daß  die 
Aigeusszene  für  die  dramatische  Entwicklung  notwendig  wäre. 
Medea  braucht  keine  Zuflucht.  rC  ös  ^iol  trjv  m  xigdog, 
(f£v  (p€v  d^avdtoj  y.arulv6aC^av  ßioxäv  (jtvysgäv  itQoXiiiovöa 
ruft  sie  schon  im  Anfang  (145),  ti  ftot  If^v  xtQÖog-,  wieder- 
holt sie  798,  als  sie  die  Vergiftung  der  Braut  und  den  Kinder- 
mord plant.  Und  das,  obgleich  uns  eben  noch  der  Dichter 
vorgeführt  hat,  wie  sie  von  dem  nur  zu  diesem  Zwecke  her- 


70,  i]  Medea-Probleme.  "  7 

beigeführten  Aigens   sieb   eine    sicbere  Zuflucbt  und  Zukunft 
erbettelt  bat.^) 

Wozu  das,  wenn  ibr  am  Leben  nichts  mehr  li^gt?  Das 
stimmt  beides  nicht  zusammen.  Die  verzweifelte  Äußerung 
des  Lebensüberdrusses  würde  durch  die  unglückliche  Aigeus- 
szene  sogar  in  den  Verdacht  leerer  Phrase  kommen,  wenn  die 
Kunst  des  Dichters  seiner  Heldin  nicht  eine  leidenschaftliche 
Tiefe  der  Liebe  und  des  Hasses  eingegeben  hätte,  die  uns 
überzeust,  daß  der  Vulkan  ihres  Herzens  ausgebrannt  ist, 
wenn  sie  ihre  Rache  um  den  Preis  ihrer  Kinder  erkauft  hat. 
Ihr  Leben  ist  zu  Ende.  Nur  mit  dem  Leibe  lebt  sie  fort.^) 
Der  Zuschauer  nimmt  an  ihrem  ferneren  Schicksal  nicht  mehr 
Anteil.  Jedenfalls  nicht  der  Zuschauer,  den  sich  Euripides 
und  jeder  Künstler  wünscht,  ein  Zuschauer,  der  seinen  künst- 
lerischen Absichten  zu  folgen  vermag,  der  mit  des  Dichters 
Geschöpfen  lebt  und  fühlt  und  stirbt.  Ein  solcher  wünscht 
mit  Medea,  daß  ihre  Rache  gelinge,  daß  sie  nicht  vor  der 
Ausführung  ertappt  und  getötet  werde  —  das  wäre  ihm  so 
unerträglich  wie  ihr  (381)  —  ob  sie  aber  zu  Aigeus  oder 
sonstwohin  fliehen  wird,  ist  ihm  ganz  gleichgültig,  nur  daß 
sie  überhaupt  entkomme,  ist  sein  Wunsch.  Und  daß  dies 
gelinge,  davon  überzeugt  ihn  ihre  Zauberkunst  und  schließ- 
lich sinnfällig  der  Helioswagen,  über  den  sie  verfügt. 


i)  Nach  kurzem  Jnbel,  jetzt  habe  sie  in  Asien  einen  Hafen  für 
ihre  Pläne,  enthüllt  sie  sie  dem  Chor.  Aber  die  ihr  von  Aigeus  ge- 
botene Sicherheit  spielt  nicht  herein.  Sie  erwähnt  sie  nicht  nur  nicht, 
sie  sagt  sogar  ausdrücklich  (798):  'ich  habe  nicht  Heimat,  nicht  Vater- 
haus, nicht  Zuflucht.'  Denn  so  ist  anoGXQOfpx]  y.civ.&v  zweifellos  zu  er- 
klären. Die  Interpretation  'es  gibt  kein  Ausweichen  mehr  vor  dem 
Verbrechen'  paßt  nicht  zu  ovxs  (loi  Tcut^lg  ovx  olv.og  %6xiv.  Die  Paral- 
lelstelle 258  zeigt  es  deutlich: 

ov  (irix^Qi',  oi)x  ccS(Xq}6v,  ovjjt  avyyBvi) 
^s9oQ(ii(}a6d-aL  xfjöS'   ^jjoi'ffa  av^(poQäg 

2)  Euripides  hat  das  angedeutet,  aber  durch  Medeas  Haß  und 
Triumph  (1362)  beeinträchtigt.  Grillparzer  hat  es  tief  empfunden  und 
ihm  in  seiner  Schlußszene  erschütternden  Ausdruck  verliehen. 


8  •  E.  Rktiii;:  [70,  i 

Nicht  von  alliMi  wiril  die  Eutbebrlichkeit  der  Aijjjeus- 
szene  zngostaiulou.  AudtTc  hestreiteu  sie.  Wioilcr  iuul(Me 
geben  sie  zu,  hoben  ubor  doch  hervor,  daß  sie  wesentlich  sei 
für  Medons  l*liine  und  den  Kindermord,  din  in  der  Tut  uu- 
niittellmr  naoli  ihr  und  ph'Uzlicli  f(M-ti^^  ])is  in  die  Kiii/clheiton 
von  ihr  mitgotoilt  werden.  Am  weitesten  ist  v.  AkiNIM  ge- 
gan<:jon  (Eiuleituu«,'  .•meiner  Ausgabe  ö.  XIX)  mit  der  Behaup- 
tnn«T.  daß  erst  durch  das  Gespräch  mit  dem  kinderlosen  und 
von  Sehnsucht  nach  Kindersegen  erfüllten  Aigeus  'die  Keime 
zu  dem  Gedanken  des  Kindermordes  in  Medeas  Seele  gelegt 
würden'.  Er  gesteht  freilieh,  daß  der  Dichter  diese  Motivie- 
rung nicht  deutlich  herausgearbeitet  habe.  Nein,  das  hat  er 
gewiß  nicht  getan,  er  hat  sie  nicht  einmal  leise  angedeutet, 
weder  während  ihres  Gesprächs  mit  ihm,  noch  nachher.  Mit 
771  ist  die  Aigeusepisode  vollkommen  abgeschlossen,  auch 
für  Medea. 

Was  sie  mit  Schlangenklugheit  eben  von  ihm  erreicht 
hat,  und  was  sie  laut  bejubelt,  die  sichere  Zuflucht  in  Athen, 
das  bildet  in  ihrer  Rechnung  keinen  Posten.  Das  muß  doch 
auffallen.  Noch  auffallender  ist  für  den,  der  ihr  nachrechnet  — 
und  das  ist  gewiß  berechtigt  dieser  ebenso  kühl  erwägenden 
wie  leidenschaftlich  hassenden  Verbrecherin  gegenüber  —  daß 
sie  der  heiß  begehrten  (390)  und  glücklich  errungeneu  Zu- 
flucht nicht  ernstlich  gedenkt,  als  sie  von  Mutterliebe  über- 
wältigt erwäcrt,  ob  sie  ihre  Kinder  nicht  retten  könne  10450"., 
und  gerade  hier  liegt  wieder  ein  Interpretationsproblem. 

II 

Trotz  der  Versicherung  bester  Euripideskenner,  Medeas 
große  Rede  1020 — 1080,  die  ihren  Seelenkampf  spiegelt,  sei 
tadellos,  und  gerade  in  ihrem  Hin  und  Her  meisterliche 
Poesie,  muß  ich  gesteben,  ich  verstehe  sie  trotz  Erklärungen 
und  Paraphrasen  und  Übersetzung  nicht  in  allen  Teilen,  so 
lebhaft  auch  ich  empfinde,  wie  der  Dichter  die  Zerrissenheit 
dieser  wilden  Seele  durch  zerrissene  Rede  anschaulich  zu 
machen  sich  bemüht. 


V 

70,  i]  Medea-Probleme.  9 

1057  ^fj  ^-^Tcc,  ■9-Vfta,  ^i]  6v  y    eQyaörj  rud?. 

sa6ov  avTovg,  a  rdlmf,  (pEl6ai  rtxvav. 

ixsl  fied'   rifiäv  ^avrsg  svcpQavovai  6s. 

[iä  tovs  ^0^9    JiÖ7j  vsQtEQOvs  aldötogas 
1060  ovtoi  nox    Eörcci  rovO-'  oTCcog  syßQOig  iya 

Ttatdag  7taQy](3(o  touj  e^iovg  nad-vß^iöcci. 
1064  Ttccvtag  TCBTCQaxTKi  tavta  xovk  ixcpsvistcci. 

xccl  öl)  'nl  XQKÜ  öxicpavog,  iv  TrsTtloiöi  ds 

vvncpi]  rvoavvog  blhnai,  öarp  otd'  sya. 
G.  Hermann  hat  den  Finger  auf  die  wunde  Stelle  ge- 
legt: 1058  ist  in  diesem  Zusammenhange  unmöglich,  so  ver- 
ständlich es  an  sich  ist,  daß  die  Mutter  mit  der  Vorstellung 
spielt,  sie  werde  ihre  Kinder  mit  sich  wegführen  —  a^o 
xaldag  ix  yaCag  iiiovg  (1045)  und  'dort'  werden  sie  glück- 
lich mit  ihnen  leben.  Denn  entweder  —  so  faßte  G.  Hermann 
und  seine  Nachfolger  die  Stelle  —  muß  man  1059 — 61  mit 
1064 ff.  zusammennehmen  und  erklären:  'ich  kann  und  will 
meine  Kinder  nicht  der  Rache  der  Korinther  überlassen,  die 
unweigerlich  sie  treffen  wird,  da  schon  die  Prinzessin  in  dem 
von  ihnen  überbrachten  Schmucke  brennt',  oder  1059 — 61 
werden  mit  1058  verbunden  und  ergeben:  'dort  draußen  werde 
ich  meiner  Kinder  mich  freuen,  denn  mit  mir  muß  ich  sie 
nehmen,  da  sie  hier  der  Rache  der  Korinther  verfallen  wären' 
Im  ersten  Falle  reißt  der  Zusammenhang  hinter  1058  ab,  im 
zweiten  mit  1061.  Aber  mag  man  auch  mit  G.  Hermann  und 
andern  durch  kühne  Änderungen  den  Sinn  des  untadeligen 
Verses  verkehren  oder  annehmen,  daß  nach  1061  durch  große 
Pause  und  stumme  Gebärde  der  Schauspieler  kenntlich  machen 
sollte,  Medea  reiße  plötzlich  sich  von  diesem  Gedanken  los 
und  mache  sich  klar,  es  sei  zu  spät  —  die  Schwierigkeit  liegt 
tiefer,  sie  ist  nicht  durch  kleine  Mittel  zu  heben.  Sie  liegt  in  der 
Zwiespältigkeit  der  Begründung  des  Kindermordes. 
Durch  das  ganze  Stück  geht  sie  hindurch,  an  dieser  Stelle 
wird  sie  greifbar.  Hat  Medea  keine  Möglichkeit,  die  Kinder 
zu  retten,  so  ist  erstaunlich,  daß  diese  auch  in  heißester  Leiden- 
schaft kühle  Rechnerin  die  Rettung  nicht  nur  erwägt,  sogar 


lo  E.  l^r.Tiu;:  [70,  i 

beschließt  1040—1048  und  nocli  einmal   1056 — 1058.     Noch 
viel   erstaunlicher   nber   ist,    daß    sie    diesen    Gedanken    nicht 
wcj^en  seiner  Unmöglichkeit  aufgibt,  sondern  aus  Hacbsucht: 
1049  xniToi   ri   Ttädio)]  ßovXofua  y^hor    6(fXfiv 

roXinjt'ov  rdÖs. 
Sieht  sie  aber  einen  Ausweg,  auf  dem  sie  auch  ihre  Kinder 
mit  sich  Avegführen  kann  in  Sicherheit,  so  muß  man  doch 
fragen,  warum  tut  sie's  nicht.  Sie  hat  ihn  aber  wirklieh. 
Zweifellos  kann  die  von  Aigeus  erbetene  Zuflucht  ihren  Kin- 
dern so  gut  wie  ihr  selbst  Sicherheit  geben.  Und  die  Zauber- 
kundige würde  sie  auch  lebendig  entrücken  können,  wie  sie 
ihre  Leichen  mit  sich  nimmt.  Ist  es  doch  verkehrt  zu  be- 
haupten und  nichts  gibt  Berechtigung  dazu,  daß  Helios  ihr 
seinen  Wagen  erst  in  äußerster  Not  überraschend  gesandt 
habe.  Sie  weiß  ja  doch  schon,  daß  ihr  ein  übernatürliches 
Mittel  zur  sicheren  Flucht  zu  Gebote  steht,  als  sie  Aigeus 
an  lieht,  und  dieser  ihr  die  Bedingung  stellt,  sie  solle  selber 
zusehen,  wie  sie  zu  ihm  komme;  sonst  hätte  ja  die  Szene 
keinen  Sinn,  Der  Dichter  hat  das  deutlich  genug  gemacht. 
Warum  läßt  er  nun  seine  Medea  diesen  nächstlietjenden  Ge- 
danken  nicht  wenigstens  verfolgen,  als  sie  U7iter  den  Augen 
ihrer  Kinder  schwach  wird?  Warum  nicht  schon  fassen,  als 
sie,  der  athenischen  Zuflucht  sicher,  ihre  Rachepläne  entwirft? 
Die  Antwort  ist  sehr  einfach:  weil  diese  Gedanken  zu 
Ende  gedacht  Medea  vom  Kindermorde  abbringen 
mußten.  Was  Medea  will,  hätte  sie  durch  Wegführung  der 
Kinder  ebenso  sicher,  für  sich  selbst  aber  ganz  ohne  Schmerz 
erreicht:  Jason  hätte  Braut  und  Söhne  auf  ewig  verloren. 
Denn  dafür  hätte  die  Listige  und  Furchtbare  gewiß  zu  sorgen 
gewußt,  daß  diese  niemals  ihren  Vater  zu  suchen  gegangen 
wären. 

Solche  Lösung  war  für  Euripides  in  jedem  Sinne  un- 
denkbar. Medea  zur  Kindermörderin  zu  machen,  das  war  der 
geniale  Gedanke,  der  diese  unerhörte  Tragödie  gezeugt  hat. 
Seine  Entstehung  liegt  dank  der  Mitteilung  der  älteren  Sagen- 


70,  i]  Mrdea-Probleme.  ii 

formen  durch  Parmeniskos  und  Didymos  (Schol.  Med.  264) 
klar  vor  Augen:  Die  Korintlier  sollten  Medeas  Kinder  ge- 
tötet haben.  Das  war  der  Ausgangspunkt  für  Euripides,  und 
deutlich  ist  er  noch  wahrnehmbar:  1060  peitscht  sie  sich 
zum  Kindermorde  auf  mit  der  Vorstellung,  dieKorinther  würden 
ihre  Söhne  mißhandeln,  und  noch  einmal  1238  'sogleich  muß 
ich  jetzt  fliehen  und  meine  Kinder  umbringen,  um  sie  nicht 
einer  feindlichen  Hand  auszuliefern;  sterben  müssen  sie,  so 
soUen  sie's  durch  die  Mutterhand.' ^)  Nun  gilt  es  für  Euri- 
pides,  einen  Grund  für  die  Wut  der  Korinther  gegen  die 
Medeakinder  zu  ersinnen.  Den  fand  der  Dichter  zugleich  mit 
der  hinterlistigen  Rache  Medeas  an  der  Nebenbuhlerin:  er 
ließ  die  Fürchterliche  ihre  Kinder  als  Werkzeug  ihrer  Rache 
benutzen,  gleichgültig,  ob  sie  sie  damit  dem  Tode  weihte. 
Als  Überbringer  der  vergifteten  Zauberkleider  —  und  durch 
die  Kinder  konnte  sie  sie  mit  Sicherheit  der  Prinzessin  in 
die  Hände  spielen  —  waren  sie  der  Wut  der  Korinther  ver- 
fallen. Sie  vor  diesem  Schrecklichen  zu  bewahren,  entschließt 
sich  Medea  selbst,  das  eigene  Blut  zu  morden.^) 


i)  M.  Breithaupt,  De  Parmenisco  grammatico  (Heidelberg.  Diss. 
1915  =  6011  GtoLxitcc  IV)  25:  Weil  nach  allen  Zeugen  Medea  nur  zwei 
Kinder  gehabt,  sei  Parmeniskos'  Behauptung,  daß  Medeas  14  Kinder 
von  den  Korinthern  ermordet  seien,  eine  leichtfertige  Fiktion,  er  habe 
die  14  Opferkinder  der  Korinther  zu  Medeas  Kindern  gemacht.  Als 
ob  jemals  in  der  Sage  es  auf  die  Kinderzahl  ankomme.  So  kann  man 
ein  Zeugnis  nicht  diskreditieren.  An  sich  als  voreuripideische  Version 
glaublich,  wird  es  wie  durch  die  Kreophylosnotiz  (Schob  Med.  264)  so 
durch  Euripides  selbst  bekräftigt,  der  ursprünglich  Medeas  Kindermord 
mit  ihrer  Angst  vor  den  Korinthern  begründet  hatte,  was  Breithadpt 
ganz  übersieht. 

2)  Die  von  Didymos  Schob  Med.  264  gegebene  Version  des  un- 
bestimmbaren Kreophylos  legt  die  Entwicklung  des  Euripideischen  Ent- 
wurfs noch  näher:  da  flieht  sie  nach  Ermordung  Kreons,  ihre  Kinder 
auf  dem  Altar  der  Hera  zurücklassend,  die  nun  von  den  Korinthern 
getötet  werden.  So  ist  die  Version  als  Vorstufe  der  Euripideischen 
Dichtung  durchaus  glaublich.  Daß  sie  wirklich  dem  Euripides  vor- 
gelegen hat,  schließe  ich  daraus,  daß  auch  er  den  Kreon  Medeas  List 
erliegen  läßt:  sein  Tod  ergab  sich  aus  ihrem  Plane  nicht   notwendig, 


1  j  E.  Ukiiik:  [70,  1 

Das  war  ilcr  uvs|)iüii<^fliclu'  Eiitwuif  für  die  Tragödie, 
ans  der  gegebenen  Sage  nnd  dem  Gedanken,  Mcdea  statt  der 
Korinther  zur  Mörderin  der  Kinder  zu  machen,  folgerecht 
entwickelt,  und  er  war  des  Dichtere  würdig.  Eine  jjackende 
Aufirahe,  die  Leidenschaft  eines  Weihes  wahrscheinlich  zu 
machon,  die  sogar  die  eigenen  Kinder  rüclisiclitslos  in  hliiider 
W'u\  als  Werkzeug  benutzt. 

Wenn  er  schließlich  Medea  entkommen  und  die  Kinder- 
leichen ins  Heiligtum  der  Hera  bringen  lassen  mußte  —  die 
Sage  und  die  Anlage  seines  Stückes  zwangen  gleichermaßen 
dazu  —  so  konnte  er  das  kaum  anders  als  durch  ein  Wimdor 
bewerkstelligen.  Daß  er  dadurch  aber  auch  eine  MCtglichkeit 
ihrer  Rettung  erölhiete,  wird  ihm  schwerlich  Sorgen  geschahen 
haben,  Avie  er  diesen  Schluß  sogar  für  die  letzte  P^assuug  un- 
bedenklich beibehalten  hat,  obgleich  er  nach  Einfügung  der 
Aigeusszeue  noch  weniger  ]\ißtc,  durch  die  auch  den  Kindern 
Zuflucht  und  Sicherheit  gegeben  wurde.  Die  Einführung  des 
Aigeus  erst  hat  ihm  den  Plan  verrückt  und  ihn  zur  Erkenntnis 
gebracht,  daß  er  der  zwingenden  Folgerichtigkeit  entbehre. 
Und  so  hat  er  denn  ein  zweites  Motiv  für  den  Kindermord 
eingeführt:  sie  will  durch  ihn  ihren  Gatten  strafen.  Es 
ist  bezeichnend,  daß  dieser  Gedanke  zuerst  und  am  schärfsten 
unmittelbar  nach  der  Aigeusszene  von  ihr  ausgesprochen  wird: 
817   ovra  yuQ  av  fidltöra  öriyßdri  n66iq. 


er  wird  uur  durch  Zufall  herbeigefübrt..  Offenbarer  Zusatz  aber  ist 
der  Schluß:  rohi  dt  Kgiovrog  oh.tiovg  ciTtov.tsivavtag  uhtovg  [f)iu!^ovvui 
Xoyov  6zi,  T)  Mriiiiici  ov  yiövov  xov  Kgiovra  kVi-ii  v.u\  xovg  iuvirß  nc/Jdui 
dcitintiivf.]  Und  Zusatz  aus  Euripides  ist  auch  Athen  als  Ziel  der 
Flucht  Medea3:  öeiaacav  6h  tovs  cpD.ovg  Kcd  roiig  oUaiovg  avtov  (sc. 
KgioPTog)  cpvystv  [ilg  'A&ijvag],  rovg  dh  viovg,  (tibI  vBmrsQoi  övtsg  ovy. 
i]Svva.vxo  uv.oXov%ih\  inl  rbv  ßo^iibv  TTjg  'Axgcdag  'Hga.g  v.uQ'iccii.  Die 
Parallelüberlieferung  in  Apollodor,  Bibl.  J,  9,  28,  3  bestätigt  beides: 
XiytTui  6h  v.ul  ort  qievyovoa  rovg  ■7tat8ccg  §'ti  vr]niovg  övr^g  xuriXintv 
ixirug  y.ux^iaccaa  inl  rbv  ßay.bv  Tfjg  Hgag  ri)?  'AKQaiag,  KoQiv&ioi  dh 
aizoi'a  äiuat'^aavxBg  y.axtxgav^dxiaav.  Meine  Analyse  hat  durch  den 
!Nachweii«,  daß  die  Aigeusszeue  erst  nachgetragen  ist,  bewiesen,  daß 
Euripides  zuerst  es  war,  der  Medea  nach  Ahten  hat  fliehen  lassen. 


70,  i]  Medea-Probleme.  i  3 

Vgl.   794:  döi-iov  TS  Ttdvta  övy^ead'  ^läaovos 

e'|ft,ut  yaüig^  quXtärcov  naCöav  cp6vov 
(pEvyovöa  xal  xMö'   sgyov  dvoöLaturov. 
Die  Schlußszene   ist  davon   erfüllt   und   1370  wiederholt  sie's 
dem  Jason: 

ol'ö'   ovKtt    sißC.  rovto  yaQ  öa  dT^^stai. 
Aber  gerade  da,  wo  mau  diesen  entscheidenden  Gedanken  vor 
allem  erwarten  sollte,  als  sie  zur  Tat  schreitet   i236flf.,    wird 
nicht  nur  mit  keinem  Worte   auf  ihn  hingedeutet,    es   wird 
sogar  ausschließlich  als  treibendes  Motiv  zum  Morde  die  Angst 
ausgesprochen,  daß  ihre  Kinder  von  den  Korinthern  zu  Tode 
gefoltert  werden  würden,  und  daraus  die  zwingende  Notwen- 
digkeit gefolgert,  sie  selbst  zu  töten.    Und  selbst  beim  Ringen 
der  Mutterliebe  mit  der  Rachsucht   1040 ff.    entsclieidet  nicht 
das  Verlangen,  Jason  im  Tiefsten  durch  den  Tod  der  Kinder 
zu  treffen.    Deutlich  wird  das  nur  einmal  nebenher  erwähnt: 
1046  TL  ösl  ^s  7tat8Qu  rävde  rolg  rovrav  xccKolg 
Xxmovöuv  avtijv  ö\g  rööa  atäö&ca  xay.d. 
Aber  als  sie  zum  Entschluß  zurückzufinden  sich  müht,  nennt 
sie  nicht  Jason,  sondern  braucht  den  vieldeutigen  Plural: 
1050  xakoL  xC  Ttdöxci]  ßovlo^ai  yikat    öcplstv 
cyßgovq  [isd^eiöa  tovg  e^Lovg  ä^ri(.iiovg; 
Die  Alten   wie  die  Neuen  deuten  das   auf  Jason.    Aber  wie 
kann  sie  das  sagen,  nachdem  sie  ihm  die  Braut  kläglich  zu 
Tode    gefoltert   hat?     Und   gleich    darauf  ist    die   Rache   an 
Jason  durch  den  Kindermord  vergessen,  da  spricht  sie  loöoff, 
nur  davon,  daß  sie  sie  töten  muß,  um  sie  nicht  den  Korinthern 
in  die  Hände  zu  liefern. 

Ich  verstehe  1050  nicht,  weder  wenn  ich  ihn  auf  Jason 
noch  wenn  ich  ihn  auf  ihn  und  Kreon  und  Kreusa  beziehe 
Und  ebenso  wenig  vermag  ich 

IcoQstxE  TtaZdsg  ig  dö^ovg.  otw  ds  ^r\ 
Q-saig  TracelvaL  totg  hyLoiöt  d-v^aöiv, 
1055   avra  ßslrjcssi'  xstga  ö'   ov  dLaq)d-£QK). 
wie   man   seit  Reiske    und  G.  Hermann  zu   tun  pflegt,   auf 
Jason  beziehen.    Wie  kann  Medea  an  Jasons  Gegenwart  beim 


1^  E.  liKnii;:  l7(\  i 

Murdo  auch  nur  doiilvciiy  Ei-  wiirile  ilui  ja  vcrhiiultM-n. 
WiLA.MOWiTZ  läßt  in  seiner  llbersotzAing  öra  —  ^slijatt  ans 
di)cli  wolil  weil  es  ihm  nnlieimlieli  ist.  leli  kcJniite  es  nur 
allgemein  fassen:  '{.(cht  .-ille  fort,  bei  diesem  (näßlielisten 
darf  uieinand  /nü^ogen  sein'.  Das  wilide  Sinn  haben  unmittel- 
bar vor  dem  Morde.  Und  da/.u  würde  auch  der  Hefilil  an 
die  Kinder  passen,  in's  Haus  v.u  treten,  der  im  vorliegenden 
Zusammenhauge  unverstäiidlicli  ist,  da  sie  sie  bei  sich  behält 
(io6g).  Als  Schluß  einer  Medearede  kann  ich  mir  1049—1055 
etwa  vorstellen,  aber  nicht  mitten  in  dieser  Rede.*) 

Das  zweite  Motiv  für  den  Kindermord,  Jason  das  l)itterste 
Herzeleid  anzutun,  huscht  also  nur  leicht  vorüber.  Und  längst 
hat  man  dagegen  eingewandt,  daß  man  bei  der  kühlen  Art, 
v^ie  Jason  die  Verbannung  seiner  Kinder  aus  Korinth  hin- 
nimmt, den  jieiulicheu  Eindruck  gewinnt,  Medea  überschätze 
die  Tiefe  des  Vatergefühls  dieses  seichten  Fantes  und  krassen 
Egoisten. 

HI 

All  diese  Schwierigkeiten  lösen  sich  zwar  nicht,  werden 
aber  begreiflich  durch  die  Annahme,  die  ich  durch  die  vor- 
gelegten Erwägungen  zu  einem  Beweise  gestärkt  zu  haben 
glaube,  daß  Euripides'  ursprünglicher,  aus,  der  korinthischen 
Sage  entwickelter  Entwurf  das  Motiv  zum  Kindermord  allein 
in  Medeas  Sorge,  der  liache  der  Korinther  an  ihnen  zuvor- 
zukommen, gesucht  hat,  und  daß  erst  die  Einarbeitung  der 
Aigeusszene  ihn  auf  das  Hilfsmotiv  brachte,  durch  die  Tö- 
tung der  Kinder  Jasons  Herz  zu  treffen.  Dadurch  ist  in 
die  gewaltige  Tragödie  eine  Unklarheit  gekommen,  die  den 
beiden  'Monologen'  nach  Kreons  Ausweisung  365  ff.  und  nach 
Aigeus'  Versprechen  1020 ff.  verhängnisvoll  wurde.  Kann 
jener  durch  Ausscheiden  der  von  Euripides  zur  Vorbereitung 

i)  Bergk,  Gr.  Lit.-Gesch.  III,  512.  140  hat  dasselbe  empfunden, 
wenn  er  1056  — 1080  als  Wiederholung  streicht;  doch  wer  soll  diese  Pracht- 
verse anders  geschrieben  haben  als  Euripides?  Die  Schwierigkeit  1058 ff. 
bliebe  auch  so  bestehen. 


70,  i]  Medp:a-Problemr.  15 

der  Aigeusszene  eingefügten  Verse  386 — 394  zu  seiner  ur- 
sprünglichen Kraft  und  Klarheit  gebracht  werden,  so  kann 
ich  im  zweiten  nur  die  Schwierigkeit  begrenzen:  sie  liegt  in 
1049— 1061. 

Die  Aigeusszene,  unerfreulich  an  sich,  widerwärtig  für 
den  Charakter  der  Medea,  die  sich  selbst  sichere  Zuflucht 
verschafft  und  ihre  Kinder  herzlos  schlachtet,  peinlich  durch 
diesen  kalten  Egoismus  in  der  siedenden  Leidenschaft  der 
gemißhandelten  Frau,  mit  der  wir  uns  wie  der  Chor  gegen 
Jasons  gemeine  Gesinnung  auflehnen  und  für  die  wir  Partei 
nehmen  sollen  und  es  trotzdem  tun,  die  Aigeusszene  ist  ein 
Unglück  für  diese  Tragödie  geworden,  die  ohne  sie  vielleicht 
die  grandioseste  des  Euripides  wäre.  Was  ihn  zu  dieser 
Änderung  seines  Planes  veranlaßte,  ist  leicht  zu  sehen  und 
längst  gesagt.  Man  soll  es  aber  ehrlich  aussprechen:  nicht 
künstlerische  Ziele  waren  es,  sondern  sein  Ehrgeiz,  sein 
heißer  Wunsch,  den  Athenern  zu  gefallen.  Die  Konzession 
an  das  Publikum  hat  sich  auch  an  diesem  Kunstwerk  gerächt, 
wie  überall. 

Der  Medeastoff  war  ganz  neu,  von  Euripides  selbst  aus 
einer  korinthischen,  anders  gerichteten,  weiteren  Kreisen 
Athens  schwerlich  bekannten  Tempelsage  kühn  entwickelt. 
Sein  Publikum  konnte  zu  ihm  keine  Beziehung  haben,  wie 
zu  den  durch  Homer  allen  geläufigen,  oder  zu  andern  allbe- 
kannten, zumal  zu  den  heimischen  attischen  Sagen,  Solche 
Beziehungen  aber  zu  suchen  oder  herzustellen,  war  für  den 
Erfolg  des  Stückes  bei  der  großen  Masse  wichtig,  die  auf 
das  Urteil  der  Preisrichter  durch  laute  Zeichen  des  Beifalls 
oder  Mißvergnügens  gewiß  Einfluß  übte.  Deshalb  sehen  wir 
Euripides  jede  Gelegenheit  benutzen,  dem  attischen  Stolz  zu 
schmeicheln  und  irgendwelche  Fäden  nach  Attika  hinüber  zu 
spannen.  Man  erinnert  sich  leicht  an  Herakliden,  Hiketiden, 
Hippolyt  2,2,  Hekuba  466,  Troades  799,  Iphigenie  T.  1450.  Für 
den  fremden  Medeastoff  schien  eine  Anknüpfung  an  Attisches 
doppelt  wichtig.  Die  einzige  Möglichkeit  gab  Aigeus,  dessen 
Verhältnis    zu   Medea    den    Athenern    durch   ihn   selbst    be- 

PhiL-hist.  KlasdC  1918,   Bd.  LXX.  1.  2 


l6  E.  Hr.TiiK:  [7^\  i 

kaniit  war.')  Er  konnte  ihn  wieder  in  der  dankharou  Ri)lle 
des  uneigennüt/igen  Schützers  der  Mißliiindolten  darstollen 
und  gewann  die  Gelegenheit,  auf  das  herrlicbo  Atlien  Hein 
schönstes  Lied  singen  zu   hissen. 

IV 

Die  störende  Aigeussz.ene  einfach  au.szulüäcu,  geht  nun 
freilich  nicht  an.  auch  wenn  sich  ihre  Vorbereitung  386 — 394 
leicht  streichen  läßt  und  man  das  schönste  Chorlied  der 
Tracrödie  entbehren  wollte.  Aber  der  Nachweis,  daß  sie  eine 
spätere  Zutat  ist  und  daß  doch  wohl  zugleich  mit  ihr  auch 
die  Motivierung  des  Kindermordes  geändert  oder  vielmehr 
verdoppelt  ist,  fordert  den  Versuch  heraus,  den  ursprünglichen 
Plan  wiederherzustellen.  So  heikel  es  ist,  so  mag  er  doch 
gewagt  werden  im  Vertrauen,  daß  niemand  mich  für  so  töricht 
halten  wird,  ich  bilde  mir  ein,  den  Euripides  meistern  zu 
können. 

Durch  die  Streichung  der  Aigeusepisode  würden  die  beiden 
Jasonszenen  fast  unmittelbar  aneinandergereiht.  Medeas  zweiter 
Monolog  772  —  810  hätte  da  kaum  eine  Stelle,  jedenfalls  keinen 
Anschluß  an  die  erste.  Nach  der  schroffen  Abweisung  des 
Gatten  wird  auch  im  ersten  Entwurf  irgend  ein  Ereignis  die 
Medea  zum  scheinbaren  Einlenken  veranlaßt  haben,  wie  es  in 
der  endgültigen  Fassung  Aigeus'  unmotiviertes  Erscheinen 
ungenügend  tut.  Dies  Ereignis  kann  kaum  ein  anderes  als 
die  Ausweisung  durch  Kreon  gewesen  sein.  Das  zwingt  sie 
zum  raschen  Handeln.  Demnach  wäre  diese  Folge  zu  ver- 
muten: erste  Jasonszene  mit  zugehörigem  Chor  SQcorsq  vniQ 
^6v  äyav  sX&ovreg  —  Kreonszeue  —  Monolog  Medeas:  Ent- 
schluß zu  handeln  und  Mordplan  (vgl.  77 ^S-)  —  Chor  aveo 
Ttotci^&v  UQäv  xoQovöL  TtayuC  —  zweite  Jasonszene. 

Diese  Anordnung  würde  —  ich  möchte  fast  sagen  der 
natürliche  Aufbau  des  Dramas  sein,  jedenfalls  würde  sie  dem 


I)  V.  VViLAMowiTz,   Hermes  XV,  482,   Griech.  Tragödien  III,  175, 
I,  III. 


yo,  l]  MeDEA-PrOBLKME.  ^7 

Aufbau   der   Alkestis,   Andromache,    auch   des  Hippolyt    und 
Herakles  entsprechen.    Sie  geben  alle  zunächst  eine  Zustands- 
Bchilderuiig,   ehe  die  Handlung  einsetzt.     In   der  Alkestis  er- 
zählt  nach   der  Parodos   die  Amme  dem  Chor,   wie  Alkestis 
sich  zum  Sterben   bereitet,    Abschied   nimmt  von   Haus  und 
Gesinde;  nach  dem  ersten  Stasimon  sehen  wir  sie  selbst,  hören 
ihre  letzten  Worte  zu  Mann  und  Kindern  und  sehen  sie  sterben. 
Älmliche   Zustandsschilderungen  gibt    der  Dichter  im    ersten 
Epeisodion  des  Hippolyt  und  Herakles,   hier   der  Phaidra  in 
unmittelbarem    Anschluß    an    die    Parodos,    dort    durch    den 
ayhv   köycov    zwischen    Lykos    und   Amphitryon;    in    beiden 
Stücken   setzt  freilich  die  Handlung  alsbald   ein.     Die   beste 
Analogie  gibt  die  Andromache.    Hier  wird  nach  der  Parodos 
die  dummstolze  Hermione  der  an  das  Thetideion  geflüchteten 
edeln   Andromache   in    scharfem   äycjv  Xoycjv   gegenüber  ge- 
stellt, der  die  Verschiedenheit  ihrer  Charaktere  hell  beleuchtet 
und   die  Grundlage   für   das   psychologische  Verständnis   der 
beiden  Gegenspieler  und   ihres   innern  Gegensatzes   gibt,   aus 
dem  die  tragische  Handlung  entspringt.  Es  geschieht  aber  nichts, 
erst  im  nächsten  Akt  bringt  Menelaos  die  Handlung  in  Gang. 
Jene    Konfrontation    entspricht    der    Gegenüberstellung    von 
Medea  und  Jason.    Sie  verfolgt  denselben  Zweck,  hat  für  die 
Oikonomie  der  Tragödie  denselben  Wert;  also  sollte  sie  auch 
dieselbe  Stelle  in  ihrem  Aufbau  haben.     Statt  dessen  ist  sie 
in  der  uns  vorliegenden  Fassung  hinter  den  Beginn  der  dra- 
matischen Handlung  durch  Kreons  Verbannungsbefehl  gesetzt. 
An  dieser  Stelle   unterbricht   sie   die  Handlung.    Erst   durch 
Aigeus'  Auftreten  im  nächsten  Akt  wird  sie  wieder  in  Gang 
gebracht.     Dafür   wird   sich    schwerlich   ein  anderes  Beispiel 
erbringen  lassen.     So  würde  sich  vielleicht  auch  durch  diese 
Beobachtung  jemand  zu  einem  Anstoß  und  zu  neuem  Zweifel 
berechtigt  fühlen  können,  wenn  nur  nicht   die  Szene  an    der 
Stelle,  wo  sie  steht,  vortrefflich  wirkte,  wie  aus  einem  Guß 
erschiene. 

Auch  ist  ohne  weiteres  klar,   daß  das  erste  Epeisodion, 
so  wie  wir  es  lesen,  in  sich  tadellos  und  ebenso  wirkungsvoll 


2* 


l8  E.  nirrjiK:  (70,  i 

wit»  kuustn'ii'h  ist.  Dfr  orston  Mt'dearodo,  durch  die  sie  sich 
des  Schwpijjens  des  Chors  über  ihre  Pläne  versichert  —  eine 
erzwnngeue  Hiloksiolit  auf  die  hier  schon  schwer  vom  Dicliter 
empfundene  leidi,i;e  Beteiligung  dos  durch  Kult  und  (iewohn- 
heit  geheiligten  Chors  —  entspricht  ihrer  zweiten  Rede  nach 
der  Kreouszene,  die  auf  diese  Weise  symmetrisch  eingerahmt 
wird.  Und  vortreÜlich  wirkt  das  frische  Einsetzen  der  dra- 
matischen Spannung  durch  Kreons  ungestümen  Befehl,  Korinth 
zu  verlassen,  auf  den  schon  im  Prolog  uns  der  Alte  vor- 
bereitet hatte,  wie  durch  Medeas  ersten  Erfolg,  der  ihre  Rache 
ermöglicht.  Es  ist  das  Sophokleische  Technik.  Er  liebt  es, 
seine  Hauptperson  nach  der  Parodos  in  breiter  Rede  vorzu- 
stellen. So  in  der  Antigone  Kreon,  der  die  eigentliche  Haupt- 
person ist  —  denn  er  ist  der  Träger  der  Handlung  von  An- 
fang bis  zum  Schluß  und  an  ihm  rächt  sich  sein  eigenes 
Tun  —  in  den  Trachinierinnen  Deianira,  König  Oidipus, 
Elektra,  Philoktet,  Oidipus  auf  dem  Kolonos,  auch  im  Aias 
Tekmessa,  dann  noch  Aias. 

Auch  darin  ähnelt  die  Technik  des  ersten  Teils  der 
Medea  der  Sophokleischen,  daß  er  schon  vor  der  Parodos 
die  Handlung  beginnen  läßt,  dasselbe  Motiv  aber  nach  der 
Parodos  noch  einmal  breiter  wieder  aufnimmt:  das  Verbot, 
Poljneikes  zu  bestatten,  kennt  Antigone  schon  beim  ersten 
Auftreten  (25),  nach  der  Parodos  verkündet  und  begründet 
es  Kreon  noch  einmal  in  seiner  Rede^);  Oidipus  hat  sofort 
nach  Mitteilung  des  Orakels,  das  die  Sühnung  des  Laios- 
mordes  verlangt,  erklärt  rovt  aTioßiCfdcö  ^vöog  (138),  mit  der 
Parodos  gibt  er  feierlich  und  breit  noch  einmal  den  Befehl, 
auf  den  Mörder  zu  fahnden  und  zu  verstoßen.  So  bringt  im 
Medeaprolog  schon  der  Pädagoge  die  Nachricht  von  Medeas 
Verbannung,  im  ersten  Akt  kommt  der  König  selbst,  sie  aus- 
zuweisen. Damit  setzt  hier  die  Handlung  lebhaft  ein  nach  der 
großen  Rede  der  Hauptperson,  wie  das  Sophokles  zu  tun 
pflegt:   in   der  Antigone  meldet  der  Wächter   die  vollzogene 


i)  Vgl.  Tycho  von  Wilamowitz,  Dramatische  Technik  des  Sophokles. 


70,  i]  Medea-Probleme.  19 

Bestattung,  im  Oidipus  wird  Teiresias  herbeigefülirt  und  zur  Aus- 
sage gezwungen.  Stets  aber  drängt  nun  —  mit  einziger 
Ausnahme  des  Aias  —  bei  Sophokles,  dem  Vollender  und 
Meister  dramatischer  Kunst,  die  Handlung  ohne  Stillstand 
fast  atemlos  vorwärts. 

In  Euripides'  Medea  folgt  völliger  Stillstand:  Medea  und 
Jason  setzen  sich  auseinander  nicht  über  ihre  Verbannung, 
sondern  über  ihr  ganzes  Leben,  über  ihr  Wesen  und  Wollen, 
das  zu  unüberbrückbarer  Kluft  auseinander  geht.  Nur  mit 
dünnen  Fädchen  ist  dieser  packende  und  für  die  Tragödie 
wichtigste  Dialog  mit  der  Kreonszene  verbunden  und  so  an 
diese  Stelle  das  Drama  geknüpft,  mit  der  kleinen  Eingangs- 
rede, in  der  Jason  Unterstützung  für  die  Verbannung  an- 
bietet, und  mit  dem  Schlüsse  603  ff. 

Es  wäre  ein  lächerliches  Unterfangen,  durch  Ausschei- 
dung der  Aigeus-  und  Umstellung  der  Kreon-Szene  den  ur- 
sprünglich beabsichtigten  Aufbau  der  Tragödie  herstellen  zu 
wollen.  Euripides  hat  wohl  gewisse  Szenen  verworfen,  als  er 
seinen  Plan  änderte,  und  doch  hat  er  nicht  alle  Spuren  der 
Umarbeitung  zu  tilgen  vermocht. 

V 

Die  Inszenierung  der  Medea  ist  vollkommen  klar,  wenn 
man  nur  nichts  in  das  Stück  hineininterpretiert.  Dieser 
Grundsatz  ist  ebenso  wichtig  und  ebenso  notwendig  wie  sein 
Komplement,  nichts  abzudingen  von  dem,  was  im  Text  steht, 

U.  V.  WiLAMOWiTZ  setzt  seiner  Übersetzung  die  Bemer- 
kung voran:  Mie  Hinterwand  der  Bühne  stellt  den  Königs- 
palast von  Korinth  dar;  neben  ihm  ein  unscheinbares  Gebäude, 
die  Wohnung  Medeas.'  Dem  entsprechend  läßt  er  sie  und 
die  Ihrigen  aus  diesem  Nebenhause  auftreten  und  in  dies  ab- 
gehen, aber  Kreon,  Jason,  den  Boten  mit  der  Schreckens- 
nachricht aus  dem  Palast  kommen.  Der  Text  gibt  keinen 
Anhalt  dafür.  Auch  aus  dem  Mangel  einer  Ankündigung 
Jasons  bei  seinem  ersten  Auftreten  durch  den  Chor  ist  es 
nicht  zu  schließen;  er  nennt  sich  selbst.    Das  häufige  Fehlen 


20 


E.  Bktiik:  [7".  > 


der  Aukündigiin^'  hat  stets  einen  meist  nalielie^fenden  Grund. 
Hin-  ist   er  dunkel  wie  bei  Menelnos'  Auftreten   in  der  Aiulro 
nuicbe  309.   Man  könnte  in  beiden  lYillen  vermuten,  daß  der  un- 
bedingt zur  Heldin  stehende  Chor  ihren  Feind  mit  ausdrucks- 
vollem Schweiften  emitfiingt.  Nicht  ohne  Schein  wäre  im  Gegen- 
teil aus  der  neutralen  Form,  wie  Kreon  gemeldet  wird  267  6^f7j 
di:  x(u    Kotovra  Ti,ad'    i<vcixra  yf^g  aiBiyovxa  zu  folgern,   dali 
er  nicht  aus   einem   sichtbaren   Hause   heraustritt,   wenn  m:in 
datTe<ren   Stellen   hält   wie   Alkestis    136   uVl    ijd'    ona6C)v   h. 
()()//«!'  xig  tQiBTui^  Helena  858  Ixjicdvet  d6^cov  i]  ^BöTCioidog 
öforoj;,    Hekabe  53,   Jon   51O,   Alkestis    233,   Hippolyt    170, 
Sojdiokles   Anti'gone  526,    1181,   OR  632,   Elektra  324  usw. 
Geradezu  unmöglich  aber  wird  WiLAMOWiTzens  Inszenie- 
ruuo-    durch    die    Schlußszene.     Vor  Medeas   Tür   tobt   Jason, 
hier   erscheint   sie    im    Helioswageu.     Das    ist   undenk])ar    im 
'unscheinbaren  Nebenhause'  auf  der  antiken  Bühne,  ich  möchte 
behaupten    auch    auf  jeder    modernen.     Dieser    Theatereffekt 
muß  in  der  Mitte  der  Bühne  gezeigt  werden,  sonst  wirkt  das 
Bild  schief.    Nun  nutzt  Noack  Wilamowitz'  Vermutung  für 
seinen    Bühnenentwurf   aus.^)     Er    vermutet,    innerhalb    des 
Orchestrakreises  ein  Megaron  in  der  Mitte,  je  ein  kleines  Ge- 
bäude im  rechten  Winkel  dazu  links  und  rechts  daneben  — 
ununterscheidbar  zwar,  aber  das  eine  ein  Propylon,   das  an- 
dere  ein  Haus    —    so  daß    diese   ihre    Fronten    einander   zu- 
kehren, der  Masse  der  Zuschauer  aber  die  kahlen  Seitenwände 
zeichen.   Ich  stimme  Dökpfeld  in  der  Ablehnung  dieser  reinlich 
durchgedachten  Hypothese,  von  vielen  andern  abgesehen,  schon 
aus  dem  Grunde  bei,  weil  sie  auch  nach  meiner  Überzeugung 
'nicht  mit  der  Tatsache  in  Einklang  zu  bringen  ist,  daß  bei 
dem  Steinbau  des  IV.  Jahrhunderts  die  Szene  nicht  nur  ganz 
außerhalb  des  Kreises,  sondern  sogar  noch  in  einem  größern 
Abstände  von  ihm  errichtet  ist.'     Medea  würde  nach  NoACK 
also    im    Hause    links    Avohnen    und    in    der    Schlußszene    in 

I)  F.  Noack,  c-ativt,  TQuyiy.i],  Tübinger  Doktorenverzeichnis  1915,  38. 
Dazu  W.  DöRPFELD,  Wochenschrift  f.  kl.  Philg.  191 7,  Nr.  8  u.  9  und 
L1P8IUS,  Lit.  Zentralblatt  1916,  S.  17. 


70,  i]  Medea-Probleme.  21 

seinem  Pförtchen  auf  dem  Helioswagen  erscheinen,  sichtbar 
nur  für  wenige  Zuschauer  auf  der  äußersten  rechten  Seite 
des  Theaters. 

Dargestellt  war  weiter  niclits  wie  ein  einziges  Haus,  wie 
stets  in  der  Zeit  von  460  bis  in  die  zwanziger  Jahre,  Dies 
bewohnte  Medea.  Wo  wir  es  in  Korinth  zu  denken  haben, 
deutet  der  Dichter  mit  keinem  Worte  an,  und  ist  wahrlich 
gleichgültig.  Der  Königspalast  liegt  wo  anders,  vielleicht 
ziemlich  weit.  Doch  ich  will  nicht  die  dichterische  Freiheit 
beckmessern,  und  nicht  aus  der  Länge  des  Botenberichts  die 
Entfernung  des  Schlosses  von  Medeas  Haus  berechnen.  Medea 
ist  nicht  Bettlerin.  Diener  und  Dienerinnen  führt  sie  mit 
sich,  kostbare  Pi-achtge wänder  überirdischen  Glanzes,  fürstlich 
tritt  sie  auf.  Einen  Bettler  hätte  Kreon  sich  auch  wohl 
nicht  zum  Schwieger  genommen.  Wir  dürfen  und  sollen  uns 
nicht  realistisch  ausmalen,  wie  Jason  mit  solchem  Gefolge 
und  Hausrat  seinen  Umzug  nach  dem  Peliasmorde  habe  be- 
werkstelligen können.  Genug,  der  Dichter  führt  ihn  und  die 
Seinen  als  Fürsten  ein  und  nicht  als  Landstreicher.  Also 
nahm  auch  niemand  daran  Anstoß,  daß  Medea  ein  stattlich 
Haus  bewohnte. 

In  der  Schlußszene  läßt  auch  Wilamowitz  jetzt  zu 
meiner  Freude  Medea  auf  dem  Helioswagen  in  der  Tür  ihres 
Hauses  erscheinen,  nicht  in  der  Luft  über  dem  Dache,  wie 
man  früher  nach  Angabe  des  Scholions  allgemein  annahm. 
Jenes  steht  mit  klarsten  Worten  im  Text: 

;faA^T£  y.X^dag  wg  tcr/^Löra,  7Cq6<37CoXoi, 
13 15   B'nXvs?^   ägiLovg,  dig  (^Sc3  öltcIovv  xccxöv. 
1317    —   tC  rdade  xLVstg  y.uvccnoxXsveig  iivXag^ 
und  wird,   wenn's   möglich   wäre,   noch  bekräftigt   durch  die 
Parallelstelle  im  Hvppolyt: 

808  lalät^  y.X)]d^Qa,  xqo6x6Xoi,  nvlco^idrav 
i^Xved-'   KQ^ovg,  ag  ida  niKgciv  &edv. 
Da  hat  nie  jemand  gezweifelt,   daß  Theseus   die  Hauptpforte 
öffnet  und  dort  Phaidras  Leiche  sieht,  der  er  den  schlimmen 
Brief  entnimmt. 


22  E.  Bethe:  Medf.a-I'uohlemb.  [70,  i 

Für  die  Moden  wird  das  nun  lioffi'iitlich  jiuch  nllgeniein 
zuj^'ostandon,  naclulcm  WiLAMownz  (Gr.  Tragödien  111,  255) 
1296  —  8  uthetiert  hat,  die  für  die  Ijul'terscheiuuiig  verwertet 
werden  konnten,  vielleicht  aber  erst  eingelej^t  sind,  als  man 
später  Medea  wirklii-h  in  der  Luft  sehen  ließ.  Aber  die  an- 
dere Forderung,  die  ich  l'rolog.  z.  Gesch.  d.  Theaters  147 
auf  Gruud  des  Textes  erhob,  wartet  immer  no(di  vergeblich 
auf  Anerkennung,  auch  den  zweiten  Teil  jenes  Scholions  1320 
(vgl.  Hyj)othesi8)  zu  verwerfen,  dessen  erster  für  Euripidea 
notorisch  falsch  ist,  daß  nämlich  Medea  in  der  Luft  anf  einem 
von  geflügelten  Draclien  gezogenen  Wagen  erschienen  sei. 
Die  bildliche  Überlieferung  zeigt  sie  freilich  so.  Aber  sie 
weicht  so  stark  von  Euripides  ab^),  daß  ich  ihr  bindende 
Kraft  nicht  zumessen  kann.  Euripides  sagt  nur,  Helios  habe 
Medea  seinen  Wagen  gegeben.  Wie  er  ihn  durgestellt  hat, 
weiß  ich  nicht  zu  raten  —  man  könnte  an  einen  Flügel  wagen 
etwa  denken  —  aber  daß  er  den  Athenern  zugemutet  habe, 
Helios  lasse  sich  von  Schlangen  ziehen,  ist  mir  heute  noch 
wie  vor  zwanzig  Jahren  ein  ungeheuerlicher  Gedanke  und 
wird  mir  durch  Triptolenios'  Schlangenwagen  nicht  begreif- 
licher; Schlangen  sind  für  die  Erdgöttin  und  ihren  Klienten 
passende  Tiere,  aber  unmöglich  für  den  Sonnengott.  Auch 
das  Abfahren  der  Medea  ist  mit  keiner  Kunst  aus  dem  Texte 
herauszulesen.  Sie  verschwindet,  d.  h.  die  Pforten  schließen 
sich. 


I)  Vgl.  Robert,  Hermes  XXXI  (1896)  567,  1. 


Berichte  über  die  Verhandlimgeii 

der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zn  Leipzig 

Philologiscli-liistorisclie  Klassa 

70.  Band     1918     2.  Heft 

Wilhelm  Heinrich  Röscher 

Der  Omphalosgedanke 
bei  verschiedenen  Völkern,  besonders 

den  semitischen 

Ein  Beitrag-  zur  vergleichenden  Religions- 
wissenschaft,  Volkskunde  und  Archäologie 

Mit  15  Figuren  im  Text 
•0 


w 

Mittelalterlicher  typischer  Orbia  terrarum  mit  dem 
ZentiUDi  Jerusalem  (nach  'Omphalos'  Taf.  IX,  4j. 


Leipzig 
Bei  B.  G.Teubner 

1918 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  4.  Mai   191 8. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am   14.  Mai  1918. 

Druckfertig  erklärt  am  30.  November  1918. 


Vorwort. 

Als  ich  vor  drei  Jahren  das  Schlußwort  zu  den  'Neuen 
Omphalosstudien '  schrieb,  da  war  ich  zwar,  wie  dieses  be- 
weist (S.  70  f.),  weit  davon  entfernt  zu  glauben,  daß  nunmehr 
das  gesamte  zum  Omphalosproblem  gehörige  Material  von 
mir  gesammelt  und  kritisch  verarbeitet  worden  sei,  aber  ich 
hatte  damals  noch  keine  Ahnung,  wie  schnell  und  in  welcher 
Fülle  mir  neuer  Stoff  aus  allen  möglichen  Weltgegenden  zu 
neuer  Bearbeitung  zuströmen  würde. 

Vor  allem  habe  ich  hier  rühmend  hervorzuheben  die 
große  in  den  ^  Verhandelingen  der  K.  Akademie  van  Weten- 
schappen  te  Amsterdam  (Afdeeling  Letterkunde  Nieuwe  Reeks 
Deel  XVII  No.  i)'  im  Oktober  191 6  erschienene  Abhandlung 
des  Prof.  A.  J.  Wensinck  zu  Leiden,  betitelt:  „The  ideas  of 
the  W^estern  Semites  concerning  The  navel  of  the  earth" 
(XII  u.  65  S.  Lex.  8"),  Angeregt  durch  meine  Omphalosstu- 
dien hat  Wensinck  es  unternommen,  alle  zum  Omphalos- 
gedanken  gehörigen  Stellen  aus  der  Literatur  der  Hebräer, 
Aramäer  (Syrer  usw.)  und  Araber  systematisch  zu  sammeln 
und  zu  erläutern.  Elq  kompetenter  Beurteiler  seiner  Arbeit, 
Prof.  Brockelmann  in  HaUe  a./S.,  hat  bei  der  Lektüre  den 
Eindruck  gewonnen,  daß,  wenn  auch  bei  der  ungeheuren 
Ausdehnung  namentlich  des  arabischen  Schrifttums  erschöp- 
fende Vollständigkeit  nie  zu  erreichen  ist,  Wensinck  doch 
nichts  Wesentliches  übersehen  haben  dürfte.^)  Ich  habe  na- 
türlich alles  mir  von  Wensinck  für  Jerusalem,  den  Garizim 
und  Mekka  dargebotene  Zeugnismaterial  dankbar  verwertet, 
durch  Vergleichung  passender  Analogien  erläutert  und  ergänzt 

i)    Vgl.    Brockklmannb     Anzeige     im     Literar.     Zentralbl.     1917 
Sp.  1224  f. 


1  \  VoKWOKr.  |7i^  ^ 

luul  glaube  duioli  Einonlming  ilcr  wichtigsteu  Einzoleigobnisso 
Wknsincks  in  (U'ii  größeren  IJulmuMi  meiner  Arbeit  allen 
vergleichenden  Heligionsforschern,  die  sich  für  das  Ganze  der 
Omphalosidee  interessieren,  einen  Dienst  erwiesen  zu  haben. 

Ganz  Ähnliches  gilt  :uich  niutatis  mutandis  von  der 
grüudliclien  in  den  von  Meixkktz  herausgegebenen  'Neu- 
testiunentlichen  Ahliandlungen'  (V,  i)  1914  erschienenen  Unter- 
suchung Dr.  GrST.  Klamktiis,  welche  den  Titel  fülirt:  „Die 
neutestanientlichen  Lokaltraditioneu  Palästinas  in  der  Zeit  vor 
den  Kreuzzügen".  Auch  Klametii  will  in  den  beiden  Ab- 
schnitten über  die  Golgothatraditionen  (S.  88  ff.)  und  über 
das  Grab  Adams  im  Golgothafolsen  (S.  106  ff.)  meine  Om- 
phalosstudien  von  seinem  Standpunkte  aus  tunlichst  ergänzen 
und  weiterführen,  und  ich  muß  auch  ihm  gegenüber  dankbar 
anerkennen,  daß  es  ihm  in  vollem  Maße  gelungen  ist,  diese 
seine  Absicht  zu  verwirklichen. 

Nur  mit  vieler  Mühe   ist  es   mir   endlich   mit  Hilfe   des 
mir  befreundeten  Prof.  Wasek  in  Zürich  geglückt,  der  eben- 
falls   durch    meine    Omphalosstudien    angeregten    Arbeit    des 
französischen    Keltologen    Prof.    Loth    in    Paris    hal)haft    zu 
werden,  die  er  unter  dem  Titel  'L'omphalos  chez  les  C altes' 
in  Band  XVII  S.  193—206  der  Revue  des  Etudes  Anciennes 
(Jahrg.  1915)  herausgegeben  hat.    Da  diese  Revue   schon  an 
und   für   sich   in  Deutschland  wenig  verbreitet   und   bekannt 
und   zudem   infolge   des  Weltkrieges  überaus  schwer  zugäng- 
lich ist,  so  denke  ich  durch  kurze  Mitteilung  der  darin  ent- 
haltenen Resultate   und  vor   allem   durch  Beigabe   der  Abbil- 
dungen  mehrerer   wirklicher   oder   problematischer   Omphaloi 
der    alten    Kelten    den    deutschen    Mitforschern    auf   den    Ge- 
bieten   der  Volkskunde,    Prähistorie    und    Archäologie    einen 
willkommenen  Dienst  geleistet  zu  haben. 

Aber  auch  durch  briefliche  Mitteilungen  und  Anregungen 
verschiedener  Art  bin  ich  von  Seiten  befreundeter  Forscher 
in  erfreulichster  Weise  unterstützt  worden.  Vor  allem  ge- 
denke ich  hier  mit  lebhaftem  Danke  der  drei  Ägyptologen 
BOECHARDT -Berlin,  G.  RoEDER-Hildesheim   und  SETHE-Göt- 


70, 2]  Vorwort.  V 

tingen,  die  mir  höchst  wertvolle  Mitteilungen  über  den  kürz- 
lich von  Griffith  in  Napata  (Nubien)  ausgegrabenen  Om- 
phalos  des  dortigen  Amonorakels,  der  den  von  Curtius  Rufus 
erwähnten  nmhilicus  des  Amontempels  in  der  Oase  Siwa  be- 
stätigen und  erklären  hilft,  zur  Verfügung  gestellt  haben. 

Ebenfalls  durch  briefliche  Mitteilung  wichtigen  Zeugnis- 
materials aus  dem  Bereiche  der  späteren  jüdischen  Literatur 
haben  sich  Prof.  Dr.  Winter  in  Dresden  und  Dr.  M.  I.  Ber- 
DYCZEWSKi  (bin  Gorion)  iu  Berlin -Friedenau,  der  Heraus- 
geber der  'Sagen  der  Juden'  (Frankfurt  a.  M.  I9i3if.)  und 
der  unter  dem  Titel:  'Der  Born  Judas'  (2  Bde.  Leipz.  1916) 
erschienenen  Sammlung,  auch  um  diese  Fortsetzung  der  Om- 
phalosstudien  verdient  gemacht. 

Alle  übrigen  Gelehrten,  die  mich  durch  Anregungen  und 
Mitteilungen  verschiedener  Art  zu  Dank  verpflichtet  haben, 
werden  'suo  quisque  loco'  von  mir  genannt  werden. 

Hierzu  kommen   natürlich  noch  zahlreiche  Funde  litera- 
rischer  und    monumentaler    Art,    auf   die    ich    durch    eigene 
Nachforschungen  und  Studien  geführt  worden  bin.     So  stieß 
ich  z.  B.  bei  der  Lektüre  von  Radloffs  Proben   der  Volks- 
literatur, der  türkischen  Stämme  Südsibiriens  auf  die  wichtige 
Nachricht,  daß  auch  diese  Völker  die  Vorstellung  von  einem 
in   ihrem   Gebiete  befindlichen  Erduabel  haben,    als   welchen 
sie   einen   'kupfernen  Pfeiler'  (=  o^cpaXös)   ansehen.    Ferner 
ist  es  mir,  hoffe  ich,  jetzt  auch  gelungen,  in  Kap.  V  mit  Hilfe 
von  5  in   den  letzten  Jahren   entdeckten  und  veröffentlichten 
Monumenten  (2  Votivtafeln  [Pinakes]  und  3  Vasenbildern)  zu 
beweisen,   daß   ebenso  wie  Delphi,  Delos,  Paphos,  Branchidai 
auch  Athen-Eleusis,  wenigstens    im    eleusinischen    My- 
sterienkult,  den  Anspruch   erhoben  hat,   der   o^cpaXbg   yfig 
zu  sein.    Der  auf  den  gedachten  Pinakes  und  Vasen  erschei- 
nende deutliche  Omphalos,  den  man  bisher  irrtümlich  für  den 
'delphischen'  gehalten  hat,  läßt  keine  andere  Deutung  zu  als 
die,  daß  er  das  Wahrzeichen  der  von  Athen-Eleusis  als  Zen- 
trum  ausgegangenen  und  über  die  gesamte  Oikumene  durch 
Triptolemos   verbreiteten  Segnungen   des  Ackerbaus   und   der 


Yl  Vorwort.  [7°.  * 

auf  ihm  beruhomUMi  Gesittun^^  und  luihoron  Kultur  sein  sollte. 
—  Auch  für  ilfts  Vorstiimlnis  cK-s  in  den  goomotrischon  Zentren 
der  ctrnskisoheu  und  itiiliseluMi  Stiidto  angele^den  kreisruuden 
sogeuannten  „»nimhis-  hoire  ich  nunmehr  die  richtigen  Ge- 
sichtspunkte gewonnen  /.u  haben. 

Daß  durch  die  Einordnung  so  vieler  neuer,  teils  von 
andern,  teils  von  mir  selbst  gesammelter  Zeugnisse  in  einen 
gemeiusanuni  Rahmen  das,  wie  man  jetzt  sieht,  den  ganzen 
„orbis  terrarum''  erfüllende  Omphalosproblera  nicht  unwesent- 
lich gefördert  worden  ist,  dürfte  mir  wolil  von  jedem  billig- 
denkenden  Beurteiler  zugestanden  werden. 

Auch  diesmal  wieder  beginnen  wir  unsere  Wanderung 
im  fernen  Osten,  um  sie  im  ilu Bersten  Westen  zu  beschließen. 

Dresden- A.,  Febr.  191 8. 


Der  jetzige  in  der  grieclüschen  ICathedrale  beündliche  Oinphalos 
von  Jerusalem  (nach  'Omphaloi'  Taf.  IX,  Fig.  3). 


I.  Der  Gedanke  eines  Zentrums  ('Nabels')  der  Erde 
bei  verscliiedenen  Völkern  des  Ostens. 

I.  Die  Chinesen. 

Omplialos  S.  20  f.  habe  ich  auf  Grund  der  außerordent- 
lich wertvollen  Mitteilungen  A.  Forkes  den  Omphalosbegriif 
der  Chinesen,  der  wohl  einmal  eine  gründliche  Untersuchung 
verdiente,  kurz  dargestellt.  Ich  verweise  jetzt  in  dieser  Hin- 
sicht auf  Richthofen,  China  I,  Berl.  1877  S-  3^^'  'Den  [Berg] 
Waifang  suchen  sie  [die  Commentatoren  des  Yü-king]  in 
dem  gegenwärtigen  Sung-shan,  einem  schönen,  in  ungefähr 
8000  Fuß  gipfelnden  Gebirgsstock,  welcher  sich  südöstlich 
von  Ho-nan-fu  erhebt  und  eine  isolierte  Stellung  einnimmt. 
Er  wurde  in  späterer  Zeit  als  der  fünfte  unter  die  heiligen 
Berge  von  China  aufgenommen  und  auch  Tshung-shan  oder 
Berg  der  Mitte  genannt,  indem  er  als  der  Mittelpunkt 
des  Reiches  [d.  i.  des  Reiches  der  Mitte]  betrachtet  wurde.' 
Vgl.  auch  V.  Andrian,  D.  Höhencultus  asiat.  u.  europäischer 
Völker.    Wien   1891   S.  166. 

2.  Die  Turkstämme  Südsibiriens. 

Zu  den  Völkern  des  Ostens,  welche  einen  Erdnabel  in 
ihrem  Bereiche  angenommen  haben,  gehören  auch  die  Turk- 
stämme Südsibiriens.  Nach  Radloff,  Proben  der  Volkslit- 
teratur  der  Türk.  Stämme  Südsibiriens  II  S.  242  ff.  haben 
diese  Stämme  die  Vorstellung  von  einem  durch  'einen  kup- 
fernen Pfeiler'  [also  einen  kupfernen  Omphalos]  bezeichneten. 


2  Wii.iiri.M  Hkinkicii  RosciiKu:  [70,2 

„Nnbi'l  tliT  Kille'",  «Irii  unter  allen  'Helden  und  Sturkon' 
nur  der  'neunjährigelleld  Kiiru  rar''"}  zu  heben  und  heraus- 
zuziehen vermag. 

3.  Dio  Inder. 

Auch  das  Zeujjfnisinaterial  für  die  einstij^e  Existenz  des 
Omphalosgedaukens  bei  den  Indern  (s.  Omjjhalos  '^.22  u. 
Neue  Ompli.  Stud.  S.  14  u.  7 2  f.)  kann  ich  jetzt  mit  Hilfe  von 
Lasskns  Indischer  Altertumskunde  und  I'ksciikls  Abhand- 
lungen z.  Erd-  u.  Völkerkunde  I  Lei])z.  1H77  nicht  unwesent- 
lich  vermehren. 

Nach  Lasskn  a.  a.  0.  IV  S.  59  besteht  die  Erde  nach  der 
vorherrschenden  Ansicht  der  Inder  aus  sieben  durch  Berge  und 
Meere  von  einander  getrennten  dvq^a  oder  Inseln.^ *")  Sie  hat 
nach  Albirüni  eine  runde  Gestalt  (orbis  terrarum)  und  ist  von 
einem  Meere  (vgl.  den  Okeanos  der  Griechen!)  umflossen.  Sio 
ist  in  sieben  dvq)a  geteilt,  Avelche  durch  Ozeane  in  der  Weise 
voneinander  geschieden  sind,  daß  jene  wie  Halsbänder  sich 
umschließen  und  jede  Insel  und  jedes  Meer  einen  größeren 
Umfang  haben,  je  weiter  sie  vom  Mittelpunkte  entfernt 
sind.  Die  mittlere  Insel  heißt  Gambüdvipa;  sie  ist 
die  vornehmste  von  allen,  und  zu  ihr  gehört  Indien. 
Die  früheste  Beschreibung  der  7  dvipa  mit  ihren  Meeren  und 
Gebirgen  findet  sich  im  Mahäbharata  (älter  als  das  4.  Jahrh. 
nach  Chr.).  Auch  nach  dem  kosmographischen  System  der 
Puräna  bildet  die  Gambüdvipa  die  Mitte  des  indischen  Welt- 
systems, und  deren  Zentrum  wieder  der  goldene  Berg 
Meru  (Lassen  a.  a.  0.  S.  60;  vgl.  N.  Omphalosstudien  S.  72), 

1  a)  Zu  den  überaus  zahlreichen  bei  den  noch  dem  alten  Schamanen- 
glauben huldigenden  Stämmen  Südsibiriens  vorkommenden  typischen 
Zahlen,  darunter  massenhaft  auftretenden  Triaden,  Hexaden,  Heptaden, 
Enneaden  und  Tessarakontaden,  s.  meine  Bemerkungen  in 'Die  Zahl  50 
in  Mythus,  Kultus,  Epos  und  Taktik  d.  Hellenen  u.  and.  Völker'  S.  113  f. 

ib)  Über  die  Heiligkeit  der  Siebenzahl  bei  den  Indern  s.  meine 
Abhandlungen  'Die  enneadischen  u.  hebdomadischen  Fristen  u.  Wochen 
d.  ältest.  Griechen'  S.  34 f.  und  'Die  Sieben-  u.  Neunzahl  im  Kultus  u-. 
Mythus  d.  Griechen'  S.  87. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.         3 

während  nach  noch  älterer  Ansicht  der  Meru  (=  HimalayaV) 
nicht  im  Zentrum  der  Erde  sondern  im  äußersten  Nor- 
den liegt  (Lassen  a.  a.  0.  I  S.  847). 

Für  die  letztere  Vorstellung  scheinen  auch  die  eigentüm- 
lichen Überlieferungen  zu  s^irechen,  welche  sich  auf  die  in- 
dische Stadt  Uggajini  =  Ozene  (=  Oudjein,  Ujjain,  Oojein, 
Asin,  Arin,  Aryn,  Arim)  beziehen.  Dieses  Ozene  (Ptolem.  u. 
Arrian)  war  die  Hauptstadt  von  Larika  (=  Malva),  der  be- 
kannten Landschaft  im  Zentrum  von  Indien^),  ein  uralter 
noch  bis  in  prähistorische  Zeiten  zurückreichender  Sitz  der 
Wissenschaften  und  Künste,  besonders  berühmt  als  Residenz 
des  großen  Königs  Vikramäditya,  des  erlauchten  Förderers 
der  Astronomie  (Astrologie?)  und  Gründers  mehrerer  Stern- 
warten, besonders  der  von  Ozene.^)  Mit  dieser  Bedeutung 
von  Ozene  hängt  es  offenbar  zusammen,  wenn  berichtet  wird, 
daß  das  im  Zentrum  von  Mittelindien  (Malva,  Larika) 
gelegene  Uggajini  den  'Omphalos'  der  altindischen  Weltkarte 
gebildet  habe,  denn  es  heißt  ausdrücklich,  ihr  erster  Meri- 
dian sei  von  Lanka  (=  Zeylon)  aus  durch  Uggajini  und  die 
Festung  Koshtaka  und  die  Quellen  der  Jamunä  nach  dem 
Berge  Meru,  der  sonach  wohl  unzweifelhaft  im  Norden  zu 
denken  ist  (=  Himalaya),  gezogen  worden.^)  Damit  hängt  es 
nun  ganz  offenbar  zusammen,  wenn  ein  arabischer  Kos- 
mograph  des  13.  Jahrhunderts  (Reinaud,  Aboulfeda,  Litrod. 
p.CCXLIII;  vgl. Peschel  a.a.O.  8,48 f.  in  seinem  schönen  Auf- 


2)  Vgl.  darüber:  Lassen  a.  a.  0.  III,  148,  4.  171.  Encyclopaedia 
Britannica  XV,  346  c.  XXIII,  719:  In  ancient  times  Ujjain  was  the  great 
and  famous  capital  of  Mälvä,  one  of  the  seven  sacred  eitles  of  the 
Hindus,  and  the  spot  which  marked  the  first  meridian  of  Hindu 
geographers. 

3)  Benfey  in  Ersch  u.  Grubers  Encyelopädie  II,  17  S.  269  b  (Artikel 
'Indien').  Encycl.  Britann.  XXI,  283.  XV,  346  c.  —  Vgl.  Curt.  Ruf. 
8,9,33:  Uli,  qui  in  urbibus  publicis  moribus  degunt,  siderum  motus 
Bcite  spectare  dicuntur  et  futura  praedicere. 

4)  Lassen  a.  a.  0.  IV  Anhang  S.  59,  der  diese  Bestimmung  dem 
ersten  wissenschaftlichen  Astronomen  der  Inder,  dem  Arjabhatta,  zu- 
schreibt. 


4  Wii  iir.i.M   Hi:iNi:i(ii   IJdschkk:  [70.2 

sat/.e  ülior  Di''  l\uiti>t'l  von  Ariii'  O/oiu')  Hiijijt:  'üiittM-  dem 
Aequtitor,  in  der  Mitto  der  Welt,  da  wo  wir  kein«'  lirei- 
tongrade  /älilen,  liejjft  ein  l'uiikt,  der  90"  von  jedem  der  4 
Cardinaliiunkte  entfernt  Vie^t.  Hier  lindet  sich  der  Tunkt,  der 
„die  Kuppel  von  A/.in  oder  von  Arin"  heißt.  Dort  ist 
ein  2ri>ßes,  liohes  und  unzimihmliclies  Schloß.  Nach  Ihn-al- 
Araby  dient  es  bösen  Geistern  /um  Aufentlialt  und  als  Thron 
dem  Iblis  (Teufel)^)'.  Pkschkl  fugtl)inzu:  'Columbiis  spricht 
davon  in  seinem  Bericht  an  den  spanischen  Kiuiig  über  seine 
dritte  Reise  und  saj^t:  l'tolemäus  und  andere  hielten  die 
Welt  für  kugelförmiii;,  weil  sie  glaubton,  diese  Hemispliäre 
(Amerika)  sei  gerundet,  wie  jene  wo  sie  lel)ten,  und  deren 
Mittelpunkt  sich  auf  der  Insel  Arin  befindet,  welche  unter 
dem  Äquator,  zwischen  dem  araliischen  und  persischen  Meer- 
busen liegt.' ^) 

W^eiter  führt  Peschel  den  Irrtum  Santakems,  Essai  III 
p.  311  (1848)  an,  daß  die  älteste  abendländische  Karte,  welche 
Aryn  verzeichne,  sich  als  Beigabe  zur  Imago  mundi  des  Kar- 
dinals Alliacus  vom  Jahre  14 10  finde'),  und  verweist  dem- 
gegenüber auf  eine  Entdeckung  von  Keinaud  1852,  bestehend 
in  einer  Weltkarte  des  XII,  od.  XIII.  Jahrhunderts,  einem 
Werke  des  Peter  Alfons  (geb.  1062)  mit  einer  Planisphäre 
wo  die  'civitas  Aryn'  in  der  Mitte  der  Welt  abgebil- 
det ist. 

Nach  Al.  V.  Humboldt  (im  Examen  critique)  hatte  Co- 
lumbus  auf  seiner  dritten  Reise  die  Werke  des  Alliacus  an 
Bord,  der  zweimal  von  Aryn  spricht  und  beide  Male  (Imago 
mundi    cap.  XV    u.    Cosmogr.    cap.  XIX)    den    Roger    Bacon 

5)  Unter  dem  'Thron  des  Iblis'  hat  man  wahrscheinlich  den 
Tempel  oder  Sitz  eines  altindischen  Gottes  zu  verstehen,  der  in  Ozene 
hoch  verehrt  wurde.  Die  streng  monotheistischen  Araber  machten  na- 
türlich den  Sitz  des  'Teufels'  daraus. 

6)  Al.  v.  Humboldt  bezeichnete  im  Jahre  1837  diese  Bestimmung 
als    ein    Rätsel,    dessen    Lösung    seit    Coliimbus  verloren  gegangen  sei 

-(Peschel  a.  a.  0.). 

7)  Vgl.  über  ihn  auch  Makinelli,  D.  Erdkunde  b.  d.  Kirchen- 
vätern, deutsch  von  Neumann.    Leipz.  1884  S.  76  A.  45. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.         5 

(Opus  majus  Lond.  1733  Fol.  188  u.  195)  wörtlich  ausschreibt. 
Dieser  aber  versetzt  die  von  ihm  mit  Sjene  identifizierte 
Stadt  Arym  unter  den  Äquator  und  sagt:  'Dies  ist  die  Stadt 
A.,  welche  die  Mathematiker  in  die  Mitte  der  bewohnten 
Erde  unter  den  Äquator  versetzen,  da  sie  in  gleichem  Ab- 
stände von  Ost  und  West,  Norden  und  Süden  sich  befindet, 
womit  der  Volksirrtum  widerlegt  wird,  als  liege  Jerusalem 
in  der  Mitte  der  Welt'  (s.  unt.  Kap.  IT)}) 

Weiter  wies  Reinaud  (Aboulfeda,  Introd.  p.  CCXLVI) 
nach,  daß  im  Occident  zuerst  Gerhard  v.  Cremona  (12.  Jahrh.) 
von  Arin  gesprochen  hat  in  seiner  Übersetzung  der  1070 
zu  Toledo  von  Abu-Ishak-Ibrahim  verfaßten  astronomischen 
Tafeln,  worin  von  einem  'medium  mundi,  qui  locus  dicitur 
esse  in  India  in  civitate  scilicet,  quae  vocatur  Arin',  die 
Rede  ist. 

Wie  man  also  heute  nach  dem  Meridian  von  Paris  und 
Green  wich  rechnet,  so  nahmen  die  Araber  des  Mittelalters 
einen  idealen  Meridian  an  und  ließen  diesen  die  im  Zentrum 
Indiens  gelegene  Stadt  Arin  berühren.  In  diesem  Falle 
haben  sie  sich  wohl  sicher  an  die  uralte  Weltkarte 
der  Inder  angeschlossen,  deren  'Omphalos'  oder  Zentrum 
die  durch  König  Vikramaditya  mit  einer  hochberühmten 
Sternwarte  versehene  Stadt  Odjein  (=  Ozene  des  Ptolemäus), 
der  Mittelpunkt  indischer  Gelehrsamkeit  um  jene  Zeit  war, 
als  die  Araber  große  Eroberungen  in  Indien  machten.  Der 
über  Odjein  gezogene  Meridian  berührte  aber  zugleich  die 
Insel  Lanka  (=  Taprobane,  Sihala,  Z!dXai^  Uiaovvdov'l 
EakiKTi  [Ptolem.],  Selan,  Serendiva  [Ammian],  Serendib  [arab.J, 
==  EelsdCßa  nach  Kosmas  Indikopleustes)^^),  d.  i.  Zeylon 
(Peschel  a.  a.  0.  S.  52). 

Auf  Zeylon  aber  waren  nach  der  Annahme  der  Araber, 
welche  sich  jedoch  auch  hier  wohl  an  altindische  (bud- 
dhistische)   Vorstellungen    und    Sagen    angeschlossen    haben 

8)  Vgl.  Marixelli  a.  a.  0.  S.  76  Anm.  45,   nach   dem  Alliacus  Je- 
rusalem wenigstens  zum  Mittelpunkte  der  Klimata  machte. 
8  b)  Vgl.  KiEPEKT,  Lehrbuch  d.  alt.  Geogr.  §  42. 


b  WiMiKLM  IIkinuich  Kohchku:  [7".  3 

dürften,  die  Legenden  vom  ersten  Menschen  (^Adani)  und  vom 
Paradiese  lokalisiert,  die,  wie  siüiter  gezeigt  werden  wird, 
mit  der  Vorstellung  vom  Nabel  der  Erde  untrennbar  ver- 
bunden sind.^) 

Vielleicht  beziehen  sieh  auf  /ejKm  und  die  diese  Insel 
berührenile  ^littagsliuie  aueh  folgende  Sätze  des  Kosnio- 
graphen  Aethicus,  die  von  der  sonst  rätselhaften,  im  indi- 
sehen  Ozean  gelegenen  südlichen  Insel  Syrtinice  (Sirtinice, 
Sirthnice,  Sirthimice,  Sirtiee)'")  mit  einem  höchsten  Berge 


9)  Vgl.  FAiiKinus,  Codex  Pseudeiiigr.  Vet.  Tentam.  Hamburg  1722 
11  21  ff.:  Mons  Ost  in  iiisula  Zeilon  totins  Indiae,  ut  fcrunt,  altis- 
simus,  quem  Lusitani  Tico  del  Adarno'  appellaveruut  incolarum 
fabulas  secuti.  In  hoc  specus  quaedam,  cujus  in  recessu  Arabes 
cum  Indis  constanter  tradunt  Adamuni  fletu  ac  contincntia  cnlpam 
redemisse.  Osteuditur  etiam  lacus  quispiam  parvus  falsae  natnrae,  qui 
ortus  sit  ex  lachiymis  Evae  Abclem  occisura  deflentis.  Man;na  in- 
super  reUgione  ab  advenis  visuntur  vestigia  Adami.  —  p.  23:  Indi  ple- 
rumque  fabulam  corrumpunt,  quod  credi  volunt  Adamum  in  eadetu 
iusula  creatum,  in  eadem  Paradisum  fuisse.  Diese  Lokalsage  ver- 
dient gewiß  eine  ausführUcbe  Untersuchung.  —  S.  auch  DÄnNiiARDT, 
Natursagen  II  S.  234 f.  —  Bei  dieser  Gelegenheit  gedenke  ich  noch 
einer  wertvollen  brieflichen  Anregung  Fr.  Hommkls  in  München,  der 
mir  am  30./VI.  15  schrieb:  'Der  Berg  Sinnalu  (auf  Celebes)  und  der 
Zinnalo  (in  Slam;  vgl.  N.  Omphalosstud.  S.  72 f)  im  Zentrum  der  Erde 
gehört  gewiß  zum  alten  Namen  Sinhala-dvipa  von  Ceylon,  den  man 
gewöhnlich  von  sinha  Löwe  ableitet.  Ceylon  hieß  Taprobane,  was  an 
hebr.  tabbur  =  Nabel  erinnert.  Ich  hoffe,  nächstes  Jahr  Beiträge  zum 
Omphalos  aus  altorientalischen  Quellen  zu  veröffentlichen.' 

ig)  Wenn  man  die  außerordentlich  mannichfaltigen  Benennungen 
der  Insel  Zeylon  in  Betracht  zieht  (s.  darüber  Kiepert,  Lehrb.  d.  alt. 
Geogr.  §  42):  TaTtQoßävr\  (von  Tämraparni,  vulgär  Tämbapanni,  dem 
Namen  der  früheren  Hauptstadt),  Sinhala  (vulg.  Sihala,  b.  Ptolem. 
Zdlcci,  Zalinrj),  jetzt  Selan  (vulg.  Ceylon  nach  portugiesischer  Schreib- 
weise), Serendiva  (nach  persischer  des  Lautes  1  ermangelnder  Aus- 
sprache) bei  Amm.  Marc.  =  Serendib  (bei  den  Arabern)  =  HiBXidißa 
(im  Periplu8\  d.  i.  Sinhala  -|-  dvipa  (=  Insel),  so  wird  man  es  wohl 
nicht  für  unglaublich  erkliiren,  daß  daraus  bei  Aethicus  die  Formen 
Sirtinice  etc.  entstehen  konnten.  Vgl.  auch  Ozene,  =  Uggajini  =  Oud- 
jein  =  Asin  =  Arin  usw. 


70,  2]     Der   ÜMPHAIiOSGEDANKE   BEI  VERSCHIEDENEN   VÖLKERN.  7 

Namens  Austronothius  berichten  (ich  zitiere  nach  der  Aus- 
gabe von  IL  WuTTKE,  Leipz.  1854): 

p.  12  Kap.  21:  Lineam  praemagnam  tendentera  ad 
meridiem:  revera  nimio  frigore  inculta  a  septentrione 
a<(d?>  meridie<(m?)>  nimis  opulentani  plagam,  quam  umbe- 
licum  solis  [orbis?]^^)  idem  cosmographus  refert.  Dicit  euim 
insolam  meridianam  Syrtinicen  ad  umbilicum  solis 
[orbis?]^^)  in  magnum  oceanum,  parvula  statura,  silvas  et 
nuUos  accessus  hominum,  nisi  raro,  si  naves  vento  turbatae 
sunt  contrario. 

p.  13  Kap.  2;^:  Haec  omnia  de  ianuis  caeli  et  cardinibus 
mundi  tergoque  solis  [?],  septeutrione  et  umbelico  eins  de- 
scripsit.  Meridiem  lineam  a  parte  ad  partem  media m 
mundi  protelautem  ab  aquilone  in  meridiem  .  .  . 

Trotz  der  raiserabeln  Überlieferung  und  der  vrohl  schon 
von  Haus  aus  etwas  unklaren  Ausdrucksweise  scheint,  wie 
schon  Lelewel  (Geogr.  du  moyen  äge  II  p.  8  u.  p.  123)  ge- 
sehen hat,  die  Insel  Syrtinice  einerseits  mit  einem  von  Nor- 
den nach  Süden  gezogenen  Meridian,  anderseits  mit  einem 
Nabel   (umbilicus)    der   Erde   in  Zusammenhang   gebracht 


1 1)  Ich  vermute  ebenso  wie  Lelewel  (s.  unt.)  daß  statt  solis,  was 
mir  gar  keinen  vernünftigen  Sinn  zu  ergeben  scheint,  zu  lesen  ist: 
orbis  (terrarurn}.  Wie  ist  es  aber  zu  erklären,  daß  aus  orhis  solis 
werden  konnte?  Bekanntlich  werden  in  Handschriften  statt  rjXiog  (sol) 
und  GsXrjvt]  (luna)  sehr  oft  die  Zeichen  0  und  ^  geschrieben.  Das 
Zeichen  für  rjXiog  (sol)  aber  kann  natürlich  auch  y.vv.'Kog  oder  orhis  be- 
deuten. So  konnte  ein  Abschreiber  leicht  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  das  Zeichen  0  hier  die  Sonne  bedeute,  weil  ihm  diese  Bedeutung 
geläufiger  war.  Vgl.  Paktiiet,  Zwei  griech.  Zauberpapyri,  Abh.  d.  Berl. 
Akad.  1865  S.  172  unter  fiXiog  u.  S.  177  unter  asli^vr}.  —  Derselbe 
Ausdruck  umhelicus  solis  kehrt  wieder  Kap.  20  p.  11  Wuttke:  Sic  et 
a  meridie  nimis  opulentam  plagam,  quam  umbelicum  solis  [=  or- 
bis?] idem  chosmografus  refert,  temperatam  et  ditissimam,  ventis  sa- 
lubrem,  imbribus  pinguissimis  infectam.  Es  handelt  sich  in  diesem 
Zusammenhang  offenbar  um  Indien  (vgl.  p.  12,  6:  e  Gange  hippo- 
potamos).  Unmittelbar  vorher  war  von  einer  linea  praemagna  tendens 
ad  meridiem,  d.  h.  doch  wohl  vcfn  dem  mitten  durch  Indien  gezogenen 
Mei'idian  von  Ozene  die  Rede. 


8  Wii.MEUM  ITkinku'h  Kos<iiku:  l7^',  2 

zu  wi'i-dou,  zwei  wichtige  Merknuilo,  ilic  mit  oini<]i;«M-  Wahr- 
si'heinlickeit  nur  auf  das  uach  altimüsi-luir  Auschauunj^ 
unter  dem  Meridian  von  O/.ene  liüj;eiule  Ceylon  bc/.o^^on 
werden  können.'-)  FiKr.KWKF-  a.a.O.  S.  123  sa'^t  darüber: 
'Ethicus  visita  le  nonibril  do  la  Icrre  ou  de  riieniisphere, 
l'ile  Syrtinioe,  par  hiqnelle  passe  d'un  pole  a  l'autre  la  ligne 
meridionale,  ou  le  meridien  i|ui  divise  rheniisphere  et 
riiabitablo  en  deux  parties  egales  occidentale  et  Orientale  .  .  . 
Cette  doctrine  de  la  ligne  meridionale  ou  du  meridien 
(jui  passait  ]'ar  l'ile  (Syrtiuice),  qui  est  le  siege  du  ciel  et 
le  uombril  de  la  terre,  vient  des  Grecs,  mais  sa  confusion 
avec  les  doctrines  indiennes  et  avec  le  meridien 
d'Oudjein  est  l'ouvrage  des  Arabes'.  Auch  diese  Auf- 
fassung Lelewels  scheint  eher  auf  Zeylon  als  auf  die  sonst 
in  älterer  Zeit  völlig  unbekannte  und  deshalb  unseres  Wissens 
nie  benannte  Insel  Reunion  zu  deuten. 


4.  Die  Assyrer  und  Babylonier  (rgl.  Omphalos  S.  2 3 f.). 

Daß  auch  Ninive  und  Babylon  sich  gerühmt  haben, 
Mittelpunkte  der  Erde  zu  sein,  kann  ich  jetzt  mit  weit  bes- 
seren Zeugnissen  belegen  als  es  Omphalos  S.  2  3  f.  geschoben 
ist.  Vor  allem  kommt  hier  in  Betracht  der  Umstand,  daß, 
wie  mir  Goldziher  nachweist,  Ja'kübi,  Kitäb  al-boldan  (Bibl. 
Geogr.  Arab.  Bd.  VII  p.  2^^,  19  ff.)  sagt,  daß  seine  Beschrei- 
bung „deswegen  mit  dem  'Irak  [=  'Iräk-Arabi  d.  i.  Meso- 
potamien und  Chaldaea]  beginne,  weil  es  die  Mitte  der 
Welt  und  der  Nabel  (surra)  der  Erde  ist;  Baghdad  (in 
der  Nähe    der    Ruinen    von    Babylon)    wieder   ist  die  Mitte 


.-rsj  WuTTKE  a.  a.  0.  S.  XII  f.  ist  geneigt,  die  Insel  Syrtinice  mit 
Reunion  (Bourbon)  zu  identifizieren,  doch  steht  dieser  Annahme  wohl 
die  Tatsache  entgegen,  daß  Reunion,  soviel  wir  wissen,  erst  im  Jahre 
1505  von  dem  Portugiesen  Mascarenhas  entdeckt  wurde  und  von  dem 
Meridian  Ozenes  sowie  von  allen  zur  Zeit  des  Aethicus  bekannten 
Ländern  (auch  von  Taprobane  =  Ceylon;  s.  a.  a.  0.  p.  14  Kap.  24)  viel 
zu  weit  abliegt. 


70,  2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.         9 

vom  'Iräi;.".^^)  Da  nun  aber  die  islamisclien  Araber  (wie 
ich  weiter  unten  zeigen  werde)  sonst  meist  entweder  Jerusa- 
lem oder  Mekka  für  den  Nabel  der  Erde  erklärt  haben, 
ist  es  so  gut  wie  sicher,  daß  Ja'kübi  in  diesem  Falle  einer 
altbabylonischen  Anschauung  gehuldigt  hat,  die  sich  auch 
sonst  sehr  wahrscheinlich  machen  läßt. 

Vor  allem  verweise  ich  auf  die  uralte  Sage  vom  Turmbau 
zu  Babel  und  der  dadurch  veranlaßten  Spaltung  der  ursprüng- 
lich einheitlich  gedachten  Sprache,  insofern  hier  Babylon 
deutlich  als  Zentrum  der  Erde  und  Urheimat  der  Menscliheit 
erscheint.  Genes.  11,  1  (Kautzsch)  heißt  es:  'Es  hatte  aber 
die  ganze  Menschheit  eine  Sprache  und  einerlei  Worte'.  — 
V.  4:  'Da  sprachen  sie:  Wohlan,  wir  wollen  uns  eine  Stadt 
bauen  und  einen  Turm,  dessen  Spitze  bis  an  den  Himmel  reicht, 
und  wollen  uns  ein  Denkmal  machen,  damit  wir  uns  nicht 
über  die  ganze  Erde  hin  zerstreuen'  (der  Turm,  auf 
dessen  Spitze  sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ein  astro- 
nomisches Observatorium  befand,  sollte  also  zugleich  das 
weithin  sichtbare  Symbol  der  Erdmitte  und  der  Einheit  aller 
Menschen  sein).  —  V.  6  'Und  Jahwe  sprach:  Ein  Volk  sind 
sie  und  haben  alle  dieselbe  Sprache'.  ...  V.  7:  'Wohlan,  wir 
wollen  hinabfahren  und  daselbst  ihre  Sprache  verwirren,  so 
daß  keiner  mehr  die  Sprache  des  andern  verstehen  soll.'  — 
V.8:  'So  zerstreute  sie  Jahwe  von  dort  über  die  ganze 
Erde,  so  daß  sie  davon  abstehen  mußten,  die  Stadt  zu  er- 
bauen'. Daß  in  dieser  von  mir  absichtlich  in  ihrem  ursprüng- 
lichen Wortlaut  angeführten  Legende  Babylon  mit  seinem  ge- 
waltigen Stufenturm  nur  als  Mittelpunkt  des  'Orbis  terrarum' 
und  Urheimat  der  gesamten  Menschheit  (vgl.  unten  das  von 
Adam  und  den  Orten  seiner  Erschaffung  handelnde  Kapitel!) 


13)  Vgl.  auch  Lelewel,  Geogr.  du  moyen  äge  II,  Epilogue  chap. 
70  p.  121:  'Dans  ces  Images  rondes  [gemeint  sind  arabische  Welt- 
karten] on  distingue  une  habitable  dont  le  centre  est  ou  Jerusalem 
ou  les  environs  de  Mekka,  de  Bagdad.'  Vgl.  Proleg.  p.  LXXXI 
(vol.  I).  S.  auch  Jeremias,  Handb.  d.  altor.  Geisteskultur  S.  56  und 
189  f.     (Babylon  =  'Mittelpunkt  des  himmlischen  Landes'). 


lo  WiMiKLM  Hkinuuii  Rosciikk:  I70, 2 

verstiindoii    avoihUmi    kuim.    dürfto    wohl    nicht  dem   «^erin^'steu 
ZwoitVl   uiitt>rlieg(Mi. 

Herrn  Trof.  .1.  Hkiin  in  Wiir/,l)urp;'  vor(hinke  ich  ferner 
folgende  wortvolle  briefliche  Mitteiluni,^: 

,,Mit  dem  'Omphalos'  S.  23  von  A.  Jkwkmias  erwähnten 
DUli.  AN.  Kl  weiß  ich  für  die  Omphalosvorstellun«^  nicht 
viel  an/.nfani]jen.  Aber  zur  babylonischen  Vorstellung^  von 
einem  Weltmittelpunkt  darf  ich  mir  vielleicht  erlauben, 
Sie  an  meine  von  Ihnen  so  freundlich  beurteilte  Studie,  über 
die  Siebenzahl  -zu  erinnern,  in  der  die  babylonißchen  Stufen- 
türme als  Symbole  des  Kosmos  gedeutet  sind,  dessen  Herr- 
schuft dem  auf  der  Spitze  thronenden  Gott  zukommt  (S.  15). 
Sollte  der  Thron  vielleicht  als  Zentrum  der  Welt  gedacht 
worden  sein?  Die  Namen  der  Stufentürme  würden  dazu 
passeu.^^) 

Der  Stufenturm  Gudeas  hieß  (S.  8 f.)  „Haus  der  7  iubu- 
gäte",  d.  h.  „Haus  der  7  Welträume"  oder  der  Welt;  der  von 
Babel  E-temen-an-ki  „Haus  der  Grundfeste  Himmels  und  der 
Erde"  (S.  9).  Der  Tempel  stellt  also  die  Grundlage  der 
Welt  dar.^^)  Ein  Tempel  von  Kis  fKis  bedeutet  „Gesamt- 
heit, Welt"  und  kommt  mehrfach  als  Stadtname  vor)  heißt 
Te-an-ki-bi-da  „Grundfeste  Himmels  und  der  Erde"  (S.  10), 
der  Tempelturm  von  Borsippa  „Haus  der  7  Beherrscher  Him- 
mels und  der  Erde"  (S.  10 f.).  Daß  die  Stufentürme  Sinn- 
bilder des  Kosmos  sind,  scheint  mir  sicher;  daß  bei  ihrer 
Herstellung  die  Vorstellung  von  einem  Weltberge  mitgewirkt 


14)  Dieselbe  Vorstellung  macht  Wensinck  in  seiner  Abhandlung 
'The  navel  of  the  earth'  in  einem  besonderen  Kapitel  (TU  E,  S.  54  0"-) 
auch  für  die  Westsemiten  wahrscheinlich.  Vgl.  z.  B.  i  Chron.  29,  23: 
'Und  so  saß  Salomo  an  Stelle  seines  Vaters  David  als  König  auf  dem 
Throne  Jahwes'  [in  Jerusalem]. 

15)  Eine  westsemitische  Parallele  dazu  bildet  offenbar  die  jüdische 
Vorstellung  ^om  Stein  Schetija  im  Tempel  zu  Jerusalem,  der  zugleich 
als  Mittelpunkt  der  Welt  und  als  dereu  Grundstein  aufgefaßt 
wurde.  Vgl.  Neue  Omphalosstudien  S.  16  f.,  Feuchtwang  in  Monats- 
schrift f.  Gesch.  u.  Wissensch.  des  Judentums  1910  S.  54-5  ll"-  u.  727  ol>- 
S.  auch  unt.  Kap.  II  A. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.        i  i 

hat,  ist  mir  walirscheinlicli.^^)  Der  sumerische  Name  für 
Tempel  i-kur  „Berghaus"  ist  auch  ins  Babylonische  über- 
gegangen (ekurru),  'viele  Tempel  werden  als  Berge  bezeich- 
net, z.  B.  E-har-sag-kur-kur-ra  „Länderberg"  ist  der  Name 
des  Haupttempels  Assurs,  und  ähnliche  Namen  sind  häufig. 
Der  Gott  Ellil-Bel  heißt  kur-gal  „der  große  Berg".  Von  hier 
aus  ließen  sich  wohl  die  babylonischen  Vorstellungen  von 
einem  Weltmittelpunkte  erklären  und  Beziehungen  zu 
denen  anderer  Völker  finden,  wozu  Ihre  sorgfältigen  Samm- 
lungen die  beste  Grundlage  geliefert  haben.  Ich  werde  das 
babylonische  Material  einmal  genauer  prüfen  und  hoffe  viel- 
leicht darüber  einmal  eine  Untersuchung  liefern  zu  können." 
Auch  die  eigentümliche  Rolle,  welche  Babylon  in  der  Legende 
von  der  Erschaffung  Adams  spielt  (s.  unten  Kapit.  11  B  4), 
deutet,  wie  später  gezeigt  werden  soll,  darauf  hin,  daß  es  als 
Zentrum  der  bewohnten  Erde  angesehen  wurde. 

Ebenso  wie  Babylon  (und  Bagdad)  scheint  auch  Ninive 
als  Mittelpunkt  der  Erde  gegolten  zu  haben.  Dies  ist  mit 
einiger  Sicherheit  zu  erschließen  aus  den  leider  etwas  ver- 
derbten Worten  des  Aethicus  Istricus  cap.  107  p.  80  ed. 
Wuttke:  'Assyria  eteuim  nobilissima,  purpora  quidem  pro- 
cerior,  ornata  opibus  omnium  bonorum.  Umbelicum  ac 
medullam*)  Niniven,  quam  philosophus  inter  alias  urbes  moe- 
nianam  Archochyrani[?]  vocitavit,'  Vgl.  dazu  Lelewel, 
Geogr.  du  moyen  äge  II  p.  9,  der  (Anm.  21)  dazu  bemerkt: 
'Fra  Mauro  pres  de  ce  nombril  pla^a  le  centre,  le  nombril 
de  sa  mappemonde  (Geogr.  du  moyen  äge  165).'  Daß  diese 
Zeugnisse  für  Bab3don  und  Ninive  sich  gegenseitig  stützen 
und  beglaubigen,  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden.  Wir 
werden  später  zu    zeigen    suchen,    daß    auch    im    Gebiete    der 

*)  =  meditullium? 


16)  Wensinck  in  seiner  weiter  unten  vielfach  von  mir  zitierten 
Schrift  The  navel  of  the  earth  ==  Verhandeliugen  der  K.  Akademie 
van  Wetenschappen.  Amsterd.  18 16  weist  nach,  daß  die  Westsemiten 
dem  Nabel  der  Erde  (Jerusalem,  Mekka  usw.)  eine  Höchstlage  zu- 
schrieben. 

Phü.-lii8t.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  2.  2 


12  Wii  iiri.M  Hkinimcu  l\os("iir,K:  1/0,2 

Westsotuiton  verscliiocU'iu'  Sii'ulte  sie-li  d\o  l'^lire,  Nuhcl  der 
p]r(it>  /u  sein,  streitinf  mai'ht«Mi,  besonders  Jerusalem,  Sichern, 
Bethel,  Mekka,  Dschedda. 

11.    Der  Omphalos^ediinke  bei  den  .Juden. 

A)   Jerusalem  als  Nabel  der  Erde. 

Bereits  in  meinen  beiden  ersten  Al)liandlungen  (Ompha- 
108  S.  24  ff.  und  Neue  Omphalosstudien  S.  15  ff.)  habe  ich  auf 
Grund  einer  Anzalil  von  Zeugnissen  (low  Beweis  geführt,  daß 
Jenisaleui  als  das  Zentrum  d(!S  lieiligen  Landes^^)  seit  alter 
Zeit  auch  den  Anspruch  erhoben  hat,  der  Nabel  der  Erde  /u 
sein.  Es  sei  mir  jetzt  nach  dem  Erscheinen  der  Arbeiten 
von  Wensinck,  Klameth  u.  a.,  durch  die  sowohl  das  Zeug- 
nismaterial als  auch  die  Zahl  der  in  Betracht  kommenden 
Gesichtspunkte  wesentlich  vermehrt  worden  ist,  verstattet,  die 
ganze  Frage  noch  einmal  ausführlich  zu  behandeln  und  auf 
diese  Weise  meine  früheren  Darlegungen  tunlichst  zu  ergän- 
zen. Dabei  sei  jedoch  vorausgeschickt,  daß  ich  hier  zunächst 
nur  die  nicht  mit  der  Adam  legen  de  zusammenhängenden 
Zeugnisse  anführen  und  behandeln  werde,  während  die  der 
Adamsage  angehörenden,  teils  aus  Gründen  der  Methode  teils 
um  die  bei  der  übergroßen  Fülle  des  Materials  sonst  leicht 
entstehende  Unül^ersichtlichkeit  tunlichst  zu  vermeiden,  einem 
besonderen  Abschnitt  (s.  Kap.  IIB)  vorbehalten  bleiben  müs- 
sen. Eine  derartige  kritische  Sonderung  bietet  zugleich  den 
nicht  o-erinwen  Vorteil,  daß  durch  sie  eine  Anzahl  neuer  Ge- 
sichtspuukte  genwonnen  wird,  die  dem  Verständnis  nicht  bloß 
des  Omphalosgedankens  sondern  auch  des  Schöpfungsmythus 
der  Westsemiten  zu  gute  kommen  dürften. 


17)  Joseph,  bell.  Jud.  3,  3,  5:  iieCccLtarr}  r^g  'lovöaiag  noXig  ra 
'IfQOööXi'ua  KSitai,  Trap'  0  y.at,  tlvss  ov%  affMOTtcog  oiicpaXbv  tb  aaxv 
Tijg  %wQDcg  iy.üXsGav.  Ebenso  schon  der  Aristeasbrief  (um  200  v.  Chr.) 
ed.  Wendland  p.  25,  8ff. :  'Slg  yccg  ■7taQSYSvi]&rifiev  i^tl  zov  ***  Kai 
roTtov,  i9scüQovji^v  xi]v  tioXiv  ^i6r\v  xaiLtvrii'  t^s  (iXr^g  'lovöaiag  in 
ÖQovg  vibr]Xr]v  ^)'^ovtog  ti]i'  aväraciv. 


70, 2]    Der  O.mphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       i  3 

Zu  der  (Omph.  S.  24)  als  grundlegend  angeführten  be- 
rühmten Stelle  des  Propheten  Ezechiel  (um  595  v.  Chr,)  5,  5: 
'So  spricht  der  Herr  Jahwe:  Dies  ist  Jerusalem,  die  ich  mitten 
unter  die  Völker  gestellt  habe,  und  rings  um  sie  her  Länder' ^^) 
kommt  jetzt  aus  noch  älterer  Zeit  (etwa  720  bis  700  v.  Chr.) 
das  Zeugnis  des  Jesaias  2,  2:  'In  der  letzten  Zeit  aber  wird 
der  Berg  mit  dem  Tempel  Jahwes  fest  gegründet  stehen  als 
der  höchste  unter  den  Bergen  und  über  die  Hügel  er- 
haben sein.'  Daß  wir  in  der  Tat  berechtigt  sind,  auch  diese 
Worte  auf  die  einzigartige  Geltung  Jerusalems  als  Erdnabel 
zu  beziehen,  scheint  mir  namentlich  Wensinck,  The  navel  of 
the  earth  S.  13  ff.  nachgewiesen  zu  haben,  der  darauf  auf- 
merksam macht,  daß  nach  dem  Glauben  der  Israeliten,  Syrer 
und  Araber  die  Vorstellung  des  Erdnabels  fast  untrenn- 
bar mit  der  einer  Höchstlage  verbunden  ist.^^)  Mit  die- 
ser Höchstlage  aber  hängt  natürlich  wieder  die  Vorstellung 
zusammen,  -daß  Jerusalem  und  ganz  Palästina  nicht  von 
der  Sintflut  betroffen  worden  seien.  Vgl.  Bereschit  Eabba 
fol.  XXXVII    vo.  a,    1.  20  ff.    nach    Wensincks    Übersetzuno- 

'  rj 

18)  Vgl.  dazu  auch  Ezech.  38,  12,  wo  die  Israeliten  bezeichnet 
werden  als  ^Leute,  die  auf  dem  Nabel  der  Erde  wohnen',  und  Hie- 
ronymus  zu  Ezech.  5,  5  =  Migne,  P.  lat.  XXV,  521  ff. :  Haec  dicit  Do- 
minus Dens:  'Ista  est  Jerusalem:  in  medio  gentium  posui  eam  et  in 
circuitu  eius  teiTas.'  Jerusalem  in  medio  mundi  sitam  hie  idem 
Propheta  testatur,  umbilicum  terrae  eam  esse  demonstrans.  Et 
Psalmista  nativitatem  exprimens  Domini:  'Veritas,  inquit,  de  terra 
orta  est'  (Ps.  48,  12).  Ac  deinceps  passionem:  'Operatus  est,  inquit, 
salutem  in  medio  terrae'  (Ps.  73,  12).  A  partibus  enim  Orientis 
cingitur  plaga,  quae  appellatur  Asia.  A  partibus  Occidentis  eius  quae 
vocatur  Europa.  A  meridie  et  austro:  Libya  et  Africa.  A  septentrione 
Scythis,  Armenia  atque  Perside  et  cunctis  Ponti  nationibus.  In  me- 
dio igitur  gentium  posita  est.  Vgl.  Klameth  a.  a.  0.  S.  90  und  Maki- 
NELLi,  Die  Erdkunde  b.  d.  Kirchenvätern,  Vortrag  .  .  .  von  Dr.  G.  Ma- 
rinelli,  deutsch  von  Neomann.  Leipz.  Teubner  1884  S.  75  Anm.  37 ff. 

19)  Da  ich  die  von  Wensinck  beigebrachten  Zeugnisse  nebst 
einigen  andern  und  den  Wortlaut  von  Wensincks  Beweisführung  weiter 
unten  in  dem  der  Bedeutung  des  Erdnabels  in  der  Adamlegende  ge- 
widmeten Abschnitt  eingehend  behandeln  werde,  so  kann  ich  mich 
hier  damit  begnügen  darauf  hingewiesen  zu  haben.     (S.  imt.  Anm.  98.) 


14  WiKHK.i.M  Hkin'ukh  Ruschku:  [70.2 

(ji.  u.  C).  S.  i.s):  'Tlio  hiiul  of  lsr;u>l  was  not  Ruhmorged  by 
tlu^  Dolu^^e.'-") 

Die  «floii'he  Aii.scliauuii«'  fiinltt  sich  eiin-'rsoits  in  der 
Sage  von  dem  ebenfalls  als  lOrduabel  gellendun  hochheiligen 
Herge  der  Saniaritaiier  Garizim  bei  Sichern^'),  anderseits  im 
Mythus  von  Deukalion,  dem  einzigen  aus  der  SintHut  geret- 
teten Manne,  der  bekanntlich  am  Parnass  bei  Delphi,  dem 
OiKfcilbs  yf/g,  landet,  welcher  Berg  natürlich  als  einziger  über 
die  Flut  emporragender  Punkt  /u  denken  ist. 

Überhaupt  spielt  Jerusalem  als  Erdnabel  eine  Haupt- 
rolle in  den  Mythen  von  der  Weltschöpfung  und  Sintflut, 
wie  ich  bereits  früher  (Omphalos  S.  25 f.  und  Neue  Ompha- 
losstudien  S.  16 f.)  nachgewiesen  habe.  In  dieser  Beziehung 
kommt  namentlich  'der  rätselhafte,  jeder  Etymologie  spot- 
tende Stein  Schetija'  (Kittel  in  Herzog  Plitt-Haucks  Real- 
enc.  XIX,  497,  2 4  ff.) -2)  in   Betracht,  von  dem  aus  nicht  bloß 


20)  Vgl.  ferner  Bin  Gorion,  D.  Sagen  d.  Juden  I,  57  u.  353:  'Das 
heilige  Land  liegt  höher  denn  alle  Länder' :  Sifre  debe  Rab  ed.  M.  Frie- 
demann, Wien  1864  (halachischer  Midrasch  zu  Numeri  u.  Deuterono- 
mium)  Deut.  §  152  und  Ta'anit  10"  (zitiert  von  Wensinck  a.  a.  0.  S.  16) 
loa:  8.  unt.  Kap.  III,  2  a.  E.  u.  S.  15. 

21)  S.  unt.  Kap.  III  a  und  vgl.  Wensinck  a.  a.  0.  S.  15.  Auch  auf 
Mekka  ist  dies  Motiv  übertragen  worden.  Nach  muslimischem  Glauben 
war  auch  die  Ka'aba  von  der  Sintflut  befreit  (Wensinck  a.  a.  0.  S.  15; 
3.  Kap.  IV);  denn  auch  Mekka  gilt  als  höchstgelegener  Punkt  der  Erd- 
scheibe. 

22)  Weiter  sagt  Kittel  a.  a.  0.  über  diesen  merkwürdigen  Stein: 
'Das  Allerheiligste  des  Tempels  [des  Serubbabel]  war^  nachdem  die 
Lade  schon  im  alten  Tempel  verschwunden  w^ar,  vollkommen  leer.  An 
der  Stelle,  wo  sie  gestanden  hatte,  soll  sich  eine  drei  Finger  hohe 
Steinplatte  befunden  haben,  auf  die  am  Versöhnungstage  der  Hohe- 
priester das  Rauchfaß  (ßviiiar'^Qiov)  stellte.  Es  ist  der  Stein  Sche- 
tija (Jos.  bell.  jud.  5,  5,  5.  Talm.  Joma  5,  2).  Was  das  Wort  bedeutet 
(es  spottet  jeder  Etymologie)  und  was  der  Stein  eigentlich  sollte,  ist 
in  vollkommenes  Dunkel  gehüllt.  So  kann  mau  sich  fragen,  ob  der 
Stein  nicht  ein  bloßes  Phantasiegebilde  war,  entstanden  aus  dem  Bedürf- 
nis, in  den  vollkommen  leeren  und  so  gut  wie  zwecklosen  Raum  wenig- 
stens irgend  etwas  zu  verlegen'.  Letztere  Annahme  scheint  mir  doch 
etwas  zu  kühn;  im  übrigen   verweise  ich   auf  gewisse  den  Raucher- 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  BEI  VERSCHIEDENEN  Völkern.       15 

die  Welt  gegründet,  sondern  auch  das  Gewässer  der  Urflut  und 
Sintflut  verschlossen  sein  sollte  (Feuchtwang  in  d.  Monats- 
schr.  f.  Gesch.  u.  Wissensch.  d.  Judentums  19 10  S.  547  ff., 
Neue  Oniphalosstudien  S.  15 ff.;  vgl.  auch  Wensinck  a.a.O. 
S.  15  ff.).  Ja  die  Rabbinen  lehrten  geradezu,  daß  das  jeru- 
salemische Heiligtum  vor  der  übrigen  Welt,  sogar  vor  dem 
Lichte,  erschaffen  worden  sei,  indem  sie  sich  für  diese  An- 
sicht auf  Jesaias  28,  16 ff.  beriefen: 

Darum  hat  der  Herr  Jahwe  also  gesprochen: 
Schon  habe  ich  im  Zion  einen  Grundstein  gelegt,  einen 
geprüften  Stein,  einen  kostbaren  Eckstein  festester  Grund- 
lage usw. 

Dazu    gibt   We>^sinck  a.  a.  0.    wertvolle  Erläuterungen, 

indem  er  bemerkt: 

Jewish  Hterature  gives  füll  information  on  tliis  point  Yoma  54b: 
,.Tlie  World  has  been  created  beginning  from  Sion.  In  the  same  place 
the  C"':;"  r'i'irr  and  the  j'-xn  n"b'r  are  discussed;  then  follows: 
„the  scholars  say :  the  one  and  the  other  have  been  created  beginning 
from  Sion."  —  Ta'anit  10 a  the  follo-wing  is  said  about  the  holy  Land 
„cur  masters  have  taught:  the  land  of  Israel  was  created  first,  and 
the  whole  of  the  rest  of  the  world  afterwarda."  —  In  Bereshit  Rabba 
fol.  V,  vo.,  a  supra,  it  is  said  that  the  light  was  created  before  the 
World.  —  In  Midrash  Shöher  Tob  p.  151,  1-  H  it  is  asked:  „Wberefrom 
did  the  Holy  oue  bring  forth  Light?"  Rabbi  Berekyah  said  on  the 
authority  of  Rabbi  Isaac:  „He  took  it  from  the  Sanctuary."  A  simi 
lar  tradition  is  to  be  found  in  Bereshit  Rabba  fol.  V,  vo.,  b.,  11,  infra. 

Auch  aus  der  syrischen  und  arabischen  Literatur  führt 
Wexsinck  a.  a.  0.  S.  17  ff.  mehrere  interessante  Belege  für 
die  Präesistenz  und  die  zentrale  Bedeutung  des  jerusalemischen 


altar  {&vfiiuT'^Qiov)  im  Tempel  als  inaalTarov  ovgavov  yial  yf]g  oder 
als  cv^ißolov  xfjs  iv  iiiaa  reo  -noGiLa)  r&ds  ■ii£i^ivi]g  yfje  (Clem.  Alex. 
Strom.  5,  6  p.  665;  vgl.  Neue  Omphalosstudien  S.  16  ob.)  oder  als  ft^- 
eov  yfjg  kcxI  vdccrog  av^ßoXov  und  zbv  \Liaov  rov  Koaiiov  xoitov  xsxXtj- 
qanivov  (Philo,  de  vit.  Mos.  II  p.  150  M.)  bezeichnende  Ausdl-ücke,  die 
den  Stein  Schetija  als  Basis  des  Thymiaterions  (Altars)  zu  bezeugen 
scheinen.  S.  auch  Jellinek,  Beth  ha-Midr.  5,  65  (u.  S.  17).  —  Ähnlich 
wie  ich  urteilt  über  das  %^vuiatriQi.ov  als  Erdenmitte  und  den  Stein 
Schetija,  wie  ich  nachträglich  gesehen  habe,  auch  Klameth  a.  a.  0.  S.94. 


i6  W  ii.iiKLM  Hi;tMUCu  RusciiKii:  [7O1  2 

Tempels  für  die  Wcltscliiipfiing  an,  z.  B.  dii'  Oileii  Siiloinos 
4,  I — 4,  wo  es  heißt:  'Niemand,  o  moiu  Gott,  verändert  Deine 
heilii^e  Stätte,  und  es  ist  nicht  möglich,  daß  er  sie  verän- 
dere nnd  an  einen  andern  Ort  versetzen  sollte,  weil  er  keine 
Gewalt  über  sie  hat.  Denn  Dein  Heiligtnm  hast  Du 
bezeichnet,  ehe  Du  andere  Orte  erschul'st;  die  Stätte, 
die  die  älteste  ist,  soll  nicht  von  denen  verändert  werden, 
die  jünger  sind  als  sie.'  Mit  Hecht  glaubt  W.,  daß  der 
Dichter  mit  die.sen  Worten  gewisse  Richtungen  7a\  bekämpfen 
und  7.U  widerlegen  sucht,  denen  die  Autorität  Jerusalems  ein 
Dorn  im  Auge  war;  mau  denkt  unwillkürlich  an  die  An- 
sprüche der  Samaritaner  (Sichern,  Garizim)  oder  der  Damas- 
zener (s.  Kap.  II  4  u.  III).  Vgl.  ferner  Zamakhshari's  Commentary 
on  the  Kor'äu  ed.  Nassau  Lecs,  Khadim  Hosain  and  Abd  al 
Hayi,  Calcutta  1856—59  zu  Sure  2,  37  und  Dyarbekri's 
Ta'rikli-al-Khamis,  Kairo  1283  vol.  1,  31,  i,  wonach  Allah 
die  Erde  geschaffen  hat  von  der  Stätte  aus,  wo  jetzt  Jerusa- 
lem liegt  (WensiisCK  S.  18).  Wir  werden  später  sehen,  daß 
die  weitere  Entwickelung  des  islamischen  Dogmas  dazu  ge- 
führt hat,  auch  diese  Vorstellung  auf  Mekka  zu  übertragen. 
Fragen  wir  nunmehr,  wie  es  gekommen  sei,  daß  man 
den  'Nabel  der  Erde'  auch  als  Ausgangspunkt  der  Welt- 
schöpfung ansah,  so  läßt  sich  eine  sehr  einfache  und  klare 
Antwort  geben.  Offenbar  beruht  die  ganze  Vorstellung  aui 
dem  Vergleiche  des  embryonalen  Nabels  mit  dem  Nabel  der 
Erde  oder  der  Welt,  wobei  es  ziemlich  gleichgültig  erscheini, 
ob  man  sich  die  Erde  oder  Welt  als  ein  lebendiges  organi- 
sches Wesen  dachte,  oder  nicht.  Denn  das  gesamte  Alter- 
tum scheint  geglaubt  zu  haben,  daß  das  organische  Leben 
des  Embryo  sich  vom  Nabel  als  dem  Zentrum  des  Körpers 
aus  entwickele-^),  ein  Gedanke,  der  fast  unwillkürlich  zu  der 


23 j  Vgl.  z.  B.  Philolaos  fr.  13  Diels  =  Tlieol.  arithm.  p.  20,  35  Ast: 
TBcaagsg  uqxccI  tov  Jmou  rov  J.oyixov,  wOTteg  xal  ^iXölaog  iv  rm  itsgl 
(fvOicog  Xiyti,  iyy.b(fa).og,  y.uQÖLU,  öucpuXog,  aiÖolov.  iyy.t(f^a).os  liBV 
vöov,  y.aQÖiu  öa  ipvxrjS  kuI  alaQ-rjßiog,  o^icpaXbg  dt  gi^diGLog  xat 
icvutfvciog    TOV    n-pwror,    aiöoTov    ös    cniQyiarog    v.    r.   /..  —  Vindi- 


70,  2]   Dek  Omphalosgedanke  bei  Verschiedenen  Völkern.       i  7 

Vorstellung  führen  mußte,  daß  auch  der  'Nabel  der  Erde' 
der  Ausgangspunkt  der  AVeltschöpfuug  gewesen  sei.  Vgl. 
z.  B.  Jellinek,  Beth  ha-Midr.  5,  65:  „Gott  gründete  mit 
Weisheit  die  Erde.  Gott  erschuf  die  Welt  wie  das  vom 
Weibe  Geborene.  So  wie  dieses  vom  Nabel  aus  sich 
entwickelt,  so  begann  Gott  die  Welt  vom  Nabel  aus 
zu  erschaffen,  woher  sie  sich  dann  weiter  entwickelte.  Wo 
ist  der  Nabel?  Das  ist  Jerusalem.  Der  Nabel  selbst  ist 
der  Altar.^^)  Und  warum  heißt  er  Stein  schettijja?  Weil 
von  ihm  aus  die  ganze  Welt  gegründet  wurde." -^) 

Selbstverständlich  hängt  mit  dieser  Bedeutung  Jerusalems 
und  überhaupt  des  heiligen  Landes  als  Mittelpunkt  der  Erde 
auch  die  im  folgenden  Kapitel  besonders  zu  behandelnde 
Vorstellung  zusammen,  daß  die  Erschaffung  des  ersten  Men- 
schen in  der  Mitte  der  Erdscheibe  stattgefunden  habe  und 
folglich  auch  das  Paradies  dorthin  zu  verlegen  sei  (vgl.  Om- 
phalos  S.  26  ob.). 

Zu  den  von  mir  bereits  (s.  Omphalos  S.  24ff-  und  Neue 
Omphalosstudien  I  S.  i6ff.)  aus  dem  Buche  Henoch  (um  iio 
V.  Chr.)  sowie  aus  Talmud  und  Midrasch  angeführten  Zeug- 
nissen für  die  im  rein  geographischen  Sinne  zu  verstehende 
zentrale  Lage  Jerusalems,  d.  h.  des  Terapelberges.  des  Tem- 
pels und  des  Altars  bzw.  des  Synedrions,  füge  ich  jetzt  noch 
eine  Anzahl  weiterer  Belege  aus  der  christlichen  Literatur 
des  ausgehenden  Altertums  und  des  Mittelalters  hinzu. 


cianus  cap.  16  ^  Wellmakn,  Fragm.  d.  griech.  Ärzte  I,  2i8f.:  primo 
mense  iactus  seminis  nostri  in  utero  materno  congregatur  in  um- 
bilicum,  in  hoc  est  congregatio  etc.  Mehr  b.  Wellmann  a.  a.  0.  und 
RoscHEB,  Omphalos  S.  7  Anm   6. 

24)  S.  oben  Anm.  22;  Omphalos  S.  24  f. 

25)  Feuchtwang,  Monatsschrift  f.  Gesch.  u.  Wissensch.  d.  Judent. 
1910  S.  727  f.  Röscher,  Neue  Omphalosstudien  S.  10  Anm.  24.  Wen- 
siNCK  a.  a.  0.  S.  19.  Wünsche,  Aus  Israels  Lehrhallen  III,  2  S.  219: 
'Abba  Saul  sagt:  Von  seinem  Nabel  aus  sendet  es  seine  Wurzeln 
weiter  und  weiter'.  Hier  liegt  wohl  der  uralte,  namentlich  von  den 
irriechen  scharf  ausgeprägte  Vergleich  der  Nabelschnur  mit  einer 
Wurzel  zugrunde;  vgl.  Omphalos  S.  6 f.  Anm.  6. 


l8  \\  ii.iiii.M   llr.iNKK'U  Roscokk:  [70.2 

Aus  der  Zeit  ilir  Kaiserin  Helena,  der  Mutier  Konstan- 
tins d.  (Jr.,  stammt  l)ekanntlieli  die  soj^enannto  Kreu/probe- 
wundorlegende,  über  wrlchc  vj^l.  E.  Nkstlk,  De  Saucta  Cruce. 
Herl.  1889,  S.  49  und  Klamktii  a.  a.  0.  S.  91  A.  2.  Hier 
beißt  es:  „Und  sie  landen  drei  Kreuze,  die  verborgen  gowoson 
waren.  Und  dudas  nalim  sie  und  brachte  sie  zu  der  gläu- 
bigen Kaiserin  (Helena).  Da  sprach  diese:  'Welches  von 
ihnen  ist  das  Kreuz  unseres  Herrn?'  Er  sprach;  'Ich  weiß 
es  nicht.'  Da  le^^te  sie  dieselben  in  die  Älitte  der  Stadt, 
indem  sie  erwartete,  an  ihnen  die  Herrlichkeit  Gottes  zu  sehen. 
Und  um  die  neunte  Stunde  des  Tages  trugen  sie  einen  toten 
Jüngling  daher  auf  einer  Bahre,  um  ihn  zu  begraben.  Und 
als  Judas  es  sah,  augenblicklich  faßte  er  sich  und  sprach 
zur  Kaiserin:.  'Xun,  meine  Herrin,  sollst  du  die  Kraft  des 
Kreuzes  sehen  und  die  in  ihm  verborgene  Herrlichkeit.'  Da 
setzten  sie  die  Bahre  nieder,  und  er  nahm  eines  von  den 
Kreuzen  und  legte  es  auf  die  Bahre.  Und  als  das  dritte 
Kreuz  daran  kam,  daß  es  auf  den  Leichnam  gelegt  wurde, 
zur  Stunde  stand  der  Jüngling  auf."  (Vgl.  Mus.  Brit.  Add. 
12  174  u.   14644  b.  Nestle  a.  a.  0.  61.) 

Der  hier  gemeinte,  im  Zentrum  von  Jerusalem  befind- 
liche Punkt  ist  offenbar  identisch  mit  der  'valde  summa  co- 
lumna',  welche  in  dem  um  670  geschriebenen  Traktat  des 
Adamuanus  (=  Arculfus)  De  locis  sanctis  1.  HI  bei  Geyer,  Iti- 
nera  Ilierosolymitana  =  Corp.  Script.  Eccles.  lat.  Vol.  XXXVHI 
p.  239  erwähnt  wird.^'')     Das  Zeugnis  lautet: 

'De  aliqua  valde  summa  columna,  quae  a  locis  sauctis  ad  sep- 
tentrionem  in  medio  civitatis  stans  pergentibus  obvia  habetur, 
breviter  dicendum  est.  Haec  eadem  columna,  in  eo  statuta  loco,  ubi 
mortuus  iuvenis  cruce  Domini  superposita  revixit,  mirum  in  modum  in 
aestivo  solstitio  meridiano  tempore  ad  centrum  caeli  sole  perveniente 
umbram  non  facit,  solstitio  autem  transmisso,  quod  est  VIII  kal.  Jul., 
ternis  diebus  interj actis  paulatim  decrescente  die  umbram  primum  facit 


25)  Vgl.  über  diese  Schrift  und  ihren  Verfasser  Heisenberg,  Grabes- 
kirche u.  Apostelkirche  I,  S.  175  u.  Geyer  a.  a.  0.  praefat.  p.  XXXIII, 
sowie  in  seiner  Abhandlung  'Adamnanus  Abt  v.  Jona.'  Augsburg 
1895,  S.  3- 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verscuiedenek  Völkern.        19 

brevem,  deinde  processu  dieium  longiorem.  Haec  itaque  columua,  quam 
solis  claritas  in  aestivo  solstitio  meridianis  horis  stantis 
in  centro  caeli  e  regione  desuper  circumfulgens  ex  omni  parte  cir- 
cumfusa  peiiustrat,  Hierosolymam  orbia  in  medio  terrae  sitam 
esse  protestatur.  ^^)  Unde  et  psalmographus  propter  sancta  passio- 
nis  et  resurrectionia  loca,  quae  intra  ipsam  Heliam  continentur,  vati- 
einanscanit:  'Deus  autem  rex  noster  ante  saeculum  operatus  est  salutem 
in  medio  terrae'  [Psalm,  73,  12],  hoc  est  Hierusalem,  quae  medi- 
terranea  et  umbilicus  terrae  dicitur'.  (Vgl.  Hieron.  in  Ezech.  5,  5; 
9.  oben  Anm.  18.) 

Ähnlich  Baeda  in  seinem  liber  de  locis  sanctis  =  Geyer  a.  a.  0 
S.  307  (Baeda  schrieb  bald  nach  700):  'In  medio  autem  Hierusa- 
lem, ubi  cruce  Domiui  superposita  mortuus  revixit,  columna  celsa 
stat,  quae  aestivo  solstitio  umbram  non  facit  Unde  putant  ibi  me- 
diam  esse  terram  et  historice  dictum:  ''Deus  autem,  rex  noster,  ante 
saecula  operatus  est  salutem  in  medio  terrae'.  Qua  ductus  opinione 
et  Victorinus  Pictabionensis  antistes  ecclesiae  de  Golgotha  scribens  ita 
inchoat: 

Est  locus,  ex  omni  medium  quem  credimus  orbe 
Golgotha  ludaei  patrio  cognomine  dicunt'.     Vgl.  Migne  P.  L.  V  p.  294. 

Hier  erhebt  sich  die  Frage  nach  der  ursprünglichen  Be- 
deutung der  in  der  Mitte  der  Stadt  Jerusalem  errichteten 
hohen  Säule.  Klameth  a.  a.  0.  S.  91  f.  identifiziert  sie  mit 
der  auch  ^auf  der  Madabakarte^^)  verzeichneten  Kolossalsäule, 
welche  wohl  schon  seit  der  Erbauung  Aelias  den  Mittelpunkt 
des  halbkreisförmigen  Torplatzes  innerhalb  des  jetzigen  Da- 
maskustores sowie  den  umbilicus  oder  das  Zentrum  des 
städtischen  Straßennetzes  bildete,  und  deren  imposanten 
Eindruck   die    so   viele   Jahrhunderte   überdauernde   arabische 


26)  Vgl.  dazu  die  ganz  gleiche  Begründung  der  zentralen  Lage 
Jerusalems,  in  der  Legende  vom  Kreuzprobewuuder  oben  S.  18  und 
Marinelli,  D.  Erdkunde  b.  d.  Kirchenvätern,  Vortrag  von  Dr.  G,  M., 
deutsch  von  Neumann.  Leijizig  1884,  S,  76  Anm.  44.  Hier  führt  M. 
folgende  Worte  aus  Nicol.  filius  Soemundi,  abbas  thingorum,  11 54, 
an:  Ibi  (zu  Jerusalem)  est  medium  orbis;  ibique  sol  festo  s.  Joan- 
nis  stat  in  centro  coeli.  (Vgl.  Werlauff,  Symbolae  ad  geogr. 
p,  30,  52  u.  Lelewel  a.  a.  0.  Kap.  49.) 

27)  Vgl.  Klameth  a.  a.  0.  S.  92  Anm.  i,  der  auf  M.  Gisler,  Jeru- 
salem auf  der  Mosaikkarte  von  Madaba,  in:  Heil.  Land  LVI  (19 12) 
S.  225  ff.  verweist. 


^o  WiLUKi.M  Hkinuium  llosciiKU:  [70, 2 

Bezeiclmuntj:    des    l);imaskustores    .,l)äl)  fl-'uniCid"    mih    besten 
dartut'. 

Diese  Eikläiuni^  liat  in  der  Tut  iiiuiielieH  für  sicli.  Man 
ilenke  z.  IV  au  ilio  beiden  iiiinitten  der  Stadt  Uoui  auf  dem 
Forum  Uoumuuni  jj^nu/,  in  der  Nabe  der  l\eduerbübue  uud 
des  Coüeordiatem])els  erricbteten  Monumente:  den  von  Kon- 
stantin erbauten  Uinbilicus  urbis  J{ojnae  und  das  von  Au^ustuH 
im  Jahre  28  v.  Chr.  errichtete  Milliariuni  aureum.  Ersterer 
galt  als  ideeller  Mittelpunkt  der  Stadt  und  des  Reiches,  letzteres 
als  Geucralmeilenzeit^er  oder  als  Zentrum  des  gesamten  rö- 
mischen Straßennetzes  (vgl.  Omphalos  S.  35).  Auch  in  der 
gewaltigen  in  der  Üiadochenzeit  gegiündeteu  Hauptstadt  Sy- 
riens, nünilich  in  Antiochia  ad  Orontem,  gab  es  einen  das 
Zentrum  der  Stadt  bezeichnenden  'Omphalos',  nach  dem 
auch  der  ganze  ihn  umgebende  Platz  benannt  war  (Om])halos 
S.  34).  Das  ältere  Vorbild  aller  dieser  Monumente  war  wohl 
der  berühmte  schon  von  Pindar  (fr.  45  Boeckh  =  53  Bergkj 
gepriesene  uoreog  ö^cpuXbg  ■9-fo'ftg  Athens,  d.  h.  der  so  ziem- 
lich in  der  Mitte  der  Stadt  von  den  Peisistratiden  errichtete 
Zwölfgötteraltar,  der  zugleich  als  Zentral ra eilenstein  für 
das  gesamte  Straßennetz  Athens  und  Attikas  diente  (Om- 
phalos S.  33)"^'').  Wie  leicht  diese  „columna  celsa"  inmitten 
der  Stadt  Jerusalem  von  den  späteren  Bewohnern,  die  sich 
rühmten,  im  Mittelpunkt  der  Erde  zu  wohnen,  auch  zum 
hacpalog  yfjg  erhoben  werden  konnte,  dürfte  wohl  ohne  wei- 
teres einleuchten. 

Auch  zu  der  naiven  Begründung  der  zentralen  Luge  Je- 
rusalems in  unserer  Legende  hat  Klameth  zwei  treffende 
Analogien  gefunden,  indem  er  einerseits  auf  den  Erdennabel 


28»)  Nach  E.  CuuTiüs,  z.  Geschichte  d.  Wegebaus  bei  d.  Griechen 
==  Ges.  Abh.  I  S.  116  'stand  nicht  bloß  im  Kreuzpunkte  (xstQccoSia) 
der  Hauptstraßen  zu  Antiochia  sondern  auch  zu  Alexaudria,  Nikaia 
und  Byzantion  ein  in  Stein  ausgehauener  Omphalos.  Die  Seleuciden- 
Münzen  zeigen  ihn  mit  Binden  umwunden,  Apollon  auf  ihm  sitzend, 
den  Pfeil  zur  Erde  senkend,  zum  Zeichen  seiner  gnädigen  Gesinnung 
(s.  Müller,   Antiq.   Antioch.  I   p.  43).'     Vgl.  Omphalos  Taf.  I,   13  u.  16. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       2  i 

der  Chiiieseii  (Omphalos  S.  20 f.),  anderseits  auf  die  weiter 
unten  von  uns  anzuführende  volkstümliche  Begründung  der 
zentralen  Lage  des  Jakobsbrunnens  bei  Sichern  verweist 
(s.  unt.  Kap.  III  a).  Die  Samaritaner  nämlich  behaupteten,  daß 
dieser  Brunnen  den  Nabel  der  bewohnbaren  Erde  bilde,  weil 
alljährlich  an  einem  gewissen  Sommertage  zur  Mittags- 
zeit die  Sonne  in  das  Wasser  des  Brunnens  hinab- 
steigt, ohne  einen  Schatten  zu  werfen. 

Ferner  sei  hier  noch  einer  'O^q^aXög  genannten  Örtlich- 
keit im  Räume  des  mittelalterlichen  Jerusalems  gedacht,  die 
in  dem  sogenannten  Typikon'  (vor  720)  erwähnt  wird.  Unter 
diesem  'Typikon'  ist  eine  interessante  neuerdings  von  Papa- 
dopulos  Kerameus  aufgefundene,  in  der  Handsclirift  'Ayiov 
ZxavQov  43  vom  Jahre  11 22  erhaltene  und  unter  dem  Titel 
TvitiKov  xfig  iv  'IsQoöoXv^oig  ixKlriöLccg  in  den  'AvdXexta 
'TsQOdo^vfiitixijg  ZxKivoXoylag  T6[i.  dsvz,  Petersburg  1894, 
S.  I — 254  herausgegebene  Urkunde  über  gewisse  kirchliche 
Riten  während  der  Kar-  und  Osterwoche  zu  verstehen. ^^'') 

Genauer  gesagt  handelt  es  sich  um  eine  Osterprozession? 
die  im  8.  Jahrhundert  nach  den  einzelnen  Stationen  (Geth- 
semane,  Mexccvoia  xov  äyCov  TJbxqov^  der  Sophienkirche  u.a.m.) 
unternommen  wurde,  wobei  fromme  Lieder  ertönten  und  Prie- 
ster biblische  Texte  verlasen.  Nun  heißt  es  (p.  133,  26) 
nachdem  die  Texte  für  den  Stationsgottesdienst  dg  xijv  ayiav 
Zo(pCav  angegeben  sind:  Evd-vg  tiolov^sv  Xixi]v  soll  xov  'O/i- 
(pak6v,   [leGov   xov  ayCov   KiJTtov^^),    tjJccXXovxsg   <5xi%riQov 

,28'')  Vgl.  darüber  Heisenberg,  Grabeskirche  I,  176,  2  und  190  f., 
Baumstark,  Die  Heiligtümer  des  byzantin.  Jerusalem  nach  einer  über- 
sehenen Urkimde,  Oriens  Christianua  V  (1905)  S.  227 — 289.  Derselbe, 
Die  Modestian.  u.  die  Konstautinischen  Bauten  am  Hl.  Grabe  zu  Jeru- 
salem.   Paderborn  1915,  S.  2,  i3if.,   17—25  usw.    Klameth  a.  a.  0.  I03ff. 

29)  Zum  Verständnis  dieser  Worte  verweise  ich  auf  Klameth 
a.  a.  0.  S.  103:  ,,Da  als  '"'Ayiog  KfjTtog,  Josephgarten'  der  Raum  zwi- 
schen der  Auastasis,  der  sog.  Konstantinbasilika,  und  der  Golgotha- 
kirche  bezeichnet  wurde  (vgl.  das  Hodoeporicon  S.  Willibaldi,  Kap.  XVHI 
in  Tobler-Molinier,  Itinera  Hierosolymitana  263  u.  Baumstark,  D.  Heilig- 
tümer des  byz.  Jerusalem  235),   haben  wir  uns  also  das  Erdenzentrum 


2  2  WiLHKi.M  IIkinricii  Koscher:  [70  2 

X.  T.  X  Ks  lolgen  die  Licdor,  die  wiihroud  d(M-  l'iozcßsiou 
trcsimgou  wurden  (1.16,  K)"»:  frO^rs'  xoi'tkxjoj'  fjV  ^ö  Mi'doi^ 
T»/h  }'»lt.'  '5;K0s'  -t  A  fc  j' m)  ^'  d'.  Wir  höreu  dieses  Lied  und  dio 
Vorlesung  dos  Evangel.  Mutth.  27,  33  —  54,  *l''»n  ^i^'ißt  ps 
(137,  7):  LV'i^r?  AfT»)  f//:T()0(Ji^fv  toT'  ay/'ov  K^}civCo^)  e^a. 
Aus  diesen  Worten  ist  zunächst  mit  ziomlielier  Sicherheit  zu 
schließen,  daß  die  als  V^cpcdog  hezeichnete  Station  den  Mit- 
telpunkt der  Erde  bedeuten  sollte.  Aber  wo  hat  man  inner- 
halb der  Modestianischen  Renovationsbauten  diesen  'OficpccXos 
anzusetzen,  und  ist  dieser  mit  dem  'Krnnion'  identisch  oder 
nicht?  Diese  Frage  ist  neuerdings  ganz  verschieden  beant- 
wortet worden.  Hkisknberg  a.  a.  0.  S.  190 — 191  nimmt  un- 
bedenklich an,  daß  unter  dem  hier  genannten  'O^cprdög  = 
Meaov  trig  yi)g  der  Punkt  auf  der  'Scliädelstätte'  (==  KQavCov) 
zu  verstehen  sei,  wo  das  Kreuz  Christi  errichtet  war,  das  man 
in  christlicher  Zeit  ziemlich  allgemein  in  der  Mitte  der  be- 
wohnten Erde  errichtet  glaubte,  daß  also  'das  Kranion  (als 
ein  bloßes  Denkmal)  draußen  im  Freien  vor  der  Golgotha- 
kirche  im  Heiligen  Garten  lag'.  Gegen  diese  Erklärung  maclit 
aber  Baoistakk,  D.  Modestian.  u.  d.  Konstan.  Bauten  am 
Hl.  Grabe  zu  Jerusalem  S.  19  mit  Recht  geltend,  daß  die 
mehrfach  wiederkehrende  Formel  Ev&vg  Xix^  {ei^  oder  Ini), 
mit  der  zu  den  liturgischen  Texten  eines  weiteren  Stations- 
gottesdienstes übergeleitet  wird,  ein  Weitergehen  von  einem 
Orte  zu  einem  andern  bedeute,  daß  also  das  ayiov  KquvIov, 
nach  dem  Textzusammenhang  räumlich  vom  '0^i(fal6g  ver- 
schieden sein  müsse.  Auch  beruft  sich  Baumstark  richtig 
auf  den  großen  Unterschied  der  beiden  Präpositionen  slg  und 
£;n',  insofern  es  einerseits  heißt:  ttoiov^sv  Xityiv  knl  xhv  'Ou- 
(paXöv,  anderseits  sig  tö  äyiov  Kquvlov  (a.  a.  0,  S.  2 3  f.), 
wodurch  deutlich  bewiesen  wird,   daß   es   sich  beim  'Ompha- 


des  M^estusbanes  etwa  vom  VIII.  Jahrh.  angefangen  in  der  Mitte  des 
von  den  drei  genannten  Kirchen  eingeschlossenen  Raumes  zu  denken." 
Vgl  Plan  IV  bei  Klameth  a.  a.  0.  (=  Rekonstruktionsversuch  A.  Baum- 
sTABKs),  wo  E  den  Raum  des  Hagios  Kepos,  a  die  Stelle  des  'Om- 
phalos'  bezeichnet). 


70,2]  Der  OifPHALosGEDANKE  BEI  VERSCHIEDENEN  Völkern.       23 

los'  um  ein  bloßes  Denkmal  inmitten  des  heiligen  Gartens, 
beim  Kranion  aber  um  einen  betretbaren  Raum  (Kapelle, 
Kirche  usw.)  handeln  muß.  Darunter  kann  aber  aus  ver- 
schiedenen von  Baumstakk  angeführten  Gründen  und  nach 
bestimmten  Zeugnissen  kaum  etvras  anderes  als  die  unterhalb 
der  Kreuzigungsstätte  befindliche,  als  Grab  Adams  geltende 
Felsenkapelle  verstanden  werden,  von  der  im  nächsten  Ab- 
schnitt s.  S.  2  5  ff.)  die  Rede  sein  wird. 

Über  die  weiteren  Schicksale  dieses  'vom  Golgothafelsen 
losgelösten'  Denkmals  der  Erdenmitte  s.  Klameth  a.  a.  0. 
S.  100 ff.  und  103  ff.  Noch  heute  zeigt  man  in  der  griechi- 
schen Kathedrale  Jerusalems,  den  o^rpaXos  yfjs  in  Form  eines 
becher-  oder  kantharusartigen  Denkmals  mit  einer  umfloch- 
tenen gedrückten  Kugel  darin.  (Vgl.  Baedeker-Benzinger, 
Palästina^,  39  u.  A.  Jeremias,  Handbuch  d.  altorieutaUschen 
Geisteskultur  S.  34  Anm.  4.)  Eine  Abbildung  davon  habe 
ich  nach  einer  mir  von  A.  Jeremias  gütigst  übeiiassenen 
Photographie  im  Omphalos,  Taf.  X  Fig.  3  u.  ob.  S.  VI,  gegeben.^") 
Auch  zu  dem  ebendort  (Taf.  X  Fig.  4)  abgebildeten 
typischen  Orbis  terrarum  mit  dem  Zentrum  Jerusalem 
gibt  es  zahlreiche  Analogien  aus  dem  Mittelalter.  Vgl.  Lele- 
wel,  Geogr.  du  moyen  äge  II  Epilogue  chap.  70  p.  121; 
WuTTKE,  Üb.  Erdkunde  u.  Karten  des  Mittelalters.  Leipzig 
'  1853,  S.  42  f.  u.  Taf  V — VII;  Peschel,  Abhandlungen  zur 
Erd-  und  Völkerkunde  I.  Leipzig  1877,  S.  74 f;  Über  Land 
und  Meer  19 14,  Nr.  31  S.  805.  Marinelli,  Die  Erdkunde 
bei  den  Kirchenvätern,  Vortrag  von  Dr.  G.  M.,  deutsch  von 
Neumann.    Leipzig  1884,  S.  76  Anm.  44ff.  —  Peschel  a.  a.  0. 

30)  S.  auch  Lelewel,  Geographie  du  moyen  äge  I,  Prolegg.  LXXXI 
Anm.  28,  der  über  den  'nombril  de  Jerusalem,  centre  du  monde' 
bemerkt:  'Au  XV°  siecle  d'Ailly,  Mauro  discutent  cette  question;  las 
pelerins  visitent  la  colonne  ou  la  pierre  centrale.'  'Item,  le  lieu  que 
on  distlamoyenne  du  monde',  diteni423  Gilbert  de  Lannoy("Voyagep.  50), 
'Au  dedans  du  cueur  du  sainct  sepulchre  que  tienuent  les  Grecs  a 
vue  pierre  ronde  plus  haulte  que  les  aultres  qui  a  vng  trou  au  milieu, 
et  dit  on  que  cest  le  umbelic  du  monde  ou  le  moyen',  dit  en  1487  le 
carmelite  Nicola  de   Iluen  (Pelerinage  publie  ä  Lyon  1488   p.  DHU).' 


24  N\  n.iii;LM  Heinuk.ii  Ko8riii;ii:  [70,  2 

S.  53  sagt  darüber:  'Dio  Lateiiior  im  MitU'laltrr  haben  Jeru- 
salem als  ZtMitruiu  dor  \\v\t  anixosolirn.  Alle  ältercu  Karten 
bis  hinauf  und  höher  als  das  14.  .lahrh.  zeigen  uns  Darstel- 
hnii^en  dieser  Theorie  (vgl.  die  Sallust karten  Tat'.  V — VII 
ediert  von  \\  r  iTivK  a.  a.  0.).  So  dürftig  aber  waren  diese 
'Weltspiegel',  dali  ein  jreographisches  Gedicht  aus  dem  1 5.  Jahr- 
hundert noch  behaupten  konnte,  wenn  man  ein  Tau  [TJ  in 
das  Omikron  [0]  zeichne,  so  wäre  die  Figur  der  Welt  voll- 
endet. Vgl.  Leonardo  Dati  bei  Santaukm,  Essai  I,  p.  155: 
„Un  T  tlentro  a  nno  0  mostra  il  disegno  ||  Come  in  tre  parte 
tu  diviso  il  mondo.*'^')    Man  vgl.  unsere  Titel  Vignette! 

Die  bisher  augeführten  Zeugnisse,  zu  denen  alsbald  noch 
die  der  Adamh'gende  angehörenden  kommen  werden,  bewei- 
sen, daß  an  keinem  Orte  der  Welt  der  Omphalosgedanke  eine 
größere  Rolle  gespielt  hat,  als  in  Palästina  und  besonders  in 
Jerusalem.  In  dieser  Hinsicht  übertrifft  die  Hauptstadt  des 
jüdischen  Landes  sogar  Delphi,  dessen  Omphalos,  wie  ich 
früher  nachgewiesen  habe,  ungefähr  900  Jahre  lang  für  die 
Hellenen  und  die  Bewohner  der  Mittelmeerländer  der  ziemlich 
allgemein  anerkannte  hochheilige  Nabel  der  Erde  gewesen 
ist.^^)  Aber  die  Existenz  des  Omphalos  von  Jerusalem  läßt 
sich  mindestens  noch  zwei  Jahrhunderte  früher  nachweisen 
und  reicht,  wie  wir  soeben  gezeigt  haben,  noch  durch  das 
ganze  Mittelalter  bis  auf  die  jüngste  Gegenwart  herab.  Ja  es 
macht  fast  den  Eindruck,  als  sollte  sich  seine  Bedeutung  noch 
in  eine  ferne  Zukunft  erstrecken.  Denn  für  nicht  weniger 
als  drei  der  wichtigsten  Religionen,  die  jüdische,  die  christ- 
liche und  die  islamische  (s.  nnt.  Kap.  IV)  ist  Jerusalem  von  jeher 


31)  Weiteres  darüber  s.  bei  Peschel  a.  a.  0.  S.  54  u.  besondeia 
Aum.  2:  'Auf  der  Mappa  de  mari  et  terra  des  Marino  Sauuto  (1321) 
liegt  Jerusalem  in  der  Mitte  der  Welt  nach  Ezech.  5,  5.  Sie  stellt  die 
bekannte  Welt  als  eine  vom  Ozean  umflossene  Scheibe  dar,  geteilt 
durch  die  Achse  des  Mittelmeeres  und  die  senkrecht  nach  dieser  ge- 
sichteten Ströme  des  Nils  und  Tanais.  Mit  Hilfe  dieser  Karte  sind  die 
Stellen  im  Purgatorio  des  Dante  (II,  3  u.  XXVII,  i — 5)  leicht  zu  verstehen.' 

32)  Vgl.  Omphalos  S.  76 f. 


70,  2]   Der  OmphaIiOSGedamke  bei  verschiedenen  Völkern.        25 

entweder  die  Wiege  oder  eine  hochheilige  Stätte  ersten  Ran- 
ges gewesen,  und  es  erscheint  nicht  unmöglich,  daß  es  in 
dieser  Hinsicht  erneute  Bedeutung  erhält,  wenn  es  dem 
sogen.  Zionismus  gelingen  sollte,  sich  durchzusetzen  und 
Jerusalem  von  neuem  zum  Zentrum  des  orthodoxen  Juden- 
tums zu  machen. 

B)  Der  Omphalos  in  der  Adamlegende  (vgl.  Omphalos  S.  26). 

Bereits  Omph.  S.  26  habe  ich  der  eigentümlichen  Rolle, 
welche  der  Nabel  der  Erde  in  der  Legende  vom  ersten  Men- 
schen spielt,  kurz  gedacht,  doch  hat  sich  seit  dem  Erscheinen 
dieser  Abhandlung  teils  infolge  eigener  Sammlungen  und 
Forschungen,  teils  durch  die  überaus  dankenswerten  Arbei- 
ten Wensincks  und  Klameths  (s.  Yorw,  S.  III  f.)  das  erreich- 
bare Zeugnismaterial  so  wesentlich  vermehrt,  daß  ich  es 
für  wissenschaftliche  Pflicht  halte,  die  ganze  Frage  noch 
einmal,  und  zwar  wesentlich  auf  Grund  der  Arbeiten  der 
beiden  genannten  Forscher,  zu  beleuchten.  Soviel  ich  sehe, 
dürfte  es  sich  in  diesem  Falle  am  meisten  empfehlen, 
den  ziemlich  umfangreichen  StoflF  nach  lokalen  Gesichts- 
punkten zu  ordnen  und  kritisch  zu  bearbeiten.  Wir  be- 
crinnen  daher  unsere  Betrachtung  mit  der  Lokalsage  von 
Jerusalem. 

Auch  hier  wieder  müssen  wir  verschiedene  Lokaltra- 
ditionen unterscheiden,  von  denen  die  von  Golgotha  die 
bei  weitem  wichtigste  und  verbreitetste  ist. 


'ö' 


1.  Die  Adamlegende  von  Golgotha  (vgl.  Omphalos  S.  26). 

Sie  liegt  vollständig  vor  in  dem  wahrscheinlich  dem  5. 
oder  6.  Jahrhundert  entstammenden  'Christlichen  Adambuch 
des  Morgenlandes',  das  A.  Dillm.\nn  in  Ewalds  Jahrbüchern 
der  Bibl.  Wissenschaft  Bd.  V,  Göttingen  1853,  S.  i  — 144  aus 
dem  Äthiopischen  übersetzt  und,  mit  einigen  erklärenden  An- 
merkungen versehen,  herausgegeben  hat.  Der  für  uns  wesent- 
lichste  Inhalt   ist    (vgl.    Klameth  a.  a.  0.  S.  112  A.  3    und 


2b  Wii,nKi,M   IIkin'kioh  Kosciikr:  17''.  2 

GuTiiK    iu   Horzog-Plilt-li:iiu'ks    Kealonc.''  \'ll,    16)    kurz    fol- 

Zuiiiichst  Avird  orziiblt,  wie  (iott  Adatii  nucli  dem  Siin- 
dent'all  tröstete:  'Das  Wasser  des  Lebens,  nach  dem  du  ver- 
laugst, wird  dir  heute  nicht  gereiclit,  sondern  an  dem  Tage, 
da  ich  mein  Bhifc  ül)er  deinem  Haupte  vergießen  werde  auf 
der  Golgothaerde'  (Üillm.  S.  38).  Weiter  heißt  es  (a.  a.  (). 
S.  81),  Aiham  habe  unmittelbar  vor  seinem  Ende  seinem 
Sohne  Seth  und  dessen  Nachkommen  das  Gebot  hinterlassen, 
seinen  (Adams)  Leichnam  nach  der  Rettung  aus  dem  Wasser 
der  Flut  nach  dem  'Mittelpunkt  der  Erde  zu  schaffen, 
und  von  dort  werde  Gott  kommen  und  unser  ganzes  Ge- 
schlecht erlösen':  abermals  eine  deutliche  Anspielung  auf 
Golgotha.  Später  befiehlt  der  'Engel  des  Herrn'  dem  Mel- 
chisedek,  'da  er  auf  seinem  Lager  schlief,  er  solle  mit  dem 
Körper  seines  Vaters  Adam  in  die  Mitte  der  Erde  gehen' 
und  ihn  daselbst  von  neuem  bestatten  (S.  112);  und  als  Mel- 
chisedek  imd  Sem  endlich  an  den  genannten  Ort  gelangt 
sind,  ertönt  aus  dem  Sarge  Adams  eigene  Stimme  und  sagt 
(S.  IT 4)  zu  ihnen:  'In  das  Land,  wohin  wir  gehen,  wird  das 
Wort  Gottes  herabkommen  und  leiden  und  oben  auf  dem 
Platze,  wo  mein  Körper  liegt,  gekreuzigt  werden,  so 
daß  er  meinen  Scheitel  mit  seinem  Blute  benetzen 
wird.  Und  in  jener  Stunde  wird  meine  Erlösung  sein,  und 
er  wird  euch  in  mein  Reich  zurückbringen  und  mir  mein 
Priestertum  und  Prophtteutum  geben.'  Nach  Dillmann 
(a.  a.  0.  S.  7  ff.)  ist  das  Adambuch  'nicht  aus  dem  Griechi- 
schen, sondern  aus  dem  Arabischen  übersetzt  und  also 
nicht  schon  in  der  ersten  Literaturperiode  der  Abyssinischen 


33)  Dieselbe  Sage  findet  sicli  in  verkürzter  Form  auch  Ijei  Euty- 
chius  dem  Alexandriner  (Annales  b.  Migne  P.  Gr.  11 1  p.  911  ff.  und 
9 17  f.),  wo  ebenfalls  hervorgehoben  wird,  daß  Adams  Grab  sich  im 
Mittelpunkt  der  Erde  und  zwar  an  einer  Stelle  befunden  habe, 
die  'Jaljalah'  (=  Golgatha?),  d.  i.  Schädel,  genannt  wurde  (vgl. 
JfoMMERT,  Golgotha  S.  30  f.). 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       27 

^irche,   sondern  erst  in  der  zweiten   und   zwar   von  Ägypten 
her  in  jenes  Land  eingeführt  worden.'^*) 

Was  das  Alter  der  im  Adambuch  der  abyssinischen 
Kirche  behandelten  Sage  anlangt,  so  läßt  sich  dieselbe  ohne 
Schwierigkeit  zunächst  bis  ins  4.  Jahrhundert  zurückverfolgen. 
Das  erhellt  ohne  weiteres  aus  der  Übereinstimmung  seines 
wesentlichen  Inhalts  mit  der  zur  syrischen  Literatur  gehören- 
den 'Schatzhöhle'  (=  'Spelunca  thesaurorum'),  die  so  gut  wie 
sicher  dem  berühmtesten  Schriftsteller  der  syrischen  Kirche 
Ephräm  (306 — 378)  oder  wenigstens  seiner  Schule  zuzuschrei- 
ben ist  (Dillmann  a.  a.  0.  S.  10;  Bezold,  D.  Schatzhöhle 
aus  dem'syr.  Texte  übers.  Leipzig  1883,  S.  X.).  Hier  heißt 
es  (b.  Bezold  a.  a.  0.  S.  2 6 ff.):  'und  Noah  rief  meinen  Erst- 
geborenen Sem  und  sprach  zu  ihm:  ...  „Und  steige  hinauf 
und  setze  ihn  (den  Leichnam  Adams)  am  Mittelpunkte 
der  Erde  nieder  und  lasse  den  Melchisedek  dort  wohnen. 
Und  siehe,  der  Engel  des  Herrn  wird  vor  euch  hergehen  und 


34)  Aus  derselben  Quelle  scliöijfen  ihre  Adamlegenden  auch 
Eutychius  (10.  Jahrh),  Annales  =  Migne,  P.  gr.  CXI,  911 C,  9i5C, 
916  A,  918.  Moses  Barcephas,  Annales  ecclesiastici  =  Migne,  P.  gr. 
CXI  498;  vgl.  Klämeth  a.  a.  0,  S.  99,  i,  113.  A.  Mommert,  Golgotha 
S.  28flF.;  s.  auch  Dillmann  a.  a.  0.  S.  8,  wo  noch  weitere  Literaturan- 
gaben zu  finden  sind,  und  Trumpf,  D.  Kampf  Adams  .  .  .  od.  D.  christl. 
Adamsbuch  der  Morgenlandes  =  Übersetzung  eines  Aethiopen  aus  dem 
Arabischen,  Abh.  d.  I.  KI.  d.  Kgl.  Akad.  d.  Wissenschaft.,  XVI.  Bd., 
III.  Abteil.,  München  1881,  S.  VI  ff.,  wo  nachgewiesen  wird,  daß  der 
erste  Teil  dieser  Schrift  'prätendiert,  die  i^riiiSQig  des  Epiphanius, 
Bischofs  von  Cyi)ern  (um  367),  zu  sein.'  S.  Xli  stimmt  Tr.  der  Ver- 
mutung WiLH.  Meyers  bei,  daß  'die  Grundschrift  des  Adambuches  vor 
dem  Aufkommen  des  Christentums  von  einem  Juden  verfaßt  worden 
sei,  wohl  in  einer  ähnlichen  Absicht  wie  das  Buch  der  Jubiläen,  um 
da*:,  was  die  Genesis  bot,  zu  erweitern  und  auszuschmücken.'  Übrigens 
hat  auch  schon  Dillmann  (a.  a.  0.  S.  142  Anm.  118)  im  Hinblick  auf 
Augustinus  (sermo  71)  und  andere  Zeugnisse  (s.  unten  Anm.  38)  vermutet, 
daß  die  Sage  von  der  Bestattung  Adams  auf  Golgotha  'nicht  ur- 
sprünglich christlich,  sondern  jüdisch  gewesen  sei'  und  'daß  die 
Schädelstätte  so  benannt  wurde,  weil  Adams  Schädel  dort  be- 
graben lag.' 

Phil.-hist.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  2.  3 


::8  WiLUKKM  Hkiniuch  ItoscicKu:  [70, 2 

t^iich  »Ifii  \\  0^ /.tigcii,  iii'milicli  (l«'u  M  i  ( tcl  |Mi  11  k  t  der  Erde. ''^•^ 
Und  dort  liängen  vier  Enden  (der  Erde)  miteinander  zusam- 
men; denn  als  Gott  die  Erde  schuf,  da  lief  seine  Kraft  vor 
ihr  her,  und  die  Erde  lief  ihr  von  vier  Seiten  ans  wie  VVincU; 
und  leises  Wehen  nach:  und  dort  (im  Mitteli)unkt)  Itlieb  seine 
Kraft  stehen  und  kam  zur  Kühe."*')  Dort  wird  vollbracht 
werden  die  l'^rlösuug  für  Adam  und  alle  seine  Kin- 
der." .  .  .  Und  als  sie  nach  (lolgatlia  kamen,  welches  der 
Mittelpunkt  der  Erde  ist,  zeigte  der  l*]ngel  Sem  diesen 
Ort.  Und  als  Sem  die  Leiche  unseres  Vaters  Adam  oberhalb 
dieses  Ortes  niedergesetzt  hatte,  da  gingen  vier  Teile  ausein- 
ander, und  die  Erde  öffnete  sich  in  Gestalt  eines 'Kreuzes; 
und  Sem  und  Melchisedek  legten  die  Leiche  Adams  hinein  . . . 
Und  derselbige  Ort  ward  Schädelstätte  genannt,  darum 
daß  dort  das  Haupt  aller  Menschen  hingelegt  wurde, 
und  Golgotha,  weil  er  rund  war.' 

Aber  die  Sage  vom  Adamgrabe  auf  Golgotha  läßt  sich 
noch  mindestens  um  zwei  weitere  Jahrhunderte  zurück  ver- 
folgen, denn  es  ist  neuerdings  von  Baumstakk  und  Kla- 
METii^'')  nachgewiesen  worden,  daß  sie  schon  dem  Or  igen  es 
(185 — 254)  bekannt  war.  Vgh  Gramer,  Catenae  Graecorum 
Patrum  I,  S.  235  =  Migne,  P.  Gr.  XIII,  Sp.  1777):  tifqI  tov 
KQaviov  roTtov  rjX&ev  elg  rj^äg,  ort  'EßQuloi  TiuQaÖidöaöL  xo 
6ä)fia  TOV  ^Aöä^i  ixet  tsrdcp&cci.  Hier  ist  die  Notiz  außerordentlich 


35)  Nach  dem  Christi.  Adambuch  d.  Morgenlandes  übersetzt  von 
DtLLMANN  S.  122  soll  sogai  der  Name  Jerusalem  eigentlich  den  ''Mittel- 
punkt der  Erde'  bedeuten. 

36)  Dieser  etwas  unklaren  Vorstellung  scheint  die  Ansicht  ge- 
wisser Rabbinen,  z.  B.  des  R  Josua,  zugrunde  zu  liegen,  der  behauptete  r 
'Die  Welt  wurde  von  den  Seiten  aus  geschaften',  während  R.  Elieser 
lehrte:  Von  ihrer  Mitte  aus  wurde  sie  geschaffen;  denn  es  heißt 
(Job  38,  38):  ,,Al8  der  Staub  gegossen  wurde  zum  Guß  (festen  Klumpen) 
und  Schollen  angeheftet  wurden."  S.  die  Nachweisungen  Prof.  Win- 
ters in  den  "^ Neuen  Ompbalosstudien'  S.  74  u.  ob.  S.  16  f.  Anm.  23. 

37)  Baumstabk,  Die  Modestianischen  und  die  Konstantinischen 
Bauten  am  hl.  Grabe  zu  Jerusalem.  Paderborn  191 5,  S.  26.  Klametii 
a.  a.  0.  S.  107  A.  i. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkkrn.       2  g 

wichtig,  daß  die  'Hebräer'  behauptet  hätten,  im  Golgotha- 
hiigel  liege  Adam  begraben.  Klameth  (a.  a.  0.  S.  109)  ist 
freilich  geneigt,  das  'EßQcäoi  auf  'Judenchristeu'  zu  beziehen, 
während  ich  vielmehr  mit  anderen  zuversichtlich  annehme, 
daß  es  sich  um  eine  echt  jüdische  (rabbinische)  vorchristliche 
Legende  handelt,  um  diese  Annahme  zu  größter  Wahrschein- 
lichkeit zu  erheben,  berufe  ich  mich  vor  allem  auf  die  Zeug- 
nisse des  Athanasius  (295  —  373),  Ambrosius  (340 — ^399)  und 
Basilius  (um  448),  welche  übereinstimmend  aussagen,  daß  die 
Legende  von  der  Bestattung  Adams  auf  Golgotha  oder  die 
Auffindung  seines  Schädels  oder  seines  gewaltigen  Skeletts 
(os  magnum)  an  diesem  Orte  auf  jüdischer  (hebräischer), 
d.  h.  rabbinischer  Überlieferung  beruhe.^^)    Wie  man  im  Hin- 

38)  Athanasius,  De  passione  et  cruce  Domini  =  Migne,  P.  gr. 
XXVIII,  208  A:  '^'O^EV  ovSh  &XXccy^ov  Ttäe^si,  ovds  sig  äXXov  ronov 
GTavQovtat  rj  sig  tov  Kqccviov  rönov,  ov  EßQuicov  oi  S lödo-naXoi 
cpaöLv  (d.  h.  docli  wohl  die  jüdischen  Rabbinen)  rov  'ASän  ilvai  ronov. 

—  Epiphan.  (haeres.  XLVI)  bei  Mich.  Glycas  p.  120  Annal.  =  p.  227 
ed.  Bonn.  =  Fabricius,  Cod.  Pseudepigr.  Vet.  Test.  II,  37:  'O  pi^yag 
'KmcpdvLog  iv  rotg  Havagioig,  mGavxoyg  "Aal  6  ^syag  Ba6 iXs lo g  (in 
Esai.  V,  i)  iv  ty  elg  rov  7rQocpritr\v  'Hoatav  iQ\ii]vs'iCf.  XiysL  aygacpov 
TiagäSoCLv  TCsQiGm^saQ'ccL  \_iv]  rfj  c%y.Xi]aicc  nhQl  rov  'ASä^,  ag  Bv^vg  ^£ra 
To  iKßXrt&fjvaL  rov  TCccQccdeiaov  tlg  ri]v  'lovdaiuv  iX^Eiv  ^aQiv  rcagr]- 
yoQiag  cov  ScnmXsasv.  AvrT] . . .  yag  yij  nicov  xciXstrat.  'ExsiGs  Xontov  iv8ia- 
rgißsi,  iKslGs  'Aal  ri^ccjtrcii.  OaCfta  iCsv  ovv  idoKsi  roig  ögmGiv  17 
ixsivov  K£(paXr}  rfjg  caQxog  ÖLdQQvsiar^g,  ort  yial  ngcöTOv  iKstvov  'lovdaia 
VSKQOV  iSs^ato.  'Ev  ronco  Xomov  rivi  ■KaruQ'iyi.svoi  rb  roiovrov  yi guviov 
tÖtiov  KQaviov  rov  röiiov  ixsivov  ojvo^icceav.  'EneiGs  ovv  eravQOv- 
tccL  6  KvQtog,  Iva  Slcc  %vXov  ^coäay  rov  diä  ^vXov  a^ovra  rijv  vt'AQCociv. 

—  Ambrosius,  Explan  in  Luc.  X,  23  =  Migne,  P.  Lat.  XV,  1925  C:  Ipse 
autem  crucis  locus  vel  in  medio  est  conspicuus  Omnibus,  vel  supra 
Adae,  ut  Hebraei  disputant,  sepulturam.  —  Augustin.  sermo  71: 
Etiam  Hieronymus  antiquorum  relationem  refert,  quod  et  Adam 
primus  homo  in  ipso  loco,  ubi  crux  fixa  est,  fuerit  aliquando  sepultus, 
et  ideo  calvariae  locum  dictum   esse,   quia   caput  humani  generis  ibi 

dicitur   esse  sepultum.     Et  vere non  incongrue  creditur,  quia  ibi 

erectus  eit  medicus,  ubi  iacebat  aegrotus,  et  dignum  erat,  ut,  ubi  ac- 
ciderat  humana  superbia,  ibi  inclinaret  se  divina  misericordia,  et  san- 
guis  ille  pretiosus  etiam  corporaliter  pulverem  antiqui  peccatoris  dum 
dignatur   stillando  contingere  redemisse  credatur.  —  Basilius  v.  Seleu- 

3* 


30  WiLHKLM  IIkiniuch  RosoriKii:  [70,2 

blick  iiuf  (lirsc  ZiMii^nisso  die  vorchriKtliclie  Existcn/,  der 
Sage  vom  Grube  Adams  aul"  (iolgotha  in  Abrode  stellen  und 
behaujiten  kann,  daß  es  sieh  nni  eine  verbälinismäßig  späte, 
rein  ebristliche  Legende  bandle,  verstebe  icli  nicbt  und  gebe 
Baumstark  (a.  a.  0.  S.  26)  völlig  recbt,  wenn  er  sieb  für 
seine  Ansiebt  aucb  auf  den  Namen  Kqccih'ov  selbst  beruft, 
der  'ja  olfenbar  mit  dem  auf  Golgotba  begrabenen  oder  ge- 
fundenen vermeintlicben  Scbädcl  Adams  zusammenhängt,  also 

cia  orat.  38  =  Migne,  P.  j^r.  LXXXV,  409  A:  xarä  8s  zag  twv  'Iov- 
Saiav  nagaSuaii'g,  wg  qpaöt,  rb  -HQaviov  tov  'ASä^i  iKSißs  (d.h.  iv 
roXyod^ä)  EVQf9f]vai  .  .  .  Tovrov  %ccQiVy  cfaölvy  y.uL  v.QHviov  xonos 
iy.Xr,Qr\  6  röno?  ovrog.  —  Hierher  gehört  auch  Ps.-TertuU.  carm.  adv. 
jrarcioneni  II  =  Mijrno,  P.  lat.  II  1123:  'Os  magnum  hie  vcteres 
nostri  (d.  h.  wohl  unsere  jüdischen  Ahnen)  docuere  repertum.  Hie 
hominem  primum  suscepimus  esse  sepultum.'  Zum  Veretändnis  des 
'03  magnum'  verweise  ich  auf  den  namentlich  im  semitischen  Orient 
von  jeher  verbreiteten,  höchst  wahrscheinlich  auf  der  Entdeckung 
von  Knochen  gewaltiger  vorsündflutlichcr  Tiere  (Mammut,  Ichthyo- 
saurus usw.)  beruhenden  Glauben,  daß  die  ältesten  Menschen,  d.  h. 
Adam,  Eva,  Abel,  Seth,  Noah  usw.  von  riesiger  Größe,  d.  h. 
meist  40  Ellen  lang,  gewesen  seien  und  natürlich  auch  eine  dem 
entsprechende  Lebensdauer  besessen  hätten.  Vgl.  Röscher,  Die  Zahl  40 
im  Glauben,  Brauch  u.  Schrifttum  d.  Semiten,  S.  46  Anm.  84.  Dähn- 
HARDT,  Natursagen  I,  242  ff.  •  Mehr  b.  FABRiciu.s,  Cod.  Pseudepigr. 
Vet.  Test.  Hamburg  1722/23,  vol.  U  p.  41;  I  p.  75.  Wünsche,  Schöpfung 
u.  Sündenfall.  Leipzig  1906,  S.  gf.  u.  ijf.  Dii.ljiann  a.  a.  0.  S.  142 
Anm.  118  und  Klameth  a.  a.  0.  S.  107  A.  4;  vgl.  ebenda  S.  99t.  Anm.  i 
u.  2.  —  Merkwürdig  ist  übrigens  der  Widerspruch ,  der  sich  bei  Hie- 
ronymus  hinsichtlich  der  Lokalisierung  des  Adamgrabes  findet.  Denn 
während  er  (Epist.  46  ==  Migne  P.  L.  XXII,  485)  ausdrücklich  be- 
merkt: 'ünde  et  locus,  ubi  crucifixus  est  Dominus  noster,  Calvaria 
appellatur,  scilicet  quod  ibi  sit  antiqui  hominis  calvaria  condita 
et  sanguis  Christi  de  cruce  stillans  primi  Adam  et  iacentis  protoplasti 
peccata  diluerit',  versetzt  er  an  zwei  anderen  Stellen  (In  Matth.  27  u. 
In  Ephes.  5  =  Migne  P.  L.  XXVI  Sp.  219  u.  559)  das  Grab  Adams 
vielmehr  nach  Hebron  (s.  Kap.  II  B  3).  Vgl.  auch  Hieron.  im  Onomastikon 
rmter  Arboch,  wonach  Hebron  die  Grabstätte  Adams  (Jos.  14,  15  Vulg.), 
Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs  war.  S.  auch  Abulfeda  Syr.  p.  87. 
WiNER,  Bibl.  Realwert. '  I,  474,  2.  —  Auch  nach  muslinjischer  Tradi- 
tion (Tha'labI,  Tabari,  Azraki)  ist  Adam  in  Jerusalem  begraben: 
Wensinck,  The  navel  of  the  earth  27. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       3 1 

bereits  die  Legende  voraussetzt,  daß  der  Protoplast  unter  der 
Stelle  der  Kreuzigung  Christi  begraben  gewesen  sei.'  Eine  er- 
freuliebe Bestätigung  dieser  Ansicht  scheint  mir  auch  Guthes 
Hinweis  auf  die  schon  von  FabriciüS,  Cod.  pseudepigr.  Vet. 
Test.^  S.  5 9 f.;  7 5 ff.,  267 f  gesammelten  Zeugnisse  zu  ergeben, 
wo  die  Adamsage,  wie  es  scheint,  in  rein  jüdischer  Gestalt 
überliefert  ist.  Es  heißt  dort,  Noab  habe  nicht  nur  die  Erde 
unter  seine  Söhne  verteilt,  sondern  aucb  die  Gebeine  Adams. 
Sem  habe  den  Schädel  Adams  und  das  Land  Judäa  er- 
halten; jener  sei  dann  von  Sems  Nachkommen,  als  sie  das 
Land  besetzten,  in  Adams  Grabe  bestattet  worden.  'Hier 
ist',  wie  GuTHE  treffend  bemerkt,  'die  Sage  scharf  auf  den 
Ortsnamen  zugescbnitten ;  zugleich  erfahren  wir,  daß  man 
ein  Grab  Adams  (daselbst)  kannte'.  Was  das  Alter  der 
Sage  betrifft,  so  ist  sie  nach  Guthes  Ansicht  aus  der  gleichen 
Wurzel  entsprossen,  'der  das  Buch  der  Jubiläen  oder  die 
kleine  Genesis  seinen  Ursprung  verdankt,  dies  würde  uns  auf 
das  letzte  vorchristliche  Jahrhundert  führen.^*')  In  die 
Zeit  nach  dem  Tode  Christi  darf  man  die  Entstehung  nicht 
herabrücken,  da  es  undenkbar  ist,  daß  die  Juden  an  diese 
Stätte,  nachdem  Jesus  dort  gekreuzigt  war,  die  Sage  oder 
Legende  geknüpft  hätten'  (Guthe  in  Herzog -Pütt- Hau  cks 
Realenc.^  7,  46).*^)     Übrigens  hält  es  Guthe  für  wahrschein- 

40)  Das  ist  auch  die  Meinung  Littmanns,  der  das  Buch  der  Jubi- 
läen für  Kautzschs  Sammlung  der  Apokryphen  und  Pseudepigraphen 
des  A.  T.  übersetzt  hat  (a.  a.  0.  S.  37).  L.  versetzt  das  Buch  ebenfalls 
in  die  vorchristliche  Zeit,  es  ist  nach  ihm  vom  pharisäischen  Stand- 
punkt aus  geschrieben.  Auch  hier  (Kap.  8,  12  =  S.  55)  erhält  Sem  die 
^Mitte  der  Erde'  als  Erbe  für  sich  und  seine  Kinder  in  Ewigkeit, 
und  in  Kap.  19  (S.  56)  wird  der  Berg  Zion  ausdrücklich  als  Mittel- 
punkt des  Nabels  der  Erde  (d.  h.  Palästinas)  bezeichnet.  Von  dem 
Grabe  Adams  ist  freilich  hier  keine  Rede ;  auch  fragt  es  sich,  ob  hier 
von  dem  Berge  Zion  im  engeren  oder  weiteren  Sinne  (=  Jerusalem) 
gesprochen  wird. 

41)  Ähnlich  meint  auch  Mommert,  Golgotha,  S.  31,  'daß  bereits 
in  der  Zeit,  als  Christus  gekreuzigt  wurde,  eine  Grabhöhle,  welche  eine 
alte  Überlieferung,  die  schon  im  2.  Jahrh.  n.  Chr.  als  eine  'von 
den  Vorfahren  überkommene'    benannt  wird,   als   die  des  Adam 


// 


vi 


2 


\Vii,iii:i,M   Hkinhkmi   Koscükk:  [7^'" 


lieh,  (l;iß  <lio  auffiilloible  Rcschaffenhoit  des  Rodens  von  Tjol- 
ffotha  —  iun  FuBo  des  Abhiin<]fes  nämlich  befindft  sich  unter 
dorn  soliiideliirtij4on  Vorsprung  des  Felsens  wie  in  einer 
Nische  (Mt.  2,s,  27,  29)  ein  (irab,  das  Grab  Adams  —  dem 
Ort,  scinoii  Namen  einpetratjon  habe;  die  jüdische  Phantasie 
habe  den  grotesken  Schädel  für  den  Adams  erklärt  und  ihm 
darunter  sein  Grab  angewiesen.*^)  Auf  diese  Weise  sei  das 
Andenken  an  den  ersten  Menschen  für  Jerusalem,  den  Mit- 
telpunkt der  Erde   (Ez.  5,5.  38,  12),   gesichert  worden."') 


bezeichnet,  unter  ilem  Standorte  de»  Kreuzes  Christi  vorhanden  war. 
Eine  nach  dem  Kreuzestode  Christi  unter  dem  Staudorte  des  Kreuzes 
angelegte  Höhle  hätte  doch  wohl  niemand  den  Bewohnern  .Jerusalems 
als  das  Grab  Adams  weder  auszugeben  wagen  dürfen,  noch  auch  glaub- 
haft zu  machen  vermocht.  Dazu  kommt,  daß  die  Anlage  eines  Grabes 
an  dieser  Stätte  bald  nach  dem  Tode  Jesu  unmöglich  wurde,  weil  Gol- 
gotha  und  seine  Umgebung  schon  etwa  neun  Jahre  nach  dem  Tode 
JesH  durch  den  Bau  der  Mauer  des  Agrippa  in  den  Bereich  der  Stadt 
gezogen  wurde.' 

42)  Dieser  Ursprung  des  Namens  Kquvlov  für  den  Ort  der  Kreuzi- 
gung wird  freilich  von  alten  und  modernen  Zeugen  mehrfach  abge- 
lehnt. Vgl.  Epiphanius,  Advers.  haeres.  41  =  p.  4^5  Dind.  =  Migne 
P.  Gr.  XLT  p.  843:  "09-SV  (nämlich  weil  dort  t6  tov 'ASuil  aS>na  iKsito) 
slKorag  xb  inwvvfiov  6  rönog  ^0%^,  Kgaviov  SQurivBvöiievog  rorros,  ris 
övoiiaaiccg  to  6%t]aa  xov  xönov  i^cpbQuäv  xiva  ovx  vno- 
dsi^vvaiv.  Ovrs  ya.Q  iv  aiiga  xivi  nslrai,  iva  v.Quviov  xovro  IpfiTj- 
vEvriTcci,  Mg  inl  cä^axog  KscpaXij  xonog  Isyerai,  ovxs  aKomäg.  xal  o^rs 
iv  vibEi  Kslxai  Ttagcc  tovg  aXXovg  xoTtovg  .  .  .  Uo&sv  ovv  i]  inavv^iia 
tov  KQccviov;  'AXl'  innSr]  xov  TtQwxoTrXäarov  av&Qwnov  iv.BZ  xb  kqkviov 
BVQr,xcii,  Hai  ixft  xb  Xsiipavov  ivtTti-AUXO  xovzov  ^vfxa  -AQaviov  xonog 
iv.iv.'KT]ro.  Ebenso  Mommert  a.  a".  0.  S.  23  f.  u.  39  und  Tobler,  Gol- 
gatha S.  271.  Eine  neue  gründliche  Untersuchung  und  Aufnahme  des 
Lokals  scheint  demnach  notwendig. 

43)  GuTHEim  Artikel  Grab,  d.  heil.,  Herzog-Plitt-Hauck,  Realenc." 
VII,  46.  Weiteres  über  die  Topographie  und  Nomenklatur  von  Gol- 
gotha,  sowie  über  die  Schicksale  des  Adamgrabes  und  der  daraus  ent- 
standenen 'Adamskapelle'  s.  jetzt  bei  Baumstark,  D.  Modestian.  u.  d. 
Konstantin.  Bauten  am  hl.  Grabe  zu  Jerusalem.  Paderborn  191 5,  S.  17 ff. 
Klameth  a.  a.  0.  S.  106  tf.  Das  große  Jerusalemwerk  der  beiden  Domi- 
nikanerpatres H.  Vincent  u.  F.  M.  Abel,  0.  Pr.  (Jerusalem,  Recherches, 
de  topographie  etc.,  Paris  1914,  war  mir  bisher  nicht  zugänglich.) 


70,  2j    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.        ^^ 

Vielleicht  haben  beide  Momente,  sowohl  die  schädelartiere  Gestalt 
des  Felsens  als  auch  die  Auffindung  eines  'os  magniim'  (S.  30 
Aum.  38),  sowie  die  Existenz  eines  uralten  Höhlengrabes  zu- 
sammengewirkt, um  die  Vorstellung  zu  erzeugen,  daß  der  Urvater 
der  Menschheit  unter  dem  Hügel  von  Golgotha  begraben 
liege.  Daß  die  ursprünglich  nach  ganz  bestimmten  Zeug- 
nissen vorhanden  gewesene  altjiidische  Lokalsage  von  Gol- 
gotha bald  nach  dem  Tode  Jesu,  vor  allem  in  jüdischen, 
christenfeindlichen  Kreisen,  crecrenüber  der  Sage  vom  Adam- 
grabe  zu  Hebron  (s.  S.  40 ff.)**)  stark  zurücktreten,  ja  ganz 
versehwinden,  und  schließlich  nur  noch  in  christlichen  Kreisen 
fortleben  konnte,  ist  religionsgeschichtlich  leicht  zu  begreifen 
und  zu  erklären  (vgl.  Mommert  a.  a.  0.  S.  31).^°) 

Der  Vorstellung,  daß  Adam  auf  Golgotha  auch  erschaffen 
worden  sei,  bin  ich  bisher  nur  an  wenigen  Stellen  z.  B.  beim 
sog.  Breviarius  (ed.  Geyer,  Itin.  Hierosol.  p.  154)*^),  begegnet. 


44)  Sogar  ein  so  hervorragender  Kirchenvater  wie  Hieronymus 
hat  sich  schließlich  zugunsten  der  Lokalsage  von  Hebron  entschieden, 
was  natürlich  auch  die  christliche  Tradition  von  Golgotha  beein- 
flussen mußte.  (Vgl.  Klameth  a.  a.  0.  S.  iio  A.  i.  Baumstark  a.  a.  0. 
S.  26  f.) 

45)  Nebenbei  gedenke  ich  hier  noch  der  eigentümlichen  arabischen 
Überlieferung  (Wellhausen,  Reste  arab.  Heidentums  ^  S.  14),  nach  der 
Adam  nach  seinem  Tode  ''von  den  Banu  Scheth  (den  Sethiten?)  in 
einer  Höhle  des  Berges  Nod,  des  fruchtbarsten  Berges  in  der  Welt 
(Bezeichnung  des  Paradieses??),  im  Lande  Hind  (Indien??)  beigesetzt 
wurde.  Weiter  wird  berichtet,  wie  die  Banu  Scheth  das  Grab  Adams, 
als  Heiligtum  verehren.  Hinsichtlich  des  Wohnsitzes  Adams  und  der 
Sethiten  im  Lande  Eden  unterhalb  des  hochgelegenen  Paradieses  s. 
Dillmann  a.  a.  0.  S.  137  A.  i.  Vielleicht  darf  man  hier  an  die  arabisch- 
indische Adamsage  von  Zeylon  mit  seinem  Adamspik  denkeu,  dessen 
paradiesische  Natur  von  selbst  auf  die  Vorstellung  vom  Paradiese 
führte.  Das  Land  Nod  der  Kainlegende  (Genes.  4,  16,  östlich  von 
Eden!)  identifiziert  v.  Bohlen,  Genesis  S.  59  nach  einer  Andeutung  von 
Michaelis   mit  Indien   im  weiteren  Sinne.     Winer,   Realw.^  II,   167,  i. 

46)  Corp.  Script.  Eccl.  Lat.  XXX Villi  p.  154:  'Ubi  (seil  in  Gol- 
gotha) plasmatus  est  Adam'  (s.  Klamet»  a.  a.  0.  S.  108).  Ebenso 
auch  im  Clem.  Aeth.  und  im  B.  Juchasin  b.  Fabricius  a.  a.  0.  S.  90 
nach  Dillmann  a.  a.  0.  S.  142  A.  118.    Vgl.  unt.  Anm.  50  a.  E. 


^4  \\  11,111.1, .\i  ilKiMiicii  JüjüciiKu:  (7^\  - 

(^Vgl.  Sdiat/höhle  S.  .},  j  d.  ('hors.  von  Ukzold*')  und  Wkn- 
SINCK,  Tbc  iiuvol   oi'  tlic  parlli.     Anistcrdiiin    h)i6,  S.  22.) 

•2.  IHc  Adainlosroiuli^  von  Zlon  iiimI  Morijn. 

Bekanntlich  kommt  die  Bezeichnung  Morija  für  den 
eitrentlichen  Temi)ell)er<jr  im  Alten  Testament  nur  selir  selten 
vor,  und  der  viel  häufigere  Name  Zion,  d.  li.  ur.spninglieh 
der  Berg,  auf  welchem  die  Burg  Davids,  das  alte  und  feste 
Jerusalem,  erbaut  war,  bezeichnet  in  der  tlieokratischen  Sprache 
der  Propheten  und  Dichter  gewöhnlich  ganz  Jerusalem  mit 
dem  Tempelberg**),  so  daß  wir  wohl  berechtigt  sind,  den  ur- 
sprünglichen Gegensatz,  der  zwischen  Morija  und  Zion  be- 
stand, hier  einigermaßen  zu  ignorieren  und  beide  Benennun- 
gen als  eine  Einheit  zu  betrachten. 

Das  Charakteristische  fast  aller  in  dieser  Beziehung  für 
die  Adamlegende  in  Betracht  kommenden  Zeugnisse  besteht 
nun  darin,  daß,  im  Gegensatze  zu  der  Sage  von  Golgotha, 
in  der  meist  nur  vom  Grabe  Adams  die  Rede  ist*^),  für  Zion 
und  Morija  meist  nur  das  Motiv  der  Erschaffung  des  ersten 
Menschen  in  Betracht  kommt. 

Eines  der  ältesten  hier  zu  erwähnenden  Zeugnisse  ist 
wohl  das  dem  Rabbi  Elieser  zugeschriebene  (vgl.  Pirke  de 
R.  Elieser  Kap.  XI,  ed.  Amsterdam  p.  1 1 :  Klameth  a.  a.  0. 
S.  93  A.  3),  welches  lautet:   'Und   er  knetete   die  Erde   zum 


47)  'Und  [Adam]  nach  seiner  Erschaffung  stand  mitten  auf  der 
Erde,  und  er  setzte  seine  beiden  Füße  auf  den  Platz,  woselbst  das 
Kreuz  unseres  Erlösers  errichtet  wurde,  darum  daß  Adam  in  Jeru- 
salem erschaffen  ward.' 

48)  Vgl.  z.  B.  WiNEB,  Bibl.  Realwörterb.*  unter  Moria  und  Zion> 

49)  Auszunehmen  ist  vor  allem  (s.  Anm.  47)  die  Behauptung  der 
'Schatzhöhle'  p.  4,  2,  daß  Adams  Erschaffung  stattgefunden  habe  im 
Mittelpunkte  der  Erde,  an  demselben  Orte,  wo  später  das  Kreuz  Christi 
errichtet  worden  sei,  also  auf  Golgatha,  falls  hier  nicht  an  Jerusalem 
im  allgemeinen  zu  denken  ist;  vgl.  Wensinck  a.  a.  0.  S.  21  f.  und  die 
folgende  Anm.,  sowie  die  von  Dillmann  a.  a.  0.  S.  142  Anm.  118  am 
Ende  zitierte  Überlieferung  beim  Clem.  Aeth.,  daß  Adam  auf  Golgotha 
erschaffen  und  von  da  ins  Paradies  versetzt  sei. 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  jjei  verschiedenen  Völkern.        35 

Körper  Adams;  au  einem  reinen,  lieiligeu  Orte  geschah  dies, 
nämlich  in  der  Mitte  der  Erde',  als  welche  im  Folgenden 
das  Heiligtum  Jerusalems,  also  der  Tempel,  hingestellt 
wird  (vgl.  Wünsche,  Schöpfung  u.  Sündenfall.  Leipzig  igo6, 
S.  10).  Ähnlich  heißt  es  bei  Wensinck,  The  uavel  of  the 
earth  S,  2 1 :  'Now  according  to  Jewish  ideas  Adam,  the  sub- 
stance  of  mankind,  was  created  on  the  substance  of  the  earth, 
'  the  sanctuary,  more  particularly  the  altar.^^)  Ber.  Rabba 
XVII  vo.  a,  1.  6  infra:  'out  of  the  place  where  reconciliation 
y  made  for  him.  man  has  been  created'  (vgl.  ebenda  S.  27).^^) 


50)  Vgl.  auch  bei  Fabricius,  Cod.  pseudepigr.Vet.  Test.,  Hamb.  1722, 
S.  73  das  Zitat  aus  Maimonides'  in  Beit  abacbria  Kap.  2  (Klameth 
a.  a.  0.  S.  108,  3):  Est  autem  traditio  in  omnium  manu,  locum  illum, 
in  quo  David  et  Salomou  aedificavit  aream  pro  arca,  esse  eundem  lo- 
cum, in  quo  Abraham  extruxit  altare  atque  super  illud  ligavit  Isaacum, 
et  eundem,  in  quo  Noach,  postquam  egressus  erat  arca,  extruxit  altare ; 
et  hoc  esse  idem  illud  altare,  in  quo  obtulit  Cain,  Abel  et  Adam  pri- 
mum  sacrificium,  postquam  creatus  erat,  atque  inde  con- 
ditus  est.  Hinc  ajuut  sapientes:  'Adam  creatus  est  e  loco  ex- 
piationis  suae'.  Damit  ist  zu  vergleichen  eine  Stelle  aus  dem  B. 
Juchasiu  des  Moses  Maimonides  bei  Fabricius  S.  90:  Traditio  ab  Om- 
nibus recepta  est,  locum,  ubi  David  condidit  altare  in  area  Aravne, 
fuisse  locum,  ubi  suum  condidit  Abrahamus,  super  quod  ligavit  Isaa- 
cum, ubi  suum  condidit  Noachus,  cum  egrederetur  ex  arca;  ibidem 
fuit  altare  super  quod  obtulerunt  Cain  et  Abelus;  ibidem  Adamum 
obtulisse  cum  crearetur,  atque  inde  fuisse  creatum.  Dicunt 
sapientes,  idem  ei  locus  expiationis,  qui  creationis. 

51)  Vgl.  dazu  Pirke  R.  El.  XXXI:  R.  Ismael  sagt:  Als  Abraham 
und  Isaak  den  Berg  Moria  erreichten,  zeigte  der  Heilige,  gelobt  sei 
er,  mit  seinem  Finger  Abraham  einen  Altar  und  sprach :  Das  ist  der 
Altar,  auf  dem  Adam  geopfert  hat.  Vgl.  dens.  im  Midrasch  Haggadol 
Gen.  XXV,  9:  Das  ist  der  Altar,  auf  dem  Adam  geopfert  hat,  und 
die  Erde  zu  seinem  Leib  wurde  dieser  Stätte  entnommen. 
(Mitteilung  Dr.  Berdyczewskis).  Nach  Midrasch  Telpion,  Warschau  1875 
p.  19  c  d  wählte  Adam  als  seinen  Sitz  den  Berg  Moria,  weil  von 
diesem  Berge  (als  dem  höchsten  Punkt  der  Erdoberfläche  und  deren 
Mitte?)  aus  die  Gebote  am  schnellsten  gehört  werden,  oder  weil  das 
die  Stätte  ist,  von  der  aus  der  Heilige  .  .  .  die  Sünden  Israels  dereinst 
vergeben  wird.  Ja  es  gab  eine  Tradition,  wonach  der  Moria  der  Berg 
ist,  auf  dem  die  Thora  gegeben  werden  sollte.     'Unsere  Lehrer  sagen 


36  \Vii,iiKi,M  llKiNicicii  KoMUKu:  [70.2 

Nach  T.  Thenu'los,  .-/i  vTf()i  n'i^  (J),U((öCcc^  tov  roXyod-ä 
iQlujveicd  S.  210  (zitiert  von  Klamkiii  :i.  ii.  O.  S.  89  Anm.  i) 
verle<Tt  dit^  (lasell)st  an«xerillirte  Mixoa  /Vi'ftJti,-  (=  .Iu])il!ieii- 
buclO  Ka|).  .\  das  Urab  Adams  dorthin,  wo  der  Mensch  ge- 
biUiet  wnrde  (LiTTMANN  b.  Kautzsch,  Ajtokr.  n.  Psoudopigr. 
d.  A.  T.  11,  S.  48  übersetzt:  'Und  alle  seine  Kinder  be^n-nbeu 
ihn  (Adam)  im  Laude  seiner  Er.sehaHung'),  und  im  8.  Kap. 
(=  LiTTMANN  a.  a.  0.  S.  56:  'Der  Berg  Zion  Mittelpunkt  des 
Nabels  der  Erde')  wird  dieser  Ort  auf  dem  Berge  Zion  au- 
gesetzt, dem  y.tvTQoi'  rfjg  yfjg  (Klameth  a.  a.  0.  S.  8q  A.  i). 

Wenn  uach  mohammedauiscber  Legende  die  Erschaflung 
Adams  in  der  Nachbarschaft  von  Mekka  stattgefunden  haben 
sollte^-),  so  hat  mau  darin  einfach  eine  Übertragung  jerusa- 
lemischer Traditionen  auf  Mekka  zu  erblicken,  eine  Erschei- 
nung, die  sich  auch  sonst  vielfach  nachweisen  läßt.'"'-'^)  Mau 
denke  z.  B.  an  die  Übertragung  des  Adamgrabes  von  Jeru- 
salem nach  Mekka,  wo  es  auf  dem  Berge  Abukais  gezeigt 
wird  (Gesenius  in  der  Hall.  Enzyklop.  unter  Adam  S.  362, 
Hekbelot,  Biblioth.  Orient.  I,  95). 

Mit  der  Sage  von  der  Erschaffung  des  ersten  Menschen 
ist  wohl  fast  überall  die  Vorstellung  vom  Paradies  aufs 
innicrste  verbunden  gewesen.  Wir  können  uns  daher  nicht 
darüber  wundern,  daß  das  Paradies  bisweilen  in  dieselbe 
Gegend  verlegt  wird,   wo   die  Erschaffung  Adams  stattgefuu- 

nämlich,  daß  der  Berg  Moria  aus  seinem  Ort  herausgerissen  und  nach 
der  Wüste  versetzt  worden  sei,  damit  auf  ihm  die  Lehre  gegeben  werde. 
Der  Berg  Moria  ist  der  Berg  Sinai'  (Bt^uDvczEwsKi).  Ähnlich  wurde 
später  Bethel  und  der  Stein,  der  Jakob  als  Kopfkissen  bei  seinem  Traum  von 
der  Himmelsleiter  gedient  hatte,  mit  Jerusalem  und  dem  Stein  Schetija 
(dem  Nabelstein)  identifiziert  (s.  unten  Kap.  III  b  S.  54f-)- 

52)  Vgl.  Wensi.vck  a.  a.  0.  S.  21,  der  sich  auf  Khamls  i,  46  paen. 
und  Thalabi  p.  23 f.  beruft. 

53)  Wen-sisck  S.  21  macht  darauf  aufmerksam,  daß  sogar  'the 
origin  of  Muhammed's  substance  (tina)  is  in  the  navel  of  the  earth, 
in  Mekka.'  Khamis  I,  37,  7  sqq.;  Haiabi  I,  197,  2:  „the  origin  of  the 
clay  of  the  apostle  of  Allah  is  from  the  navel  of  the  earth  in 
Mekka."  And  finally  Adam  and  Muhammed  have  also  become  pre- 
existent  entities  in  Äljislim  tradition  (Haiabi  I,   197,  16;   198,  3  sqq.). 


70,2]     Der   OMPHALOSaEDANKE   BEI   VERSCHIEDENEN   VÖLKERN.  37 

den  haben  sollte,  d.  b.  nach  Palästina  und  in  die  Gegend  von 
Jerusalem. 

Ziemlich  deutlich  tritt  uns  diese  Anschauung  entsceofen 
bereits  in  den  Pirke  Rabbi  Elieser,  Abschnitt  20,  wo  unter 
anderem  erzählt  wird,  daß  Adam,  als  er  aus  dem  Garten 
Eden  (also  dem  Paradies)  vertrieben  wurde,  auf  dem  Berge 
Morija  seinen  Wohnsitz  nahm-^^),  weil  das  Tor  des  Gartens 
Eden  nahe  dem  Berge  Morija  ist  (Mitteilung  Professor 
Winters  in  Dresden). ^^)  Wenn  die  alte  sog.  Apokalypse 
Mosis  (Apoc.  apocr.  2 1  ed.  Tischendorf;  vgl.  Clemens  Übers. 
des  Lebens  Adams  u.  Evas  b.  Kautzsch,  Apokr.  II  S.  527)^^) 
den  Ort,  d.  h.  das  Zentrum  der  Erde,  wo  Adam  erschaffen 
ward^  mit  dem  Paradies  identifiziei-t,  so  scheint  auch  in 
diesem  Falle  an  Palästina  und  Jerusalem  gedacht  werden  zu 
müssen,   weil   für  beide  Lokalitäten  zwei  Hauptmerkmale  be- 


54)  Dieselbe  Tradition  vertritt  auch  Ps.- Jonathans  Targum  Jeru- 
schalmi  I  (zitiert  von  Klameth  a.  a.  0.  S.  108):  'Und  er  verstieß  ihn 
[Adam]  aus  dem  Garten  Eden  und  er  kam  und  wohnte  auf  dem  Berge 
Moria,  zu  bebauen  die  Erde,  von  der  er  erschaffen  worden 
war',  eine  Stelle,  welche  wohl  auch  für  die  Annahme,  daß  Moria 
der  Ort  der  Schöpfung  des  ersten  Menschen  gewesen  sei,  verwertet 
werden  kann.  Vgl.  auch  den  Sündenfallbericht  nach  Jalkut  Schim'oni: 
Wünsche,  Schöpfung  u.  Sündenfall.  Leipzig  1906,  S.  70 :  'Adam  zog 
aus  und  wohnte  außerhalb  des  Gau  Eden  am  Berge  Morija,  denn 
das  Tor  von  Gan  Eden  ist  angelehnt  (grenzt)  an  den  Berg  Morija. 
Von  da  hat  er  (Gott)  ihn  genommen  und  dahin  ließ  er  ihn  zurück- 
kehren, wie  es  heißt:  „zu  bebauen  den  Erdboden,  von  dem  er  genom- 
men war".' 

55)  Dr.  Berdyczkwski  verdanke  ich  folgende  Mitteilung  aus  Me- 
nahem  Recanati,  ed.  Venezia  1554,  Gen.  p.  56a:  'Weil  Abraham  den 
besonderen  Wert  der  Stätte  (Hebrons)  kannte  und  wußte,  daß  er  das 
Tor  des  Edens  war,  wählte  er  ihn.  Von  Hebron  aus  gelangt 
man  in  den  Garten  Eden.'    Weiteres  s.  unten  S.  45. 

56)  Hier  heißt  es:  'Und  nach  Adams  Beschickung  befahl  Gott,  ihn 
in  den  Bereich  des  Paradieses  zu  tragen,  an  den  Ort,  wo  Gott  den 
Staub  gefunden  hatte,  daraus  er  Adam  bildete.'  Apokal.  Mos. 
ed.  Tischendorf  p.  21 :  dfiqporfpoi  [Adam  u.  Abel]  irdcpriGav  ■>iarä  ngöa- 
ra^iv  &SOV  flg  rcc  ft^pjj  rov  nccQa&eiaov,  ft's  rbv  tojtov  iv  m  svqev  rbv 
Xoi'v  6  d'Bog. 


J 


8  WiLiiii.M  Hkinkich  HosciiEu:  [7*\  a 


sonders  charakttM-istisoh  siuil:  ihre  zentrale  Lage  und  /.u- 
gleich  die  eiLjentüniliche  Vorstellung;,  daß  beide  I'nnkte  die 
höe listen  Krhebuni^en  auf"  dei'  Erdoberfläelie  bedeuie- 
teu.  Ganz  deutlich  wird  in  bezui^  auf  das  Paradies  die  letztere 
Auschauuiii^  bezeugt  und  begründet  von  Moses  IJareephas 
De  Paradiso  I,  9  -=  Bibliotheca  Patr.  max.  tom.  XVII  p.  461: 
'Illud  insuper  asserimus,  eam  terram  in  qua  est  Paradisus, 
altiorein  multo  subliniiorcmque  existere  hac  quam  nos 
colimus:  id  enim  ita  se  habere,  indicio  sunt  quatuor  illa 
grandia  tiumina,  quae  orta  in  Paradisi  terra  i)er  hane  nostram 
ab  illa  diversam  feruntur'.^^)  Das  widerspricht  nur  scheinbar 
der  Schilderung  der  Genesis,  denn  auch  nach  dieser  bandelt 
es  sich  im  Grunde  nur  um  einen  einzigen  Strom  des  Para- 
dieses, der  sich  erst  außerhalb  desselben  in  vier  Flußarme 
teilte,  um  aus  dem  'Mittelpunkt  der  Erde  allen  Ländern 
die  Bewässerung  zuzuführen'.  (WlNER,  Bibl.  llealwört.^  I, 
S.  284,  A.  I.)'«) 


57)  Auch  das  Christliche  Adambuch  des  Morgenlandes  versetzt 
das  Paradies  auf  die  höchste  Höhe  der  Erde,  wie  Dillmann  a.  a.  0. 
S.  137  Anm.  I  aus  den  Hymnen  des  Ephiaem  Syrus  auf  das  Paradies, 
aus  des  Cosmas  Indicopleustes  Topographie  usw.  nachweist.  Doch 
wird  es  hier  gewöhnlich  nicht  nach  Palästina,  sondern  in  den  äußersten 
Osten  verlegt;  vgl.  Leben  Adams  und  Evas  45.  Ps.-Epiphan.  Hexaömeron 
ed.  Tnüjrpp  S.  233.    Epiphan.  haeres.  64,  47  =  H  p.  644  Dind. 

58)  Hierzu  kommt  noch  die  eigentümliche  in  der  späteren  hebrä- 
ischen und  arabischen  Literatur  bezeugte  Vorstellung,  daß  von  Jerusa- 
lem, dem  Nabel  der  Erde  und  Ausgangspunkt  der  Schöpfung,  alle 
unterirdischen  Wasseradern  ausgehen,  die  den  Kulturpflanzen, 
Fruchtbäumen  usw.  das  nötige  Grundwasser  liefern.  S.  die  mir  von 
Prof.  Winter  nachgewiesenen  Belege  aus  Tanchuma  zu  Kedoschim 
(Levit.  19)  in  meinen  Neuen  Omphalosstudien  S.  73  f.  Mehr  bei  Wen- 
siNCK  a.  a.  0.  S.  32 ff.,  der  u.  a.  auf  das  Zeugnis  Nuwairis  (p.  90,  3) 
verweist:  „Abu  Huraira  said  on  the  autbority  of  the  prophet:  all 
rivers  and  clouds  and  vapouis  and  winds  come  from  under  the 
holy  rock  in  Jerusalem"  und  sogar  geneigt  ist,  die  Worte  des 
Psalms  87,  7:  'alle  meine  Quellen  sind  in  dir'  (d.  h.  in  Zion)  auf 
dieselbe  Anschauung  zu  beziehen.  Vgl.  auch  Feuchtwanq  in  Monats- 
schrift für  Gesch.  u.  Wissenschaft  d.  Judentums.  N.  F.  Jahrg.  XVHI, 
S.  723ff.,  sowie  Ubaiy  b.  Ka'b  bei  Khamis  I,  86,  i8f.:   'God  calls  Pa- 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       39 

Es  ist  das  Verdienst  von  Wensinck  in  der  schon  oft 
zitierten  Abhandlung  der  Amsterdamer  Akademie,  die  gedach- 
ten beiden  Merkmale  der  zentralen  und  der  Höchstlage  so- 
wohl für  Jerusalem  (Palästina)  wie  für  das  Paradies  energisch 
betont  und  nachgewiesen  zu  haben.  So  sagt  er  a.  a.  0.  S.  13: 
The  sanctuary  has  been  considered  as  the  highest  moun- 
tain  or  the  highest  territory  of  the  earth;  or,  in  other 
words,  that  it  possesses  the  first  characteristic  of  the  navel 
in  an  absolute  form.  As  to  mount  Sion,  this  theory  is,  in 
its  general  form,  not  yet  applied  to  it  in  the  Old  Testament; 
but  is  here  limited  to  eschatological  times;  Isaiah  II,  1 :  „And 
it  shall  come  to  pass  in  the  last  days,  that  the  mountain 
of  Yahwe's  House  shaU  be  established  in  the  top  of  the 
mountains,  and  shall  be  exalted  above  the  hills.'  —  It 
is  clear  why  it  is  said  here  that  this  state  of  things  wiU 
begin  in  the  cominoj  era:  for  at  that  time  the  earth  and 
especially  Jerusalem  and  the  holy  land  will  be  transformed 
into  a  landscape  bearing  the  features  of  Paradise.  Para- 
dise  reaUy  consists  of  a  mountain  higher  than  any  moun- 
tain on  earth  (Book  of  the  Bee,  p.  23,  4  =  Anecdota  Oxon., 
Semitic  series  vol.  I,  part.,  2  ed.  Budge).  It  is  for  the  first 
time  that  we  meet  with  a  characteristic  common  to  the  navel 
and  to  Paradise;  it  will  not  be  the  last  time;  we  shall  see 
that  the  explanatiou  of  this  is  to  be  found  in  the  fact  that 
Paradise  is  also  considered  as  a  navel.^^)     In  later  literature 


lestine  blessed,  only  because  there  ia  no  sweet  water  of  which  the 
Bource  does  not  originate  under  the  Holy  rock  at  Jerusalem',  und  Nu- 
wairl  p.  90,  16:  'all  water  flowing  from  the  tops  of  the  mountains  has 
its  origin  under  thee'  usw.  (Wensinck  a.  a.  0.  S.  33). 

59)  So  erklärt  sich  wohl  auch  der  im  'Leben  Adams  u.  Evas', 
Kap.  40  S.  527  Kautzsch  (Apokryphen  d.  A.  T.  I)  erhaltene  Sagenzug: 
'Und  nach  Adams  Beschickung  befahl  Gott,  ihn  in  das  Bereich 
des  Paradieses  zu  tragen,  an  den  Ort,  wo  Gott  den  Staub  gefunden 
hatte,  daraus  er  Adam  bildetf.  Und  er  ließ  den  Ort  für  zwei 
(Leichen)  aufgraben  und  sandte  sieben  Engel  in's  Paradies,  die  brach- 
ten viele  Wohlgerüche  herbei'  ...  Im  Folgenden  wird  erzählt,  daß 
sechs  Tage   später  auch  Eva  daselbst  bestattet  wurde.  —  Auch  hier 


^o  W  11, 111:1, M   llKiNiucii  Ut)8t'ni'.u:  (7^.  ^ 

the  fact  of  .KMusaU'iii  boing  the  hij^'hcöt  {)hic(^  un  t-arth  is 
not  liinitoil  to  fsi-hatolo^MCiil  tiiues.  as  we  leani  tVom  Kid- 
dushiii  111  00"  iiiiVii:  „The  sanctuary  is  hipfher  than  the 
reet  of  the  huul  of  Israel  and  the  laud  of  Israel  is  higher 
than  all  other  countries."«»)  Vgl.  anch  Wensinc  k  a.  a.  0. 
S.  i3lf.,  wo  noch  weitere  Zenj^nisse  aus  Agapius,  Haiabi,  Nu- 
wairi  usw.  angeführt  sind  und  die  Übertragung  der  gh'icheu 
Vorstellung  auch  auf  .M»d<ka  erwiesen  wird.^") 

8.  Adam  uuü  Eva  in  Hebron  bestattet. 

Eiu  merkwürdiger  Widersprucli  hinsichtlich  der  Lokalität 
des  Adamgrabes  findet  sich  in  den  Schriften  des  Kirchenvaters 
Hieronymus  (340—420).  Während  er  Epist.  46  =  Migne,  P.  L. 
XXII,  485  schreibt:  'Unde  et  locus,  ubi  crucifixus  est  Domi- 
nus noster,  Calvaria  appellatur,  scilicet  quod  ibi  sit  antiqui 
hominis  calvaria  condita  et  sanguis  Christi  de  cruce  stil- 
lans  primi  Adam  et  iacentis  protoplasti  peccata  dilueret', 
versetzt  er  an  anderen  Stellen,  nämlich  In  Matth.  IV,  27,  33 
=  Micrne  P.  L.  XXVI  217  B  C  und  In  Ephes.  5  ==  Migne  P.  L. 


Bclieint  die  Annahme  der  Identität  von  Paradies  und  Jerusalem  vor- 
zuliegen. Auf  derselben  Vorstellung  beruht  es  wohl,  wenn  Pico  von 
Mirandola  (1463— 1494),  der  bekanntlich  ein  guter  Kenner  der  spä- 
teren jüdischen  Literatur,  besonders  der  kabbalistischen,  war,  in 
Beiner  schönen  'Oratio  de  hominis  dignitate')  =  Opp.  Basileae  i6oi. 
Vol.  I  Sp.  208)  (iott  zu  Adam  bei  dessen  Schöpfung  sagen  läßt: 
'Medium  te  mundi  posui,  ut  circumspiceres  inde  commodius  quid- 
quid  est  in  mundo'.  Wünsche,  Schöpfung  und  Sündenfall.  Leipzig 
1906,  S.  19.    Vgl.  Hilarius  (f  366)  b.  Migne  P.  L.  IX,   1073. 

60)  Damit  hängt  natürlich  auch  die  Vorstellung  zusammen,  daß 
das  Land  der  Israeliten  das  einzige  gewesen  sei,  das  von  der 
Sintflut  verschont  wurde;  vgl.  Bereschit  Rabba  fol.  XXXVII  ro.  a, 
1.  2off.,  zitiert  von  Wensinck  a.  a.  0.  15.  Dasselbe  gilt  dann  auch  vom 
Paradiese,  vom  Berge  Garizim,  dem  Erdnabel  nach  der  Lehre  der  Sa- 
maritaner,  der  Ka'ba  in  Mekka  nach  mohammedanischer  Anschauung  usw. 
(wie  Wekslnck  a.  a.  0.  S.  15 ff.  u.  33  weiter  ausgeführt  und  durch  be- 
stimmte Zeugnisse  bewiesen  bat).  Vgl.  auch  Bin-Gorion,  D.  Sagen 
d.  Juden  I,  Frankfurt  a.  M.   19 13,  S.  57. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.    •41 

XXVI  55g  AB^^)  das  Grab  Adams  vielmehr  nach  Hebron.^^) 
Dieser  Widerspruch  erklärt  sich  leicht  aus  der  Tatsache,  daß 
dem  Hieronymus  zwei  ganz  verschiedene  Überlieferungen  vor- 
lagen und  er  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  erst  für  die  eine, 
dann  für  die  andere  entschieden  hat.  Zwar  die  Genesis,  die 
in  der  Höhle  von  Hebron  die  Sara  (Gen.  23,  9),  Abraham 
(25,  19),  Tsaak,  Rebekka,  Lea  (49,  31),  Jakob  (50,  iff.;  vgl. 
Jos.  b.  Jud.  4,  9,  7)  beigesetzt  werden  läßt,  weiß  nichts  von 
einer  dort  stattgefundenen  Bestattung  Adams  zu  berichten, 
wohl  aber  lassen  sich  aus  der  späteren  jüdischen  Lite- 
ratur, die  Hieronymus  gekannt  haben  muß,  eine  Anzahl  von 
Zeusnissen    beibrinrjen,    die    von    einem    Grabe    Adams    zu 

Hebron  sprechen.®^) 

Sota  13  a:  Als  sie  (mit  der  Leiche  Jakobs  auf  dem  Zuge  von  Ägypten 
nach  Kanaan)  bei  der  Höhle  Machpela  anlangten,  kam  Esau  und 
wollte  (die  Bestattung)  verhindern.  Er  sagte  zu  ihnen:  „Mamre  Kirjath 
ha-Arba'  (die  Stadt  der  Vier)  das  ist  Chebron"  (Genes.  3=;,  27).  — 
K.  Jizchak  hat  aber  gesagt:  Sie  heißt  Kirjath  Arba  (Stadt  der  Vier), 
weil  vier  Paare  dort  waren:  Adam  und  Eva,  Abraham  und  Sara, 
Isak  und  Rebekka,  Jakob  und  Lea  —  er  (Jakob)  begrub  Lea  in  dem 
seinigen  (in  dem  Stücke  der  Höhle  Machpela,  welches  ihm  als  Erbteil 
von  Isak  zukommt);  was  übrig  ist,  gehört  mir. 

Erubin  53  a:  „Die  Höhle  der  Verdoppelung"  (Genes.  23,  9).*^^)  Rab 

61)  Vgl.  auch  Läqarde,  Hieronymi  quaest.  hebr.  in  Gen.  p.  35,  23: 
.  .  .  ibi  [in  Hebron]  Abraham  et  Isaac  et  Jacob  conditus  est  et  ipse 
princeps  humani  generis  Adam,  ut  in  libro  Jesu  [14,  15]  apertius  de- 
monstrabitur.  S.  Klameth  a.  a.  0.  S.  iio  Anm.  i.  Baumstabk  a.  a.  0. 
S.  26  Änm.  6  u.   7. 

62)  Ebenso,  wahrscheinlich  der  Autorität  des  Hieronymus  folgend, 
der  Kirchenschriftsteller  Arkulf  (vgl.  Klameth  a.  a.  0.  S.  iii.  Geyer, 
Itin.  Hierosolym.  saec.  IV— VIII,  p.  233). 

63)  Ich  verdanke  die  zunächst  folgenden  fünf  Zitate  der  Güte  Prof. 
Winters  in  Dresden  und  gebe  sie  im  Hinblick  auf  ihren  Wert  und  den 
Umstand,  daß  sie  bisher,  so  viel  ich  weiß,  viel  zu  wenig  bekannt  sind, 
möglichst  vollständig  wieder.  Auch  Herrn  Dr.  J.  M.  Berdvczewski  (Bin- 
Gorion)  in  Berlin-Friedenau,  dem  Herausgeber  der  im  'Born  Judasi- 
gesammelten  Legenden  und  Märchen  bin  ich  für  einige  wertvolle  Mit- 
teilungen zu  Dank  verpflichtet. 

64)  Eine  doppelte  Grahhöhle  bezeugt  für  Hebron  auch  Baedeker 
(=  Benzinger),   Palästina  u.  Syrien'  (1897)   S.  135^-:    'Doppelte  Höhle,. 


42 


W'ii.in-.i.M  ITkin'kich  T\i)sniKK:  [7f^.  ' 


und  Samuel  (erklilreii  <lio  Ho/oicliiiung).  Der  cino  sagt :  I'.h  waren 
zwei  Häuser,  das  eine  iuneiiwürla  vom  andern  (liiutor  dem  andern); 
der  andere  sajjt:  Eh  war  «'-in  Hans  und  ein  OlitMfrcsehoß  daniber. 
Nach  der  A\isioht  dessen,  der  sft.i,'t:  eines  über  dem  andern,  trilft  /.u : 
'Verdoppelung';  nach  der  Ansicht  dessen  aber,  der  sagt:  'zwei  lliluser, 
eines  innenwärts  vom  andern',  was  bedeutet  „Vordopi)elung"?'  Sie 
■war  ver(>j;e~)doppelt  durch  Paaro  (es  waren  Doppelgräber  darin).  Denn 
CS  heißt  (Genesis  35,  27):  „Mamrc  Kirjat  ha-Arba,  das  ist  Chebron", 
und  K.  Jizchak  hat  gesagt:  Die  Stadt  der  vier  (arba)  Paare,  Adam 
und  Eva,  Abraham  und  Sara,  Jizchak  und  Kibka,  Jakob  und  Lea. 

Baba  batra  58a:  K.  Banaa  versah  die  (Gräber-)  Ibildcn  mit  Ab- 
zeichen (Raschi:  Er  ging  in  die  Höhlen  liinein  und  maß  ihre  Länge 
im  Innern  aus;  dann  maß  er  an  den  entspreclienden  Stellen  außen  und 
machte  dort  ein  Zeichen  mit  Kalk,  damit  man  den  Ort  der  Unreinheit 
erkenne.)  Als  er  zur  Höhle  des  Abraham  kam,  fand  er  Elieser,  den 
Knecht  Abrahams,  au  der  Pforte  stehen.  Er  sprach  zu  ihm:  Was 
macht  Abraham?  Jener  sprach:  Er  Bchläft  in  den  Armen  der  Sara, 
die  ihm  aufmerksam  (liebevoll)  aufs  Hau))t  Idickt.  Er  sprach:  Geh', 
sag  ihm:  Banaa  steht  an  der  Pforte.  Er  (Abraham)  sprach:  Er  mag  • 
hereinkommen;  man  weiß,  daß  in  dieser  Welt  der  Trieb  nicht  herrscht. 
Er  ging  hinein,  blickte  um  sich  und  ging  hinaus.  Als  er  zur  Höhle 
des  ersten  Menschen  (Adam)  kam,  ging  eine  Tochterstirame  (Him- 
melsstimme) aus  und  sprach:  Du  hast  das  Ähnlichkeifcslnld  meines  Ab- 
bildes gesehen,  mein  Abbild  sollst  du  nicht  sehen.")  [Er  feprach]:  Ich 
will  docli  die  Höhle  mit  einem  Zeichen  versehen.  (Die  Tochterstimme 
erwiderte):  Wie  das  Maß  der  äußeren,  so  ist  das  Maß  der  inneren."^) 
Und  nach  dem,  der  eagt"^):   Zwei  Häuser,  eines  über  dem  andern  (er- 


jeder  Teil  mit  besonderem  Eingang.  Sechs  Keuotapbe  befinden  sich 
über  dem  Boden  nach  Angabc  der  Muslimen  genau  über  den  unter- 
irdischen Gräbern  von  Abraham,  Isaak  und  Jakob  und  ihren  Frauen 
Sarah,  Rebekka  und  Lea.'  Also  weiß  auch  die  heutige  Lokaltraditiou 
der  Muhammedaner  nichts  von  einem  Grabe  Adams  und  Evas  zu  He- 
bron. Das  erklärt  sich  wohl  zum  Teil  aus  der  Tatsache  (s.  unt.  Kap.  4), 
daß  nach  islamischer  Annahme  Adam  auf  dem  Berge  Abukais  bei 
Mekka  und  Eva  zu  Dschedda  bestattet  war  (a.  Neue  Omphalosstudien 

S.  I3f.)- 

65)  Adam    ist   das    Abbild   Gottes,    jeder   andere   Mensch,   hier 

Abraham,  ist  das  Abbild  Adams. 

66)  Von  der  Pforte  aus  gesehen,  bildet  Abrahams  Grabstätte  den 
äußeren,  die  des  Adam  den  weiter  nach  innen  zu  liegenden  Teil 
der  Höhle. 

67)  S.  oben  Erubin  53  a. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       43 

widerte  die  Tochterstimme):  Wie  das  Maß  der  oberen,  so  ist  das  Maß 
der  unteren.  R.  Banaa  sagte:  Ich  betrachtete  seine  zwei  Fersen,  und 
sie  glichen  den  zwei  Rüdem  der  Sonne.®**) 

Bereschit  rabba  58,  4:  'Und  Sara  starb  in  Kirjat  arba'  (Genes.  23,  i). 
Mit  vier  Namen  wurde  sie  (die  Stadt)  benannt:  Eschkol,  Mamre,  Kirjat 
arba,  Chebron.  Und  warum  nennt  er  sie  Kirjat  arba  (Stadt  der  Vier)  ? 
Weil  vier  Gerechte  darin  wohnten:  Aner,  Eschkol,  Mamre,  Abraham, 
und  vier  Gerechte  darin  beschnitten  wurden:  Abraham,  Aner,  Eschkol 
und  Mamre.  —  Eine  andere  Erklärung:  Kirjat  arba,  weil  vier  Gerechte, 
Väter  der  Welt,  daxin  begraben  wurden:  Adam  der  Erste,  Abraham, 
Jizchak  und  Jakob.  —  Eine  andere  Erklärung:  Weil  vier  Mütter  darin 
begraben  wurden:  Chawa  (=  Eva)  und  Sara  und  Ribka  (=  Rebekka) 
und  Lea. 

Pirke  Rabbi  Elieser''^)  Abschn.  20 :  Adam  saß  und  forschte  in 
seinem  Herzen  und  sprach:  „Denn  ich  weiß,  in  den  Tod  wirst  du  mich 
zurückführen  und  in  das  Sammelhaus  für  alles  Lebende"  (Hiob  30,  23). 
Da  sprach  Adam:  Während  ich  noch  in  der  Welt  bin,  will  ich  mir 
eine  Herberge  für  mein  Lager  [=  eine  Grabhöhle?]  bauen  außerhalb 
des  Berges  Morija.'")  Und  er  haute  aus  und  baute  sich  eine  Her- 
berge für  sein  Lager.'^)  Adam  sprach:  Wie  vor  den  Bundestafeln, 
welche  einst  werden  geschrieben  werden  mit  dem  Finger  Gottes,  die 
Wasser  des  Jordan  fliehen  werden  (Josua  3,  9  —  17),  so  wird  mein  Kör- 
per, da  er  ihn  mit  seinen  zwei  Händen  geknetet  und  den  Hauch  seines 
Mundes  in  meine  Nase  geblasen  hat,  [Wunder  wirken],  und  sie  werden 
nach  meinem  Tode  mich  und  meine  Gebeine  nehmen  und  sich  einen 
Götzen  machen.  Allein  ich  will  meine  Lade  (Bahre)  tief  einsenken 
innerhalb  der  Höhle  und  innenwärts  von  der  Höhle.  Deshalb  wird  sie 
genannt  'Höhle  der  Verdoppelung',  weil  sie  doppelt  ist.  Und  dorthin 
gab  man  Adam  und  Eva,  Abraham  und  Sara,  Isaak    und  Rebekka, 


68)  Vgl.  auch  Bin-Gorion,  D.  Sagen  d.  Juden  L  Frankfurt  a.  M. 
1913,  S.  i63f. 

69)  Nach  Strack  bei  Herzog-Plitt-Hauck"  XIX,  319,  54  lebte 
R.  Elieser  noch  zur  Zeit  des  Tempels.  Vgl.  auch  Midrasch  Haggadol 
Gen.  5,  5  und  Midr.  Tehillim  (Berdyczewski). 

70)  Vorher  heißt  es,  daß  Adam,  als  er  aus  dem  Garten  Eden 
vertrieben  wurde,  auf  dem  Berge  Morija  seinen  Wohnsitz  nahm, 
weil  das  Tor  des  Gartens  Eden  nahe  dem  Berge  Morija  ist. 

71)  Damit  wird  offenbar  die  Anlage  einer  Grabhöhle  in  dem 
felsigen  Terrain  von  Hebron  angedeutet.  Berdyczewski  teilt  mir  mit, 
daß  es  nach  Sota  VII  p.  34  b  'keinen  steinigeren  Boden  in  Palästina 
gibt,  als  den  von  Hebron  und  daß  man  deshalb  dort  die  Toten  [in 
Felsenhöhlen]  bestattet'. 

F]iil.-hiBt.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  2.  4 


44  ^VIl,lll:l  M   Ili:iNiU('ii   1\<>>(  iiKit:  l/O, - 

Jnkob  und  Loa.  l'iul  (iosluill)  licißt  nie  Kiijiit  iiilm  (Stadt  der  Vier), 
weil  dort  vior  l'aaro  begraben  hIihI.  Und  botrcirH  ihrer  «a^t  die  Sclirift: 
'Ks  koniiut  der  Friede;  8ie  rulien  auf  ilirer  Laperstatt.  wer  gerade  j^e- 
waiidelt'  (^.losaias  57,  2). 

llior/.n  kommen  noeli  folgende  mir  von  Dr.  ükkuvc^ziowski 
mitgeteilto  Zeugnissi'.  aus  denen  auf  eine  <^aiiz  besondere 
lleilijjfkoit  und  Bedeutung  Hebrons  geschlossen  werden  muß. 
Abr.  Saba  Zeriu  llamor,  Veucdi{^  1539,  (jcn.  p.  24c:  Sara  ist  in 
der  zwiefachen  Ilölile  (von  Hebron)  begraben  worden,  weil  die  Höhlo 
seit  den  Tagen  Adama  ein  heiliger  Ort  iöt.'*)  Kirjath  Arba  wird 
Hebron  genannt,  weil  das  ein  auscrwilhltcr  Ort")  im  ganzen  Lande 
Israel  ist.  Seit  der  Erschaffung  der  ^\^•lt  wird  Hebron  Kirjath  Arba 
genannt  der  vier  Paare  wegen,  die  dort  begraben  worden  sind.  Auch 
wird  Kirjath  Arba  Hebron  i^enannt,  weil  die  Seelen  derer,  die  dort 
ruhen,  sich  oben  (in  einem  himmlischen  Paradies?)  ver- 
einigen. 

Bechai  b.  Asar,  Kommentar,  Venedig  1546,  Gen.  p.  31c.: 

a)  Danach  begrub  Abraham  Sara,  .«ein  Weib,  in  der  Höhle  des 
Ackers,  die  zwiefach  ist,  Mamre  gegenüber:  das  ist  Hebron  (Gen.  23,  19). 
Sieh  und  erfahre,  wie  groß  das  Verdienst  Saras  war,  daß  der  Ort,  wo 
sie  gestorben  und  begraben  worden  ist,  die  Stätte  war,  wo  dereinst 
das  Haus  Elohims  errichtet  werden  sollte.  Daselbst  ist  (auch)  das 
Himmelstor.'*) 

b)  Es  läßt  sich  sagen,  daß  Kirjath  Arba  deswegen  Hebron'*)  ge- 
nannt wird,  weil  die  Seele  dessen,  der  dort  begraben  liegt,  sich  in  der 
himmlischen  Götterstadt,  die  über  diesem  Orte  liegt'"),  und 
in  der  die  vier  Scharen  um  die  Schechina  stehen,  sich  .  .  . 
vereinigt. 

Sohar  Genes,  p.  syb: 

R.  Abba  sprach:  Als  Adam  sich  vor  dem  Heiligen,  gelobt  sei 
er,  versündigt  und  sein  Gebot  übertreten  hatte,   war  der  Herr  traurig 

72)  Das  hohe  Alter  der  ursprünglich  kanaanitischeu,  einst  von 
den  Israeliten  eroberten  und  zu  .einer  Freistätte  bestimmten  Stadt  He- 
bron ist  auch  sonst  bezeugt  (Winer,  Bibl.  Realwört.^  I,  474). 

73)  Offenbar  wird  hiev  der  Name  Hebron  {Xißgmv  oder  Xaßgm) 
von  caher  =  auswählen  abgeleitet  (Berdyczewski). 

74)  Dieselbe  Vorstellung  findet  .>ich  auch  in  der  Lokalsage  Bethels 
von  der  Himmelsleiter.    S    Kap.  III  b. 

75)  Hebron  von  habher  =  binden,  vereinigen. 

76)  Vgl.  für  diese  Anschauung  Jeremias,  Handb.  d.  altoriental. 
Geisteskultur.  Leipzig  1913,  S.  188 ff.  und  Bin-Gokion,  Die  Sagen  d. 
Juden  I,  S.  42. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       45 

und  sprach  zu  Adam:  Wehe  dir,  Adam,  daß  du  die  oberste  Kraft  ge- 
schwächt hast.  In  dieser  Stunde  erlosch  ein  Licht.  Alsbald  vertrieb 
der  Herr  Adam  aus  dem  Eden  und  sprach  zu  ihm:  Ich  hatte  dich  in 
den  Garten  Eden  gebracht,  damit  du  opfertest,  du  aber  hast  den  Altar 
entweiht,  und  so  kann  nicht  mehr  geopfert  werden.  Von  nun  an  mußt 
du  die  Erde  bearbeiten.  Und  er  verhängte  über  Adam  den  Tod.  Er 
erbarmte  sich  aber  seiner  und  bestattete  ihn,  als  er  starb,  in 
der  Nähe  des  Edens.  Was  tat  Adam,  als  er  sterben  sollte?  Er  grub 
eine  Höhle,  und  in  dieser  Höhle  wurde  er  und  sein  Weib  begraben. 
Woher  wußte  er  den  Ort  (zu  wählen)?  Er  sah  ein  feines  Licht  von 
dieser  Stätte  aufsteigen.  Das  kam  von  Eden,  und  er  bekam  Lust, 
hier  begraben  zu  werden.  Dieser  Ort  [Hebron?]  aber  ist  in  der 
Nähe  des  Gartens  Eden.^^) 

Sohar  ed.  Amsterdam  1805,  Genes,  p.  127a: 

R.  Juda  sagt:  Abraham  wußte  ein  Merkmal  (wodurch  er  die  zwei- 
fache Höhle  finden  konnte),  und  all  sein  Sinnen  und  Trachten  galt  der 
Höhle.  Noch  bevor  er  Sara  dort  begraben  hatte,  stieg  er  (einst)  hinab 
und  sah  Adam  und  Hawa  ruhen.  Woher  wußte  er  aber,  daß  das 
Adam  war?  Er  hatte  (vorher)  einmal  ein  Gesicht,  er  schaute  vor  sich, 
und  da  sah  er  eine  Tür  des  Edens  aufgehen  und  das  Bildnis  Adams 
stand  vor  ihm.  Er  sah  ein  Leuchten  in  der  Höhle,  denn  ein  Licht 
brannte  daselbst.  Deshalb  wollte  Abraham  an  diesem  Orte  ruhen. 
Sein  Sinnen  und  Trachten  waren  nur  auf  die  Höhle  gerichtet. 

Die  angeführten  Zeugnisse  der  späteren  jüdischen  Lite- 
ratur sind  nicht  bloß  deswegen  bemerkenswert,  weil  sie  offen- 
bar schon  dem  Hieronymus  bekannt  waren  und  ihm  zur  Recht- 
fertigung seiner  Ansicht  von  Hebron  als  dem  Bestattungsort 
Adams  im  Gegensatz  zu  Golgotha  gedient  haben,  sie  beweisen 
auch,  daß  die  uralte,  schon  in  der  kanaanitischen  (vorisraeli- 
tischen) Zeit  bestehende  Stadt  Hebron  ^^)  eine  ganz  hervor- 
ragende Rolle  ähnlich  wie  Jerusalem  und  Sichem,  vielleicht 
sogar  als  Erdnabel,  gespielt  haben  muß.  Darauf  deutet 
einerseits    ihre   Auffassung    als   'Himmelstor'  (S.  44)    und 


77)  Vgl.  auch  BiN-GoHioN,  Die  Sagen  der  Juden  I,  Frankfurt  a.  M. 
(1913)  S.  162,  n  (1914)  S.  sigff. 

78)  Über  Hebron  alf  Stadt  der  'Riesen'  (Enakiter)  s.  Winek, 
Realwört.«  I,  326  u.  II,  330.  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Alt.  I,  §  179-  Man 
bedenke  dabei,  daß  auch  Adam,  Eva  und  ihre  unmittelbaren  Nach- 
kommen für  'Riesen'  galten  (s.  oben  S.  30  Anm.  38)  und  Fabbicius, 
Cod.  Pseudepigr.  Vet.  Test.  H,  41. 

4* 


]t)  Wii. 111:1, M   llKiNKirn  Röscher:  [7^.2 

iluo  Lage  in  unniittolbiiror  Nähe  des  Garteus  Edon  (S.  45), 
anderseits  die  VorstelhniL,'  einer  'himmlischen  Gottes- 
stadt' oder  eines  ühni  rdischcn  Paradieses  (Elysiums),  das 
o]>erhalh  Hebrons  lie<(en  und  die  Seelen  der  daselbst  Ruhen- 
den vereinigen  sollte  (S.  44).'")  Es  scheint  demnach  die 
Vermutung  gerechtfertigt,  daß  Hebron  als  Lokal  der  Legen- 
den von  Adam,  Abraham,  Isaak  und  Jakob  sowie  vom  Para- 
dies und  Himmelstor  in  ältester  Zeit  auch  den  Anspruch  er- 
hoben hat,  ebenso  wie  Jerusalem  und  Sichern  als  Mittel- 
punkt der  Erdscheibe  zu  gelten.  Doch  konnte  es  natürlich 
später  gegenüber  der  immer  wachsenden  Macht  und  Größe 
Jerusalems  diesen  Anspruch  nicht  aufrecht  erhalten,  und  so 
ist  es  gekommen,  daß  sich  nur  verhältnismäßig  schwache 
Spuren  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  erhalten  haben.  Eine 
ganz  ähnliche  Entwicklung  läßt  sich  auch  auf  griechischem 
Boden  beobachten,  wo  es  schließlich  der  mächtigen  Priester- 
schaft Delphis  gelungen  ist,  alle  übrigen  KonkuiTenten  um 
den  Besitz  des  Erdnabels  (Paphos,  Branchidai,  Delos  usw.) 
aus  dem  Felde  zu  schlagen  (s.  unten  S.  78  Anm.  126). 

4t,  Die  Adamlegendeu  von  Babylon,  Damaskus,  Indien  und  Mekka. 

Nur  ganz  kurz  können  hier  die  Adamsagen  von  Babylon, 
Damaskus,  Indien  (Zeylon)  und  Mekka  behandelt  werden,  weil 
entweder  das  bisher  zur  Verfügung  stehende  Zeugnismaterial 
zu  einer  eingehenden  Untersuchung  nicht  ausreicht  oder  in 
einen  anderen  Zusammenhang  gesetzt  werden  muß. 

Was  Babylon  anlangt,  so  verweise  ich  einstweilen  auf 
Fabricius,  Cod.  Pseudepigr.  Vet.  Test.  Hamburg  1722,  vol.  H 
p.  41:  'Raf  Oschaia  refert  ex  ore  Raf,  Adami  primi  corpus 
fuisse  desumtum  e  Babel,  caput  e  fundo  Israelitico,  membra 
sive  manus  et  pedes  e  regionibus  reliquis,  denique  nates  ex 
Acra  Agmae  secundum  sententiam  R.  Achae.^°)  —  Ebendort 

79)  Vgl.  damit  die  eigentümliche  Vorstellung  des  ^himmlischen' 
[oberhalb  des  irdischen]  liegenden  Jerusalems  in  den  von  Bin  Gorion 
(Frankfurt  a.  M.   191 3)  herausgegebenen  'Sagen  der  Juden'  I  S.  42. 

80)  Vgl.  dazu  Wünsche,  Schöpfung  u.  Sündenfall.  Leipzig  1906 
(=  Ex  Oriente  lux,   herausgegeben  v.  Dr.  H.  Winckler,  Bd.  II  Heft  4) 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       47 

(II,  34)  wird  eine  interessante  Notiz  aus  des  Moses  Maimo- 
nides  Buch  More  Nebucbim  III,  29  p.  422  mitgeteilt:  'De 
Adamo  dicunt,  quod  cum  ex  climate  li.  e.  ex  terra  DSiluri, 
quae  Indiae  vieina  est,  egressus  et  terram  Babel  ingressus 
fuit,  multa  mirabilia  secum  asportaverit  et  inter  iUa  arborem 
flores  folia  et  ramos  auri  babentem.'  Die  Lösung  der  wich- 
tigen Frage,  ob  der  schon  durch  seinen  Namen  (Adapa)  an 
Adam  erinnernde  Protoplast  des  babylonischen  Mythus  mit 
seinem  nach  Eridu  oder  Babylon  in  Südbabylonien  ver- 
legten in  vielen  Beziehungen  dem  Paradies  entsprechenden 
Wohnsitz  im  Grunde  mit  dem  Adam  der  jüdischen  Legende 
identisch  ist  und  entweder  die  let'ztere  stark  beeinflußt  hat 
oder  umgekehrt,  muß  ich  den  Assyriologen  überlassen.^^) 

Von  dem  in  einer  geradezu  paradiesischen  Umgebung 
gelegenen  und  von  jeher  den  'Mittelpunkt  des  ganzen  Han- 
dels im  Orient'  bildenden  (Benzinger  b.  Pauly-Wissowa  IV, 
Sp.  2043)  Damaskus  berichtet  derselbe  Fabricius  a.  a.  0. 
S.  24:  'Superest  de  Damasco  opinio,  quae  et  plures  et  Chri- 
stianos  autores  habuit.  Familiam  ducit  Epiphanias  .  .  .  Vetus- 
tissima  .  .  .  traditio  est,  primura  hominem  ex  rubra  agri  Da- 
masceni  argiUa  formatum,  unde  et  a  rubediue  nomen  obti- 
nuerit  . . .  Monstratur  adventoribus  spelunca,  quae  ad  Austrum 
patet,  in  qua  luxerint  aerumnosi  parentes  Abelis  interitum, 
nee  minus  locus  caedis  factae.'  Da  ich  leider  zur  Zeit  nicht 
imstande  bin,  der  von  Fabricius  gegebenen  Anregung  nach- 
zuo-ehen  und  alle  von  der  Damaszener  Adamsage  handelnden 
etwaigen  Zeugnisse  der  christlichen,  jüdischen  und  syrisch- 
arabischen Literatur  zu  sammeln  und  vorzuführen,  so  muß 
ich  mich  einstweilen  auf  die  Vermutung  beschränken,  daß 
auch  Damaskus    als   uraltes   Zentrum   Syriens   einst   auch 


S.  8,  der  dazu  bemerkt:  'Nach  RascM  ist  Agma  ein  Ort  in  Babylon, 
der  -wahrscheinlich  wegen  seines  sumpfigen,  wiesenreichen  Bodens  so 
genannt  wurde.'  M.  J.  Bin  Gorion,  Die  Sagen  der  Juden  I.,  Frank- 
furt a.  M.  1913,  S.  115  und  die  Quellenangaben  S.  355. 

81)  Vgl.  einstweilen  Jen.sen   in   der  Keilinschriftlichen  Bibliothek 
Band  VI  und  Wünsche  a.  a.  0.  S.  77 f.  u.  Anm.  **) 


.^8  WiMiKi.M  IlKiNiiuii  KoscHFai:  [70,2 

den  Anspruch  erhoben  habe,  für  den  Mittelpunkt  der  Erd- 
scheibe [oiKfCiVog  j'fjsO  "i"l  '^^8  die  Stätte  der  ErschalVung 
Adnms  und  des  Paradieses  /n  gelten.  Zur  Stütze  dieser  Ver- 
niutuni;  berufe  ich  mich  auf  die  unzweifelhafte  Tatsache,  daß 
ja  auch  die  unmittelbaren  Nachbarn  und  nächsten  Verwandten 
der  Syrer  oder  Aramäer,  nämlich  die  Phönizier  von  Paphos**') 
und  wohl  auch  von  Tyros**')  sieb  rühmten,  im  Besitze  des 
Erdnabels  zu  sein. 

Die  Adamsa<^'e   von   Zeylon   ist   oben   S.  5  ff .   behandelt 
worden,  die  von   Mekka  s.  nnten   Kap.  IV. 


111.  Weitere  6n(f>aXoi  yfjs  iu  Palästina. 

Wir  haben  soeben  gesehen,  daß  es  im  Räume  Jerusa- 
lems verschiedene  Pnukte  gegeben  hat,  die  sämtlich  den  An- 
spruch erhoben,  der  'Nabel  der  Erde'  zu  sein,  nämlich  Gol- 
gotha,  Zion,  Moria,  und  daß  überhaupt  das  ganze  heilige 
Land^^),  wie  es  scheint,  von  jeher,  d.  b.  schon  in  der  kana- 
anitischen  Urzeit,  und  vielleicht  nocli  vor  der  Blüte  Jerusa- 
lems und  der  Errichtung  des  Salomonischen  Tempels^^),  die- 
selbe Ehre  beansprucht  hat.  Diese  letztere  Vermutung  läßt 
sich  jetzt  zu  größter  Wahrscheinlichkeit  erheben  durch  den 
Hinweis  auf  die  Tatsache,  daß  innerhalb  Palästinas  noch 
mehrere  uralte  (ursprünglicli  kanaanitische)  Städte  in  dieser 
Beziehung  als  Konkurrenten  Jerusalems  aufgetreten  sind,  näm- 
lich Sichem  mit  dem  Berge  Garizim,  Bethel  und  wahr- 
scheinlich auch  das  schon  oben  S.  4off.  besprochene  als  Grab- 
stätte Adams  und  Evas   später  mehrfach  genannte  Hebron. 


82)  Omphalos  S.  29  f. 

83)  N.  Omphalosstudien  S.  15. 

84)  Vgl.  Wellhausen,  Prolegom.  z.  Gesch.  Israels^  S.  22,  der  für 
'die  Vorstellung,  daß  Palästina  als  Ganzes  Jahwes  Haus,  sein  Grund 
und  Boden'  sei,  besonders  auf  2  Reg.  5,  17  verweist.    S.  uut.  Anm.  90. 

85)  Vgl.  Robertson  Smith,  D.  Religion  d.  Semiten,  übersetzt  v. 
Stube,  Freiburg  i.  B.   1899,  S.  82.    Wellhausen   a.  a.  0.  S.  19  ff.  u.  30 f. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       49 

a)  Sielierri  und  Garizim  (samaritanisclie  Überlieferung). 

Das  hohe  Alter  des  ursprünglich  wohl  kanaanäischen 
Kultus  von  Sichern^*')  läßt  sich  schon  aus  der  bedeutsamen 
Rolle  erschließen,  welche  diese  Stätte  bereits  in  der  Patriarchen- 
legeude  spielt.  Hier  erscheint  Jahwe  dem  Abraham  und 
hier  erbaut  dieser  den  Altar  j,deni  ihm  erschienenen  Jahwe" 
(Genes.  12,  7).  hier  nomadisierte  Jakob,  errichtete  ebenfalls 
einen  Altar,  den  er  El,  Gott  Israels,  nannte,  bohrte  den  nach 
ihm  benannten,  noch  jetzt  dort  gezeigten  berühmten  Brunnen 
(Ev.  Joh.  4,  6ff.)^  und  erwarb  Grundbesitz  (Genes.  13,  S3i  i^fi'.), 
hier  vergewaltigte  Sichern,  der  Sohn  des  Landesfürsten  Hemor, 
Dina,  die  Tochter  Jakobs  (Genes.  34,  2ff.j,  hier  wurde  Joseph 
begraben  (Jos.  24,  ^2),  unweit  des  daselbst  von  Josua  er- 
richteten großen  Denksteins  unter  der  Eiche,  die  sich  im 
Heiligtume  Jahwes  befindet  (Jos.  24,  26).  Von  dieser  Eiche 
bei  Sichern  hören  wir  (Richter  g,  37),  sie  sei  ein  Orakel- 
baum gewesen,  ebenso  wie  die  berühmte  Terebinthe  More,  d.  h. 
Baum  des  Orakelgebens,  ebenfalls  bei  Sichern  (Gen.  12,  6),^'^) 
und  schon  Robertson  Smith  a.  a.  0.  149  hat  die  Ansicht 
ausgesprochen,  daß  die  genannten  beiden  Bäume  bei  Sichern 
'Stätten  eines  kanaanitischeu  Baumorakels  gewesen  sein  müssen.' 
'Durch  Josua  wurde  Sichem  zur  Frei-  (Jos.  20,  7)  und  Le- 
vitenstadt (Jos.  21,  21)  bestimmt  und  diente  bei  dessen  Leb- 
zeiten als  Vereinigungspunkt  der  Stämme  (Jos.  24,  i.  25).  In 
der  Richterperiode  war  sie  (noch  zum  Teil  mit  altkanaani- 
tischer  Bevölkerung:  Rieht.  9,  38)  eine  Zeitlang  Hauptort  des 
von  Abimelech  errichteten  Königreichs  (Rieht  9,  i  ff.),  wurde 
aber,  nachdem  sie  abgefallen,  von  demselben  erobert  und  zer- 
stört (Rieht.  9,  3 4 ff.),  wobei  eines  dort  befindlichen  Heilig- 
tums   des   Baal   Berith   gedacht    wird    (Rieht.  9,  4.   46).     Sie 

86)  Nach  Ed.  Meyeks  Annahme  (Gesch.  d.  Alt.  I,  §  289)  'ver- 
schmolzen die  Kana'anäer  von  Sichem  mit  den  Hebräern,  und  der  alt- 
kana'anäi^^che  dortige  Adel,  die  Söhne  Chamors,  die  Verehrer  des  Ba'al 
Brit,  des  «Bundesherm»,  behauptete  neben  den  Israeliten  seine  Stel- 
lung.'   Vgl.  auch  §  294,  309. 

87)  Vgl.  über  solche  Orakelbäume  Robertson  Smith  a.  a.  0.  S.  149  t. 


50  WiLHKLM  IIkiniuch  KoscHKu:  [70,2 

nmß  j(HU>oh  hiild  wieder  anfi^obaut  worden  Boin,  denn  Heliabeani, 
Salonios  Naehfi)l>rer,  hielt  daselbst  den  l)ekannten  cnlscheiden- 
tlen  Landta«^  (i.  Kr.ii.  u,  1).  Die  Stadt,  kam  nun  an  das 
lu'ieb  Israel  und  war  eine  Zeitbmg  Kesiden/  .Jero))ean)s  und 
fob^lieb  die  Hauptkonkurreutin  Jerusalems  (i.  Kön.  12,  25). 
Sie  stand  noch  während  des  Exils  (Jer.  41,  5)  und  war  im 
naehexilischen  Zeitalter  Ilauptsitz  des  samaritanischen  Reli- 
gionskultus (Joseph,  antt.  11,  8.  6;  vgl  Joh.  1,  20).'  WiNElt 
a.  a.  0.  IL'  S.  455- 

Schon  aus  diesem  kurzen  Überblick  über  die  von  der 
ri'ligionsgeschichtlichen  Bedeutung  Sichems  handelnden  Zeug- 
nisse dürfte  deutlieh  erhellen,  welch  scharfe  Konkurrenz  einst- 
mals /wischen  dieser  Stadt  und  Jerusalem  jahrzehntelang 
geherrscht  haben  muß.  Am  klarsten  spricht  sich  diese  Neben- 
buhlerschaft namentlich  in  der  bekannten  (Ev.  Joh.  4)  be- 
richteten Geschichte  von  der  Begegnung  Jesu  mit  dem  sama- 
ritischen  Weibe  aus,  das  unter  anderem  dem  Herrn  gegenüber 
äußert:  'Unsere  Väter  liaben  auf  diesem  Berge  dem  [Garizim] 
angebetet,  und  ihr  [Juden]  sagt,  daß  in  Jerusalem  der  Ort 
[d.  h.  der  Tempel]  sei,  wo  mau  anbeten  soll.'  Daraus  folgt, 
daß  sich  noch  'zur  Zeit  Jesu  Juden  und  Samariter  über  die 
richtige  Stätte  gestritten  haben,  wo  man  anbeten  solle;  daß 
es  nur  eine  einzige  geben  könne,  das  war  ihnen  so  ausge- 
macht wie  die  Einheit  Gottes  selber.' ^^)  Aber  in  der  Urzeit, 
d.  h.  vor  der  Erbauung  des  Salomonischen  Tempels,  hat  dieser 
Glaube  an  ein  ausschließlich  berechtigtes  Kultusheiligtum,  wie 
Wellhausen  a.  a.  0.  S.  17  ff.  nachweist,  gewiß  nicht  existiert; 
z.  B.  I.  Kön.  3,  2  wird  uns  aus  der  Zeit  vor  Salomo  aus- 
drücklich bezeugt,  daß  das  Volk  auf  [verschiedenen]  Höhen 
geopfert  habe,  'denn  bis  dahin  war  noch  kein  Haus  dem 
Namen  Jahwes  gebaut.'  'Erst  seit  das  Haus  dem  Namen 
Jahwes  gebaut  war,  das  ist  die  Meinung,  kam  das  Gebot  in 
Kraft,  keine  anderen  Anbetungsstätten  daneben  zu  haben.' ^®) 


88)  Wellhacsen,  Proll.   S.  17. 

89)  Wellhausen  a.  a.  0.  S.  19  f. 


yo,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       5 1 

Natürlich  wurde  der  Konkurrenzstreit  zwischen  Jerusa- 
lem und  Sichern  noch  gesteigert  durch  den  in  der  Zeit  Alexan- 
ders d.  Gr.  (Joseph.  Autt.  11,  8,  6)  von  den  Samaritanern  auf 
dem  Berge  Garizim  in  unmittelbarer  Nähe  Sichems  errichte- 
ten Jehovatempel  (Jos.  Antt.  12,  5,  5),  der  offenbar  dazu 
bestimmt  war,  das  Gegenstück  zum  nachexilischen  Tempel 
Jerusalems  zu  bilden.  Daß  dieser  Tempel  demgemäß  ebenso 
wie  das  unterhalb  gelegene  Sichern  nach  Analogie  des  Tem- 
pels von  Jerusalem  den  Anspruch  erhoben  hat,  als  oyixpaloq 
yrig  zu  gelten,  ist  nach  den  obigen  Darlegungen  schon  an 
sich  ziemlich  wahrscheinlich;  es  läßt  sich  aber  auch  durch 
Anführung  ausdrücklicher  Zeugnisse  geradezu  beweisen.  Denn 
Richter  9,  37  heißt  es  in  der  Geschichte  von  Abimelech,  dem 
Sohne  Gideons,  der  sich  von  den  Sichemiten  zum  König  über 
Israel  hatte  wählen  lassen  und,  als  seine  bisherigen  Unter- 
tanen von  ihm  abgefallen  waren,  mit  seinen  Scharen  von  den 
umliegenden  Höhen  herabstieg,  um  Sichern  zurückzuerobern: 
'Fürwahr,  Krieger  steigen  vom  Nabel  des  Landes  herab, 
und  eine  Abteilung  kommt  in  der  Richtung  von  der  Zauberer- 
Eiche  her.'  Zunächst  bedeutet  hier  der  Ausdruck  'Nabel 
des  Landes'  nichts  anderes  als  das  Zentrum  Palästinas, 
des  heiligen  Landes,  in  dessen  Mitte  ja  tatsächlich  Sichem 
ungefähr  ebenso  wie  Jerusalem^")  gelegen  war.  Wenn  wir 
aber  bedenken,  daß  die  meisten  oyLfpcdol  yrjg  zugleich  Mit- 
telpunkte bestimmter  zentral  gelegener  Landschaften 
waren,  wie  z,  B.  Delphi  der  Mittelpunkt  von  Hellas,  Honanfu 
das  Zentrum  Chinas,  des  Reichs  der  Mitte,  Bagdad  die  Mitte 
des   Irak,    des  'Nabels  der  Welt   und    der  Erde',   Branchidai, 

90)  Vgl.  auch  GuTHE  im  Artikel  'Palästina'  in  Herzog-Plitt- 
Haucks  Realenc.^  14  S.  561,  45 IF.,  der  darauf  hinweist,  daß  PaLästina 
tatsächlich  zwischen  Babylonien  und  Ägypten,  also  den  wichtigsten 
Kulturländern  der  ältesten  Zeit,  genau  in  der  Mitte  lag.  Er  hält  es 
sogar  für  möglich,  daß  diese  Vorstellung  schon  bei  den  Kana- 
anitern  vorhanden  war,  aber  in  Israel  erhöhte  Bedeutung  damit  ge- 
wann, daß  sich  das  Volk  wegen  seiner  höheren  Gottesverehrung  zum- 
Lehrer  aller  anderen  Völker  berufen  fühlte.  (Jes.  45,  14^  21  f.  51,  4f. 
2,  1-4) 


52  Wii.HKKM  Hkiniuch  Roscmku:  [70,2 

(las  lioriiberiihmtL'  Apollonunikel  Joniens,  des  'Zworchfells 
clor  Erde  uiul  Mittelpunkt  der  iiltesten  iiiiK'siscIieii  VVelt- 
karto""),  das  Zentrum  der  v<mi  ilen  (irioehen  besiedelten  Küste 
Kleinasiens'-'M,  Deios  die  farnj  v}',öojv'''^)  usw.,  so  werden  wii- 
uns  wohl  bereehti<j;t  fühlen,  Wknsinck  a.  a.  0.  S.  1 5  beizu- 
stimmen, weuu  er  bemerkt:  'It  is  not  astonishing  to  und  that 
the  Samaritaus  have  claimed  f'or  their  sanetuary  the  same 
houours  as  the  Jews  did  Ibr  theirs.  But,  reniembering  that 
already  in  .ludges  IX,  ^"^  one  of  the  mountains,  near  Shekem 
in  called  „the  uavel  of  the  land",  it  is  natural  to  suj)pose  that 
Gariziui  was  of  old  the  object  of  uavel-theories  as  we  lind 
them  in  later  literature.  In  Ber.  Rabba  fol.  XXXV  vo.  1), 
ult.  sqq.,  it  is  told  how  Rabbi  Jonatau  on  a  journey  was  in- 
vited  by  a  Samaritan  to  perform  his  prayer  ou  Garizim. 
When  he  asked:  „why"?  he  was  answered:  „beeause  it  was 
not  sul)merged  by  the  Deluge."^^)  Genau  dasselbe  gilt, 
wie  oben  gezeigt  worden  ist,  aus  dem  gleichen  Grunde  auch 
von  Jerusalem,  dem  'höchstgelegenen  Orte  der  Welt',  von 
der  Ka'aba  Mekkas  (Wensinck  a.  a.  0.  S.  15)  und  vom  Parnaß, 
dem   Berge    Delphis,   auf   dem   Deukalion   nach   der   Sintflut 


91)  RopciiEK,  Üb.  Alter,  Ursprang  u.  Bedeutung  der  hippokvat. 
Schrift  von  d.  Siebenzahl.  Leipzig  191 1,  S.  lofF.  u.  i^ff.  —  Derselbe, 
D.  neu  entdeckte  Schrift  e.  altmiles.  Naturphilosophen  usw.  191 2,  S.  611". 
u.  25 tf.  —  Derselbe,  D.  hippokrat.  Sehr.  v.  d.  Siebenzahl  in  ihrer  vier- 
fachen Überlieferung,  zum  erstenroal  herausg.  u.  erläutert.  Paderborn 
1913,  S.  I57ff. 

92)  Omphalos  S.  9,  A.  14.  S.  39,  A.  74.  S.  129.  132.  N.  Omphalos- 
stud.  S.  27.  51  If.  89,  A.  10^ 

93)  ^S^-  auch  Bix  GoiiioN,  D.  Sagen  d.  Juden,  S.  58:  'Warum 
nur  heißt  der  Berg  Garizim  der  erste  Berg?  fragt  das  samaritanische 
Volk.  Weil  er  allein  zusammen  mit  dem  Garten  Eden  zu  allererst  aus 
dem  Wasser  sichtbar  -wurde.  Von  dem  Berge  Garizim  nahm  auch  der 
Herr  die  Erde  zum  Leibe  Adams,  aus  dem  Staub  des  gesegneten  Berges 
machte  er  den  Menschen.  Adam  ist  die  Herrlichkeit  der  Schöpfung, 
und  der  gesegnete  Berg  ist  die  HeiTÜchkeit  des  trockenen  Landes'. 
G.  beruft  sich  (S.  353)  dafür  auf  den  Kommentar  Marqahs  des  Sama- 
ritaners  zu  den  Büchern  Mosis  in  HEiDEsnKiMs  Bibliotheca  Sama- 
-ritana  III,  p.  48. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       53 

landete  (s.  oben  S.  14).  Eine  bockst  erfreuliebe  Bestätigung 
dieser  Anuabmeu  erblicke  icb  in  dem  Zeuguis  des  Petrus 
Comestor  (12.  Jabrb.)  in  seiner  Historia  scbolastica  in  Evan- 
gelia  58  (=  Migne,  P.  L.  ser.  II  ig8  p.  1567D),  wo  von  dem 
Jakobsbrunnen  bei  Sicbem  berichtet  wird:  ^Civitas  ergo  nomeu 
autiquum  amiserat  et  dicebatur  Sebaste,  sed  regio  nomen  illud 
[Samaria]  retinuerat.  Veniens  autem  juxta  Sicbem  ...  et 
erat  puteus  in  praedio,  quod  emit  Jacob  a  rege  Hemor  .  .  . 
Sunt  qui  dicunt  locum  illum  esse  umbilicum  terrae 
nostrae  babitabilis,  quia  singulis  annis  quadam  die  aestatis 
meridiana  bora  sol  descendit  in  aquam  putei,  nusquam  faciens 
umbram,  quod  pbilosopbi  apud  Sienem  [=  Svene  in  Ober- 
ägypten] fieri  tradiderunt.'^*)  Die  gleiche  naive  Begründung 
habe  ich  oben  für  eine  den  ö^q)aXbg  yrig  in  Jerusalem  dar- 
stellende, zur  Zeit  der  Sonnenwende  keinen  Schatten  werfende 
Säule  (Arkulf  in  Geyers  Itinera  Hierosolymit.  p.  239,  12  ff.) 
und  für  das  chinesische  Honanfu  nachgewiesen  (Omphalos 
S.  21  Anm.  38  u.  S.  28  A.  50.  Klameth  a.  a.  0.  S.  82  A.  2; 
S.  92  A.  2  u.  3).  Wir  ersehen  aus  diesen  Zeugnissen  des 
Petrus  Comestor  und  des  Gervasius  von  Tilbury^*)  abermals 
auf  das  deutlichste,  daß  bisweilen  die  spätesten  literarischen 
Zeugnisse  eine  ältere  und  bessere  Überlieferung  enthalten 
können,  als  die  scheinbar  ältesten  und  besten.  Daß  es  sich 
in  diesem  FaUe  um  uralte  höchst  wertvolle  samaritanisehe 
Lokaltraditionen  handelt,  dürfte  jedem  Unbefangenen  wohl 
ohne  weiteres  klar  sein. 


94)  Dieselbe  Überlieferung  der  Samaritaner  liegt  vor  bei  Gerva- 
sius V.  Tilbury  Otia  imper.  ed.  Liebbecht  p.  i :  'Majores  nostri  civita- 
tem  sanctam  Jerusalem  in  medio  nostrae  babitabilis  [olxov^ievrig] 
sitam  scripserunt  secundum  illud:  „Operatus  est  salutem  in  medio 
terrae."  Hoc  autem  circumferentiae  centrum  arbitrantur  quidam 
[=  Samaritani]  in  illo  loco  esse,  ubi  Dominus  locutus  est  ad  Samari- 
tanam  ad  puteum;  illic  enim  in  solstitio  aestivo  meridiana  bora  sol 
recto  tramite  descendit  in  aquam  putei,  umbram  nullam  aliqua  parte 
monstrans,  quod  apud  Syenen  fieri  tradunt  pbilosopbi."    S.  ob.  S.  21. 


54  Wilhelm  Heiniuch  Kosciiku:  [70i  * 

b)  Bethel. 

Eiue  ganz  ähnliche  Ixolle  wie  Sichoin  hiit  das  ebenfulls 
iu  MittelpaliistiiiJi  fast  in  ilor  Mitte  zwischen  Jerusalem  und 
Siclioni  üeletjeue  Bethel  in  iler  ältesten  Geschichte  des  heili- 
gen  Landes  gespielt.  Es  war  ehemals  eine  altkanaanitische 
Könijj^sstadt  (Jos.  12,  16),  wurde  aber  vun  i.]i'n  Ephraimiteu 
durch  List  erobert  (Hiebt,  i,  22  f.),  war  eine  Zeitlanj::;  Stand- 
ort der  Stittsliütte  (Uicht.  20,  18.  26 f.  i.  Sam.  10,  3),  und 
Samuel  hielt  hier  öflfeutlich  Gericht  (i.  Sam.  7,  16).  Später 
machte  Jerobeam  die  Stadt  zum  Hauptsitz  des  von  ihm  ein- 
geführten Bilderdienstes  (i.  Kön.  12,  281f.;  vgl.  Arnos  3,  14. 
7,  10.  13  usw.),  wobei  er  höchst  wahrscheinlich  an  die  ur- 
sprüngliche religiöse  Bedeutung  des  Ortes  anzuknüpfen  suchte 
(WiNER  a.  a.  0.^  I,  169  A.  2).  Diese  erhellt  namentlich  aus 
der  berühmten  Sage  von  der  Himmelsleiter  oder  wohl 
besser  PIimmel.'=;treppe,  die  Jakob,  als  er  daselbst  übernachtete^ 
im  Traume  erblickte  (Gen.  28,  1 1  ff.).  Die  entscheidenden 
Worte  des  Jahweisten  (a.  a.  0.  v.  16 ff.)  lauten:  'Da  erwachte 
Jakob  aus  seinem  Schlaf  und  sprach:  Wahrlich,  Jahwe  ist  an 
dieser  Stätte,  und  ich  Avußte  es  uicht!  Da  fürchtete  er  sich 
und  sprach:  Wie  schauerlich  ist  diese  Stätte!  Ja,  das  ist  der 
Wohnsitz  Gottes  (s.AnuL  14)  und  die  Pforte  des  Himmel sl 
Frühmorgens  aber  nahm  Jakob  den  Stein,  den  er  zu  seinen 
Raupten  gelegt  hatte,  stellte  ihn  auf  als  Malstein  und  goß 
Öl  oben  darauf.  Und  er  gab  jener  Stätte  den  Namen  Bethel, 
vorher  aber  hieß  die  Stadt  Lus.  Und  Jakob  tat  ein  Gelübde 
und  sprach:  Wenn  Gott  mit  mir  sein  und  mich  behüten  wird 
auf  dem  Wege,  den  ich  jetzt  gehe,  und  mir  Brot  zu  essen 
und  Kleider  anzuziehen  gibt,  und  ich  wohlbehalten  zum  Hause 
meines  Vaters  zurückkehren  werde,  so  soll  Jahwe  mein  Gott 
sein,  und  dieser  Stein,  deu  ich  als  Malstein  aufgestellt 
habe,  soll  ein  Gotteshaus  werden,  und  alles,  was  du  mir 
geben  wirst,  werde  ich  dir  getreulich  verzehnten.'  Auch  noch 
ein  zweites  Mal  erschien  Gott  dem  Jakob  zu  Bethel  nach 
Genes.  35,  i  ff.,  und   abermals   wird   berichtet  (v.  13 f.):   Und 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       55 

Gott  fuhr  auf  von  ihm  au  der  Stätte,  wo  er  mit  ihm  geredet 
hatte.  Da  errichtete  Jakob  einen  Malstein  an  der  Stätte,  wo 
er  mit  ihm  geredet  hatte  —  ein  Steiumal  — ,  und  goß  ein 
Trankopfer  darüber  aus  und  schüttete  Ol  darüber.  Und  Jakob 
nannte  die  Stätte,  woselbst  Gott  mit  ihm  geredet  hatte,  Bethel.' 
Diese  zweite  Erzählung  macht  zwar  beinahe  den  Eindruck, 
als  wenn  sie  nur  eine  Doublette  der  ersten  wäre,  zumal  da 
auch  hier  keineswegs  von  der  Erbauung  des  Genes.  28,  22 
gelobten  'Gotteshauses'  (d.  h.  Tempels),  sondern  nur  von 
einer  abermaligen  Errichtung  eines  Malsteins  die  Rede  ist, 
dient  aber  jedenfalls  dazu,  die  Vorstellung  von  der  ganz  be- 
sonderen Heiligkeit  des  Ortes  zu  verstärken. 

Wie  ich  der  von  Neumann  in  Leipzig  1884  aus  dem 
Italienischen  übersetzten  Schrift  Marinellis  (Die  Erdkunde 
bei  den  Kirchenvätern  S.  75  Anm.  39)  entnehme,  hörte  nach 
den  Anualen  des  Eutjchius  von  Alexandria  (zitiert  von  Leo- 
PARDi,  Errori  popol.  degli  ant.  p.  207,  mir  unzugänglich)  der 
Kalif  Omar  vom  damaligen  Patriarchen  Jerusalems  sagen, 
daß  der  Ort  der  berühmten  Jakobsleiter  der  Mittelpunkt 
der  Erde  sei;  es  muß  also  im  7.  Jahrhundert  zu  Jerusalem 
in  kirchlichen  Kreisen  eine  Tradition  gegeben  haben,  nach 
welcher  Bethel  als  o^Kpalog  yfjg  galt.  Diese  außerordentliche 
Bedeutung  Bethels  scheint  tatsächlich  durch  die  neuere  For- 
schung unterstützt  zu  werden;  denu  auch  nach  A.  Jeremias 
(Das  alte  Test,  im  Lichte  des  alt.  Or.^  S.  32of.)  ist  Bethel- 
Luz  der  Nabel  der  V^elt  (babylonisch:  markas  same  u  irsitim, 
'das  Mutterband  Himmels  und  der  Erde';  s.  Jeremias,  Handb. 
d.  altorient.  Geisteskultur.  Leipzig  1913,  S.  3  3  f.),  wie  später 
der  Sion  (s.  a.  a.  0.  S.  476f.).  'Wie  Babylon  vom  babylo- 
nischen Standpunkte  aus  Weltmittelpunkt  ist  (auf  den  Bronze- 
toren von  Balavat  5,  5  wird  es  ausdrücklich  markas  same 
u  irsitim  genannt)  und  wie  Jerusalem  vom  jüdischen  Stand- 
punkt aus,  so  ist  Bethel  für  das  alte  Kanaan  Mittel- 
punkt der  Welt.  Jakob  sieht  den  suUam,  d.  h.  die  Stufen- 
rampe .  .  .,  die  auf  der  Erde  errichtet  ist  (mussab).  Das 
Haupt  des  sullam  reicht  bis   zum  Tor  des   himmlischen  Pa- 


50  Wii.MKi.M  Hkin'uicii  Koscuku:  I70,  2 

Iftstes'.  —    Es  erscheint  in  liohein  (liiule  wünsclionswcrt,  noch 
weitere  Zeugnisse    fiii"    tHcse    Hrdiutnng  Bethi'ls   au.siindij^   /,u 
UKielien.      leh    vermute    Jiul'   Ciiiuul    der    ihmkeuswerteu    Mit- 
teihin«^    Dr.  Bkkdyczkwskis    (=  Bin  (Jokion)    im   Omphalog 
S.  -'7,  diiß  solche  Zeugnisse  namentlich  in  der  späteren  ji'idi- 
schen  Literatur   zu  linden  sind.     Eine  vorläufige  Bestätigung 
dieser  Vermutung   erblicke   ich  in  der  interessanten   von  Bin 
Gorion  aus  Pirke  Rabbi  Elieser  XXXll  mitgeteilten  Legende, 
wonach    der    Stein    von    Bethel,    der   Jakob    als    KopiTiissen 
diente,  zum   'Grundstein  der  Erde""  uiul  /um  'Nabel  dor 
Welt'   wurde;  von  dort  dehnte  sich  ilie  ganze  Erde  aus,  und 
darauf  steht  der  Tempel  Gottes,  wie  Jakob  auch  gesprochen 
hat:  Dieser  Stein,   den   ich   zu   einem  Mal   aufgerichtet  habe, 
soll  ein  Gotteshaus  werden. ^^)    Ein  weiteres  Zeugnis  für  die- 
selbe Anschauung  teilt  Bix  Gorion  a.  a.  0.  S.  414  mit:  'Der 
Grundstein  ist  aus  Feuer,  Wind  und  Wasser  geschaffen-,  alle 
diese  Din^je  wurden  zu  einem  Stein  gehärtet.     Der  Stein  aber 
liegt    auf  den  Tiefen;   zuweilen    quillt   aus   ihm  Wasser   und 
füllt  die  A])gründe;    dieser  Stein    steht    im  Mittelpunkt 
der  Welt,  und  das  ist  der  Stein,  den  Jakob  gepflanzt 
hat;  er  ist  die  Grundfeste  der  Welt.  —  Hat   denn  aber 
Jakob    diesen   Stein   gemächt?    War   er    doch    schon   da,   als 
Gott   die  Welt   erschaffen   hatte.     Aber   Jakob    hat   ihn    erst 
zum    Grundstein   der   Oberwelt   und    der  Welt   da   unten   ge- 
macht.   Daher   sprach    er:    Dieser   Stein,    den   ich   zu   einem 
Mal  aufgerichtet  habe,  soU  ein  Gotteshaus  sein.    Also  hat  er 
ihn  zur  Wohnung  der  Himmlischen  gemacht.  —  Die  Weisen 
sagen,   dies  sei  der  Stein,   auf  dem   die  sieben  Augen  waren, 
von  dem  der  Prophet  Sacharia  (3,  g)  spricht.'  ^^) 

Die  in  diesen  Legenden  so  deutlich  ausgesprochene  Iden- 


95)  Wörtlich  au3  Bin  Gorion,  Die  Sagen  der  Juden  II  (1914)  S.  409, 
der  sich  ausser  auf  Pirke  Rabbi  El.  a.  a.  0.  auch  noch  auf  Midrasch 
Hag-gadol  Gen.  XXVIII,  18,  Midrasch  Bereschith  Rabba  LXIX,  8  und 
Midr.  Tehilim  XC,  17  beruft  Cs.  a.  a.  0.  S.  432). 

96)  Als  Quellen  dieser  Legende  gibt  Bin  Gobion  a.  a.  0.  II,  432 
Sh.  Gen.  p.  231a;  Saare  Ora  I,  p.  8a  an. 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       57 

tität  des  vou  Jakob  zu  Bethel  erricliteten  'Malsteines'  mit 
dem  jerusalemisclien  Weltnabelstein  Sclietija  (s.  oben  Anm.  5 1 
lind  "Koscher,  Neue  Omphalosstudien  S.  15 tf)^^)  erklärt  sich 
ohne  Schwierigkeit  durch  die  Annahme,  daß  beide  Steine  ur- 
sprünglich öacpaXoi  yrjg  waren  und  daß  folglich  Bethel  in 
der  alten  Zeit  von  seinen  Bewohnern,  vielleicht  schon  den 
alten  Kanaanäern,  ebenso  wie  Jerusalem  und  Sichem  als  Nabel 
der  Erde  angesehen  wurde. 

IV.  Mekka  als  Nabel  der  Erde. 

Meine  frühere  (Omphalos  S.  29  u.  Neue  Omphalosstudien 
S.  14)  ausgesprochene  Annahme,  daß  Mekka  niemals  als  Nabel 
der  Erde  gegolten  habe,  muß  ich  jetzt  auf  Grund  der  Dar- 
legungen Lelewels  und  Wensincks  als  einen  großen  Irr- 
tum bezeichnen.  Zwar  ist  es  ganz  sieber,  daß  Mohammed 
selbst  und  manche  seiner  ältesten  Anhänger,  noch  der  jüdi- 
schen Lehre  huldigend,  Jerusalem  als  Mittelpunkt  der  be- 
wohnten Erde  angesehen  haben  ^^),  aber  je  höher  die  Autorität 
und  Macht  des  Islams  und  damit  auch  Mekkas  stieg,  um  so 
unwiderstehlicher  verbreitete  sich  der  Glaube,  daß  Mekka  und 
ganz  besonders  die  Ka'aba  mit  dem  heiligen  schwarzen  Stein 
den  eigentlichen  Erdnabel  darstelle.    Die  Begründung   dieses 


97)  Schon  Bin  Gorion  a.  a.  0.  S.  409,  Anm.  ***)  hat  richtig  er- 
kannt, daß  in  dieser  Legende  einmal  Beth-El  bewußt  in  Jerusalem  ge- 
ändert worden  ist,  um  den  "Widerspruch  nicht  allzusehr  hervortreten 
zu  lassen. 

98)  Vgl.  Wensinck  a.  a.  0.  S.  14:  The  Jewish  theory  however 
often  appears  in  Muslim  literature.  Haiabi  (Sira,  Kairo  1292)  I,  195,  5 
infra  has  a  tradition  wLich  is  carried  back  to  'Ali  the  Caliph,  accor- 
ding  to  which  „the  highest  of  all  countries  and  the  nearest  to  heaven 
is  Jerusalem"  (s.  oben  S.  ißf.  39).  Haiabi  adds  a  tradition  on  the 
authority  of  Ibn  'Abbat  and  Mu  ädh  ihn  Djebel  „that  it  is  situated 
twelve  mil  nearer  to  heaven  than  the  rest  of  the  earth"  etc.  S.  auch 
Omphaloo  S.  29  Anm.  54.  N.  Omphalosstudien  S.  18.  Wensinck  S.  22f. 
d'Hebbelot,  Biblioth.  Orient.  III,  261  (s.  v.  Scheith).  Nach  älterer 
muslimischer  Anschauung  wurde  auch  die  Welt  nicht  von  Mekka,  son- 
dern von  Jerusalem  aus  erschaffen  (Wensinck  S.  17). 


58  WlLUKI-M    HkINKU'H    R()S(!1I1;R:  [7".  2 

Dogmas  miichto  iiiiin  sirli  iihiigons  /.icuilirh  leicht:  ui;iii  über- 
trug gaii/  einfach  uud  naiv  sämtlicho  an  .lerusaleni  als  o^iqta- 
Xbg  yf]^  geknüpt'to  Vc^rstelliiiigcn  und  Sagen  direkt  auf  Mekka 
nud  ignorierte»  dabei  geHissenllich  die  durch  das  höhere 
Alter  und  viel  gr()l5ere  Origiualität  geheiligten  Ansprüche  der 
palästinensischen  llaujitstadt. 

Vor  allem  wurde  Mekka  und  Arabien  au  Stelle  Jerusa- 
lems uud  Palästinas  ausdrücklich  für  den  'Na])el  der  Erde' 
erklärt,  wobei  man  sich  auf  Sure  42,  5  des  Korans  berief: 
'Wir  haben  dir  <len  Koran  in  arabisclier  Sprache  geolTcnbart, 
damit  du  die  Mutter  der  Städte  |=  Mekka]  und  die  Ara- 
ber, welche  um  sie  herumwohnen,  vor  dem  Tage  der  einstigen 
Versammlung,  welcher  nicht  zu  bezweifeln  ist,  verwarnest.' 
Wensinck  a.  a.  0.  S.  23  bemerkt  dazu:  'Accordiug  to  Taljari 
Tafsir  VII,  165,  18  [Koran,  Kairo  1901  — 1903]  „those  who 
are  round  about  it"  nieans  the  whole  of  the  earth;  this 
explanation  iuvolves  the  conception  that  „the  mother  of  places" 
(and  this  is  nothing  but  Mekka  in  Muslim  terminology)  is 
the  centre  of  the  earth.  Of  course  this  verse  from  the 
Kor'än  is  only  of  secoudary  importance  for  the  later  spread 
of  the  conception  amoug  the  Muslims  who  use  „the  centre 
of  the  earth"  as  a  common  epithet  for  Mekka  (Kutb 
al-Din,  p.  i8p.  infra  =  Wüstenfeld,  Die  Chroniken  d.  Stadt 
Mekka,  vol.  III.  Leipzig  1857;  cf.  Bibl.  Geogr.  Arab.  I,  3,  20 
and  Mas'üdi  I,  77  where  Arabia  is  the  centre  of  the  earth.' ^^) 
Dem  entsprechend  erscheint  auf  zahlreichen  arabischen  Welt- 
karten des  Mittelalters  Mekka  als  Zentrum  an  Stelle  Jerusa- 
lems (s.  oben  S.  2 3  f.).  Vgl.  Lelewels  (eines  der  besten 
Kenner  der  mittelalterlichen  Kartographie)  Geographie  du 
moyen  äge  I  p.  27  Anm.  46:  'Pour  les  fideles  on  traf;ait  les 
plans,  oü  la  kaaba,  la  Mekka  se  trouvait  au  centre,   et 


99)  Weitere  Zeugnisse  für  dieselbe  Anschauung  führt  Wensinck 
S.  36  an,  der  sich  unter  anderen  auch  auf  den  berühmten  holländischen 
Orientalisten  Snouck  Hukgbonje  beruft,  der  in  Mekka  selbst  öfters  diese 
Stadt  als  'Nabel  der  Erde'  hat  bezeichnen  hören.  Vgl.  auch  Jeremias, 
D.  alte  Testam.  im  Lichte  d.  alt.  Or.»  S.  86. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       59 

en  cercle,  dans  les  airs  de  rayons,  etaient  les  noms  des 
villes  et  des  pays  du  monde,  d'apres  leur  position  tout  ä 
l'entour  de  la  Mekke.  On  voit  une  semblable  rose  dans  Kas- 
vini  ä  12  rayons  (p.  76  de  l'edit.  de  Wüstenfeld);  dans  le 
portulan  arabe  du  1551,  d'Ali  ben  Ahmed  alscharfy  alsifäkes 
a  32  ou  40  rayons  (Reinaud,  introduction  p.  198,  pl.  I  no.  3). 
Le  dessin  des  cartes,  d'apres  cette  methode  etait  en  usage 
chez  les  Grecs  de  l'ecole  d'Alexandrie.  Le  navigateur  Timo- 
stbenes^^°)  dressait  sa  carte  sur  la  rose  des  vents,  placee  ä 
Rhode;  Rhode  formait  le  centre  (voyez  nos  etudes  de 
la  geogr.  ancienne  nos.   12  et  34)'. ^"^^j 

Auch  dieVorstellung,  daß  Mekka  der  höchstgelegene  Ort 
auf  der  Erde  und  deshalb  auch  über  alle  andern  Städte  der 
Welt  im  eigentlichen  und  uneigentlichen  Sinne  erhaben  sei, 
beruht  auf  altjüdischen  Überlieferungen,  die  von  Jerusalem 
(und  Sichern,  s.  oben)  auf  Mekka  übertragen  wurden. 

So  erklärte  nach  Azraki  (bei  Wüstenfeld,  Die  Chro- 
niken der  Stadt  Mekka,  vol.  I,  Leipzig  1858)  S.  382,  15  ff. 
'A'isha:  Nieraals  sah  ich  irgendwo  den  Himmel  näher  der 
Erde  als  in  Mekka,  und  Kisä'i  fol.  15  a,  7  der  Leidener  Hand- 
schrift Warner  538  bezeugt  nach  Wensinck  (a.  a.  0.  S.  15) 
eine  eigentümliche  Überlieferung,  die  besagt:  'The  polestar 
pvoves  that  the  Ka'ba  is  the  high  est  situated  territory; 
for  it  lies  over  against  the  centre  of  heaven.'  Die  natürliche 
Konsequenz  dieser  Anschauung  ist  die  Lehre,  daß  man  in  der 
Not  nach  Mekka  wandern  müsse,  weil  dort,  in  der  dem  Him- 
mel nächstgelegenen  Stadt,  die  Gebete  am  ehesten  von  Allah 


100)  Vgl.  Rehm,  Griechische  Windrosen,  Sitz.-Bef.  d.  Bayer.  Ak.  d. 
Wies.,  Philos.-philol.  u.  hist.  Klasse  1916  III,  S.  47!?. 

loi)  Vgl.  ebenda  II,  p.  134:  ^Les  Arabes  suivirent  la  doctrine 
grecque  de  12  vents.  Elle  n'etait  guere  utile  pour  leur  cartographie, 
mais  en  dressant  la  rose  de  ces  vents  sur  Kaaba  de  la  Mekke,  ils 
annotaient  dans  chaque  rayon  les  villes  et  les  pays  qu'il  parcourait  et 
touchait,  afinque  les  fideles  des  villes  et  pays  de  chaque  rayon 
purent  se  tourner  en  priant  vers  Eaaba  (voyez  note  50  du 
chap.  18  de  la  geogr.  du  moyen  äge)'. 

Phil.-hist.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  2.  5 


60  \Vll,IlKI,M    llKlMtlfll    h'osciiK.u:  |7'*>- 

crhört  werden  (Kuth  n\  Din  h.  VVi'sTKNFKLD  ii.  n.  O.  ]i.  442,  6; 
vill.  Wensinck  ii.  a.  ().  S.  25). 

Wie  (las  lleilii,diim  /ti  .lenisalcm  und  Gnrizim  (Sichern), 
so  soll  am-h  die  Ka'aba  intol«re  ihrer  Höchatlage  iiiclit  von 
der  SintMut  betrofron   wonlcii  sein  (Wensinck  S.   15). 

Soiiar  die  Lehre  von  der  Fräexisten/,  des  lleilifrtunis  ist 
von  den  muslimischen  ThiMilogen  auf  Mekka  un<l  die  Kaa'ba 
übertragen  wordtm.  80  behauptete  Azrai;.i  (a.  a.  0.  S.  i,  6a; 
vtrl.  Ku'.b  al-Din")  nach  Wkxsinck  S.  iH:  '40  .lalirc  bevor 
.VUah  die  Hinuuel  und  die  Erde  schuf,  war  die  Ka'aba  ein 
trockener  Ort,  der  auf  den  Wassern  schwamm,  und  von  ihm 
aus  wurde  die  Welt  auscrebreitet'.  Das  ist  eine  deutliche 
Übertragung  der  jüdischen  Vorstellungen  von  der  Präexistenz 
des  Steins  Schetija  'des  Nabelsteins  der  Welt  und  der  Erde' 
im  Heiligtum  zu  Jerusalem  auf  Mekka  und  die  dortige  Kaa'ba 
(vgl.  Neue  Omphalosstudien  S.  16  u.  ol)en  S.  17). 

Schließlich  sind  auch  die  Legenden  von  Adam  und 
Abraham^"^)  nach  Mekka  verlegt  worden.  Nach  Khami 
(Dyärbekn's  Ta'rlkh  al-Khamis,  Kairo  1283)  I,  46  hat  die  Er- 
schaffung Adams  in  der  Gegend  von  Mekka  stattgefunden 
(Wensinck  S.  21),  wie  denn  auch  behauptet  wnirde  (a.a.O.): 
'The  origin  of  Muhammed's  substance  (tina)  is  in  the 
navel  of  the  earth,  in  Mekka',  and  'the  origin  of  the  clay 
of  the  apostle  of  Allah  is  from  the  navel  of  the  earth  in 
Mekka'  (Haiabi  (Sira,  Kairo  1292)  I,  197,  2).  Ebenso  sollte 
Adam  in  der  Nähe  von  Mekka  auf  dem  Berge  Abukais  begraben 
sein  (d'Hekbelot,  Bibl.  Orient.  I,  94  f.,  wo  noch  mehr  zu 
tinden  ist).^°^)  Vgl.  Gesenius  in  Ersch  u.  Grubers  Enc.  I, 
S.  362. 


102)  d'Herbelot,  Bibl.  Orient.  I,  94:  Tour  lors  Dieu  ayant  egard 

ä  la  penitence  d'Adam,  fit  descendre  du  ciel  .  .  .  ime  espece  de  taber- 

nacle   ou   pavillon   [man  denke  an  die  Stiftshütte !  |,    qui    fut   place    au 

lieu  oü  Abraham  a  depuis   bäti   le   temple   de   la  Mecque'  .  .  . 

Vgl.  ebenda  III,  261  (a.  v.  Scheith). 

103)  Über  Mekka  als  Begräbnisort  Muhammeds  und  anderer  Pro- 
pheten (Noah,  Hüd,  Sählih,  Ismael)  s.  Wensinck  S.  28. 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       6i 

Die  Legende  von  Dschedda,  nach  der  das  daselbst  be- 
findliche Grab  Evas  der  'Nabel  der  Welt'  sein  soll  (Neue 
Omphalosstudien  S.  ijf.)  hat  nach  Wensinck  (a.  a.  0.  S.  36) 
nur  lokale  Bedeutung,  da  sonst  den  Muslimen  allgemein 
Mekka  dafür  gilt.^**^)  Es  dürfte  sich  aber  gleichwohl  lohnen, 
dem  Ursprung  dieser  lokalen  Sage  nachzugehen.  Undenkbar 
wäre  es  nicht,  daß  hier  eine  altsemitische,  vorislamische  Über- 
lieferung vorliegt,  die  mit  der  oben  (S.  8  ff.  A.  13)  besprochenen 
von  Bagdad  (=  Babylon)  als  Zentrum  der  Erde  parallel  läuft. 
Es  hat  offenbar  auf  altsemitischem  Gebiete  zahlreiche  reli- 
gionsgeschichtlich und  politisch  bedeutsame  Orte  gegeben, 
die  sich  rühmen  durften,  Nabel  der  Erde  und  Stätte  der  Er- 
schaffung des  ersten  Menschenpaares  zu  sein. 

V.  Der  Omplialos  von  Athen  und  Eleusis.^"^) 

Bereits  früher  (s.  Omphalos  S.  33  und  Neue  Omphalos- 
studien S.  2  2  f.)  habe  ich  auf  einige  Zeugnisse  hingewiesen, 
die  beweisen,  wie  kräftig  der  Omphalosgedanke  auch  in  Attika 
und  Athen   mindestens   seit   dem   Ende   des   6.  Jahrhunderts 


i 


104)  Vgl.  d'Herbelot  a.  a.  0.  S.  94:  'Adam  fiit  conduit  .  .  .  par 
le  meme  ange  [Gabriel]  ä  la  montagne  d' Arafat,  montagne  qni  a 
re9u  ce  nom  a  cause  qu'  Adam  et  Eve  s'y  reconuurent  tous  deux  apres  un 
exil,  et  une  Separation  de  plus  de  deux  cens  ans'.  'Eve  tomba  a 
Gidda  [nach  dem  Sündenfall],  port  de  la  mer  rouge  assez  pres  de  la 
Mecque,  Adam  sur  la  montagne  de  Serandib,  c'est  l'isle  de  Zeilen, 
que  les  Portugals  [wahrscheinlich  nach  arabischer  Sage]  appellent  Pico 
de  Adam'  (s.  oben  S.  5  S.).    Vgl.  auch  d'Herbelot  III,  26  (s.  v.  Scheith). 

105)  Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um  zu  der  überaus  schwer 
verderbten  (von  mir  Omphalos  66,  N.  Ompbalosstud.  46  besprochenen) 
Stelle  desVarro  de  1.  1.  7,  17  eine  mir  nach  langen  Erwägungen  immer 
wahrscheinlicher  gewordene  Verbesserung  vorzutragen.  Ich  vermute, 
daß  statt: 

Delphis  in  aede  ad  latus  est  quiddam  ut  thesauri  specie,  quod 

Graeci  vocant  o^Kpalöv  zu  lesen  ist: 
Delphis  in  aed<isN  ad<(yto>  est  quiddam  .  .  . 
Denn  daß  der  eigentliche  Omphalos  im  Adyton,  in  unmittelbarer  Nähe 
des  xccöficc  {(it6\Liov)  und  des  Dreifußes,  gestanden  hat,  kann  nach  allen 
monumentalen  und  literarischen  Zeugnissen  für  gewiß  gelten. 

5* 


02  Wii,UKi,M  llr.iNiiUMi  Kü.schkk:  [70,- 

entwickelt  war.  Dt'iiii  schon  Pincl.ir  (fr.  45  Boeckh  =  53  Bergk) 
redet  iu  einem  schönen  Ditlivrambusfragment  von  einem 
ccözfog  dfKpciXbs  i^vc^fitr,  worunter  der  von  den  Peisistratiden 
jjjostiftote  Zwölfgötteraltar  zu  verstehen  ist,  der  ziigloich  als 
ndigiöser  Mittelpunkt  und  Asyl,  vor  allem  aber  als  Zeutral- 
meilenstein  für  das  gesamte  Straßennetz  Athens  und  Attikas 
diente.  Und  aus  dem  Panathenaikus  des  Aristeides  (99)  geht 
deutlich  hervor,  daß  mau  wenigstens  zu  dessen  Zeit  Athen 
als  Zentrum  {6^iq)aX6g)  der  Welt  und  die  Akropolis  wieder 
als  Zentrum  der  Stadt  aufgefaßt  hat.  Es  heißt  dort:  rj  d' 
uvT))  d^s'öii:  T)-;«;  TS  x^'^Q^S  ^v  t/J  'ElXädi  xal  t^j  ndlsag  iv 
Tj-  x^Q^h  ^^^V  y^'^Q  f^  l^^'^ll  ^^i'tcii  .  .  .  Tqltt]  de  ax6Xov&og 
TovTCOv  avixsi^  %fQt(pav))g  uva  8ia  ueOy^g  Trjs  ÄoAfCjg,  i] 
TidXccL  ^ev  ;roAtcr,  vvv  de  anQÖnoXLg^  xoQv^jj  TtaQajiXrjöCcog  .  .  . 
'HGtcsq  yciQ  E7t  aOTtCdog  xv'/tXcov  elg  aXXijXovg  s^ßeßXrixötcov 
Tre^nrog  elg  6[i(paXbv  ttXyiqol  dtä  ^idvxcov  6  xdlXiöxog^  eCitSQ 
T]  [lev  'EXXäg  ev  [leGa  ri^g  Ttdöiqg  yfjg^  7;  d'  ^Atnxij  Tilg 
'EXXddog^  r^g  de  x^Q^S  V  ^oXig^  tilg  d'  av  TtoXeag  1^ 
bud)vvuog  [=  1^  dxQÖTCoXig^.  Daß  aber  der  hier  von  Ari- 
steides ausgesprochene  Gedanke  sehr  viel  älter  ist,  erhellt 
deutlichst  aus  Kap.  i  der  Schrift  des  Xenophon  de  vectigali- 
bus  (i,  6),  worin  er  das  günstige  Klima,  die  Fruchtbarkeit 
und  den  Silberreichtum  Attikas  preist.  Er  sagt  geradezu: 
Ovz  av  dXöyag  de  ng  oirjd-eC)]  Tfjg  'EXXddog  xal  Tcdöt^g  d^ 
tilg   oiüov^evrjg^^^)   dacpl   tu  [leaa   axiöd-ai  trjv  tcöXiv. 


106)  Vgl.  dazu  Paetsch,  Die  Grenzen  d.  Menschheit  l:  D.  antike 
Oikumene  =  Ber.  d.  Sachs.  Ges.  d.Wiss.  1916,  II  S.  5  (Philol.-histor.  KL). — 
So  wild  auch  anderwärts  Athen  als  'umbilicus  Graeciae'  bezeichnet, 
z.  B.  von  dem  Istrier  Aethicus  in  seiner  Kosmographie  (ed.  Wuttkk, 
Kap.  79,  p.  59):  ''Ubi  [in  Graecia]  est  urbs  inclitissima  eorum  Athenas, 
quam  philosophus  [=  Aethicus?]  umbelicum  Graeciae  praedixit, 
pingua[!]  illicibus  et  ornata  munilibus,  erudita  litteris,  lege  et  scientia, 
decorata  ludis,  foro  et  vectigalibus  .  .  .'  Derselbe  Aethicus  nennt  übri- 
gens p.  81,  Kap.  108  Hierusalem  meduUa  et  umbelicus;  femer 
Kap.  109:  Aegyptus  =  medulla  terrarum  aliarum,  Kap.  107,  p.  80: 
Assyria  oder  Ninive  umbelicum  ac  medullam  [=  meditullium ?]  und 
p.  65,  Kap.  84  den  Olympus  umbo  [=  umbilicas?]  praecellens,  regio- 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       63 

o6(p  yäQ  av  tivsg  nlslov  cini%io<5iv  avxflg,  toGovta  yals'KCxi- 
TSQOLg  7]  \1;v%£Glv  1]  %-dX%E<3iv  Bvrvyxdvovaiv  ojtööot  x  av  uv 
ßovhi&äöiv  cc7t  h6%dtcov  xf^g  'ElXddog  fV  eöxaxa  cicpLXEö&ai, 
ijtävxsg  ovxoL  co671£Q  xvxXov  xögpov^*^')  xug  'Jd'r'jvag  rj 
%aQtt7i)Jov6Lv  i]  TCaQEQiovtai  .  .  .^°^) 

Aber  so  deutlich  auch  an  den  beiden  soeben  angeführten 
Stellen  die  zentrale  Lage  Athens  und  Attikas  innerhalb 
der  Oikumene  ausgesprocheu  ist,  es  fehlten  doch  bisher  lite- 
rarische und  monumentale  Zeugnisse  dafür,  daß  man  wie  in 
Delphi,  Branchidai,  Delos  usw.  diese  zentrale  Lage  durch  das 
unverkennbare  Symbol  eines  richtigen  'Omphalos'  ausgedrückt 
hätte.  Denn  daß  der  von  Pindar  gefeierte  ixöxsog  o^cpaXbg 
Q-vösig  schwerlich  Omphalosform  gehabt  hat,  dürfte  schon 
aus  seiner  Bedeutung  als  Zwölfgötter- Altar  hervorgehen,  zu 
dem  sich  ein  oben  konvex  zulaufendes  Monument  wenig  oder 
gar  nicht  eignen  möchte.  ^°^)  Um  so  erfreulicher  ist  es  jetzt 
für  uns,  nunmehr  auch  ein  paar  unzweifelhafte  monumentale 
Belege  dafür  beibringen  zu  können,  daß  die  zentrale  Lage 
Attikas  geradezu  durch  das  Svmbol  eines  richtigen  oju.- 
(paXög  von  typischer  Form  ausgesprochen  worden  ist, 
und  zwar  in  zwei  schönen  Pinakes  und  drei  Vasenbildern,  die 
sich  auf  Athen-Eleusis  und  dessen  Mysterienkult  beziehen. 


nis  med  Ulla.  Ist  hier  vielleicht  inedulla  so  viel  als  medituUium  ? 
Vgl.  Giraldus  Cambrensis,  Topogr.  Hiberniae  III,  4  S.  144  ed.  Dimock: 
qui  lapis  et  umbilicuB  Hiberniae  dicitur,  quasi  in  medio,  et  medi- 
tullio  terrae  positus.    (N.  Omphalosstud.  25f.). 

107)  Vgl.  dazu  Herodots  Bemerkung  über  die  Weltkarten  seiner 
Zeit  (4,36):  ysX&  Sh  oqbwv  yr]?  TtsQioSovg  ygccipavTcce  TtoXlovg  Tj'drj  .  .  . 
ol  'Sl%sa.v6v  T£  QSovTd  yQcccpovGi  TtiQi^  TT/V  y^f,  iovßav  KVnXorsQ^a  mg 

&710    TOQVOV    V..   X.   A. 

108)  Wenn  ich  nicht  irre  (s.  Anna.  107),  so  setzen  obige  Worte 
Xenophons  eine  vom  athenischen  Standpunkte  aus  gezeichnete  Welt- 
karte voraus,  deren  Mittelpunkt  (öffqpaidg)  Athen  war.  Bei  dem 
großen  Umfang  des  athenischen  Seehandels  und  Weltverkehrs  dürfte 
diese  Weltkarte  in  zahlreichen  Exemplaren  vorhanden  und  in  den  Kreisen 
der  athenischen  Seeleute  stark  verbreitet  gewesen  sein. 

109)  Vgl.  Ed.  Schmidt  im  Text  zu  den  Denkmälern  griech.  u.  röm. 
Skulptur  von  Brunn-Bruckmann  zu  Taf.  660,  Anm.  42. 


64 


WiMiKi.M  Hkimiuh  Rosciikk: 


[70,2 


Von  all i'rgr(")ßt Olli  Intercsso  für  unser  TroMoiu  ist  der  im 
.1.  i8g5  imTclosterion  vonEleusis  iius^'ograbono  sogenannte 
Ninnion-Pinax  (s.  Fig.  1),  offtMilmr  die  Votivgabe  'an  die  beiden 
Göttinnen'  j  V7.V.\/O.V  TOIN  e)E()l\  ^Jvt^VtXfi']  einer  Ker- 

uophorosTänzerin  zur 
Erinnerung    und   zum 
Dank    für    ihre    Ein- 
weihung   in   die  eleu- 
sinisclien      Mysterien, 
zum  ersten  Male  ver- 
öffentlicht    und     aus- 
führlich     besprochen 
von     Skias      in     der 
'Eq)i]aeQlg       ^jQ^atok. 
I  go  I    S.   I  ff.   (vgl.  Ttl- 
va^    i),     sodann     von 
SvoRONOS     in    seiner 
Revue  Internat.  d'Ar- 
cheologie    et    Numis- 
matique     igoi     pl.   I, 
S.  170 ff  u.  zii^.'^'^} 
und    bald    darauf,    in 
der  Hauptsache  Svo- 
RONOS      zustimmend, 
von  Miß  J.  Hakrison 
in  ihren  Prolegomena  to  the  Study  of  Greek  Religion.    Cam- 
bridge  1903,  S.  558ff.  —  Miß  H.'s  Erklärung  lautet: 

'The  Ninnion  piuax,  though  details  in  its  Interpretation  remain 
obscure  is  clear  on  this  one  point  —  the  influence  of  Delphi  [?]  on  the 
Mysteries.  .  .  .  The  inscription  at  the  base  teils  us  that  it  was  dedi- 
cated  by  a  woman  'Ninnion'  to  the  'Two  Goddesses'.  The  main  field 
of  the  pinax  is  occupied  by  two  scenes,  occupying  the  upper  and  Iower 
halves,  and  divided,  according  to  the  familiär  Convention  of  the  vase- 

I IG)  Hier  ist  auch  S.  lyofF.  eine  dankenswerte  kritische  Übersicht 
über  die  vorausgehenden  Besprechungen  und  Erklärungen  des  Ninnion- 
pinax  (von  Kern,  Winter,  H.  v.  Fkitze,  Rcbensohn  [Ath.  Mittheil.  1898 
(XXIII),  p.  271—306],  Skias,  Dragumis)  gegeben. 


Fig.  1:    i'iuax  der  Niunion  (nach  Habrison,  I'rolego- 
mena    to    tue    Study    of    Grcek    Eeligion,    Cambridge 

1903,  s.  559.  rig.  160). 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       65 

painter,  into  two  parts  by  au  irregulär  white  line,  indicating  the 
gronnd  on  which  the  figures  in  the  upper  part  stand.  In  each  of  these 
two  parts  some  of  the  figures,  distinguished  by  their  larger  size,  are 
■divine,  e.  g.  ^h.e  seated  goddesses  to  the  right;  others,  of  smaller  sta- 
ture,  are  human.  Among  the  human  figures  in  both  the  upper  and 
lower  row  one  is  marked  out  by  the  fact  that  she  carries  on  her  head 
a  KSQvog  (see  p.  159).  She  is  a  dancing  KEQvocpögos  (Poll.  on.  4,  103). 
She  ia  the  principal  tigure  among  the  worshippers,  and  she  can  scar- 
cely  be  other  thau  Ninuion,  who  dedicated  the  pinax.  In  a  word, 
Ninnion  in  her  votive  offering,  dedicates  the  representation  of  one, 
and  certainly  an  important,  element  in  her  own  initiation,  her  xsq- 
ro^poQia. 

Of  this  initiation  why  does  she  give  a  twofold  representation? 
The  answer,  once  suggested,  is  simple  and  convincing.  Each  and  every 
candidate  was  twice  initiated,  once  in  the  spring,  at  Agrae,  in  the 
Lesser  Mysteries.  The  scene  in  the  lower  half  is  the  initiation  at  Agrae, 
that  in  the  upper  half  the  initiation  at  Eleusis.  It  is  the  scene  in  the 
lower  half  that  especially  concerns  us. 

The  two  seated  goddesses  to  the  right  are  clearly  the  'Two  God- 
desses' and  the  lower  one  is,  it  is  equally  evident,  the  younger.  Köre. 
She  is  seated  in  somewhat  curious  fashion  on  the  ground;  near  her 
ia  an  empty  throne  .  .  .  Demeter,  who  should  be  seated  on  it,  who 
in  the  upper  tier  in  seated  on  a  throne  precisely  identical,  is  ab- 
sent  .  .  , 

The  explanation  is  again  as  simple  as  illuminating.  The  lower 
tier  represents  the  initiation  of  Ninnion  into  the  Lesser  Mysteries  at 
Agrae.  These  were  sacred  to  Persephone,  not  Demeter  (Schol.  Ar. 
Plut.  845)  .  .  .  To  these  statements  Stephau  of  Byz.  (s.  v.  '^yQ'^)  adds 
an  important  fact:  "AyQu  xai  ÄyQcci  ^(agiov  ngb  r?]?  TcölBoag,  iv  (o  ta 
lUXQU  ftverrjoia  ijtLtsXsitai  fil^rnia  x&v  tibqI  tov  ziiövvaov. 

With  these  facts  in  our  minds  we  are  able  to  Interpret  the  lower 
row  of  figures.  Köre  alone  receives  the  mystic  Ninnion,  and 
Dionysos  himself  acts  as  Dadouchos.  That  the  figure  holding 
he  torches  is  a  god  is  clear  from  his  greater  stature,  and,  if  a  god, 
he  can  be  none  other  than  Dionysos,  who,  as  lacchos,  led  the  mystics 
in  their  dance  .  .  .  Below  it  are  depicted  two  of  the  bundles  of  myrtle 
twigs,  which  are  frequently  the  emblems  of  initiation,  and  which  bore 
the  name  of  'Bakchoi'  (Schol.  Ar.  Eq.  409). 

This  Interpretation  is  confirmed  when  we  tum  to  the  upper  tier. 
'Ninnion',  having  been  initiated  by  Dionysos  into  the  mysteries  at 
Agrae,  which  he  shaved  with  Köre,  now  comes  for  the  Greater  Myste-, 
ries  to  Eleusis.  Köre  herseif  brings  her  mystic,  and  leads  her  into  the 
presence  of  Demeter  enthxoned.    The  scene  is  the  telesterion  of  Eleusis 


66  Wilhelm  Hkiniuch  Rosouku:  (70.2 

markod  by  two  oolumns,  which,  bo  it  notcd,  exteml  ouly  ball-way 
down  the  piuax.  In  the  Lesser  Mysteriös,  a  later  foundation,  Dionysos 
ehaves  the  bonours  witb  Ivore;  in  the  (ireator  and  earlicr  (0  the  end 
he  is  only  a  visitant'. 

Ich  habe  die  vorstehend  mitgctoilto  scharfsinnige  Er- 
klärung des  interessanten  IMnax  von  Svoronos  und  J.  IIak- 
Kisox  nur  so  weit  ausgeschrieben  als  ich  mit  ihr  einver- 
standen bin,  muß  aber  jetzt  gegen  deren  Deutung  des  so 
deutlich  in  der  Mitte  der  unteren  Hälfte  des  liildes  sichtbaren 
Ümphalos**')  entschiedenen  Eiiis})ruch  erheben. 

SvORONOS  will  ihn,  otfeubar  weil  er  nicht  l)egreifen  kann, 
wie  der  delphische  Nabelstein  in  die  eleusinische  Szene 
gekommen  ist,  für  die  nixQCf.  äysXaörog  erklären,  auf  der 
Demeter  sich,  in  Schmerz  versunken,  zuerst  niedergelassen 
habe,  bis  die  Töchter  des  Keleos  kamen,  um  Wasser  zu 
schöpfen,  und  die  Göttin  sich  durch  die  Possen  der  Jambe 
(Baubo)  wieder  erheitern  und  zum  Genuß  von  Speise  und 
Trank  bewegen  ließ  (Preller-Robert  I,  78g,  i).  Diese  von 
Miß  Harrison  gewiß  mit  RecBt  verworfene  Deutung  (s.  S.  561 
A.  i)  scheitert  schon  an  der  Erwägung,  daß  die  ■n.ixqa  ayi- 
Xaörog  sonst  nirgends  monumental  bezeugt  ist  und  schwerlich 
Omphalosgestalt  hatte  ^^^);  es  kommt  noch  hinzu  der  Umstand, 
daß  der  gleiche  auf  den  eleusinischen  Kult  der  Demeter  und 
Persephone  zu  beziehende  'Omphalos'  noch  auf  vier  weiteren 
alsbald  zu  besprechenden  Bildwerken  vorkommt,  wo  ebenfalls 
die  Deutung  als  nixQa  äysXaörog  ganz  unwahrscheinlich  ist 
und  gesucht  erscheint. 

Wir  müssen  daher  ohne  Frage  Miß  Harrison  beistim- 
men, wenn  sie  den  fraglichen  Gegenstand  seiner  Form  nach 
für  einen  unzweifelhaften  Omphalos  hält^^^),  können  ihr  aber 


iii)  Ganz  sicher  ist  es  freilich  nicht,  daß,  wie  Miß  H.  meint,  der 
Omphalos  ausschließlich  der  unteren  Hälfte  des  Bildes  angehöre.  Er 
kann  meines  Erachtens  auch  recht  wohl  zur  oberen  Hälfte  oder  zu 
beiden  Reihen  gezogen  werden. 

112)  Sie  könnte  natürlich  nur  durch  die  auf  ihr  sitzende  trau- 
ernde Demeter  charakterisiert  werden. 

113)  Ebenso  wie   Miß  H.  haben   auch   alle  übrigen  Gelehrten   (s. 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       67 

nicht  Recht  geben,  wenn  sie  ihn  ohne  Bedenken  mit  dem 
delphischen,  d.h.  apollinischen  Omphalos  identifiziert  mit 
der  Begründung:  '^Dionysos  has  come  from  Delphi  and 
brought  his  great  white  omphalos,  his  Delphic  grave 
with  him'  (a.a.O.  S.  561  oben).  Es  hängt  diese  eigentüm- 
liche Deutuncf  Miß  Harrisons  mit  ihrer  schon  vor  Jahren 
ausgesprochenen  unhaltbaren  Ansicht  zusammen,  daß  der  del- 
phische Nabelstein  ursprünglich  kein  Symbol  der  Erdmitte, 
sondern  vielmehr  ein  Grabdenkmal  gewesen  sei,  unter  dem 
der  Pythondrache  bestattet  war.  Da  ich  diese  Auffassung 
bereits  früher  (Omphalos  S.  ii6ff.)  ausführlich  widerlegt  zu 
haben  glaube,  so  kann  ich  hier  auf  eine  nochmalige  Dar- 
legung meiner  Gründe  verzichten;  nur  sei  hier  noch  auf  ein 
neues,  mir  erst  jetzt  zum  Bewußtsein  gekommenes  Argument 
hingewiesen,  nämlich  das  sehr  alte  Attribut  der  beiden  den 
delphischen  Omphalos  rechts  und  links  flankierenden  Zeus- 
adler und  deren  Legende  (s.  Omphalos  S.  55,  Anm.  103), 
die  deutlicher  als  alle  anderen  Zeugnisse  und  Merkmale  den 
Omphalos  von  Delphi  als  Erdnabel  charakterisieren  und  mit 
Miß  Harrisons  Erklärung  kaum  vereinbar  sind.  Während 
aber  früher  Miß  H.  den  Omphalos  von  Delphi  lediglich  auf 
Grund  späterer  und  unmaßgeblicher  Zeugnisse  als  Grab  des 
Python  deutete,  will  sie  ihn  jetzt  unter  Verweisung  auf  noch 
viel  spätere  und  unzuverlässigere  Gewährsmänner  als  Grab 
des  Dionysos  [!]  aufgefaßt  wissen,  das  dieser  bei  seiner  Wan- 
derung von  Delphi  nach  Eleusis  dorthin  mitgebracht  habe 
(a.  a.  0.  S.  558  ob.  'Dion.  brought  his  great  white  omphalos, 
his  Delphic  grave,  with  him');  ich  glaube,  diese  Erklärung  ist 
so  abenteuerlich  und  unwahrscheinlich,  daß  sie  einer  aus- 
führlichen Widerlegung  nicht  bedarf,  zumal  da  eine  andere 
Deutung  des  bekannten  Symbols  hier  überaus  naheliegt. 

Ehe  ich  aber  zu  dieser  übergehe,   seien  hier  noch  kurz 
die  vier  anderen  Bildwerke  besprochen,  die  ebenfalls  den  ver- 


ob.  A.  iio),  die  sich  über  den  Pinax  der  Ninnion  geäußert  haben,  mit 
einziger  Ausnahme  von  Svoronos  hier  an  einen  Omphalos  gedacht. 


68 


\\  II. 111.1, M  IIkiniucii  Kosciiku: 


[70,2 


nieiutliclieu  „delphischen"  Omphalos  im  Kreise  elcusinischer 
Gottheiten  zeigen. 

Hier  kommt  vor  allem  eine  schöne  polychrome  Vase  in 
Betracht  (Fig.  2),  die  im  Jahre  1883  zu  Sta  Maria  di  Capua  ge- 
funden und  zuerst  von  Fröhner  in  seiner  CollectionTvszkiewicz 
•Pliinche  IX  u.  X  abgebildet,  sowie  in  dem  dazu  gehörigen 
Texte  besprochen  Avorden  ist.^^^)    Fköhner  sagt  darüber: 

'Demeter  .  .  .  assise  sur  unc  pierre  [besser  Hauk.:  nitting  on  an 
altar-like  throne]  .  .  .  sa  tete  se  retourne  en  arriere  vors  Pcrsephone 
qui  desceud  d'une  coUine,  tenant  dans  chaque  main  uu  long  flambeau 
dore  .  .  .  la  figure  assise,  devant  Persephone,  sur  roinphale  de  Del- 
phe8[??]  .  .  .  tient  ä  sa  main  gauche  un  thyrse,  orne  d'uno  teuie 
-et  d'un  pommeau  dore,  ses  cheveux  .  .  .  sont  ceints  de  lierre  en 
fleur,  dore  egalement  et  un  peau  de  daim  .  .  .  lui  couvre  la  poitrine. 
Je  crois  ces  indices  suffisants  pour  reconnaitre  dans  ce  personage 
Dionysos  jeune.  Demere  lui  .  .  .  une  jeune  fiUe  drap^e  et  paree  de 
bijoux  ...   son  geste   semble    indiquer   qu'elle    danse. '")     Enfin   deux 


114)  Später  auch  von  Miß  J.  Harrison  a.a.O.  S.  557 f.  u.  Fig.  159 
und  von  Svokonos  (a.  a.  0.  S.  45° ff-,  dazu  nivc^  1/,  B),  der  auch  die 
übrigen  Besprechungen  und  Veröffentlichungen  des  Bildes  kritisch  ge- 
würdigt hat. 

115)  Also   eine   Parallele   zu   der  xtQvocpÖQog   auf  dem  Pinax   der 

Ninnionl 


70,  2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       69 

figures,  placees  devant  la  deesse  assise,  completant  le  tableau:  un  jeune 
homme,  peut-etre  Triptoleme,  appuye  snr  uu  sceptre  d'or  .  .  .  puis 
assise  sur  la  colline,  une  joueuse  de  tanibourin,  dont  riustrument,  sur 
son  disque  externe,  est  orne  d'une  couroane  de  feuilles  peintes  .  .  .  Le 
sujet  se  rapporte  .  .  .  aux  mysteres  eleusiniens.  Mais  .  .  .  ici  c'est 
la  preseuce  de  Dionysos  sur  romphalos  delpliique[?],  qui  nous 
gene,  car  Eleusis  n'est  pas  en  Phocidc'  .  .  . 

Während  aber  Fröhner  mit  Recht  an  dem  'delphi- 
schen Omplmlos'  dieser  eleusinischen  Szene  Anstoß  nimmt, 
ist  Miß  Harrison  auch  hier  schnell  fertig  mit  ihrer  Er- 
klärung: "^He  [Dionysos]  is  seated  on  the  omphalos.  To  the 
ancient  miud  no  symbolism  could  speak  morc  clearly;  Dio- 
nysos is  accepted  at  Eleusis,  he  has  come  from  Delphi  and 
brought  his  omphalos  [=  his  grave  S.  561]  with  liim[!]. 
We  are  apt  to  regard  the  omphalos  as  esclusively  the  pro- 
perty  of  Apollo,  and  it  comes  as  somethiug  of  a  shock  to 
See  Dionysos  seated  quietly  upon  it'.  Zur  Erklärung  beruft 
sich  Miß  H.  auf  das  bekannte  späte  und  höchst  unzuverlässige 
Zeugnis  Tatians  c.  Gr.  8,  251:  ev  reo  te^evcl  tov  Jlrjtotdov 
xaleltaC  xig  6^q}aX6s^  6  dl  bpixpalog  räfpog  rov  zftovvöov 
und  auf  Pliilochoros  fr.  22:  "Eötiv  idslv  rr)v  racpijv  avtov 
[tov  z/ior.]  iv  zlalcpolg  tcccqcc  rbv  !d7i6Xlcova  rbv  iqvöovv. 
Bdd-Qov  da  n  slvai  vjcovosXxai  1)  öogög^  iv  o5  ygci^sTaf  'Evd^ccös 
xstrat  d-civcov  ^di6vv6og  6  ix  Ue^shjg^  obwohl  bei  Lichte  be- 
sehen durch  diese  Worte  des  Philochoros  allein  schon  das 
Zeugnis  Tatians  endgültig  widerlegt  wird.^^®) 

Nur  zögernd  und  mit  gebührender  Reserve  wage  ich  hier 
an  dritter  Stelle  noch  ein  zweites  Vasenbild  anzuführen 
(Fig.  3),  das  ebenfalls  eine  der  beiden  eleusinischen  Göttin- 
nen vor  einem  omphalosartigen  Objekt  thronend  zeigt.  Ich 
meine  den  boiotischen  Teller  des  Nationalrauseums  in  Athen 
(Nr.  484),   den  zum  ersten  Male  S.  Wide^^^)  in  seinem  lehr- 


116)  Vgl.  auch  die  übrigen  hierhergehörigen  Varianten  vom  Om- 
phalos oder  Dreifuß  (!)  als  dem  Grabe  des  Python,  des  Dionysos,  ja  des 
ApoUou  selbst  in  meinem  Omphalos  S.  122,  Anm.  219. 

117)  Nach  Wide  hat  auch  J.  Haruison  a.a.O.  S.-274f.  das  Vasen- 
bild   kurz    besprochen    und    unter   Nr.  ^7    abbilden    lassen.     Auch    sie 


70 


WiLHKLM   HkINUU'U   RoBiiuoit: 


|70,  2 


reichen  Artikel  über  'Kiiie  lukiilo  Gattung  hoiotisclu'r  Ge- 
tliße'  (Athen.  Mittoil.  XXVI  [igoij  S.  150)  besjirochcn  und 
ebenda  auf  Tat'.  \'lll  abgebildet  hat.  Die  Erklärung  WiDics 
lautet: 

'Kultbikl  aus  der  Mitte  des  5.  .Tahrh  ,  darstellend  Demeter  oder 
IVreeplione  .  .  .  Die  Attribute,  Fatkel,  Mohn"")  und  Ähren,  werden 
auf  den  Denkmälern  wio  in  der  Literatur  beiden  Göttinnen  häufig  bei- 
gegeben. Es  ist  eine  chtiioniHcho 
üöttin  .  .  .  Über  dem  Chiton  trägt 
die  Göttin  einen  Peplos,  den 
Peplos  eines  Kultbilds,  der  von 
Zeit  zu  Zeit  neu  angelegt  wurde. 
Über  die  Achseln  ist  ein  eigen- 
tümliches Gewand  (Schleiertuch) 
geworfen.  Vor  der  Göttin  steht 
ein  oblonger,  rundlicher 
Gegenstand,  der  schwer  zu 
bestimmen  ist.  Mau  schwankt 
zunächst,  ob  dieser  Gegenstand 
ein  Pithos  oder  ein  Altar  ist. 
Für  die  Annahme  eines  Pithos 
würde  sich  eine  Erklärung  dar- 
bieten mit  Rücksicht  auf  Miü 
Harrisons  Auseinandersetzungen 
über  die  Anthesterien  (Journ.  of  Hell.  Stud.  1900  S.QQff.).  Indessen  bin  ich 
schließlich  zu  der  Überzeugung  gelangt,  daß  es  doch  ein  Altar  ist.  Eigen- 
tümlich ist  dabei  die  Form,  die  einemTymbos  am  meisten  ähnelt.  Es  sieht 
80  aus,  als  wäre  der  Altar  aus  Erde,  ein  yi/g  ;^w(ia  wie  nach  Paus.  8,  38,  7 
der  Altar  des  Zeus  Lykaios  war,  oder  eine  ara  graminea,  caespiticia, 
wie  die  Römer  sie  nannten.  Durch  die  Untersuchungen  von  Reisch 
und  Thierscii  (R.  bei  Pauly-Wissowa  I,  16650".  Tu.,  Tyrrhen.  Am- 
phoren 131,  Taf.  I)  wissen  wir,  daß  es  in  Griechenland  Altäre  gab,  die 
einem  Grabhügel  —  ri'iißos  —  ähnlich  waren  .  .  .  Wenn  auf  unserem 
boiotischen  Vasenbilde  ßa^og  und  rv^ßog  identisch  sind,  so  ist  da» 
nicht  weiter  auffällig;' denn  hier  ist  ja  die  Totengöttin  dargestellt  und 
für  diese  paßt  eine  Altarform,  die  an  ein  Grab  erinnert,  und  paßt  auch 
die   auf  dem  Altar  liegende  Granate[?],   die   den  chtbonischen  Gott- 


Fig.   3:    Boiotiacher    Teller    des    Nat.-Mus.    in 
Athen  (nach  Harrison  a.  a.  O.  S.  275,  Fig.  67). 


wagt  nicht  zu   entscheiden,  ob   die  dargestellte   Göttin  Demeter  oder 
Köre  ist. 

118)  J.  Habrison  a.  a.  0.  S.  274  macht  aus  den  beiden  Mohnsten- 
geln in  der  linken  Hand  sonderbarerweise  'a  pomegranate'! 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkerx.       7 1 

heiten  heilige  Frucht'.  Deu  hinter  der  Göttin  schwebenden  Vogel,  dessen 
Gattung  sich  nicht  sicher  bestimmen  läßt,  deutet  Wide  als  'Seelenvogel', 
als  einen  'Boten  der  unterirdischen  Göttin'  (S.  155 f.). 

Miß  Harrison  a.a.O.  S.  274  erklärt  dagegen  den  frag- 
liclien  Gegenstand  für  einen  'omphalos-like  altar,  on  ifc 
what  looks  like  a  pomegranate',  schließt  sich  aber  sonst  an 
WiDEs  Erklärung  an. 

Wie  mir  scheint,  hat  Miß  H.  insofern  richtig  gesehen 
als  sie  tatsächlich  die  Form  des  vermeintlichen  'Altars'  mit 
der  eines  Omphalos  vergleicht,  ja  sie  würde  wohl  kein  Be- 
denken getragen  haben,  hier  einen  unzweifelhaften  Omphalos 
anzunehmen,  wenn  ihr,  als  sie  die  boiotische  Schale  besprach, 
die  beiden  von  ihr  erst  a.a.O.  S.  55 7 ff.  behandelten  Bild- 
werke gegenwärtig  gewesen  wären,  die  uns  einen  richtigen 
Omphalos  im  Kult  der  eleusinischen  Göttinnen  vorführen, 
und  im  Verein  mit  den  oben  besprochenen  Zeugnissen  des 
Xenophon  und  Aristeides  beweisen,  daß  man  tatsächlich  Athen 
und  Eleusis  als  Mittelpunkt  {ö[i(paXög)  der  bewohnten  Erde 
angesehen  hat.  So  viel  ich  sehe,  gibt  es  bis  jetzt  nur  ein 
einziges  Bedenken,  das  uns  zur  Zeit  noch  hindert,  ohne  wei- 
teres der  Deutung  des  omphalosgleichen  Gegenstandes  vor 
der  thronenden  Göttin  als  eines  richtigen  Nabelsteins  bei- 
zutreten: ich  meine  die  angebliche  Granate,  welche  die  Be- 
krönung  des  'Omphalos'  auf  unserem  Teller  bildet.  Freilich 
würde  diese  Frucht  auch  bei  der  Annahme  eines  'Altars'  in 
diesem  Falle  recht  bedenklich  sein,  weil  der  Altar  nach  oben 
sich  so  spitz  zuwölbt,  daß  die  darauf  (als  Opfergabe  oder 
Attribut  der  Göttin??)  gelegte  Granate  ohne  besondere  Be- 
festigung von  der  spitzen  Wölbung  sofort  heruntergleiten  oder 
herabfallen  müßte.  Auch  vermissen  wir  bis  jetzt  ausdrückliche 
Zeugnisse  dafür,  daß  man  im  Kult  der  eleusinischen  Göt- 
tinnen Granatäpfel  auf  so  konvex  zulaufenden  Altären  ge- 
opfert hätte. 

Gar  keinem  Zweifel  kann  dagegen  der  Omphalos  auf  einem 
schönen,  in  Kreta  gefundenen,  aber  sicher  attischen  Ursprung 
verratenden  Vasenbilde   (Fig.  4)    unterworfen   sein,    das   jetzt 


\\llMl.I.M    Ul.lNKHH    HoSt'HKK 


l7",  » 


Fig.  4 :    Attisohes    Vasenbild    aus    Kreta    im    Zciitralmusouni    zu   Athen    (nach    Journal 
Internat.  d"ArcWologie  Nniiiiatnntiqno  1901,  Taful  /?'). 

im  atlienischeu  Zenlralniuscuin  unter  Nr.  1442  aufbewahrt  wird 
und  von  Svoronos  a.  a.  0.  S.  457  (vgl.  :tti'K^  ig')  erläutert  und 
veröffentlicht  worden  ist. '*'') 

Daß  es  sich  auch  hier  um  die  eleusinischen  Mysterien 
handelt,  geht  schon  aus  dem  von  Svokonos  mit  Recht  her- 
vorgehobenen Umstände  hervor,  daß  hier  nicht  weniger  als 
5  von  den  auf  dem  Gefäße  von  Capua  dargestellten  Per- 
sonen wiederkehren,  nämlich  Demeter,  Köre,  Dionysos,  'Mu- 
saios'(?)  und  Tnyx'(?).  Außerdem  nimmt  Svoronos  noch 
'Aphrodite'  (Nr.  6  =  Nixr]  aTtvfQos)  und  Thaidra'  (Nr.  7)  als 
anwesend  an. 

Indem  ich  eine  gründliche  Kritik  der  von  SvORONOS  mit 
gewohnter  Gelehrsamkeit  und  großem  Scharfsinn  gegebenen 
Einzelerklärung  des  ebenso  schönen  wie  interessanten  Bildes 
andern  überlassen  muß,  kommt  es  mir  jetzt  nur  darauf  an^ 
auch  hier  wieder  auf  die  bedeutsame  Rolle  hinzuweisen,  die 
offenbar  der  Omphalos  in  dem  athenischen  Kulte  der  Eleu- 
sinien  gespielt  haben  muß.  SvOROXOS'  Erklärung  lautet 
(S.  458 f.):  JJqo  tov  Movöalov  y.cd  rijg  JJvvxbg  vvu(prig  xä- 
d^riTUL  ixl  xov  ßcouov  rov  ^EXtvßLvlov  i]  zfrj^ijty^Q  xal  ä:t' 
uvxi]g    dvaycoQovöa    xarsQysrai    ^tQog    rbv    ^lövvöov    Tof'    iv 

119)  Unter  dem  Titel:   Tö  ^ivgt-^qiov  t^s  12.  'Av9s6Ti]Qi(iivos'  kcpqo- 
SiTTj  ii  anTSQog  Nikt]. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       73 

Alfivaig  /tiovvGiov  i]  Kögr]^  ccjiKQaXXdy.tcog  03$  snl  rfjg  vÖQiag 
x%g  KaTtvrjg.  'H  ^ovi]  diacpoQcc  sivao  ürt  6  /l lovvöog  dev 
xdd-rjtai  a^iöcog  STtl  rov  ö^q)aXov  aAA'  öXtyov  viljr}- 
XörsQOi'^  7tooq)avG)s  S7tl  rov  civa  rov  TS^s'vovg  avzov  vijj(b- 
(latog.  Diese  Tatsache  scheint  mir  zu  beweisen,  daß  der  Om- 
phalos  auch  hier  ebenso  wie  auf  den  übrigen  von  mir  be- 
sprochenen Bildwerken,  mit  einziger  Ausnahme  der  Vase  von 
Capua,  genau  genommen  nicht  speziell  zu  Dionysos,  sondern 
zur  ganzen  Szene  gehört  und  wie  sonst  das  Lokal  bezeichnen 
soll,  wo  diese  Szene  sich  abspielt. 

An  letzter  Stelle  gedenke  ich  noch  in  diesem  Zusammen- 
hange des  schönen,  leider  stark  beschädigten,  aber  doch  in  der 
Hauptsache  verständlichen  Bruchstücks  eines  zweiten,  eben- 
falls im  Räume  des  eleusinischen  Telesterions  zusammen 
mit  der  Votivgabe  derNinnion  aufgefundenen  Pinax  (Fig.  5),  das 
Skias  auf  Tafel  2  der  'Ecpr^^sglg  l4QyaioX.  1901  in  trefflicher 
Wiedergabe  veröffentlicht  und  ebenda  S.  39 ff.  erläutert  hat. 
Seine  für  uns  allein  in  Betracht  kommende  Erklärung  lautet: 

'H  TCagciöraöig  tov  dsvzEQOv  .  .  .  nCvaxog  sivs  noXv  ^läXXov 
rov  XQarov  svdiayvcoöroraQa  ag  dviJAovöcc  rip  sXsvCiviaxai 
xvxXg)^  ötÖTi  7caQcc6t(K6£ig  zfijaVjTQog  xa9-t]asvrjg  xal  KoQrjg 
lötaasvrjg  xal  XQatov(3y]g  dadag  tivai  övyvai^  i7ti6r]g  d'  bvÖlk- 
yvaörog  xainEQ  xo  TcXetötov  eXXiTttjg  eivs  17  iioQ(pi]  tov  Tqltc- 
ToXe^ov  xatä  xo  ngog  ösi^Lccv  ccxqov  xov  Jiivaxog.  Toiovxov 
XLvaxog  £vaQu66xaxov  xÖGiir^aa  sivs  6  JtoXvxaQTtog  d'aXXbg 
fivQxov  iv  xfi  vTtoxdxco  xaivia.  Tb  xsvxgov  xijg  naQaöxdßecog 
dnoxsXovöt  xQstg  uoQ(pca^  -i]  fV  tc5  ^iöca  xa&i^^svr]  zJrjiii]Tr]Q. 
^  ^£^l6^^sv  avxflg  iöxcc^Levt]  Kögr]  xQuxovöa  dvo  dßdag,  (br 
uövov  xä  xdxco  axQC.  disadod-fjöav^  xal  rj  aQiöxsQod'ev  x^g 
zJiJiiTjXQog  dvÖQLxi]  yLOQCp-q^  rjg  öiSGibd^rjöav  fiovov  oi  Jtöösg 
vt{frjXcc  VTtodij^axa  (ßvögoiiCdag)  cpeQovxeg^  £|  cov  svxoXcog  dva- 
yvc3QLt,£xui  1]  iioQcpi]  xov  'Idxxov^  TiEQi  fjg  diä  fiaxQüv  ÖuXd- 
ßoasv  h>  rotg  tcsqI  xov  tcqioxov  nCvaxog.  ^41  XQSlg  avxat 
liOQ(pal  xaxd  xov  avxbv  tieqCtcov  XQOitov  TtaQiöxavxat  ev  xe- 
u,a%icp  dvaylixpov  ExÖEdouEvo)  vTtb  Kern  bv  Mittheil.  Athen. 
XVII   6eX.   1 2  7   fig.  2 ,    nEQl    oh    iyivExo    Xoyog    xal    dvcoxEQO} 


74 


\\  ii.iii.i.M  IIkinhich  KoaciiKu: 


[70,2 


(öeX.   32    vnoör^ii.   2).     'Ü    imrpakhg    dr]kol   ti)v    iv  'KkfxxStvi 
fÖQccv    Tov    7rc(}'((Qxc(Cor<    ;(;i>-oi'/'oj'    d^eov^    öu   vxoxuTeövtjöfv  6 


KEPAMOrPAtIA      EAEYIINIAKH 


Fig.  5:  VoÜTpinax  aus  dem  oleusin.  Telosterion  (nach  Skias,  ^lupijfi.  'Ao/.  1901,  Taf,  2). 


120)  Hier  beliaiiptet  Skias,  daß  der  eleusinische  Omplialos  ur- 
sprünglich von  allen  eleusinischen  Gottheiten  allein  dem  lakchos  {= 
Dionysos)  zukomme,  'als  dem  im  Lebes  des  delphiscrhen  Dreifußes  ge- 
kochten und  von  Apollon  auf  dem  Parnaß  bestatteten  Gotte',  eine 
Ansicht,  die  Svouonos  a.  a.  0.  S.  175  und  238  gewiß  mit  Hecht  be- 
streitet. Dagegen  kann  ich  diesem  Gelehrten  nicht  beistimmen,  wenn 
er  seiner  Neigung,  die  einstige  Existenz  eines  Omphalos  im  Kulte  von 
Eleusis  zu  leugnen  und  an  dessen  Stelle  die  ccyiXußrog  nttQcc  zu  setzen, 
allzu  sehr  nachgebend,  in  dem  „Omphalos"  dieses  zweiten  Pinax  einen 
ßcoyLog  in  ntTgag  TtavccQxatos  erkennen  will,  weil  dessen  avoj  fisQog  (uv 
Ssv  ccnazä  T]iiäg  ij  mQaiu  sly.6)V  xfig  'Ag^ocioX.  'Eqpjju.)  irtiTtsdov  xal  ßco- 
}io£iöig,   ij   TOI    opjua   avrjY.overov   Sc    dficpalov   sei.     Ich    glaube,    daß 


yo,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       75 

rü  Tj^istEQCo  TCivaxi  al  ^eydkai  &Ea\  xccte%ov6LV  syyvrsQav 
d'Söiv  TtQog  thv  b^icpciXhv  1]  b"Iax%og^  ölotc  avtalg  xat  f|o- 
Xrjv  dv7jiC£L  r]  'Elsvöig.  Ich  möchte  auch  hier  annahmen,  daß 
(wie  auch  Rubensohn  und  Svoronos  a.  a.  0.  S.  175  u.  237 f. 
glauben)  der  Omphalos  im  Grunde  nur  zur  Bezeichnung  des 
Lokals,  wo  die  ganze  Szene  sich  abspielt,  diene.  Dieses 
Lokal  aber  muß,  wie  der  in  ihm  errichtete  Omphalos  be- 
weist, als  Mittelpunkt  der  bewohnten  Erde  angesehen  worden 
sein.  Eine  andere  Auffassung  scheint  kaum  möglich  oder 
wahrscheinlich. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  man  schon  längst  im  Hinblick 
auf  die  eben  besprochenen  fünf  Bildwerke  einen  eleusinischen 
oder  attischen  6nq)aXbg  yi^g  anerkannt  hätte,  wenn  man  nicht 
der  festen  Überzeugung  gewesen  wäre,  daß  es  einen  solchen 
nur  in  Delphi  gegeben  habe,  weil  nur  dieser  Ort  sich  habe 
rühmen  dürfen,  der  Mittelpunkt  der  bewohnten  Erde  zu  sein. 
Daß  diese  Meinung  falsch  oder  mindestens  einseitig  ist,  glaube 
ich  schon  früher  dargetan  zu  haben,  indem  ich  nachwies,  daß 
es  innerhalb  des  von  Griechen  bewohnten  Gebietes  noch  meh- 
rere andere  Orte  außer  Delphi  gegeben  hat,  die  den  Anspruch 
auf  die  Ehre  erhoben,  Mittelpunkt  der  Erde  zu  sein:  z.  B. 
Paphos,  Branchidai,  Delos,  Epidauros,  und  daß  an  allen  diesen 
Orten  ein  Omphalos  oder  omphalosähnliches  Denkmal  als 
Symbol  ihrer  zentralen  Lage  erscheint.  ^^^)  Genau  dasselbe 
gilt  aber  auch,  wie  oben  gezeigt  worden  ist,  von  Palästina 
und  Jerusalem,   wo   ebenfalls    mehrei-e   oft   nahe   beieinander 


nicht  leicht  jemand,  der  die  übrigen  hier  besprochenen  Bildwerke  in 
Betracht  zieht,  in  diesem  Falle  Svoronos  beipflichten  wird,  und  ver- 
weise außerdem  auf  die  unzweifelhaften,  ebenfalls  oben  abgeplatteten 
Omphaloi,  deren  Abbildungen  ich  Omphalos  Taf.  VI,  Fig.  1  u.  4  (vgl. 
Neue  Omphalosstud.  Taf.  I,  Fig.  2)  gegeben  habe. 

121)  Auch  das  bekannte  Fragment  des  'Epimenides'  bei  Plut.  de 
def.  er.  I  Ovt8  yccQ  TjV  yccirjg  ^^aog  d(iq<c<Xbg  oÜts  d'ald6Gr,g  \\  Ei  Si  Tig 
ieri,  Q-sotg  Sfßog,  Q-vriT0i6i  S'  acpavrog  erklärt  sich  wohl  am  besten 
aus  der  Tatsache,  daß  Epimenides  außer  Delphi  noch  andere  Orte 
kannte,  die  Anspruch  darauf  erhoben,  Mittelpunkte  der  Erde  zu  sein  (s. 
Omphalos  S.  5  5  f.). 

PhU.-hist.  Klasse   1918.   Bd.  LXX.  2.  6 


76  WiLiiKUM  TIkinukmi  Roschku:  r?'''  ^ 

pt'K'orcno  l'unktf  um  die  Ehre  des  ö^cpaXbg  yf;^  koukiinii'ri, 
habeu,  z.  B.  .lenisalein,  llelnon  (V),  Sidioni,  (Jarizini,  Botlicl 
uud  innorluiU)  .lorusaloius  dio  Ber<(e  (^lliigel)  Ziou,  Golgotlm, 
Morija  usw.  (s.  obeu   Kap.  II — IV). 

Was  uuu  die  Bedeutung  des  Omplmlos  im  elensinisclien 
Kult  /u  Atlu'U  uud  Eleusis  betrifft,  so  liegt  es  wohl  am 
nächsten,  das  Synibol  der  Erdniitte  mit  dem  viellacli  aus- 
gesprocheiu'n  (^edankeu  zusammenzubringen,  daß  Atlieu,  di(^ 
^ijTQOJtoXii;  TtJi'  y.uQzibv  (Aristid.  J,  }).  i<>B),  auch  das  Zen- 
trum gewesen  sei,  von  dem  aus  Triptolemos  auf  dem  ihm 
von  Demeter  verliehenen  Schlangenwagen  den  ganzen  Erd- 
kreis durchflogen  habe,  um  überall  die  Segnungen  des  Acker- 
baus und  damit  auch  aller  höheren  Gesittung  und  Kultur  zu 
verbreiten.  Niemand  hat  diesen  Gedanken  deutlicher  und 
schöner  ausgesprochen  als  Isokrates  in  seinem  Panegyrikos, 
wenn  er  (§  28)  sagt:  yJy'jaijTQog  yäg  acpixo^e'vrjg  iig  rr)v  %wqkv 
üT  enXciVijd-r]  Tilg  K6Qi]g  agzuöd^fCöijg  xcd  Tiobg  tovg  TtQoyövovg 
^ix&v  ev^sväg  diaredsCörig  sk  xäv  evsysQGiüv  clg  ov%  oiöv  x 
aXloig  1]  rotg  ^u^ivrj^e'voig  dKoxhn\  xal  dovöy]g  ÖcoQeäg  ötTtag, 
ai:i£Q  [leyiörat  rvyxdvovßtv  ovGat^  rovg  ts  icaQTiovg.  ot  tov 
ju»)  d-T]Qicodu)g  ^f}v  rjficig  atriOL  ysyövaöi^  aal  tijv  xslExy'iv^  iig 
Ol  ^{Tuöxövxsg  %eQC  xs  xf]g-  xov  ßlov  xsXevxiig  aal  xov  6v[i- 
Tiavxog  cclävog  i]6Covg  xäg  iknlöag  axovöiv^^^)^  ovxcoq  t]  nöh 
rj^üv  ov  aövov  d^£oq)iläg  ccXXä  xal  qjLXavd-QcÖTtcog  sö^tv^  iö6xe 
xvgCa  yavousvr)  xoöovxcov  äyad'äv  ovx  iq)d-6vr]ös  xoig 
äXXoig,  ccXX'  av  sXaßsv  aTiaöc  asxadooxsv^'^^)  Und  wie 
allgemein  dieser  Anspruch  Athens,  der  Mittel-  und  Aus- 
strahlungspunkt aller  Zivilisation  und  Kultur  gewesen  zu 
sein,    anerkannt   worden   ist,    ersehen   wir    deutlich   aus   Iso- 

122)  Man  beachte  hier  den  engen  Zusammenhang,  in  den  hier 
die  Segnungen  des  Ackerbaus  mit  den  eleusinischen  Weihen  gesetzt 
werden. 

123)  Vgl.  Aristid.  Eleusin.  p.  416  Dind. :  ysviaQ-aL  ös  tbv  eltov 
Tiagä  xaiv  &taiv  rolg  'Ad-T}vaioig ,  nagä  Sh  rmv  'Ad-r]vai(ov  xal  "EXXrial 
xaJ  ßagßccQOig.  —  Arrian.  Epict.  diss.  i,  4,  30:  TQinxoXi\i(p  iega  Kai 
ßafiovg  TtdvTsg  civd-gtOTtoi  ävsazi^iiaaiv  ort  rag  7](iiQovg  rgocpag  Tj^iiv 
^dojxf. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       77 

krates'  weiteren  Bemerkungen  (a.  a.  0.  §  31):  ccl  ^Iv  yaQ  TcXal- 
ÖTCCL  xäv  7i61eo3v  vTCo^vTq^ia  xfi^s  TtaXaiäg  svsQyeöLag  cmaQX^^S 
xov  ßCxov  xaxf  sxaörov  rbv  ^viavtbv  ag  rj^äg  cctiotis^tiovöl, 
ratg  d'  ix^,£t:rov6cag  jtoXldiag  1)  Ilv&Ca  TtQoöataisv  änoffBQetv 
tä  ^£Qr]  T&v  xttQTTcbv  xul  :jtoL£iv  TVQOs  trjv  itöliv  trjv  rjfisrsQav 
xä  %äxQia}^^^  Eine  ganz  äknliclie  Anschauung  haben  wir 
oben  in  der  Omphaloslegende  von  Jerusalem  kennen  gelernt, 
dessen  Bedeutung  als  Nabel  der  Erde  mehrfach  auf  den 
Umstand  zurückgeführt  wurde,  daß  es  zunächst  der  Ort  der 
Erschaffung  Adams,  des  ersten  vernünftigen  Wesens  auf  der 
Erde,  und  später  als  Ort  der  Kreuzigung  Christi  der  Mittel- 
und  Ausgangspunkt  der  wahren  Religion  und  höchsten  sitt- 
lichen Kultur  gewesen  sei.  Fast  dem  gleichen  Gedankengange 
begegnen  wir  bei  Plato  im  Menexenos  Kap.  7,  p.  237,  wo  er 
zum  Preise  Athens  und  Attikas  bemerkt:  "Eqxl  8\  a^Cu  i} 
XCOQa  [rj  ylxxixij]  xal  vtco  jtavxcov  äv&Qautav  STtaivelö&at^ 
ov  növov  v(f  ^^i&v  .  .  .  oxi  iv  ixeCva  tc5  iQdvco^  iv  «  ri 
Stada  yfi  dvsöCdov  xal  scpvs  t^aa  TiavxodaTcd^  d-r^gia  xa  xal 
ßoxd,  SV  xovTGi  ri  rjnaxega  d^rjQicov  ^ev  dyglcov  dyovog  xal 
xad-aQU  htpdwi^  iislä^axo  ds  xcbv  t,äcov  xal  iysvvrjösv  dv- 
d-QcoTiov  [Kekrops,  den  Urmenschen  ( Autochthonen) ,  den 
Adam  der  attischen  Sage!]^^^),  og  gvvböel  xs  vTCSQayei  xcbv 
aXlcov  xal  Ölxtjv  xal  ^aovg  /uoVoi/  vo^C^at.  [isya  da  xax^rJQLOv 
xovxa  x(p  X6yc}j  ort  i]d£  axaxav  7]  yr]  xovg  xävöa  xa  xal  ^][ia- 
xagovg  TtQoyövovg-  Tiäv  yaQ  xb  xaxbv  XQOcpijv  a%ai  aTCLxriöaCav 
d  dv  xaxrj  .  .  .  o  dri  xal  ri  ijfiaxaQa  yi]  xa  xal  ^ijxi]Q  ixavbv 
tax^riQLOv  nuQExaxai  öig  dv&QcoTtovg  yavvrjöa^avrj'  ^ovt]  yaQ 
iv  TW  xoxa  xal  TtQÜxrj  xQo^tjV  dvQ-QconaCav  ijvsyxs 
rbv  xäv  TtvQov  xal  xQiO'av  xaqndv^  <p  xdXXiGxa  xal 
ccQLöxa  XQBtpaxai  xb  dvd^QaTtaiov  ysvog,  ag  xcp  '6vxi, 
xovxo  xb  t,ciov  avxT}  yavvrjöa^avr]  ...  xovxov  da  xov  xag- 
7C0V  ovx  ifpO-övriöEV^  dXV  avsifia  xal  xotg  aXXoLg' 
fisxä  da  TO-ÖTO  iXatov  yavaötv,  Ttövav  dQcoyi]v^  dvfixa 

124)  Mehr  b.  Preller,  Demeter  u.  Persephone,  S.  294 f.  u.  Anm.  34. 
Pbeller-Robert,  Gr.  Myth.*  I  S.  773 f.  Anm.  3. 

125)  S.  ob.  S.  25 ff. 

6* 


^8  Wilhelm  IIklnricii  Rosohkr:  (7°,  2 

xots  i}<y6vot^  .  .  .  Wer  sieht  nicht,  daß  in  diesen  von  tiefster 
religiöser  Empfin(hin<T  zoui^emlen  Worten  die  griechischen  Paral- 
lelen einerseits  zur  Adam  legende, anderseits  zur  ISage  vom  Para- 
diese, als  welches  vielfach  das  'gelobte,  im  Zentrum  der  Erde 
und  der  Welt  gelegene  Land',  d.  i.  Palästina  und  die  Gegend 
von  Jerusalem,  betrachtet  wurde  (s.  ob.  S.  36flf.),  enthalten  sind? 
Zweifellos  würde  die  Vorstellung  von  Athen  und  Eleusis 
als  'Nabel  der  Erde'  noch  ganz  anders  durchgedrungen  sein 
und  in  der  Literatur  und  Kunst  eine  weit  größere  Rolle  ge- 
spielt haben,  wenn  hier  nicht  die  Rücksicht  auf  das  del- 
phische Orakel,  das  gegenüber  allen  Konkurrenten  in  diesem 
Punkte  höchst  eifersüchtig  war'^^),  maßgebend  gewesen  wäre. 
So  blieb  die  Geltung  Athens  als  6/ig:«A6g  y^g  im  Grunde 
nur  auf  den  Geheimkult  von  Eleusis  beschränkt,  hat  aber 
hier  wenigstens  in  den  oben  von  uns  besprochenen  Bildwerken 
einen  ziemlich  deutlichen  Ausdruck  gefunden.  Vielleicht  ist 
die  Hoffnung  nicht  ganz  ungegründet,  daß  im  Laufe  der  Zeit 
neue  Funde  und  Ausgrabungen,  namentlich  in  Eleusis  selbst, 
noch  weitere  Zeugnisse  für  die  einstige  Bedeutung  des  eleusi- 
nisch-attischen  Omphalosgedankens  zu  Tage  fördern  werden.  ^^'') 

126)  Vgl.  RosciiEK,  Die  iieueutdeckte  Schrift  e.  altmilesischen 
Naturphilosophen.  Berlin.  Stuttg.  Leipz.  1912  S.  26f.  E.  Curtius,  Gr. 
Gesch.  1  I,  466.  Gruppe,  Gr.  Mythol.  u.  Rel.-Gesch.  S.  239  und  vor  allem 
Herod.  6,  19  und  dazu  meine  Bemerkungen  Omphalos  S.  44  u.  Anm.  86. 
Neue  Omphalosstudien  S.  21.  —  Ganz  ähnlich  wie  mit  dem  Omphalos 
von  Athen  und  Eleusis  verhält  es  sich  übrigens  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  mit  dem  von  Delos  (Omphalos  S.  9  Anm.  14.  S.  39  Anm.  74. 
S.  129.  N.  Omphalosstud.  S.  27.  5of.  S.  89  Anm.  104)  und  von  Epi- 
dauros  (Omphalos  S.  113),  von  dem  nach  der  Annahme  seiner  Be- 
wohner alle  übrigen  Asklepioskulte  nach  allen  Himmelsrichtungen  ge- 
wissermaßen ausgestrahlt  sind  (a.  a.  0.  Anm.  204). 

127)  Ob  die  von  0.  Kern  in  Wendland-Kerns  Beiträgen  z.  Gesch. 
d.  griech.  Philos.  u.  Religion.  Berl.  1895  S.  86  erwähnte,  damals  noch 
unveröffentlichte  Hydria  der  Sammlung  der  Archäol.  Gesellschaft  in 
Athen,  die  der  schönen  Vase  von  S.  Maria  di  Capua  ähnlich  sein  soll, 
hierher  gehört,  wage  ich  aus  Maugel  an  Autopsie  z.  Z.  nicht  zu  ent- 
scheiden. Handelt  es  sich  vielleicht  in  diesem  Falle  um  die  oben  (S.  68) 
besprochene  'attische'  Vase  aus  Kreta? 


[70)2   Der  Omphalosoedankr  bei  verschiedenen  Völkern.       79 


>v 


AI.  Die  Ägypter  (vgl.  Omphalos  S.  31  f.). 

Meine  früher  (s.  Omphalos  S.  31)  ausgesprochene  Hoff- 
nung, daß  künftige  Funde  und  Ausgi-abungen  im  Nillande 
uns  die  Möglichkeit  gewähren  würden,  das  für  Ägypten,  die 
Heimat  der  ältesten  Geometer,  nicht  unwichtige  Omphalos- 
problem  durch  den  Nachweis  ausdrücklicher  Zeugnisse  monu- 
mentaler und  literarischer  Art  aus  ^■-—.-^ 
älterer  Zeit  zu  fördern,  ist  neuer- 
dings einigermaßen  in  Erfüllung 
gegangen.  Am  21.  April  19 17  er- 
hielt ich  von  Herrn  Prof  Günther 
RoEDER ,  jetzt  Direktor  des  Peli- 
zaeusmuseums  in  Hildesheim,  einen 
Brief  mit  der  Mitteilung,  daß  die 
von  Reisner  ( Harvard  Univers.) 
für  das  Museum  in  Boston  a  usge 
führte   Grabung   am   Gebel  Barka- 

(=  Napata)  im  Sudan  im  Tempel  ^.^  ,^  -omphaios'  aus  xapata  m 
der    nubisch-meroitischen    Könige  Nubien  (nach  Joumai  of  Egyptian 

cii    •  /•        1         11  11  Archaeology  UI  [1Q16I  Seite  jSi)- 

emen  btein  geiunden  habe,  der  als 

Omphalos  des  Amon-Orakels  vonNapataum  i  v.Chr.gedient 
hat^^^),  vgl.  Griffith  in  Journ.  of  egypt.  Archaeol.  UI  (19 1 6)  255 
mit  Abbildung;  das  Exemplar  des  Heftes,  das  er  bei  Gelegen- 
heit einer  Osterreise  in  Berlin  habe  einsehen  können,  befinde 
sich  in  den  Händen  von  Geheimr.  Prof.  Borchardt  in  den 
Kgl.  Museen  in  Berlin.  Da  mich  dieser  Fund  natürlich  in 
hohem  Grade  interessierte,  so  richtete  ich  alsbald  an  Bor- 
chardt die  Bitte,  mir  den  Aufsatz  Griffiths  zugänglich  zu 
machen,  und  erhielt  dai-auf  umgehend  diesen  in  genauer  Ab- 
schrift (nebst  Abbildung),  die  ich  im  Hinblick  auf  die  große 
durch  den  Weltkrieg  bedingte  Schwierigkeit,  wissenschaftliche 
Literatur  aus  dem  feindlichen  Auslande  zu  beziehen,  hier  mit 

128)  Hinsichtlich  dieses  Orakels  verweise  ich  auf  PERnoT-CmpiEz, 
(jesch.  (1.  Ku.  i.  Altert.  I,  bearb.  von  Pikt.schmann  (1884)  S.  334,  338, 
661  f.     EuM.o,  D.  ägypt.  Religion.    Berlin   1905,  S,  iQgf. 


8o  WiLiiF.r.M  Hkinkich  IJohcukk:  |7*\2 

dem  Ausdnicko  aufriohtigon  Dankes  wr>rtlicli  iil)drucken  Iussh 

(s.  Fi^.  0). 

Volmut.-  III.     Tart  IV.  (»ctobor  1916. 

The  Journal  S.  25«;. 

of 
Kgyptiau  Archacolopy. 

An  Oiniilialos  froin  Napata. 
By  F.  LI.  Griffith,  M.  A. 
With  Dr.  Reisner's  kincl  penuission  a  sketch,  made  froin  a  ]>hoto- 
«^rapli,  is  here  j^iven  ol'  a  roniarkalilt'  Meroitic  inonunioiit  whicli  «lia- 
coverctl  last  yoar  at  Gebel  Barkai,  towards  the  inner  end  of  tlic  great 
temple  of  Ammou.  It  is  of  sandstone  and  evidently  of  moderate  sizo. 
ItB  conical  shape  is  precisely  that  of  the  ompbalos  at  the  oracle  of 
Delphi.')  In  a  previoua  note*)  I  ventured  to  identify  it  with  the  um- 
l)ilicu9-like  figiire  of  tlie  god  of  the  Oasis  of  Animon  which  is  rccorded 
only  by  Qviintus  Curtius  in  the  foUowing  description:  —  "The  thing 
which  is  worshipped  as  a  god  has  not  the  shape  that  artificers  have  usu- 
ally  applied  to  the  gods;  its  appearance  is  most  like  an  umbilicuf, 
and  it  is  made  of  an  i^V)  emcrald  and  geniscemented  together'')."  But 
M.  Daressy  had  ali^ady  discovered  a  stränge  sack-like  form  of  Am- 
mon  of  Karnak  with  which  he  quite  appropriately  compared  this  de- 
scription of  the  Ammon  in  the  Oasis.'') 

Anyhow  the  present  ompbalos  is  unique  from  Nubia  and  is  pro- 
bably  to  be  conected  witb  an  oracle  of  Ammon.  Perhaps  the  imitative 
Nubians  took  the  idea  from  Delphi.  The  curved  top  is  decorated  as 
if  witb  strings  of  beads  or  pendants,  the  sides  are  sculptured  with 
tigures  of  deities  and  two  royal  cartouches,  and  a  band  of  upright  lotus 
buds  and  flowers  encircles  the  base.   The  cartouches  contain  Egyptian 


prenomen  (     0\jj  ^^3:^      )  Nibmere  ,  copied  from  that  of  Amenhotp  III, 

i)  Daremberg  et  Saglio,  Dict.  des  Antiq.,  s.  v.  Ompbalos. 

2)  Journal  III,  p.  221, 

[3)  Curtius  IV,  7:  Id,  quod  pro  deo  colitur,  non  eandem  effigiem 
habot,  quam  vulgo  diis  artifices  accommodaverunt;  umljilico  maxime 
similis  est  babitus,  smaragdo  et  gemmis  coagmentatus.  Hunc,  quum 
responsum  petitur,  navigio  aurato  (vgl.  dazu  Pkrkot-Chipikz,  Gesch.  d. 
Kunst  im  Alt.  I,  bearb.  v.  Piktschmanv,  S.  335 tf.  Diodor.  17,  5of.), 
gestaut  saeerdote.s,  multis  argenteis  pateris  ab  utroque  navigii  latere 
pendentibus;  sequuntur  matronae  virginesque,  patrio  more  inconditum 
quoddam  Carmen  canentes,  quo  propitiari  Jovem  credunt,  ut  certum 
t'dat  oraculum.   Rcscheu.] 

4)  Annales  du  Service  des  Antiquites  IX,  64.    Vgl.  unt.  S.  841'. 


70,2]    Deu  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkerx.       8i 


and  a  Meroitic  nomen    f     _Si:2Q,  @  H"  >f      ö 


Mnhnewel  (?)  i.  e.  Amauikhanewel  (?).  This  makes  a  second  Meroitic 
Nibmere  ,  there  being  alroady  known  an  Amaniten  memize  with  that 
prenomen  in  the  shrine  of  Pyramid  A.  38  at  Meroe®).  That  date  of  the 
monnment  woiild  seem  to  be  round  about  A.  D.  i. 

Der  Fund  dieses  aus  dem  Ammoneion  zu  Napata  stam- 
menden '^Omphalos'  ist  deshalb  von  größter  Wichtigkeit,  weil 
er  nicht  bloß  den  Bericht  des  Curtius  Rufus  über  den  von 
Alexander  M.  und  seinen  Begleitern  bei  der  Befragung  des 
Zeus  Ammon  in  Libyen  gesehenen  umbilicus  (=  üix(pa?.6g)  be- 
stätigt, sondern  auch  sichere  Rückschlüsse  auf  den  Kult  des 
im  ägyptischen  Theben  (Karnak)  hochverehrten  Ammon  ge- 
stattet. Denn  es  kann  ja,  wie  mir  auch  von  einem  so  aus- 
gezeichneten Kenner  altiigyptischer  Religion  wie  G.  Roeder 
bezeugt  wird,  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  daß  beide 
Kulte,  sowohl  der  von  Napata  als  auch  der  von  Siwa,  nur 
'Ableger'  des  thebanischen  Amon  sind^^^),  dessen  Orakel 
ebenfalls  hochberühmt  war.^^°)  Meine  Vermutung,  daß  sich 
aus  der  Kombination  von  Curtius  4,  7,  2^  mit  dem  neuen 
Omphalos  von  Gebel  Barkai  (Napata)  schließen  lasse,  daß 
auch  die  Metropole  des  Ammonkultus,  Theben,  dem  Ompha- 
losgedauken  gehuldigt  und  folglich  Theben  als  Mittelpunkt 

5)  Mer.  Inscr.  I,  uos.  66,  67. 

129)  Nach  Herodot  2,  54  behaupteten  die  Priester  des  theba- 
nischen Ammon,  das  Orakel  von  Siwa  sei  ebenso  wie  das  von  Dodona 
von  je  einer  aus  dem  ägyptischen  Theben  von  Phönikern  entführten 
Priesterin  gegründet  worden.  Vgl.  Wilkixson,  Anc.  Egyptians  IV,  p.  248  f. 

130)  ßoEDER  schreibt  mir  u.  a.  auf  meine  Frage,  ob  auch  der 
Ammon  von  Theben  als  Orakelgott  galt:  "^Ja,  ganz  sicher;  wir  kennen 
Berichte  über  Orakelerteilung  durch  Amon  von  Theben'.  Vgl.  Herod. 
2,  54  u.  57.  Lysimachos  (fr.  i)  b.  Joseph,  c.  Apion.  i,  34;  Tac.  bist. 
5,  3;  Oros.  i,  10,  3;  wo  nach  Pietschmann  bei  Pauly-Wissowa  I  Sp.  1859 
gezweifelt  werden  kann,  ob  der  Pharao  zu  Moses  Zeit  das  Orakel  von 
Siwa  oder  das  zu  Theben  befragt  habe.  Sethe  teilt  mir  brieflich  mit: 
'Das  Orakel  des  thebanischen  Amon  ist  vielfach  bezeugt:  vgl.  Ztschr. 
f.  äg.  Sprache  44,  30.  Bueasted,  Ancient  Records  of  Egypt  IV,  S.  303, 
318,  328.' 


t? 


82  Wii.iiKi.M  lli:iMucii  Kosiukk:  I70, 2 

(^lloi/,,  Omphrtlos)  Ägyptens  und  dos  orbis  terrarum  ge- 
golUn  liabc,  is<  iiiir  von  I\oi:1)1:k  chcnsü  wie  von  Skthk  als 
t'ür  ilie  'sjjätfre  Zoit'  'möglich'  (»der  Menkbar'  bezeichnet 
worden.  KoKDKK  fügt  hin/u:  'Im  (Janzen  jedoch  gehört 
Theben  zu  den  jüngertn  Tempeln''");  ursprünglich  waren 
andere  Tempel  Mittelpunkt  der  Welt;  das  kann  auf  Theben 
übertragen  sein.' 

Obwohl  al)er  si)Wohl  die  Form  des  /-u  Napata  gefundeneu 
konischen  Steines  als  auch  die  literarischen  Zeugnisse  für  die 
einstige  Existenz  des  Oniphalosgedankens  in  Ägypten  (siehe 
untern,  Mes  Landes  der  Mitte'  und  der  Bericht  dos  Cur- 
tius  liufus  über  den  'umbilicus'  von  Siwa  die  Deutung  der 
l)eiden  heiligen  Steine  in  den  Amniontempeln  Napatas  und 
Siwas  als  richtiger  oiitpaloi,  d.  h.  als  Wahrzeichen  der  Erd- 
mitte,  sehr  wahrscheinlich  machen,  verlangt  es  doch  die  wissen- 
schaftliche ^'or8icht  und  Umsicht,  eijics  gewichtigen  Einwan- 
des  zu  gedenken,  den  ein  so  ausgezeichneter  Ägyptologe  wie 
PiETSCiiMANN  vor  einigen  Jahren  gegen  die  Auffassung  des 
«umbilicus'  bei  Curtius  Rufus  als  Nabelstein  vorgetragen  hat. 
P.  meint  nämlich  in  seinem  Artikel  Ammoneion  b.  Pauly- 
Wissowa  I,  Sp.  185Q,  'das  prunkvolle  Gehäuse  des  Am- 
mon  sei  von  Curtius  (oder  wohl  besser  von  dessen  griechi- 
schem Gewährsmann)  fälschlich  einem  umbilicus  verglichen 
worden',  es  sei  also  kein  öfi(pal6g  gewesen.  P.  beruft  sich 
dabei  auf  die  Tatsache  (vgl.  Perhot-Ciiipiez  I,  335 f-);  daß 
das  Sanktuarium  des  ägyptischen  Tempels  (öijxög)  im  Gegen- 
satz zur  Cella  des  griechischen  Tempels  keine  Kultstatue  des 
betreffenden  Gottes,  sondern  nur  eine  sogen.  'Bari',  d.  h.  eine 
kleine  Barke  oder  einen  Kasten  enthielt.  'Und  zwar  war  das 
der  Regel  nach  eine  Art  von  Tabernakel  oder  kleiner  Ka- 
pelle, worin  hinter  einer  Flügeltür  sich  entweder  ein  Bild 
oder  ein  Sinnbild  der  Gottheit  befand,  vor  dem  an  den  durch 
religiöse  Vorschriften    bestimmten    Tagen    Gebete    hergesagt 

131)  Nach  Pekkot-Chipikz  a.  a.  0.  S.  69  (vgl.  S.  307,  i)  kommt 
der  Name  des  Ammon,  des  Lokalgottes  von  Theben,  auf  den  Denk- 
mälern nicht  vor  der  1 1.  Dynastie  (Ed.  Meyek,  Gesch.  d.  Alt.  I,  §  95  ff.)  vor. 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       83 

und  besondere  Bräuche  vollzogen  wurden.  Bisweilen  lief 
dieses  Tabernakel  auf  eine  Nische,  auf  eine  Art  Wandschrank 
hinaus;  oft  aber  bildete  es  ein  besonderes  Häuschen,  das 
mitten  im  Sanktuarium  stand.  War  es,  gleich  der  Bundes- 
lade der  Hebräer,  aus  bemaltem  oder  vergoldetem  Holz,  so 
ist  es  spurlos  abhanden  gekommen  oder  nur  ganz  ausnahms- 
weise der  Vernichtung  entgangen  wie  das  Tabernakel  des 
Turiner  Museums  (Fig.  210).  In  einigermaßen  bedeutenden 
Tempeln  gab  es  einen  großen,  ausgehöhlten  Granit-  oder 
Busaltblock  als  Aedicula.  Einer  derselben  mit  dem  Na- 
mensringe Nektanebus'  J.  steht  noch  am  Platze  in  dem  Ptole- 
mäustempel  zu  Edfu,  und  sämtliche  Museen  besitzen  solche 
in  den  Trümmern  der  altägyptischen  Gotteshäuser  entdeckte 
monolithe  Kapellen.  Zu  den  schönsten  gehört  eine  im 
Louvre  befindliche,  auf  welcher  der  Name  des  Amasis  ein- 
gegraben ist;  sie  ist  aus  Rosengranit  und  ganz  und  gar  be- 
deckt (wie  der  Stein  von  Napata!)  mit  Inschriften  und  Skulp- 
turen (Fig.  211)'.  —  Wer  diese  Darlegungen  in  Betracht  zieht, 
der  dürfte  in  der  Tat  geneigt  sein,  mit  Pietschmann  in 
diesem  Falle  an  ein  Mißverständnis  des  Curtius  und  seiner 
griechischen  Quelle  zu  glauben  und  den  Omphalosgedanken 
für  das  Aramoneion  zu  Siwa  in  Abrede  zu  stellen. 

Wenn  ich  es  gleichwohl  wage,  die  Annahme  eines  öficpu- 
X6g  im  Tempel  zu  Siwa  zu  rechtfertigen,  so  berufe  ich  mich 
vor  aUem  auf  die  ausgesprochene  Omphalosform  des  mas- 
siven, nicht  hohlen  Steins  von  Napata,  der  auch  nicht 
die  geringste  Andeutung  von  einer  'Flügeltür'  oder  davon 
enthält,  daß  es  ein  'Gehäuse'  oder  Beh'älter  des  eigentlichen, 
in  ihm  verborgenen  Heiligtums  sein  sollte.  Es  kommt  hinzu 
der  Umstand,  daß  der  'umbilicus'  zu  Siwa  ebenso  wie  der 
massive  Stein  aus  dem  Ammoneion  von  Napata  bereits  einer 
Zeit  angehört,  in  der  starker  griechischer  Einfluß  möglich 
und  wahrscheinlich  war.  Nun  aber  war  das  Ammonorakel 
Libyens  schon  seit  der  Gründung  von  Kyrene  starken  griechi- 
schen Einflüssen  zugänglich  und  damit  zum  Konkurrenten 
von    Delphi    und    Branchidai    geworden,    deren    Nabelsteine 


8.}  \N'ii.iii:i,M   lli  iNUK  11   KosiMiKli:  |7",  2 

<r,'i-!ul(>zu  Wcltruhm  besaßou.'^^)  Es  kjiiui  iliilur  niclii  wum- 
(lerbiir  orsdieinen,  wtMin  dio.  PriesttM-schaft  von  Siwii  wie  von 
Niipata  iliHMn  Idol,  das  iirspiüii.u;licli,  wio  Dakkssys  S.  So  or- 
wiihuter  Aufsatz  (mit  Al)l)ildun<r,.n!)  /oi<rt *"-'»),  niclil  die  Form 
eines  Omplialos,  sondern  eines  Sackes  oder  Schlauches  hatte, 
Ouiidialopsrestalt  verlieh,  um  (hunit  an7Aideutcn,  daß  Ägypten 
Mas  Land  der  Mitte'  und  die  Aiiimontempcl  zu  Tlieben  und 
Siwa  wiedoruin  (he  Mittelpunkte  der  bewohnten  Erde  seien. 
Zu  dem  schönen,  bereits  im  '()mphah:)s'  S.  31  ange- 
führten Zeugnis  (aus  dem  hermetischen  Traktat  KoQyj  xöö- 
uov  =  Stob.  ecl.  I,  p.  302  Meiiieke)  für  die  zentrale  Lage 
Ägyptens: 

iv  Tc5  ,af(5a)  r^g  yf]g  xeitai  1)  r&v  itQoyövcov  '{]}iiv 

ffQaTary]   %(oqk 

kommt  jetzt  als  wertvolle  Parallele  folgender  Satz  aus  Hora- 

pollons  Hieroglyphica  I,  21   a.  E.: 

/uö)?/  dl  1)  AiyvTCTiiov  yf]  ..   nta)]  tfig  oizovatvt]g 
v:xäQxei^  xu&ccTtSQ  iv  tc5  o^O-aAftoJ  i]  Isyo^itvrj  ^lögr] 

(vgl.  dazu  Leemans  Ausgabe  p.  229).^^^) 

Exkurs:  Der  Amon  von  Karnak  nach  Daressy. 

Bei  der  Bedeutung  von  Daressys  Aufsatz  und  der  Schwierigkeit, 
während  des  Weltkriegs  seiner  habhaft  zu  werden,  scheint  es  mir  in 
hohem  Grade  wünsclienswert,  ja  notwendig,  zur  Förderung  des  ägyp- 
tischen Omphalosproblems  die  von  D.  mitgeteilten  Abbildungen  nebst 
kurzen  Erläuterungen  hier  wiederzugeben: 

p.  64]:  Tarmi  la  multitude  d'objets  sortis  par  M.  Legrain  de  la  fosse 
aox  etat'ues  de  Karnak,  se  trouvcnt  3  petits  monuments  d'aspect  etrange 

132)  Über  das  Oriikel  von  Branchidai,  das  vom  ägyptischen  König 
Necho  IL  (Ende  des  7.  Jahrb.)  und  später  von  Kroisos  befragt  und 
reich  beschenkt  wurde,  vgl.  Roschek,  D.  neuentdeckte  Schrift  eines 
altmiles.  Naturphilo-sophen  1912,  S.  25flF. 

132  a)  S.  unten  den  gleich  folgenden  Exkurs. 

133)  Allerlei  merkwürdige  hier  einschlagende  Vorstellungen  von 
der  menschenartigen  Gestalt  und  Lage  der  Erde,  von  Ägypten  als 
■"templum  totius  mundi',  als  '"Herz  der  Oikumene'  etc.  (vgl.  Omphalos 
S.  31  f.  und  die  dort  abgebildete  Figur)  s.  jetzt  bei  Kroll,  D.  Lehren 
des  Herme.s  Trismegistos.  Münster  1914,  S.  159,  166 L  Vgl.  auch  Hora- 
poll.  ed.  Leemans,  p.  125. 


70,2]     Der   OMPnALOSftEDANKR   BEI  VRRSOHtEDBNEN  VÖLKERN.  85 


Fig  7.   Amonidole  au»  dem  ägyptischen  Theben  (nach  Annales  du  Service  des  Autiquit^^s 
T.  IX  [1908],  PI.  I,  p.  64  ff,  zu  dem  Artikel  von  D-^RKSsy,  (Une  nouveUe  Forme  d  Amon  >. 


68  WlI.HRI.M    HkINKK  II    HoSCHIMt:  70,2] 

dont  je  nc  connais  piis  d'autres  Bpociraeiis.  'Jii'on  «'imaifine  \in  nio^jo 
divin  llaiu|in^  de  lioiis,  coniine  en  Bont  fr^tiueinment  Ics  trAnes  d'HoruB, 
et  sur  ce  lion  im  .spliiiix;  oonime  dosBior,  2  dt'osses  pti'^rophorcH,  puis 
ä  riutt'iieur,  nu  Heu  de  la  tablette  utteiidue,  tont  Vfspace  est  occupc 
]mv  Uli  tHÜtice  liypi-thro  avec  port  ;"i  Itivaiit  ot  i)08ee  doasus  (au  lieu 
d'rtn.'  au  niilieu  do  la  oour),  um-  uiasso  arrondie,  seinlilablo  li 
une  outrc,  dout  la  partii-  j^auiho  so  relive  lormant  une 
protubi-ranco;  tout  cola  orut'  de  dessin  et  dort«  .  .  .' 

p.  65J:  'Quant  ä  remblenie  ^Iraiifje  i)os(''  sur  ce  moiiuniont  il  est 
efialement  orue  de  Htrures  en  rcliet'.  Au-dessus  de  ce  «ac,  dans  laxe 
une  briaure  ronde  maniue  la  i)lace  du  cou  d'unc  tr-te  d'Amon 
qui  devait  etre  placec  bi;  en  avant  est  «jrave  un  pectoral  dout  l'in- 
terieur  est  seulement  renipli  de  points'  .  .  .  (Es  folgt  nunmehr  die'Be- 
schreibuui?  der  dekorativen  Figuren;  vljI.  Taf.  I  u.  uns.  Fij^.  7a — d  ^.85). 

p.  66J:  Ähnlich  mehrere  weitere,  aber  woniger  gut  gearbeitete 
Exemplare  derselben  Art,  von  denen  es  heißt:  'A  la  partie  superieure 
est  restee  une  partie  de  l'arriere  de  la  tete  d'Amon.' 

Weiter  führt  D.  [p.  67]  ein  merk  würdiges  'tableau'  zu  Medinet- 
Habou  an,  auf  dem  unter  anderem  erseheint  lespi'ce  de  sac  avec 
sa  proeminencc  laterale  surmonte  d'un«!  t(''te  d'Amon,  ayant 
un  Collier  auquel  est  attache  un  pectoraT  . 

.  S.  69  schließt  I).  seine  Darlegungen  mit  den  Worten:  'Ces  docu- 
ments  .  .  .  suffisent  pour  nous  prouver  que  cette  forme  divine  apparte- 
nan  tä  Min  createur,  confondu  avec  Harsiesi,  ce  Panthee  que  les  sta- 
tuettes  et  les  bas-reliefs  nous  presentent  sous  tant  d'aspects  differents 
Le  trait  caracteristique  est  ce  sac  dans  lequel  le  dieu  est  en- 
ferme,  sa  tete  emergeant  seule'  .  .  .  Zvüetzt  vergleicht  D.  noeh 
die  sackähnliche  Gestalt  des  Amon  von  Theben  mit  dem  'umbiiieus' 
des  Curtius  Rufas  in  der  Oase  von  Siwa  und  meint  nicht  ohne  innere 
Berechtigung:  'L'ombilic  dont  parle  Tauteur  ne  peut  etre  mieux  repre- 
sente  que  par  la  protuberance  du  sac  oü  Amon  est  cache.' 


VII.  Die  Etriisker.  Italiker  und  Deul sehen. 

Ob  der  Omplialosgedanke  auch  bei  den  Etruskeni  (miic 
Holle  gespielt  hat,  ist  nicht  leicht  festzustellen,  .weil  l>is  jetzt 
direkte  Zeugnisse  zu  fehlen  scheinen.  Vielleicht  deutet  aber 
ein  eigentümlicher  Ritus,  den  die  Etrusker  bei  der  Gründung 
von  Städten  beobachtet  haben  und  der  nach  Varro  auch  von 
Etrurien  nach  Latium  übertragen  worden  ist,  darauf  hin. 
Ich  meine  die  Anlage  des  sogen,  nmmhis,  d.  h.  einer  kreis- 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       87 

runden  Grube  in  der  geometrischen  Mitte  der  Stadt  ^^), 
deren  unterer  Teil  den  Dis  Manibus,  d.  i.  den  Geistern  der 
Verstorbenen  und  den  Göttern  der  Unterwelt,  der  TeUus, 
Ceres,  dem  Orcus  etc.  heilig  war^^^)  und  durch  den  sogen. 
lapis  manalis,  einen  runden  Stein,  verschlossen  wurde.  In 
diese  Grube  (fossa)  wurden  die  Erstlinge  von  allen  Früchten 
und  sonstigen  Gaben  geschüttet  und  sodann  die  Grenzen  der 
künftigen  Stadt  durch  eine  um  den  mundus  als  Zentrum 
mittels  einer  rituellen  Pflügung  beschriebene  Kreislinie 
festgestellt  usw.  (Vgl.  V\^issowA,  Rel.  u.  Kult.  d.  Römer  2, 
S.  234.  Preller-Jordan,  Rom.  Mythol.^  II,  67  f.)  An  be- 
stimmten Tagen,  die  für  bedenklich  galten,  dreimal  im  Jahre, 
wurde  der  Mundus  geöffnet,  und  man  glaubte,  daß  dann  die 
Seelen  der  Verstorbenen,  der  Dii  Manes,  aus  der  Grube  her- 
vorschwärmten und  die  Oberwelt  erfüllten.^^®) 


134)  Plut.  Rom.  11:6  'PafivXog  .  .  .  raxi^e  rrjv  nro'ii»'  iv.  Tvggrivlccs 
lisTocTtsiiipcc^svog  ävSQdg  isQotg  tl(Si  &£a^oTg  kuI  ygäyb^iaeiv  vcpriyoviisvovg 
sxaötoc  xal  SiSccay,ovzccg,  mansg  iv  rslsv^.  Bo&Qog  yccg  wQvyr]  tcsqI  to 
vvv  Koiiiriov  KVKloTSQrjg,  &TCaQxal  rs  itävtav  .  .  .  &n£t£&riaccv  iv- 
rav&a.  Kai  tsXog  i^  rjg  dgptKro  yrjg  sxccatog  oXlyriv  xo/xijcor  ^oTqccv 
ißccXXov  dg  tavTa  Kai  avvs^iyvvov.  KaXovai,  dh  rbv  ßod-QOV  xovrov  ä  xal 
rbv  öXv^Ttov  ovoaari,  iiovvdov.  Eha,  möiteQ  y.v-aXov  k^vtqo}  TtsQii- 
YQKxpav  TTjv  noXiv.  —  Ov.  fast.  4,  821  ff.  —  Varro  1.  1.  5,  143=  oppida 
condebant  in  Latio  Etrusco  ritu,  ut  multa,  id  est  junctis  bobus. 
Quare  et  oppida,  quae  prius  erant  circumducta  aratro,  ab  orbe  et 
urvo  urbes. 

135)  Daher  die  Bezeichnungen  Cereris  mundus  (Fest.  p.  142,  22), 
Plutonis  faux,  deorum  tristium  atque  inferum  quasi  ianua  (Varro  b. 
Macrob.  i,  16,  17),  ostium  Orci  (Fest.  p.  95  s.  v.  Manalem  lapidem).  — 
Cato  b.  Fest.  p.  154:  eins  (mundi)  inferiorem  partem  veluti  consecra- 
tam  Dis  Manibus  clausam  omni  tempore  nisi  his  diebus,  qui  supra 
scripti  sunt,  maiores  c[ensuerunt  habendam],  quos  dies  etiam  religiosos 
iudicaverunt  ea  de  causa,  quod  his  diebus  ea,  quae  occulta  et  abdita 
religionis  deorum  manium  essent,  in  lucem  adducerentur,  nihil  eo  tem- 
pore in  republica  geri  voluerunt  .  .  .  Vgl.  Fest.  p.  156  s.  v.  Mundum. 
Mehr  bei  Steuding  im  Artikel  Inferi  des  Ausführl.  Lexikons  d.  griech. 
«.  röm.  Mythol.  U,  Sp.  239  u.  249 f. 

136)  Paul.  p.  128:  Mamalem  lapidem  putabant  esse  ostium  Orci, 
per  quod  animae  inferorum  ad  superos  manarent,  qui  dicuntur  Manes. 


88  Wn.jii'.i.M  IIkinuicm  Rosciikk:  [7°,^ 

Die  Grüiule,  dio  mich  veriuilasseu,  in  dem  ]\Iumlus  eine 
besondere  Form  dos  Krdnabels  {ö^cpaXüg  yf/g)  /u  erblicken, 
sind  kurz  folgende. 

Vor  allem  deutet  darauf  hin  die  Tatsache,  daß  der  Mun- 
dus  in  der  Mitte  jeder  Stadt  angelegt  war,  also  au  einer  Stelle, 
wo  sonst  nudirfach  oucpa^oC  (umbilici)  als  Symbole  der  Mitte 
und  als  Zentralmeileusteine  der  von  ihnen  ausgehenden  Straßen- 
netze errichtet  waren"*''):  man  denke  an  den  umbilicus  urbis 
Komae,  an  das  Milliarium  aureum  daselbst,  an  den  atheni- 
schen Zwülfgötteraltar,  den  Pindar  als  d^KfaXbc^  aöreos  d^vöeig 
bezeichnet,  an  den  Omphalos  von  Antiochia  ad  Oroutem  usw, 
(Omphalos  S.  34  f.). 

Sodann  erinnert  die  ins  Innere  der  Erde,  also  die  Unter- 
welt, den  Sitz  der  abgeschiedenen  Geister,  hinab  reichende 
Grube  an  das  %ä6aa  oder  öto^lov  yti^  zu  Delphi  (und  Bran- 
chidai),  das  den  Mittelpunkt  der  bewohnton  Erde  bezeichnete 
und  zugleich  verschiedene  Beziehungen  zum  Geisterreich  der 
Unterwelt  hatte;  man  denke  an  das  ebenfalls  ins  delphische 
Adyton  verlegte  Grab  des  Python,  des  Dionysos,  ja  des  Apol- 
lon  (RoiiDE,  Psyche-  I  S.  133  Anm.  2). 

Nicht  bedeutungslos  scheint  ferner  der  Umstand  zu  sein, 
daß  der  Mundus  selbst  kreisrund  (xvxXotiqijs)  war  und  mit 
der  ebenfalls  im  wesentlichen  runden  Stadtmauer  und  ihrem 
Graben  harmonierte  (s.  Anm.  134).  Ja  vielleicht  ist  es  sogar 
möglich,  damit  die  Ausdrücke  mundus  und  urbs,  wie  schon 
die  Alten  annahmen  (s.  oben  Anm.  134),  in  Zusammenhang  zu 
bringen;  denn  nach  der  ältesten  Vorstellung  ist  auch  die 
Welt  ebenso  wie  der  orbis  terrarum  und  der  Horizont  (der 
Himmel)  ^^'')     kreisrund,    und   demgemäß    muß    auch    die 


136b)  Ich  nehme  also  aa,  daß  ursprünglich  jede  mit  einem  'mun- 
dus' versehene  Stadt  glaubte  in  der  Mitte  des  orbis  terrarum  zu  liegen. 
Dies  erinnert  an  die  Omphalos  S.  22  besprochene  Vorstellung  des 
Inders,  bei  der  Gründung  seines  Hauses  sich  im  Nabel  der  Erde  zu 
befinden. 

137)  Vgl.  Cato  b.  Fest.  p.  154:  Qui  (mundus)  quid  ita  dicatur  sie 
refert  Cato    in   commentariis    iuris    civilis:    'Mundo   nomen   impositum 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       89 

'Unterwelt',  der  untere  mundus,  dieselbe  Form  haben; 
man  denke  auch  an  den  Zevg  x^öviog  im  Gegensatze  zum 
ZEvg  6Xv}i7tiog,  an  die  Juno  infera  (inferna)  im  Gegensatz 
zur  "Hqu  bXvaTcCu  usw.  Es  ist  mir  sonach  in  hohem  Grade 
wahrscheinlich,  daß  mundiis  in  diesem  Falle  ganz  eigentlich 
die  'untere  Welt'  (Unterwelt)  bedeutet  und  also  genau  ge- 
nommen ein  euphemistischer  Ausdruck  für  mundus  in- 
ferormn  (Manium)  ist.^^'^)  Vgl.  novroq  Ev^eivog  für  li^SLVog, 
Ev^sv^dsg  für  'EQn'[v]v£g,  manes  (=  die  Guten)  für  larvae 
oder  lemures  usw.     (Mehr  bei  Rohde,  Psyche^  I,  2o6if.) 

Eine  ganz  vortreffliche  Stütze  für  meine  Vermutung 
scheint  uns  endlich  die  germanische  Vorstellung  vom  sogen. 
Di  liest  ein  darzubieten,  wie  bereits  J.  Grimm,  D.  M.^  766  und 
Pkeller  (a.  a.  0.  II,  S.  67  A.  2)  gesehen  haben.  Grimm  (a.  a.  0.) 
sagt  darüber:  'Man  dachte  sich  im  Grund  der  Erde,  gleich- 
sam als  Decke  und  Gitter  der  Unterwelt,  einen  Stein,  der 
in  mhd.  Gedichten  Dillestein  (von  diUe,  diele,  tabula,  pluteus, 
ahd.  dil,  dili,  altn.  |)il,  pili)  genannt  ist:  'grüebe  ich  üf  den 
dillestein'.  Schmiede  ^:i\  'des  hoehe  vür  der  himele  dach 
und  durch  der  helle  bodem  vert.'  Das.  1252;  'vür  der 
himele  dach  du  blickest  und  durch  der  helle  dillestein. 
Ms.  2,  199b;  'wan  ez  kumt  des  tiuvels  schrei,  da  von  wir- 
sin  erschrecket:  der  dillestein  der  ist  enzwei,  die  toten  sint 
üf  gewecket.'  Dietr.  drachenk.  cod.  pal.  226a.  Hierbei  er- 
innere ich  mich  des  lapis  manalis  (Fest.  s.  v.),  der  die  Grube 
des  etruskischen  mundus  schloß  und  alljährlich  an  drei  heili- 
gen Tagen,  abgenommen  wurde,  damit  die  Seelen  hinauf  zur 
Oberwelt  steigen  könnten  (Festus  s.  v.  mundus).  Nicht  bloß 
diese  Grube  in  der  Erde,  auch  der  Himmel  hieß  mun- 
dus. Vgl.  0.  Müllers  Etrusker  2,  96.  97.  Den  Finnen  ist 
manala  locus  subterraneus,  ubi  versantur  mortui,  sepulcrum, 

est  ab  eo  mundo,  qui  supra  nos  est  (=  caelum,  "Oit'fwrog,  vgl. 
Plnt.  Rom.  II,  oben  Anm.  134):  forma  enim  eins  est,  ut  ex  bis  qui  in- 
travere  cognoscere  potui,  adsimilis  Uli  (also  rund  u.  gewölbt). 

138)  Vgl.  aucb  WissowA,  Rel.  u.  Kultus  d.  Römer ^  §  35  S.  238f.. 
Prei.ler-.Jordän,  Rom.  Mythol.'  I,  83  A.  i,  II,  66. 


go  Wii,ni:i.M  TIkinuich  Kosciikk:  [70, 2 

orcus,  was  sich  von  »uki  (^Icrra.  imiiidus)  leitet.  NillheiiiKM- 
war  dennoch  heinir,  d.  h.  eine  Welt"  naw.  Selir  nicrkwüi-dirr 
und  für  unsere  Friicje  liocliwiehti^  ist  über  der  von  EI.  11. 
Meyku  (German.  ^lythol.  §  2^\  n.  §  28Ö  S.  212)  für  den 
Dillestein  nachgewiesene  Charakterzug,  daß  er  als  Mittel- 
punkt der  Erde  galt  wie  z.  B.  der  Stein  hei  der  Nohis- 
schcuke  (a.  a.  0.  §  286,  Kuhn,  Sagen  a.  Westfalen  2,  ^22.  ;i^^. 
WiTZSCiiEL,  Sagen  a.  Thüringen  2,  142),  d.  h.  bei  einem 
Wirtshause,  worin  alle  Toten  Karten  oder  Würfel  spielen, 
denn  das  Totenreich  wird  in  Deutschland  ganz  gewöhnlich 
als  Wirtshaus  (=  Nobiskrug,  Nobishaus),  der  dort  residierende 
Dämon  (=  Teufel)  als  helleivirf,  Nohiswiri  vorgestellt  (Belege 
b.  Meyer  a.  a.  0.).  Mit  dem  Dillestein  aber  ist  wohl  auch 
der  mit  großen  Nägeln  beschlagene  Stein  bei  Allstedt  und 
Nebra,  der  ebenfalls  für  den  Mittelpunkt  der  Welt  gilt 
(Kuhn  u.  Schwaktz,  Norddeutsche  Sagen  215.  Wri'zscHEL 
a.  a.  0.  2,  142 f.),  identisch  (Meyer  a.  a.  0.  S.  212).  Eine 
einigermaßen  verwandte  Vorstellung  vertritt,  wie  oben  gezeigt 
worden  ist,  der  Stein  Schetija  in  Jerusalem  (vgl.  Omphalos 
S.  24  f.,  N.  Omphalosstudien  S.  16  f.,  ob.  S.  14  ff.). 

Schließlich  weise  ich  in  diesem  Zusammenhang  noch  auf 
den  von  Varro  (b.  Plinius  n.  h.  3,  log)  bezeugten  umbilicus 
Italiae  und  auf  Enua,  jetzt  Castrogiovauni,  im  Mittelpunkte 
Siziliens  hin,  das  von  Kallimachos,  Cicero  und  Diodor  öfi- 
(paXbg  EixsUag  genannt  wird  (Omjihalos  S.  345  Neue  Om- 
phalosstud.  S.  88).  Schon  aus  diesen  Tatsachen  ist  deutlich 
ersichtlich,  welche  Bedeutung  dem  Omphalosgedanken  auch 
bei  den  Italikern  zukommt  und  wie  wahrscheinlich  es  ist, 
daß  auch  sie  an  einen  o^cpaXbg  yijg  an  verschiedenen  Punkten 
des  italischen  Gebietes  geglaubt  haben. 

VIII.  Der  Omplialosgedanke  bei  den  Kelten. 

Bereits  in  den  Neuen  Omphalosstudien  I,.  S.  2 4 f.  habe 
ich  kurz  auf  einen  hochinteressanten  im  Jahre  19 14  vor  der 
Academie  des   Inscriptions   et  Belles-Lettres  gehaltenen  Vor- 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       9 1 

trag  des  bekannten  französischen  Keltologen  J.  Loth  ver- 
wiesen, der,  wie  damals  mehrere  Pariser  Tageblätter  berich- 
teten, die  einstige  Existenz  eines  öiKpaXbg  yfjs  vor  allem  im 
Mittelpunkte  Irlands  (vgl.  Giraldus  Cambrensis,  Topograph. 
Hibern.  3,  4  p.  144  ed.  Dimock)  und  sodann  im  Zentrum 
Galliens  im  Gebiete  der  Carnutes  (vgl.  Caesar,  bell.  Gall. 
6,  lof.)^^'')  wahrscheinlich  gemacht  habe.  Der  unmittelbar 
darauf  ausgebrochene  Weltkrieg, 
der  jeden  direkten  literarischen 
Verkehr  mit  Frankreich  unmög- 
lich machte,  verhinderte  mich 
damals,  den  in  der  Revue  des 
Etudes  Anciennes  Bd.  XVII 
(19 15)  S.  193 — 206  unter  dem 
Titel'L'Omphalos  chez  les  Geltes' 
erschienenen  Vortrag  Loths  ge- 
nauer kennen  zu  lernen  und  zu    ^.    „    ^     .  ^  ^  ,       , ... 

Fig.  8.     Der  jetzt  zersprengte  umbihcus 
würdigen.     Erst   zwei   Jahre    Spä-       mbemiae  des  GiraUIua-Cambrensia  (nach 

ter    ist    es    mir    dank    den    Be-  ^°^^  ^'  ^" 

mühungen  meines  Züricher  Freundes  Prof.  Wasers  gelungen, 
des  betreffenden  Bandes  der  Etudes  Anciennes  habhaft  zu 
werden  und  einen  Einblick  in  Loths  Darlegungen  zu  gewinnen. 
L.  sucht  in  seiner  Abhandlung  über  den  Nabel  der  Erde 
bei  den  Kelten  die  Ergebnisse  meines  'Omphalos'  vom  kelto- 

139)  Man  glaubt  jetzt  den  locus  cousecratus  in  finibus  Carnutum 
in  dem  'petit  vallon  marecageux  de  la  Vouzee  qui  aboutit  au  Loir, 
ä  deux  kilometres  environ  en  amont  de  Vendome'  entdeckt  zu  haben 
(Comptes  Rendus  de  l'Acad.  d.  Inscript.  et  B.-L.  1915  Juillet-Aoüt 
p.  282).  —  Noch  jetzt  spielt  übrigens  der  Omphalosgedanke  in  Frank- 
reich eine  gewisse  Rolle,  wie  die  Pyramide  von  Bruere  lehrt.  Diese 
wurde  unter  Napoleon  III.  errichtet,  als  es  den  französischen  Geo- 
graphen und  Mathematikern  gelungen  war,  den  geographischen  Mittel- 
punkt Frankreichs  genau  festzustellen.  Dieses  Zentrum  befand  sich 
damals  in  dem  kleinen  Flecken  Bruere  bei  Fontainebleau,  und  zur  Er- 
innerung an  jenes  Ereignis  wurde  auf  dem  Marktplatz  von  Bruere  eine 
mächtige  Pyramide  errichtet,  die  aber  nach  der  Annexion  von  Elsaß- 
Lothringen  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  verlor.  Mehr  darüber  s.  in 
der  Kreuzzeituug  1916  Nr.  491  (26./9.),  Morgenausgabe  öp.  4- 

Plül.-hist.  Klasse  191 8.  Bd.  LXX.  2.  7 


i)2  WiLUKi.M  Hkinkich  1\(Vsciikk:  [70,  2 

loijiscben  Stamlpunkt  aus  zu  (Mt^änzcu  (p.  193).  Er  geht  ans 
von  dorn  Zou*jfnis  (\iesars  (do  bell.  Gull.  6,  13)  von  der  zen- 
tralen Lage  dos  Carnutenlandes  (regio  totius  Galliae  media) 
und  der  alljiilirlii'h  daselbst  voranstalteten  Zusammenkunft 
der  Druiden  au  einem  gewoibion  Platze  (in  loco  consoorato) 
und  be/iebt  auf  Orte  gleicber  l^edeutung  den  so  bäufig  im 
altkeltisclieu  Gebiete  begegneiulen  Namen  3Ie(lio-lanon,  den 
er  ebenso  wie  Mcdio-nemeio-n  als  'sanctuaire,  lieu  consacre 
central,  vraisemblemont  dans  un  foret'  deutet  (p.  194). 

Eine  deutliebe  Beziebung  auf  den  Erdnabel  findet  L. 
ferner  in  der  'Aventure  de  Lludd  et  Llevelys',  welcbe  in  der 
Gegend  von   Oxford  lokalisiert  ist  (p.  195).'''") 

Es  heißt  darin: 

C'etaitun  grand  cri  qni  se  faisait  entendre  chaque  nuit  de  prämier 
mai*'**)  au  dessus  de  chaque  foyer  dans  l'ile  de  Rretagn'^:  il  traver- 
eait  le  coeur  des  humains  et  leur  causait  une  teile  frayeur  que  les 
hommes  en  perdaieut  leur-s  conleurs  et  leurs  Forces;  les  femmes,  les 
enfants  dans  leur  sein,  les  jeunes  gens  et  les  jeunes  fiUes,  leur  raison. 
Animaux,  arbres,  terre,  eaux  tout  re>tait  sterile.  Llevelys  devoila  ä 
6on  frere  la  cause  de  ce  fleau  et  lui  indicjua  le  moveu  de  s'en  dübar- 
rasser.  Le  cri  etait  pousse  par  le  dragon  des  Brittons:  „Un  dragon 
de  race  etrangere",  dit  Llevelys,  „se  bat  avec  lui,  et  cherche  ä  le 
vaincre.  C'est  pourquoi  votre  dragon  ä  vous  pousse  un  cri  effrayant. 
Voici  comment  tu  pourras  le  savoir.  De  retour  chez  toi,  fais  mesurer 
cette  ile  de  long  en  large;  a  l'endroit  011  tu  trouveras  exactement 
le  point  central  de  l'ile,  fais  creuser  un  trou,  fais  y  deposor  une 

140)  Bei  der  geringen  Verbreitung  der  Revue  des  fit.  Anc.  in 
Deutschland  und  der  zur  Zeit  noch  bestehenden  großen  Schwierigkeit, 
das  betreffende  Heft  durch  den  Buchhandel  zu  beziehen,  halte  ich  es 
für  meine  Pflicht,  das  deutsche  Gelehrtenpublikum  über  den  Inhalt 
der  verdienstlichen  Untersuchung  Loths  genauer  zu  unterrichten. 

141)  Dies  i.st  der  sogen.  Walpurgistag,  über  dessen  Bedeutung 
bei  den  Germanen  kein  Zweifel  besteht.  Vgl.  J.  Gkimm,  Deutsche 
Mythol.*  1003 ff.  WuTTKK,  Deutscher  Volksabergl.^  §88.  E.  H.  Meyek, 
German.  Mythol.  S.  132,  141,  243.  Mannhardt,  Germ.  Mythen  30—34  etc., 
der  S.  457f  (Anm.  2^  auch  auf  keltische  (walisische)  Sagen  hinweist, 
in  denen  der  i.  Mai  eine  Rolle  spielt.  Ich  vermute  übrigen.s,  daß 
unter  dem  certo  anni  tempore  quo  Druides  in  finibus  Carnutum  con- 
sidunt  in  loco  consecrato  (Caesar  b.  Gall.  6,  10)  die  Walpurgisnacht 
am   I.  Mai  zu  verstehen  ist.    Vgl.  unten  S.  95. 


70,  2j    Der  O.mphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       93 

cuve  pleine  de  Thydromel  ^*-)  le  meilleur  que  Ton  puisse  fairo,  et  re- 
couvrir  la  cuve  d'un  manteau  de  paile.  Cela  fait,  voille  toi  meme,  en 
personne,  et  tu  verras  les  dragons  se  battre  sous  la  forme  d'  animaux 
effrayants.  IIa  finiront  par  apparaitre  dans  l'air  sous  la  forme  de  dra- 
gons, et,  en  dernier  Heu,  quand  ils  seront  epuises  ä  la  suite  d'un  com- 
bat effrayant  et  terrible,  ils  tomberont  sur  le  manteau  sous  la  forme 
de  deux  pourceaux;  ils  s'enfonceront  avec  le  manteau,  et  le  tireront 
avec  eux  jusqu'  au  fond  de  la  cuve.  Alors,  replie  le  manteau  tont 
autour  d'eux,  fais-les  enterrer  enfermes  dans  un  cofFre  de  pierre, 
ä  Fendroit  le  plus  fort  de  tes  Etats,  et  cache-les  bien  dans  la  terre. 
Tant  qu'ils  seront  en  ce  Heu  fort,  aucune  invasion  ne  viendra  dans 
nie  de  Bretagne."  Lludd  fit  mesurer  l'ile  de  long,  et  en  large. 
II  trouva  le  point  central  ä  Rhyd-Ychen  (le  gue  aux  boeufs),  nom 
gallois  d'Oxford.  II  fit  comme  il  avait  ete  convenu.  Quant  au  cofFre 
de  pierre  dans  lequel  il  enferma  les  dragons,  il  le  transporta  ä  l'en- 
droit  le  plus  svir  qu'il  püt  trouver,  dans  les  montagnes  d'Eryri  (chaine 
de  Snowdon). 

LoTH  beschränkt  sich  darauf,  hervorzuheben,  welche  Be- 
deutuDg  in  dieser  echtbritannischen  Sage  dem  Begriffe  des 
Mittelpunktes  eines  Landes  oder  der  Erde  {o^cpuVog 
yTJs)  zuzuerkennen  ist,  offenbar  dieselbe,  die  er  auch  in  der 
irischen  Legende  des  Giraldus  Cambrensis  vom  'umbilicus 
Hiberniae'  und  vom  dortigen  'medium  et  meditullium 
terrae'  und  in  dem  Berichte  Caesars  von  der  'regio  media 
totius  Galliae'  im  Gebiete  der  Caruutes  nachgevriesen  hat. 
Von  den  übrigen  in  der  Sage  enthaltenen  merkwürdigen  Ele- 
menten  schweigt  er.  Auch  ich  kann  an  dieser  Stelle  nicht 
alles  erörtern,  möchte  aber  doch  wenigstens  darauf  hinweisen, 
daß  die  Sage  insofern  einen  interessanten  historischen  Hinter- 
grund hat,  als  sie  offenbar  in  einer  Zeit  entstanden  ist,  als 
die  keltischen  Ureinwohner  Britanniens  in  der  Furcht  vor 
einer  auswärtigen  feindlichen  Invasion  schwebten.  Es  kann 
sich  daher  wohl  nur  um  die  Zeit  handeln,  wo  entweder  die 
Römer    oder    die    Gennanen    (Angeln,   Sachsen,  Dänen),   Bri- 


142)  Sonst  wird  den  in  den  Schlangen  (Drachen)  verkörperten 
Hausgeistern  Milch  vorgesetzt  (Grimm,  D.  Mythol.^  65of);  bei  den 
Griechen  erhalten  die  heiligen  Schlangen  als  Opfer  in  der  Regel 
Honigkuchen  {^sXirovTra):  Rohde,  Psyche*  I,  305  Anm.  2.  Gruppe, 
Griech.  Mythol.  u.  Rel. -Gesch.  S.  909  A.  5. 

7* 


94  NN  ii.iiKLM  Hi:  NKicii  RoRC'nr.u:  '   [7",  ^ 

tanuieu  mit  einer  liivasiou  beilrohten.  Die  Ueidi'ii,  im  Kampfo 
miteinunder  liegenden  Draeheii  oder  FlügelechUingcn  sind  dio 
Symbole  der  beiden  feindlielien  Nationen  und  gewissermaßen 
deren  Lokalgenien  im  größten  Maßstabe,  ebenso  wie  dio 
Genien  der  einzelnen  Häuser  ebenfalls  durch  heilige,  gütige, 
wohltätige  Schlangen  oder  Drachen  dargestellt  wurden.'") 
Die  innigen  Beziehungen  solcher  Lokalgenien  erster  Ordnung 
zum  ganzen  Lande  können  kaum  drastischer  dargestellt 
werden  als  durch  die  Verlegung  ihres  Wohnsitzes  in  den 
mathomatiseh  gewonnenen  Mittelpunkt  des  Gebietes,  dessen 
Wohl  ihnen  am  Herzen  liegt. 

S.  197  f.  a.  a.  0.  bespricht  LoTii  sodann  ausführlich  das 
schon  von  mir  (Neue  Omphalosstudien  S.  2 5 f.)  angeführte 
Zeugnis  des  Giraldus  Cambrensis  von  dem  im  Zentrum  Ir- 
lands aufgerichteten  Steine  (lapis),  welcher  'umbilicns  Hi- 
beruiae'  genannt  wurde  (qnasi  in  medio  et  meditullio 
terrae  positus)  und  lügt  noch  weitere  wichtige  Belege  für 
dieselbe  Vorstellimg  hinzu,  vor  allem  den  ebenfalls  'umbili- 
cus'  genannten  Stein  zu  Birr  in  Kings  County  (nicht  weit 
von  Ushnagh  oder  Kyllari),  weiter  eine  interessante  Notiz  aus 
CoLGAN,  Triadis  Thaumaturgae  acta  (Quinta  vita  s.  Columbae) 
p.  392  col.  2  no.  XX:  'Sub  idem  tempus  s.  Finnianus  leniter 
soporatus  vidit  in  Hibernico  horizonte  duos  soles  cooriri, 
unum,  ut  prae  se  ferebat,  argenteum,  aureum  alterum,  magna 
utrumque  sed  impari  luce  coruscuin.  Qui  argenteus  erat, 
austro  propior  loco,  qui  Cluaiu  micnois  dicitur,  recta  im- 
minebat;  eoque  potissimum  directis  radiis  Hiberniae  um- 
bilicum  mire  irradiatum  prope  incendebat.' 

Die  hervorragende  Bedeutung  des  großen  Steinblockes 
bei  Ushnaffh,  den  mau  den  Umbilicus  Hiberniae  nannte,  be- 
zeugt  auch  eine  Legende  vom  hl.  Patrick,  des  Nationalheili- 

1431  Vgl.  .1.  Gkimm,  Deutsche  Mythol.''  S.  648  ff.  Wis.sowa,  Relig. 
u.  Kultu.s  d.  Römer*  S.  lyöf.  Preller-Jordan,  Rom.  Myth.' I,  87,  116. 
WuTTKE,  D.  deutsche  Volksaberglaube*  §  57,  153.  Über  d.  Fütterung 
von  Hausschlangen  in  Littauen  vgl.  Globus  75  (1899)  S.  i6off.  Roch- 
holz, Deutscher  Glaube  u.  Brauch  I,  146  f. 


70,  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       95 

gen  von  Irland  (Loth  a.  a.  0.  S.  200),  der  'die  Steine  von 
Ushnagli'  als  einen  Gegenstand  heidnischen  Aberglaubens  ver- 
flucht haben  soll.  Auch  wurde  hier  ebenso  wie  im  Lande 
der  Carnutes  alljährlich  am  i.  Mai  (s.  oben  S.  92  Anm.  141) 
eine  große  Festversammlung  abgehalten,  die,  wie  schon 
d'Arbois  de  Jubainville  (Les  Assemblees  publique«  d'Ir- 
lande.  Paris  1880  p.  11  f.)  erkannt  hat,  der  von  Caesar  er- 
wähnten Druidenver- 
sammlung im  Zen- 
trum Galliens  ana- 
loge Momente  auf- 
weist. 

Eine  Abbildung 
des  Steins  von 
Ushnagh  (Fig.  8)  und 
einer  Reihe  von  an- 
deren Steinen,  in  de- 
nen Loth  altkeltische 
Omphaloi  erkennen 
möchte,  die  ich  aber 
einstweilen  lieber  zu 
den  problematischen  Nabelsteinen  rechne,  siehe  unten  auf 
Seite  96  und  die  dazu  gehörigen  Erläuterungen  auf  S.  97. 

Ich  gebe  hier  nach  Loth  (L'omphalos  chez  les  Celtes  == 
Revue  des  etudes  anciennes  XVII  (19 15)  S.  193  ff-)  mehrere 
interessante  altkeltische  Kultsteine  wieder,  denen  Loth  mit 
mehr  oder  weniger  Wahrscheinlichkeit  den  Charakter  von 
Nabelsteinen  ißyLtpaXoi)  ebenso  wie  dem  berühmten  die  Mitte 
von  Irland  und  der  Welt  bezeichnenden  Stein  von  Ushnagh 
(vgl.  auch  Lappenberg  im  Artikel  Irland  S.  49  b  der  Encyklo- 
pädie  von  Ersch  und  Gruber)  zuschreiben  möchte.  Loth 
(S.  203)  sagt  darüber: 

'n  n'est  paa  douteux  que  de  rancienne  regio  media,  le  Midi  de 
rirlande,  de  la  coUine  d'üisnecb  le  culte  de  VOmphalos  ne  se  soit  re- 
pandu  dans  le  pays,  bien  que  nous  n'en  ayons  pas  de  preuves  certaines. 
Ce  culte  a  et^  certainement  un  des  premiers  abolis  par  le  christianisrae: 


Fig.  9.  Irischer 'Oraphalos'  von  CasUestrange  (nach 
Loth  a.  a.  O.  PI.  I  Fig.  3). 


go 


Wilhelm  Hkinricu  Kosculiu: 


(7".' 


t.-''; 


Fig.  lo:  Irischer  '  Uniphaloa': 

Pierre  do  Turoe    (nach   Lora 

a   .1.  U.  S.  20t). 


Fig.  12  a:  Keltischer  'Omphalos': 

B6tyle  de  Kermaria  prÖ3  Pont  l'Abbö 

(nacli  LoTH  a.  a.  O.  PI.  n  Fig.  6). 


m 


.,:',.'     '  I  ,.'9  \ 


'•'h^:.  \  -: ;; '  ;:• 


lUVlW 


Fig.  II :   Keltischer  'Omphalos' 

von  MullaghmaBt   (nach   Loth 

a  a.  O.  S.  205). 


..'^''J 


'''i^^'^^'::^?--^''^ 


^'^C^'Sä.^i 


Fig.  12b:    Deigl.  (nach  Loru 
a.  a.  O.  PI  II  Fig.  9). 


yOi  2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.       97 

St.  Patrice  n'avait  pas  mauque  de  maudire  les  pierres  d'Uisnech.  I] 
est  fort  poäsible  qu'un  certain  nombre  des  piliers  ou  menhirs  epara  ä 
travers  l'Irlande  aient  ete  des  representations  de  VOmj^halos  .  .  . 
D'ailleurs,  d'une  fa9on  generale,  jusque  ä  l'epoque  chretienne,  lea  idolea 
de  rirlande  etaient  des  pierres  brutes :  de  veritables  menhirs.  —  EUea 
etaient  parfois  rehaussees  d'or  et  d'argent.  Un  annotateur  au  marty- 
rologue  d'Öengus,  compose  au  IX*  siecle  .  .  .  nous  donne  de  curieux 
details  sur  l'idole  supreme  du  Nord:  c'etait  une  pierre  adoree  par  les 
paiens,  d'oü  un  demon  du  riom  de  Cermond  Cestach  faisait  entendre 
sa  voix.  'C'est  la  pierre  courte',  ajoute-t-il,  'qui  est  ä  droite  en  en- 
trant  dans  le  temple  de  Clochar;  la  place  de  morceaux  d'or  et  d'argent 
y  reste  encore,  „ut  vidimus  ipsi"  .  .  .  A  cöte  de  ces  idoles  de  pierro 
brüte,  il  y  eut,  des  l'epoque  de  la  Tene,  en  Irlande,  des  pierres  sculptees, 
dont  la  destination  n'est  pas  connue.  Les  plus  remarquables  sont  les 
pierres  de  Turoe,  paroisse  de  Kiltallogh,  baronnie  d'Athenry,  en 
Galway,  de  Castlestrange,  comte  de  Roscommon  ...  et  de  Mullagh- 
mast,  comte  de  Kildare.  Elles  ont  ete  Tobjet  d'une  publication  avec 
gravures  de  Coü'ey,  dans  les  Fioeeeding  of  the  B.  I.A.  XXIV,  6  (1904) 
p.  257 — 268  (planche  XVIII — XXII).  La  plus  complete  et  la  plus  im- 
portante  est  celle  de  Turoe,  c'est  un  bloc  erratique  de  i""  20  de  haut. 
.  .  .  M.  C.  JuLLiAN  a  Signale  la  parente  de  ces  pierres  avec  le  betyle 
de  Kermaria,  pres  Pont-l'Abbe  ...  et  a  concla,  sans  deute  avec 
raison,  que  ces  monumeuts  doiveut  repondre  ä  la  meme  pensee  magique 
ou  religieuse  et  correspondre  ä  la  meme  civilisation.  Par  leur  forme, 
les  pierres  de  Turoe  et  de  Mullaghmast,  surtout  celle  de  Turoe,  se  re- 
commandent  comme  des  omphaloi  .... 

Ich  halte  es  bis  auf  weiteres  für  richtig,  alle  hier  ange- 
führten Steine  mit  einziger  Ausnahme  des  'umbilicus'  von 
Ushnach  zu  den  'problematischen'  Omphaloi  zu  rechnen 
(vgl.  N.  Omphalosstudien  S.  6 2  ff.). 


IX.  Der  Erdnabel  der  Luiseüo-Indianer. 

Der  ausgezeichnete  Religionsforscher  und  Ethnologe  Prof. 
M.  NiLSSON  in  Lund  teilte  mir  am  2;^.  Mai  1916  brieflich 
folgendes  mit: 

'Währenddem  ich  ethnographische  Literatur  durchblättere, 
um  Material  für  die  primitive  Zeitrechnung  zu  suchen,  finde 
ich  Folgendes  für  Ihre  Omphalosstudien,  Ein  Teil  der  Ein- 
weihungszeremonien bei   den  Luiseho-Indianern  (Kalifornien) 


g8       Wiuir.i.M   Hkinkuh  lio.sriir.u:  Dr.u  (\mi'1iai.<)S(ii;d.\nkk.   [70,2 

war  mit  i'inor  Malerei  auf  (Icni  Boden  v(m  Ituiitleii,  die  kreis- 
rund war  lind  die  Welt  dar-<ellte  Tiiit  ihrm  sieben  Teilen 
(I.  Händen,  2.  Ber^ron,  3-  Spinne,  .\.  Haben,  3.  Här,  6.  Sehlange). 
Der  siebeute  Teil  ist  ein  Loch  in  der  Mitte  des  Krinses, 
wohl  anderthalb  Zoll  im  Diameter,  der  Nubel  genannt.  Vgl. 
DruoiS,  The  Heligion  i.f  the  L.  in  University  of  California 
Publioations    in    Anierieaii    Archaeology    and    Ethnology  VII l 

(1908)  S.  177t'' 

Dieser  Nachweis  bildet  eine  willkomnieue  Parallele  /n 
dem  Omphalos  der  Peruaner  (Omph.  S.  35)  "»d  Mexikaner 
(N.  Omphalosstud.  S.  75). 


Mittelalterlicher  typischer  Orbis  terrarum  mit  demj 
Zentram  Jerusalem  (nach  'Omphalos'  Taf.  IX,  i). 


Nachträge  und  Bericlitiguiigen. 

I.  Za  Om])halos. 

S.  12  Anm.  20  füge  jetzt  als  willkommenen  weiteren  Beleg  für 
die  Ansicht,  daß  Zwerchfell  und  Nabel  Sitze  der  Seele  seien, 
hinzu  Bakchyl.   16,21  f.:   ^aw  (pQSvcbv  d'vnöv. 

Zu  ,S.  13 f.:  Bei  den  Bakairi  Brasiliens  hört  mit  dem  Abfall  der 
Nabelschnur  des  Kindes  die  Verpflichtung  des  Vaters  zur  Couvade 
auf.  Bis  dahin  hat  er  das  Kind  zu  besorgen,  das  mit  dem  Abfalle 
des  letzten  Restes  der  Nabelschnur  zur  selbständigen  Persönlichkeit 
wird  (nach  K.  v.  d.  Steinen):  Zeitschr.  f.  Volkskunde  4  (1894)  S.  104.  — 
Ebendort  S.  135  teilt  Sajaktzis  in  seinem  Artikel  über  Grllcowalachische 
Sitten  u.  Gebräuche  Folgendes  mit:  ''Nach  strenger  Forderung  des 
weiblichen  Aberglaubens  hebt  man  ein  Stückchen  des  Nabelstran- 
ges .  .  .,  welcher  vertrocknet  abfällt  und  auch  acpalog  =  oiicpaXog  heißt, 
sorgfältig  auf,  um  es  nach  einigen  Jahren  dem  Kinde  zu  zeigen,  'da- 
mit ihm  alles  geschickt  vou  der  Hand  gehe'.  Deswegen  sagen  die 
Frauen  mitunter  von  einem  Vielgeschäftigeu :  'Der  hat  seinen  acpalög 
gesehen'.  Nachdem  dieser  seine  wohltätige  Aufgabe  erfüllt  hat,  wird 
er  in  die  Tiefen  eines  Koffers  oder  eines  ähnlichen  Behältnisses  zur 
Ruhe  gelegt,  damit  er  besonders  vor  Nässe  geschützt  wird,  weil  sonst 
das  Kind  an  Leibweh  zu  leiden  hätte  .  .  .  Bei  uns  kommen  folgende 
Phrasen  vor:  „Das  kehrt  mir  den  Nabel  um",  oder:  „Darüber  verliert 
man  den  Nabel"  {(lov  ^eazQS^psv  6  acpaXog  —  ji'  iq)vysv  o  acp.)  bei 
Dingen,  die  Ekel  oder  Furcht  erregen.  Auch  sagt  man:  „Das  geht  mir 
nicht  vom  Nabel"  (dsv  ix'  ^g^srai  anb  rbv  aqpa^ö,  dhv  fiov  '•Jtfiys  'g  rbv 
acpciXo)  statt  dessen  häufiger:  „Das  kommt  mir  vom  Herzen,  das  geht 
mir  zu  Herzen"  usw.'  lauter  Belege  für  die  Tatsache,  daß  auch  heute 
noch  in  Hellas  der  Nabel  als  Sitz  der  Seele,  des  Gemüts  aufgefaßt  wird. 

A-us  Wlislockis  Aufsatz  ^Zigeunertaufe  in  Südungarn'  (Am  Ur- 
quell n  [1891]  S.  21)  stammt  folgende  Mitteilung;  „Die  Nabelschnur 
besitzt  nach  dem  Glauben  der  Zigeuner  die  Kraft,  böse  Geister  vom 
Kinde  fern  zu  halten,  deshalb  wird  auch  das  Kind,  sobald  es  krank 
ist,  mit  einem  Stück  von  der  aufbewahrten  Nabelschnur  geräuchert. 
Die  Nabelschnur  nennen  die  nordungarischen  Zigeuner  'Gottes  Kette' 
oder  'Gottes  Seil'."  —  Weitere  abergläubische  die  Nabelschnur  be- 
treffende Gebräuche  s.  Am  Urquell  HI  (1892)  S.  282  (Hamburg),  S.  2  78  f. 
(Serbien),  S.  94  (Zigeuner). 


loo  \Vii,iii.iM  Hkinuicu  l'osciiKu:  [7°»  2 

Die  '  Omfaloiuaii/.iii '  in  lliimilnicn  uiul  Sizilien  behiuulclt  Mk- 
KiNOKU  in  ilor  Zoitsibrift  'Wörter  und  Siulicn',  Kultnrliistor.  Ztachr.  1". 
Sprach-  »lud  Sachforseluin«?  V  (,i<)i3)  S.  A^-  -  KWondort  S.  46  f.  u.  40 
linden  sich  wertvolle  Hoin('rkun<»on  über  allcrli-i  HrxiohunRon  »Ich  Na- 
heis zum   Vcrstaiulü. 

Zu  S  19  Anni.  .u  =  ^Vie  bei  <lcii  Indern  ualdi-i-s  nicht  bloü  Nabel 
sondern  auch  Verwandtschaft  bedeutet,  so  ist  auch  bei  den  Ara- 
bern der  Nabel  Symbol  und  Ausdruck  für  Verwandtschaft  (Uhodoka- 
NAKis,  'Wörter  u.  Sachen'  S.  201   Anm.  Sil".). 

Zu  S.  31  trage  ich  nach  aus  Apulej.  Asclep.  24:  Terra  nostra 
(Aegyptus)  muudi  totius  est  templum  .  .  .  sedos  religionum  .  .  . 
terra  sanctissinm  ,  .  .,  Ausdrücke,  die  wohl  am  besten  auf  Ägypten 
als  Zentrum  der  Erde  bezogen  werden. 

S.  39  Anm.  74  füge  hinzu:  Auch  Jacouv  im  Artikel  Hekataios  bei 
Pauly-Wissowa  schließt  aus  den  von  mir  a.  a.  0.  zitierten  Stellen,  dal) 
auf  der  altmilesischen  Weltkarte  nicht  Delphi,  sondern  ein  Punkt 
loniens  das  Zentrum  darstellte. 

S.  41  Anm.  79  verweise  ich  jetzt  auch  auf  llippolyt.  ref.  4,49 
p.  122,  5tf.:  vnöntSQOS  tc^av  6  -nsQuivcav  ixartpoutf  tovq  nölovg  Sia. 
[liorii  vT,?  yfjs  xal  arQHpoiv  rbv  kÖghov.  Vgl.  dazu  Ei.sler,  Welten- 
mantel etc.  S.  324,  2  u.  583. 

S.  42  Mitte.  Nach  Scuoemann-Lipsius,  Griech.  Alt.*  IT  S.  328  saß 
die  Pythia  'auf  einer  radförmigen  Scheibe'  (V),  Die  Bildwerke  zeigen 
sie  dagegen  meist  auf  dem  Dreifuß  sitzend. 

Zu  S.  45.  Leider  habe  ich  bei  der  Anführung  der  auf  die  an- 
tiken Windrosen  (orbes  ventorum)  bezüglichen  Stelle  des  Plinius 
(18,  326fF.)  übersehen,  daß  auch  Vitruvius  i,  6,  6  u.  12  davon  handelt. 
Vgl.  dazu  jetzt  Rkum,  Griech.  Windrosen  8.  12 f.  (Münch.  Akad.  1916) 
und  meine  Anzeige  dieser  Schrift  in  der  Wochenschr.  f.  klass.  Philol. 
19 17  Sp.  849,  wo  ich  die  Ansicht  ausgesprochen  habe,  daß  es  sich  bei 
dem  von  Plinius  angegebeneu  Verfahren  nicht,  wie  Rehm  meint,  um 
^ine  'Vergröberung',  sondern  vielmehr  um  eine  ältere  (primitivere) 
Vorstufe  ded  gleiche  Zwecke  verfolgenden,  im  Laufe  der  Zeit  weiter 
vervollkommneten  Verfahrens  handelt.  S.  auch  Lelewels  (Geogr.  du 
moyen  äge  I  p.  LXXX  [ProlL]  u.  II  p.  134)  Bemerkungen  über  die 
ältesten  Seekarten,  die  auf  der  Windrose  beruhten. 

S.  64  füge  jetzt  zu  der  Ableitung  von  (5^(p}/ hinzu  Ps. -Luc,  Nero  10 : 
acd  yun  dt]  xai  to  Uv&ixov  otÖuiov,  Trag'  oh  cd  ducpccl  äviitvtov^ 
anofpQäxtsiv  wq^tigbv  (6  N^qwv),  tag  ^rjdh  rä  'AndlXavi  qxovrj  eI't}. 

Zu  S.  90  Abschn.  10.  Nach  Wolters  (Sitzungsber.  d.  Münch. 
Akad.,  Philos.-hist.  Kl.  191 5  III  S.  21  Anm.  i)  ist  nur  ein  einziger 
Omphalos  im  Apollotempel  von  Pompeji  gefunden  worden. 

S.  94  Nr.  22   handelt  es   sich  nach  Bethe,  Thebau.  Heldenlieder 


70,  2]     Der   OsrPHALOSGEDANKE   BEI   VERSCHIEDENEN  VÖLKERN.        I O I 

S.  14  um  eine  Befragung  des  pythischen  Apoll  von  Seiten  des  Laioa 
(nicht  des  Oedipus). 

S.  96  Anm.  175.  Ein  weiteres  Zeugnis  für  dieselbe  Tatsache 
bietet  uns  Aristot.  Met.  2,  5,  13:  Jib  xat  yeXoiag  ygdcpovoi  vvv  rag 
nsQiöSovi  TT/?  yfig'  ygdcpovai  ydg  KvnXorsijij  rijV  oixovfiiv)]v.  Nach  Je- 
KEMiAs,  Handb.  d.  altorieut.  Geisteskultur.  Leipz.  19 13  S.  31,  bedeutet 
das  babylonische  Zeichen  Q  =  kis  =  All  =  orbis  terrarum. 

S.  113 f.  möchte  ich  jetzt  zur  Deutung  des  Omphalos  des  As- 
klepios  die  Frage  aufw'erfen,  ob  er  nicht  vielleicht  sein  omphalos- 
förmiges  Grab  bezeichnen  könnte.  Vgl.  sein  Grab  zu  Kynosura  und 
zu  Epidauros;  s.  Rohde,  Psyche*  I,  142,  2,  der  sich  auf  Clem.  AI.  protr. 
p.  18  D.  Cic.  de  nat.  deor.  57.  Clement.  Homil.  5,  21.  Recognit.  10,24 
beruft. 

S.  115  Ende  Anm.  206.  An  Miss  Harrison  haben  sich  neuerdings 
angeschlossen  Karo  im  Art.  Omphalos  des  Dict.  des  antiq.,  Bulard, 
Monum.  et  Mem.  Piot  XIV  (1907)  p.  621.,  Küster,  D.  Schlange  in  d. 
griech,  Kunst  u.  Relig.  =  Rel.-gesch.  Vers.  u.  Vorarb.  Xlll,  2  (1913) 
S.  70,  3.  Farxell,  Cults  of  the  gr.  states  IV  (1907)  S.  303.  Heisen- 
berg, Grabeskirche  I,  216.  S.  auch  Harrison,  Proll.  to  the  study  of 
Greek  relig.    Cambridge  1908  S.  588  fF. 

S.  118 ff.  Zu  den  omphalos  förmigen  Gräbern  gehört  wohl 
auch  unzweifelhaft  die  interessante  Darstellung  einer  von  Brückner, 
Jahrb.  d.  arch.  Inst.  VI  (1891)  Taf.  4  veröffentlichten,  von  Maass., 
Österr.  Jahreshefte  XI  (1908)  S.  15  f.  falsch  erklärten  Lekythos.  Hier 
sieht  man  zwei  einen  'weißen  Omphalos',  d.  i.  ein  Grab,  hütende 
mächtige  Schlangen,  die  einen  davoneilenden  Jüngling,  offenbar  einen 
Grabschänder,  verfolgen.  Maass  bemerkt  dazu:  'Die  Schlangen 
sind  die  Omphalosschlangen  (?),  wie  wir  sie  —  nur  im  rubenden 
Zustand  —  um  den  pythischen  und  delphischen  Omphalos  .  .  .  er- 
blicken. Also  gehört  der  umfriedete  Omphalos  auf  der  altattischen 
Lekythos  der  Ge,  einem  der  zahlreichen  Heiligtümer  der  attischen  Erd- 
mutter. Nachts  durchbricht  ein  Tempelräuber  (?)  die  Hecke  um 
den  Omphalos;  da  fallen  ihn  die  heiligen  Schlangen  an  mit  furcht- 
barem Biß'.  S.  IG  behauptet  M. :  'Die  Heiligtümer  der  Erdmutter 
pflegen  Kuppelform  zu  haben  und  o^icpaloi  'Nabel'  zu  heißen.  Nur 
Klügelei  (?)  machte  den  delphischen  Nabel  zum  'Erdnabel',  zur  Erd- 
mitte, falsch  schon  darum,  weil  es  viele  solche  'Nabi-'P  nachweislich 
im  griechischen  Kult  gegeben  hat.  Sie  standen  nachweislich  vielfach 
im  Kreuzungspunkt  der  Hauptstraßen  (E.  Curtius,  Abh.  I,  116).'  Ich 
glaube  kaum,  daß  M.  jetzt  noch,  wenn  er  meine  Abhandlungen  über 
den  ümphalosbegriff  gelesen  hat,  seine  Ansicht  aufrechterhalten  dürfte. 

Zu  S.  120  oben.  Hierher  gehört  wohl  auch  der  'conic  uavel  2™ 
in  height  and  diameter,   survounded    by  a  serpent  in  four  circles, 


I02  ^VlLlll^l.M  Hi;iNui(ii  KosniKu:  [70,  2 

with  nn  enormouB  liead.  Tliis  uavol  which  miiy  ho  coinpared  will» 
sevcral  plates  in  Uoschkus  treatises,  is  ]ila(M'il  upon  a  f^'igantic  qua- 
ilranpular  »tone  bUii-k  wliicli  scrves  as  iltf  iifilestal.  l'iulor  tlic  rock 
tbat  Supports  tbis  mouuuioiit  is  a  largo  rooui  with  niclit'a  Ibr  tho  re- 
ception  of  tbe  dead.'  Wensinik,  The  navel  of  the  eartli  S.  60.  Dai.- 
MAN,  Petra  I  p.  ^iStT. 

Zu  S.  123  oben.  Aucb  die  liabyloiiisrhc»n  (irenzstei  nc  {oqoi  = 
kudurru"*  baben  konische,  oni])balosfüniiige  (.icstalt;  h.  Jeuemias,  Uaudb. 
d.  altor.  Geisteskultur  S.  108  Abb.  82. 

2.  Zu  Neue  Omplialosstiulien. 

S.  II.  In  der  Saj^'C  von  der  Arj,'o  (Ri)S(  mkk,  Die  Zahl  50  S.  in 
Auui.  iSg)  ist  der  Sitz  des  orakelnden  l>äinons,  der  sich  als  die  Seele 
des  Schiffs  auffassen  läßt,  in  das  Zentrum  des  Schitfskieles,  also  ge- 
vrissermaßen  den  ö^iifaXög  r^g  vswg  verlegt. 

S.  36  füge  man  noch  folgende  auf  das  delphische  crS^tov  bezüg- 
liche Zeugnisse  hinzu:  Jamblich,  de  myst.  3,11  p.  123,13  Parthey: 
Ol  dh  GTouloig  (man  beachte  den  Plural!)  TtaQHKa&r'nisvoi,  wg  ai  iv 
JsXffoig  Q'saTTi^ovaai.  —  ib.  p.  126,5:  ij  S'  iv  JsXcpolg  nQoqtfjtig,  eI'ts 
6c7to  itvEv^aTog  Xinrov  xa!  Tti'nwdovg  ccvacpsQO^^vov  noQ'hv  Scnu  ffTO/i/ov 
&sm6TsvEL.  —  ib.  p.  120,11:  t6  &vo:(ffQ6^Evov  &no  rov  CTOiilov  tivq. 
Ürigon.  c.  Geis.  8,  3:  Die  Pythia  weissagt  Ttsgixa&e^o^ivri  rb  t^s  Ka- 
GTuXiccg  [=  Kaa6oziSog<\  atöaiov.  Vgl.  dazu  W.  Nestle  in  Wochen- 
schrift f.  klass.  Philol.  1916  Sp.  147.  Fehblr,  Kultische  Keuschheit, 
Gießen  1910  S.  7. 

Zu  S.  46  ist  jetzt  hinsichtlich  des  Verständnisses  von  Varro  de 
1.  1.  7,  17  zu  verweisen  auf  meinen  ''Omphalosgedanken'  S.  61  Anm.  105. 

S.  62  ff.  Zu  den  „problematischen  Omphaloi"  gehört  wohl  auch 
der  neben  einer  hellenistischen  männlichen  Gewandfigur  (die  im  T  h  e  a  t  e  r 
gefanden  wurde)  stehende  Nabelstein,  abgebildet  bei  Kothe-Watzinoeb, 
Magnesia  am  Maeander  1904  S.  208.  Watzinger  meint,  daß  ein  Dichter 
dargestellt  sei;  der  Omphalos  deute  darauf.  Ich  verdanke  diese  Notiz 
einem  Briefe  0.  Kerns  vom  12./X.  1918. 

3.  Zara  Omphalosgedanken. 

Zu  S.  12  Anm.  17  kommt  jetzt  noch  hinzu  das  Zeugnis  des  Am- 
brosiuB  ed.  Migne  P.  L.  XV  1 961  ff.:  In  medio  autem  ludaeae  civitas 
Hierosolyma  quasi  umbilicus  regionis  totius,  ut  prudentibus  pla- 
cuit,  nuncupatur. 

S.  29f.  Anm.  38  läßt  sich  die  Reihe  der  Zeugnisse  noch  weiter 
ergänzen  durch  folgende:  S.  Cyrilli  Hierosolym.  archiep.  [f  386]  cate- 
chesis  XIII  (De  Christo  crucifixo  et  sepulto)  =  Migne  P.  Gr.  33  p.  805: 
'E^sJteracsv  iv  ctccvQä  rag  x^^Q^?^   ^va  TtSQiXdßr}  xfig  oiY.ovyiivr\g  rä  ni- 


70,2]  Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.      103 

iiuxa.  xfig  yccQ  yrjs  t6  ^samrarov  6  FoXyo&äg  ovTog  ieriv.  —  Hilarii 
cpiscop.  [t  367]  Comment.  in  Matth.  cap.  XXXIII  =:  Migne  P.  L. 
IX,  1073:  Locus  deinde  crucis  talis  est,  ut  positus  in  medio  terrae, 
et  tamquam  in  vertice  huius  univeraitatis  [Höhenlage!]  insistens,  ad 
capessendam  Dei  cognitionem  universis  gentibus  esset  aequalis.  — 
Didymi  Alexandr.  [f  394]  de  triuitate  1.  1  =  Migne  P.  Gr.  39  p.  324: 
JuvtS  Si  iv  0/'  i/jalficö  iieqI  rov  araQ^ov  [versio  lat. :  de  aeterno]  ipdX- 
Xcov.  'O  Sh  9sog  ßccatXsvg  ijumv  ngoaimviog  sigyccaaro  oarrigiav  iv  yiiecp 
tf]g  yfjg.  ÄeyBt  ds  rov  FoXyod'&v,  toicov  ^s  6  mzccrov  huI  olovsl 
nEVTQOv  .  .  .  övoiicc^cov  ccvTov.  —  Vgl.  fcruer  Klameth  a.  a.  0.  107,  der 
als  weitere  Zeugen  anführt:  Chrysost.  Homil.  85  =  Migne  P.  Gr.  459. 
Theopliylact.  Enarr.  in  Evang.  Matth.  27,  33—37  =  Migne  P.  Gr. 
OXXin,  468. 

S.  57  möchte  ich  jetzt  hinzufügen,  daß  auch  Bethlehem  bis- 
weilen als  Zentrum  der  Erde,  als  Geburtsort  Christi  und  als  der  Ort 
hingestellt  wird,  wo  Adam  erschaffen  wurde.  So  z.  B.  in  einer  latei- 
nischen Handschrift  der  Schlettstädter  Sammlung  Nr.  1093.  S.  M.  För- 
ster im  Arch.  f.  Rel.-Wiss.  XI  (1908)  S.  518:  Incipit  de  plasmationem 
Adam.  Ubi  (=  ibi)  Dens  Adam  plasmavit,  ubi  Christus  natus  est  hoc 
<;^est^  in  Bethleem  civitatem,  ubi  et  medius  mundus  est, 

S.  63  hätte  wohl  auch  die  von  Svokonos  (Journ.  Internat.  d'Ar- 
cheol.  Numismatique  XIV  (19 12),  S.  22)  aufgestellte  Hypothese  Erwäh- 
nung verdient,  daß  durch  die  genau  in  der  geometrischen  Mitte 
der  Grundfläche  der  athenischen  Akropolis  in  den  Felsboden  einge- 
meißelte Inschrift  Ffig  KaqiioffÖQQV  v,aTa  iiavreiccv  die  Stelle  bezeichnet 
worden  sei,  wo  sich  nicht  bloß  ein  ayuXiiu  Frig  (Paus,  i,  24,  3),  sondern 
auch  ein  dieser  Göttin  geweihter  Omphalos  befunden  habe,  der  in 
den  Skizzen  des  westlichen  Parthenongebiets  von  Carrey  und  Nointel 
unter  den  Vorderfüßen  des  vordersten  sich  bäumenden  Rosses  vom  Ge- 
spann der  Athene  noch  deutlich  sichtbar  sei  (vgl.  Omphalosstudien 
S.  22  f.).  Es  wäre  ganz  erfreulich,  wenn  diese  Vermutung  durch  weitere 
Forschung  oder  Entdeckung  bestätigt  würde,  was  bis  jetzt  noch  nicht 
der  Fall  ist. 


A.  Systeinalisclie   Inliallsübcrsicht. 

Strile 

Vorwort III 

I.  Der  Gedanke  eines  Zentrums  ('Nabels')  der  Erde  bei 

denVölkern  des  Ostens i 

i.DieChineseii i 

2.  Die  Turkstämmc  Südsibirieus i 

3.  Di i^'   Inder 2 

Die  runde,  in  7  konzeutrisclie  durch  Berye  und  Meere 
Toneinnnder  getrennte  dripa  (Inseln)  zerfallcndi-  Erd.scheibe 
der  Inder  (Mabfibharata):  S.  2.  —  Ibr  Zentrum  ist  Indien, 
dessen  Mittelpunkt  wieder  entweder  durch  den  Berg  Meru 
oder  durch  die  in  Zentralindien  gelegene  Stadt  dos  Vikra- 
mäditya  Uggajini  (Ozene,  Asin)  gebildet  wird:  S.  2.  — 
Diese  Vorstellung  von  der  zentralen  Lage  und  dem  Meri- 
dian von  Ozene- Asin  ist  im  13.  Jahrh.  auch  in  die  geo- 
graphische Literatur  der  Araber  und  aus  ihr  in  die  des 
christlichen  Mittelalters  übergegangen:  S.  3.  —  Auch  die 
Insel  Zeylon  mit  ihrem  Adam^jik  und  die  rUtselhafte  vom 
Istrier  Aithikos  erwähnte  Insel  Syrtinice  scheinen  in  diesen 
Zusammenhang  zu  gehören:  S.  5. 

4.  Die  Assyrer  und  Babylonier 8 

Der  berühmte  arabische  Geograph  Ja'kübi  erklärt  den  'Irak 

(==  Mesopotamien  und  Chaldaea)  für  den  'Nabel'  der  Welt 
und  Baghdad,  nicht  Mekka  oder  Jerusalem,  wieder  für  die 
Mitte  des  '"Irak.  Das  erklärt  sich  höchst  wahrscheinlich 
ans  altbabylonischer  Vorstellung,  weil  Baghdad  in  un- 
mittelbarer Nähe  des  alten  Babylon  gelegen  ist:  S.  8.  — 
Babylon  erscheint  als  6.  yijg  auch  in  der  Sage  vom  Turm- 
bau zu  Babel:  S.  9.  —  Brief  Prof.  J.  Hehns  (Würzburg) 
mit  weiteren  Gründen  für  die  Annahme,  daß  Babylon  das 
Zentrum  der  Erde  war:  S.  10.  —  Das  Gleiche  scheint  nach 
Aithikos  auch  von  Ninive  zu  gelten:  S.  11.  _ 

n.  Der  Omph alosge danke  bei  den  Juden 12 

A)  Jerusalem  als  Nabel  der  Erde  (vgl.  Omphalos  S.  24ff. 

u.  Neue  Omphalosstudien  S.  i5f.) 12 

Wesentliche  Vermehrung  des  Zeugnismaterials  durch  Wen- 
sixcKs  und  Klameths  Arbeiten:  S.  12.  —  Die  ältesten  lite- 


70,2]    Der  Omphalosgedanke  BEI  VERSCHIEDENEN  Völkern.     105 

Seit» 

rarischen  Belege  finden  sieh  bei  Jesaias  2,  2  und  Ezechiel 
5^  5.  g.  13.  —  Über  die  Vorstellung,  daß  Jerusalem  nicht 
bloß  die  zentralste,  sondern  auch  die  höchstgelegene  Stadt 
der  Welt  sei:  S.  13.  —  Der  Stein  Schetija  als  ö^cpalbg  yijg 
und  Ausgangspunkt  der  Weltschöpfung:  S.  14.  —  Die  Prä- 
existenz dieses  Steines  und  des  Heiligtums  in  Jerusalem 
nach  jüdischen,  syrischen  und  arabischen  Quellen:  S.  15. — 
Der  Hauptgrand  für  diese  Anschauung  liegt  in  der  Ver- 
gleichung  des  embryonalen  Nabels  mit  dem  Nabel  der 
Welt  oder  der  Erde:  S.  16.  —  Zeugnisse  für  Jerusalems 
Bedeutung  als  Erdnabel  aus  dem  Buche  Henoch,  dem  Tal- 
mud und  Midrasch:  S.  17.  —  Zeugnisse  aus  dem  christlichen 
Mittelalter:  die  Kreuzprobewunderlegende,  das  Zeugnis  des 
Adamnauus  (Arculfus),  des  Baeda,  Victorinus  Pictabionensis,  . 
des  Typikon  (vor  720):  S.  18.  —  Das  noch  heute  in  der 
griechischen  Kathedrale  bestehende  Denkmal  der  Erdmitte: 
S.  23.  —  Die  mittelalterlichen  Weltkarten  mit  Jerusalem 
als  Mittelpunkt:  S.  23. 
B)  Der  Ompbalos  in  der  Adamlegende 25. 

1.  Die  Adamlegende  von  Golgotha 25 

Das  Zeugnis  des  äthiopischen  Adambuches:  S.  25.  — 
Adams  Grab  im  Golgothafelsen  unterhalb  des  Ortes  der 
Kreuzigung:  S.  26.  —  Das  Zeugnis  der  syrischen  Spelunca 
tbesaurorum  (Schatzhöhle):  S.  27.  —  Die  Zeugnisse  des 
Origenes,  Athanasius,  Ambrosius,  Basilius:  S.  28.  —  Sie 
alle  machen  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Adamlegende 
von  Golgotha  jüdischen,  vorchristlichen  Ursprungs  ist, 
aber  später  von  den  Juden  nach  Hebron  verlegt  wurde: 

g_  33_  _  Die  Zeugnisse  für  die  Sage,  daß  Adam  auf 
Golgotha  auch  erschaffen  worden  sei:  S.  33. 

2.  Die  Adamlegende  von  Zion  und  Morija 34 

Sie  unterscheidet  sich  von  der  auf  Golgotha  lokalisierten 
Legende  dadurch,  daß  für  sie  mehr  das  Motiv  der  Er- 
schaffung, als  das  der  Bestattung  Adams  in  Betracht 
kommt:  S.  34.  —  Zeugnisse  des  Rabbi  Elieser  und  der 
MixQa  riveciq:  S.  34.  —  Spätere  Übertragung  dieser  Sage 
auf  Mekka:  S.  36.  — Verlegung  des  Paradieses  in  die  Nähe 
von  Zion  und  Morija  nach  späteren  jüdischen  Quellen,  weil 
das  Paradies  ebenso  wie  Jerusalem  zugleich  das  Zentrum 
und  die  höchste  Erhebung  der  Erdscheibe  bedeutet:  S.  36. 

3.  Adam  und  Eva  in  Hebron  bestattet 40 

Merkwürdiger  Widerspruch  der  Zeugnisse  des  Hierony- 


io6  WiMii-.LM  Heinuich  Röscher:  [70,2 

Hoito 
nius,  der  zuorat  l'iir  (iolgothn,  fli)iUer  Tür  Ili-Lron  ciii- 
Rctreton  ist:  S.  40.  —  Weitere  Zeiijfnisao  der  spüteren 
jüdischen  Literatur  (Sola,  Knihiii,  Halm  Jxitra  usw.): 
S.  41.  —  0:18  ''Hininiclstor'  v.u  Hebron  und  'die  übor 
Hebron  li«'<,'endo  himiuliacbo  (JottcHstadt':  S.  44-  —  I^ies 
alloB  If^t  (lio  Vermutung  nahe,  daß  Hebron  in  ältester 
Zeit  auch  den  Anspruch  erhoben  hat,  ebenso  wie  .leru- 
ealeni  und  Sichern,  der  ö^tpaiäi?  yfjg  zu  sein:  S.  45. 
4.  Die  Adttmleirenden  von  Babylon  und  DamaHkua    4(< 

111.  Weitere  ö/iqpailoi  yfjg  in  Palästina 4^ 

a)  Sichern     und    Oavizim    (aamarita  nißche    Überliefe- 
rung)  40 

Hohes  Alter  des  Kultes  von  Sichern,  der  schon  in  der  ka- 
uaanäischen  Urzeit  ein  hochheiliger  Ort  gewesen  sein  muß: 

S.  49.  —  Sichern  als  Konkurrent  Jerusalems  zur  Zeit  der 
Samaritauer:  S.  so.  —  Der  Jehovatempel  arf  dem  Berge 
Garizim  als  Gegenstück  zum  Tempel  Jerusalems  und  als  Erd- 
nabel, als  welcher  der  Garizim  auch  schon  Richter  9,  37 
('Nabel  des  Landes')  erseheint:  S.  51.  —Weitere  Zeugnisse 
aus  der  talmudischen  uud  christlichen  Literatur,  wonach 
der  Garizim  von  der  Sintflut  nicht  bctroCTuu  und  der  aus 
Ev.  Job.  4  bekanute  Jakobsbrunnen  geradezu  als  'umbili- 
cus  terrae  nostrae  habitabilis'  mit  einer  eigentüm- 
lichen, auch  für  andere  umbilici  terrae  charakteristischen  Be- 
gründung angesehen  wurde:  S.  52. 

b)  Bethel 54 

Auch  Bethel  war  seit  der  kauaanäischen  Urzeit  ein  hoch- 
heiliger Ort  und  die  Stätte,  wo  Jakob  im  Traume  die  'Him- 
melsleiter' erblickte,  es  galt  für  'den  Wohnsitz  Gottes  imd 

die  Pforte  des  Himmels'  (Gen.  28,  11  ff.):  S.  54.  —  Daß  der 
daselbst  von  Jakob  errichtete  Denkstein  wahrscheinlich  ein 
ÖLLcpaXog  yfjg  gewesen  ist,  geht  aus  späteren  jüdischen  uud 
christlichen  Überlieferungen  hervor,  die  geradezu  Bethel  als 
'Mittelpunkt  der  Erde'  und  den  Denkstein  des  Jakob 
als  'Grundstein  der  Erde'  und  'Nabel  der  Welt', 
d.  li.  als  Parallele  zum  Stein  Schetija  im  Heiligtum  Jeru- 
salems, bezeugen:  S.  56. 

IV.   Mekka  als  Nabel  der  Erde 57 

Zwar  haben  Mohammed  und  seine  ältesten  Anhänger  noch 
Jerusalem  als  Mittelpunkt  der  bewohnten  Erde  angesehen,  aber 
früh    schon   kam   im  Islam   die  Ansicht   auf,   daß  Mekka   und 


70,  2]    Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.     107 

ijeite 
speziell  die  Ka''aba  mit  dem  heiligen  schwarzen  Stein  den 
Nabel  der  Erde  darstelle:  S.  57.  —  Übertragung  altjüdischer 
auf  Jerusalem  bezüglicher  Vorstellungen  auf  Mekka  nach  ara- 
bischen, von  Wensinck  gesammelten  Zeugnissen:  S.  58.  —  Alt- 
arabische Weltkarten  mit  Mekka  als  Zentrum:  S.  s8.  —  Die 
Vorstellung,  daß  Mekka  der  höchstgelegene  Ort  auf  der  Erde 
und  deshalb  von  der  Sintflut  nicht  berührt  worden  sei:  S.  S9-  — 
Die  Präexistenz  Mekkas  und  der  Ka'aba:  S.  60,  —  Übertra- 
gung der  Legenden  von  Adam  und  Abraham  nach  Mekka: 
S.  60.  —  Das  Grab  Evas  zu  Dschedda  als  Nabel  der  Erde: 
S.  6i. 

V.  Der  Omphalos  von  Athen  und  Eleusis 61 

Der  von  den  Peisistratiden  gestiftete  Zwölfgötterultar  als   a6- 
rso?  6ii(p(xXbs  d-vosig  nach  Pindar:  S.  62.  —  Athen  als  6ii(p(xlbg 
{^taov)  rfjg  'EXläöoc;  -acxI   Jtdarig  oiv.oviiivi]g   nach  Xenophon  de 
vect.   I,  6  und  Aristeides  Panath.  99:  S.  62.  —  Weitere  Zeug- 
nisse für  denselben  Gedanken  liefern  uns  zwei  schöne,  neuer- 
dings an  der  Stätte  des  eleusinischen  Telesterions  aufgefundene 
Pinakes  und  drei  auf  die  eleusinisciien  Gottheiten  (Mysterien) 
bezügliche   Vasenbilder,    die    sämtlich    einen    deutlichen   Om- 
phalos  zur  Bezeichnung   des  Ortes,   wo   die   heilige  Handlung 
stattfindet,  zur  Darstellung  bringen:  S.  64. 
a)  Der  Ninuion-Pinax:  S.  64.  —  b)  Die  Vase   von   Sta  Maria 
di  Capua:  S.  68.  —  c)  Der  boiotische   Teller   mit    der   vor 
einem   'üuiphalos'    thronenden    Demeter    oder   Persephone: 
S.  70.  —  d)  Die  in  Kreta  gefundene  attische  Vase  des  Zen- 
tralmuseums in  Athen  Nr.  1442.  S.  72.  —  e)  Der  zweite  im 
Kaume   des   eleusinischen  Telesterions  (zusammen  mit  dem 
imter  a  behandelten)  gefundene  Pinax:  S.  73. 
Schlußfolgerung:    Im   Hinblick    auf   diese    5   monumentalen 
Zeugnisse   kann   die   einstige  Existenz   eines  richtigen  Om- 
phalos im  Kult  der  eleusinischen  Gottheiten  nicht  mehr  be- 
zweifelt werden:  S.  75.  —  Daß  es  sich  aber  im  Grunde  um 
einen  oucpalbg  yfjg  im  eleusinischen  Mysterieukult  handelt, 
folgt    mit    größter  Wahrscheinlichkeit    aus    der    Sage    von 
Triptolemoa,  in  der  Athen   als  Mittel-   und   Ausgangs- 
punkt aller  auf  den  Segnungen  des  Ackerbaus  beruhenden 
höheren    Kultur   und    Gesittung    erscheint:    S.  76.  —  Zeug- 
nisse des  Isokrates  (Panegyr.  28  ff )  und  des  Piaton  (Menex. 
p.  237):  S.  76.  —  Daß  der  Erdnabel   des   eleusinischen  Ge- 
heimkults bis  jetzt  nur  monumental,    nicht   literarisch  be- 
zeugt ist,  beruht  auf  dem  außerordentlichen  Einflüsse  Del- 

PMl.-hist.  Klasse  1918.   Bd.  LXX.  2.  8 


io8  Wii.iiKLM  TTKiNimii  UoscHKu:  [70,2 

Seit« 
phis,  das  jede  offen  auftretende  Konkurren/,  energisch  und 
erfolgreich  /.u  bokiinipfin  wußte:  S.  78. 

VI,    Die  Ägypti'i- 79 

Der  kürzlich  im  Orakeltempel  des  Amon  von  Napata  (Nubien) 
ausgegrabene  und  von  Grikfitm  in\  .louru.  of  egypt.  Archaool. 
m  (1916)  255  ff.  besprochene  und  veröffentlichte  Omphalos- 
Btein:  S.  79.  —  Er  bestätigt  die  Nachricht  des  Curtius  liufus 
(IV,  7\  wonach  das  Idol  des  von  Alexander  d.  (ir.  belVagten 
Amonorakels  der  Gase  Siwa  in  Libyen  „umbilico  maxime 
eimilis"  war:  S.  80.  —  Beide  Kulte,  sowohl  der  von  Napata 
als  auch  der  von  Siwa,  sind  Ableger  des  thebanischcn  Amon, 
dessen  Orakel  ebenfalls  hocliberühuit  war;  Theben  giilt  aber 
wahrscheinlich  als  Mittelpunkt  ('Omphaloa')  Ägyptens:  S.  81. 
—  riKTsciiMANNs    AuffassuHg   des    'umbilicus'   von   Siwa   als 
Tabernakel":  S.  82.  —  Gegen    diese    Ansicht  und    für   die 
Deutung  als  6ii(fixX6s  spricht  erstens  der  Umstand,  daß  der 
Stein  von  Napata  nicht  hohl,  sondern  massiv  i.st  und  zwei- 
tens daß  sowohl  der  'umbilicus'  von  Siwa  wie  der  von  Na- 
pata bereits  einer  Zeit  angehören,  die  griechischen  Einflüssen 
ausgesetzt  war,   so   daß   das   ursprünglich   mehr   sack-   oder 
schlaucbähnlich  gestaltete  Idol  von  Theben  später  die  Form 
des    delphischen    Omphalos    annahm:    S.  83.  —   Literarische 
Zeugnisse    für    die    Geltung   Ägyptens    als   Land    der   Mitte 
(Stob.  ecl.  I  p.  302  M.  u.  HorapoU.  I,  21  a.  E):  S.  84. 

Vn.  Die  Etrusker,  Italiker  und  Germanen 

Wie  es  scheint,  weist  der  eigentümliche  als  etruskisch  be- 
zeichnete Ritus  bei  der  Gründung  von  Städten,  insbesondere 
die  Anlage  eines  sogen,  'mundus'  im  geometrischen  Zen- 
trum des  Stadtplanes  auf  die  einstige  Existenz  des  Om- 
phalosgedankens  auch  bei  den  Italikern  hin:  S.  86.  —  Die 
runde  Form  dieses  ' mundus''  und  die  ebenfalls  in  der 
Hauptsache  runden  Stadtmauern  und  Stadtgräben,  die  dem 
runden  Horizont  (Himmel)  oder  dem  orhis  terrarum  ent- 
sprechen, scheinen  anzudeuten,  daß  Cato  b.  Fest.  p.  154 
Recht  hat  mit  seiner  Erklärung:  'Mundo  nomen  impositum 
est  ab  eo  mundo  qui  supra  nos  est  [d.  h.  dem  caelum, 
"OXviiTtog]:  forma  enim  eins  est,  ut  ex  bis,  qui  intravere 
cognoscere  potui,  adsimilis  illi  [also  rund  und  gewölbt]: 
S.  88.  —  Wahrscheinlich  ist  'mundus'  in  diesem  Falle  ein 
euphemistischer  Ausdruck  für  die  „untere  Welt" 
oder  „Unterwelt",  d.  h.  die  Welt  der  abgeschiedenen  Gei- 
ster (manes) :  S.  89.  —  Eine  treffliche  Parallele  zum  italischen 


86 


70,2]   Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern.      109 

Seite 

„mundus"  bildet  der  ^ Dillestein''  der  Germanen,  der  dieselben 
Beziehungen  zum  Totenreiche  besitzt  und  zugleich  das  Zen- 
trum der  Erde  bildet:  S.  89. 

VUl.  Der  Omphalosgedanke  bei  den  Kelten 90 

Die  von  dem  französischen  Keltologen  Loth  hervorgezogenen 
45eugnisse  Cäsars  (de  bell.  Gall.  6,  13)  und  des  Giraldus  Gam- 
breusis  Topogr.  Hibern.  3,  4:  S.  91.  —  Das  Zeugnis  der 
Aventure  de  Lludd  et  Llevelys:  S.  92.  —  Weitere  Belege 
für  die  einstige  Existenz  des  Omphalosgedankens  bei  den 
alten  Kelten:  S.  93. 
IX.  Der   Erdnabel    der    Luiseno-Indianer    Kaliforniens     97 


X.  Nachträge 


o 


99 


XI.  Systematische  Inhaltsübersicht 104 

XII.  Alphabetisches  Inhaltsverzeichnis iio 

Xin.  Stellenregister 115 


Aliilialu'lisclu's  Inlialtsvcrzcicliiiis. 

Die  Moßo  Zahl  bedeutet  die  Seite,  ein  vor  iHe  Zritil  gosotzleB  A  ^j  Anmerkung. 

Abrahaiii    erbaut    den  Tempel  von    Aej^fj-pten  =  Land    der  Mitte:    82 f. 

Mekka:  60  A.  102.  |        84. 

Abukais  =  Grabstätte  Adams:  60.     —  =  templuiu  lotius  muudi :  A.  1.^3. 
Adam  auf  «lolLrotlia  orM-liatfen:  33  99- 


A.  40. 


—  ^  Herz  der  (»ikumene  A.  133. 


—  in  Mekka  erscbafiFeu:  36  A.  53.  Agrai  (Myeterienfeier):  69. 

—  auf  Garizim  erschatFen:  52  A.q3.  Altar  des  Tempels  v.  Jerusalem  u. 

—  in  Bethlehem  erschafFeu:    103.  seine    Beziehungen    zu     Adam, 

—  in  Mekka  begraben:  30  A.  56.  Abel  etc.:  3s  A.  S"t". 

—  im  Paradiese  begraben:  37  A.  56.  Ammonidole    (schlauchartige)     von 

—  im  Golgothafelsen  bestattet:  22.         Theben  85 f. 


wohnt  aut  Morija:  43  A.  70. 
wohnt  auf  d.  Arafat:  61  A.  104. 
==  Adapa  (?):  47. 


Animonorakel  von  Riwa:  82  f. 

-  von  Napata:  79  ff- 

—  von  Theben:  79 f. 


25 f.  I  Arabische  Weltkarten:  >  8. 
Arafat:  61  A.  104. 


Adambuch,      aethiopisches: 

A.  34- 

Adamkapelle  auf  Golgotha:  32  A.43.  Arin  (Asin)  =  Ozene  (s,  d.). 

Adamlegende  von  Golgotha:  25 ff.  Athen  :=  ^r  niow  r.Träarig  yfjg:  ö2ff. 

— jüdische,   vorchristl. :    29  Attika  =  Zentrum    der    Üikumene: 


A.  38- 

—  von  Zion  u.  Morija:  34 ff. 

—  von  Babylon:   11.  46 ff. 

—  von  Bethlehem:  103. 

—  von  Damaskus:  46 ft". 

—  von  Zeylon:  6  A.  9.  46  ff. 

—  von  Mekka:  46 ff. 
Adampik  auf  Zeylon:  6  A.  9. 
Adams  Grab  zu  Hebron:  30  A.  38. 

33-  A  44. 

—  Grab     verehrt    von     den    Banu 
Scheth:  33  A.  45. 

—  Riesengröße:  30  A.  38. 

—  Schädel    im  Golgothafelsen  be- 
stattet: 26  ff. 


63. 


Baal  Berith  von  Sichem:  49  A.  86. 
Babylon  =  Nabel  der  Erde :  8  ff.  46  f. 
Bagdad  =  Nabel    der    Erde:     8 ff. 

A.  13. 
Bakchoi  =  Myrtenzweige:  65. 
Banu    Scheth    verehren    das    Grab 

Adams:  33  A.  45. 
Bethel  =  Nabel  der   Erde  etc. :  36 

A.  51.  44  A.  74.  5 5  ff. 
Bethlehem  =  Nabel  der  Erde,  Ge- 
burtsort   Christi    und    Ort,    wo 
Adam  erschaffen  wurde:  I03- 
Branchidai:  51  f.  75-  H  A.  132. 


70,  2]  Wilhelm  Heinrich  Röscher:  Der  Omphalosgedanke. 


1 1 1 


Britanniens    Mittelpunkt    (Nabel) : 

92  f. 
Bruere  =  Zentrum  Frankreichs:  91 

A.  139- 

Carnuten  -wolineu  im  Zentrum  Gal- 
liens: QI. 
China  =  Reich  der  Mitte:  r. 

Damaskus  =  Erdnabel  (?):  47- 

—  (Adamsage  von  D.):  47. 
Delos  =  Erdnabel:  52. 
Delphischer  (?)    Nabelstein  bei  der 

eleusin.  Feier:  66 if. 

Delfthisches  Orakel  eifersüchtig  auf 
alle  Konkurrenten:  78.  i 

Demeter  bei  der  Feier  der  Eleusi- 
nien:  6  5  ff. 

Deukalion:   14.  52. 

Dillestein  =  Erdnabel :  89  f. 

Dionysos  im  delph.  Adyton  be- 
graben (?):  67  ff. 

—  =  Daduchos  bei  der  Feier  der 
Eleusinien:  6  5  ff. 

Drachen  (Schlangen)  gefüttert  mit 
Hydromel,  Honig,  Milch:  93 
A.  142. 

Dschedda  ^  Evas  Grab:  61. 

—  =  Erdnabel:  61. 

Eden:  33  A.  45-   37-   45f-  5^  A.  93 

(Höchstlage). 
Eleusis  =  oiicpaXog  yf]s:  61  ff. 
Erdnabel  (s.  auch  Omphalos). 

—  bei  den  Chinesen:  i. 

—  „       „     Turkstämmen  Sibiriens : 

if. 

—  r.       .,     Indern:  2 ff. 

—  „       ,.     Arabern  d.  Mittelalters : 

5  f.  (vgl.  Mekka). 

—  „       ..     Assyrern    u.    Babyloni- 

ern:  8  f. 

—  „       „     Juden:   12  ff. 

—  „      ..     Samaritanern:     14.     16. 

49  ff- 


ErdnabelbeidenKanaanäern(?):48f.; 
vgl.  Bethel  5 4  ff- 

—  „     ..    Eleusiniernu. Athe- 

nern: 63  ff.  71.  75  f. 

—  '  „     „    Italikern(Etruskern 

etc.):  8 7 f. 

—  „     „    Germanen:  89 f. 

—  ,,     „    Kelten    (Iren   etc.): 

90f. 

—  „     „    Luiseno-Indianern: 

97  f. 

—  .,      „    Ägyptern:  79 ff.  99. 

—  =  Berg  Sung-shan  (Walfang) :  i . 

—  ==  Berg  Meru:  2. 

—  =  Ozene  (Uggajini,  Asiu,  Arin): 

3ff. 

—  =  Insel  Syrtinice  (?):  6  ff. 

f—  =  Berg     Sinnalu     auf    Celebes : 
6  A.  9. 

—  =  Berg  Zinualo  in  Siam:  6  A.  9. 

—  =  Himalaya  (?):  3. 

—  =  Adampik  auf  Zeylon:  5  ff. 

—  =  Garizim :  49  ff. 

—  =  Babylon:  8. 

—  =  Bagdad:  8 f. 

—  =  Bethlehem:  103. 

—  =  Ninive  (?) :   1 1 . 

—  ==  Jerusalem:  12  ff.  102. 

—  =  Hebron  (?):  45ff- 

—  =  Bethel:   54 ff- 

—  =  Bethlehem:   103. 

—  =  Sichem :  49  ff. 

—  =  Mekka:  5 7 ff. 

—  =  Dschedda:  öi. 

—  =  Athen-Eleusis :  61  ff.  71.  75. 

—  =  Paphos:  75. 

—  =  Branchidai  51  f.  75-  84. 

—  =  Delos:  75. 

—  =  Epidauros  (?):  75.  78  A.  126. 
Etruskisclie         Städtegründungen : 

87  f. 
Euphemismen:  89. 
Eva  in  Dschedda  bestattet:  61. 


1  I 


WiMiEi.M  HiuNiiuii  Kosciikr: 


[70,2 


(iambü-thipa  =  /iOiitrum  d.Wolt:  2. 
Oarizim  =  Erdiiabel:  49 if. 
== 'Nnbi'l  des  Landes':   ^i. 

—  verschout    von    der  Sintflut:   ^2. 

—  Ort,  wo  Adam  erscbatTon  wurde : 
52  A.  <)3. 

(lolgotha    (Adamloj^cndc    von    G.): 

25 ff-  33-  34  A.  49. 

—  ^  ducpaXog  y;}e:   2b  ff.    ^,2.  102  f. 

—  =  Bestattungsoit  Adams:  32. 

—  =  Ort,     wo     Adam     erschaifen 

wurde:  33 f.  A.  47  u.  49. 

—  ^  schädelförmig  (?):  32  A.  42.  33. 
Gottes  (Jahwes)  Thron  =  Jerusalem : 

A.   14. 

—  (Jahwes)  Wohnsitz  =  Bethel :  54. 
Granatapfel,  Attribut  der  Köre:  70 f. 

Hebron  =  Kirjath-  Arba:  41  f. 

—  Adams  Grab  daselbst:  33.  40 tF. 

—  Haus  Elohims  daselbst:  44. 

—  liegt     unter     der    himmlischen 
Götterstadt:  44.  46. 

—  liegt  in  der  Nähe  Edens :  45. 

—  =  öfiqpa-lös  yfjs  00=   45  f- 

—  =  Stätte  des  Himmelstores:   44. 

—  =  Stadt  der  Riesen  (Enakiter) : 

45  A.  78. 

—  Patriarchengräber  daselbst:  41. 
Himmelsleiter    Jakobs:    44    A.  74. 

54  ff- 
Höchstlage   Jerusalems    u.  Palästi- 
nas: 39  f. 

—  des  Paradieses:  39. 

—  Sichems:  52. 

—  Mekkas  u.  d.  Kaaba:  59. 

Indien  =  Zentrum  d.  Erde:  2 f. 
_  =  Xod(=Hind?):  33  A.  45- 
Indischer  Erdnabel:  2if. 
lonien  =  Zentrum  der  Erdkarte :  99. 
Irak  =  Zentrum  d.  Erde:  8 f. 


Jakclios    bei    d.     Eleusiuieu-Feier: 

65-  71- 
Jakobsbruiiuen  bei  Sichem  =  6(i,(pa- 

i-ög  yt'ig:  4  »ff. 
Jerusalem  (Höchstlage):   131".  39 f. 

—  =  Nabel  d.  Erde:  17(1. 

—  =  Ort    der    ErschalFung   Adams 
etc.:   17.  33. 

—  —  Ort  des  Paradieses:   17. 

—  ^^  Zentrum  der  mittelalterl.  Welt- 
karten: 2  3  f.  A.  31. 

—  himmlisches :  46  A.  79. 
Jonien  = 'Zwerchfell  d,  Erde':  52. 

100. 

Kaaba  (Höchstlage):  52.  60. 

—  von   der  Sintflut  verschont:  52. 

—  priiexistent:  60. 
Kanaaniter:  49  ff.  51  A.  90. 
Kernophorostänzerinnen:     64f.     68 

i        A.  115. 

Kirjath- Arba  ^  Hebron:  41. 

Köre  bei  d.  Elensinien-Feier:  65flF. 

Kgavlov  (=  Schädelstätte):  22. 
I  —  Ursprung  des  Namens:  32  A.  42. 
I  Kjceuzprobewunderlegende:   18  f. 

Lanka  =  Zeylon :  3. 
Lapis  manalis:  87  f. 
Larika  (Malva)  =  Zentrum  d.  Welt :  3. 

j  Madaba,   Mosaikkarte   von  M. :    19 
!        A.  27. 

i  Malva  =  Zentrum  Indiens  u.  d.  Erde : 
3  A.  2. 

Medio-lanon:  92. 

Medio-nemeton:  92. 

Mekka  =  Erdnabel :  5  7  ff. 

—  = 'Mutter  der  Städte':  58. 

—  Höchstlage:  59. 

—  von   der  Sintflut  verschont:  59. 
Meridian  von  Ozene  ( Arin) :  5  f.  7  A.  1 1 . 

—  von  Zeylon  (Lanka) :  5  f. 
Meru  :=  Erdnabel :  3. 


70,  2]  Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern,      i  i  3 


Mohammed  in  Mekka  erschaffen :  60. 

—  in  Mekka  bestattet:  63  A.  103. 

—  auf  d.  Berge  A.bukais  begra- 
ben: 6. 

Morija  (Adamsage):  34 f.  A.  51. 

—  =  Berg  der  Thora:  35  A.  51. 

—  =  Sinai:  36  A.  51. 

—  nahe  dem  Paradiese  (Eden):  37. 
mundus:  86  ff. 

Nabel  =  Zentrum,  Ausgangspunkt 
aller  Entwicklung:  17.  S.  auch 
Omphalos  u.  Erdnabel. 

—  =  Sitz  der  ir'eele  etc.:  0,9. 

—  =  Verwandtschaft:   100. 
Nabelschnur  =  Wurzel   [qi^cc):    17 

A.  25;  vgl.  A.  23.  98;  im  Aber- 
glauben: 99  f. 

Ninive  =  Erdnabel  (?) :  1 1  f. 

Ninnionpinax:  64  f. 

Nobiskrug  etc.:  90. 

Nod  =  Indien  (?):  33   A.  45. 

Omfalomanzia :   100. 
Omphalos,  s.  auch  Erdnabel. 

—  kupferner  der  südsibir.  Turk- 
stämme :  i  f. 

—  Jerusalems:   19 f.  21  f. 

—  (umbilicus)  Roms:  20. 

—  von  Antiochia:  20. 

—  von  Alesandria,  Nikaia,  Byzanz: 
20  A.  28*. 

—  in  der  Mitte  des  ayiog  KijTCog 
Jerusalems:  21  A.  29. 

—  heutiger  in  der  griech.  Kathe- 
drale Jerusalems :  23.  Abbildung 
Vorrede  S.  VI. 

—  in  der  Adamlegcnde:  2  5  ff. 

—  =  Altar  im  Tempel  Jerusalems: 
17  A.  24. 

—  Jerusalems  =  'valde  summa  co- 
lumna'  im  Zentrum  d.  Stadt; 
i8f. 

—  von  Pajjhos:  48. 


Omphalos  von  Tyros  (?):  48. 

—  der  Samaritaner  (Garizim):  49  ff. 

—  bei  der  eleusin.  Mysterienfeier: 
66  f. 

—  von  Napata  (Nubien):  79. 

—  von  Siwa :  80  ff. 

•    von  Athen:  63.   103. 

—  des  Asklepioa  =  Grab?:  10 1. 

—  Attribut  eines  Dichters?:  102. 
Omphaloi,  problematische  der  Kel- 
ten: 95  f. 

Omphalosförmige  Gräber:   xoif. 

—  Grenzsteine:  102. 
Orakelbaum  von  Sichem:  49  A.  87. 
Ozene  =  Erduabel  der  Inder:  3  ff . 

Palästina  =  Zentrum  d.  Welt:  13. 

—  von  der  Sintflut  verschont:  40 
A.  60. 

—  = 'Haus  Jahwes':  48  A.  84. 

—  =  Paradies:  3 6 f. 

Paradies  =  Zentrum  der  Erde  (?): 

37  f- 

—  Höchstlage:  38  A.  57  u.  58.  39! 

—  =  Ort  der  Erschaffung  Adams : 

39  A.  59. 

—  =  Ort    der    Bestattung   Adams: 

39  A.  59. 

—  =  Jerusalem  (?):  39  A.  59. 

—  himmlisches:  46. 
nixQa  ayilccßxog:  66 f. 
Polarstern:  59. 

Präexistenz  Jerusalems,  Mekkas, 
der  Kaaba,  des  Schetija:  60. 

Reunion  (Insel)  =  Syrtinice  (?):  8 
A.  12. 

Rhodos  =  o^cpaXog  yfig  auf  d.  Welt- 
karte des  Timosthenes:  59. 

Riesen:  30  A.  38.  45  A.  78. 

Samaritaner    (Erdnabel    der    S.  = 

Garizim):  49 ff. 
Säule  im  Zentrum  Jerusalems :  1 8  ff. 


1  1 4      W ii.uKi.M  Hkinhku  Roscmku:  Dük Omphalosciedanke.    [70,  : 


Scbattoiilosigkeit  uui  lilugsteu  Tiigo 
vorkehrt  gedeutet:  21.  53  A.  94. 

Öchetijn  =  d^cfctXbi  yi)g  u.  (irund- 
steiii    <1.    Wt'lt:     10    A.    15.     14 


A. 


50  f. 


—  =  Basis  des  Thymiateiious  (Al- 
tars):  15  A.  22. 

—  =  Kopfkissen  Jakobs:  36  A.  51. 

5  6  f. 

—  präexistent:  60. 

Sem  erbt  den  Schädel  Adams  und 

das  Land  Jiidäa:  31. 
Sichern  =  Erduabel    (s.    d.):    49  ff. 

55ff- 

—  Hauptkoukuirent      Jerusalems: 

50  f. 

—  besitzt  einen  Jehovatempel:  51. 

—  =  Himmelspforte:  54. 

—  Wohnsitz;  Gottes:  54- 
Sinnalu  (Berg  auf  Celebes)  =  Erd- 
nabel: 6  A.  9. 

Sintflut  verschont  Paliistina:  40 
A.  61. 

—  verschont  die  Kaaba:  40  A.  59.  52. 

—  verschont  den  Garizim:  52. 

—  verschont  Jerusalem:  52.   • 

—  verschont  den  Parnass:  52. 
Siwa  (Oase):  82 f. 

Stufentürme  d.  Babylouicr  =  Sym- 
bole des  Kosmos:  10 f. 

Suugschan  =  Erduabel   der  Chine- 
sen: 1. 
Syrtinice  (Insel):  6 ff.  A.  12. 

Theben  (ägyptisches)  =  Nabel 
Ägyptens  u.  d.  Erde  (?):  82, 

Thron  (Wohnsitz  Jahwes)  =  Jeru- 
salem: A.  14. 

=  Bethel:  54. 


Thymiatcrion  im  Tempel  Jerusa- 
lems =  (itaaizctTOV  oiQcevoi'  xal 
yfli:    15    A.  2  2. 

TurkHtiiiunic  Südsibiriens:   2  f. 

Turm  zu  Babel  =  Erdnabcl  (V):  9- 

=  Grundfeste  der  Welt:  10. 

TvtkkÖv  :  21  f. 

Umbilicus  orbis  (=  solis?):  7  A.  11. 

—  Italiae,  Siciliae  etc.:  90. 

—  Hiberniao:  91  f. 

Vikramaditya:  3.  5. 

■\Valpurgistag:  92  A.  141. 
Weltberge  ==  6ftqpor?.ol  y))s  (V):   u. 
Weltkarten  der  Inder:  5. 

—  christl.  des  Mittelalters  mit  Je- 
rusalem als  Zentrum:  23 f.  S. 
auch  unsere  Titelvignette  u.  S.98. 

—  des  Timosthenes  mit  Rhodos 
als  Zentrum:  59. 

—  der  Araber  mit  Mekka  als  Zen- 
trum: 5  8  f. 

—  der  Athener  mit  Athen  als  Zen- 
trum (?):  63  A.  108. 

—  o-riechische  zu  Herodots  Zeit: 
63  A.  107  f. 

Windrosen:   100. 

Zentralmeilensteine  in  Stiidten :  19  f. 
Zeylon  (=  Lanka):  5!'. 

—  =  Paradies:  6. 

—  (Adamsage  daselbst):  5 f.  48- 

—  (verschiedene  Namen) :  5.  6  A.  lo. 
Zinnalo  (Berg  iu  Slam)  =  Erdnabel : 

6  A.  9- 
Zion  =  Nabel  der  Erde:  31  A.  40. 
=  Ort  der  Erschaffung  Adaras : 

34- 
Zwölfgötteraltar  in  Athen:  63. 


//i 


Stelleiiregister. 


Adamnanus  (Arculfue)  De  loc.  sanct. 

p.  239  ed.  Geyer:  18 f. 
Aethicus    Istr.    ed.   Wuttke    p.   12 

Kap.  21:7. 
Aethicus    Istr.    ed.   Wuttke    p.   13 

Kap.  23:  7. 
Aethicus    Istr.    ed.   Wuttke    p.  80 

Kap.  107:   II. 
Ambros.  Explan,    iu    Luc.    10,    23: 

29  A.  38. 
Apocalypsis  Mosis  ed.  Tischend.  21 : 

37  A.  56. 
Aristeasbrief  ed.  Wendl.  p.  25,  8flF.: 

12  A.  17. 
Aristid.  Pauath,  99:  62. 

—  Panegyr.  28:  76. 

—  Eleusin.  p.  416  Dind.:  76  A.  123. 
Athanasius,    De   pass.   et  cruce  D. 

208  A:  29  A.  38. 
Augustin.  sermo  71 :  29  A.  38 

Baeda   De   loc.    sauet,    p.  307    ed. 

Geyer:   19. 
Basilius    Seleuc.    or.    38    p.  409  A: 

29  A.  38. 
Bereschit  Rabba  fol.  XXXVII:  13  f. 
Breviarius,  Iter  Hierosol.  p.  154  ed. 

Geyer:  33  A.  46. 

Cato    b.    Fest.    p.   154:    87  A.  135. 

88  A.  137. 
Chron.  29,  23:   10  A.  14. 
Clem.    Alex     Strom.    5,    6   p.  665: 

15  A.  22. 
Curt.  Ruf.  4,  7:  80. 

Epimenides  b.  Plut.  de  def.  or.   i : 

75  A.  121. 
Epiphan.  haeres.  46:  29  A.  38. 

—  adv.  haeres.  41 :  32  A.  42. 
I  Ezech.  5,  5:  13. 

—  38,   12:    13  A.    18. 


Genes.   11,   i  ff.:  9. 

Gervas.  v.  Tilbury,  Otia  imper.  ed. 

Liebr.  p.   i :  53  A.  94. 
Giraldus    Cambr.    Topogr.    Hibem. 

3,  4:  63  A.  106.  91  f. 

Hieronymus  zu  Ezech.  5,5:  13  A.  18. 

—  Epist.  46:  30  A.  38.  40. 

—  In  Matth.  4,  27,  33:  4o. 

—  In  Ephes.  5:  4o"f. 
HorapoU.  Hieroglyph.   i,  21 :  84, 


Isoer.  Panegyr.  28:  76  f. 

Jesaias  2,  2:  13. 

—  28,  16:  15. 

Joseph,  bell.  Jud.  3,  3,  5:   12  A.  17. 

KoQTi  KÖGuov  =  stob.  ecl.  I  p.  302 
M.:   84. 

Oden  Salomos  4,  i — 4:   16. 
Origenes  b.  Gramer,  Catenae  Graec. 
Patr.  I  p.  235:  28  f. 

Philoch.  fr.  22:  69. 
Philolaos  fr.  13  Diels:  16  A.  23. 
Plat.  Menex.  p.  237:   77. 
Plut.  Romul.  II:  87  A.   134. 

Rieht.  9,  37:  51- 

Spelunca     thesauror.     ed.     Bezold 
p.  26 ff.:  27 f.  34  A.  47. 

Tatian  c.  Gr.  8,  251 :  69. 

Yarro  de  1.  1.  7,  17=  61  A.  105. 

5,  143:  87  A.  134- 

Vindicianus    cap.    16    ed.  Wellm.: 
17  A.  23. 

Xenophon  de  vectigal.  i:  62f. 
8* 


Bericlite  über  die  Verhandlungen 
ier  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Pliilologiscli-liistorisclie  Klasse 

70.  Band.    1918.    3.  Heft 


Albert  Köster 

Prolegomena  zu  einer  Ausgabe 
der  Werke  Theodor  Storms 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1918 


Vorgetragen  ffir  die  Berichte  am  21.  Oktober  19 18, 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  21.  Oktober  19 18. 

Druckfertig  erklärt  am  3.  Dezember  1918. 


r. 

Der  Anlaß,  daß  ich  ein  so  seltsames  Thema  hier  behandle, 
liegt  darin,  daß  ich  es  für  den  Insel- Verlag  übernommen  habe, 
Storms  sämtliche  Werke  herauszugeben.  Als  ich  dazu  auf- 
trefordert  wurde,  stellte  ich  mir  vor,  ich  würde  in  zwei  bis 
drei  Monaten  die  Anordnung  machen,  die  besten  Druckvor- 
lagen bestimmen,  eine  Einleitung  schreiben  und  die  notwen- 
diiJ-en  Anmerkungen  machen  können.  Und  unterdessen  ist 
aus  dem  Unternehmen  die  Arbeit  von  anderthalb  Jahren  ge- 
worden. Oft  und  immer  wieder  hab  ich  mir  die  Frage  vor- 
o-eleo-t.  ob  solch  ein  Aufwand  nötig,  ob  er  nicht  zu  ver- 
meiden,  ob  er  nicht  vielleicht  gar  sinnlos  sei.  Und  immer 
wieder  lockte  mich  wahrlich  nicht,  aber  zwang  mich  die  be- 
gomieue  Arbeit  zu  neuen  knifflichen  und  kleinlichen  Unter- 
suchuncren.  Sollte  nicht  das  bisher  Erreichte  wertlos  werden, 
sollte  nicht  das  Ganze  in  eine  halbe  Pfuscherei  auslaufen, 
so  mußten  unermüdlich  erneute  Beobachtungen  angestellt 
werden,  die  sich  oft  wochenlang  nur  um  einzelne  Wörter 
und  Wortformen  drehten. 

Das  alles  nun  konnte  natürlich  nie  im  ganzen  Umfang 
mitgeteilt  werden;  aber  selbst  zusammenfassende  Ergebnisse 
oder  Grundsätze,  die  bei  der  Herstellung  des  Textes  befolgt 
worden  waren,  konnte  ich  in  die  Ausgabe  selbst  nicht  auf- 
nehmen. Da  aber  unter  ihnen  manches  doch  von  Interesse 
ist,  einiges  uns  Storms  Künstlertum,  seine  Wortkunst  und 
die  unermüdliche  Arbeit  an  seinem  Stil  erläutern  kann, 
manches  vielleicht  auch  künftigen  Herausgebern  andrer  Dichter 
der  Neuzeit  wertvoll  erscheinen  mag,  so  habe  ich  mich  ent- 
schlossen, Einzelnes  aus  meiner  Werkstatt  mitzuteilen,  ehe 
die  Ausgabe,  die  1919  erscheint,  für  sich  selbst  sprechen 
muß.     Zu  einem  System  abrunden  kann  ich  meine  Beobach- 


2  Albert  Köster:  [70, 3 

timj^Pii  natürlii'ii  nicht;  irli  muß  bir  l)riiigcn,  so  wie  sit'  sich 
.111  (las  Zurallsinaterial  der  rinoii  Ausgabe  ankuü])f'en.  Im 
Mittelpunkte  steht  immer  Storni  und  sein  Werk,  insonder- 
heit seine  Novellen;  aber  ich  schcui»  mich  nicht,  gelegentliche 
Absohweifuugon  zu  machen  uiul  in  kloinen  eingeschobenen 
Episoden  Fragen  7ai  erörtern,  die  auf  den  ersten  Blick  wenig 
mit  der  Ilerstellung  der  Ausgabe  v.u  tun  haben.  Letzten 
Endes  schließt   sich  doch  alles  zur  Einheit. 

Die  geplante  Ausgabe  wird  acht  Bände  umfassen,  deren 
Anordnung  die  folgende  ist:  Der  erste  bringt  nach  einer  Ein- 
leitung, die  manclierlei  uugedrucktes  Material  verwerten  wird, 
zunächst  die  von  Storni  selbst  nach  strengster  Kritik  an- 
erkannten und  zusammengefaßten  Gedichte.  Da  aber  der 
Künstler  ihnen  nie  eine  einheitliche  Anordnung  gegeben,  son- 
dern in  den  letzten  Jahrzehnten  in  jeder  neuen  Ausgabe  die 
inzwischen  entstandenen  Gedichte  meist  nur  bequem  den  bis- 
herigen angereiht,  dabei  auch  sonst  mancherlei  Unbegreif- 
lichkeiteu  begangen  hatte,  so  habe  ich,  bestärkt  von  Dichtern 
unsrer  Tage,  den  Versuch  gewagt,  der  Lyrik  Storms  eine 
künstlerische  Gruppierung  zu  geben.  Den  von  dem  Dichter 
selbst  für  die  Ausgabe  letzter  Hand  bestimmten  Gedichten 
füge  ich  als  eine  zweite  Abteilung  dann  diejenigen  Lyrica  an, 
die  schon  irgendwann  einmal  von  dem  Dichter  selbst  oder 
von  andern  in  Druck  gegeben  waren  und  auf  deren  aber- 
malige Mitteilung  der  Leser  einer  vollständigen  Sammlung 
der  Werke  Storms  ein  Anrecht  hat.  Von  ungedruckten  Ge- 
dichten dagegen  schienen  mir  nur  drei  der  Bekanntmachung 
wert;  sie  sind  dieser  zweiten  Abteilung  mit  eingegliedert,  die 
ihrerseits  die  Gedichte  in  zeitlicher  Reihenfolge  bringt,  weil 
diese  Lyrica  zweiten  Ranges  nicht  wegen  ihres  dichterischen 
Wertes,  sondern  lediglich  als  Urkunden  zu  Storms  künst- 
lerischer Entwicklung  Bedeutung  haben.  Den  Schluß  des 
ersten  Bandes  machen  die  Novellen  aus  der  Frühzeit  und  aus 
den  Potsdamer  Jahren.  Der  zweite  Band  bringt,  durchaus, 
wie  es  der  Dichter  selbst  gewünscht  hatte,  nach  ihrer  Ent- 
stehungszeit,  die  Novellen,  die  in  Heiligenstadt  vollendet  sind, 


70, 3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Stokms.       3 

der  dritte,  vierte   und  fünfte   die   des  zweiten  Husumer  Auf- 
enthalts,   der   sechste   und    siebente    die  Novellen    aus   Hade- 
marschen.     Nachdem    der   achte  Band   zunächst  die   autobio- 
graphischen und  kritischen  Aufsätze   Storms  mitgeteilt    hat, 
wird   er  im   übrigen  ganz   von   der  Masse   der  Anmerkungen 
ausgefüllt.     Sie    sind  absichtlich  von   den   sieben  Textbänden 
getrennt  worden.    Wer  ihrer  bedarf,   wird   den   achten  Band 
neben  sich  legen   und  braucht  nie  hin   und   her  zu  blättern; 
wer  reinen,  ausschließlich  künstlerischen  Genuß  erstrebt,  wird 
nur  die  sieben  ersten  Bände  lesen.    Die  Anmerkungen  bringen 
keine  Erläuterungen  im  gewöhnlichen  Sinne,  also  keine  künst- 
lerischen Analysen  oder  Deutungen  einzelner  Stellen;  hierfür 
bot    der   achte  Band   nicht  Raum   genug.     Wohl   aber  legen 
sie  mit  möglichster  Vollständigkeit  das  Material  vor,  das  der 
Forscher  braucht  oder  der,  der  aus  Liebe  zu  Storms  Lebens- 
werk   der    Entwicklung    des    Künstlers    nachgehen    will.     Zu 
jedem  Gedicht  wird  die  vollständige  Textgeschichte,  zum  er- 
heblichen Teil  aus  Handschriften,  vorgeführt.    Hier  hat   die 
Mitteilung  aller  Lesarten   nicht  allzuviel  Raum  erfordert,  da 
Storni  ja,  selbst  wenn  man  die  später  von  ihm  verworfenen 
Gedichte    mit  hinzurechnet,  nur  ein   einziges  Bändchen,   wie 
Uhland,    Mörike,    Lenau,    hinterlassen    hat.      Dagegen    wäre 
bei     den     Prosawerken    ein    ganzer     sogenannter    „Apparat" 
ein   Unding   gewesen.     Was    Goethe   in   der   Weimarer  Aus- 
gabe   recht    war,    ist   Storni    darum    noch    nicht    billig;    die 
Knrikatur    einer    Storni -Philologie    soll    nicht    aufkommen. 
Die  Anmerkungen   zu   den  Novellen  legen   sich   daher  einige 
Beschränkung  auf.     Sie  geben   zu  jedem  Werk  zunächst  das 
Wichtigste    der  Bibliographie,   d.  h.   sie  nennen   die  Drucke, 
aus  denen  man   dem  Text,   der   im  Lauf  der  Zeit   von  Aus- 
gabe zu  Ausgabe  mehr  entstellt  ist,   den   alten  reinen  Klang 
wiedergeben  kann.     Sie  wollen  aber  vor  allen  Dingen  Storm 
als    einen    an    sich    und    seinem    Werk    arbeitenden    Dichter 
zeigen.    Deshalb  machen  sie  auf  die  Konzeption,  die  Haupt- 
motive, die  Entstehungsgeschichte  jeder  Novelle  aufmerksam, 
auf  die  Sorgen   des   schaffenden  Künstlers  und   auf  die  Mit- 


4  Alrkrt  Köster:  [70i  3 

arbeit  dor  Freuude.  Vielfurh  hiauclite  diibei  nur  auf  gedruckte 
Werke  hingewiesen  zu  werden,  doch  sind  auch  uns  Hunderten 
vt)n  uugedruckton  Briefen  Mitteihingen  gemacht.  Vor  allem 
aber  kam  es  auf  Eines  au:  Storm  hat  manche  .lugendwerke 
von  Grund  aus  umgearbeitet,  andern  durch  Zusätze,  Auslas 
suugen,  bessere  Motivierung  aufgeholfen.  Diese  Abweichungen 
sind  so  voUstätidig  und,  wie  ich  hofife,  so  übersichtlich  wieder 
gegeben,   daß  abgesehen    von   unbeträchtlichen  Kleinigkei- 

ten —  jeder  Leser  sich  mit  Hilfe  der  Anmerkungen  die  letzte 
P'assuug  einer  Novelle  in  ihre  erste  wieder  zurückübersetzen 
kann.  Um  hier  jede  Mißdeutung  fernzuhalten,  sei  aber  das 
Eine  hinzugefügt:  es  handelt  sich  bei  diesem  Abdruck  der 
früheren  Redaktion  einzelner  Novellen  (Immensee,  Hinzelmeier, 
Im  Schloß  u.  a.)  nicht  darum,  Kladden  oder  alte  verunglückte 
Versuche  wieder  aus  dem  Papierkorb  hervorzuholen,  sondern 
die  Mitteilungen  betreffen  die  älteren  und  jüngeren  gedruckten 
Fassungen,  die  der  Künstler  selbst  auf  verschiedenen  Stufen 
seiner  Entwicklung  als  abschließend  angesehen  hat.  Sie  dem 
Leser  zum  Vergleich  vorzuführen,  entspricht  etwa  dem  Ver- 
fahren des  Sammlers  und  Erforschers  von  Werken  der  Graphik, 
der  auch  den  Künstler  nicht  im  geringsten  herabzusetzen 
fürchtet,  wenn  er  die  verschiedenen  Zustände  der  Platte  ver- 
gleichend neben  einander  legt  und  dadurch  erst  dem  Ernst  und 
der  Kraft  künstlerischen  Bemühens  gerecht  wird. 

Da  nun  die  Ausgabe  für  die  Gedichte  den  vollständigen 
Apparat  bringen  wird,  so  sollen  sich  die  Ausführungen,  die 
ich  hier  beabsichtige,  einzig  mit  der  Technik  der  Herausgabe 
der  Novellen  beschäftigen  und  mit  der  Verwertung  des  Ma- 
terials, das  zur  Herstellung  eines  gesicherten  Textes  geführt 
hat.  Zitieren  muß  ich  dabei  leider  nach  der  jüngsten  Gesamt- 
ausgabe, der  während  des  Krieges  und  recht  kriegsmäßig  ge- 
druckten Westermannschen  fünfbändigen  Ausgabe,  weil  sie 
die  verbreitetste  ist  und  weil  für  die  Herstellung  der  Druck- 
vorlage mehrere  Exemplare  zerlegt  werden  mußten,  was  einzig 
mit  jenem  Druck  zu  erm")glichen  war.  Storm  hat  Wester- 
mann  zum   alleinigen  Herausgeber   der   Sämtlichen   Schriften 


73,  3]     Proleoomena  zu  einer  Aus«,  dku  Wkrke  Th.  Storms.        5 

gemaclit.  1868  erschien  die  erste,  sechsbändige  Ausgabe, 
deren  Druck  der  Dichter  überwacht  hat;  sie  erlebte  eine 
zweite,  vom  Dichter  nicht  korrigierte  Auflage  und  wurde  1877 
durch  die  Bände  7  bis  10  ergänzt.  1884  wurden  14  Bände 
erreicht.  Und  dann  konnte  Storm  noch  die  „Erste  Gesamt- 
ausgabe" in  19  Bänden  vorbereiten,  über  deren  Drucklegung 
er  starb.  Vierzehn  Bände  dieser  Ausgabe  letzter  Hand  hat 
der  Dichter  fertig  vor  sich  gesehen.  Die  späteren  Gesamt- 
ausgaben, die  in  mehreren  Auflagen  erschienene  achtbändige 
seit  1897,  die  zu  vier  Bänden  zusammengefaßte  achtteilige, 
1900,  und  die  wohlfeile  fünf  bändige,  seit  191 2  mehrfach  auf- 
gelegt, sind  für  die  Textkritik  ohne  Bedeutung. 

2. 

Die    für    die    Textgestaltuug    der    Stormscheu    Novellen 
Ausschlag  gebenden  Handschriften  und  Drucke  sind: 

1.  Marthe  und  ihre  Uhr.  Erster  Druck:  Biernatzkis 
Volksbuch  auf  das  Jahr  1848,  S.  54 — 59.  —  Veränderte 
Fassung:  Sommergeschichten  und  Lieder,  Berlin  1851.  — 
Dann:  Im  Sonnenschein.  Drei  Sommergeschichten,  Berlin 
1854.  —  Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd  5.  —  Gesammelte 
Schi-iften,   1889,  Bd.  5. 

2.  Im  Saal.  Erster  Druck:  Biernatzkis  Volksbuch  auf  das 
Jahr  1849,  S.  65 — 70.  —  Dann  in  den  „Somraergeschieh- 
ten"  (1851),  S.  3 — 13,  und  „Im  Sonnenschein"  (vgl.  Marthe 
und  ihre  Uhr),  S.  47 — 61.  —  Sämtl.  Schriften,  1868, 
Bd.  4.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  4. 

3.  Immensee.  Alteste  Fassung:  Biernatzkis  Volksbuch  auf 
das  Jahr  1850,  S.  56 — 86.  —  Auf  die  weißen  Ränder 
eines  Exemplars  dieses  ersten  Druckes  schrieb  der  Dichter 
seine  Änderungen  und  Zusätze;  Handschrift  in  Varel.  — 
Erster  Druck  der  neuen  Fassung:  Sommergeschichten  und 
Lieder,  Berlin  185 1,  S.  45  —  95.  —  Erste  Einzelausgabe: 
Berlin,  Duncker,  1852.  —  Quartausgabe  (=  5.  Auflage) 
mit  Illustrationen  von  Ludw.  Pietsch  und  einer  farbigen 
Lithographie   von   Riefstahl,   Berlin,   Duncker,    1857.    — 


6  Ai.uKUT  Kösiek:  |7o,  i 

Säintl.  Schriften,    1868,  Bd.  2.   —   Ge.s.    Scliriften,    iSSy, 
Bd.  2. 

4.  Posthumii.  Erster  Druck:  Soiuiiiergeschichteu  iiud  Lieder, 
Berlin  1851,  S.  112  — 117.  —  Leicht  überarbeitet:  In  der 
Sommer-Mondnacht,  Berlin  1860,  S.  79—86.  --  Sämtl. 
Schriften,   1868,  Bd.  5.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  5. 

5.  Der  kleine  Häwelmann.  Erster  Druck:  Biernatzkis 
Volksbuch  auf  das  Jahr  1850,  S.  25 — 28.  —  Sommer- 
geschichten und  Lieder,  Berlin  1851,  S.  24 — 30.  —  Über- 
arbeitet: In  der  Sommer-Mondnacht,  Berlin  1860,  S.  87 — 95. 

—  Sämtl.    Schriften,    1868,    Bd.   6.    —    Ges.    Schriften, 
1889,  Bd.  0. 

6.  Ein  grünes  Blatt.  Erster  Druck:  Argo.  Belletristisches 
Jahrbuch  für  1854,  hg.  von  Theod.  Fontane  und  Franz 
Kugler,  Dessau  1854,  S.  294 — 307.  —  Überarbeitete 
Buch- Ausgabe:  Ein  grünes  Blatt.  Zwei  Sommergeschich- 
ten, Berlin,  Schindler,  1855,  S.  45 — 72.  —  Sämtl.  Schriften, 
1868,  Bd.  3.  —  Ge.s.  Schriften,   1889,  Bd.  3. 

7.  Hinzelmeier.  Altere  Fassimg:  „Stein  und  Rose.  Ein 
Märchen"  in  Biernatzkis  Volksbuch  auf  das  Jahr  1851, 
S.  117 — 138.  —  Von  der  Umarbeitung  liegen  Bruchstücke 
(II  91,  4—92,  4;  93,  1—96,  3;  98,  33  —  99,  44)  handschrift- 
lich in  Varel.  —  Erste  Buchausgabe:  „Hinzelmeier.  Eine 
nachdenkliche  Geschichte",  Berlin,  Duncker,  1857.  — 
Sämtl.  Schriften,  1868, Bd.  6.—  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  6. 

8.  Im  Sonnenschein.  Handschrift  im  Besitz  von  Professor 
Albei-t  Köster  in  Leipzig.  —  Erster  Druck:  Im  Sonnen- 
schein.   Drei  Sommergeschichteu.    Berlin,  Duncker,   1854. 

—  Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  3-  —  Ges.  Schriften,  1889, 
Bd.  3. 

9.  Angelika.  Erster  Druck:  Ein  grünes  Blatt.  Zwei 
Sommergeschichten.  Berlin,  Schindler,  1855,  S.  i — 44. — 
Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  5.  —  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  5. 

10.  Wenn  die  Apfel  reif  sind.  Erster  Druck:  Argo.  Album 
für  Kunst  und  Dichtung,  Breslau  1857,  S.  17 f.  —  Erste,. 
schon  leicht  überarbeitete,  Buch- Ausgabe:  In  der  Sommer- 


70,  3j     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.        7 

Mondnacht.   Berlin,  Schindier,  1860,  S.  67 — 77.  —  SämtL 
Schriften,   1868,  Bd.  5.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  5. 

11.  Auf  dem  Staatshof.  Handschrift:  eine  stark  durch- 
korrigierte erste  Niederschrift  in  Varel,  größtenteils  von 
Storms  eigner  Hand;  einzelne  Teile  von  weiblicher  Feder, 
Abschrift,  nicht  nach  Diktat  hergestellt.  —  Erster  Druck: 
Arge.  Album  für  Kunst  und  Dichtung,  1859,  S.  7 — 22.  — 
Erste,  schon  überarbeitete  Buchausgabe:  In  der  Sommer- 
Mondnacht.  Berlin,  Schindler,  1860,  S.  7 — 66.  —  Sämtl. 
Schriften,   1868,  Bd.  3.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  3. 

12.  Späte  Rosen.  Erster  Druck:  Argo.  Album  für  Kunst 
und  Dichtung.  Breslau,  1860,  S.  31 — 36.  —  Buch- Aus- 
gabe: Drei  Novellen.  Berlin,  1861,  S.  29 — 50.  —  Sämtl. 
Schriften,   1868,  Bd.  2.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  2. 

13.  Drüben  am  Markt.  Handschrift:  nur  erste,  unermüdlich 
korrigierte  Entwürfe  in  Varel.  —  Erster  Druck:  Über 
Land  und  Meer,  Bd.  6  (1861),  S.  582!,  598f-  —  Buch- 
Ausgabe:  Drei  Novellen,  Berlin  1861,  S.  51 — 99.  — 
Sämtl.  Schriften,   1868,  Bd.  5.    —    Ges.  Schriften,    1889, 

Bd.  5. 

14.  Veronika.  Handschrift  iu  Varel.  —  Erster  Druck:  Drei 
Novellen.  Berlin  1861,  S.  i — 28.  —  Sämtl.  Schriften,. 
1868,  Bd.  2.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  2. 

15.  Im  Schloß.  Handschrift  mit  einer  Lücke  (von  I  79^  23 
bis  82,  7)  in  Varel.  —  Erster  (äußerst  nachlässiger)  Druck: 
Gartenlaube,  1862,  N.  10.  11.  12.  —  Erste,  bereits  über- 
arbeitete Buchausgabe:  Münster,  1863,  bei  Brunn.  — 
Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  2.  —  Ges.  Schriften,  1889,. 
Bd.  2. 

16.  Am  Kamin.  Einziger  Druck  zu  des  Dichters  Lebzeiten r 
Viktoria.  Illustrirte  Muster-  und  Mode-Zeitung,  Berlin 
1862,  N.  6  und  8,  S.  46 f.,  62 f.  —  Wiederabgedruckt  und 
erläutert  von  Fritz  Böhme:  Theodor  Storms  Spukge- 
schichten usw..  Braunschweig  und  Berlin  191 3,  S.  3 — 12. 

17.  Auf  der  Universität.  Handschrift:  Eine  Kladde,  die 
bis  I  323,  5  reicht,  in  Varel.  —  Erster  Druck:  Munster, 


8  Ai.BKitr  Köstkk:  [70.3 

Brunn,  1803.  —  Im  <^loicluMi  Vorlag  i<^(>5  oiii  an  eiuignu 
Stellon  verbesserter  Abdruck  unter  dem  Titel  „Lenore". 
—  Säratl.  Sclirifton,  1868,  Bd.  5.  —  Ges.  Schrifton,  1889, 
Bd.  5. 

18.  Unter  dem  Tannenbaum.  Das  Fragment  einer  stark 
durclikorrigierten  llandscbrif't,  bis  1  124,  40  reichend,  liegt 
in  Varel.  —  Erster  Druck:  Leipziger  Illustrirte  Zeitung, 
Dezember  1862,  N.  1016,  S.  443 — 447.  —  Erste  Buch- 
ausgabe: Zwei  Weihnachtsidyllen  Illustrirt  von  Otto 
Speckter  und  Ludwig  Pietsch.  Berlin  1865.  —  Sämtl. 
Schriften,   1868,  Bd.  3.  —  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  3. 

ig.  Abseits.  Handschrift:  eine  Kladde  in  Varel.  —  Erster 
Druck:  Leij)ziger  Illustrirte  Zeitung,  1868,  N.  1068, 
S.  450  54.  —  Buchausgabe  (vereint  mit  der  V(»rhergehen- 
den  Novelle):  Zwei  Weihnachtsidyllen.  Berlin  1865.  — 
Sämtl.  Schriften,  i8d8,  Bd.  3.  —  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  3. 

20.  Die  Regentrude.  Handschrift:  Die  erste  schnelle  Nieder- 
schrift, zum  Teil  unleserlich,  mit  Bleistift  im  Bett  wäh- 
rend einer  Krankheit  hergestellt,  ist  in  Varel  noch  vor- 
handen. —  Erster  Druck:  Leipziger  Illustrirte  Zeitung, 
1864  (30.  Juli),  S.  79 — 83.  —  Buchausgabe  (mit  „Bule- 
manns  Haus"  und  dem  „Spiegel  des  Cyprianus"  zusammen) : 
Drei  Märchen.  Hamburg,  Mauke,  1866  (die  weiteren  Auf- 
lagen, unter  dem  Titel  „Geschicliten  aus  der  Tonne*', 
Berlin,  Paetel,  seit  1873.  Sie  haben  die  kleinen  Verbes- 
serungen der  Gesamtausgabe  von  1868  nicht  berücksich- 
tigt). —  Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  6.  —  Ges.  Schriften, 
1889,  Bd.  6. 

21.  Bulemanns  Haus.  Handschrift:  Erstes  Konzept  mit 
Hunderten  von  Verbesserungen:  in  Varel.  —  Erster  Druck: 
Leipziger  Illustrirte  Zeitung,  1864  (24  Dez.),  S.  447  bis 
45^'  und  4,54.  —  Buchausgabe  wie  bei  der  „Regentrude".  — 
Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  6.  —  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  6. 

22.  Von  Jenseit  des  Meeres.  Eigenhändige  Niederschrift 
im  Goethe-  und  Schiller-Archiv  in  Weimar.  —  Erster 
Druck:   Westermauns  Monatshefte,   Bd.  17,    S.  337—359 


70,  3]     Prolbgomkna  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.        9 

(Januar  1865).  —  Buchausgabe:  Von  Jenseit  des  Meeres. 
Novelle.  Schleswig,  Schulbuchhandlung  (Dr.  C.  Fr.  Hei- 
berg), 1867.  —  überarbeitet  in  den  „Novellen'',  Schles- 
wig, Schulbuchhandlung,  1868,  S.  93 — 191.  —  Sämtl. 
Schriften,  1868,  Bd.  4.  —  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  4. 
2^.  Der  Spiegel  des  Cyprianus.  Erster  Druck:  Der  Bazar, 
Illustrirte  Damenzeitung,  hg.  v.  Jul.  Rodenberg,  11.  Jahrg., 
N.  48,  S.  417 — 419  (23.  Dez.  1865).  —  Buchausgabe: 
wie  bei  der  „Regentrude".  —  Sämtl.  Schriften,  i8ö8, 
Bd.  6.  —  Ges.  Schriften,  1889.  Bd.  6. 

24.  In  St.  Jürgen.  Erster  Druck:  Deutsches  Kiinistl er- Album, 
hg  von  W.  Breidenbach  und  L.  Bund,  Bd.  2,  Düssel- 
dorf o.  J.  [auf  1868],  S.  74—85.  —  Buchausgabe:  In 
St.  Jürgen  von  Theod.  Storm,  Schleswig,  Schulbuchhand- 
lung (Heiberg)  1868.  —  Überarbeitet  (zusammen  mit 
„Von  Jenseit  des  Meeres''  und  „Eine  Malerarbeit''):  No- 
vellen von  Theod.  Storm,  Schleswig,  Schulbuchhandlung, 
1868.  —  Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  4.  —  Ges.  Schriften, 
1889,  Bd.  4- 

25.  Eine  Malerarbeit.  Handschrift:  eine  sehr  flüchtig  ge- 
schriebene Kladde  in  Varel.  —  Erster  Druck:  Wescer- 
manns  Monatshefte,  Bd.  2^,  S.  i— 17  (Okt.  1867).  — 
Buchausgabe,  leicht  überarbeitet,  mit  einigen  Zusätzen:  No- 
vellen von  Theod.  Storm,  Schleswig,  Schulbuchhandlung 
(Herrn.  Heiberg)  1868.  —  Sämtl.  Schriften,  1868,  Bd.  4. 
—  Ges.  Schriften,  1889,  Bd.  4. 

26.  Lena  Wies.  Erster  Druck:  Lena  Wies.  Ein  Gedenk- 
blatt. Deutsche  Jugend,  Bd.  i  (1873),  S.  71— 75-  — 
Novellen  und  Gedenkblätter,  Braunschweig  1874,  S.  61 
bis  81.  —  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  8. 

27.  Der  Amtschirurgus.  —  Heimkehr.  Handschrift  (eigen, 
händig)  im  Goethe-  und  SchiUer-Archiv  in  Weimar.  — 
Erster  Druck:  „Zerstreute  Capitel",  Westermanns  Monats- 
hefte, Bd.  29,  S.  487—494  (Febr.  187 1).  —  Buchausgabe: 
Zerstreute  Kapitel,  Berlin  1873,  S.  1  —  29.  —  Ges.  Schrif- 
ten,  1891,  Bd.  8. 


lü 


Al.UKHT    KÖSTEU:  [7°!  3 


28.  Eine  Halligt'iihit.  Koiiiscbrift  (der  Anfang  von  fremder 
Hand)  in  Varel.  —  Eister  Drnck:  „Zerstreute  Cai»itcl", 
AVesterninuns  Monatshefte,  Bd.  31,  S.  81 — 94  (Oktober 
187O.  —  ]^nchausgal)e:  Zerstreute  Kapitel,  Berlin  1873, 
S.  41—92.  —  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  8. 

29.  Draußen  im  Heidedorf  Zwei  Handschriften:  u)  in 
Varel  Bruchstück  einer  Reinschrift  und  Entwürfe,  b)  im 
Goethe-  und  Schiller-Archiv  in  Weimar  Druckvorlage, 
nicht  durchweg  eigenhändig,  daher  nur  für  den  Wortlaut» 
nicht  für  die  Wortformen  maßgebend.  —  Erster  Druck: 
Der  Salon  für  Literatur,  Kunst  und  Gesellschaft,  hg.  v.  Jul. 
Rodeuberg,  Bd.  10,  S.  129 — 151.  —  Buchausgabe:  Zer- 
streute Kapitel,  Berlin  1873,  S.  113 — 173.  —  Ges.  Schrif- 
ten,  1891,  Bd.  7. 

30.  Zwei  Kuchenessev  der  alten  Zeit.  Erster  Druck: 
„Zerstreute  Capitel"  Wcstermanns  Monatshefte,  Bd.  31, 
S.  78 — 81  (Okt.  1871).  —  Buchausgabe:  Zerstreute  Kapitel, 
Berlin  1873,  S.  175— 188.  —  Ges.  Schriften,  1 891,  Bd.  H. 

31.  Beim  Vetter  Christian.  Handschrift:  Anfang  und  Ende^ 
Oktavblatt  i  und  55,  der  Druckvorlage  im  Goethe-  und 
Schiller-Archiv  in  Weimar.  —  Erster  Druck:  Der  Salon 
für  Literatur,  Kunst  und  Gesellschaft,  hg.  v.  Jul.  Roden- 
berg.  Bd.  i,  Leipzig  1874,  S.  129—148.  —  Buchausgabe: 
Novellen  und  Gedenkblätler,  Braunschweig  1874,  S.  83 
bis   137.  —  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  7. 

^2.  Von  heut'  und  ehedem.  Erster  Druck:  „Zerstreute 
Capitel'',  Westermanns  Monatshefte,  Bd.  35,  S.  75 — 83 
und  141.— 148  (Okt.  und  Nov.  1873).  —  Buchausgabe: 
Novellen  und  Gedenkblätter,  Braunschweig  1874,  S.  139 
bis  200.  —  Ges.  Schriften,  1891,  Bd.  8. 

3^.  Viola  tricolor.  Erster  Druck:  Westermanns  Monats- 
hefte, Bd.  35,  S.  561 — 576  (März  1874).  —  Buchausgabe: 
Novellen  und  Gedenkblätter,  Braunschweig  1874,  S.  i — 60. 
—  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  7. 

34.  Pole  Poppenspäler.  Handschrift  in  Varel.  —  Erster 
Druck:   Deutsche  Jugend,    hg.   v.   Jul.   Lohmeyer,  Bd.  4 


70, 3]     ProleCtOmbna  zu  einer  Ausct.  der  Werke  Th.  Storms.      i  i 

(Leipzig  1874),  S.  129—143,  161  — 171.  —  Buchausgabe: 
Waldwinkel.  Pole  Poppenspäler.  Novellen.  Braunschweig 
1875.  —  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  9. 

35.  Waldwinkel.  Handschrift  (bis  III  44,  24)  in  Varel 
Überschrift  „Im  Narrenkasten."  —  Erster  Druck:  Deutsche 
Rundschau,  Bd.  i,  S.  94—131  (Oktober  1874).  —  Buch- 
ausgabe: Waldwinkel.  Pole  Poppenspäler.  Novellen.  Braun- 
schweig 1875.  —  Ges.  Schriften,   1891,  Bd.  9. 

36.  Ein  stiller  Musikant.  —  Erster  Druck:  Westermanns 
Monatshefte,  Bd.  38,  S.  449—464  (August  1875).  —  Buch- 
ausgabe: Ein  stiller  Musikant.  Psyche.  Im  Nachbarhause 
links.  Drei  Novellen.  Braunschweig  1876,  S.  i — 60.  —  Ges. 
Schriften,   1891,  Bd.  10. 

37.  Psyche.  Erster  Druck:  Deutsche  Rundschau,  Bd.  5, 
S.  I — 21  (Oktober  1875).  —  Buchausgabe:  Ein  stiller 
Musikant.  Psyche.  Im  Nachbarhause  links.  Drei  No- 
vellen. Braunschweig  1876,  S.  61  —  124.  —  Ges.  Schrif- 
ten,  1891,  Bd.  10. 

38.  Im  Nachbarhause  links.  Reste  der  ersten  (überholten) 
Niederschrift  in  Varel.  —  Erster  Druck:  Westermanns 
Monatshefte,  Bd.  39,  S.  i  — 16  (Oktober  1875).  —  Buch- 
ausgabe: Ein  stiller  Musikant.  Psyche.  Im  Nachbarhause 
links.    Drei  Novellen.    Braunschweig  1876,  S.  125  — 186. 

—  Ges.  Schriften,  1891,  Bd.  10. 

39.  Von  Kindern  und  Katzen.  Erster  Druck:  Deutsche- 
Jugend,  hg.  V.  Jul.  Lohmeyer,  Bd.  9,  S.  20 — 23.  —  Ges. 
Schriften,  1891,  Bd.  8. 

40.  Aquis  submersus.  Reinschrift  in  Varel.  —  Erster 
Druck:  Deutsche  Rundschau,  Bd.  9,  S.  i — 49  (Oktober 
1876).  —  Buchausgabe:  Berlin  1877.  —  Mit  überprüftem 
Text  erschien  die  Novelle  Berlin  1886  in  der  Sammlung 
„Vor  Zeiten"  (Zusammenfassung  von  5  Novellen  Storms). 

—  Ges.  Schriften  1889,  Bd.  11. 

41.  Carsten  Curator.  Erster  Druck:  Westermanns  Monats- 
hefte, Bd.  44,  S.  1—38  (April  1878).  —  Das  Jahr  1878 
brachte  dann  noch  zwei  Buchausgaben:  a)  Neue  Novellen 


12  Al.BKUT    KöSTKli:  [70,5 

(Henate.   Carsten  Curator),  Berlin  1878;  b)  Carsten  Curatoj', 
Berlin    KS78.  —  Ges.  Schriften,    i88c),  Bd.  12. 

42.  Renate.  Khuldejuipiere  mit  zalilloseu  Verbesseruut^eri 
Heiden  in  Varel;  .sie  l)ieteu  aber  nichts  für  den  endj^ültigen 
Text  der  oft  iil)erar))eiteten  Novelle.  —  Erster  Druck: 
Deutsche  Huudschau,  Bd.  15,  S.  1—42  (Ai)ril  1878).  — 
Z>vei  Buchausgaben  im  Jahr  1878:  a)  Neue  Novellen 
(Keiuite.  Carsten  Curator),  Berlin  1878;  b)  Ifennte,  Berlin 
1878.  —  1886  in  der  Sammlung  „Vor  Zeiten"  (vgl.  Aquis 
submersus,  N.  40).  —   Ges.  Schriften,   188g,  Bd.   12. 

43.  Zur  Wald-  und  Wasserfreude.  Erster  Druck:  Deutsche 
Rundschau,  Bd.  18,  S.  331  —  368.  --  In  der  Buchausgabe 
vereinigt  mit  „Eekenhof  und  „Im  Brau*^r- Hause"  üIs 
„Drei  neue  Novellen",  Berlin  1880;  nur  leicht  auf  den 
Stil  hin  überarbeitet.  -     Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  13. 

44.  Im  Brauerhause.  Eine  im  Wortlaut  vielfach  überholte 
Kladde  in  Varel.  —  Erster  Druck  mit  der  Überschrift 
„Der  Finger":  Westermanns  Monatshefte,  Bd.  46,  S.  i  — 18 
(April  1879).  —  Buchausgaben:  a)  Zusammen  mit  „Zur 
Wald-  und  Wasserfreude"  und  „Eekenhof"  in  „Drei  neue 
Novellen",  Berlin  1880;  b)  zusammen  mit  „Eekenhof", 
Berlin   1880.  —  Ge.s.  Schriften,   1889,  Bd.  14. 

45.  Eekenhof.  Erster  Druck:  Deutsche  Rundschau,  Bd.  21, 
S.  I  —  28  (Oktober  1879).  ~  Buchausgaben:  a)  Zusammen 
mit  „Im  Brauerhause",  Berlin  i88ü;  b)  zusammen  mit 
„Im  Brauerhause"  und  „Zur  Wald-  und  Wasserfreude"  in 
„Drei  neue  Novellen",  Berlin  1880.  —  1886  in  der  Samm- 
lung „Vor  Zeiten";  vgl.  „Aquis  submersus"  (N.  40).  — 
Ges.  Schriften,    1889,  Bd.  13. 

46.  Die  Söhne  des  Senators.  Erster  Druck:  Deutsche 
Rundschau,  Bd.  25,  S.  1  —  28  (Oktober  1880).  —  Buch- 
ausgaben: a)  Einzelansgabe,  Berlin  1881;  b)  zusammen 
mit  „Der  Herr  Etatsrat",  Berlin  1881.  —  Ges.  Schriften, 
1889,  Bd.   14. 

47.  Der  Herr  Etatsrat.  Erster  Druck:  Westermanns  Mo- 
natshefte,   Bd.    50,    S.  529 — 557.    —    Buchausgabe:    Der 


70, ;?]     Pkolegomena  zu  einer  Ausg.  dek  Werke  Th.  Storms.      13 

Herr   Etatsrat.      Die    Söhne    des    Senators,  Berlin    r88i. 
—  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  18. 

48.  Hans    und    Heinz    Kirch.    —    Erster    Druck:    Wester- 
manns  Mouatsheite,  Bd.  53,  S.  i — 39  (Oktober  1882J.  — 
Buchausgabe:  Zwei  Novellen.  Schweigen.  Hans  und  Heinz 
Kirch.    Berlin   1883,  S.  119 — 241,  —  Ges.  Schriften,  18S9,. 
Bd.  15. 

49.  Schweigen.  Erster  Druck:  Deutsche  Rundschau,  Bd.  35^ 
S.  161 — 202  (Mai  1883).  —  Buchausgabe:  Zwei  Novellen. 
Schweigen.  Hans  und  Heinz  Kirch.  Berlin  1883,  S.  3 
bis   118.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  17. 

50.  Zur  Chronik  von  Grieshuus.  Erster  Druck:  Wester- 
mauns  Monatshefte,  Bd.  57,  S.  i — 24  und  149—175 
(Oktober  und  November  1884).  —  Buchausgabe:  Berlin 
1884.  —  1886  in  der  Sammlung  „Vor  Zeiten",  S.  65  bis 
205:  vgl.  „Aquis  subniersus"  (N.  40).  —  Ges.  Schriften, 
1889,  Bd.  16. 

51.  Es   waren   zwei   Königskinder.     Erster   Druck:    Vom 
Fels  zum  Meer,  Leipzig,  Spemann,  1884  5,  I,  S.  256—269,, 
unter  dem  Titel  „Marx".  —  Buchausgabe  mit  dem  neuen 
Titel,  Berlin    1888.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  18. 

52.  John  Kiew'.  Erster  Druck  unter  dem  Titel  „Eine  stille 
Geschichte'':  Deutsche  Rundschau,  Bd.  42,  S.  321 — 358 
(März  1885).  —  Buchausgabe:  John  Riew'.  Ein  Fest  auf 
Haderslevhuus.  Zwei  Novellen,  Berlin  1885.  —  Ges. 
Schriften,   1889,  Bd.  18. 

53.  Ein  Fest  auf  Haderslevhuus.  Handschrift  in  Varel. — 
Erster  Druck  mit  dem  Titel  „Noch  ein  Lembeck^':  Wester- 
raanns  Monatshefte,  Bd.  59,  S.  80 — 117.  —  Dann  noch 
im  Jahre  1885,  besonders  am  Anfang  und  Ende,  kräftig 
überarbeitet  und  mit  dem  Titel  „Ein  Fest  auf  Haders- 
levhuus" versehen.  Bester  Druck:  die  Paetelsche  Miniatur- 
ausgabe, Berlin  1886.  Daneben:  John  Riew'.  Ein  Fest 
auf  Haderslevhuus.  Zwei  Novellen.  Berlin  1885.  —  1886 
in  der  Sammlung  „Vor  Zeiten";  vgl.  „Aquis  submersus"' 
(N.  40).  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  17. 


14  AiJiEKr  Köstkk:  [70,3 

54.  Bütjor  Basi-h.  Handschrift  in  \nvv\.  —  ErstiT  Druck 
mit  dem  Titel  ,,Aus  engeu  Wänden.  Eine  (iesclüclite", 
Deutsche  Rundschau,  Bd.  49,  S.  1—37  (Oktober  1886). 
—  Buchausgaben:  a)  Bei  kleinen  Leuten.  Zwei  Novellen. 
Berlin  1887,  S.  i — 99;  b)  (minderwertig,  nocli  stärker 
mit  dem  Rundschau-Druck  übereinstimmend)  BötjerBasch. 
Eine  Geschichte.  Berlin  1887.  —  Ges.  Schriften,  1889, 
Bd.  16. 

^5.  Ein  Doppelgänger.  Erster  Druck:  Deutsche  Dichtung, 
hg.  V.  K.  E.  Frauzos,  Bd.  i  (1887),  S.  2-9.  34f.  58—63. 
82 — 87.  106  —  III.  130 — 139.  —  Überarbeitete  Buch- 
ausgabe: Berlin  1887.  Nochmals  leicht  überarbeitet:  Bei 
kleinen  Leuten.  Zwei  Novellen  (Bötjer  Basch.  Ein  Doppel- 
gänger). Berlin  1887,  S.  loi — 208.  —  Ges.  Schriften, 
1889,  Bd.  15. 

56.  Ein  Bekenntnis.  Erste  (überholte)  Niederschriften  und 
Notizen  in  Varel.  —  Erster  Druck:  Westermanns  Monats- 
hefte, Bd.  63,  S.  1—28  (Oktober  1887).  —  Buchausgabe: 
Berlin   1888.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  19. 

57.  Der  Schimmelreiter.  Erster  Druck:  Deutsche  Rund- 
schau, Bd.  55,  S.  I — 34.  161 — 203.  —  Buchausgabe: 
Berlin   1888.  —  Ges.  Schriften,   1889,  Bd.  19. 

Diese  rund  220  Handschriften  und  Drucke  sind  bis  auf 
den  Buchstaben  durchgearbeitet  worden.  Dazu  kommen  noch 
die  erhaltenen  Druckbogen  mit  Stormschen  Korrekturen;  sie 
liegen  in  Varel  und  im  Nachlaß  Erich  Schmidts. 

3- 
Zitiert  werden  die  Novellen  unter  folgenden  Abküi-zungen : 
Abs.:  Abseits. 

Amtsch.:  Der  Amtschirurgus  —  Heimkehr. 
Ang.:  Angelika. 

Apf.:  Wenn  die  Äpfel  reif  sind. 
Aq.:  Aquis  submersus. 
Basch:  Bötjer  Basch. 
Bek.:  Ein  Bekenntnis. 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.      15 

Blatt:  Ein  grünes  Blatt. 
Brauerh.:  Im  Branerhause. 
Bul.:  Bulemanns  Haus. 
Carst.:  Carsten  Curator. 
Christ.:  Beim  Vetter  Christian. 
Cypr.:  Der  Spiegel  des  Cyprianus. 
Dopp.:  Ein  Doppelgänger. 
Eek.:  Eekenhof. 
Et.:  Der  Herr  Etatsrat. 
Griesh.:  Zur  Chronik  von  Grieshuus. 
Had.:  Ein  Fest  auf  Haderslevhuus. 
Hall.:  Eine  Halligfahrt. 
Häw.:  Der  kleine  Häwelmann. 
Heid.:  Draußen  im  Heidedorf. 
Heut':  Von  heut'  und  ehedem. 
Hinz.:  Hinzelmeier. 
Imm.:  Immensee. 
Jens.:  Von  Jenseit  des  Meeres. 
Jürg.:  In  St.  Jürgen. 
Kam.:  Am  Kamin. 
Kind.:  Von  Kindern  und  Katzen. 
Kirch:  Hans  und  Heinz  Kirch. 
Kön.:  Es  waren  zwei  Königskinder. 
Kuch.:  Zwei  Kuchenesser  der  alten  Zeit. 
Mal.:  Eine  Malerarbeit. 
Markt:  Drüben  am  Markt. 
Marthe:  Marthe  und  ihre  Uhr. 
,Mus.:  Ein  stiller  Musikant. 
Nachb.:  Im  Nachbarhause  links. 
Popp.:  Pole  Poppenspäler. 
Posth.:  Posthuma. 
Psyche:  Psyche. 
Reg.:  Die  Regentrude. 
Ren.:  Renate. 
Riew':  John  Riew'. 
Rosen:  Späte  Rosen. 

Phil.-hist.  Klaase  1918.  Bd.  I.XX.  j.  2 


i6  Ai,nKRT  KösTKu:  (70.3 

Saal:  Im  Saal. 

Schimni.:  Der  SchimnielreiU'r. 

Schloß:  Im   Schloß. 

Schw.:  Schweigen. 

Seil.:  Die  Söhne  des  Senators. 

Sonn.:  Im   Sonnenschein. 

Staatsh.:  Auf  dem  Staatshof. 

Tann.:  Unter  dem  Tannenbaum. 

Univ.:  Auf  der  Uuiver.>^ität 

Vf^r.:  Veronica. 

Viel.:  Viola  tricolor. 

Waldw. :  Waldwinkel. 

Wies:  Lena  Wies. 

WWfr  :  Zur  Wald-  und   Wasserfreude. 

4- 
Die  Handschriften  von  Storms  Novellen  haben  sehr  ver- 
schiedenen Wert,  weil  der  Dichter,  abgesehen  von  wenigen 
Ausnahmen,  stets  mehrere  Niederschi'iften  anfertigte  und  erst 
durch  ein  so  umständliches  Verfahren  seine  Dichtungen  zur 
Vollendung  erhob.  Er  arbeitete  sehr  sorgfältig,  aber  langsam. 
Nur  wenige  Erzählungen,  2.  B.  die  „Regentrude",  „Pole  Poppen- 
späler",  „Es  waren  zwei  Königskinder",  hat  er  schnell  in  Einem 
Zuge  hingeschrieben.  Sonst  hat  er  stets  viel  Zeit  gebraucht. 
Im  Durchschnitt  erforderte  eine  größere  Novelle  in  seinen 
späteren  Lebensjahren  die  sämtlichen  fünf-  bis  sechsstündigen 
Vormittage  von  vier  bis  sechs  Monaten,  Sein  Verfahren  war 
dem  ähnlich,  das  uns  von  Ibsen  bei  seinen  Dramen  berichtet 
wird.  Er  besjann  häufig  damit,  Bruchstücke  des  neuen  Werkes 
auf  Zettel  zu  schreiben;  Reste  von  Amtsakten,  wie  sie  noch 
erhalten  sind,  Rückseiten  von  Briefumschlägen,  Umhüllungen 
von  Kreuzbandsendungen  bedeckten  sich  mit  Einfällen  und 
Skizzen.  Aus  ihnen  erwuchs  die  erste  Niederschrift,  meist 
auf  eng  gefüllten  Folio  Bogen.  An  diesen  wurde  dann  zu- 
erst ins  Große  geändert,  indem  dort,  wo  die  Erzählung  zu 
geschwind  vorwärts  eilte  oder  eine  Unklarheit  blieb,  ein  ver- 


70,  3j     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.      1 7 

weilender  Einschub  eingelegt  wurde,  andere  Stellen  eine  er- 
barmungslose Kürzung  erfuhren,  so  daß  bisweilen  eine  halbe 
Seite  zu  einem  einzigen  Satze  zusammenschmolz. 

Auch  ein  andres  Verhalten  kommt  vor:  Storm  geriet,  zu- 
mal in  der  Frühzeit,  leicht  in  die  Gefahr  zu  beschreiben;  be- 
sonders Landschafts-  oder  sonstige  Naturschilderungen  hielten 
den  Gang  der  Erzählung  auf;  sie  dienten  nicht  immer,  wie  in 
„Wald Winkel",  dem  künstlerischen  Zweck,  zu  versinnlichen, 
wie  die  handelnden  Menschen  ganz  dem  Bann  des  Gartens 
oder  des  Waldes  verfallen,  sondern  sie  wurden  oft  Selbst- 
zweck. Denn  Storm  mißbilligte  die  verweilende  Sehilderuno- 
nicht  durchweg,  sondern  hat  sie  z.  B.  bei  Stifter  gern  ver- 
teidigt. Ihn  selbst  aber  rief  ein  gesundes,  richtiges  Gefühl 
immer  wieder  auf,  solche  lastenden  Einschiebsel  aus  der  be- 
wegten Darstellung  zu  entfernen.  Und  da  ist,  z.  B.  bei  der 
Novelle  „Im  Sonnenschein",  sein  besserndes  Verfahren  sehr 
bezeichnend.  Hatte  er  der  Versuchung  nicht  widerstanden, 
solch  eine  stillstehende  Beschreibung  irgendwo  einzuschalten, 
so  verwarf  er  sie  bei  der  Überarbeitung  nicht  völlig,  sondern 
löste  sie  in  ihre  Elemente  auf  Er  rettete  die  Bestandteile 
der  Schilderung  hierhin  und  dorthin,  wo  sie  in  ihrer  Ver- 
einzelung nicht  mehr  hemmend  wirkten,  und  schob  die  Sätze 
wie  bunte  Steine  eines  Mosaiks  versuchsweise  an  diese  oder 
jene  Stelle,  bisweilen  mehrmals  wechselnd,  bis  jeder  dort  stand, 
wo  er  augenblicklich  die  erwünschteste  Wirkung  tat. 

Erst  aus  solchen  Vorarbeiten  sincr  dann  die  zweite  Ab- 
Schrift  hervor,  die  in  einzelnen  Fällen  abermals  von  Ver- 
besserungen wimmelte.  Karl  Emil  Franzos  (Deutsche  Dich- 
tung, Bd.  5,  S.  30)  hat  den  Anblick  solch  einer  Handschrift 
beschrieben,  in  der  der  unverdrossene  Künstler  oft  für  ein 
einzelnes  Wort  drei-,  viermal  nach  immer  neuem  Ersatz 
suchte.  Gewöhnlich  aber  war  das  letzte  Ergebnis  eine  pein- 
lich saubere  Niederschrift  auf  Briefbogen  in  Oktavformat. 
Das  waren  dann  die  Druckvorlagen;  und  sie  sind,  wie  meine 
eifrigen  Umfragen  festgestellt  haben,  leider  zum  größten  Teil 
in  den  Druckereien  oder  Redaktionen  vernichtet  worden.  Was 


i8  Ai.BEUT  Köstbr:  \7°' ^ 

sich  in  Varel  m  der  treuen  Oblint  von  Fräulein  Gertrud  Storni 
oder  in  Privatbesitz  findet,  sind  nieistcus  Kladden. 

Nun  könnte  wohl   einer  fraoeu:  was  ist  denn  damit,  ab 
gesehen  von  dem  Pietäts-  und  Autog-raphenwert,  so  viel  ver- 
loren? Der  Druck  ist  doch  sicher  besser  als  die  Vorlage,  zu- 
mal wenn  sich  sogar  bisweilen  die  Korrektur-  oder  Kevisious- 
bogeu    erlialten    haben.     Und    wenn    gar    der    Dicliter    sel])st 
später  nochmals   seine  Novellen   überarbeitete,    so   sind   doch 
die  iüufi-sten  authentischen  Drucke   die   besten.     Aber  das  ist 
nicht    unbedingt   richtig.    AVir    werden    an    einer   Menge    von 
Fällen   sehen,   daß   nicht  nur   der  Setzer,   soudcrn   sogar   der 
Dichter   selbst  viele   gute  Lesungen   seiner  Handschriften  bei 
der  Drucklegung  überselien   hat.    Wo   also   dorn  Herausgebe)- 
Zweifel  aufstoßen,  ob  die  Drucke,  selbst  w^o  sie  sämtlich  mit 
einander   übereinstimmen,    das  Richtige   bringen,   und    ob   er 
eine  Wendung  in  den  Buch -Ausgaben  dem  Dichter  zutrauen 
dai-f  oder  nicht,  da  hat  er  die  Pflicht,  auf  die  Reinschrift,  ja, 
soo-ar   gelegentlich,    aber   nur   mit   großer  Vorsicht   und   nur 
mit    voller    Kenntnis    von    Storms    Schreibart    und    Sprach- 
orebrauch,    auf  die    Kladde    zurückzugehn.    Und   nun    kommt 
hinzu:    Der  Fall,   den  ich   soeben  annahm,    daß  nämlich   die 
Drucke  sich  völlig  decken,  d.  h.  nicht  nur  so  ungefähr,  son- 
dern auf  größere  Strecken  bis  in  die  Wortformen  mit  einander 
übereinstimmen,  kommt  sehr  selten  vor. 

5- 
Das  führt  uns  einen  Schritt  weiter,  zu  einer  Betrachtung, 
die  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  überflüssig  erscheint,  in 
die  ich  auch  ein  paar  Dinge  mit  einbeziehe,  die  wohl  ent- 
behrlich sind,  die  aber  doch  zuletzt  sich  für  die  Textkritik 
als  wichtig  erweist.  Überblickt  man  nämlich  den  vorhin  mit- 
geteilten Auszug  aus  der  Bibliographie  der  Stormschen  No- 
vellen, so  sieht  man,  daß  dieser  Dichter,  abgesehen  von  seiner 
letzten  Zeit,  wo  er  im  wesentlichen  (aber  nicht  ausschließ- 
lich) bei  Westermann  in  Braunschweig  und  Gebr.  Paetel  in 
Berlin   seine    Stätte    fand,    von    einem  Verleger    zum    andern 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.      i  g 

wanderte.  Seine  Bücher  erschienen  bei  Schwers  in  Kiel, 
Dimcker  in  Berlin,  Schindler  in  Berlin,  Brunn  in  Münster, 
Mauke  in  Hamburg,  Heiberg  in  Schleswig.  Und  betrachtet 
man  gar  die  Zeitschriftendrucke,  so  gewahrt  man,  außer 
den  Verlagsanstalten,  die  einzehie  Gedichte  veröffentlichten, 
Schwers  in  Kiel  (für  Biernatzkis  Volksbücher),  Gebr.  Katz  in 
Dessau  und  Trewendt  in  Breslau  (für  die  Argo),  Keil  in 
Leipzig  (für  die  Gartenlaube),  Weber  in  Leipzig  (für  die 
Illustrierte  Zeitung),  den  Bazar- Verlag  in  Berlin,  Haliberger  in 
Stuttgart  (für  „Über  Land  und  Meer"),  Payne  in  Leipzig  (für 
den  „Salon"),  Dürr  in  Leipzig  (für  die  „Deutsche  Jugend"), 
Spemann  in  Leipzig  (für  „Vom  Fels  zum  Meer"),  Bong  in 
Stuttgart  (für  die  „Deutsche  Dichtung"). 

In  Storms  Jugend  hing "  dies  Suchen  und  Tasten  damit 
zusammen,  daß  er  noch  wenig  bekannt  war  und  seine  stillen 
Büchlein  von  unscheinbarem  Format  nicht  als  gauo-bare  Ver- 
lagsartikel galten.  Umgekehrt  bewarben  sich  in  seinem  Alter, 
als  er  der  angesehene  Dichter  war,  die  Herausgeber  und  Ver- 
leger vieler  Zeitschriften  sehr  angelegentlich  um  seine  Werke. 
Daß  er  aber  auch  in  seiner  mittleren  Lebenszeit  fast  jede 
Novelle,  ehe  sie  als  Buch  erschien,  erst  einer  Zeitschrift  ein- 
reichte, hatte  einen  doppelten  Grund.  Einerseits  war  damals 
das  Reklamewesen  noch  bei  weitem  nicht  so  ausgebildet,  wie 
heute;  ein  Dichter,  der  bekannt  werden  wollte,  mußte  viel- 
fach für  das  Zustandekommen  von  Kritiken  selbst  sorgen 
N'och  wirksamer  aber  war  es,  wenn  ein  Schriftsteller,  und 
gar  ein  Anfänger,  durch  eine  Zeitschrift  den  Lesern  vor- 
gestellt wurde.  Anderseits  waren  diese  Erstdrucke  vor  der 
Buchausgabe  eine  wichtige  Einnahmequelle,  auf  die  Storm 
den  größten  Wert  legen  mußte.  Denn  er  war  Vater  vieler 
Kinder,  denen  aUen  er  eine  ausgezeichnete  und  kostspielige 
Erziehung  geben  ließ;  und  er  liebte  es,  ohne  irgend  welchen 
Luxus  zu  treiben,  doch  ein  gastfreies  Haus  zu  halten,  das 
wiederum  nicht  geringe  Mittel  erforderte. 

Und  hier  ist  es  wohl  erlaubt,  ehe  wir  zu  unserm  Wege 
zurückkehren,    eine  kleine  Abschweifung  zu   machen.     Storm 


20  Ar.BERr  Köster:  *  [70. 3 

klagt  sein  ganzes  Leben  hiiidurcli.  wie  wenig  man  seine  Ge- 
dichte und  Novellen  kaufe,  wie  selten  eine  neue  Auflago  n()tig 
sei  Am  30.  Novemher  1879  schreibt  er  au  Eiicii  Schmidt: 
,, Außer  'Immonsee'  und  ein  paar  älteren  Sachen  kenne  ich 
l)ei  meinen  l'rodnkteu  keine  zweite  Auflage,  obgleich  genug 
von  mir  und  au  mich  geredet  und  geschrieben  wird.  Ich 
glaube,  meine  Bücher  sind  nicht  dick  genug;  ich  bin  mit  der 
unglückseligen  Kürze  behaftet."  Und  am  28.  November  1884 
an  denselben:  „Auflagen  macheu  von  meinen  Sachen  nur,  die 
vor  wenigstens  zwanzig  Jahren  erschienen  sind."  Hört  man 
solche  Worte,  so  ist  man  geneigt,  sich  einen  darbenden  Dichter 
vorzustellen.  Aber  dieses  irrige  Phantasiebild  muß  richtig 
gestellt  werden;  und  es  ist  daher  gut,  sich  einmal  eine  Aus- 
wahl der  Einnahmen  Storms.  besonders  auch  der  Zeitschriften- 
honorare, zu  vergegenwärtigen.  Bei  der  Zusammenstellung 
gebe  ich  die  Belegstellen  nur  dort  an,  wo  ich  aus  unge- 
drucktem Material  schöpfe;  alle  übrigen  Notizen  stammen  aus 
den  gangbaren  Briefsammlungen. 

Im  Anfang,  das  muß  man  zugestehen,  ging  es  Storm 
als  Schriftsteller  schlecht.  Für  die  erste  Auflage  der  Ge- 
dichte erhielt  er  keinen  Heller,  und  für  das  Honorar  der 
zweiten  (50  Taler)  mußte  er  den  liegen  gebliebenen  Rest  der 
ersten  aufkaufen.  Erst  die  dritte  brachte  ihm  das  erste  Geld 
ein,  100  Taler;  für  die  fünfte,  1875,  forderte  er  185  Taler 
(an  Gebr.  Paetel,  20.  Juni  1874).  Bescheiden  waren  in  den 
Fünfziger-  und  Sechzigerjahren  auch  die  Novellenh onorare. 
Der  Argo- Druck  von  „Ein  grünes  Blatt"  brachte  go  Taler; 
der  „Hinzelmeier"  bei  Biernatzki  2V2  Friedrichsd'or,  in  der 
Schlesischen  Zeitung  5  P'riedrichsd'or,  in  der  Buchausgabe 
60  Taler;  von  „Immensee"  jede  Auflage  50  (später  80)  Taler; 
für  die  Novelle  „Im  Schloß"  hat  die  Garteulaube  erst  mit 
Hängen  und  Würgen  100  Taler  bewilligt  (an  Pietsch  16.  De- 
zember 1S61);  „Auf  der  Universität"  war  gar  nicht  unterzu- 
bringen, weil  keine  Zeitschrift  die  geforderten  180  Taler  geben 
woUte;  „Abseits",  „Uuter  dem  Tannenbaum",  „Die  Regen- 
trude"  honorierte  die  Illustrierte  Zeitung  mit  je   100  Talern. 


70,  3]      Proi.egomena  zu  einer  Ausg.  dek  Werke  Th.  Storms.      2  i 

Noch  am  2  Dezember  1867  klagte  Storm  seinem  Sohn  Haus: 
„Ich  kann  nicht  zum  Lohn  meiner  Arbeit  kommen'",  obwohl 
doch  damals  schon  Westermanii  sich  des  Dichters  angenom- 
men uud  für  „Von  Jeuseit  des  Meeres"  und  „Eine  Maler- 
arbeit" je  150  Taler  gezahlt  hatte;  „Ist  doch  etwas",  schrieb 
Storm  am  22.  November  1864  an  Pietsch.  Bis  dahin  also 
war  für  ihn  der  Abdruck  der  erzählenden  Dichtungen  in  Zeit- 
Schriften  im  wesentlichen  nur  ein  Mittel,  in  die  Öffentlich- 
keit zu  dringen,  noch  keine  erhebliche  Einnahmequelle. 

Aber  seit  der  Mitte  der  Siebzigerjahre  ging  es  aufwärts 
Das  ist  die  Zeit,   über   die   uns   noch  einmal  eine   besondere 
Monographie  beschert  werden  muß,  die  Zeit,    in  der  aus  der 
Niederung  der  Familien    und  Damen-  und  Moden-Blätter  sich 
die  „Deutsche  Rundschau"  herausarbeitete  und  durch  ihr  Vor- 
bild andre  Unternehmungen  mit  emporriß.     Die  Entwickluno" 
dieser  Zeitschrift   ist   ein  Ruhmesblatt   in   der  "Geschichte  des 
damaligen  Verlages;    die   vornehmsten  Mitarbeiter    waren   nur 
durch  große  Energie  und  ansehnliche  Geldopfer  zu  gewinnen. 
Und  das   kam  auch  Storm   zugute.     Er  fühlte  sich  plötzlich. 
Aus  den  Briefen  an  Heyse  uud  andere  klingt  es  uns  entgegen. 
Wenn  alle  Welt  damals  klagte,  daß  die  Erzählerkunst  verfalle 
und    daß   es   nur  wenige  Novellisten   ersten  Ranges   gebe,    so 
wußte  er,   daß   er  zu   dieser   kleinen  erlesenen  Schar  gehöre. 
Daraus  aber  leitete  er  nun  auch  das  Recht  ab,   wie   die   an- 
gesehenen  Maler   jener   Jahre    höhere   Honorare    zu   fordern 
Das  war  jetzt  Ehrensache,  abgesehen  von  der  Rücksicht  auf 
die  Sicherstellung  der  Seinen.     Und  nun   schnellten   auf  ein- 
mal bei  ihm  die  Einnahmen  in  die  Höhe;  für  den  Rundschau- 
druck  von  „Aquis   submersus"   forderte   und   erhielt  er   1876 
schon    1800   Mark,    für    den   von    „Garsten    Curator"   (1877) 
3000    Mark,    für    „Renate"    (1878)    3000    Mark    (Briefe    an 
Gebr.  Paetel).    Aber  da  war  auch  der  Gipfel  erreicht.    Selbst 
der    opferwilligste  Verleger   konnte    so    nicht   fortfahren;    der 
Dichter    mußte    einlenken.     Es    wurde   für   die   Zukunft    eine 
Vereinbarung  getroffen,   die  dem  Bucherfolg  Stormscher  No- 
vellen   einigermaßen   entsprach;    denn    der   war   noch    immer 


2  2  Ai.nKur  Köstkk:  \7^>  i 

uicht  grtiß.  luiiut'iliiu  bliehcii  aucli  in  Zukuiiil  die  Zeil 
schrifteuhoiiorcire,  die  alljiiliilitjh  nach  Husum  uud  Hadenisir- 
scheu  wuuderton,  stiittlicli  genug,  auch  von  WesteruutuuH 
Seite:  „Der  Finger"  (1879)  1300  Mark;  „Hans  uud  Hein/ 
Kirch"  (1882)  3100  Mark  (an  Erich  Schmidt,  27.  Januar  1884); 
,Zur  Chronik  von  Grieshuus"  (1884)  2400  Mark;  „.lohn 
Kiew"'  (1885     IQ 60  Mark. 

6. 

Nun  entstellt  aber  die  Frage:  Hat  diese  mehrfache  Druck 
legung  eines  und  desselben  Werkes  bei  verschiedenen  Ver- 
legern, hat  das  Hin  und  Her  zwischen  Zeitschriften-  und 
Buchdruck  Eintluß  auf  den  Text  der  Novellen  gehabt  oder 
nicht?  Konkret  ausgedrückt:  Hat  Storm  die  Handschriften 
seiner  Werke  auf  Gnade  und  Ungnade  seinen  wechselnden 
Verlegern  oder  gar  den  Setzern  überlassen,  oder  hat  er  selbst 
Korrektur  gelesen? 

Über  seine  frühesten  Werke,  die  er  Biernatzkis  Volks- 
buch, der  Arge,  der  Gartenlaube,  dem  Bazar  usw.  anvertraut 
hat,  sind  wir  kaum  unterrichtet.  Wir  können  nur  Vermutun- 
gen über  ihi-e  Zuverlässigkeit  ausspreche)!.  Wenn  wir  sehen, 
welche  Eingriffe,  z.  B.  bei  dem  Gedicht  „Die  Herrgottskinder", 
ein  Herausgeber  wie  Biernatzlvi  sich  erlaubte,  dann  scheint 
es  unmöglich,  daß  Storm  dazu  die  Genehmigung  erteilt  hat. 
Ebenso  ist  es  bei  einzelnen  Novellen,  z.  B.  „Im  Schloß",  ganz 
klar,  daß  er  keine  Korrektur  des  ersten  Druckes  gelesen  hat; 
denn  er  konnte  hier  gegen  eigenmächtige  Änderungen  des 
Textes  erst  Einspruch  erheben,  als  es  bereits  zu  spät,  die 
Novelle  schon  in  den  Händen  der  Leser  war.  Das  und  vieles 
Ahnliche  wird  aus  den  Anmerkungen  meiner  Ausgabe  zu  er- 
sehen sein.  Auch  den  Zeitschriftendruck  von  „Drüben  am 
Markt"  hat  Storm  nicht  durchgesehen;  dafür  weist  .die  No- 
velle zu  viele  Fehler  auf,  die  durch  falsche  Lesung  der  Hand- 
schrift entstanden  sind. 

Für  seine  späteren  Werke  und  Ausgaben  dagegen  wurde 
er  ein  eifriger  Uberwacher;  und  erhaltene  Rohdrucke  zeigen, 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.      2 


3 


wie  viele  Änderungen  er  noch  während  der  Drucklegung  ver- 
fügte und  wie  er  seihst  Kleinigkeiten  der  Wortformen  unter 
die  Lupe  nahm,  freilich  nicht  in  S3'stematischer  Folgerichtig- 
keit oder  mit  der  ausnahmelos  durchgeführten  Strenge  eines 
Berufskorrektors.  Denn  das  muß  man  stets  im  Auge  haben: 
ein  Dichter  ist  erfahrungsgemäß  der  schlechteste  Korrektur- 
leser für  seine  eigenen  Werke.  So  viel  ihm  auch  an  einem 
sorgfältigen  Druck  liegt,  die  künstlerische  Gesamtwirkung  ist 
ihm  doch  wertvoller  als  die  Buchstabenrichtigkeit  im  Ein- 
zelnen. Das  gilt  auch  für  Storm.  Und  wenn  bei  manchem 
im  Nachlaß  Storms  oder  Erich  Schmidts  aufbewahrten  Kor- 
rekturbogen die  Zahl  der  Verbesserungen  gegen  das  Ende  ab- 
nimmt, so  hat  das  seinen  Grund  weniger  in  der  zunehmenden 
Sorgfalt  des  Setzers  als  in  der  schwindenden  Aufmerksamkeit 
des  Dichters,  den  die  Gestalten  seiner  Phantasie  beim  Lesen 
viel  zu  sehr  in  ihren  Bann  gezogen  haben,  als  daß  er  noch 
Zeile  um  Zeile  hätte  durchbuchstabieren  können. 

Aber,  von  diesen  Einschränkungen  abgesehen,  war  Storni 
in  der  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  doch  ein  treuer  Wächter 
beim  Druck  seiner  Werke.  Selbst  auf  das  Format,  auf  das 
richtige  Verhältnis  der  Größe  der  Lettern  zur  Wichtigkeit  des 
Inhalts,  auf  die  Farbe  des  Einbands,  kurz,  auf  die  Harmonie 
zwischen  der  Dichtung  und  ihrem  äußeren  Gewand,  achtete  er 
nach  dem  Maß  seiner  bescheidenen  Geschmacksbildung  und  dem 
Stand  der  damaligen  Buchkunst  oder  -unkanst.  „Schließlich 
verkauft  zur  Hälfte  doch  der  Einband  das  Buch",  schrieb  er 
am  5.  Juni   1872  an  Gebr.  Paetel. 

Und  so  hat  er  denn  selbstverständlich  auch  den  Text 
gesichert  sehen  wollen.  Besonders  den  der  Gedichte.  Da 
schrieb  er  über  die  5.  Auflage  am  17.  März  1875  an  Gebr. 
Paetel:  „.  .  .  Ich  werde  diese  Bogen  aufs  schärfste  durch- 
gehen, Ihnen  demnächst  die  Resultate  mitteilen,  so  daß  auf 
beiden  Seiten  ein  ganz  correctes  Exemplar  existirt,  wonach  — 
auch  wenn  ich  nicht  mehr  bin  —  erfoderlichen  Falles  ge- 
druckt werden  kann."  Ebenso  kündete  er  schon  am  29.  No- 
vember 1878  für  die  erst   1880  erschienene  6.  Auflage   seine 


24  Amjkut  Köstkr:  |"7f\3 

Absicht  an,  sie  zu  iilxTprüfcn,  und  führte  die  Korrektur  aucli 
für  die  7.  (1885)  durch.  Nicht  uiinder  sorgte  er  l'ür  die 
erste  Sammlung  der  Werke  von  1868,  auch  wenn  die  Durch- 
sicht für  ihn  eine  ,,ahsclieuliche'*  Arbeit  war.  Selbst  das  uns 
heute  wenig  erfreuende  'ritell)hitt  mit  der  llöteuden  Muse  — 
„sie  sitzt  im  Tiiynjiane"  — ,  das  sich  hinge  erhielt,  fand  seinen 
Beifall.  Die  späteren  Zusat/bände  sind  alle,  Bogen  für  Bogen, 
durch  seine  Hand  gegangen.  Nicht  minder  hat  er,  wenn  die 
Firma  Paetel  einzelne  Novellen  von  Schindler  oder  andern 
Verlegern  überualim  und  neu  auflegte,  diese  Drucke  korri- 
giert (an  Gebr.  Paetel,   10.  Oktober  1874). 

Bei  den  Sonderausgaben  der  Novellen  war  das  Verhalten 
verschieden.  Wo  die  neue  Auflage,  z.  B.  bei  „Aus  St.  Jür- 
gen" (1877),  ganz  mit  der  alten  übereinstimmte,  ließ  er  die 
Druckerei  gewähren;  wo  ihm  ein  Werk,  wie  „Äquis  submer- 
sus",  sehr  am  Herzen  lag,  las  er  auch  die  Korrektur  der 
2.  Auflage.  Bei  „Schweigen"  (1883)  oder  „Bötjer  Basch" 
(1886)  leitete  er  den  Druck  der  Oktavausgabe,  während  er 
die  Sorge  für  die  Miniaturausgabe  der  Verlagsbuchhandlung 
übertrug.  Gern  rief  er  die  Hilfe  der  Freunde  an:  Erich 
Schmidt  bekam  besonders  Korrekturbogen  der  archaisierenden 
Novellen  nach  Straßburg  und  Wien  geschickt  und  spendete 
wohl  als  Kenner  der  älteren  Sprache  manchen  Rat;  Petersen 
in  Schleswig  unterstützte  den  Dichter  beim  Druck  der  „Söhne 
des  Senators",  die  so  recht  für  ihn  geschrieben  waren. 

Storra  ließ  sich  dreifache  Korrekturabzüge  senden,  um 
einen  davon  später  für  die  Buch-Ausgabe  herzurichten.  Bei 
„Hans  und  Heinz  Kirch"  z.  B.  erkennt  man  den  typischen 
Vorgang  (an  Gebr.  Paetel,  11.  August  1882):  Die  Novelle  er- 
schien zuerst  in  Westermanns  Monatsheften;  ein  Abzug  dieses 
Druckes  wurde  von  Storm  genau  durclisearbeitet  und  diente 
als  Manuskript  für  die  Paetelsclie  Buch- Ausgabe,  für  die  der 
Dichter  nochmals  Korrektur  las.  Ähnlich  geschah  es  bei  dem 
„Fest  auf  Hadersie vhuus",  wo  wieder  die  Zurichtung  der 
Bogen  eine  „Höllenarbeit"  war  (an  Gebr.  Paetel,  25.  Oktober 
1885). 


7o,  :,]        PrOLEGOMENA  zu  EiNKR  kvHG.  DER  WerKE  Th.  StORMS.        25 

Aber  grade  hier  an  diesen  beiden  Beispielen  erkennen 
wir  nun  auch  die  Gefahr,  die  den  Stormschen  Diebtunsren 
heim  Übergang  von  einem  Verleger  zum  andern  drohte:  ein 
Westermannscber  Zeitschriftendruck  diente,  wenn  auch  von 
dem  Dichter  noch  so  sorgfältig  durchgesehen,  als  Vorlage  für 
ein  bei  Paetel  erscheinendes  Buch.  Jeder  Kundige  vreiß,  was 
das  bedeutet.  Alle  großen  Zeitschriften  haben  ihre  festen 
Redaktions-  und  Setzergewohnheiten  und  übertragen  sie  mehr 
oder  minder  streng  auf  jeden  eingelieferten  Beitrag.  Storm 
hat  sich  nun  redlich  bemüht,  diese  LTuiformierung  von  seinen 
Dichtung-en  fernzuhalten.  Aber  es  war  vergebens.  Die  Setzer- 
tyrannei  war  stärker  als  der  Wille  des  Künstlers.  Er  führte 
Klage  darüber,  aber  vergebens.  Am  7.  Juli  1881  z.B.  schrieb 
er  an  George  Westermann:  „Bei  dem  Druck  des  'Etatsrats' 
für  die  Monatshefte  sind  mir  orthographische  Correcturen 
mit  der  Randbemerkung  'So  ist  unsre  Orthographie'  ver- 
weigert worden.'^  Er  war  nun  zwar  bereit,  sich,  so  weit  es 
den  Zeitschriftendruck  anging,  zu  fügen;  nur  für  die  Buch- 
Ausgaben  (Einzeldrucke  und  Gesamtausgaben)  erwartete  er 
genauere  Beachtung  seiner  Schreibungen.  Aber  wer  anders 
sollte  und  konnte  über  deren  Durchführung  wachen,  als  wie- 
der der  Dichter  selbst?  Und  wie  es  um  dessen  Korrektor- 
fähigkeit stand,  ist  schon  gesagt  worden.  So  dreht  man  sich 
also  immer  im  Kreise.  Die  Sachlage  ist  klar:  Storm  wünschte 
eine  möglichst  genaue  Wiedergabe  seiner  Niederschrift,  war 
jedoph  nicht  imstande,  sie  restlos  durchzusetzen.  Am  17.  Sep 
tember  1884  muß  er  einmal  in  einem  Brief  an  Erich  Schmidt 
zugeben:  ,, Kleinigkeiten  in  Orthographie  und  Interpunktion 
habe  ich  hier  stehn  lassen."  Da  war  er  also  (es  handelt  sich 
um  die  „Chronik  von  Grieshuus")  beim  Korrekturlesen  er- 
lahmt. 

Die  Pflicht  eines  pietätvollen  Herausgebers  liegt  meines 
Erachtens  nach  alledem  darin,  den  Stormschen  Text  von  den 
Willkürlichkeiten  der  Drucker  wieder  zu  befreien,  also  das 
Bemühen,  das  der  Dichter  begonnen,  aber  nur  halb  voll- 
endet hat,   zu  Ende   zu  führen.     Das  wäre  ja   nun,  wenn   es 


I 


2  6  ALnKUT  Kt'isTKu: 

sich  wirklicli  nur  um  Ortliogriii)hio  mitl  Interpunktion  han- 
ili'lte,  eine  leichte  Auf<^abe.  Die  Grundsätze  dafür  wären  an» 
den  lieinschrifteu  th's  Diehters.  den  (Mhaltrnen  Korrektur- 
hogen  und  den  naclnveislieh  vou  ilini  peinlich  durchgefeilten 
und  überprüften  Einzeldrucken,  die  ihm  dir  „  llcillenarbeit" 
verursacht  hatten,  zu  «rewiaDen.  Wäre  er  in  diesen  Vorlagen 
nicht  immer  folgerichtig  verfahren,  hätte  er  in  Ermüdung 
oder  Nachlässigkeit  einige  Fehler  stehen  lassen,  so  wäre  auch 
da  die  Entscheidung  leicht  zu   treifcn  gewesen.  | 

7- 
Aber  so  einfach  steht  die  Sache  nicht.  Denn  abgeseheji 
von  manchem  andern,  was  ihm  beim  Korrigieren  entgangen 
war,  und  worüber  später  zu  berichten  ist,  hat  er  unter  dem 
Wort  „Orthographie"  offenbar  mancherlei  mit  einbegriffen, 
was  wir  als  Festlegung  und  Schreibung  der  Flexi o.nsformen 
bezeichnen  würden,  Fragen  also,  ob  man  den  dat.  sg.  eine^ 
stark  flektierten  ei.nsilbigen  Maskulinums  oder  Neutrums  durch 
die  Endung  e  bezeichnen  solle  oder  nicht,  also  ob  man  „dem 
Tag"  oder  „dem  Tage",  ,,dem  Feld"  oder  „dem  Felde"  zu 
schreiben  habe,  oder  ob  die  Singularform  des  Imperativs  da« 
auslautende  e  beliebig  abwerfen  dürfe,  oder  ob  man  vou 
Pronomina  und  Adjektiven  wie  „unser,  ander,  inner"  iin  acc. 
sg.  und  dat.  pl.  die  Formen  „unsren,  andren,  innren"  oder 
„unsern,  andern,  innern"  oder  „unseren,  anderen,  inneren"  (die 
Lieblingsformen  des  Verlages  Westermann)  zu  bilden  habe, 
und  vieles  mehr.  Daß  in  der  Tat  Storm  an  solche  Fragen 
gedacht  hat,  beweisen  einige  Briefe  an  die  Gebrüder  Paetel. 
Am  II.  Nov.  1878  schrieb  er  mit  Bezug  auf  die  Novelle 
„Renate":  „Ich  bitte  um  Revisionsbogen  der  ganzen  Novelle 
unter  Wiederbeifügung  der  anfolgenden  Correcturbogen. 
Da  durchweg,  wo  ich  die  gekürzte  Form  gewählt  habe,  vom 
Setzer  —  der  gewiß  früher  Schulmeister  gewesen  ist  —  die 
Worte  durch  Hinzusetzung  des  e  um  eine  Sylbe  vermehrt 
sind,  so  ist  dadurch  der  ganze  Rhythmus  des  Styles  zerstört." 
Und    als    er  die  Buchausgabe    des   ,,John  Riew'"   korrigierte, 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     27 

schrieb  er  am  i.  Oktober  1885:  „In  Betreff  der  neuen  Druck- 
sache hat  der  Herr  Setzer  es  sich  augemaßt,  wo  er  es  nicht 
ein  eiuzebi  Mal  vergessen  hat,  das  „frug"  in  der  Druckvor- 
lao-e  in  „fragte"  umzugestalten,  wodurch  von  Andrem  abge- 
sehen, der  rhythmische  Satzklang  resp.  verändert  oder  zer- 
stört wird.  Jedenfalls  ist  das  eine  unglaubliche  Eigenmacht, 
und  ich  möchte  Sie  bitten,  Ihrerseits  dergleichen  Ungehörig- 
keiten ernstlich  zu  untersagen." 

Das  sind  sehr  aufschlußreiche  BriefsteUen,  die  nicht  nur 
den  Dichter  kennzeichnen,  sondern  auch  dem  Herausgeber 
den  rechten  Weg  weisen.  Nicht  die  Grammatik,  wie  sie  der 
Schubueister  lehrt,  nicht  die  Sprachrichtigkeit,  in  der  sich 
Storm,  wie  wir  noch  sehen  werden,  gar  nicht  ganz  sicher 
fühlte,  ist  für  ihn  das  Entscheidende,  sondern  dieser  durch 
und  durch  musikalische  Dichter  ist  aufs  Höchste  empfindlich 
für  den  mit  dem  Inhalt  in  Kongruenz  stehenden  Rhythmus 
der  Periode,  des  Satzes,  des  Satzgliedes,  des  Wortes.  Er  fragt 
nicht,  und  man  darf  daher  bei  ihm  nicht  fragen,  ob  der  Im- 
perativ von  „halten"  „halt"  oder  „halte"  heißt,  sondern  er 
setzt  in  „Bötjer  Basch"  (IV  265,  4)  unmittelbar  neben  einander 

^jBand,  halte  fest,  halt  fest'"  und  ahmt  damit  (J  *  J  #•  *?  J  I  J) 
den  Rhythmus  der  Böttcherschläge  nach.  —  Ein  andres  Bei- 
spiel: Sen.  V  103,  23 ff.  kommt  folgendes  Dialogbruchstück 
zwischen  Mann  und  Frau  vor  (die  in  der  Mitte  stehende 
Frage  spricht  die  Frau): 

„Heuf  ahend  oder  scJion  heute  nachmittag  .  .  ." 
„Warum  nicht  schon  heut'  voi'mittag?'' 
„Nun,  wenn  du  tvillst,  auch  heute  vormittag." 
Man  sieht,  wie  frei  Storm  zwischen  den  Formen  „heut"  und 
„heute"  wechselt.    Und  die  Entscheidung,  ob  A-  die  eine  oder 
die  andre  hier  oder  dort  bevorzugt,  ist  für  ihn  keine  gram- 
matische, sondern  eine  künstlerische;  sie  hat   nichts   zu    tun 
mit  einer  schulmäßigen  Sprachrichtigkeit,  nichts  mit  Hiatua- 
fragen,  nichts  damit,  ob  Storm  einem  apokopierenden  Sprach- 
gebiet angehört  oder  nicht,  sondern  sie  entscheidet  sich  ledig- 
lich nach  dem  Rhvthmus  und  der  Melodie  des  Satzes,  danach. 


28  Alheut  Köstkk:  (70,  j 

welche  \N  orte  voruusgehn  oder  t'olt^cii,  (l;in;uli,  ul»  «his  Wort 
in  einem  Frage-  oder  einem  Aussagesatz  stellt,  uihI  aueh 
danach,  oh  ein  Mann  oder  eine  Frau  s|)richt.  —  Storni  weiß 
ferner  cK'ii  feinen  Gewielitsunteröchied  wohl  zu  herücksich- 
tigen,  der  aui'  ileni  „ich"  liegt,  je  nachdem  man  —  ganz  un 
heküniniert  um  die  summarische,  untersehiedsloae,  hequome 
Iliatusheobachtung  —  sagt:  „huh"  ich"  oder  „habe  ich",  „hatf 
ich"  oder  „hatto  ich".  Ich  habe  »hiher  gegen  die  Drucke  aus 
der  Handschrift  aus  Gründen  des  Khythnuis  wiederhergestellt: 
Sonn.  I  213,  iq  Jtab'  ich  215,  13  Ich  seh'  sie  noch  Stautsh. 
1,  42,  15  Setz'  dich  nur  Schloß  I,  99,  36  glauV  ich  105,  12 
ich  hah'  es  mir  bedacht  105,  28  glmiV  ich  Univ.  I  276,  h 
als  sah'  ich  283,  36  Jetzt  ivcrd^  ich  309,  13  hihr'  ich 
314,  32  hah'  ich  Abs.  I  144,  22  mein'  irh  151,  3  setz^  dich 
Mal.  I  251,  32  ich  seh^  ihn  noch  261,  i  freu  dich  Heid. 
II  142,  5   hatf  ich  148,  22  sagt'  er         Waldw.  III  12,  12 

hah'  ich  29,  7 f.  „Ich  versteh'  das  nicht."  „Versteh'  es  nimmer, 
Franzi!^'  35,  13:  So  tu  das  erst.  Aber  Waldw.  III  42,  27 
Schlafe  süß  Heid.  II  142,  15  hätte  es  (nach  der  Handschrift 
und  den  besten  Drucken).  —  WWfr.  IV  15,  25  korrigiert 
Storm  in  den  von  Erich  Schmidt  aufbewahrten  Korrektur- 
bogen hinein  die  seltsame  Sehreibung  „Gitarrspicderiu"  (was 
ich  natürlich  aufgenommen  habe),  um  dem  schlotterigen 
Rhythmus  „Gitarrespielerin"  zu  entgehen.  —  Amtsch.  II  160 
muß  es  heißen  ,,den  Tag  üher  im  Bette  hleihen",  aber  „uährend 
das  Trinhcasser  vor  seinem  Bett  gefror",  so,  wie  die  Hand- 
schrift, der  Erstdruck,  der  erste  Buchdruck  und  die  Ausgabe 
1.  Hd.  auch  ganz  richtig  haben»  während  die  jüngste  Gesamt- 
ausgabe an  beiden  Stelleu  durch  Verwechslung  der  beiden 
Dativformen  den  Rhythmus  gründlich  verdirbt. 

Und  nun  haben  wir  auch  eine  Antwort  auf  die  vorhin 
gestellte  Frage,  ob  Storm  von  „ander"  einen  zweisilbigen 
oder  dreisilbigen  aco.  sg,  und  dat.  pl.  bildet.  Es  erfordert 
kein  besonders  tiefes  Studium,  um  zu  erkennen,  daß  die 
Normalform  bei  ihm  „andern"  lautet;  sie  kommt  in  der  Über- 
zahl aller  Fälle  vor,  und  zwar  so  entschieden,  daß  (vgl.  Hinz. 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     29 

II  93}  42)  selbst  wenu  alle  Drucke  übereinstimmend  eine  Ab- 
weichung haben,  eine  auftauchende  Handschrift,  die  die  Nor- 
malform bringt,  sie  alle  widerlegen  kann.  Aber  aus  rhyth- 
mischen Gründen,  etwa  um  die  Monotonie  des  zu  lange 
andauernden  trochäischen  oder  iambischen  Tonfalls  zu  unter- 
brechen (Hinz.  II  94,  28  an  swei  anderen  jungen  Augen  [Hand- 
schrift und  sämtliche  Drucke],  Aq.  II  264,  31  ieh  hin  des 
anderen  Mannes  Weih),  vertauscht  er  sie  doch  gelegentlich 
mit  der  dreisilbigen.  Besonders  geschieht  das,  wo  die  häß- 
lichen Klänge  ,,an  der  andern",  ;,von  der  andern''  entstehen 
würden,  also  z.  B.  Aq.  II  2 1 1 ,  29  narh  der  anderen  [Seite] 
212,  31  an  der  anderen  Seife  262,  30  von  der  anderen  Seite 
Ren.  III  176,  32  mit  der  anderen  Eek.  III  101,  39  mit  den 
anderen  113,  42  von  der  anderen  122,  24  in  der  anderen 
Sen.  V  118,  28  auf  der  anderen  Seite  (dagegen  Ren,  III  164,  13 
mit  einer  andern  III  170,  28  am  andern  Nachniiftage).  Un- 
verbrüchlich freilich  führt  der  Dichter  diese  Grundsätze  nicht 
durch.  Will  man  mit  einiger  Sicherheit  erkennen,  warum 
und  unter  welchen  Verhältnissen  Storra  zwischen  diesen 
Formen  wechselt,  so  gibt  der  von  ihm  besonders  sorgfältig 
durchgesehene  Druck  der  Novelle  „Hans  und  Heinz  Kirch" 
von  1883  gute  Belege.  Man  sieht  jedenfalls  schon  hier,  daß- 
ein  handfestes  Normieren,  die  Durchführung  von  einerlei 
Flexions formen  durch  alle  Bände  hindurch  die  zarten  Klang- 
wirkungen dieses  Künstlers  brutal  zerreißen  würde.  Und  so 
blieb  denn  nur  ein  mühevolles  Verfahren  übrig,  nämlich  Satz 
für  Satz  durch  Vergleichung  aller  entscheidenden  Hand- 
schriften und  Drucke  den  Wortlaut  festzuhalten,  den  man 
nach  bestem  Wissen  als  Ausdruck  von  des  Dichters  letztem 
Willen  ansehen  darf.  Solch  einen  von  Erbfehlern  gereinigten,, 
oft  auch  wiederhergestellten  Text  glaube  ich  in  meiner  Aus- 
gabe vorlegen  zu  können.  Daß  ich  mich  gelegentlich  geirrt 
habe,  vielleicht  auch  hie  und  da  in  der  Aufmerksamkeit  er- 
müdet bin,  ist  bei  dem  ausgedehnten  Material  nicht  ausge- 
schlossen. Und  daß  an  einzelnen  Stellen,  wo  die  Überlieferung 
versagte,  für  subjektive  Beurteilung  immer  noch  Raum  blieb^. 


30  Amikkt  Kösteh:  |70. 3 

ist  gleichfalls  zu7.ugo)>en.  Im  ^anzfii  bildet  sich  aber  bei 
längerer  Rescliät"ti<riing  mit  dem  Diclit»M-  ein  sicheres  Gcl'ülil 
für  den  Klang  seiner  Sätze  ans.  Dieses  muß  der  Heraus- 
geber sieh  anerziehen,  und  von  ihm  muß  ei-  in  Zweifelsfällen 
.sich  leiten  lassen.     Das  ist  mein  Bemühen  gewesen. 

8. 

Normiert  habe  ich  nur  da,  wo  bei  sonst  stets  gleich 
bleibender  Form  und  Schreibung  eines  Wortes  ohne  erkenn- 
baren Grund  sich  eine  vereinzelte  Abweichung  zeigte,  die 
demnach  nur  auf  eine  Nachlässigkeit  des  Setzers  oder  Kor- 
rektors zurückzuführen  war.  Wenn  also  dem  Dichter  die 
Formen  Steig,  aber  Dohueustieg,  fünfzehn,  hieher,  Dintenfaß, 
jenseit  (als  Präposition)  geläufig  sind  und  ein  einziges  Mal 
sich  Stieg,  Dohnensteig,  fünfzehn,  hierher,  Tintenfaß,  jenseits 
findet,  so  ist  das  stillschweigend  geändert  worden. 

Die  Orthographie  durfte  modernisiei-t  werden;  Storm 
selbst  hatte  ja  noch  die  Neuordnung  der  deutschen  Recht- 
schreibung mit  der  Beseitigung  des  th  und  ähnlichem  erlebt 
und  sich  leicht  darein  gefunden.  Auch  das  C  in  Fremd- 
wörtern mochte  getrost  durch  K  ersetzt  werden.  Nur  durfte 
die  Westermannsche  Ausgabe  dabei  nicht  ins  Unvernünftige 
verfallen.  Der  „Fürst  von  Toren"  (Et.  IV  176,  16)  ist  schon 
bedenklich.  Wenn  aber  auch  der  Name  des  Kirchenlieder- 
dichters  Nicolai  zu  Nikolai  (Schloß  I  g6,  26)  oder  der  des 
armen  Solitaire  zu  Solitär  wird,  dann  ist  das  des  Deutsch- 
tums und  der  Volkstümelei  zu  viel.  Von  der  neuen  Ortho- 
graphie bin  ich  nur  abgewichen  an  den  Stellen,  wo  Storm 
fingiert,  Niederschriften  des  17.  oder  18.  Jahrhunderts  vor 
'sich  zu  haben,  also  bei  dem  Brief  des  Großvaters  in  „Von 
heut  und  ehedem'^  und  den  in  Frage  kommenden  Abschnitten 
von  „Aquis  submersus",  „Renate"  und  der  „Chronik  von 
Grieshuus".  Hier  habe  ich  Thür,  Geräth,  todt,  Cantate,  Pro- 
tector  usw.  gedruckt,  weil  sonst  die  alten  Formen  stund,  itzt, 
das  Relativum  „so",  die  Inversionen,  die  unflektierten  attri- 
butiven   Adjectiva,    die   Weglassung    des   pron.    pers.    stillos 


70,  3]     Prolkgomkna  zu  kcnbr  Ausg.  der  Werkk  Th.  Storms.     3  i 

wirken  würden.  Bei  den  Fremdwörtern  habe  ich  die  Storm 
auch  in  Briefen  eigentümlichen  Formen  secondiren,  Yagahond 
und  den  Plural  Berlocks  festgehalten. 

Im  ganzen  bin  ich  mit  dem  Wortlaut  sehr  schonend 
umgegangen.  Von  solch  einem  Eingriff,  wie  ihn  mir  Detlev 
von  Lilieneron  allen  Ernstes  (Briefe  II  271)  einmal  vor- 
schlug, nämlich  alle  „welcher  welche  welches"  bei  Storm  in 
„der  die  das"  zu  verwandeln,  bin  ich  selbstverständlich  fern 
geblieben,  denn  auch  hier  sind  oftmals  für  den  Dichter,  wie 
in  so  vielen  andern  Fällen,  rhythmische  Wirkungen  maß- 
gebend gewesen.  Wobei  übrigens  Eines  sehr  komisch  ist: 
Storm  hat  manches  „welcher'"',  über  das  sich  Lilieneron 
so  erbost,  erst  nachträglich  in  den  Text  hineinkorrigiert ^): 
Univ.  I  306,  25  (H)  die  Jahme  Mark,  die  stumm  .  .  .  Jian- 
Üerie  >  (Dr)  .  .  .  Marie,  ivelclie  .  .  .  Garst.  111  225,  23 
[die  Geleise],  .  .  auf  die  .  .  unaufhaltsam  neuer  Schnee  herab- 
sanJc  >  i88g  .  .  .  aufweiche  .  .  .  Eek.  III  113,  42  da-  Junker, 
bei  dem  allein  sein  Liebling  .  .  .  Hülfe  suchte  >  1880  ....  bei 
welchem  ...  Griesh.  IV  104,  19  die  Bilder,  die  in  dieser 
Kacht  in  mir  Ichendig  wurden  >  1884  die  Bilder,  welche  .  .  . 
Dagegen  Schimm,  V  16,  7  dürfte  das  eingesetzte  „welcher" 
Westermann  scher  Herkunft  und  also  rückgängig  zu  machen 
sein  (wie  vielleicht  übrigens  aucli  Garst.  III  225,  23). 

Geschont  werden  mußten  die  feinen  stilistischen  Merk- 
male, durch  die  sich  die  Jugenddichtungen  Storms  von  den 
Alterswerkeu    unterscheiden,    darunter   die    in    den   frühesten 

i)  Weuu  ich  eiue  ältere  Fassung  zitiere,  aus  der  eine  jüngere 
geworden  ist,  ho  geschieht  es  in  folgender  Weise:  Voran  geht  die  Sigle, 
Band,  Seite  und  Zeile,  also  etwa  Univ.  I  306,  25.  Dann  folgt  der  ältere 
Text.  Setzt  er  ohne  weiteres  ein,  so  ist  der  Erstdruck  (Zeitschriften- 
druck) gemeint;  wird  die  Handschrift  zitiert,  so  steht  ein  (H)  vor  dem 
Zitat.  Dann  folgt  nach  dem  Zeichen  >  der  jüngere  Text,  von  dem 
aber  nur  die  geänderten  Worte  mitgeteilt  werden.  Geht  diesem  zweiten 
Zitat  ein  (Dr)  voraus,  so  heißt  das:  der  gedruckte  Text  lautet  im 
Gegensatz  zum  handschriftlichen  . . . ;  geht  eine  Jahreszahl  voraus ,  so 
bedeutet  das:  der  Druck  des  genannten  .Jahres  bringt  zuerst  die  Än- 
iieruug. 

Phil.-hist.  Klasse  1918.    Ed.  LXX.  3.  3 


32  Ai.hküt  KösTKii:  [70.  .< 

Novellen  liisweilen  (iiicht  imnieri  lleklievten  Eif^ounumen: 
Martiie  11  So,  i(>  und  V'  Marthru  (wie  es  II  S),  1  «jjiii)/.  liehtin- 
stund)  Blatt.  1  ()S.  i-,  G,tl>rieln  Hin/.  11  100,  2«  Hivzd 
meiern.  Später  j^al»  Storni,  abgeselion  von  den  archaisie- 
renden Novellen,  diese  Eig'entümlichl<eit  auf:  Uuiv.  I  2S6,  28 
(H)  Lcnorcfi  >  (Dr)  Lrntjre. 

Eiirenartiir   ist   Stornis    Verhalten    hei    den    /.usaninien^« 
setzten  Snhstantiven,  deren   tTster  Bestandteil  ein  Femininnm 
ist.     Bekanntlich    herrscht   Fneutscliiedenheit,    ob    die    beiden 
Konipositiousirlieder  durch  ein  untlexivisches  Kompositions-S 
(v^l.  Jac.  (Trimm,  Deutsche  (Trammatik  II  9350'-  [Neuer  Ab- 
druck,  1^78,  II  912  ff.  P  verbunden  werden  sollen   oder  nicht. 
Storni    ist   da   nicht   ))ewußt    einem    unverbrüchlichen    Gesetz 
tt-efob'-t     sondern    läßt  sich  von  seiner  Gewohnheit  und  ihren 
Launen  leiten.     Wenn  er  WWfr.  IV  30,  4"   ein  einziges  Mal 
in  allen  Drucken  die  Form  „Arbeitsgeber"  hat,  so  ist  das  ein 
Fehler,  der  besonders  durch  eine  ganze  Reihe  von  Stellen  in 
„Dopp."  widerlegt  wird.  Sonst  aber  liebt  er  das  Kompositions-S 
sehr.     Er  schreibt  Wirtschaftssorgen,  Gewaltssache  (Kirch  IV 
76,  7),    Hochzeitszug,    Hochzeitsmorgen    CSchimm.  V   37,  17 
steht  „Hochzeitessen"  vereinzelt,  offenbar  aus  Gründen  besseren 
Klanges);   er   ändert   Abs.  I   151,  3«    „Geburt-    und   Heimats- 
rechte"   1865    in  „Geburts-   und    Heimats rechte".  —  Heid.  H 
156,  26   hatten   alle   Drucke    übereinstimmend    „der   Brunnen 
der    Hebammensleute".     Diese    Form    wird    jetzt    durch    die 
Handschrift   bestätigt.     Dann    aber    ist   auch   an  den    Stellen 
138    13-    143,  24:   144,  11;   154,  28,    wo    ebenfalls    die    Hand- 
schrift   Storms   Willen    ausdrückt,    die    Form    „Hebammens- 
Leute",  „Hebammens-Margret"   durchzuführen.  —   Ja,  Storm 
gibt  sogar  dem  Wort  „Stadt"  das  unflexivische  S,  und   man 
darf  ihm  die  Stadts-Kaffeetanten  (Hinz.  U  85  10),  den  Stadts- 
diener (Abs.  I  147,  20),  den  Vorstadtskirchhof  (Bul.  II  60,  19), 
den  Stadtsausrufer  (Popp.  II  320,  39),  die  Stadtswage  (Sen.  V 
117,  35)  ja  nicht  etwa  durch   voreilige  Verbesserung  rauben. 
—   Von  allen  Festen  feiert  er  am  häufigsten  die  Weihnacht; 
und  er  spricht  da  vom  Weihnachtsbrief,  von  Weihnachtsfeier, 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     s^ 

Weihuachtsstube,  Weihnachtslied,  Weihnachtsbaum,  Weih- 
nachtskuchen, Weihnachtssänger,  Weihuachtsteller,  Weihnachts- 
bettler, Weihnachtsmorgen,  überall  mit  dem  Kompositions-S. 
Nur  der  „Weihnachtabend"  erhält  keines  (verbürgt  durch  die 
Überschritt;  des  Gedichts  „Die  fremde  Stadt  durchschritt  ich 
sorgenvoll",  durch  Marthe  II  82,  29,  34;  83,  2,  6  u.  ö.,  Imm.  1 
8,  23,  durch  die  Widmung  der  Sammlung  „Im  Sonnenschein" 
1854,  durch  Belege  aus  Tann.,  Abs.,  Bul.  usw.).  Und  diese 
Unterscheidung  hat  ihren  guten  Grund.  Die  zuerst  aufge- 
zählten Zusammensetzungen  mit  „Weihnacht"  tragen  sämt- 
lich den  Ton  auf  dem  ersten  Kompositionsglied;  hier  be- 
wirkt das  S  einen  kleinen  Aufschub,  der  dem  ersten  Be- 
standteil dadurch  etwas  mehr  Zeitdauer  und  Gewicht  zu- 
führt. Bei  „Weihnachtabend"'  aber  betont  man,  wie  bei 
„Bürgermeister,  Großneumarkt,  Helgoland"  in  Norddeutsch- 
land den  letzten  Bestandteil.  Hier  würde  also  das  S  ein 
Sprechhindernis  sein  und  mindestens  Storms  Sprache  stören. 
Aus  gleichem  Grunde  schreibt  der  Dichter  „Fastnachtmontag" 
(Kuch.  II  203,  38). 

Alle  diese  Eigentümlichkeiten  werden  in  meiner  Ausgabe 
genau  gewahrt.  Ich  verbessere  den  Dichter  nie  nach  meinem 
Geschmack  oder  aus  Besserwissen,  Selbst  seine  zehntausend 
heiligen  Jungfrauen  (Had.  IV  234,  10)  erhöhe  ich  ihm  nicht 
auf  elftausend.  Rück  verändert  habe  ich  nur  zwei  Stelleu. 
Abs.  I  133,  38  ist  das  ursprüngliche  „Auf  dem  Boden  des 
Fahr.?eu(/s"  (nämlich  des  eine  Zeile  vorher  erwähnten  Flach- 
boots) 1868  verschlechtert  worden  zu  „Auf  dem  Boden  eines 
Fahrseugs".  Das  hab  ich  rückgängig  gemacht.  —  Und  Eek. 
ni  123,  13  lesen  die  Redaktionen  von  1879,  1880  und  1886 
übereinstimmend  „Seine  Gedmiken  wie  sein  Weg  führten  ihn 
nach  einem  alten  einsamen  Hause.^'  Die  Gesamtausgaben  aber 
seit  1889  ändern:  „Seine  GedanJcen  wie  sein  Pferd  . .  . ."  Da 
ißt  nicht  klar  zu  erweisen,  ob  eine  Nachlässigkeit  des  Setzers 
oder  eine  Schlimmbesserung  des  Dichters  vorliegt.  Aber  weil 
in  jedem  Fall  die  Stelle  verschlechtert  ist,  so  habe  ich  die 
alte  Lesung  wiederhergestellt. 


34  Ai.HKKi"  Kö.sTi'.ii:  [70».? 

0. 

Sehr  subjektiv  fällt  luitürlioh  die  Eiitscheuluii;^'  ilos  llrruus- 
geber^  dort  aus,  wo  infoli^o  des  früher  erörterten  Besteliens 
zweier  Verleger  nelien  einander  auch  zwei  Textfassnn<(on  neben 
t'inandf'r  Geltung  l)eanspruchen.  Die  Zahl  solclnn-  Stellen  ist 
gar  nicht  so  gering.  Ein  paar  Beispiele  mögen  genügen. 
Oft  handelt  es  sich  nur  um  Kleinigkeiten.  Markt  I,  349,  42 
steht  in  Westermanns  Gesamtausgaben  seit  1868  ,//«-  Firund", 
in  den  früheren  Drucken  und  den  späteren  Paetelschen  Aus- 
gaben: ..der  Andere'".  —  Rosen  I  32,  15  ändert  Storni  1868 
die  alte  Wendung  „sie  schlug  das  alte  Zauherhuch  zusammeu" 
in  „sie  scldug  .  .  .  zu."  Aber  noch  1904  drucken  Gebr.  Paetel 
in  der  3.  Auflage  der  „Drei  Novellen":  ,.sie  scldug  .  .  .  zu- 
sammen." —  Bisweilen  sind  aber  auch  die  Abweichungen 
gi'ößer,  z.  B.  Markt  I  351,  340".  Hier  lesen  die  Bucliausgabt! 
von  1861  und  alle  Westermannsclien  Gesamtausgaben  seit 
1868  (jüngere  Fassung):  „er  hatte  auch  einigemal  auf  Bitten 
seines  mitteriveile  sunt  tvirJdichen  JusUzrut  avaneirten  Freundes 
Uli  ihrer  Geburtstagsfeier  teilgenommen",  während  Paetels  Aus- 
gabe der  „Drei  Novellen"  nocli  1904  den  älteren  Text  hat: 
.,er  hatte  auch  einigemal  auf  Bitten  seines  Freundes,  der  seinen 
Titel  jetzt  mit  vollem  Beeide  trug,  an  ihrer  Geburtstagsfeier 
teilgenoynmen."  —  Oder  Ren.  III  171,  3oflF.  Der  erste  Druck 
in  der  Rundschau,  sowie  beide  Buchausgaben  von  1878  bringen 
hier  den  Text:  „Da  that  die  Thür  sich  abermalen  auf  und 
geschähe  mir,  als  sei  es  itzt  jählings  helle  tvordcn;  und  tvnr 
doch  nur  ein  braun  fundj  bläßlich  Dirnlein,  so  hereingetreten. 
Ein  Brett  mit  Flasch  und  Gläsern  setzete  sie  vor  dem  Kanapee 
auf  den  Tisch,  ivorauf  der  Bauer  rief:  „Da  Icoiiimt  der  Bhei- 
nische,  Herr  Studiosi;  setzet  Euch  nun,  so  wollen  wir  eins 
mitsammen  reden."  Diesen  Absatz  haben  auch  die  Westermann- 
sclien Gesamtausgaben  übernommen  und  drucken  ihn  bis  heute. 
Daneben  aber  gibt  es  eine  ganz  abweichende  Lesung  dei 
Stelle.  In  der  von  dem  Dichter  sehr  sorgsam  überwachten 
Sammelausgabe  „^^or  Zeiten"  hat  er  nämlich   1886  den  Text 


70,3]      Prolbgomena  zu  kinl'u  Auso.  der  Werke  Th.  Storms.     35 

dahin  überarbeitet:  „Da  tliat  die  Thür  sich  abermalen' auf 
und  aurde  mir  scJiier  heJdi >nimen ,  doch  auch,  als  sei  es  itzt 
jählings  helle  worden;  denn  Renate  war  eingetreten,  und,  iväh- 
rend  sie  ihr  Köpflein  zu  mir  ivandte,  sah  ich,  wie  ein  fliegend 
Roth  ihr  die  lichten  Äugen  dmikel  machte.  Sie  trug  ein  Brett 
mit  Flasch  und  Gläsern  und  setzete  sie  vor  dem  Canape  auf 
den  Tisch.  Der  Bauer  rief:  „Da  Jcommt  der  Rheinische,  Herr 
Studiosi:  setzet  Euch  mm,  so  ivollen  ivir  Eins  mitsammen 
reden."  Und  ich  meiüe,  daß  diese  Fassung  jetzt  und  iu  Zu- 
kunft auzuerkennen  ist.  -  Iü  all  solchen  Fällen  ist  nicht 
die  Zuverlässigkeit  auf  Seiten  des  einen  Verlages  und  die 
Nachlässigkeit  bei  dem  andern,  sondern  die  Wage  schwankt, 
und  der  Herausgeber  muß  von  Fall  zu  Fall  die  Textgestal- 
tung ausfindig  machen,  die  der  Dichter  zu  jüngst  aner- 
kannt hat. 

Gar  nicht  selten  sind  auch  die  Fälle,  wo  ein  Lied  zwei 
vom  Dichter  selbst  gel^illigte  verschiedene  Fassungen  auf- 
weist, je  nachdem  es  unier  den  „Gedichten"  steht  oder  einer 
Novelle  eingegliedert  ist.  Wir  sind  an  dergleichen  ja  bei 
Goethes  „Sänger"  gewöhnt,  der  im  „Wilhelm  Meister"  anders 
lautet  als  in  den  „Balladen".  So  kennt  auch  Storm  zwei 
verschiedene  gleichberechtigte  Redaktionen  der  Gedichte  „Ein 
grünes  Blatt",  „Regine"  u.  a.  Ja  es  kommt  sogar,  wie  bei 
Goethes  „Veilchen",  auch  bei  Storm  der  Fall  einer  von  ihm 
selbst  veranlaßten  und  gut  geheißenen  Schlimmbesserung  vor. 
In  Goethes  „Veilchen"  zerlegt  sich  die  Strophe 

Ein  Veilchen  auf  der  Wiese  stand  V 

Gebückt  in  sich  und  unbekannt;  V 

Es  war  ein  herzigs  Veilchen.  N 

Da  kam  eine  junge  Schäferin,  V 

Mit  leichtem  Schritt  und  munterm  Sinn,  V 

Daher,  daher,  E 

Die  Wiese  her,  und  sang.  N 

in  zwei  Perioden,  jede  mit  doppeltem  rhythmischen  Vorder- 
satz und  einfachem  Nachsatz;  zwischen  die  Vordersätze  und 
den  Nachsatz  der  zweiten  Periode  schiebt  sich  stets  eine  re- 


36  Ai.BERT  Kösiek:  [7J. .^ 

t-iirtTieromU'  Kpisodt»  ein.   Die  NOrdcrsät/«'  in  iilleii  drei  iStr<>|iluMi 


ini- 


reimen  |>aiirig'  nntn-  oinaudcr;  die  Episoden  bleiben  reii 
los;  die  Machsätze  aber  finden  nls  sogenannie  Körner  iliro 
lleiniert'nllnng  nieht  innerlialb  der  Strojdie  selbst,  sondern  an 
den  entspreelienden  Stellen  der  iU)rigen  Strophen;  Veihdiea: 
Weilchen:  Veilchen;  .sang:  lang:  —  Ja,  da  enttäuscht  die 
dritte  Strophe.  Hier  muß  einmal  gestanden  haben:  .,/,u  iiiren 
Füßen  bang'',  und  nur  durch  Schreibfehler  ist  das  nichts- 
sagende Schlußwort  j.doch",  durch  Abirren  des  Auges  auf  die 
letzten  Vordersätze,  in  den  Text  gekommen.  Goethe  selbst 
hat  das  sechzig  Jahre  lang,  und  die  Menschheit  doppelt  sc» 
lange  unbeanstandet  hingenommen. 

Ein   analoger  Fall    tindet  sich   bei    Storni    in   dem    Lied 
„Die  Nachtigall''. 

Das  macht,  es  hat  die  Nachtigall  V 

Die  ganze  Nacht  gesungen;  N 

Da  sind  von  ihrem  süßen  Schall,  V 

Da  sind  von  Hall  und  Widerhall  V 

Die  Rosen  aufgesprungen.  N 

Wiederum  zvrei  Perioden,  die  erste  mit  einfachem  Vorder- 
und  einfachem  Nachsatz,  die  zweite  mit  doppeltem  Vorder- 
und  einfachem  Nachsatz.  Durch  die  Strophe  hin  reimen  alle 
drei  Vordersätze  mit  einander,  und  ebenso  die  beiden  Nach- 
sätze unter  sich. 

Wenn  nun  die  zweite  Strophe  lautet: 

Sie  war  doch  sonst  ein  wildes  Kind; 
Nun  geht  sie  tief  in  Sinnen, 
Trägt  in  der  Hand  den  Sommerhut 
Und  duldet  still  der  Sonne  Glut, 
Und  weiß  nicht,  was  beginnen, 
so   sao-t    sich   ieder  aufmerksame  Hörer:   Da   muß    im    ersten 
Vers  einmal  gestanden  haben  „Sie  war  doch  sonst  ein  wildes 
Blut''.     Und    diese    Vermutung    wird    auch    bestätigt    durch 
Hinz,  n  94.    Warum  der  Dichter  die  Entstellung  vorgenommen 
hat,   weiß  ich  nicht.     Sic   rückgängig   zu    machen,   hielt   ich 


mich  nicht  für  befugt. 


7"- 31        PkOLHGOMK-NA  zu  ELNEK  Ausi;.   DKR   W^IOKKK  Th.  StüRMS.        37 

lO. 

Ganz  anders  aber  steht  es  mit  all  den  Texteutstellungeu, 
die    auf   Setzerversehen    —   „Verseheu''    hier    iu    des   Wortes 
erster,    eigentlichster    Bedeutung    —    beruhen.     In    der    Ent- 
deckung, Beurteilung  und  Tilgung  solcher  Schäden  steht  die 
Editionstechuik  für  neuere  Schriftsteller  noch  in  ihren  ersten 
Anfängen.     Für   ältere    Schriftwerke    studieren    wir    die   Her- 
Stellung  Von  Handschriften   und  in  W>rbindung  damit  die  ty- 
pischen Fehler  der  Abschreiber.    Im    paläographischen  Unter- 
richt, in  der  L  rkundeniehre  werden  ganze  Kapitel  vorgetragen 
über  Fehlerquellen,  aus  denen  Textverderbnisse  liervorgehen. 
Daß  aber  für  die  neueren  Jahrhunderte  jemand,   ehe  er  eine 
Ausgabe   veranstaltet,   erst   einmal   die   Satz-   und   Druckvor- 
gänge   und    die    dabei    vorkommenden    Entgleisungsgefahren 
kennen   muß,   ist   noch  wenigen   bewußt.     Und  doch  ist  zwi- 
schen den  Gewohnheiten,  dem  Schlendrian  einer  antiken  Hand- 
schriftenfabrik  und  einer  neuzeitlichen  Druckerei,   besonders 
wenn  beide  eilig  arbeiten,   der  Unterschied  nur  gering.     Die 
Abschreiberpsychologie    und    die    Setzerpsychologie    berühren 
sich  eng.     Daß  beim.  Lesen  ein  „Sich  verlesen'',  beim  Schrei- 
ben ein  „Sich  verschreiben^'  vorkommt,  weiß  jeder.    Dagegen 
wird  noch  wenig  beachtet,  daß  es  beim  Setzen  auch  ein  „Sich 
versetzen",  und  zwar  in  typisch  sich  wiederholender  Art  und 
Weise,  gibt;   das. Wort  fehlt   uns   sogar  bis  heute     Ich  ver- 
stehe unter  diesem  „Sich  versetzen"  nicht,   daß   einmal   eine 
Letter  auf  dem  Kopf  steht,  oder  daß  sich  der  Setzer  um  ein 
Buchstabenfach  vergriffen  oder  gar  völligen  Unsinn  zu  Papier 
gebracht   hat,   sondern   ich  habe  die  feineren  und  um  so  ge- 
fährlicheren Vorgänge  im  Auge,  die   auch  ein  berufsmäßiger 
Korrektor  und  selbst  der  Verfasser  leicht  übersehen  kann,  die 
Fälle,  in   denen   der  gesetzte  Text  durchaus  einen  Sinn  gibt 
und  doch  falsch  ist.    Diese  Versetzungsfehler  entstehen  meist 
daraus,  daß,  wie  beim  Verschreiben,  die  Augen  und  Gedanken 
hinter  der  augenblicklich  behandelten  Textstelle  zurückgeblie- 
ben oder  ihr  vorausgeeilt  sind,  und  nun  die  bereits  erledigten 


38  Ai.m:ur  Kösik.i::  L7^'».> 

otlor  die  orst  bevorstebi-nden  Hidv.e  den  Wortlaut  beeiiittusscu. 
Wem  die  lläuligkeit  der  so  entstandenen  J'eliler  (M'st  einmal 
aufget^antfen  ist,  der  wird  für  die  llerausj:^al)e  neuerer  'l'exle 
die  Forderun»^  aufstiMlni:  wir  müssen  uiclit  nur  die  eiji/eliie 
Druckzeile  lesen,  sondern  die  Druckzeile  mit  ihria*  Nachbar- 
schaft, das  Wort  mit  den',  was  eine  od<M-  zwei  Zeilen  über 
oder  unter  ihm  stchi. 

leli  i,4aube  nun  »jjiMviB  nidit,  daß  ich  es  in  der  Ent- 
deckung und  Beseitigung  sob-ber  Mängel  hei  meiner  Storm- 
Ausgabe  schon  zur  Vollendung  gebraclit  liabe.  Aber  ich 
nu'ichte  hier  doch,  um  mein  Verfahren  zu  rechtfertigen,  ein«- 
Auswahl  von  Stellen  mitteilen,  an  denen  ich  die  Werke  des 
Dichters  von  „Versetzungen"  befreit  habe. 

Blatt  I  72,  23  habe  ich  aus  den  ersten  Ausgaben  der 
Novelle  das  Wort  „ungreifbar"  wiederhergestellt,  weil  das  in 
den  letzten  Jahrzehnten  stets  hier  gedruckte  „nnheyreifhar^'' 
sich  nur  von  dem  sechs  Worte  vorher  stehenden  „uubegreif- 
lich"  herschreibt.  —  Abs.  1  140,  15  a'.  lesen  die  Handschrift 
und  alle  Drucke  bis  1875  l^"' =  >/^/^  *^^  ff^ß**  Morgenfriüie  .  .  . 
trafen  uir  uns  draußen  vor  der  Haustür.  ]V<"nn  Ehrenfried 
hinausginfi,  um  die  FJsen/rareu  auf  dem  Beischlag  auszustellen, 
irar  ich  schon  draußen  and  putzte  an  der  Tür  den  großen 
JlessingJdopfcr.''  Erst  seit  der  Ausgabe  1.  Hd,  heißt  in  den 
Gesamtausgaben  der  Schluß  des  zweiten  Satzes:  ,,.  .  .  ivar  ich 
Schon  draußen  vor  der  Haustür  und  put,üe  an  der  Tür  den 
großen  MessingMopfer"  Jetzt  wird  also  in  drei  Zeilen  die 
Tür  dreimal  erwähnt.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  nur  der  Setzer 
die  Worte  „vor  der  Haustür"  zvs^eimal  gesetzt  hat,  weil  er  sie 
nicht  aus  dem  Auge  und  Gedächtnis  los  werden  konnte.  — 
Jens.  I  164,  12 f.:  Hier  hat  die  Handschrift,  der  erste  Druck, 
die  Einzelausgabe  von  1867  und  der  Novellendruck  von  1868: 
,,Jetst  aher  uaren  wir  beide  ivieder  fast  genesen,  und  schon  in 
den  nächsten  Tagen  wollte  ich  die  Heimreise  antreten."  Plötz- 
lich seit  der  ersten  Westermann  sehen  Gesamtausgabe  von 
1868  heißt  es  am  Schluß  des  Satzes:  „.  .  .  a-ollte  ich  die 
Heimreise  wieder  antreten.^'       Dies  zweite  ,,wieder"  im  selben 


70,3]      Prolegomexa  zv  einhu  ArsG.  deh  VVekke  Th.  Stoums.      39' 

Satz  ist  für  den  Keniier   ein  ganz  üblicher  Setzerfehler,   ent- 
standen   durch  Zurückirreu   in    die   vorhergehende  Zeile.     — 
Jens.  I  173,  26 f.    Hier  lautet  der  Text  erst  seit  der  Ausgabe  1. 
Hd.:  „war  es  nur  die  Sfiiimmng".     Die  Handschrift  dagegen, 
der  erste  Druck  in  den  Monatsheften,  die  erste  Buchausgabe 
und  die  erste  Gesamtausgabe   haben   übereinstimmend:   „tvar 
es  eine  Ähnlichheit  in   der  Betveyimg,   oder   war  es  nur   die 
Stimmumi".     Es  ist  ganz   klar,   daß   das   keine  Verbesserung 
des  Dichters  bedeutet,  sondern  daß  das  Auge  des  Setzers  von 
einem    „war   es''    zum    andern    hinübergeglitten    ist    und    die 
ganze  Wortfolge    „eine  ÄJmlichJceit    in   der  Bewegung,    oder'^ 
unterschlagen   hat.  —     Waldw.   HI  42,  26    stand    im    ersten 
Druck:  „Sie  war  ihnt  /rieder  wie  eine  imhcriihrte  Braut".     Dies 
Wort  „wieder"'  ist  nach  dem  ganzen  Inhalt  der  Novelle  hier 
unerläßlich;   ohne   das  Wort  ist   der  Satz   sogar  widersinnig. 
Es    ist    also    gegen    alle    späteren    Ausgaben    wieder    einzu- 
setzen, da  nur  das  unmittelbar  folgende   ,,wie"  es   vertrieben 
hat.  —     Brauerh.  HI  150,  40 if.  lesen  alle  Buchausgaben:  „„Ei 
was!"  rief  meine  Mutter.    „Dort  hängt  ja  sein  Hut  am  Tür- 
haken\  ihr  Kinder  versteht  nur  nicht  su  suchen!^'     Damit  ging 
sie  mr  Tür  hinaus.""       Das   zweimalige   „Tür",   obwohl   so 
etwas   bei  Storm  vorkommt,   macht  stutzig.       In  der  Hand- 
schrift  und    im   Zeitschriftendruck    steht   denn    auch   richtig: 
„Damit  ging  sie  zur  Stube  hinaus".     Der  Setzer  ist  mit  dem 
Auge  abgein-t,  und  der  alte  Text  ist  wieder  aufzunehmen.  — 
Eek.  III   108,  23  ist  das  „gern",  das  ganz  richtig  in  den  Re- 
daktionen  von    1880   und    1886    steht,   in   den   übrigen   aus- 
gefallen, weil  das  Wort  „gerufen'-  folgt  und  die  Buchstaben- 
verbindung „gern  geru"  abgelenkt  hat.  —     Kirch  IV  94,  130'. 
Hier  hatte   der   erste  Druck:   „Für  fremde  Äugen   mochte  es 
immerhin  den  Anschein  haben,  als  ob  Hans  Kirch  auch  jetzt 
•noch  in  gewohnter  Weise  seinen   mancherlei   GesiMflen  nach- 
gehe".     Dann  aber  bei  der  Herstellung  des  ersten  Buchdrucks 
hat  der  Setzer  das  „noch"  des  Nebensatzes  zu  früh  im  Auge 
oder  Sinn  gehabt  und  es  auch  in  den  Hauptsatz  interpoliert, 
so  daß  dort  die  Wortfolge  „immerhin  noch  den  Anschein"  ent~ 


.|0  Ai.HKur  KösTKu:  [7"..? 

stand,  yelbstvoistäuillicli  tmili  dies  erste  ,,iiocli"  wieder  fort.  — 
Oder  t'in  /weiter  Füll  in  derselben  Novelle:  gS,  28.  Der 
Druck  in  Westerinanns  Monatsheften  liat  die  ^nte  Lesunu;:  ,,rs 
trar  auch  »iir  rin  FliL'^hrn,  als  oh  er  es  den  leeren  Lüften  an- 
vertraue''. Seitdem  aber  di-r  Setzer  dor  eisten  iiuchaus^abe 
das  „nur"  zweimal  «.gebracht  hat  („als  nh  er  ea  nur  den  leeren 
Lüften  anvertraue"),  wiederliolen  sämtliche  Drucke  diesen 
Fehler.  —  Griesh.  IV"  105,  ßStf.  stand  im  Zeitscliriftemlruck 
und  der  ersten  Buchausgabe  als  richtiger  Text:  ,.«w  liebsten 
ist  er  ans  dem  Torweg  und  datn/  geradezu  den  Fußsteig  .  .  . 
Jiinahgerannt  und  hat  drüben  .  .  .  angeklopft".  Erst  i^86  ge- 
schieht, ohue  daß  der  Korrektur  lesende  Dichter  es  bemerkt 
(denn  ihm  selbst  ist  die  absichtliche  Schlimmbesseruug  selbst- 
verständlich nicht  zuzutrauen),  dem  Setzer,  der  noch  das 
Wort  „Torweg"  im  Auge  hat,  die  Nachlässigkeit,  „Fußsteig" 
in  „Fußweg''  zu  ändern.  Und  der  verschandelte  Text  bleibt 
seitdem  stehn.  Auch  hier  ist  rückzuändern.  —  Ebenso  ist 
Kön.  III  303,  ^^ff.  von  den  drei  „auch",  die  nun  schon  seit 
Jahrzehuten  den  Satz  entstellen,  das  mittlere  zu  tilgen,  das 
erst  eine  setzerische  Bereicherung  der  Ausgabe  1.  Hd.  ist. 

1 1. 

Wie  manches  für  die  Text  Verbesserung  aus  den  Hand- 
schriften und  Korrekturbogen  zu  gewinnen  war,  mag  eine 
Auswahl  von  Proben  beweisen. 

Schloß  I  86,  14,  wo  alle  Drucke  lesen  „mit  dem  ebenholz- 
schwarzen Haar",  habe  ich  geändert  in  „?nit  dem  schwarzen 
Haar",  weil  es  im  Besitz  der  „Union  Deutsche  VerlagsgeseU- 
scbaft"  einen  ungedruckten  Brief  Storms  an  Keil  vom  14.  De- 
zember 1861  gibt,  worin  er  fordert,  daß  durchweg  „schwarz" 
statt  „ebenholzschwarz"  gedruckt  werden  solle,  und  diese  Ver- 
besserung nur  an  dieser  Stelle  übersehen  worden  ist. 

Ein  Beispiel,  wie  durch  zwei  Interpunktionszeichen  der 
Sinn  einer  wichtigen  Episode  einer  Novelle,  und  damit  eigent- 
lich die  ganze  Novelle  erst  in  ihr  richtiges  Licht  kommt,  ge- 
währt   die    Stelle    Schloß   I   90,  41  ff.     Die  Voraussetzung    ist 


ro,  3]        PROLEdOMENA  zu  EINER  AuSG.  DER  WbRKK  Th.  SxORMS.       4I 

diese:  Im  Schloß  ist  ein  junger  Hauslehrer  bürgerliclier,  ja, 
bäuerlicher  Herkunft  tätig.  Das  adeliche  Schloßfräulein  und 
ihre  Freundin  proben  vergeblich  am  Klavier  ein  Schumann- 
sches  Gesangsduett.  Das  Fräulein  läßt  deshall^  durch  den 
Diener  den  rausikkundigen  Hauslehrer  rufen.  Dieser  ist  durch 
•1en  Unterricht  festgehalten  und  läßt  die  Damen  warten. 
Endlich  erscheint  er.  Und  nun  haben  alle  Drucke  von  Seiten 
des  Fräuleins  mit  einem  Wink  auf  die  Noten  hin  die  Worte: 
,. Wollen  Sie  die  Giitr.  halien'f"',  mit  Fragezeichen.  Auf  eine 
so  liebenswürdige  Frage  einer  Dame  hätte  der  Hauslehrer 
Arnold  iiatürlich  nur  mit  verbindlich  lächelnder  Gewährung 
antworten  können.  Nun  zeigt  aber  die  Handschrift,  daß 
Storm  geschrieben  hatte:  „Wollen  Sie  die  Güte  haben!'-,  mit 
Ausrufungszeicheu.  Das  heißt:  das  junge  Edelfräulein  hatte 
•/n  dem  Hauslehrer  von  oben  herab  im  Ton  halben  Befehls 
geredet.  Und  nun  erst  gewinnt  das  Folgende  seine  rechte 
Bedeutung:  „Er  trat  einen  Schritt  zurücl-  .  .  ."  usw.  Dies 
Ausrufungszeichen,  daß  die  ganze  Szene  verändert,  ist  natür- 
lich wiederherzustellen.  Der  elende  Gartenlauben -Korrektor 
hatte  stumpfsinnig  ein  Fragezeichen  daraus  gemacht  und 
dieser  Fehler  sich  bis  heute  fortgeerbt.  Diesem  einen  Zeichen 
entspricht  nun  aber  gleich  darauf  ein  zweites.  Arnold, 
leicht  gereizt,  aber  doch  beherrscht  und  durchaus  höflich, 
nimmt  selbst  den  Kommandoton  an.  Lauter  Sätze  mit  Aus- 
rufungszeichen folgen.  Als  er  aber  die  Damen  einzeln  ihre 
Singstimmen  probieren  läßt,  überrascht  uns  auf  einmal  aus 
seinem  Munde  eine  saufte,  fast  schüchterne  Frage:  „Wollen 
Sie  den  Anfang  machen?"  (I  gi,  15),  Wiederum  ist  das  die 
Interpunktion  aller  Drucke,  vom  ersten  bis  zum  letzten.  Aber 
die  Handschrift  belehrt  uns,  daß  Storm  auch  hier  ganz  folge- 
richtig das  Ausrufungszeichen  gesetzt  hatte.  Erst  durch 
Wiederherstellung  dieser  zwei  Zeichen  hat  die  ganze  Szene 
den  rechten  Ton  bekommen. 

Schloß  I  97,  19  lesen  alle  bisherigen  Drucke  mit  Aus- 
nahme des  Erstdrucks:  „es  mag  vielleicht  nicht  so  sein".  Ich 
habe  die  Lesart  der  Handschrift  und   des  Zeitschriftendrucks 


1-' 


Ai-iiEur  Köstkk:  f7i>,3 


wk'derhcr^festi'llt:  „t;s  ni<(<f  rirllcidit  so  nein"  (d.  li.  Gott  iiui^ 
ja  vit'lleidit  Liebe  ins  Hei/  der  Menschen  gießen,  wie  Du  es 
ila  auswendi«?  lernst).  Denn  in  der  Ilamlschrift  lautete  der 
Satz  ursprünglich:  „Gott  ist  vicllridd  die  Lieh,  ttiir  ist  das 
anders,  ah  rs  dort  in  deinem  Kateeliisnins  sieht." 

Univ.  1  21S4,  .j  und  301,  <)  Laben  all«'  Drucke  ohne  Unter- 
schied den  Ausruf  „Aeh.'^',  uiul  Storni  hat  den  Fehler  bei 
der  Korrektur  übersehen.  Was  er  aber  meinte,  zeigt  die  llauul- 
schrift:  der  Franzose  sollte  hier  das  französische  „alt!''  aus- 
rufen; die  Stelle  bekommt  dadurch  ganz  andern   Klang. 

Abs.  I  149,  43  lesen  alle  Drucke,  wiederum  ohne  An- 
nahme, das  farblose  „elen  uo  die  große  Straße  entlang  fü/irte". 
liier  war  aus  der  Handschrift  das  richtige  „oben  wo  die  große 
Straße  .  .  ."  zu  gewinnen. 

Carst.  III  250,  7:  das  häßliche  mehrfache  „und"  steht  in 
allen  Drucken.  Es  muß  vor  „es  inirde  finster"  fehlen.  In  dem 
von  Erich  Schmidt  aufbewahrten  Korrektur})ogfn  hatte 
Storm  es  gestrichen.  Die  Verbesserung  ist  nur  nicht  beach- 
tet worden. 

Brauerh.  HI  132,  31  hab  ich  nach  dem  Satz  Jjeim  Bier- 
hrauen  legte  er  allemal  ein  Kreuz  von  Höh  über  den  Gärläihel"- 
aus  der  Handschrift  noch  die  Worte  „und  auf  jedes  Fmde 
etivas  SaW  eingefügt.  Der  Zusatz  ist  nötig,  weil  sonst  die 
Stelle  III  148,  24  vom  „Salzen  und  Belreuzen"  unverständlich 
bleibt. 

Sen,  V  113,  31  und  40  hab  ich  nach  dem  Korrekturbogen 
zwei  vom  Setzer  offenbar  übersehene  Einträge  Storras  nach- 
träglich berücksichtigt,  so  «laß  sich  jetzt  die  Anreden  des 
Herrn  Friedrich  Jovers  an  seine  giftige  Haushälterin  bei 
steigender  Erregung  in  zunehmender  Grobheit  weiter  entwickeln, 
von  „Frau  Möllern"  (III  ri2,  17)  über  „Möllern"  (III  113,  u) 
zu  „Möllersch"  (III  113,  31  und  40). 

Et.  IV  206,  21  ist  nach  Ausweis  einer  eigenhändigen 
Korrektur  Storms  „Rumhoides"  zu  lesen,  ein  W^itz,  der  aller- 
dings wohl  nur  wenigen  höchst  Belesenen  ver.ständlich  und 
genießbar  ist.    Zunächst  hat  Storm  natürlich  für  den  jungen 


70,  3l     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Stoum«.     43 

GeleLrten  den  Namen  Rhomboides  aus  der  Urform  des  Lust- 
spiels der  Gottschedin  „Herr  Witzling"  entlehnt;  diesen  Namen 
aber  verdreht  der  Etatsrat  in  Rumboidos  mit  der  unmittelbar 
fcdgenden  Motivierung:  „er  tranl'  des  3Iorgens  Uum  und  des 
Abends  unedcr  Eum". 

Gleichfalls  aus  den  im  Nachlaß  von  Erich  Schmidt  lie- 
genden Korrekturbogen  zu  „Hans  und  Heinz  Kirch"  gewinnen 
wir  u.  a.  zwei  Textverbesserungen.  Alle  Buchausgaben  lesen 
IV  95,  13 ff.:  „Welchen  Gast  er  von  einem  Sonnta<j  bis  mm  an- 
dern oder  ein  paar  Tage  noch  darüber  bei  sielt  beherbergt  hatte, 
darüber  brauchte  ihn  Icein  anderer  außuldären."  Hier  liegt  die 
Sache  so:  Nach  Ausweis  des  Korrekturbogens  hatte  Storra 
in  der  Tat  ursprünglich  achtlos  das  doppelte  „darüber"  ge- 
schrieben, davon  das  erste  aber  jedenfalls  in  ddr  Revision  des 
Zoitschriftabdrucks  in  „länger"  verbessert,  so  daß  es  im  Rein- 
druck richtig  war.  Für  die  Herstellung  der  Buchausgabe  wird 
dann  aber  der  Dichter,  wie  ich  das  früher  geschildert  habe, 
einen  der  alten  Korrektur-  (nicht  Revisions-)  Abzüge  des  Zeit- 
schrifteudrucks  benutzt  und  hier  das  häßliche  zweimalige 
„darüber"  übersehen  haben.  Wir  handeln  also  in  seinem  Sinne, 
wenn  wir  die  Lesart  des  Zeitschriften- Reiudrucks  wieder- 
})  erstellen. 

Kirch  IV  98,  24  hab  ich  die  Lesart  aller  Buchausgaben 
„sie  mochte  kaum  vierzig  Jahre  sählen"  zurückgeändert  in  die 
Lesung  des  Zeitschriftenabdrucks:  „Sie  mochte  hium  über  dreißig 
Jahre  zählen".  Denn  auch  hier  war  der  Dichter  gegen  seine 
eigne  Vergeßlichkeit  zu  schützen.  Im  Text  des  Zeitschrift- 
abdrucks halte  ursprünglich  „liaum  vierzig"  gestanden.  Dann 
hatte  Erich  Schmidt  am  Rande  die  Bereclinung  angestellt: 
„Erblühend,  reifend,  also  ca.  15  +  17  +  2",  und  daraufhatte 
Storm  die  Altersberechnung  geändert  in  „Mnm  über  dreißig'K 
Als  er  nun  aber  als  Vorlage  für  den  Buchdruck  leider  wieder 
einen  alten  uukorrigierten  Abzug  des  Erstdruckes  benutzte, 
da  war  der  frühere  Fehler  wieder  da. 


44  Ai.HKitT  KösTKu:  [7^.3 

I  2. 

Nacluloni  ich  umi  IJcthenscbaft  diirüber  abgelegt,  und  an 
vielen  Prc»ben  dargetaii  habe,  in  welcher  Weise  ich  zu  einem 
gereinigten  Text  der  Stornischen  Novellen  gekoninien  biu, 
erübrigt  noch  ein  zweites.  Wie  ich  schon  gesagt  habe,  ist  es 
zwar  uumöglich,  einen  ganzen  Lesarten-Apparat  zu  drucken, 
der  viele  Bogen  unitasseu  würde.  Aber  der  Insel-Verlag  be- 
sitzt ein  Exemplar  mit  allen  eingetragenen  Textverbesserungen, 
ich  eines  mit  allen  eingetrageneu  Variauten.  Und  aus  der 
Masse  dieses  Materials  möchte  ich  doch  zusammenfassend  das 
Wesentlichste  mitteilen.  Es  wird  aus  solchen  Aufstelluuy;eu 
sich  zeigen^  Avie  die  Eigenart  Stormschen  Stils,  ihre  letztt^ 
W^irkung  sich  *erst  nach  und  nach,  von  Druck  zu  Druck  her- 
ausgebildet hat.  Wohl  verstanden:  es  handelt  sieh  hier  nur 
um  die  Ergebnisse,  die  sich  aus  der  Druckgeschichte,  aus 
dem  Vergleich  aller  Ausgaben  gewinnen  lassen;  eine  Analyst 
oder  Geschichte  des  Stormschen  Novellenstils  im  ganzen  muß 
einem  künftigen  Forscher  —  vielleicht  an  der  Hand  meiner 
Ausgabe  —  vorbehalten  bleiben.  Ich  selbst,  der  sonst  wohl 
der  Nächste  dazu  wäre,  hab  einstweilen  mich  genug  mit  dem 
Dichter  beschäftigt. 

Storra,  der  im  Lauf  seines  Lebens  sich  zu  einem  der 
feinsten  Wortkünstler  entwickelt  hat,  schrieb  von  Haus  aus 
ein  wenig  musterhaftes,  ein  etwas  wild  gewachsenes  Deutsch, 
das  sich  hauptsächlich  aus  drei  Elementen  zusammensetzte. 
Wir  können  es  am  besten  aus  seinen  Briefen  heraushören» 
die  man  beileibe  nicht  zur  Norm  für  etwaige  Richtigstellungen 
seines  Kunststils  nehmen  darf.  Zugrunde  lag  ein  breitbehag- 
licbes,  oft  zum  Plattdeutschen,  gelegentlich  auch  zum  Däni- 
schen neigendes  Holstendeutsch;  wir  hören  es  noch  heraus, 
wenn  er  in  Briefen  schreibt:  „in  der  bilden  Zeit  vor  Weih- 
nachten"; „es  friert  tüchtig;  und  Niklas  ist  bei,  Eis  zu 
hauen";  „gegen  elf  Uhr  kamen  wir  glücklich  zu  Haus'' 
oder  dgl.  Daraufgesetzt  war  eine  starke  Schicht  Juristen- 
deutsch mit  seinem  „rücksichtlich,  behufs,  etwanig,  in  Betretf,. 


)  .        KC.OMENA  ZU  EINKR  AuSG.  DEH  WeKKE  Th.  StOHMS.        45 

respective",  seinem  „destallsig,  anlangend,  in  puncto"  n.  ä. 
Und  darüber  gelagert  endlich  eine  reichliche  Beigabe  von 
Literatursprache,  zum  Teil  edler  Herkunft  aus  klassischen 
und  romantischen  Dichtern,  zum  Teil  aus  den  papierenen 
Leistungen  der  Kalender  und  Familienblätter.  Schwerfällig 
handhabte  der  junge  Storni  anfangs  die  Sprache;  lange  Paren- 
thesen ließen  den  Satz  stocken,  Inversionen  („und  gestatte- 
ich mir",  „und  bitte  ich  dich'')  brachten  ihn  wieder  in 
Fluß.  Dazu  fühlte  sich  der  Briefschreiber  und  selbst  der 
Schriftsteller  —  vielleicht  durch  den  Gebrauch  des  platt- 
deutschen Idioms  —  noch  in  vielen  Fragen  der  Sprachrichtig- 
keit unsicher. 

Von  alledem  hat  sich  manches  auch  in  seine  Erzä,hlun- 
tfpii  ein cre schlichen.  Und  es  ist  nicht  angebracht  (wozu  die 
Gesamtausgabe  manche  Ansätze  unternommen  hat),  hier  mit 
der  roten  Tinte  zu  kommen  und  dem  Dichter  die  Sätze  zu 
verbessern.  Es  entehrt  ihn  gar  nicht,  daß  er  „gewöhnt"  und 
;,gewohnt"  nicht  unterscheiden  kann,  daß  er  „hängen"  und 
„hangen",  „hängte"  und  „hing",  „aufgehängt"  und  „aufgehan- 
gen" bis  an  sein  Lebensende  verwechselt,  daß  er  —  wenig- 
stens in  den  älteren  Novellen  —  „Farren"  für  „Farne"  schreibt 
oder  „zwo  Köter",  „zwo  Kerle"  (Aq.  II  225,  43;  226,  4;  239,  12) 
sagt.  Er  verbindet  „kosten",  „heißen"  (=  befehlen),  „lehren" 
)neist  mit  dem  Dativ  (Eek.  lU  118,  28  er  hieß  einem  Hofjimgen 
ein  Bündel  Heu  herleizuliolen;  Viol.  II  131,  10  das  ist  das 
Beste,  was  ein  Mensch  . . .  andern  lehren  Jcann;  Schw.  IV  35 1, 9 
die  Ordnung,  die  ich  meinem  Sohn  gelehrt  hatte).  Ja,  es  kann 
ihm  noch  spät  ein  so  monströser  Satz  unterlaufen  (Mal.  I, 
251,  29):  „Obgleich  gänzlich  verhUppelt  (soU  heißen:  obgleicb 
der  Maler  gänzlich  verkrüppelt  war),  hatte  ich  Jieinen  tolleren 
Kameraden  als  ihn." 

Die  drei  gekennzeichneten  Elemente  seiner  Sprache  trifft 
man  immer  wieder  an.  Er  ist  imstande,  einen  so  papierenen 
Satz  drucken  zu  lassen  (Markt  I  337,  7):  „dann,  auch  die 
Lampe  nehmend,  ging  er"  (er  bessert  allerdings  1861:  dann 
nahm  er  auch  die  Lampe  und  ging).    Das  Juristendeutsch  ist 


\t)  Ai.HKRT  Köstkk:  [70,3 

imausroltbar  l>ci   ilmi:   noch  Scn.  V   125,  8  si'hroilil   er:  ..mich 
^elhtr  aubchotjfon/,  so  Imhr  ich   .  .  .'' 

\'(>r  ülleni  alter  ist  sein  tStil  durclisetzt  mit  i'rovin/ialis- 
iiieu  uiul  \  ulgurismen  der  Marscli-  tuid  Geostlande  an  der 
Nordsee.  Das  verdient  einmal  eine  besondere  Untersncliung^): 
hier  verzeicbm'  iili  vor  allen  solche  Wendungen,  die  in  eiu- 
/.elneu  »Storni-Drucken  niibverstandt^n  oder  unterdrüclii  sind, 
oder  die  man  in  niejnci'  Ausgabe  etwa  für  Kehler  halten 
könnte.  Wenn  Storni  Kiew' V  173,  i^  im  Erstdruck  und  noch 
in  der  Buchausgabe  von  1^85  geschrieben  hatte  „wir  wollen 
gleich  nach  HaHs&\  so  ändert  er  188O,  um  die  Sprechart  des 
alten  Kapitäns  besser  zu  treffen:  „wir  wollen  gleich  zu  Hause^^. — 
Er  wendet  den  in  Niederdeutschland  gebräuchlichen  Kompara- 
tiv „öfterer"  au  (Aug.  I  200,  38;  Hosen  I  y),  13;  Schloß  1  87,  22 
[nach  der  Handschrift  hergestellt]:  Brauerh.  III  148,  12).  — 
Ebenso  ist  ihm  der  Superlativ  „einzigst"  eigen.  Nachb.  \ 
142,  30  meine  einzigste  Freude  (wieder  hergestellt);  Dopp.  lil 
270,  6  sie  war  die  einzigste;  Brauerh.  III  131,  27  tlas  Ge 
schüft  war  .  .  .  lange  das  einzigste  am  Ort  gewesen  (hier  hat  die 
Kladde  noch  „einzige",  in  die  Reinschrift  muß  aber  Storni 
die  Korrektur  gebracht  haben;  die  ersten  Drucke  haben  sie, 
und  sie  ist  als  Stormisch  festzuhalten).  —  Er  hat  (beeinflußt 
durch  das  Dänische?)  eine  Vorliebe  für  das  verstärkende  Ad- 
verb „selten",  im  Sinne  von  „außergewöhnlich".  Wie  er  in 
Briefen  schreibt,  Mörikes  „Mozart"  sei  „selten  wertvoll",  die 
Briefe  seien  „selten  interessant",  eine  „selten  heitere  Jugend", 
„es  sind  selten  herzenswarme  Menschen",  so  auch  in  Novellen: 
Tann.  I  1 1 8,  20:  dies  noch  immer  selten  schöne  Haar;  Popp.  II 
317,  5  sie  sei  von  seltener  Anmut  gewesen;  Eek.  III  97,  12  in 
selten  ausfilhrliclicr  [ 'herlief erung.  —  Und  noch  eine  andre 
Verstärkung  kennt  er  aus  seiner  Umgangssprache.  Er,  der 
als  pedantischer  Bräutigam  einst  (Constanze  (Briefe  an  seine 
Braut  S.  20)  auf  ihren  Bericht,  sie  habe  ,/urchtbar  gelacht", 
eine  Strafpredigt   für    dieses  „enorme   und    abnorme   Verstär- 

1)  Vorläufig  i3t  zu  Tenveisen   auf  die    Zusammenstellungen    von 
-A.PEOCKSfH  in  der  Germanisch-Romanischen  Monatsschrift,  Bd.  6,  S.  ssyff. 


70,  3]     Proleoomexa  zu  i::inku  Ausg.  dek  Wi;kke  Th.  Storms.     47 

kuno-swörtchen"  gehalten  hatte  ^),  er  schrieb  später  in  Briefen 
ruhio-  „es  war  rasend  behaglich",  ,,wo  Constanze  es  rasend 
gemütlich  fand";  und  endlich  drang  dergleichen  sogar  in  seine 
Novellistik  ein.  Basch  IV  272,  8  sie  ivar  so  furchthar  Mein 
fioch.  —  Durchaus  im  Druck  zu  bewahren  sind  bei  Storm 
einzelne  als  indeklinabel  erstarrte  Ausdrücke;  sie  sind  ganz 
seiner  Sprache  gemäß  und  von  Setzern  vielfach  mißverstan- 
den. Staatsh.  I  57,  4  sie  icar  so  in  der  Leute  Manier  (nicht 
„Mäulern"!);  Jens.  I  165,  30  Ich  denke,  [es  sind]  seit  letzten 
Mai  zwei  Jahre  („letzten  Mai"  ist  indeklinable  Datumbezeich- 
uuno'  und  steht  ganz  richtig  in  der  Handschrift,  dem  Zeit- 
schriftendruck und  der  ersten  Buchausgabe;  1868  ist  sie  zu 
Unrecht  pedantisch  geändert  worden).  —  Ebenso  müssen  wir 
uns  damit  abfinden,  daß  Storm  vom  Plattdeutschen  her  aus 
der  Aufforderung  in  der  Imperativform  (nimm  mirs  nicJd  ühel) 
und  der  in  der  Konjunktivform  (nehme  sie  mirs  nicht  übel)  eine 
Miscliform  macht.  Hinz.  II  95,  17:  nimm  Sie  mirs  nicht  [für] 
übel.'  Mal.  I  263,  40  N^m  sieh  mir  einer  diese  Hexe.'  (wieder- 
hergestellt); Sen.  V  102,  2  Ntm  sieh  mir  einer  diesen  Quer- 
kopf an!  Griesh.  IV  141,  16  Gieh  Er  mir  seinen  linken 
Strumpf! 

13- 

Aber  mit  der  Zeit  wurde  er  doch  in  diesen  Fragen  etwas 
strentrer.  Wenn  er  nicht  besondere  Zwecke  damit  verband, 
suchte  er  seine  Prosa  von  gar  zu  niedrigen  oder  unverständ- 
lichen Wendungen  seiner  heimatlichen  Alltagsrede  zu  befreien. 
Staatsh.  I  52,  i  an  einem  Akt  des  Deiches  >  1860  an  der 
Seite  des  Deiches      Univ.  I  299,  28  (H)  meine  Schivcster  tvill's 


1)  Vgl.  auch  Briefe  an  seine  Braut,  S.  31,  wo  Storm  schrieb,  als 
Constanze  den  „Klippschulenausdruck"  gebraucht  hatte,  sie  sei  „furcht- 
bar" abgespannt  gewesen:  „Wir  müssen  uns  als  Gebildete  ohne  Zweifel 
befleißen,  die  Worte  in  der  Bedeutung  anzuwenden,  die  sie  durch  den 
Sprachgebrauch  haben.  Ungebildete  und  Kinder  tragen  ihre  Willkür 
in  die  Sprache  hinein.  Namentlich  so,  daß  sie  ungeheure  —  hier  ist 
das  Wort  am  Platze  —  Verstärkungsworte  gebrauchen,  wo  sie  nicht 
hingehören.  Ist  eine  reine,  einfache  Sprache  nicht  etwas  Schönes,  Edles?" 

Plül.-hist.  Klasse  igtS.  Bd.  LXX.  3.  4 


48  Amjkht  KösTKir.  |7<\  > 

ihr  'II  (irhur(st<i(j  srJhi>/>ni  >  (Dr)  .  .  .  cin>i  (ieJnirfsta//  .  . 
Mal.  1  J57,  Q  (H)  in  der  rrrtraikfrn  Spruche  >  (Dr)  iv 
der  seltsamen  Sprache  (gonicint  ist  das  Holläiulische)  Meid. 
II  141  31;  (II)  die  Diruc  yliipfe  Um  an  >  (Dr)  .  .  .  iiJofzte 
ihn  an  l'opp.  II  322,  20  (11)  der  alte  Jutstcn  war  da- 
mals noeh  7'ummcli(/cr  >  (Dr)  .  .  .  noch  h(uifälli(/er.  — 
Eine  Form  wie  „lodern"  (für  „fordern"),  die  er  in  seiner 
Jujjend  sofjar  im  Keim  auf  „verlodern''  („Doch  du  bist 
fern")  tind  später  gern  noch  in  Briefen  anwendet  (an 
Pietsch  rtO.  Sept.  1856;  uii  Gebr.  Paetel  in  den  Siebzig-er- 
jahreu  oft;  an  Eggers  S.  1 1 ,  23)^  kommt  in  seiner  erziihlen- 
den  Prosa  nie  vor;  stets  wird  sie  schon  in  der  Handschrift 
korrigiert.  Ver.  II  70,  28  (H)  aufgefodert  >  (Dr)  aufgefw- 
dert  Univ.  I  297,  2  (H)  zuriicl'foderten  >  (Dr)  isurüeJcfm-- 
derfen  1  318,  44  (H)  aufgefodert  >  (Dr)  aufgefordert  Bul. 
II  48,  9  (H)  zurikhfodem  >  (Dr)  zurücJcfordern  II  48,  30  (H) 
Barlehnsfoderung  >  (Dr)  Darlrhm^fordmmg  Popp.  II  316,  14 
(H)  foderte  >  (Dr)  forderte  Waldw.  III  16,  17  (H)  fodern  > 
(Dr)  fordern  III  18,  28  (H)  erfoderlichen  >  (Dr)  erforder- 
liclien.  —  Vollends  wenn  er  Worte  und  Wendungen,  die  er 
Jahrzehnte  lang  arglos  gebraucht  hatte,  eines  Tages  als  fehler- 
haft erkannte,  dann  fühlte  er  als  deutscher  Dichter  die  Pflicht, 
sie  abzutun.  Imm.  I  18,  6  eine  Iwhe,  Imhle  Hausflur  >  1868 
ein  hoher,  hühler  Hausflur  Mus.  III  52,  10  auf  der  Hausflur 
>  1876  auf  dem  Hausflur  Kirch  IV  70,  37  in  der  Flur  > 
1883  im  Flur  (ähnlich  71,  35:  91,  9;  91,  37;  92,  9);  Imra. 
I  24,32  den  empfangenen  AI  mosen^  1 8^,2  das  empfangene  Almosen; 
Häw.  I353, 22aM  seinem  Meinen  Zehe  >  1851  an  seiner  Meinen 
Zehe  Jens.  I  155  21  er  schröb  die  Lampe  höher  >  1867  .  .  . 
sehraiihte  .  .  Et.  IV  200,  6    die    hestheleumdetsten   Honora- 

tioren >  1889  die  hestheleumdeten  .  .  .  (doch  sind  bei  diesem 
Beispiel  Zweifel  möglich).  —  Besonders  ist  es  ein  Wort,  das 
Storm  später,  nachdem  er  es  als  falsch  erkannt  hatte,  aus- 
merzt. Er  hat  in  seiner  .lugend,  wie  das  in  Niederdeutsch- 
land üblich  ist,  für  „au  etwas  gedenken",  „sich  auf  etwas 
besinnen"   stets   gesagt:   „etwas   erinnern"   (ohne   Reflexivpro- 


70,  3]     Prolkgomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     4g 

nomen  und  mit  dem  Akkusativ).  In  der  tägliclien  Rede  und 
in  Briefen  wandte  er  es  ruhig  weiter  an:  „wenn  du  etwas 
nachsinnst,  so  Avirst  du  es  schon  erinnern";  „ich  meine  be- 
stimmt zu  erinnern".  Es  war  daher  ein  Fehler,  daß  Bächtold, 
dem  der  Sprachgebrauch  wohl  fremd  war,  im  Mörike-Storm- 
Briefwechsel  S.  52,  Z.  27,  ein  ,,mich",  wenn  auch  nur  in 
Klammern,  in  den  Text  setzte.  Die  Briefstelle  ist  ohne  das 
„mich"  ganz  in  Ordnung.  In  den  Sechziger-,  Siebzigerjahren 
wurde  Storni  aber  stutzig.  An  Heyse  schreibt  er  im  Dezember 
1874:  „vielleicht  erinnern  Sie  es  (richtiger:  Sie  sich  dessen)". 
Und  so  tilgt  er  es  auch  in  Drucken,  die  hinter  der  Zeit  zu- 
rückliegen. Staatsh.  I  38,  23  was  die  Alte  geanhvortet,  erinnere 
icJt  nicM  mehr  >  1868  .  .  .,  dessen  entsinne  ich  mich  nicht 
mehr.  I  40,  3  Aber  ich  erinnere  noch  gar  ivohl  >  1868  .  . 
ich  entsinne  mich  noch  ...  I  40,  36  ton  der  ich  nicht  erinnere, 
daß  .  .  >  1868  .  .  ich  mich  nicht  entsinne,  daß  .  .  Rosen 
I  30,  12  du  wirst  es  erinnern  >  1861  ...  dich  dessen  erinnern. 

Das  führt  uns  nun  aber  zu  einer  gTund sätzlichen  Be- 
obachtung hin.  Storm,  der  in  jungen  Tagen  ziemlich  so  ge- 
redet hatte,  wie  ihm  der  Schnabel  gewachsen  war,  wurde  in 
Heiligenstadt  und  seit  der  Rückkehr  nach  Husum  immer 
korrekter  in  seiner  Sprache.  Man  kann  das  nicht  allein  auf 
zunehmenden  Dichterehrgeiz,  nicht  auf  Berührung  mit  Amts- 
kreisen außerhalb  der  Herzogtümer,  nicht  auf  Erweiterung 
des  Blickes  im  neuen  Deutschen  Reich  zurückführen,  sondern 
ich  möchte  denken:  die  kleinen  Sorgen  der  heranwachsenden 
Kinder,  die  preußische  Schulen  besuchten,  haben  da  das  Ihrige 
mit  getan.  Denn  da  konnte  täglich  gefragt  werden:  „Heißt 
es  so?  oder  heißt  es  so?"  Und  der  Vater  mußte  es  doch 
wissen,  da  er  selbst  ja  zum  Teil  der  Lehrer  seiner  Kinder 
war.  Auch  diese  Probleme  kann  ich  hier  nur  so  weit  streifen,, 
wie  sie  meine  Ausgabe  angehu.  Da  aber  sind  es  zwei  Gruppen 
von  Fällen,  die  uns  zeigen,  wie  Storms  Sprache  mit  den 
Jahreii  an  grammatischer  Richtigkeit  zunahm. 

Einesteils:  er  führt,  wenn  auch  nicht  überall,  so  doch  in 
einer  stattlichen  Zahl  von  Fällen,  nachträglich  in  bereits  ge- 

4* 


50  Ai-HKUT  Kösti:r:  [70, 3 

druckten  Werken  eiiie  Strenge  iler  consecutio  tiMuporiun  durch, 
wie  er  sie  vielleicht  vom  Lateinischen  g-ewonnen  hatte,  wie 
sie  aber  dem  Doutschon  gar  nicht  so  unverbrüchlich  eigen, 
ja  sogar  gowolinheitswidrig  ist.  Ang.  I  200,  21  />  Jtlichtc, 
.  .  her,  als  ^7/r//c  rr  >  1868  ....  als  suchte  er  Stuatsh.  I 
55,  3  (11)  Zivei  derselben  hatten  ihre  Hände  gefaßt,  als  Ivwne 

. .  >  (Dr) als  Ivnnfe  . .       SchU)ß  l  82,  29  Da  ivar  ihr, 

als  höre  sie  >  1 863  ....  als  hörte  sie  I  98,  9  maclde  eine 
Beueijumiy  als  uvlle  er  sich  od  fernen  >  1863  ....  als  wollte 
er  .  .  I  IOC),  6  sie  drüclde  .  .  das  Haar  .  .  zurüclc,  als  wolle 
sie  >  .  .  .  als  ivollte  sie       Abs.  I  144,  i  (H)  er  hustete,  (ds  ob  er 

sprechen  ivolle  >  (Dr) wollte       Cypr.  II  41,  7  als  ob  es  sie 

banne,  bliclde  sie  .  .  >  1866  ....  bannte,  .  .  .       -^ürg.  I  225,  43 

mir  war  plöt~lich,  cds  sehe  ich  >  1868  (Gesamtausgabe) als 

sähe  ich  (ähnlich  238,  39)  Heid.  II  139,  7  (H)  [es]  sei  ein 
besonderes  Ereignis,  welches  sein  Verschwinden  erJdären  könnte, 

nicht  belannt  geworden  >  (Dr) erJdären  Jcönne 

Popp.  II  324,  24  (H)  er  schlenkerte  .  .  .  als  wenn  er  sich  .  .  nicht 

eu  lasseii  wisse  >  (Dr) wüßte      II  339,  i  (H)  sie  meinte 

doch,  das  Kind  müsse  .  .  .  >  (Dr) müßte  .  .       Waldw. 

in  30,  3  Gy  sah  sie  an,  cds  erwarte  er  >  1875  ....  erwartete 
er  III  ^2  7  (H)  da  der  Förster  auf  ihn  zutrat,  als  ivolle  ei- 
. .  >  (Dr)  ....  wollte  er  .  .       Ill  44,  2  (H)  er  legte  seine  Hand 

hinein,  als  liebkose  er  >  (Dr) liebkoste  er      Aq.  II  234, 

26  (H)  es  tcar,  cds  ivenn  etwas  .  .  sich  .  .  heraufarbeite  >  (Dr) 

heraufarbeitete       Ren.  III  193,  20   da   schauderte   mich, 

daß  ich   .  .  .  trinken  solle  >    1878    sollte       Schw.  IV 

316,  20  [Rudolf  ging],  cds  ivolle  er  es  empfinden  >  1883  .  .  . 
als  ivollte  er  empfinden  Kön.  III  327,  20  mir  war,  als  blicke 
er  >  1888  . . .  als  blickte  er  Had.  IV  252,  16  (H)  das  Herz 
schlug,  als  wolle  es  .  .  '>  (Dr)  ....  als  ivollte  es  .  .  Basch 
IV  281,  8  (H)  sie  nickte,  als  solle  es  ein  Schwur  sein  >  (Dr) 

als  sollte  .  . 

Und  noch  an  einer  zweiten  Gruppe  von  Fällen  zeigt  sich 
die  zunehmende  Annäherung  Storms  an  die  Ordnungen  der 
Grammatik.     Ihm   ist  es   von   Haus   aus   das   Nächstliegende, 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     5 1 

bei  Neutren  wie  „Mätichen,  Geschöpf,  Kind'^  oder  bei  einem 
Namen  in  der  Koseform,  wenn  er  ein  weibliches  Wesen  be- 
zeichnet, das  natürliche  Geschlecht  zu  berücksichtigen,  hier 
also  das  pron.  pers.  „sie"  und  das  possessivum  „ihr''  anzu- 
wenden. Markt  I  340,  28  das  Mädchen,  deren  Hände  . .  ruhten 
Mal.  I  259,  26  ich  folgte  dem  Mädchen,  die  schon  .  .  vcr- 
schuimden  war  Heid.  II  153,  i  das  Mädchen,  die  nach  mei- 
nem Geheiß  sich  ..  gesetzt  hatte  II  155,  44.  das  j\Lädchen, 
die  noch  immer  ..  hinausstarrte  II  156,3  das  Mädchen 
wandte  den  Kopf,  als  habe  sie  nichts  davon  verstanden  Popp. 
II  327,  39  Das  Lisei  ivcir  fort;  sie  ivar  .  .  Waldw.  III  16,  3 
der  leichte  Tritt  eines  Mädchens,  deren  müde  Füßchen  .  . 
Mus.  III  64,  17  ein  Mädchen,  die  mit  großen  Äugen  .  .  auf- 
hliclie  Aq.  II  219,  18  ein  Dirnlein,  die  ihre  Zöpfe  lustig 
fliegen  ließ  Schw.  IV  355,  13  an  dem  Bette  seines  Weihes^ 
die  seine  leiden  Hände  .  .  hielt  Griesh.  IV  135,  n  das  Weib, 
die  eben  aus  dem  Dorf  heraufgeJiOtnmen  war  Had.  IV  224,  40 
[er  sah]  sein  Kind;  sie  stand  .  .  IV  225,  27  Dann  hob  er 
sein  Töchterchen  auf  seine  Arme  und  trug  sie  .  . 

Gelegentlich  wird  bei  Storm  das  natürliche  Geschlecht 
sogar  erst  nachträglich  in  den  Text  korrigiert.  Popp.  II  338, 
14  (H)  Nun,  meinte  Lisei,  ein  Mäntelchen  habe  es  schon,  .  .  es 

hab'  auch  .  .  darin  gefroren  >  (Dr) habe  sie  schon,  .  . 

es  hob'  sie  auch  .  , 

Aber  Storm  wird  später,  wie  in  vielen  Dingen,  so  auch 
hier  gi-ammatisch  korrekter.  Abs..I  150,  31  Das  alte  3Iädchen, 
die  7ioch  eben  so  allein  gewesen  >  1865  . .  .  das  noch  eben  .  . 
Popp.  II  349,  26ff.  (H)  es  tat  mir  fast  weh,  das  Lisei  an- 
zusehen; denn  bald  fuhr  ja  auch  sie  mit  ihrem  Vater  .  .  hin- 
aus >  (Dr)  ....  fuhr  es  ja  auch  mit  seinem  Vater  . .  hin- 
aus Eek.  III  118,  34  das  Mädchen,  die  nur  mit  Widerstreben 
festgehalten  wurde  >  1886  .  .  .  Mädchen,  das  .  .  III  124,  34 
das  Mädchen,  die  sorgend  zu  ihm  aufUicUe  >  1886  .  ,  .  das 
sorgend  .  .  Schimm.  V  77,  25  Jetzt  hiiete  das  Kind  an 
ihrer  Seite  und  sah  mit  ihren  stillen  Augen  >  1888  . 
mit  seinen   stillen   Augen    .  .        Analog,    aber,    so    viel   ich 


52  Albert  Köstek:  r7^\ .? 

weiß,  mir  ein  Mal,  koiiiint  die  Waiullun^  für  das  Mas- 
kulinum vor.  Aq.  II  208.  I  ,,J'Jiii  Mein  (irsdicuk  doch 
mußt  du  deinem  Kinde  gehen!''  Und  ich  nmlrtr  auf  seinem 
J>ildiiis  ihm  eine  weiße  Wasserlilie  in  die  Ihuid,  cds  sd  er 
spielend  damit  eingeschlafen  >  iSyj  ....  als  sei  es  spielend  .  .  . 
Und  uuu  j]feschieht  etwas  sehr  Merkwürdifjfes.  Da  das 
grammatisch  Korrekte,  dem  Storm  im  Alter  mehr  und  mehr 
zuslrehte,  vielfach  für  ihu  das  Ungewohnte,  das  Nicht-Husumische 
war,  so  scheint  er  in  einzelnen  Fällen  das  in  seiner  Heimat 
durchaus  Uni^ebräuchliche  fiir  das  Richtige  oder  wenigstens 
für  das  Aneignensworte  gehalten  zu  haben.  Nur  so  kaim  ich 
es  mir  erklären,  daß  er  in  seinen  letzten  Jahren  allerlei  in 
seine  Sprache  aufnimmt,  was  dem  Schleswig-Ilolsteiner  völlig 
fremd  ist.  Ob  er  es  aus  dei-  Lektüre  aufgefangen  hat,  oder 
aus  den  Erzählungen  seiner  in  Mittel-  und  Oberdeutschland 
studierenden  Kinder,  aus  seinen  wenigen  Reisen  nach  Baden 
und  dem  Salzkammergut,  aus  dem  Einfluß  von  Heyse,  Keller, 
Schindler  (Julius  von  der  Traun),  weiß  ich  nicht  zu  sagen. 
Es  gehört  hierher  —  um  nur  einige  Proben  zu  geben  —  das 
in  Sachsen  und  Thüringen  übliche  „hinausmachen"  für  „hinaus- 
wandem"  (Aq.  II  259,  43);  die  Konjugation  mit  „sein"  statt 
mit  „haben"  (Riew'  V  156,-  5  das  Hans  war  dagestanden)]  das 
Wort  „heurig"  (Xachb.  ¥129,7);  das  Verbum  „schleißen"  und 
sein  Partizip  „verschlissen'*  (Nachb.  V  137,39;  Carst.  III  210,3; 
Dopp.  III  260,  25,  wo  noch  dazu  eine  Norddeutsche  spricht; 
Kirch  IV  88,  7);  das  „so  zwar",  ohne  daß  ein  „aber"  folgt, 
also  an  Stelle  von  „und  zwar  so"  (Aq.  II  218,  13;  Carst.  III 
214,  39:  Griesh.  IV  153,  39).  Besonders  aber  eignet  er  sich 
das  in  Osterreich  übliche  „um  etwas,  oder:  auf  etwas  ver- 
gessen" an.  Sen.  V  119,  40  er  hatte  schon  darum  vergessen 
Kirch  IV  77,  34  er  wollte  jefzo  zivar  darauf  vergessen  haben 
Schw.  IV  316,  28  er  hatte  ganz  darum  vergessen  Griesh.  IV 
117,  28  Vergeßt  nur  nicht  auf  Eures  Vaters  Süpplein.  Dieser 
Sprachgebrauch  bringt  auch  Licht  in  eine  bisher  ganz  un- 
verständliche Stelle.  Aq.  II  226,  32  haben  alle  Drucke  die 
Lesung:  ,,Ieh  hatte  aitch  Katharinen  .  .  .  fast  vergessen."    Ein 


7o,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Tu.  Storms.     53 

aufmerksamer  Leser  mußte  sich  fragen:  wa.s  soll  hier  das 
„auch"?  was  hat  der  junge  Maler  demi  sonst  vergessen? 
Erst  die  Handschrift  belehrt  uns,  daß  Storm  geschrieben 
hatte:  „Ich  hatte  auf  Katharhwn  .  .  .  fast  vergessen",  und  so 
ist  jetzt  auch  zu  drucken. 

14. 

Im  13.  Abschnitt  haben  wir  oft  schon  Storms  bessernde 
Hand  verfolgt.  Aber  es  handelte  sich  da  immer  nur  um 
Mittel,  durch  die  sein  Stil  von  Ausgabe  zu  Ausgabe  richtiger 
wurde.  Weit  interessanter  sind  nun  aber  die  aus  den  Le.s- 
arten  erkennbaren  Änderungen,  durch  die  er  seine  Sprache 
—  sagen  wii-  es  mit  Einem  Wort  —  Stürmischer  gestaltete. 

Gehn  wir  vom  bloß  Zufälligen  zum  Wesenhaften,  von 
der  Schale  zum  Kern  vor,  so  fällt  zuerst  auf,  wie  Storm  bei 
jedem  neuen  Druck,  den  er  durchsah,  auf  sorgfältigere  Wahl 
treffender  Worte  bedacht  war.  Wer  sich  ein  üi-teil  bilden 
will,  muß  natürlich  die  zitierten  Stellen  im  Zusammen- 
hang des  ganzen  Textes  lesen,  um  zu  erkennen,  daß  wirklich 
der  jüngere  Ausdruck  stets  aus  der  Gesamtheit  der  Situation 
gewonnen  und  von  einer  starken  sinnlichen  Anschauung  ein- 
gegeben ist.  Staatsh.  I  40,  33  (H)  die  (jemessenen  Blicke  > 
(Dr)  die  stren'jen  Blicke  I  46,  3  die  saubersten  und  knappsten 
Handschuhe  >  1860  die  feinsten  englischen  Handschuhe  I  52, 
«  (H;  der  Bote  suchte  in  seiner  Ledertasche  >  (Dr)  Her  Bote 
blätterte  .  .  .  Markt  I  342,  35  auf  die  Wangen  klopfte  > 
1861  ...  klatschte  Schloß  I  81,  23  von  fast  durchsichtiger 
Weiße  >  1863  .  .  Blässe  I  88,  13  (H)  von  den  geselligen 
Formen  >  1862  von  den  gesetzlichen  Formen  >  1868  von 
den  aWiergebrachten  Formen  >  1889  von  den  hergebrachten 
Formen  I  97,  40  mit  den  scharfen  Zähnen  >  1863  mit  den 
spitzen  Zähnen  I  103,  41  an  finsterer  Stolz  >  1863  eine 
finstere  Trauer  I  1 11,  19  als  ob  es  ihn  dränge  (jedenfalls 
eine  willkürliche  Änderung  der  „Gartenlaube")  >  1863  als 
oh  es  ihn  haste  Abs.  I  134,  12  den  großen  gelbgrauen  Vogel 
>   1865     ..  gelbbraunen  I  142,  5   (Hj   Meine  Gedanken 


54 


Ai.iti  lii'  KössTKu:  [70,3 


ginifoi  in  iliv  dli*  /.<  it  >  (Di")  ■  •  •  verloren  sich  in  die  alte 
Zeit  lu'^.  II  25,  3«  mit  jluttcrndcn  Krönrcn  >  kS66  mit 
Krümm  und  flatternden  liändcrn  Bul.  II  .17,  m  (II)  die 
Türklinke  seines  Zinrmers  >  (Dr)  die  Klinke  seiner  //nnmertür 

II  5-%  1  {\\)  Die  Schiecster  stand  sprachlos  cor  ihm  > 
i^Dr")  >  .  .  stand  schnciffcnd  vor  ihm  .leiis.  I  lOi,  4-  sich  he- 
tveijen  >  1868  fori<ileiten  Vo\)\).  II  :u-',  8  (II)  hart  katho- 
lisch >  (Dr)  streng  katholisch  II  348,  i-  die  Erlanhnis  mir 
erbeten  >  1875  die  l\rlauhiis  erhalten  II  ,S53,  42  fleischen 
frisch  anff/enialten  Kulissen  >  1875  ...  (inr/cmaltcn  .  .  . 
Walihv.  III  12, 25  mit  ihm  hinahschreitcnd  >  1875  hinter  ihm  her 
schreitend  111  15,  35  2»  ihren  stillen  Schlafplätzen  >  1875 
zu  ihren  noch  abgelegneren  Schlafplätzen  III  18,  i4(H)  bevor 
er  seinen  Satz  heginnen  konnte  >  (Dr)  .  .    Satz  vollenden  konnte 

III  24,  12  durch  irgend  u-clchc  unheimliche  Gea-alt  >  1875 

heitnliche  Gewalt       Mus.  III  54,  30  die  edle  Gottesgahe  > 

1876  dieses  edle  Kunsf^/ehräH  Et.  IV  183,  .j  erwiderte  ich 
ruhig  >  1882  ...  nachlässig  IMew' V  172,3  einen  herz- 
haften Zug  >  1885  einen  starken  Zug  Had.  IV  217,  i  seine 
kaffeebraune  Gugelkappc  (unpassend  für  eine  Erzählung,  die 
im  14.  Jahrhundert  spielt)  >  1885  seine  braune  .  .  .  Dopp. 
III  259,  6  ein  junger  Advokat  >   1887  ein  schlichter  Advokat. 

Ich  schließe  einen  kurzen  Bericht  über  die  Fremdwörter 
an.  Auch  über  dieses  Thema  läßt  sich,  etwa  in  einem  Schul- 
programm, allerlei  Aufschlußreiches  sagen.  Ein  Purist  Avürde 
an  dem  Husumer  Poeten  keine  Freude  haben;  sein  Deutsch 
wimmelt  von  Fremdwörtern,  und  zwar  nicht  nur  in  alter- 
tümelnder  Sprache  zur  Kennzeichnung  der  Redeweise  der 
Barock-  und  Rokoko-Zeit,  nicht  nur  zur  Charakteristik  ein- 
zelner Berufe,  nicht  nur  als  Bestandteil  der  gezierten  Sprache 
feudaler  Personen,  sondern  auch  in  Storms  eignem  Erzähler- 
deutsch. Aber  er  ist  und  bleibt  auch  hier  Künstler.  Er 
wendet  diese  Ausdrücke  nicht  aus  Nachlässigkeit  an:  auch 
kannte  er  sehr  wohl  den  Bedeutungsunterschied  manches 
Fremdwortes  und  seines  Ersatzes.  Sen.  V  108,  35  ff.  findet 
sich  das  Dialogbruchstück: 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     55 

„Um  Gottesivillen,  es  hat  doch  'kein  Unglück  gegeben?" 

,,Nein,  nein,  Christine." 

„Aber  ein  31alheur  doch,  Christian  Alhrecht?" 

Ja,  es  kann  geschehen,  daß  er  ein  Fremdwort  erst  nach- 
träglich einsetzt.  Aq.  II  220,  36  (H)  tviderwärtig  >  (Dr) 
obligeant  (wegen  der  Sprechweise  des  17.  Jahrhunderts).  So 
wird  es  auch  bei  Storni,  wie  hei  so  manchem  Schriftsteller, 
wohl  mehr  unsre  Pflicht  bleiben,  sein  Verhalten  zu  erklären, 
als  zu  tadeln. 

In  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen  freilich  scheint  doch 
dem  Dichter  das  Gewissen  geschlagen  zu  haben;  da  beseitigt 
er  die  Fremdwörter.  Es  sind  jedoch  in  seiner  ganzen  No- 
vellistik  nur  13,  die  er  zum  Tode  verurteilt  hat,  die  her- 
kömmliche Unglückszahl.  Staatsh.  I  41,  5  aus  der  Keller-Etage 
>  1868  aus  der  im  Erdgeschoß  befindlichen  Küche  1  48,  35 
(H)  mir  waren  die  Äugen  .  .  .  fatal  >  (Dr)  ....  zmvider 
Schloß  I  84,  5  (noch  1868)  die  Etage  >  i88g  das  Geschoß 
Abs.  I  138,  10  (H)  eine  solide  Haushaltung  >  (Dr)  eine 
regelrechte  Haushaltung  Jens.  I  157,  38  Comtoirist  >  1868 
Schreiber  Mal.  I  263,  28  im  Eisenbahncoupe  >  1868  auf 
der  Eisenbahn  I  273,  14  mein  Atelier  >  1868  meine  Werk- 
statt Fopp.  II  346,  33  (H)  der  hektische  Inspektor  >  (Dr) 
der  schivindsüchtige  Inspektor  (wohl  hauptsächlich  des  Klanges 
wegen)  II  355,  n  (H)  fix  und  ohne  Anstoß  >  (Dr)  fest 
und  ....  Ren.  III  200,  40  Organisation  >  1878  Gemüts- 
beschaff'enheit  Brauerh.  II  132,  2  und  9  (H)  Speziesthaler  > 
(Dr)  Bmikthaler  Et.  IV  210,  25  sah  mich  kritisch  an'>  1882 
sah  mich  unbefriedigt  an  Had.  IV  244,  44  das  die  Ehe  an- 
nullierte >   1886  das  die  Ehe  aufhob. 

Viel  beachtenswerter,  als  diese  doch  immer  an  der  Pe- 
ripherie liegenden  Merkmale,  sind  nun  aber  die  Besserungen, 
die  Storni  seinen  Werken  im  Einklang  mit  dem  tiefsten 
Wesen  seiner  Erzählerkunst  gab.  Wenn  er  zu  seinem  Schmerz 
sah,  daß  seine  Dichtungen  nicht  recht  in  die  Breite  des 
Volkes  drangen,  sondern  nur  von  einer  kleinen  Gemeinde  ge- 
schätzt wurden,  so  wußte  er  sehr  wohl,  woran  das  lag.    Es 


s^ 


A-LUKRT  Köstk.r:  l7".  3 


war  eiuo  stiUo,  /.urüokhiilti'udt'  Kirnst,  dio  it  ilailuaolito,  und 
rr  Will-  weit  diivoii  eutfernt,  Zu<ijestiniduisso  /u  machen  und 
etwa  ^eiIle  Er/iihlunt^en  durch  s])annende.s  oih'r  inifkelndes 
Beiwerk  dem  sehk'i'hteu  Lese^eschmark  näher  zu  luiiigen. 
Er  spricht  einmal  Erich  Schmidt  gegenüber  am  i6.  März 
1877  von  der  Art  und  Weise,  wie  seine  Novellen  vorgelesen 
werden  müßten:  .,lch  glaube,  die  Hauptsache  beim  Vorlesen 
meiner  Sachen  ist,  daß  sie  niögliclist  einfach  gelesen  werden, 
und  jetle  Betonung  hier-  oder  dorthin  nur  leicht  angeschlagen 
werde."  Solche  leisen  Wirkungen  sollte  luitürlich  nicht  erst 
der  Vorleser  hervorhriugeu;  sie  lagen  schon  von  Anfang  an 
in  den  Dichtungen  diiu. 

Und  diese  Zartheit  des  Vortrags,  die  suchte  nun  der 
Dichter  von  Auflage  zu  Auflage  in  seineu  Novellen  zu  er- 
höhen. Unter  diesen  Gesichtspunkt  läßt  sich  die  llaui)tmasse 
seiner  Änderungen  1  »ringen  Wo  er  in  frühen  Fassungen  ein 
Zuviel  von  Ausdrucksmitteln  angewandt,  wo  er  den  Ausdruck 
zu  hoch  gewählt,  aber  auch  wo  er  die  Rede  zu  sehr  verzier- 
licht hatte,  da  überall  gleicht  er  mit  vorsichtiger  Hand  aus. 
Und  über  diesen  Teil  seiner  künstlerischen  Sorgfalt  möchte 
ich  hier  Aufschluß  geben.  Jede  einzelne  Änderung  ist  natür- 
lich nur  unscheinbar.  Aber  wie  die  letzte  Vollendung  eines 
Gemälde»,  einer  Radierung  —  nur  liebevoller  Versenkung 
spürbar  —  oft  von  wenigen  Tupfen,  Strichen  oder  Punkten 
abhängt,  so  kann  in  einer  fein  gegliederten  Dichtung  das 
Letzte  der  Formgebung  durch  wenige  Worte,  Wortformen 
oder  Silben  geschehen. 

Dabei  möchte  ich  für  die  Bewertung  der  Zitate  voraus- 
schicken, daß  darauf  zu  achten  ist,  wie  die  Belege  stets  aus 
der  ganzen  Reihe  der  Novellen  entnommen  sind.  Es  handelt 
sich  also  nicht  um  Änderungen,  die  durch  den  besonderen 
Inhalt  der  einzelnen  Erzählung  bedingt,  sondern  um  Stil- 
mittel, die  dem  Gesamtwerk  dieses  Dichters  eigen  sind. 

Storm  brauchte,  besonders  zur  Schilderung  weiblicher 
Anmut,  hunderte  von  Diminutiven;  allmählich  aber  wurde  es 
ihm  zu    viel   dieser  Verkleinerungen,   und   er   tilgte:    Saal  II 


70,  3]     Prolbgomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     57 

65,  17  SchaulielbreUdien  >  1868  Schaukelbrett  Staatsh.  I 
.38,  12  f.  die  Monden  Härchen  fallen  über  ein  blaues  Blusen- 
Ueidclien  >  .  .  .  .  BlusenMeid  Univ.  I  292,  13  (H)  vor  dem 
einen  der  Glasldistchen  >  (Dr)  vor  dem  einen  Glaslcasten 
Heid.  II  133,  6  (H)  die  weißen  spitzen  Zähnchen  >  (Dr)  .  ,  . 
Zähne   (ebenso    133,  27)        Heut'  II  192,  41    auf  buntfarbigen 

Räbchen  >  1889 Stäben      Waldw.  III  21,  34  (H)  Füße 

aus  dem  Märchen  dürfen  nicht  auf  solchen  Klötzchen  gehen  > 
(Dr)  ....  Klötzen  . .  III  27,  24  (H)  in  den  leichten  Stiefel- 
chen >  (Dr) Stiefeln  Aq.  11  222,  5  (H)  mit  glühen- 
dem Gesichtchen  >  (Dr)  mit  glühenden  Wangen.  Seit  der 
Mitte  der  Siebzigerjaiire  hatte  sicli  der  Dichter  mehr  im  Zügel. 
Gleichsam  die  Kehrseite  dazu  ist,  daß  er  dort,  wo  er  ins 
tjberschwäugliche  oder  poetisch  Ungebräuchliche  verfallen 
.war,  wo  er  zu  hohe  oder  zu  feierliche  Worte  gebraucht  hatte, 
eiligst  milderte.  1mm.  I  17,  i6  in  alle  Eivigkeiten  >  1857 
in  alle  Eivigkeit  Sonn.  I  211,  33  man  mußte  sie  ruhig  walten 
lassen  >  1854  ..  sie  gewähren  lassen  Staatsh.  I  59,  6  der 
rotblühenden  Himbeere  >  1860  der  roten  Himbeere  I  60,  24 
das  Mondenlicht  >  1860  das  Mondlicht  Ver.  11  75,  15  (H) 
das  Totenbild  des  Gekreuzigten  >  (Dr)  das  Bild  ....  Schloß 
I  97,  36  den  Estrich  (klingt  für  den  Norddeutschen  wie  ge- 
ziei-tes  Buchdeutsch)  >  1863  die  Dielen  I  108,  40  auf  den 
Estrich  >  1863  üher  den  getäfelten  Fußboden  Cypr.  II  41,  16 
da  lag  ihr  Sohn  regungslos   (Balladenton:   da  lag  Herr  Oluf) 

>  1866  ihr  Sohn  lag  regungslos  Mal.  I  251,  15  erwiderte 
ruhig  der  Äeskulap  >  1868  erwiderte  er  Waldw.  III  8,  35 
noch  von  dem  bläulichen  Duft  des  Morgens  umgeben  >  1875 
noch  in  dem  bläulichen  Duft  des  Morgens  Aq.  II  260,  23 
(H)  ich  sah  das  Meer  im  ersten  Sonnenstrahl  entbrennen  > 
(Dr)  . . .  im  ersten  Strahl  der  lieben  Gottessonne  leuchten  Griesh. 
IV  109,  15  von  seinem  Bett  erstanden  >  1884  vom  Lager  auf- 
gestanden IV  117,  24  ihr  Antlitz  wie  in  Glut  getauchet  > 
1884  mit  heißem  Antlitz      IV  137,  25  mit  demantenen  Augen 

>  1884  tnit  seinen  durchdringenden  Augen. 

Jedem  Leser  Stormscher  Dichtungen,  auch  seiner  Briefe, 


58  Almkut  Kii.sTKi!:  (7".  j 

iiniß  die  reiche,  biswtilen  <,';ir  v.u  reii-he  Fülle  der  Bt-iwörter 
nul'falloii,  mit  denen  er  seine  Satze  schniückt.  Auch  nacli 
dieser  Seite  hin  hat  er  seineu  Stil  mit  den  .lahren  entlastet. 
Marthe  II  80,  13   eine  (jh'iclliche  Folge  >   1851    rinr  Folge 

11  84,  30  ro>i  meiner  jetzigen  JTeimat  >  1851  von  mriner  Hci- 
vtat  Posth.  I  320,  10  int  hellen  Motidsrhein  >  1860  im 
Jlondsehrin  Blatt  1  68,  30  eine  ganze  Wcilv  >  1868  eine 
^Veile       Hinz.  II  ()2,  6  sein  weiß  und  sehivarz  gemiadder  Jkirt 

>  1855  sein  Bart  II  100,  15  seine  schöne  große  Nase  > 
1855  seine  große  Xase  II  100,  23  seine  alte  schöne  Form  > 
1855    seine    alte   Form       Apfel  I  330,  24    die   leere  Hand  > 

1860  die  Hand  Staatsh.  I  36,  26  einer  hohen  düsteren  Ikium- 
griippe  >  1868  einer  düsteren  Banmgrnpj)^^  I  38,  18  ihr 
zartes  Köpfchen  >  1860  ihr  Köpfchen  I  44,  38  der  Kaß'ee- 
Jcessel  seinen  angenehmen  Haft  >  1 860 seinen  Duft      I  45, 

12  mit  einer  gewissen  lüsternen  Neugierde  >  1860  ....  einer 
lüsternen  ..  I  47,  26  das  ganze  Ucndende  Gebiß  >  1860 
das  blendende  Gebiß       I  47,  42  (H)  ein  unbeschreiblicher  Zorn 

>  (Dr)  der  Zorn  I  47,  10  (H)  das  feine  Haar  ihres  Lieb- 
lings >  (Dr)  das  Haar  ...  I  54,  40  (H)  mit  einem  stillen 
misvergnügten  Brummen  >  (Dr)  .  .  .  einem  misvergnügten  .  . . 

I  55,  14  die  verschlossene  Tür  des  alten  Prunkgemachs  >  1860 
die  Tür  Kosen  I  32,  2   auf  ihren  feinen    Wangen  > 

1861  auf  ihren  Wangen  Ver.  II  73,  41  (H)  an  der  Ideinen 
vom  Mond  beleuchteten  Frauenhand  >  (Dr)  an  der  vom  Mond 
beleuchteten  ....  Schloß  I  77,  8  von  dem  jungen  Fräulein  > 
1863  von  dem  Fräulein  I  78,  38  in  den  draußen  webenden 
Septembernachmittag>  1 863  in  den  Septembernachmittag  I  79,  2 
auf  den  hohen  Säulen  >  1863  auf  flen  Saiden  I  79,  13  die 
Augen  der  Frau  folgten  dem  llcinen  Vogel  >  1863  ....  dem 
Vogel  I  82,  23  (H)  des  untern  Erdgeschosses  >  (Dr)  des 
Erdgeschosses       I  83,  2  (H)  von  einer  dunkeln  Scheu  befangen 

>  (Dr)  von  Scheu  befangen  I  87,  17  (H)  die  dürftige  ivesen- 
lose  Spur  >  (Dr)  die  ivesenlose  Spur  I  92,  24  um  die  am 
Wege  stehetulen  Disteln  schuärmten  >  1863  um  die  Disieln 
.  .  .       I  95;  7   (H)   den   ausgedehnten  Betrieb  >  (Dr)  den  Be- 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Avsg.  der  Werke  Th.  Storms.     59 

trieb  Univ.  I  277,  14  (H)  im  vergangenen  Frühjahr  >  im 
Frühjahr  I  284,  32  (H)  die  heiteren  Scherze  >  (Dr)  die 
Scherze  1  288,  34  (H)  so  löse  sclmarze  Augen  >  (Dr)  so 
böse  Augen       I  299,  32  (H)  bis  unter  die  struppigen  Stirnhaare 

>  (Dr)  bis  unter  die  Stirnhaare  I  ^,22,  30  (H)  ein  armer 
törichter  Mann  >  (Dr)  ein  armer  3Iann  Abs.  I  133,  9  (H) 
ein  stolzer  goldfarbiger  Hahn  >  (Dr)  ein  goldfarbiger  Hahn 

I  ^33,  40  (H)  ein  Tdeines  ältliches  Frauenzimmer  >  (Dr)  ein 
ältliches  ...  I  134,  25  (E)  der  Meine  Hund  >  (Dr)  der 
Hund  I  135,  8  (H)  eine  danebenstehende  messingbeschlagene 
Kommode  >  (Dr)  eine  messingbeschlagene  .  .  I  146,  26  in 
dem  Ueinen  Verschlag  >  1865  in  dem  Verschlag  Reg.  II 
12,  8  die  beiden  jungen  hräftigen  Gestalten  >  1868  die  jungen 
....  Bul.  II  46,  34  (H)  nebst  ihrer  schivarzen  Mutter  >  (Dr) 
nebsi  ihrer  Mutter  II  59,  15  mit  seiner  Ueinen  hränUichen 
Stimme  >  1868  mit  seiner  kränUichen  Stimme  Jens.  I  156, 
22  mit  den  großen  erstaunten  Augen  >  1868  mit  den  großen 
Augen  Cypr.  II  26,  n  eigentlich  war  es  eine  alte  Burg  > 
1866  .  .  .  eine  Burg  II  26,  29  den  stattlichen  Gemahl  und 
dessen  noch  stattlichere  Herrschaft  >  1866  ...  und  dessen 
Herrschaft      II  42,  2   Worte  tödlichen  unversöhnlichen  Hasses 

>  1868  Warte  tödlichen  Hasses  Jürg.  I  237,  36  aus  einem 
großen  Dorfe  >'i 868^  "■  aus  einem  Dorfe  Mal.  1 252, 20  mit . . 
einem  spitzen  blonden  Fuchshopf  >  1868  .  .  einem  blonden  .  .  . 

I  262,  7  (H)  seinen  ersten  gründlichen  Unterricht  >  (Dr) 
.  .  .  ersten  Unterricht  I  262,  17  (H)  eines  einstöckigen  ganz 
mit  blühenden  Rosen  überzweigten  Hauses  >  (Dr)  eines  ein- 
stöckigen Hauses  I  264,  6  in  einem  kleinen  Glashause  > 
1868  in  einem  Glashause  Hall.  II  305,  19  mit  storchartigem 
roten  Schnabel  >  1873  mit  storchartigem  Schnabel  Heid.  II 
134,  31  (Hj  eine  alte  hagere  Bäuerin  >  (Dr)  eine  alte  Bäuerin 

Kucli.  II  201,  33  das  letzte  sichtbare  Zeichen  >  1889  das 
letzte  Zeichen  II  205,  23  deine  allmächtigen  Zaubergläser  > 
1873   deine  Zaubergläser       Heut'  II  185,  41   die  steile  Treppe 

>  1889  die  Treppe  Viol.  II  125,  25  drinnen  in  dem  stillen 
Zimmer  >  1874  .  .  .  in  dem  Zimmer       Popp.  II  324,  22  (H) 


6o  Alheut  Köstkh:  f7('.  3 

diese  seltsamen  (/ewessenen  Bcwcyunnoi  >  {\)r)  diese  scltsa))irn 
BcurpungcH       II  352,  32  die  Ge(]imc(iri   der  neuen  Zuschauer 

>  1875  ...  der  Zuschauer  II  35^',  44  (H)  wiserm  guten 
Vater   >    (Dr)    unsenn    Vater         Wnldw.  III  10,  25    (H)   den. 

schweren  Schlüssel  >  (Dr)  den  Schlüssel  III  10,17(11)  das  große 
Hoftor  >  (Dr)  das  Hoftor  Aq.  II  217,  32  (II)  mein  blondes 
Loelenhaar  >  (Dr)  7nein  Jfaar  II  241,  10  Erst  als  ein  Seufzen 
ihre  junge  Brust  erhöh  >  1877  .  .  ihre  Brust  .  .  II  241,  32 
(^H)  ihre  Meinen  Hände  >  (Dr)  ihre  Hände  WWfr.  IV  29,  7 
zu  einem  festen  Knoten  >  1880  zu  einem  Knoten  Brauerh. 
111  130,  I«  auf  ihren  alten  Mann  >  18S0  auf  ihren  3fann  111 
140,  35  das  neue  rote  Dach  >  1880  das  rote  Dach  Et.  IV 
200,  3  des  jetzt  verschwundenen  Mühlenteiches  >  i(S82  des 
Mühlentciches  Kirch  IV  62,  5  während  sie  traurig  mit  dem 
hlondei}  Köpfchen  schüttelte  >  1883  ....  traurig  ihr  Köpf- 
cheti  .  .  .  Griesli.  IV  135,  19  ein  hümmerliches  Siehenmonats- 
kind  >  1884  ein  Siebenmonat sldnd  IV  143,  31  der  kleine 
Junker  >   1884  der  Junker       IV  151,  5  der  alte   Wildmeistr.r 

>  1884  der  Wildmeiste)-  Riew'  V  179,  37  in  einem  glatt- 
rasierten, etwas  käsigen  Angesicht  >  1885  ...  glattrasierten 
Angesicht  V  197,  44  unter  dem  jungen  Kapitän  >  1885 
unter  dem  Kapitän  Had.  IV  225,  27  sein  zehnjährig  Töch- 
terchen >  1885  sein  Töchterchen  IV  235,  2  an  deiner  weißen 
Stirn  >  1886  an  deiner  Stirn  Dopp.  III  288,  17  in  trübe 
Dämmerung  >   1887  in  Dämmerung. 

Besonders  störten  ihn  bald  die  mancherlei  überflü.ssigen 
Adverbien.  Sie  hemmten  den  Fluß  seiner  Sätze,  sie  lenkten 
aber  auch  oft,  ebenso  wie  die  Beiwörter,  durch  schnell  auf- 
tauchende und  wieder  davonhuschende  Nebenbeziehungen  die 
Aufmerksamkeit  auf  einen  Augenblick  ab.  Marthe  II  82,  31 
sie  antu'ortete  schtver  >  1851  sie  antivoHete  Posth.  I  326,  2 
lautlos  horchend  >  1860  horchend  Hinz.  II  86,  18  so  süß 
und  leuchtend  >  1855  so  leuchtend  Staatsh.  1  43,  22  (H) 
mm  in  Zukunft  fortwährend  >  (Dr)  nun  fortwährend  Schloß 
I  85,  7  wieder  und  ivieder  zu  betrachten  >  1863  zu  betrachten 
I  87,  16  (H)  ich  vergaß  es  völlig,  daß  >  (Dr)  ich  vmjaß 


70,  3]     Prolegomena  zu  kinkr  Ausg.  dkr  Werke  Tu.  Storms.     6r 

es,  daß  I  8g,  lo  Als  wir  hier  im  Wohnzimmer  ivaren  > 
1863  Als  ivir  im  Wohnzimmer  waren  I  107,  22  Rudolf 
hatte  indessen  die  Ge^'ichichte  ...  fielesen  >  1863  ..  hatte  die 
Geschichte  gelesen  Univ.  I  282,  5  (H)  Jenni  hat  es  neidich 
hier  vergessen  >  (Dr)  .  .  hat  es  hier  ...  I  291,  3  (H)  F^r 
hat  sich  mich  angelegenflich  nach  deinem  Befinden  erhmdigt 
>  (Dr)  ...  sich  auch  nach  .  .  .  Abs.  I  139,  16  (H)  Ehren- 
fried sali  eine  Weile  nachdenUich  zu  mir  herüher  >  (Dr)  .  .  . 

eine  Weile  zn  mir I  1 48,  20  durch  das  trocJcoi  rauschende 

Heidekraut  >  1865  ...  das  rauschende  ....  I  148,  26  (HV 
ihr  tvar  imheivußt,  als  hahe  >  (Dr)  ihr  ivar,  als  habe  Jens, 
i  155?  25   ^'ö^ß  ^ch  eine  Zeit  lang  mit  ihr  ....  zusammen  ge- 

leht  >    1868   hahe   ich  mit  ihr Cypr.  II  26,  28  hatte 

er  sich  plötzlich  abgeuandt  >  1866  ...    sich  dbgewandt      Viol. 

II  HO,  27   das   Gespräch  war  hiermit  zu  Ende  >  1874  

tvar  zu  Ende  Popp.  II  350,  23  sie  schüttelte  schelmisch  ihr 
braunes  Köpfchen  >  1875  sie  schüttelte  ihr  ....  Psyche  III 
90,  30  Nun  streclst  du  nach  der  Lehendigen  sehnsüchtig  deine 
Arme  aus  >  1876  ...  nach  der  Lebendigen  deine  Arme  ans 
Aq.  II  243,  30  (H)  die  Finsternis  .  .  .  sagte  trefflich  meinem 
träumenden  Gemüte  zu  >  (Dr)  ....  sagte  meinem  träumenden 
Gern  Ute  zu  Ren.  III  176,  10  So  gingen  wir  hierauf  in  den 
tiefen  Wald  hinein  >  1878  So  gingen  wir  in  .  .  .  III  181, 
17  sähe  ein  wenig  mild  und  abgespannt  aus  >  1878  sähe  ein 
wenig  müde  aus  WWfr  IV  27,  17  die  junge  Dame  draußen 
hob  den  Kopf  >  1878  ....  Dame  hob  den  Kopf  Eek.  III, 
126,  29  3l€in  viel  lieber  Bruder  >  1880  mein  lieber  Bruder 
Schw.  lY  320,  23  der  Reiter  hatte  nur  stumm  mit  seinem  Hut 
gegrüßt  >  1883  ....  nur  mit  seinem  ....  Griesh.  IV  142,  34 
hat  der  Meine  Reiter  laut  gerufen  >  1884  ...  Reiter  gerufen. 
Und  unter  den  Adverbien  waren  es  wieder  besonders  die 
vielen  verstärkenden,  einschränkenden,  abstufenden,  mit  denen 
der  Dichter  aufräumen  mußte.  Es  war  fast,  als  ob  bei  der 
häufigen  Anwendung  dieser  Partikeln  die  vorsichtige  Aus- 
drucksweise des  Juristen  ihm  einen  Streich  gespielt  hatte, 
Marthe  II  80,  i2f.  ihre  Ansprüche  .  .  waren  fast  gar  heine  > 


62  Ai.iiERT  KösiKu:  170,3 

\S^\  ...  fnsf  hnnc  iStaatsh.  I  5_\  12  /•>  nwchtc  ihr  diese 
Antwort  icohl  schu»  oft  t/egcbcn  IkiI/ch  >  1860  ...  Antwort 
schon  oft  .  .  .  Ver.  II  78,  n  /;/  das  so  sonnige  Tal  >  1868 
in  das  sonnige  Tut  iScLIoß  1  iji,  9  (H)  bis  etwa  auf  die 
Mitte  des  Stückes  >  (Dr)  bis  auf  die  Mitte  ....  1  103,  21 
Mein  Vater  wandte  sich  noch  an  seinen  Ilanptlehrcr  >  .  .  . 
wandte  sich  an  .  .  .  Abs.  I  146,  38  (ti)  sie  hätte  zu  gern 
nun  gleich  auch  Tag  und  Stunde  gewußt  >  (^Dr)  sie  hätte  mm 
auch  Tag  und  Stunde  wissen  mögen  Jens.  I  156,  39  so  zeigte 
es  sich  auch  scho)i  in  den  nächsten  Tagen  >  1868  ....  sich 
schon  ....  1174,31  die  ist  wohl  seit  lange  schon  herabge- 
stiegen >  1868  .  .  .  lange  herabgestiegen  Cypr.  II  32,  37  es 
ziemte  sich  ivohl,  daß  du  ...  >  1860  es  ziemte  sich,  daß 
Jürg.  I  221,  33  fügte  sie  dann  wohl  lächelnd  hinzu  > 
1868  .  .  .  dann  lächelnd  .  .  .  Amtsch.  II  158,  13  er  stand  sich 
dabei  vielleicht  um  nichts  schlechter  >  1873  ...  dabei  xim 
nichts  .  .  .  Hall.  II  295,  2  nur  daß  die  alte  Dame  doch  einen 
zierlichen  Schrei  ausstieß  >  1889  ...  J)ame  einen  ....  II 
311,  25  Ich  muß  nur  vor  den  Spiegel  treten  >  1873  Ich  muß 
vor  .  .  .  Heid.  11  137,  18  Was  hat  denn  der  wieder  so  spät 
noch  in  der  Stadt  zu  tun!  >  1873  .  .  so  spät  in  der  ... 
Christ.  II  287,  28  die  Kartoffeln  sollen  auch  schon  noch  vorher 
geschält  sein  >  1889  ...  auch  schon  vorher  ...  Viol.  II 
log,  19  Sie  lamen  noch  eben  früh  genug  >  1874  ...  noch 
früh  genug      U  123,  41   ((ber  verstoße  nur  nicht  unser  Kind 

>  1874  aber  v&r  stoße  nicht  ...  11124,21  wo  ist  denn  cd)er 
meine  Wiege  geblieben'::'  >  1874  ^t'ö  ist  aber ...  Popp.  II  321.  7 
(H)  denn  niemals  noch  hatte  ich  eine  Komödie . . .  gesehen  >  (Dr) . . 
niemals  hatte  ich  ...  11  327,  21  (H)  Wo  sind  denn  die  an- 
dern'/  >  (Dr)  Wo  sind  die  ...  II  348,  38  es  läutete  mir 
wie  weither  aus  meiner  Kinderzeit  >  1875  ...  mir  iveither  . . . 
Waldw.  III  8,  4  (H)    Und  hatte  er   denn  Schaden  genommen? 

>  (Dr)  ...  er  Schaden  .  .  III  16,  43  (H)  Was  lann  der 
nur  von  mir  icollen?  >  (Dr)  .  .  .  der  von  mir  .  .  III  30,  7 
so  muß  ich  dir  auch  den  dazu  nötigen  Eigentumssinn  einzu- 
pflanzen suchen  >  1875  • :  •  den  nötigen  ....       III  30,  37  (H) 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.      6  3 

Was  du  auch  gleich  nur  für  Gedaiil-en  hast  >  (Dr)  .  .  .  gleich 
für  GedanJcen  .  .  Mus.  III  68,  3  endlich  tvar  denn  doch  auch, 
der  dritte  Satz  .  .  vorühergehüpft  >  1876  ...  denn  auch  .  .  . 
Et.  IV  198,  30  wenn  freilich  diese  auch  meist  .  .  >  1882  wetm 
diese  auch  meist  Kirch  IV  57,  19  Ich  darf  doch  auch  mit 
lesen?  >  1883  .  .  doch  tnit  .  .  IV  6d,  7  war  bald  jedesmal 
die  erste  Frage  >  1883  war  jedesmal  ...  IV  62,  29  Zeit 
wär's  denn  auch  endlich  einmal  >   1883  •  •  •  o,uch  einmal. 

Man  würdigt  diese  Weglassungeu  wie  die  meisten  übrigen 
natürlich  erst  ganz,  wenn  man  die  vollständigen  Abschnitte 
liest j  aus  denen  die  Zitate  genommen  sind.  Aber  auch  aus 
dsn  herausgerissenen  Belegen  selbst  kann  man  schon  eine 
Ahnung  gewinnen,  wie  klapperig  die  Sätze  ursprünglich  ge- 
wesen waren.  Der  Mißklang  der  vielen  einsilbigen  Wörter 
iu  Verbindung  mit  der  Uneutschiedenheit  des  Sinnes  bringt 
die  wenig  erfreuliche  Wirkung  hervor. 

Nötigte  aber  den  Dichter  sein  Verlangen  nach  ruhiger 
harmonischer  Wirkung  schon  hier  zur  Maßhaltung,  so  waren 
Kürzungen  doppelt  geboten,  wo  er  seine  Sätze  inhaltlicli  über- 
frachtet, sie  mit  Selbstverständlichkeiten  belastet  oder  ihnen 
sonstiges  Zuviel  aufgepackt  hatte  Markt  I  339,  24!  und 
examinierte  und  ermahnte  und  .schalt  ihn  >  1861  und 
examinierte  und  schalt  ihn  Schloß  I  99,  13  aber  der  Weg  ist 
lang  und  mühsam  und  fühii  >  1863  ...  ?"s;  lang  und  führt 
Jens.  I  163,  30  der  neben  seinem  üeiselioffer  auf  dem  Boden 
stand  >  1868  .  .  .  seinem  JReisekvffer  stand  Jürg.  I  237,  3 
unsere  Heimat  und  Familienverliältnisse  >  1868  (Gesamtaus- 
gabe) unsere  Familienverhältnisse  Wies  I  175,  39  ihr  Gesteh 
war  aufgetrieben  und  ganz  entstellt  >  1874  .  .  war  ganz  ent- 
stellt Christ.  II  277,  6  die  Karten  auf  dem  Tisch  ausgehreitet 
>  1874  die  Karten  ausgebreitet  Viol.  II  118,  2  hob  er  die 
leichte  Gestalt  auf  seinen  Armen  aus  devi  Kissen  >  1874  ..  . 
Gestalt  aus  den  Kissen  II  122,  18  der  noch  immer  über 
ihnen  von  den  Bäumen  tropfte  >  1889  ...  immer  von  den 
Popp.  II  339,  26  (H)  den  Notpfenning  für  ihre  alten 
Tage  >  (Dr.)  den  Kotpfennig       W^aldw.  III  16,  42  „Es  ist  .  . 

PhU.-hiat.  Klasee  loiS.    Bd.  LXX.  3.  5 


64  Ai.nRUT  Köstkr:  [70,3 

lier  Schiistrr",  saptc  fiie  hrlclommni,  luid  ihr  Grsirhtfhrn  ^uclxte, 
nh  fühle  sie  da^  Pech  an  ihren  Fintfern  >  1875  .  .  .  heldom- 
men,  als  fühle  sie  .  .  .  l^syche  III  qO,  7  Auch  die  Geliebte 
schien  er  in  seinen  Gedanhen  mit  sich  dahin  (jezogen  zu  haben 

>  1889  ...  schien  er  mit  sich  .  .  .  WW'IV.  IV  9,  43  eine 
seituärfs  nnmitielhnr  am  Fianino  angebrachte  Einrichtung  > 
1880  eine  seitieärt.'i  angebrachte  ...  Eek.  III  115,  18  daß 
sie  zischend  und  j^'onsclnd  in  Wolken  iveißen  Dampfes  erlosch 

>  1886  daß  sie  jn-assehid  in  weißem  Dampf  erlosch  III  127  9 
(ein  Beispiel  für  Storms  verschleierntle  Darstellungsweise  grade 
in  dieser  Novelle)  und  eine  dunJde  Gestalt,  vorsichtig  gegen 
die  Kammertür  hinschreitend,  näherte  sich  den  ScJdafenden  > 
1880  und  nie  vorsichtig  gegen  die  Kammertür  hinschreitend, 
näherte  es  sich  den  Schlafenden  Et.  IV  i8g,  6  seine  Börse 
um  ein  Entsprechendes  erleichterte  >  1882  seine  Börse  zog 
Griesh.  IV  132,  31   Behaglich  im  letzten  Sonnenlicht  ritt  er  > 

1884  Behaglich  ritt  er  Had.  IV  212,  8  er  lernte  höfisch  fechten 
und  Rideivanz  und  Pastour  eile  tanzen  >  1885  ...  fechten,  er 
lernte  tonzen      IV  21g,  15  Bein  auf  Beine  saß  er  sinnend  > 

1885  Sinnend  saß  er  Dopp.  III  284,  3  aus  den  Äugen  des 
gebrochenen  Mannes  >   1887  atis  seinen  Augen. 

Immer  wieder  sieht  man:  es  trieb  den  Dichter  zu  mil- 
dern, zu  dämpfen,  dem  Ausdruck  das  allzu  Bestimmte  und 
Deutliche  zu  nehmen.  Und  für  diesen  Zweck  hatte  er  noch 
ein  besonderes  Mittel  bereit,  daß  er  wiederum  nicht  für  eine 
einzelne  Dichtung,  sondern  durch  all  seine  Werke  hin  an- 
wandte. Er  beseitigte  nämlich  noch  nach  der  Drucklegung 
vielerorts  das  allzu  stark  wirkende  Possessivpronomen,  indem 
er  es  entweder  ganz  wegließ  oder  es  durch  den  Artikel  er- 
setzte. Saal  II  65,  42  mit  iJirem  Essen  >  1868  mit  dem 
Essen       Häw.  I  354,  34  [die  Katze]  funhelte  mit  ihren  Augen 

>  1860  .  .  .  mit  den  Augen  Blatt  I  70,  6  [er]  lehnte  sich 
still  in  seinen  Stuhl  zurücJc  >  1855  ..  .  m  den  Stuhl  ,  .  1  70, 
2  Sie  legte  ihre  Hände  .  .  >  1868  .  .  die  Hände  .  .  Hinz.  II 
96,  34  mit  seinem  Pferdehuf  >  mit  dem  Pferdehuf  Sonn.  I 
209,  15  (H)  tauchte  aufs  neue  ihre  Feder  ein  >   (Dr)   .  .  die 


70,  3]       PltOLEGOMENA  ZU  EINER  AuSG.  DER  WeRKE  Th.  StORMS.        65 

Feder  .  .  Staatsh.  I  47,  31  ließ  die  Münze  in  ihre  Tasche 
gleiten  >  1868  ..  in  die  Tasche  ..  I  61,  4  sie  ließ  ihre 
Stimme  sinJcen  >  1860  ...  die  Stimme  .  .  Markt  I  348,  26 
streclie  ihm  lächelnd  ihre  Hand  entgegen  >  1861  ...  die 
Hand  .  .  Schloß  I  92,  3  mit  oder  ohne  seinen  Willen  > 
1863  mit  oder  ohne  Willen  I  108,  34  der  junge  3Iann  er- 
griff ihre  Hand,  die  wie  leblos  in  ihrem  Schöße  lag  ^  1868 
.  .  .  die  Hand  ....  Univ.  I  283,  4  (H)  den  Zucker  in  ihre 
Tasse  fallen  ließ  >  (Dr)  .  . .  in  die  Tasse  .  .  Bul.  II  58,  28 
sich  das  Blut  aiis  ihren  Barten  leckten  >  1868  ...  den 
Barten  .  .  Jürg.  1  245,  43  Ich  war  meiner  Frau  .  .  stets  von 
Herzen  gut  gewesen  >  i868'''=-  .  .  der  Frau  ....  Heid.  II 
132,  23  (H)  der  Knecht  hielt  seine  Leuchte  hoch  genug  >  (Dr) 
.  .  .  die  Leuchte  .  .  Viol.  II  iii,  26  seinen  mächtigen  Kopf 
>  1874  den  Kopf  Popp.  II  324,  13  (H)  über  ihres  Gemahls 
Schultern  >  (Dr)  .  .  des  Gemahls  .  .  Waldw.  III  25,  n  .. 
als  .  .  die  Drachenköpfe  unaufhörlich  ihr  Wasser  von  sich 
spieen  >  1875  ...  unaufhörlich  Wasser  .  .  .  Ren.  III  191, 
17  denn  dein  Tisch  steht  bereitet  >  1886  denn  ein  Tisch  ... 
Et.  IV  178,  44  in  seiner  roten  Galauniform  >  1882  in 
der  ....  Kirch  IV  52,  7  über  ihre  Äpfel  >  1883  über  die 
Äpfel  Schw.  IV  348,  9  tvieder  .  .  fuhr  das  Pferd  in  seiner 
Deichsel  auf'>  1883  .  .  .  in  der  Deichsel .  .  Griesh.  IV  1 10, 21 
vor  Schluß  seines  Mannesalters  >  1884  ...  des  Mannesalters. 

Gewiß  sind  diese  Stellen,  wenn  man  sie  einzeln  analysiert, 
sehr  verschieden  zu  bewerten.  Aber  an  den  meisten  kommt 
eine  Unbestimmtheit  des  Ausdrucks,  eine  zarte  Verschleierung, 
zustande,  wie  Storm  sie  anstrebte.  Sie  muß  ihm  mit  den 
Jahren  immer  lieber  geworden  sein.  Und  nur  mit  Einem  Stil- 
mittel arbeitet  er  ihr  entgegen. 

Er  hatte  es  offenbar  in  seiner  Jugend  als  besonders  poe- 
tisch empfunden,  in  manchen  Sätzen  (selbstverständlich  nicht 
clurchgehends)  das  Hilfszeitwort  wegzulassen.  Dadurch  war 
der  Ausdruck  in  einen  leichten  Schwebezustand  geraten;  der 
Satz  stand  nicht  ganz  hart  und  fest  auf  seinen  Füßen.  Aber 
es  war   dadurch  auch   in   die   stille  Prosa  hier  und   dort  ein 

5* 


66  Aluiiut  Küsteu:  [70,  3 

falscher  Ton  hinein^okoinmeu.  Und  als  der  Dichter  dcFseu 
iime  wurde,  setzte  er  vielerorts  —  wiederum  nicht  pedantisch 
iiu  allen  Stellen  — ,  bisweilen  sogar  auf  die  Gefahr  der  Wort- 
wiederhohnijj;,  die  verstoßenen  Verbformen  wieder  ein.  Bei 
Gelegenheit  der  Novelle  „Eekenhof"  sehrieb  er  z.  B.  am  28.  Aug. 
1879  an  Erich  Schmidt:  „Jetzt  habe  ich  bei  der  Correctur  den 
Unfug  mit  der  Weglassuug  der  llüifs/.eitwörter  und  Anderes 
möglichst  beseitigt."  Belege  sind:  Marthe  11  81,  18  J'hantasie, 
ivelclic  ihr  ganz  hesondtrs  ti<jcn,  >  185 1  ....  cujen  uar,  Poeth. 
I  326,  17  nie  er  gesagt  >  1868  tvie  er  gesagt  Jiatte  Ang.  I 
203,  21  als  er  schon  .  .  „Leb'  wohl . ."  gesagt,  >  1868  —  gesagt 
hatte,  Ver.  II  70,  19  (H)  Er  freute  sich,  daß  seine  Frau,  .  . 
Anregung  .  .  gefunden,  >  (Dr)  ....  gefunden  hatte,  Schloß  1 
77,  10  ein  Knahe,  den  sie  im  ziceitcn  Jahre  gehören,  >  1863  ... 
gehören  habe,  I  109,  12  nachdem  sie  noch  .  .  in  das  ..  Kamin- 
feuer gehlicli,  >  1868 gehlicli  haue,  Jürg.  1  222,  40  nach- 
dem wir  ein  Weilchen  geplaudert  >  1868  (Gesamtausgabe)  .  .  . 
geplaudert  hattest.  Mal.  1  261,  22  (H)  des  Gasthofes,  in  dem 
ich  abgetreten,  >  (Dr)  ....  algetreten  war.  Heut'  11  184,  38 
Träger  von  Namen,  die  .  .  .  an  der  Spitze  des  städtischen  Lebens 
gestanden  >  1874  ...  .  gestanden  hatten,  Viel.  II  107,  13 
Nachdem  sie  auch  hier  noch  einmal  gehorcht  >  1874  . . .  gehorcht 
hatte,  II  108,  21  aus  dem  Ziinmer,  das  sie  zuvor  so  scheu  be- 
treten >  1874  ...  betreten  Jiatte,  11  109,  42  daß  bei  ihrer 
Ankunft  Nesi  sich  .  .  verstecld  gehalten  >  1874  ....  gehalten 
hatte,  Waldw.  111  16,  4  (H)  deren  müde  Füßchen  noch  vor 
Jcurzem  an  diesem  Stein  herabgehangen,  >  (Dr)  ....  herab- 
gehangen hatten,  III  37,  42  (H)  in  dieser  Stille,  wo  du  mein 
geworden,  >  (Dr)  .  .  .  geivorden  bist,  Aq.  II  264,  6  (H)  von 
dem,  ivas  einst  gewesen,  >  (Dr)  ....  geivesen  ist.  Garst.  III, 
243,  33  Carsten,  dessen  Warnung  man  vorher  verachtet,  mußte  . . . 

>  1889  ....  verachtet  hatte,  mußte  . .  WWfr.  IV  3,  i  als  sie 
einen  Blich  hineingetan  >  1880  .. .  hineingetan  hatte,  IN  21,22 
Zöpfe,    die   sie  in  seiner  Primanerzeit  schon  ebenso  getragen, 

>  1880  ....  getrogen  hatte,  Eek.  111  98,  25  an  dessen  Bande 
einst  das  Haus  gelegen  >   1889  ....  gelegen  habe,       III  99,  9 


70»  3J     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     67 

die  Base,  .  .  .  die  sie  in  ihr  Haus  geladen,  >  1889  ..  .  geladen 
hatte,  III  119,  16  ivie  einst  der  Letzte  des  Geschlechts  es  aus- 
gesprochen >  1880  (1886  übersehen)  .  .  .  ausgesprochen  hatte, 
Kirch.  IV  82,  19  wie  seinem  Heinz  die  Nase  im  Gesicht  gestan- 
den >  1883  .  .  .  gestanden  hatte,  Had.  IV  256,  5  der  Schloß- 
hauptmann, der  die  .  .  Kerze  fortgelegt  >  1886  ....  fortgelegt 
hatte,  Dopp.  III  284,  12  als  der  Alte  fortgegangen  >  1887 
.  .  .  fortgegangen  ivar. 

15- 

Alles  was  im  1 4.  Abschnitt  zusammengestellt  war,  betraf 
Storms  erzählende  Prosa  im  ganzen.  Die  Lesarten  verraten 
uns  aber,  daß  er  auch  den  einzelnen  Novellen,  je  nach  ihrem 
besonderen  Charakter,  als  sie  schon  gedruckt  waren,  immer 
noch  seine  künstlerische  Sorgfalt  widmete.  Und  wieder  ist 
hier  durchgehends  das  Bestreben  sichtbar,  jegliches  Zuviel  zu 
beseitigen,  jede  grelle  Farbe  zu  mildern,  überall  Gleichgewicht 
herzustellen  und  die  Rede  im  reinen  Erzählerton  zu  halten, 
sie  vor  Plattheiten  ebenso  zu  bewahren  wie  vor  Abirrungen 
in  den  Stil  und  Rhythmus  gebundener  Poesie. 

Das  Märchen  „Der  kleine  Häwelmann"  hatte  im  ersten 
Druck  an  einzelnen  Stellen  einen  gar  zu  kindlichen  und  pro 
vinziellen  Klang  gehabt.  Hier  mäßigte  Storm:  I  353?  i  6"* 
Meiner  Junge,  und  der  hieß  Häwelmann  >  1860  ein  kleiner 
Junge,  der  hieß  Häwelmann,  I  353,  n  hin  und  her,  immer 
hin  und  her  >  1868  hin  und  her  353,  34  auf  einmal  >  1860 
plötzlich. 

Unter  den  Jugenddichtungen  Storms  ist  eine  der  sorg- 
fältigst ausgefeilten  die  Novelle  „Ein  grünes  Blatt",  stilistisch 
ein  viel  größeres  Kunstwerk  als  „Immensee".  Der  Dichter 
selbst  hat  die  Prosa  dieser  Idylle  „musikalische  Prosa"  ge- 
nannt; sie  ist  es  in  der  ersten  Fassung  noch  mehr  als  in  der 
späteren,  die  besonders  durch  die  hinzugekommene  Episode 
-des  Erbsenpflückens  auf  festeren  Boden  gestellt  ist.  Gerade 
wenn  man  die  nachträglich  eingefügten  Zusätze  liest,  so  spürt 
man,  daß  Storm   inzwischen   die  erste  Melodie   dieser  zarten 


68  ALnPKT  KösiKu:  |7".  3 

Prosa,  die  bcsdiulers  jjfogon  das  Eiidf,  oliiio  öicli  rliytlunisclior 
Form  /u  nähern,  doch  migoniein  besclnvingt  und  Ichingrcich 
ist.  aus  dim  Olir  verloren  hatte.  Und  du  waren  ihm  denn 
oÜenbar  einige  frühere  Wendungen  zu  bewußt  „musikalisch", 
z.  B.  I  72,  24  er  horchte  den  tausend  feinen  Stinünen^  wie  sie 
auftauchten,  Jiinsrh  wanden,  >  1868  ....  7vie  sie  auftauchten  und 
wieda-  hinschnand')!,  1  72,  25  uncfreifbar  leise,  sinkend,  klin- 
gend, verhallend  >  1868  unfbrj greifbar  leise,  verhtdlcnd.  Hier 
alte  Lesungen  wiederherzustellen,  ist  natürlich  nicht  zulässig. 

In  der  Originalfassung  der  Weihnachtserzählung  „Abseits" 
hat  Storni  zum  erstenmal  versucht,  ein  paar  derbere  realisti- 
sche Töne  anzuschlagen  und  den  Reden  Metag  und  des  alten 
Märten  hie  und  da  etwas  vom  Klang  der  kleinen  Leute  zu 
geben.  Aber  beinahe  ängstlich  wegen  solcher  bescheidenen 
Kühnheit  hat  er  in  den  Buchausgaben  alle  diese  Züge  wieder 
getilgt.  Der  Kreis  des  .,poetisch"  Zulässigen  war  damals  bei 
ihm  offenbar  noch  enger  als  später.  Die  Stellen  sind:  I  134,  18 
das  sind  boshaftige  Kreaturen,  Mamsell  >  1865  . . .  boshafte  . . . 
I  i3S>  35  so  '^'(^s  vergißt  sich  nicht  >  1868  so  etwas  .... 
I  140,  40  es  hilft  doch  nicht,  ich  muß  ...>  1865  ...  .  nichts^ 
ich  muß  .  .  .       I  141,  21  daß  Elirenfried  eines  Morgens  .  .  .  an 

zu  reden  fing  >  1865 zu  reden  anfmg,       I  145,  r  du  wirst 

mir  das  nicht  für  übel  nehmen  >  i868  ....  nicht  iWel  nehmen. 

Als  Storm  „Aquis  submersus",  die  erste  seiner  Novellen 
in  archaisierendem  Deutsch,  vollendet  hatte,  machte  ihn  sein 
Freund  Petersen  (vgl.  Briefe  an  seine  Freunde,  S.  128),  der 
die  Dichtung  schon  in  der  Handschrift  gelesen  hatte,  darauf 
aufmerksam,  daß  die  Erzählung  wie  der  Dialog  manchmal  in 
Versrhythmen  verfalle.  Der  Dichter  hat  nun  zwar  bei  weitem 
nicht  alle  Jamben  auslöschen  können,  aber  eine  Anzahl  doch 
vor  der  Drucklegung  beseitigt.  II  2^^,  24  (H)  Vor  der  hab 
ich  als  Kind  mich  schon  gefürchtet  >  (Dr)  Vor  der  hob  ich 
schon  als  Kind  eine  Furcht  gehabt.  II  2^^,  28 f.  (H)  Sie  sieht 
nicht  eurer  schönen  Mutter  gleich,  Dies  Antlitz  hat  es  ivohl  ver- 
mocht Auf  jede  Bitte  nein  zu  sagen  >  (Dr)  Sie  gleicht  nicht 
Euerer  schönen  Mutter,  .  .  dies  Antlitz  hat  wohl  vermocht,  einer 


70,  3j     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     69 

jeden  Bitte  nein  zu  sagen  II  238,  20  (H)  der  Maler  kommt  so- 
eben erst  von  Hamburg  >  (Dr)  . .  Jcommt  eben  erst ...  II  241,  31 
(H)  Sie  aber  schrak  tvie  jäh  aus  einem  Traum  empor  >  (Dr)  . . . 
schrak  jäh  tvie  aus  ...  n24i,34(H)  Und  wemi  du  gehst,  so 
ist  auch  hier  der  Tod  >  (Dr)  und  gehst  du,  so  —  II  242,  8 
(H)  wir  kommen  dann  schon  fort  von  hier  >  (Dr)  —  schon  von 
■hier  fort  II  244,  10  (H)  als  tvürd^  ich  bälder  so  das  Glück 
erreichen  >  (Dr)  cds  könnte  ich  ....  11  248,  3  (H)  er  mochte 
sich  auch  dessen  wohl  getrösten  >  (Dr)  ....  sich  dessen  auch 
uohl  ...  II  250,  10  (H)  das  iverdet  doch  Ihr  selbst  am  besten 
wissen  >  (Dr)  .  .  .  doch  Ihr  am  besten  ...  II  263,  26  (H)  ich 
tvußte  wohl,  daß  du  der  3Ialcr  seiest  >  (Dr)  .  .  .  wohl^  du  seiest 
der  fremde  Maler.  Des  Versrhythmus  wegen  ist  auch  in  des 
Dichters  Sinne  gegen  sämtliche  Drucke  Aq.  II  234,  4  aus  der 
Handschrift  „War's^^  in  „War  es"'  zu  verbessern. 

Das  archaistische  Chronikdeutsch  hat  Storni  noch  mehr- 
mals angewandt  in  den  Novellen,  die  in  der  zweiten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  oder  zu  Beginn  des  18.  spielen.  Er  durfte 
dabei  natürlich  nicht  vöUig  der  Sprache  und  dem  Satzbau 
jener  älteren  Zeit  verfallen^  sondern  mußte  ein  Verfahren  er- 
finden, etwa  so  wie  es  Goethe  für  historische  Theaterkostüme 
empfahl,  die  so  weit  an  ein  vergangenes  Zeitalter  erinnern 
sollten,  daß  sie  beim  Zuschauer  eine  Illusion  erweckten,  im 
übrigen  aber  trachten  müßten,  gefällig  zu  sein.  So  hat  auch 
Storni  in  die  ihm  geläufige  Sprechweise  nur  einige  Worte, 
Wortformen  und  umständlich  kuriale  Wendungen  eingemischt, 
so  daß  ein  Deutsch  entstand,  in  dem  er  ohne  inneren  Wider- 
spruch dem  engen  Aberglauben  des  17.  Jahrhunderts  wie  dem 
hoch  entwickelten  Naturgefühl  des  19.  Ausdruck  geben  konnte. 
Nur  in  der  „Renate"  hatte  er  anfangs  der  Altertümelei  zu 
viel  getan  und  daher  nach  dem  ersten  Druck  manches  rück- 
gängig  machen  müssen.  III  156,  39  abspareten  >  1878  ah- 
sparten  III  158,  i  haltete  >  1878  hallte  HI  158,  7  auf- 
gesperreten  >  1878  aufgesperrten  III  158,  22  geschnitzet 
>  1878  geschnitzt  III  159,  10  steckete  >  1878  steckte  usw., 
gewiß  an  200  Stellen.    Auch  die  Inversionen  und  Weglassun- 


-o  Ai.HRRT  Köstrr:  I70, 3 

peu  dos  Personalpronomens  nmlite  or  vernujrern  111  157,  8 
Hatte  wich  >    1S78   Ich  hatte  muh       lil  157,27    Wußte  woJü 

>  1878  Ich  tvußtr  uohl  III  15«,  ^4  J^''^///''  w">  5o/t7<€S  >  1878 
.S:,)/c//f5  wollte  mir  III  103,  .,4  TJ/ot/t/r  solchenccise  ..  >  1878 
ivs  viochte  solchciiccise  .  .  .  u.  s.  f. 

Das  sprachliche  Meisterwerk  Storms  ist  „Eekenhof '.  Und 
ein  besonderes  Geheimnis  des  Stils  liegt  hier  in  der  Ver- 
weudnng  der  Tempora  der  Vorgangonheit.  Dadnrch  daß  der 
Verfasser  nnabliissig,  aber  mit  nnboirrbar  richtigem  Gefühl 
wechselt  zwischen  Imperfektum,  Perfektuni  und  Plusquam- 
perfektum, rückt  er  die  Ereignisse  dem  Leser  bald  ferner, 
bald  näher.  Sie  werden  dadurch  bald  deutlicher,  bald  undeut- 
licher; und  es  entsteht  jeuer  Traumeszustand,  den  der  Dichter 
schon  mit  den  ersten  Worten  kennzeichnet:  „Es  klingt  wie 
eine  Sage."  In  dieser  eigenartigen  Darstellungskuust  war 
Storni  von  vornherein  so  sicher,  daß  er  später  kaum  etwas 
zu  bessern  hatte.  Nur  zwei  Stellen  hat  er  abgeändert.  Eek. 
III  102,  4  als  sie  aber  an  ihrem  eignen  Bild  voriiherlcnm  >  1880 
(1886  übersehen)  .  .  .  voriihcrfjel-otmnen  III  118,  4ff.  Am 
Nachmittage  . .  ist  zögernden  Schrittes  Heilwig  zu  ihm  eingetreten. 
Als  er  sie  gesehen,   ist  sein   schwarzes  Auge   licht  geworden. 

>  1880  ..  .  trat  zögernden  Schrittes  Heilwig  zu  ihm  ein.  Als 
er  sie  erblicJde,  schien  sein  schwarzes  Auge  licht  zu  werden. 
Wohl  aber  hat  der  Herausgeber  die  Dichtung  von  zwei  Ent- 
stellungen zu  befreien.  Das  seit  1889  in  die  Gesamtausgaben 
eingetretene  derbe  „daß  sie  .  .  .  zurücJcJcehren  sollte,  hatte  sie 
wohl  nicht  gedacht"  (Eek.  III  99,  26)  muß  rückveräudert  wer- 
den in  das  zartere  „.  .  .  hat  sie  wohl  nicht  gedachif',  das  die 
Redaktionen  von  1879,  1880  und  r886  übereinstimmend  brin- 
gen. Und  ebeuso  ist  III  128,  33  wieder  der  mit  Meisterkunst 
geschaffene  Wortlaut  herzustellen:  „Vom  Flur  aus  hat  er  die 
Räume  des  Unterhaus  durchwandertf'. 

Als  Stürm  sein  „Fest  auf  Haderslevhuus"  schrieb,  verfiel 
er  noch  einmal  in  die  Unart,  die  er  schon  bei  „Aquis  sub- 
mersus"  mißbilligt  hatte.  Diesmal  war  es  Paul  Heyse,  der 
ihn  auf  die  vielen  iambischen  Vier-  und  Fünftakter  aufmerk- 


70,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Sturms.     7 1 

Bam  maclite,  die  sich  im  Erstdruck  fanden;  andre  Leser,  auch 
Erich  Schmidt,  hatten  ruhig,  oder  wohl  richtiger:  eilig,  dar- 
über weg  gelesen.  Storm  aber  war  dem  Warner  dankbar;  ihm 
erschienen  diese  ohne  alle  Berechnung  sich  einstellenden 
Rhythmen,  die  u.  a.  auch  Ebers  in  der  „Ägyptischen  Königs- 
tochter*' als  Aufputz  verwertet  hatte,  stillos.  Er  tilgte  sie 
nach  Kräften,  nur  au  zwei,  drei  Stellen  ließ  er  sie  absichtlich 
stehn  (an  Erich  Schmidt,  18.  Nov.  1885);  hie  und  da  mag  er 
sie  wohl  auch  übersehen  haben.  Aber  in  rund  hundert  Fällen 
erhielt  doch  jetzt  erst  nachträglich  der  Text  seine  abschlie- 
ßende Fassung.  Die  Oktavausgabe  freilich  war  nicht  mehr 
zu  retten;  die  hatte  schon  die  Presse  verlassen.  Aber  die 
Miniaturausgabe  von  1885  wurde  der  kanonische  Text.  Welche 
Mittel  Storm  bei  seinem  Kampf  gegen  die  Jamben  anwandte, 
können  einige  Beispiele  zeigen:  IV  213,  24  der  Vogel  muß  Uzt 
eingefangen  u erden  >  1886  ...  .  muß  eingefangen  .  .  IV 
215,  13  Ich  hah  doch  darum  nicht  den  Tod  gefreit  >  1886  Ich 
habe  darum  doch  nicht  ...  IV  2 1 5,  22  Das  ist  das  Weih  für 
deinen  Bolf  ^  1886  .  .  .  für  Bolf  Lemhech  IV  216,  3 3 f.  Der 
Frauendienst  soll  dort  noch  sjniJien  gehen;  Ich  aber  ivill  mir 
den  Gemalü  allein!  >  1886  ....  soll  dort  noclt  umgehn;  ich 
aber  tvill  den  Gemahl  allein!  IV  224,  4  Wir  wollenes  gut 
mitsammen  haben,  Kind!  >  1886  Wir  tvollen  es  ...  .  IV 
226,  5  trug  sie  ihn  ferner  jeden  Tag  >  1886  ..  .  ferner  an 
jedem  Tag  IV  2;^;^,  28  Und  ivorin,  Herrin,  heischt  Ihr  meine 
Dienste?    >    1886    Und,  Herrin,   uie  dien'  ich  Euch?       IV 

237,  16  in  Prag  dann  später;  auch  am  Königshofe  dort  >  1886 
....  auch  dort  am  Königshof.  IV  237,  19 f.  0  meine  3futter! 
Süße  Schwester  Heilwig!  Und  meine  Brüder  —  sie  sind  all 
gestorben  >  1886  0  herdicbe  Mutter!  Süße  Schwester  Heihvig! 
0  meine  Brüder  —  alle  sind  sie  gestorben!  IV  237,  31  Wenn 
dort  von  Eurem  Blute  einer  ruht  >  1886  .  .  .  Eures  Blutes 
einer  ruht  IV  238,  16 f.  0,  und  vergiß  nicht  mein;  ich  müßte 
sterben!  >   1886  0  vergiß  nicht  mein,  ich  müßte  sterben!       IV 

238,  24  das  iveiß  ich  nicht  und  darf  ich  auch  nicht  wissen 
>  1886  das  weiß  ich  nicht  —  0  heilige  Jungfrau!       IV  246,  26 


72  Alhekt  Köstkr:  [70,3 

0  Bolf,  uir  lardni  alle  (jjiicldicli  srin  >  1SS6  0  Tiolf,  welch 
ein  Glürlf  IV  2  jq,  10  Woni  »um  dir  Füße  seiner  Worte 
nicht  wehr  hört  —  uuni  weiß  nicht,  oh  sie  Danh,  oh  Undank 
hoh^n.'  >  1886  ....  irrr  weiß,  oh  sie  DanJc  oder  rndanlc  holm.' 
IV  258,  30    Wo  Jmifjfrnu  Jhufniar  freit,   darf  ich  nicht  fehlen 

>  1886  ..  .  Dnpniar  hochzeitet,  ....  IV  25g,  31  ff.  /sV  soll 
mein  seJiwnr::  Ge)ca)id  »lir  hrimjen:  das  ziemet  mir  hei  dieser 
Hochzeit.  Und  auch,  vergiß  dos  nicht,  mein  alkrsrhdrfsfes 
Schwert.'     Ihr   beide,    wenn   Ihr    /rollt,    dürft    mich    hcgleitrn! 

>  1886  Er  soll  mein  schwarzes  Gewand  bringen;  das  ziemt 
mir  bei  dieser  Rochzeit.'  Und  auch  —  mein  all  er  schärfstes 
Schwert!  —  Ihr  beide,  wenn's  euch  gelüstet,  dürft  mich  begleiten! 

1886  aber,  in  der  Novellensamnilnnj]:  „Vor  Zeiten"  «nnf^ 
Storni  bei  der  endgültigen  Redaktion  des  Textes  noch  einen 
Schritt  weiter.  Er  hatte  im  „Fest  auf  Haderslevhuns"  ein  ur- 
altes Mittel  epischer  Kunst  angevvaudt  und  die  beiden  wich- 
tigsten Frauengestalteu  der  Dichtung  durch  ständig  wieder- 
kehrende Beiwörter  gekennzeiclmet.  Bei  der  Frau  Wulfhild 
wurde  immer  wieder  ihrer  „blauen  Gluhaugen"  oder  ihrer 
„glühe»  Augen''  gedacht  (IV  21,5,  25;  216,  31;  228,  2;  243,  16). 
Alles  aber,  was  die  kleine  Dagmar  anging,  bezeichnete  Storni 
mit  dem  Wort  „süß",  das-  er  dem  „Tristan"  Gottfrieds  von 
Straß])urg  entlehnt  hatte:  IV  220,  36  die  Meine  süße  Dagmar 
IV  220,  42  die  süße  Dagmar  IV  222,  25  0  süße  Dagmar! 
IV  224,  12  der  süße  Äugenschein  IV  225,  12  so  gramvoll 
süße  Bitte  lY  22g,  g  da  .  .  drang  es  in  sein  Ohr,  so  süß  .  .  . 
IV  230,  4  Gott  wolV  ein  süßes  Leben  so  süßem  Geschöpfe  gehen! 
(aus  Tristan  3267  ff.:  de  duin  duze  äventüre  si  duze  creatiire) 
I^"  245,  30  Nicht  mehr,  0  Süße,  Selige!  IV  256,  i  0  süße 
Dagmar!  IV  263,  5  süße,  heilige  Dagmar!  IV  263,  16  0 
Dagmar!    Süße,  Selige! 

Bei  erneutem  Lesen  aber  mochte  ihm  doch  dies  Stil- 
mittel einförmig  oder  geziert  vorkommen;  jedenfalls  änderte 
er  an  einer  ganzen  Reihe  von  Textstellen.  IV  216,  31  mit 
ihren  blauen  Gluhaugen  >  1886  7mt  ihren  brennenden  Augen 
IV  228,  2  mit  ihren  glühen  Augen  >   1886  mit  ihren  funkeln- 


yo,  3]     Prolegomena  zu  einer  Ausg.  der  Werke  Th.  Storms.     73 

den  Augen  IV  243,  16  mit  glühen  Augen  >  1885  mit  fun- 
Jielnden    Augen        IV  237,   15    der   Laut    der   süßen    Stimme 

>  1886  . . ,  ihrer  Stimme  IV  238,  8  das  süße  Haupt  >  1886 
das  Haupt  IV  238,  39  der  süße  Schall  >  1886  de)'  Vogel- 
schall IV  245,  44  an  deinen  süßen  Schultefrn  >  1886  an 
deinen  zarten    Schtdtern       IV  252,  22   über   das  süße  Antlits 

>  1886  .  .  das  blasse  .  .  Und  erst  bei  solcher  Maßhaltung 
war  Storm  mit  seiner  stilistischen  Leistung  zufrieden. 

16. 

Ich  bin  am  Ende  meines  Rechenschaftsberichtes.  So  viel 
läßt  sich  wohl  erkennen,  daß  aus  dem  Studium  der  Lesarten 
viel  Licht  auf  Storms  Künstlertum,  auf  seine  unermüdlich 
treue  Arbeit  fällt.  Hat  auch  sein  Stil  sich  in  den  grundlesfen- 
den  Charakterzügen  schon  früh  ausgeprägt,  so  hat  er  seine 
letzte  Verfeinerung  doch  erst  bei  der  aufmerksamen  Wieder- 
durchsicht der  älteren  Drucke  erhalten. 

So  weit  bei  mir  selbst  während  der  Vorbereitung  meiner 
Ausgabe  die  Aufmerksamkeit  nicht  nachgelassen  hat,  darf  ich 
den  Text  der  Gedichte  wie  der  Prosawerke  jetzt  wohl  für  ge- 
sichert erklären.  Ob  die  lange  Arbeit  sich  gelohnt  hat,  müs- 
sen andere  entscheiden.  Mir  erschien  sie  als  ein  Werk  der 
Pietät,  als  ein  Dank  an  den  Dichter,  den  ich  liebe.  Ich  kam 
mir  immer  wieder  wie  ein  Bilderrestaurator  vor,  der  eine 
große  Reihe  von  Gemälden  eines  Meisters  von  häßlichen  Über- 
malungen befreit. 

Die  einzelne  Textverbesserung,  das  weiß  ich  wohl,  ist 
eine  Quisquilie.  Man  muß  die  ganze  Summe  ins  Auge  fassen. 
Und  da  ist  das  Ergebnis  dies:  wenn  ich  aUe  einfachen  Druck- 
fehlerverbesserungen, alle  belanglosen  Sicherungen  der  Ortho- 
graphie und  Interpunktion  beiseite  lasse,  wenn  ich  die  Richtig- 
stellung der  Flexionsformen  von  „unser,  ander  usw."  nur  in 
ausgewählten  Fällen  mitzähle,  so  ist  doch  allein  in  den  No- 
vellen Storms  der  Text,  gemessen  an  der  jüngsten  Gesamt- 
ausgabe, an  mehr  als   1550  Stellen  berichtigt  worden. 


Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-historisclie  Klasse 

70.  Band.    1918.    4.  Heft 


Richard  Eeinze 


Die  lyrischen  Verse  des  Horaz 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 
1918 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  7.  Juli  1917. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  12.  September  1918. 

Drucklertig  erklärt  am  27.  Januar  1919. 


Einleitung. 

Die  lyrischen  Verse  des  Horaz  untersclieicleii  sicli  von 
denen  der  alten  äolisclien  Lyriker  wesentlich  in  drei  Punkten: 
I.  die  Asklepiadeen,  Glykoneen  und  Pherekrateen  beginnen 
(mit  einer  einzigen  Ausnahme:  I  15,  36)  durchweg,  die  alkä- 
ischen Elfsilbler  ganz  überwiegend  mit  einem  Spondeus,  wäh- 
rend bei  den  Vorbildern  statt  dessen  auch  Trochäus  und  Jam- 
bus, selten  Pyrrhichius  eintritt;  2.  die  vierte  Silbe  des  sapphi- 
schen  Elfsilblers  und  die  fünfte  des  alkäischen  (mit  einziger 
Ausnahme  von  IIIs,  17)  sind  lang,  so  daß  also  in  beiden 
Versen  vor  der  Cäsur  Spondeus  steht,  während  bei  den 
Vorbildern  die  betreffende  Silbe  doppelzeitig  ist;  endlich 
3.  —  und  dies  ist  das  Wichtigste,  für  die  akustische  Wir- 
kung der  Verse  Bestimmende  —  hat  Horaz  im  Asklepiadeus 
nach  der  sechsten  Silbe,  im  sapphischen  und  alkäischen 
Elfsilbler  nach  der  fünften,  im  größeren  Asklepiadeus  nach 
der  sechsten  und  zehnten,  im  größeren  Sapphiker  nach  der 
fünften  und  achten  Silbe  regelmäßig  Wortende  eintreten 
lassen,  also  die  Verse  durch  ^Cäsuren'  in  zwei  oder  drei 
Glieder  zerfällt;  diese  Cäsur  ist  im  Asklepiadeus  niemals,  im 
alkäischen  Vers  nur  zweimal  vernachlässigt;  im  sapphischen 
Elfsilbler  ist  sie  in  den  drei  ersten  Odenbüchern  ganz  selten, 
öfters  im  Carmen  saeculare  und  den  Oden  des  vierten  Buches 
zwar  nicht  vernachlässigt,  aber  um  eine  Silbe  hinausgescho- 
ben. Die  Griechen  haben  dagegen  alle  diese  Verse  cäsurlos 
gebaut. 

Eine  Erklärung  für  diese  Abweichungen  hat  zuerst 
Christ^)  in  der  metrischen  Theorie   zu  finden   geglaubt,   die 

i)  Die  Verskunst  des  Horaz  im  Lichte  der  alten  Überlieferung. 
Sitznngsber.   d.  bayr.  Ak.  d.W.  1868,  I  i. 

Phil. -bist.  Klasse  1918.  Ed.  LXX.  4.  I 


2  K'nii  viu)  11i.i\/.k:  [70, 4 

w  ir  heute  als  Dei iviitioiistheoiie  l)e/eichn('n  und  deren  älteste 
Spur  wir  iu  den  nietriselien  Fraj^menten  Varros  finden.  Diese 
Theorie  verlangt  ( nnch  <'iiin.sr\  daß  jeder  \'erK,  d.  h.  jedes 
metrische  Gebilde,  das  größer  als  ein  Dinieter  oder  niclit  kleiner 
als  ein  Trinieter  ist,  ans  wenigstens  zwei  Kola  l)estehe:  dem 
/ufolcre  weise  jeder  horazische  'Vers'  eine  ('ä.sur  auf.  llire 
Stelle  rielite  sich  nach  der  l'estset/ung  dei-  Kola,  welche  die 
Theorie  auf  die  gewöhnlichen,  nicht-lyrischen  Metra  zuriiclc- 
/.ufüliri'u  bestrebt  sei:  da  sie  nun  das  erste  (ilied  des  Askle- 
])iadeu8  als  Penthemimeres  des  daktylischen  Hexameters,  den 
Pherekrateus  und  Glykoueus  gleichfalls  als  daktylische  Kola 
lasse,  so  sei  damit  der  spoudeische  Beginn  dieser  V^erse  er- 
klärt. Und  die  Cäsur  des  aus  trochäischem  und  jambischem 
Gliede  bestehenden  sap^thisohen  sowie  des  aus  jambischem  und 
daktylischem  Gliede  zusammengesetzten  alkaisclien  Verses 
empfehle  spondeischen  Abschluß  des  Kolons,  also  Länge  der 
bei  den  Griechen  doppelzeitigen  vierten  oder  fünften  Silbe. 

Christs  Hypothese  fand  zunächst,  soviel  ich  sehe,  nicht 
viel  Beachtung;  zu  durchschlagendem  Erfolge  verhalf  ihr  erst 
KlESSLiNG,  der  in  seiner  Abhandlung  'Horatius'  ^)  nachdrück- 
lich auf  sie  hinwies  und  sie  in  seiner  Ausgabe  (zuerst  1884) 
der  einleitenden  Darstellung  der  "metrischen  Kunst'  zugrunde 
leo-te.  Als  Schöpfer  der  Theorie  bezeichnet  er  den  Philosophen 
Herakleides  Pontikos;  als  ihr  wesentliches  Ziel,  alle  Versformen 
möglichst  auf  die  beiden  Grundformen  des  daktylischen  und 
jambischen  Sechsfüßlers  zurückzuführen,  die  selbst  ursprüng- 
lich   eines    gewesen   seien.-)     Das    auf  Grund    dieser  Theorie 


i)  Philolog.  Unters.,  herausgeg.  von  Kiessling  und  v.  Wilamowitz, 
:.  Heft  (1881J  S.  64ff. 

2  Gleicli  hier  bemerke  ich,  daß  man  besser  täte,  Herakleides  in 
unserer  Frage  aus  dem  Spiel  zu  lassen.  Daß  daktylischer  Hexameter 
und  jamb.  Trimeter  die  ältesten  Versmaße  waren,  wußte  jeder,  der 
den  Margites  für  homerisch  hielt.  Herakleides  hat  (nach  Athenäen» 
XV  701)  lediglich  entdeckt,  daß  beide  Maße  gleichzeitig  vom  Gott 
Apollo  erfunden  seien.  Daß  die  Derivanten  sich  diese  Entdeckung  zu 
Nutze  machten,  um  ihr  System  zu  krönen,  ist  begreiflich,  beweist 
aber  nichts  für  Herakleides. 


70,  *J  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  3 

errichtete,  ungewiß  von  wem  durchgeführte  metrische  System 
liege  den  scheinbaren  Neuerungen  des  Horaz  zugrunde;  aus 
ihm  heraus  sei  auch  das  Metrum  von  1  10  Mercuri  facimde 
nepos  als  beabsichtigte  Variante  des  bereits  I  2  gebrachten 
sapphischen  Maßes  zu  verstehen,  so  daß  denn  nicht  —  wie 
Christ  zuerst  bemerkt  hatte  —  neun,  sondern  elf  verschie- 
dene Metra  an  der  Spitze  des  ersten  Odeubuches  ständen. 
Diese  letzte  Beobachtung  hat,  wenn  ich  nach  mir  selbst  urteilen 
darf,  vor  allem  dazu  beigetragen,  den  Glauben  an  die  Hypo- 
these zu  festigen.  Vereinzelter  Widerspruch,  wie  er  mehr 
beiläufig  von  Wilh.  Meyer  erhoben^)  oder  mit  unglücklicher 
Begründung  von  Jukenka^)  vorgetragen  wurde,  blieb  ohne 
Wirkung-,  Metriker  vom  Range  von  Wilamowitz  und  Leo"') 


i)  Sitzung.sber.  d.  bayr.  •Ak.  d.  W.   1889  S.  236 fg. 

2)  Zeitschr.  f.  öst.  Gyiun.   lyoi,  673 fg 

3)  Leo  zuerst  in  dem  wichtigen  Aufsatz  ''Die  beiden  metrischen 
Systeme  des  Altertums'  (im  folgenden  zitiert  'Syst.'),  Hermes  24  (1889) 
28ofg. ,  in  dem  er  gegen  "Westphals  damals  herrschende  Auffassung 
zeigte,  daß  das  hephästionische,  die  Verse  auf  ihre  Grundmetra  analy- 
sierende und  dabei  auch  mit  dem  Autispast  operierende  System  älter 
sei  als  das  alle  Verse  in  letzter  Linie  auf  daktylischen  und  jambischen 
Hexameter  zurückführende  'varronische'  oder  Derivationssystem.  Ltu 
»erkannte  im  hephästiouischen  System  das  der  alexandrinischen  Gram- 
matiker und  führte  das  jüngere,  dem  er  nahe  Beziehungen  zur  Rhetorik 
zuschrieb,  auf  Pergamou  zurück.  Von  Pergamon  -wird  man  jetzt  ab- 
sehen (vgl.  u.  a.  CoNSBuucH  De  veterum  ic.  TToirjficctog  doctrina,  Bresl. 
Philol.  Abt.  II  3,  1890,  91%-);  3;Uch  über  das  Verhältnis  des  Systems 
zur  Rhetorik  denke  ich  anders  als  Leo,  brauche  aber  darauf  hier  nicht 
einzugehen.  Was  da,-<  chronologische  Verhältnis  angeht,  so  hat  Leo 
gewiß  Recht,  sofern  das  ausgebildete  derivierende  System  in  Frage 
kommt  .  (die  Gegengründe  von  G.  Schultz,  Aus  der  Anomia  [1890] 
S.  58fg. ,  haben  mich  so  wenig  überzeugt,  wie  seine  umstürzenden 
Thesen  über  die  Metrik  des  Philoxenos);  aber  der  Ursprung  der 
Methode  ist  wohl  sehr  alt,  älter  als  die  alexandrinische  grammatische 
Systematisieruug  der  Metrik.  —  Leo  ist  auf  die  Geschichte  der  Metrik 
dann  mehrfach  zurückgekommen:  Die  "plautin.  Cantica  (Abh.  d.  Gott.  G. 
d.  W,  1897),  64 ff.;  Ein  metr.  Fragm.  aus  Oxyrhynchos  (zitiert  im  fol- 
genden als  'Ox.'),  Nachr.  d.  Gott.  G.  d.  W.  1899,  S.  495;  Der  satur- 
nische  Vers  (Abh.  d.  Gott.  G.  d.  W.   1905)  S.  7 fg.  (über  Caesius  Haasiis 


4  KiCHAKi)  Hkinzk:  [70,4 

Wehaiulolten  die  Frage  aLs  im  Sinne  von  Christ  eutsi-hioilcn; 
und  wenn  die  Inndläufigon  'ÜluTKicliton'  sich  mich  wie  vor 
auf  Mitteilung  d(>r  Tatsiiehen  beschränkten  und  es  vermieden, 
sieh  auf  eine  Erklärung  ciir/ulasseu,  so  konnte  dies  als  un- 
wissenschaftliche Rückstäntligkeit  erscheinen.  Otto  ScnuoKDKii 
analysierte  1911  in  seinem  für  Ajifänger  bestimmten  Leit- 
faden 'Ilorazens  Versmaße'  die  sämtlichen  Metra  auf  Grund 
jener  Hypothese  und  formulierte  nur  nocli  cutscliiedener  als 
seine  Vorgänger  und  über  Einzelheiten  /u  |iriuzii)ieUen  Sätzen 
vordringend  die  wesentlichen  Untersclieidungsmomente:  mit 
einziger  Ausnahme  der  loniker  in  III  12  gingen  für  Horaz 
alle  Verse  in  Daktylen,  Jamben  und  Trochäen  auf;  von  der 
großartigen  griechischen  Kompositionslehre  ('Stollengesetz') 
blieb  nur  die  Forderung  übrig,  daß  jeder  Vers  in  Kola  zerfallen 
müsse;  Katalexe  und  Brachykatalexe  waren  vergessen,  so  daß 
denn  z.  B.  das  Glied  rohur  et  aes  triplex  (eigentlich  Choriam- 
bus und  Jambus)  zu  zwei  Daktylen,  der  eigentlich  vierhebige 
Parömiacus  (_vu_  ^j^Cl)  arhoribasque  comue  zu  einem  drei- 
hebigen  daktylischen  Pentheinimeres  geworden  ist.  'Choriam- 
bische, also  die  recht  eigentlich  äolischen  Verse,  waren  dem 
äolisch-römischen  Lyriker  unbekannt.' 

Gegen  diese  Darstellung,  der  zum  mindesten  das  Ver- 
dienst eines  konsequenten  Zueudedenkens  der  Hypothese  nicht 
abzusprechen  ist,  hat  Paul  Maas  in  einer  vortreftlichen  Re- 
zension wohlbegründeten  Einspruch  erhoben.^)  Ich  muß  be- 
kennen, daß  ich,  als  ich  1912  die  erste  Hälfte  der  6.  Auf- 
lage des  von  mir  erneuerten  KiESSLiNGschen  Kommentars  in 
Druck  gab,  Maas'  Argumente  nicht  gebührend  gewürdigt 
hatte;  auch  schienen  mir  manche  von  ihm  nicht  berührte 
Punkte  unwiderleglich  für  Christ-Kiessling  zu  sprechen. 
Aber  nach  Abschluß  der  Ausgabe  bin  ich  zu  der  Frage 
zurückgekehrt   und   habe   mich  nun   in   der   Tat,   namentlich 

und  Varro).  Wenn  ich  im  folgenden  Leo  am  öftesten  widersprechen 
muß,  so  brauche  ich  doch  kaum  zu  sagen,  daß  er  es  ist,  von  dem  ich 
in  diesen  Dingen  am  meisten  gelernt  habe. 

1)  Berl.  Philol.  Wochenschr.   1911,  707  ff. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  5 

durcli  das  Studium  der  Überlieferung  der  metrischeu  Theorien, 
davon  überzeugen  müssen,  daß  jene  Hypothese  unhaltbar  ist. 
Ich  fühle  mich  verpflichtet,  das  auszusprechen  und  so  ein- 
gehend zu  begründen,  wie  es  die  Wichtigkeit  der  Frage  ver- 
langt: hängt  doch  von  ihrer  Beantwortung  die  historische 
Bewertung    der  horazischen  Verskunst  zum   guten  Teile  ab. 

Kapitel  I. 

(Grundsätzliche  Frageu. 

I. 
Ich  stelle  einige  Erwägungen  allgemeiner  Natur  an  die 
Spitze.  Mau  tut  gut,  sich  klar  zu  machen,  daß  das  Deriva- 
tionspriuzip  an  sich  weder  mit  der  Normalisierung  der  Quan- 
titäten im  Vers  noch  mit  seiner  Einteilung;  in  zwei  Kola  not- 
wendig  verbunden  ist.  Bei  den  unbeschränkten  Möglichkeiten 
der  variatio  konnte  sich  das  Prinzip  sehr  wohl  mit  verschie- 
denen Versformen  abfinden;  und  in  der  Tat  zeigt  z.  B.  der 
der  Derivationslehre  ergebene  Metriker  von  Oxyrhynchos^), 
daß  die  alten  Freiheiten  durch  diese  Lehre  keineswegs  be- 
rührt wurden.  Dagegen  fordert  die  Beschi'änkung  auf  eine 
Ableitung,  etwa  des  Glykoneus  aus  dem  Hexameter,  des  alkäi- 
schen Elfsilblers  aus  Senar  und  Hexameter,  sowie  die  An- 
nahme, daß  diese  Entstehung  in  einer  feststehenden  Cäsar 
nachwirke,  in  der  Tat  einen  bestimmten  Bau  des  Verses; 
und  dieser  war  der  alten  Lyrik  nicht  zu  entnehmen.  Die 
Theorie  hat  also  entweder,  ihre  Entstehung  in  hellenisti- 
scher Zeit  vorausgesetzt,  jene  Gesetze  des  Versbaus  aus  den 
zeitgenössischen  Nachahmern  der  alten  Lyriker  abstrahiert: 
dann  würde  man  auch  für  Horaz  Nachahmung  der  helleni- 
stischen Lyrik  mindestens  mit  gleichem,  wahrscheinlich  aber 
mit  viel  besserem  Rechte  anerkennen  als  Befolgung  der  Theo- 
rie, und  ferner  —  die  hellenistischen  Verse,  soviel  wir  deren 
haben,  stimmen  nicht  zur  Theorie,  und  es  wäre  ein  seltsamer 
Zufall,  wenn  uns  gerade  die  für  jene  Theoretiker  maßgeben- 

i)    Oxyrhynchos-Papyri    CXX   (Bd.  II  1899),  jetzt   am   besten    zu 
lesen  in  Consbrüchs  Hephaestion  (Lpz.   1906)  S.  403  ff. 


6  RiC'iiAiii»  Hkin/k:  l7o,  4 

Ht'n  sämtliili  >piiil<>s  vt'rlortii  wären.  Odor:  die  Theorie  ist 
nicht  aus  einer  Praxis  nl)striihiert,  soiulern  unabhängig  von 
ihr,  jn  in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  ihi-  l'oriuuliert:  das 
widt^rspricht  aber  allein,  was  wir  von  antiker  Metrik  wissen, 
die  nicht  nnrnmtiv,  simdern  deskriptiv  odri- hestcufallH  genetiscli 
orkliireud   vorgelit 

Solchi'  Erwägungen  haben  wohl  mit  bewirkt,  daß  Lko 
annahm'),  die  Teilung  der  Verse  in  xö^iuKta,  wie  sie  die 
Derivationsmetrik  Kdir»',  habe  mit  der  Cäsur  gar  nichts  zu 
tun.  Das  System,  wie  wir  es  aus  Caesius  und  den  übrigen 
älteren  Zeugen  kennen,  wisse  nur  von  mcmhrn  und  incisa, 
deren  Schlüsse  mit  den  Cäsurstelleu  zum  Teil  zusammenfallen: 
auch  Horaz  habe  nicht  sowohl  Cäsur  in  die  'logaödischen' 
Verse  eintulireu,  als  die  xö^^ata,  aus  denen  der  Theorie  nach 
der  Vers  bestand,  vereinzeln  und  kenntlich  machen  wollen. 
Von  diesen  Behauptungen  ist  die  erste  halb,  die  zweite  ganz  un- 
richtig. Das  Lehrbuch  des  Caesius  sagt  allerdings,  soweit 
wir  es  besitzen,  nichtis  von  Cäsuren,  und  diese  werden  auch 
durch  adiecfio  oder  ddradio  einzelner  Silben  oder  Silben- 
gruppen nicht  berülut;  avo  abc)-  ein  Vers  durch  concinnnfio 
zweier  Kola  entsteht,  fällt  die  Kommissur  nicht  nur  zum  Teil, 
sondern  durchweg  mit  der  Cäsurstelle  zu!<ammen.  Und  dann 
Horaz:  nicht  um  seine  Verse  nach  einem  rhythmischen  Prin- 
zip zu  modulieren,  sondern  lediglich  um  die  'Commata 
kenntlich  zu  machen',  also  um  den  metrisch  ungeschulten 
Leser  immer  von  neuem  über  die  Herleitung  des  Verses  auf- 
zuklären, soll  er  sich  die  Mühe  genommen  haben,  jeweils  an 
einer  bestimmten  Stelle  Wortschluß  eintreten  zu  lassen!  Das 
ist  wohl  das  Ärgste,  was  einem  rhythmisch  stumpfen  und 
pedantischen  Verseschmied  zugetraut  werden  kann.  Ich  sehe 
aber  auch  keinen  Grund  zu  bezweifeln,  daß  Horaz  seine 
'Cäsuren'  in  den  äolischen  Versen  ganz  so  verstanden  hat 
und  verstanden  wissen  wollte,  wie  die  Cäsuren  im  Hexameter 
oder  jambischen    Trimeter.    Der    vielfache  Zusammenfall   von 


i)  Syst.  209  (300"),  I. 


70,  4]  Dit  LVRi.scuEN  Veh&k  de.-n  Houaz.  7 

Versteiliing  und  Satzteilung,  die  Unbeliebtheit  ein-silbigej- 
Worte  vor  der  Cäsur^),  die  deutliche  Parallelisierung  von 
Kolonende  und  Satzende  durch  Verteiluug  zusammengehöriger 
Wortpaare  auf  beide  Stelleu  (insbesondere  von  Substantiv 
und  Adjektiv),  ganz  analog  dem  z.  B.  im  Pentameter  so  gern 
geübten  Brauch-;  —  alles  das  stellt  die  Auffassung  der 
'Cäsur'  im  'logaödischen'  Vers  als  solcher  für  mich  außer 
Frage.  Und  somit  bleiben  die  oben  nachgewiesenen  allge- 
meinen Aporien  ungelöst. 


Fräsen  wir  also,  ob  die  Hvpothese  selbst  in  unserer 
Tradition  so  gut  gegründet  ist,  daß  wir  genötigt  sind,  sie 
jenen  Aporien  zum  Trotz   gelten  zu  lassen.     Da  ist  zunächst 


i)  Dieser  Punkt  fordert  eingeheude  Behandlung  im'  Zusammen- 
hang mit  der  Lehre  von  der  Synalöphc.  Die  einzelnen  Versarten  M-eisen 
interessante  Unterschiede  auf,  auch  in  der  Strenge  der  Vermeidung 
von  zvrei  Monosvll.  vor  der  Cäsnr  (nie  im  Asklepiadeus  und  im  Ver- 
hältnis der  verschliffenen  zu  den  nicht  verschUffenen  Monosyllabis. 
Ich  kann  darauf  hier  nicht  eingehen  und  führe  nur  beispielsweise  an, 
daß  im  sapph.  Elfsilbler  sich  Monos.  vor  der  Cäsur  etwa  in  jedem  24.  Vers 
findet  ([niemals  unverschliffen  nach  Polysyll.  :  das  entspricht  genau 
dem  Zahlenverhältniä  in  Tibulls  Buch  I,  das  nach  den  Zusammenstel- 
lungen von  Bhaüm  (De  monosvllabis  ante  caesuras  hexametri  latini 
collocatis,  Diss.  Marburg  1906:  sehr  nützlich  als  Materialsammlung, 
in  der  Beurteilung  der  Tatsachen  weiche  ich  vielfach  ab  alle  früheren 
Hexametriker  (außer  Catullj  in  diesem  Punkte  an  Sorgsamkeit  weit  über- 
trifft. —  Voraussetzung  ist  übrigens  für  Zulassung  der  Monos.  am 
Vers-  wie  am  Kolonende  Wegfall  jeder  Sprechpause  danach;  daher 
8ehr  häufig  Interpunktion  vor  dem  oder  den  Monos.  ^uch  das  gilt 
für  den  Hexameter,  z.  B.  bei  Properz  sehr  ausgeprägt;:  ein  Vers  wie 
sed  non  haec  ynihi  vis,  nee  tibi  taUum  IV  8,  9  ist  ganz  singulär.  Diese 
Beobachtung  führt  auch  unmittelbar  auf  den  Grund  der  ganzen  Er- 
scheinung, die  Leo  einst  irrig  aus  den  rhetorischen  Kegeln  für  den 
prosaischen  Satzschluß  herleitete  (de  Stati  silvis,  Gott.  Progr.  189293 
p.  7);  auch  mit  dem  Wortakzent  hat  sie  nichts  zu  tun,  wie  gleichfalls 
die  horazische  Praxis  deutlich  machen  kann. 

2)  S.  darüber  Th.  Eeichardt,  de  metrorum  lyricorum  Horatiano- 
ram  artificiosa  elocutione,  Disa.  Marburg  1889. 


8  Uicn\Ki>  Hkinzr:  f7<'.  4 

/ii  bomerktMi,  »l:iB  eine  i'inlu'itliclii'  'ri:itlitii»ii  üher  tue  liora- 
zischen  Metra,  ilor  \\\r  uns  einiacli  ;iiisc-lili('ijt.'ii  kruintcn,  {jfJir 
nicht  existit'rt.  Der  ari^lose  Aiitliiii^er  könnte  z.  B.  meinen, 
(las  System,  das  ihm  ScnHOKDKK  in  so  imponierender  Ge- 
schlossenheit und  mit  so  apodiktischer  Siclierheit  vorträgt, 
sei  in  dieser  Form  überliefert,  aber  weit  gefehlt:  Sciiroedkk 
irreift  z.  B.  für  den  alkäischen  Elfer  und  Zeiiner  eine  der 
verschiedeneu  von  C'aesius  Bassus  gebotenen  Analysen  her- 
aus, während  er  den  Neuner  nach  Atilius  Fortunatianus,  den 
Asklepiadeus  nach  Diomcdes  erklärt  und  nielit  nur  in  der 
Analyse  der  Verse  von  I  8  Lydia  die  per  omncs  und  hoc  deos 
ofo  Syharin  cur  properes  amando,  sondern  auch  in  der 
Auffassung  des  katalekt.  jamb.  Trimeters  und  des  größeren 
Asklepiadeus  wie  auch  des  Sapphikers  in  I  lo  Alerairi  fa- 
cunde  nepos  Atlantis  sich  von  aller  antiken  Tradition  entfernt. 
Man  sollte  meinen,  wenn  dem  Horaz  eine  Metrik  der  les- 
bischea  Verse  vorlag,  die  ihm  bis  in  die  Regelung  der  Cä- 
suren  und  der  einzelnen  Silbenquantitäten  zur  bindenden 
Norm  wurde,  so  hätten  es  ein  Caesius  sowohl  wie  seine  Vor- 
gänger und  Nachfolger  leicht  gehabt,  diese  Metrik  zu  studie- 
ren und  ihren  Zöglingen  daraus  ein  sicheres  Verständnis  der 
metra  Horatiana  zu  erschließen.  Statt  dessen  wird  der,  der 
von  den  antiken  statt  von  den  modernen  Metrikern  ausgeht, 
den  deutlichen  Eindruck  gewinnen,  daß  jene,  weit  entfernt 
von  der  Einmütigkeit  der  Modernen,  an  den  horazischen 
Versen  selbst  auf  eigene  Faust  die  Analyse  vorgenommen 
haben. 

Diese  Analyse  tritt  uns  zuerst  ungefähr  gleichzeitig  in 
der  Praxis  Senecas^)  und  in  der  Lehre  des  Caesius  Bassus 
entgegen,  also  8o  bis  90  Jahre,  nachdem  Horaz  Oden  zu 
dichten  begann.  Da  Caesius  gegen  Vorgänger  polemisiert,  ist 
die  analytische  Methode,  wenn  auch  vielleicht  nicht  ihr  völ- 
liger Ausbau,  älter  als  er.  Aber  aus  welchem  Grunde  be- 
hauptet man  —  abgesehen   zunächst   von   den  Schlüssen  aus 


i)  Leo,  Seneca  I  132 fg. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Hor.\2.  9 

Horaz  selbst  —  sie  sei  älter  als  Horaz?  Einzig  und  allein 
deshalb,  weil  das  Prinzip  der  Derivationsmetrik  älter  als 
Horaz  sei,  da  es  uns  schon  bei  Varro  begegne.  Wir  müssen 
also  fragen,  was  wir  denn  von  Varros  metrischen  Sätzen 
wissen  oder  mit  einiger  Sicherheit  vermuten  können, 

Varro  hat  aus  dem  jambischen  Senar  durch  adiectio  oder 
detractio  abgeleitet  den  jambischen  Octonar,  den  trochäischen 
und  jambischen  Septenar,  den  katal.  jambischen  Dimeter,  wahr- 
scheinlich auch  den  katalekti sehen  Trimeter,  die  trochäische 
Tripodie  (Ithyphallicus)  und  den  katalektischen  trochäischen 
Trimeter.  Er  hat  ferner  mit  denselben  Mitteln  aus  dem 
daktylischen  Hexameter  abgeleitet  den  katalektischen  Tetra- 
meter und  das  erste  Glied  des  archilochischen  Asynarteten 
'EQaGp.ovC8r]  XccqCXue  XQf}^(x  xol  yskolov,  wahrscheinlich  auch 
das  daktylische  Penthemimeres  und  die  clausula  kA=?_uu_o. 
Durch  Zusammeufügung  zweier  Kommata  ließ  er  den  eben 
genannten  archilochischen  Vers  eutstehen,  vielleicht  auch  den 
Saturnier:  aber  das  ist  mindestens  ganz  ungewiß.^)  Man 
sieht:  soweit  wir  Varrcs  metrische  Analysen  kennen,  unter- 
scheiden sie  sich  von  denen  des  Hephaestion  eigentlich  nur 
durch  die  Formulierung,  die  sich  danach  richtet,  daß  der  Be- 
griff der  Katulexe  fehlt  und  daß  von  den  Versen,  Trimetern 
und  Hexametern,  nicht  von  den  Füßen  ausgegangen  wird. 
Wenn  aber  Varro  das  'EQc.6iiovCd)]  XaQiXas  als  daktylischen 
Trimeter  mit  vorgeschobener  Silbe,  Hephaestion  dasselbe  als 
anapästisches  Kolon  bezeichnet,  so  läuft  auch  das  ja  im  Grunde 
auf  eines  hinaus.  Dafür,  daß  Varro  nach  Analogie  jenes 
Asynarteten  nun  auch,  mit  prinzipiellem  Verzicht  auf  vier- 
silbige Füße,  äolische  Kola  in  je  zwei  Kommata  zerlegt 
und  diese  wieder  aus  Trimeter  oder  Hexameter  hergeleitet 
hätte,  fehlt  jeder  Beleg.  Man  wird  zunächst  geneigt  sein^ 
dies  daraus  zu  erklären,  daß  Varro  über  die  Maße  der  äoli- 
schen  Lyrik  zu  reden  gar  keinen  Anlaß  hatte:  stammen  die 
metrischen  Sätze,   die   uns  erhalten  sind,   aus   der  Schrift  De 


i)  S.  üVjer  das  alles  die  Aueführungen  unten  S.  36  fg. 


l<>  Ik'iiumu»  IIkinzk:  l7*^\  4 

ner)))'>uc  fjütixii  (wie  llriscHi,  opusc  111.^8-' ff?,  jmcliziiweiseii 
versuchte),  so  ist  es  begroiflich,  cljiß  or  sich  lii«M-  um  Metra 
nicht  kümmerte,  die  in  hiteiniselier  Sprnelie  mtcli  nielil  oder 
<lo('h  nur  «^an'/,  vereinzelt  na('h^«'l)ildet  waren.  Ks  bliebe  da- 
naeh  die  Möi^lichkeit,  daU  die  durch  Varro,  und  dann  wieder, 
\inabhiiugi{T  von  iiiin,  durch  llorazens  Lehrei-  überliel'erte 
griechische  Metrik  die  Derivationsmethodo  auch  auf  die  äoli- 
schen  Mai3i'  anwendete.  Nun  kenneu  wir  aber  |j;lückliclier- 
weiseaus  anderem  ZuHamnienhan<.^e  als  dem  l)iKher  besprochenen 
Varros  Auffassung  des  Phalaeceus:  Caesius  15assn.s  nennt  unter 
seinen  sieben  divisiones  des  Phalaeceus  an  fünfter  SteUe  die 
Ableitung  aus  dem  Sotadeus  durch  dciracfio  eines  Anapilst 
(_  _  [uw_] .- wu.^  _  w_  _)  und  fügt  hinzu:  ex  quo  non  est  miran- 
dum  quod  Varro  in  cynodidascalico  phalaeclum  liictrimi  ioni- 
cum  trimdrum  appeUat,  qiiidam  ionicmn  minorem  (GL  VI  26 1,  18; 
sat.  fr.  230 B.).  Aus  den  einführenden  Worten^)  ist  eistens 
zu  schließen,  daß  Caesius  hier  auf  eigene  Faust  eine  Erklä- 
rung von  Varros  Bestimmung  gibt,  die  sich  aus  dessen  V\  or- 
ten nicht  entnehmen  ließ,  d.  h.  daß  Varro  in  der  Satire  nur 
beiläufig  und  ohne  nähere  Begründung   seiner  Definition  auf 

O  DO 

den  Phalaeceus  zu  sprechen  kam;  und  dann  folgt  weiter,  daß 
Varro  auch  anderswo  diesen  zu  seiner  Zeit  in  Koni  vielver- 
wendeten Vers  nicht  behandelt  hat  —  sonst  hätte  Caesius 
nicht  zu  der  unklaren  Äußerung  in  der  Satire  zu  greifen  ge- 
braucht — ;  d.  h.  er  hat  sich  in  seinen  metrischen  Studien 
um  die  zeitgenössische  Produktion  nicht  gekümmert,  sondern 
in  erster  Linie,  wenn  nicht  ganz  ausschließlich,  die  altlatei- 
nischen Verse  im  Auge  gehabt.  Was  ihn  in  jener  Satire  auf 
die  Definition  des  Phalaeceus  geführt  hat,  wissen  wir  nicht; 
definiert  aber  hat  er  ihn  als  ionischen  Trimeter,  also,  wie 
Westphal^)  richtig  verstanden  hat,  skandiert  (i^)z_jw>.y_^_w__, 
d.  h.  als  TQi^STQov  ävaxkäiiBVov.  Dann  hat  freilich  Caesius 
zu  Unrecht  bei  Varro  eine  Bestätigung  seiner  fünften  divisio 


i)  S.  dazu  unten  S.  57,  i. 

2)  Metr.  d.  Griechen  'I  117,  II  242.   Wii.amowitz,  Melanges  H.  Wk«, 
(Par.  1898)  452. 


70,  4]  Die  lyrischen  VRuaE  des  Horaz.  i  i 

zu  finden  geglaubt^);  Yarros  Benennung  beweist,  daß  er  den 
Phalaeceus  nicht  'derivieite',  sondern  hier  —  und  dann  doch 
wohl  auch  bei  anderen  äolischen  Maßen  —  ganz  einfach  mit 
viersilbigen  Füßen  zu  operieren  gelernt  hatte,  wie  es  die 
alexandrinische  Metrik  tut.  Nun  bleibt  noch  der  Ausweg, 
daß  Varro  in  seiner  Jugend,  als  er  seine  Menippeen  schrieb, 
noch  der  alexandrinischen  Metrik  anhing  und  erst  in  späteren 
Jahren  zur  Derivation  überging;  ein  bedenklicher  Ausweg, 
den  man  nur  beschreiten  dürfte,  wenn  feststünde,  daß  die 
beiden  metrischen  Systeme  wirklich  von  Anfang  an  rein  und 
unvermischt  nebeneinander  bestanden  haben.  Da  ist  aber 
sehr  zur  rechten  Zeit  der  Fund  des  Metrikers  von  Oxyrhyu- 
chos  gekommen:  auch  dieser  'deriviert',  z.  B.  das  Anakreou- 
teum  aus  dem  Phalaeceum   durch  Streichung  der  drei  ersten 

Silben: '  u>.;_  ^,_u-w:    aber  das  Phalaeceum  selbst  hat  er, 

da  er  von  der  TtQCiX)]  diitoöia  spricht,  nicht  etwa  aus  einem 
daktylischen  Komma ^^-   und   einem  jambischen  u_u_u 

i)  Cae!<ius  meint  doch  wohl,  der  Phalaeceus  habe  ein  Recht  auf 
den  Namen  lonicus,  weil  er  aus  diesem  entstehe:  so  erklärt  er  262,  25, 
der  Galliambus  habe  ein  Recht  auf  den  Namen  iambicus,  denn  etim 
ex  iambico  quoquc  trimetro  nasci.  So  hat  auch  Terentianus  den  Caesius 
verstanden,  wenn  er  2845  paraphrasiert  genus  hoc  pJmlaeciorum  .  .  . 
Varro  ad  legem  redigem  ionicorum  hinc  natos  ait  esse.  Er  fiigt  hinzu 
scd  minores  (vgl.  2884  «MJnero/Jcditm  minores),  hat  also  in  seinem  Caesius- 
text  nicht  quidam  (statt  dessen  man  alii  erwarten  sollte),  sondern,  wie 
Westphal  zu  schreiben  vorschlug  (a.  a.  0.),  vermutlich  et  qxmlevi  ge- 
lesen und  minorem  auf  den  Gegensatz  des  Trimeters  zum  Tetrameter 
bezogen.  Dies  m.  E.  mit  Unrecht:  ionicus  minor  kann  nur,  wie  sonst 
bei  lateinischen  Metrikern  (/,.  B.  Apth.  64,9;  89,28;  93,2  u.  ö. ,  vgl. 
■ionicus  maior  in  einem  Exzerpt  aus  Caesius  selbst  91,24;  Diomedes 
506, 2)  den  ionicus  a  minore  meinen  (Leos  Deutung  als  Übersetzung 
von  TtaQiaviy.og  [Ox.  499]  war  ein  Fehlgriff,  zu  dem  ihn  die  törichte 
Erklärung  des  Terminus  Ttagiaußag  bei  Apth.  44,44  —  itagd  enim 
graeci  minus  dicunt  —  nicht  hätte  verführen  sollen).  Caesius  meint 
also,  bei  Varros  Auffassung  sei  aus  dem  ionicus  maior  durch  Tilgung 
der  drei  Silben  ein  ionicus  minor  geworden,  wie  sonst  durch  Tilgung 
von  zwei  Silben  im  Anfang  (Apth.  91,  17  nach  Caesius).  Den  Sota- 
deus  faßte  Caesius  gleichfalls  als  Trimeter  auf  ad^umptis  in  ultima 
duabus  lo^igis  (ebenda  25). 


I  2 


RirnAwi»  Hkinzk:  l7"i  4 


eitstehen  lassen,  soudern  einfach  so  Bknndiort:  ^  __>-.ju_u  .|w-i^, 
li.  h.  Antisi)a8t,  Jambus,  katal.  Jambus,  und  vom  Asklepiadeer 
jjfibt  er  ganz  eutsprechend  den  xaviöv  ^_.  vj  u_  _  w  |  w_  w>^'.  Lko 
hat  (Ox.  5(17)  ausdiiickli(.'h  davor  gewarnt,    ans   diesem   Buch 
'eine  Entwickhingsphase  der  metrischen  Theorie  zu  konstruie- 
ren, aus  der  die  schärfere  Trennung  der  beiden  Systeme  erst 
hervorgegangen  wäre':    ich    ghiuhe,   die    varronische  Analogie 
wird   eben    diese    Konstruktion    sehr    wahrscheinlicli    machen. 
Ist  es  doch  im  Gnmdo  eine  ^)C^iY/o  principii,  die  'scharfe  Tren- 
nung   der    beiden    Systeme'    als    erste  Phase    anzusehen:    und 
nicht  einmal,  dünkt  mich,  eine  wahrscheinliclie.    Wahrschein- 
lich wäre  vielmehr,  schon  a  priori,  daß  die  Derivationsmetrik 
nicht  allseitig  und  konsequent  durchgebildet  dem  Haupte  Dires 
Schöpfers  entsprang,  soudern  zunächst  auf  den  Gebieten,  wo 
sie    ohne   jede    Gewaltsamkeit    durchzuführen    war,    versucht 
-wurde,   also   bei  den  einfachen  jambischen,   trochäischen   und 
daktvlischen   Maßen    und    bei    den    aus    ihnen   kombinierten 
Asynarteten.    Die  hier  geübte  Betrachtungsweise  wurde  dann 
auf  die  komplizierteren,  von  den  Alexandrinern  nach  viersilbi- 
o-en  Metra  analysierten  Beihen  so  übertragen,   daß   man  sich 
umsah,  ob  sich  aus  längeren  Versen  andere,  weniger  umfäng- 
liche,   durch    Streichung    einiger  Silben  absondern,    vielleicht 
auch  durch  Umstellung  andere  gewinnen  ließen:  der  Gesichts- 
punkt  ist  hier,   nach   dem  Oxyrhynchiten   zu   urteilen,   nicht 
der  einer  historisch-genetischen  Erklärung,  sondern  der  einer 
praktisch     brauchbaren    und    leicht    merkbaren    Veranschau- 
lichung gewesen.^)    Zum  einheitlichen  System  wurde  das  erst 
als  man  auch  für  diese  Maße  Herleitung  aus  Senar  und  Hexa- 
meter postulierte;  das  ließ  sich  für  die  Tcud^uQo:  so  erreichen, 
daß   man,  in  unmittelbarer  Fortsetzung   der   alexandrinischen 
Lehre   von    der  STriTcXoxij,    Metra   wie    die   Choriamben    oder 
loniker  als  solche  aus  Daktylen  ableitete,  etwa  wie  es  Caesius 
Bassus  264,  5  tut;  dann  konnte  man  die  einzelnen  Verse  aus 
den  so  gewonnenen  Metra  zusammensetzen.    Für  die  ejiCiiixTu 


i)  S.  dazu  unten  S.  55. 


70,  4j  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  i  5 

mußte  man,  um  die  Vereinigung  verschiedener  Metra  in  einem 
Kolon  und  damit  die  Hauptschwierigkeiten  der  alexandri- 
nischen  Metrik  zu  vermeiden,  weiter  gehen:  erst  der  letzte 
Schritt  auf  der  Bahn  der  Derivation  wird  es  gewesen  sein, 
daß  man  auch  diese  Maße  direkt  auf  die  aus  zwei-  und  drei- 
silbigen Füßen  bestehenden  Verse  zurückführte,  was  dann  frei- 
lieh  nur  mit  Hilfe  der  Zerlegung  in  Kommata  möglich  war: 
und  dafür,  daß  dieser  Schritt  schon  vor  Horaz,  daß  er  über- 
haupt je  von  einem  griechischen  Metriker  getan  worden  sei, 
vermisse  ich  jeden  Beweis. 

3. 

Wie  steht  es  nun  mit  dem  zweiten,  nach  Kiessling 
(Einl.  S.  5)  durch  Varro  überlieferten  Grundgesetz  dieser 
Theorie  omnis  versus  xara  tö  nXclötov  in  duo  cola  dividitur?^) 
Hiemach  soll  jeder  Vers,  d.  h.  jede  über  zwei  Dimeter  hin- 
ausgehende Reihe  ([versus]  incipit  autem  a  dimetro  Apth.  55, 12) 
in  zwei  Kommata  zerlegbar  sein;  so  habe  man  denn  z.  B.  den 
sapphischen  Elfsilbler  aus  der  concinnaiio  eines  troch.  und 
eines  jarab.  Komma  erwachsen  lassen,  und  Horaz  habe,  um 
die  Kommata  als  solche  sinnfällig  empfinden  zu  lassen,  nach 
der  fünften  Silbe  eine  Cäsur  eintreten  lassen.  Kiessling 
scheint  danach,  ähnlich  wie  Leo  (s.  oben  S.  6)  angenommen 
zu  haben,  daß  erst  Horaz  aus  jenem  ursprünglich  rein  theo- 
retisch gemeinten  Grundgesetz  die  praktische  Konsequenz  der 
Cäsur  gezogen  habe.  —  Hiergegen  ist  zunächst  zu  sagen, 
daß  die  oben  zitierte  Formulierung  des  Gesetzes  gewiß  nicht 
von  Varro  herrührt.  Weder  ist  diesem  zuzutrauen,  daß  er 
die  Worte  ytarä  tö  Ttkelötov  unübersetzt  aus  einer  griechi- 
schen Quelle  herübernahm ^),  noch  ist  wahrscheinlich,  daß  er 


i)  So  Marius  Victorinus,  oder  vielmelir  Apthonius  (als  solchen 
zitiere  ich  ihn  im  folgenden)  GL  VI  54,4.* 

2)  Der  Gewährsmann  des  Apthonius  hat  das  vermutlich  nur  der 
Sicherheit  wegen  getan,  weil  er  sich  über  die  Bedeutung  der  Worte 
nicht  ganz  klar  war.  Gemeint  war  wohl  mit  diesem  plerumque,  daß 
gelegentlich  auch  Teilung  in  drei  Kola  vorkommt,  z.  B.  wenn  der  Hexa- 
meter zwei  Cäsuron  aufweist. 


1^  HicuMii»  Hi;in7-k:  (70.  ** 

ilie  Glieiler,  in  ilii'  ein  Vers  zerfällt,  iils  cola  bezeichnet  hätte: 
noch  l)ei  Caesius  Bussiis  zeif^t  sich,  wie  CoNSiturcn  bemerkt 
hiit'),  die  alte  AutTasyuiig,  ilnß  die  Strophe  oder  Periode  sich 
aus  Kola  zusanuneusetzt,  der  Vers  daij^egen  in  Kommata  zer- 
fällt, und  dieselbe  'rorminologie  müssen  wir  bei  Varro  vor- 
aussetzen. Über  seine  Lehre  vom  Vers  belehrt  uns  authen- 
tisch nur  das  leider  verderbt  überlieferte  Zitat  des  Apthonius 
55,11  ifr.  69  WiLM.-)  versi4S  est  nt  Varroni  placet  verboriim 
iiiHctura  quae  })Cf  (oficulos  el  commata  ac  thi/titnws  (Variante: 
arhythmos)  modulainr  in  pedes,  aus  dem  allerdings,  wie  man 
es  auch  emendioreu  und  interpretieren  mag"'),  soviel  hervor- 
zuijehen  scheint,  daß  Varro  die  Teilbarkeit  in  Kommata  als 
wesentlich  für  den  Vers  betrachtete.  Daß  diese  seine  Lehre 
irgendetwas  mit  der  Derivationstheorie  zu  tun  hat,  ist  weder 
bewiesen  noch  auch  nur  wahrscheinlich:  alles  spricht  dafür, 
daß  lediglich  gemeint  war,  jeder  'Vers'  müsse  eine  Cäsur 
haben.     Zur  Begründung  dieser  Forderung  wird  bei  Aptho- 

1)  A.  a.  0.  (obeu  S.  3,  3.  75. 

2)  Ich  gebe  für  die  Varrofragmente  nur  die  VViLMAXN.'^schen  Zahlen, 
da  aie  hiernach  leicht  auch  in  der  letzten  Sammhmg  von  Götz  und 
Scholl  (in  der  Ausgabe  von  de  lingua  lat  ,  fjpz.  1910)  ym  finden  sind. 

3)  Auffällig  zunächst  die  Verbindung  nrticulos  et  commata:  man 
faßt  hier,  soviel  ich  sehe,  durcliweg  articuh'  als  cola,  aber,  abgesehen 
von  der  seltsamen  Verbindung  eines  lateinischen  und  eines  griechi- 
scheu  Terminus,  uirg-ends  brauchen  m.  W.  die  Metriker  und  Gramma- 
tiker  urticuhis  im  Sinne  von  memhrum,  sondern  entweder  als  caesuni, 
neben  memhrum,  oder  im  Sinne  von  'Geleuk'  für  die  Versstelle,  an 
der  die  beiden  Membra  zusammenhängen.  Dazu  kommt,  daß  wir  guten 
Grund  haben,  dem  Varro  die  Lehre  von  Kola  und  Kommata  als  Be- 
standteilen des  Verses  nicht  zuzutrauen:  s.  oben.  Ich  glaube  also, 
couimata  war  als  Erklärung  von  articuU  beigeechrieben  und  ist  dann 
in  den  Text  gedrungen :  vgl.  54,  1 1 ;  79,  6,  wo  membra  durch  cola  glos- 
siert war.  Für  arhythmos  hat  Westphal  svgvQ'^oig  vermutet:  ich  ziehe 
ivQvQ-ficog  vor,  vgl.  Varro  'selbst:  poema  est  lexis  enrylhmos,  id  est 
verba  plura  modice  in  quandam  coniccta  formam  sat.  fr.  398  B.  — 
Verhorum  iunciura  sehr  mit  Bedacht  gesetzt:  der  cri%oq  ist  die  ge- 
schriebene Zeile,  im  Gegensatz  zum  metrischen  Schema.  Vgl.  übrigens 
Herodians  Definition  ört;(oe  icrl  avXkußwv  md  i.^^i(ov  cvv&iotg.  Hepli. 
p.  326  C. 


70.  4]  PiE  rA-iuscHEx  Verse  des  Horaz.  i  5 

nius  der  Satz  omnis  versus  in  cluo  cola  divid'diir  herangezogen 
für  die  Cäsur  des  Hexameters  65,  32;  70,  16,  obwohl  doch, 
dieser  Vers  auch  bei  den  Derivant^n  nicht  als  deriviert  ge- 
golten hat;  und  in  unmittelbarer  Beziehung  zu  jener  For- 
mulierung steht  54,  16 fg.  die  Unterscheidung  von  dudQs6i$ 
und  To.uf^.')  Varro  selbst  hat  über  die  Cäsur  des  Hexameters 
gehandelt:  3/.  Varro  in  libris  disciplinnrum  scripsitj  observasse 
sese  in  versu  hexametro.  quod  omnimodo  quinius  semipes  ver- 
butn  fmiret  et  quod  priores  quinqnc  semipedes  aeque  magnam 
vim  lidberent  in  efpciendo  versu  afque  aJii  posteriores  Septem^ 
idque  ipsum  ratimie  quadani  geometrica  fieri  disserit.  Gell.  n.  a. 
XVni  15.  Wenn,  wie  auch  Leo  annimmt  (Syst.  29g,  i)^  die 
von  Heliodor  und  Hephaestion^)  behandelte  Cäsurlehre  ein 
'ur.sprünglicher  Bestandteil  der  alexandrinischen  Metrik'  war^. 
so  halte  ich  Leos  Annahme  für  undenkbar,  daß  Varro  hiervon 


i)  P-  54>  16  ergo  versus  cum  ex  ea  qua  coniunctus  erat  parte  dis- 
solvüur,  cola  efficit;  cum  vero  ex  qua  <^nony  conmnctus  erat  parte  ab- 
sciditur,  particida,  cpcoe  äiculsa  ex  eo  est,  comma  dicitur,  ut  in  ilJis  versKs 
solvatur,  in  Jus  caedatur.  Da,&  hier coniynctui< nichtsvoLÜ coucinnatio  zu  tua 
hat,  ist  sicher;  ich  nehme  au,  daß  an  die  mncturae pedum  oder  sysygiarum 
zu  denken  ist  und  habe  daher  non  vor  dem  zweiten  covhinctus  einge- 
fügt. WiLMANxs  (de  Yarr.  libri?^  grammaticis  p.  67,  2)  setzte  es  vor 
das  erste  und  dachte  also  an  die  syziigiae  selbst;  aber  es  liegt  in  der 
Natur  der  Sache,  daß  das  coniunctiim  sohitiir,  das  non  coniunctum  ab- 
scidihir.  Natürlich  sclu-eibe  ich  die  Sätze  nicht  ^vie  Wilmanns  (fr.  68) 
dem  Varro  zu. 

2)  In  seinem  ausführlichen  Werk,  nicht  im  erhaltenen  Handbüch- 
lein: daß  er  hier  von  der  Cäsur  ganz  schweigt,  erklärt  sich  leicht  da- 
raus, daß  sie  für  die  jtsrptxTj  im  strengen  Sinne  nicht  in  Betracht 
kommt:  die  Analyse  der  ahga.  ist  ja  von  der  Cäsur  ganz  unabhängig. 
Für  die  pjthagorisierende  uovötxry'  ('vgl.  schon  die  Pythagoreer  des 
Aristoteles  metaph.  N  ö  p.  1095  a,  Usesee,  Altgr.  Versbau  41)  ist  sie 
dagegen  ebenso  wichtig,  wie  für  die  Praxis  des  Versbaus;  und  eben 
dieser  mag  Hephästion  in  seinem  Hauptwerk  größere  Beachtung  ge- 
schenkt haben.  Leos  Behauptung,  daß  Caesius  nichts  von  der  Cäsur 
gewußt  habe  (a.  a.  0.),  rechnet  nicht  damit,  daß  wir  seine  Behandlung 
der  m^tra  simplicia  nicht  besitzen:  Terentianus  bespricht  1669 ff.  die 
C^suxen  des  Hexameters,  und  ich  sehe  keinen  Grand  zu  der  Annahme, 
«laß  er  sich  gerade  hier  Ton  Caesius  emanzipiert  habe. 


ih  KicHAKi)  Hkinzk  [70.4 

nichts  gewußt  habe,  sondern  erst  durch  ingeiie  lioobiichtung  auf 
die  KxistiMiz  einer  Oiisur  dos  Ht-xanietcMS  ^crillut  worden  sei. 
Vielmehr  hat  er  oftenhar  im  (le^ctisat/  zu  der  seiner  Zeit 
fif(*hiuH};('n  Annalime  mehrerer  ii;leicliberechti<ifter  Cäßuren  aus 
der  Analyse  lateini.M'hcr  Hexameter  die  Pcnthemimeres  als  die 
NormaU'äsur  feststellen  v.u  können  gemeint  und  daran  seine 
'geometrische'  Spekulation  gekniijift.  Bestätigt  wird  dies 
durch  Augustiu,  der  uns,  wie  VVi:ih  gesehen  hat*),  de  mu- 
sica  V  26  eben  jene  ratio  gcomeU'ica  überliefert,  und  der  auch 
seinerseits  behauptet,  die  Hexameter  Vergils  wüeseu  mit 
wenigen  Ausnahmen  die  Penthemimeres  auf.^)  Augustin  nun 
liefert  uns  auch  die  bestimmteste  Formulierung  der  in  Varros 
Definition  an« bedeuteten  oder  vorgebildeten  Lehre  vom  Vers: 
scias  a  vdcrihus  dociis  defmitum  et  vocatum  esse  versum, 
qui  duohiis  quasi  memhris  consiaret  certa  mmsura  et  ratiom 
coniunctis  (de  mus.  III  4):  d.  h.  er  fordert  vom  Vers  nicht 
nur  eine  Cäsur,  sondern  verlangt  diese  Cäsur  stets  an  einer 
und  derselben  Stelle  des  Verses  (ob  diese  Zuspitzung  schon 
varronisch  ist,  steht  dahin).  Von  der  Derivationstheorie  aber 
weist  sein  Buch  keine  Spur  auf^):  ich  meine,  das  vervoll- 
ständifft  den  Beweis  dafür,  daß  wir  es  in  dem  fraglichen  Satze 
Varros  wirklich  mit  einer  Theorie  der  Cäsur  zu  tun  haben,  die 
in  gar  keiner  Beziehung  zu  seiner  Ableitung  der  Metra  steht. 
Nun  könnte  man  behaupten,  Horaz  habe,  auch  ohne 
z.B.  den  sapphischen  und  alkäischen  Elfsilbler  zu  'derivieren', 


i)  Stades  de  litt,  et  de  rythmique  grecques  (Par.  1902)  p.  142  fg. 
{auB  Fleck.  Jahrb.  1862). 

2)  Ebd.  III  3  ab  hoc  versu  (sc.  arma  virumque  cano)  usque  ad  quem 
volueris  explora  singulos;  invenies  ftnitam  ]^artem  orationis  in  quinto 
semipede;  etwas  vorsichtiger  V9  partem  orationis  in  quinto  semipede 
semper  aut  paene  semper  terminari. 

3)  Die  gegenteilige  Behauptung  Gkafs  (Rhythmus  und  Metrum 
[Marburg  1891]  67)  ist  irrig,  sehr  fraglich  überhaupt,  ob  Augustin 
■wirklich,  abgesehen  von  der  Terminologie,  ''durchaus  auf  den  Bahnen 
des  sog.  älteren  (varron.)  Systems  wandelt'.  Augustin  will  keine  Me- 
trik schreiben,  und  von  Varros  musikalischen  Lehren  wissen  wir  noch 
Tveniger  als  von  seinen  metrischen. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  KorplZ.  i  7 

sich  durch  jene  Van-onische'  Theorie  für  verpflichtet  gehal- 
ten, die  Cäsiir  in  diese  Verse  einzuführen.  Um  darüber  mit 
Sicherheit  zu  urteilen,  müßten  wir  zunächst  wissen,  welche 
Metra  denn  Varro  als  'Verse'  aufgefaßt  hat.  Nach  Kiessling 
jede  über  das  Maß  eines  Dimeters  hinausgehende  Reihe:  also 
den  Elfsilbler,  aber  nicht  z.  B.  Glykoneen  und  Pherekrateen. 
Er  beruft  sich  dafür  auf  Apthonius,  der  nach  dem  besproche- 
nen Varrozitat  fortfährt  incipit  autum  (versus)  a  dimetro  et 
p-ocedit  usqiie  ad  hexanietrum,  in  his  dumtaxat  versibus  qui  per 
singidos  pedes  dirimuntur,  in  Ulis  autem  qui  per  dipodiam, 
usque  ad  tetrametrum  vel  pentametrum,  non  numquam,  hexa- 
nietrum procedit  p.  55,  12  fg.  Man  braucht  nur  daneben  zu 
halten,  was  Aristides  Quintilianus  p.  33,  15J.  vom  8axxvXix6v 
sagt:  ägy^stai  ds  aTto  ÖL^ergov  aal  TCQosißtv  ecog  i^a^stQOv, 
und  vom  La^ßixöv  p.  34,  ig:  aQ^d^svov  «jtö  di^sxQov  ngo- 
XüiQcl  ^i^XQi  t£TQa[i£XQov  xccl  ßaCvstcci  xatä  (?t.^o(Jtav,  um  zu 
erkennen,  daß  es  sich  bei  jeuer  Bestimmung  des  Apthonius 
nicht  um  eine  Unterscheidung  des  zusammengesetzten  'Verses' 
vom  einheitlichen  Kolon  handelt^),  sondern  um  eine  Bestim- 
mung für   die  nBXQa  im  allgemeinen,  welche   —   so   müssen 


i)  Die  Begrenzung  des  versus  hier  hat  also  nichts  zu  tun  mit  der 
vorher  54,6  von  Apthonius  gegebenen:  his  (nänalich  commatis  et  colis) 
quidam  adiungunt  sticlmm,  id  est  versum,  sub  huiusmodi  differentia  ut 
sit  versus  qui  excedit  dimetrum,  colon  autem  et  comma  intra  dimetrum. 
^rit  itaquc  Colon,  cum  integrae  fuerint  syzygiae,  comma  vero  cum 
imperfectae.  Die  griechische  Fassung  dieses  Passus  liegt  uns  noch  vor 
in  den  Hephästionscholien  p.  262,  2C:  Siacptqsi  6ri%oq  v.ocl  xwiov  kccI 
v.6inicc.  GTLxog  fibv  yäg  iari  tb  vjtSQ  dlfisrgov  Kai  ^an  rov  ^isy^d'ovg 
tovvo(i<x,  TiäXov  di  ißti  kccI  nofi^cc  xa  ivrbg  difi^xQov.  &XXcc  kwXov  (isi' 
xalsiTKi,  orav  oXö'^XrjQoi  cbaiv  ai  cv^vyiui,  v.6\nia  S^,  otccv  äreXsts-  Man 
Bieht  deutlich,  wie  Apthonius  diesen  Passus  schlecht  und  recht  in  die 
aus  anderen  Quellen  geschöpfte  Ausführung,  in  der  des  ßztxos  nicht 
gedacht  war,  hineingepaßt  hat:  daher  die  Wiederholung  der  schon 
vorher  (54,  ifg.)  gegebenen  Unterscheidung  von  Komma  und  Kolon 
(Schultz  hat  das  nicht  bemerkt  und  hat  daher  in  seiner  Analyse  des 
Kapitels,  die  auch  sonst  nicht  glücklich  ist,  fehlgegriffen,  p.  44  der 
für  die  Analyse  des  Apthonius  wegweisenden  Dissertation  Quibus  auc- 
toribus  Aelius  Festus  Apth.  de  re  metr.  usus  sit,  Bresl.  1885). 

PhU.-hist.  Klaase  1918.   Bd.  LXX.  4.  2 


i8  ]{irii\KD  Hkinzk:  [70,4 

wir  Varro,   (l«in    sich    A}»tlu)niu8,    wie    i('l\    |^laiil)e,    nwvh   hier 
anschließt,  verstellen  -     versus  seiu  können,  wenn  sie  niimlieh 
Cäsur  aufweisen.    Auch   liiir  beetiitigt  An^ustin,   der  111  -'ol«»-. 
als  Mijulestniaß   Mes  Verses   4   Füße,    d.  li.    2   Syzy»^ien  oder  8 
teinporn  iinsetzt,  als  Höchstmaß  32   tempore:  das   ist  auch  die 
Grcn/e    des    ustqoi'    nach    den    lleiihästionscholien    p.  120.  i; 
210,21    (Holiodor:    11i:nni;,  lleliod.  Unters,  p.   117).    Augustin 
i)egründet  die  Zahl  32  =  4x8  durch  das  Gesetz  der proßrcsf^io 
qaatermiria  (vgl.   über  diesen  jti<lclicrri))nis  progrcdicndi  modus 
1  24):   man   wird   diese    pythagorisierende   Hochschätzung   der 
Vierzahl    angesichts    der    sonstigen    Beziehungen    des    liuches 
de  mnsica  zu   Varro  mit  dessen  bekannter  Vorliebe  für  vier- 
fache   Gliederung    in    Zusammenhang    bringen    dürfen.     Dann 
ist  bei    der  Bestimmung  des  Umfangs    der  dipodischen  Verse 
o-emeint:    er    richtet    sich    nach    dem    Umfang   der   Füße:    bei 
vierzeitigen  Füßen,  also  z.  \\.  beim  Anapäst,  geht  er  bis  zum 
Tetrameter,   d.  h.  bis  zu  32  tempora,  bei  dreizeitigen  können 
es  auch   5,   beim  Pyrrhichius  auch  6  metra  sein:   mehr  nicht, 
denn    hexameter    versus    metrorum    omniimi    finis    ac    summa 
Apth.  p.  53,  21   ovölv  utTQov  i0xiv  vTceQ  Tu  f^dfisTQov  schol.. 
Heph.   13?,  8.    Wundom    wir    uns    aber,    wie  Varro    etwa    die 
Anerkennung  des  jambischen  Dimeters  mit  seiner  Forderung 
einer  festen  Cäsur  vereinigen  konnte,  so  müssen  wir  uns  über 
das  Gleiche  bei  Augustin  wundern,  der  Y  2^  den  jambischen 
Dimeter  ausdrücklich   zu  den  versus  rechnet.     Zu   den  versus 
rechnet  er  außer  Hexameter,  jamb.  Trimeter  und  troch.  Sep- 
tenar  (V5;  7)  auch  den  Asklepiadeus  und  Phalaeceus  (VI  12; 
15),    aber  weder   den   Gljkoneus    und  Pherekrateus  (IV  35), 
den   alkäischen   Neun-   und   Zehnsilbler   (IV  19),    noch    auch 
—  und  dies  ist  nun  sehr  wichtig,  aber  bisher  wie  es  scheint 
stets  übersehen  —  den  alkäischen  und  sapphischen  Elfsilbler 
(IV  36;   18):   das   sind  zwar  7nefra,   aber  keine  versus^):  ein- 


i)  Einen  besonderen  Namen  für  diejenigen  metra,  die  nickt  versuff 
sind,  hat  Augustin  nicht;  für  Yarro  ist  wohl  das  Gleiche  anzunehmen. 
—  Den  Schlußsatz  des  Apthoniuskapitels  de  versu  (versus  mitetn  distat 
a  metro,  qiiod  in  versu  staiim  auditur  et  meti-um,   In   metro  non  statim 


70  4]  Die  lykischkn  Ver«e  des  Hohaz.  19 

facii  weil  sie  der  Forderung  der  Cäsur  nicht  eutspreoheo. 
Es  ist  ganz  ausgeschlossen,  daß  diese  Unterscheidung  von 
Augustin  selbst  herrührt;  weder  die  Lehre  der  jüngeren  la- 
teinischen Metriker,  noch  die  Beobachtung  der  horazischeu 
Praxis  bot  ihm  dazu  einen  Anhalt.  Dann  gibt  er  also  ältere, 
varronische  oder  vorvarronische  Lehre  wieder.  Diese  müßte 
also  davon  ausgegangen  sein,  daß  zwar  Phalaeceus  und  As- 
klepiadeus,  nicht  aber  alkäischer  und  sapphischer  Elfsilbler 
mit  Oäsur  gebaut  werden;  und  erinnern  wir  uns  daran,  daß 
jene  in  hellenistischer  Zeit  vielfach  '/.ata  art^ov  verwendet 
worden  sind,  diese  nicht,  so  wird  uns  der  Unterschied  der 
Praxis  und  damit  die  ratio  der  Nomenklatur  deutlich.  Es 
erhellt  aber  zugleich,  daß  diese  Theorie  nun  und  nimmei- 
den  Horaz  dazu  veranlassen  konnte,  in  den  elfsilbigen  Kola 
seiner  äolischen  Strophen  die  Cäsur  durchzuführen. 

4. 
Es  hat  sich  gezeigt,  daß  uns  die  Überlieferung  nicht  das 
Recht  gibt,  das  System  der  Horazmetrik,  das  uns  zuerst  bei 
Caesius  Bassus  begegnet,  kurzweg  als  'varronisches'  System 
zu  bezeichnen.  Erst  Horazens  Oden  sind  es  gewesen,  die  die 
römischen  Derivanten  dazu  veranlaßten,  die  von  ihm  ge- 
brauchten äolischen  Metra  in  den  Kreis  ihrer  Lehre  einzu- 
beziehen.     Zu  dieser  Annahme  führt  nicht  nur  ein  argumen- 

versus  56,  12)  verstehe  ich  leider  nicht  sicher,  vielleicht  ist  gemeint 
'wenn  ich  einen  Phalaeceus  rezitiere,  so  hört  man  sogleich,  daß  das 
ein  ionischer  Trimeter  ist;  deute  ich  dagegen  das  Schema  eines  ioni- 
schen Trimeters  an,  so  hört  man  noch  nicht,  ob  das  ein  Phalaeceus 
sein  soll,  denn  dazu  wird  er  erst  durch  die  Cäsur.'  Dann  wäre  metrum 
hier  ''abstrakt'  gemeint,  wie  in  der  von  Diomedes  513,  1  zitierten 
Distinktion  (Varro  dicit  tnter  rhythmum  et  metrum  hoc  interesse  quod 
inter  materiam  et  regulam  fr.  66  W.);  das  hindert  aber  nicht,  daß  Varro 
daneben  auch  eine  konkrete  Silbengruppe  wie  sie  te  diva  potens  Cypri 
als  metrum  bezeichnet  hätte.  —  In  jener  Distinktion  bedeutet  übrigens 
regulu  nicht  'Maßstab,  nach  dem  der  ungeteilte  StoiF  zerlegt  wird' 
(so  Geaf  a.  a.  0.  64),  sondern  das  Richtscheit  v.avöiv,  das  dazu  dient, 
einer  Masse  festbegrenzte  Form  zu  geben;  vgl.  materia  ''eines  Estrichs) 
ad  regulam  et  libeUam  eo:igitur  Plin.  n.  b.  36,  188. 


20 


Kk  iim:i)  11kin/,k:  [70.  4 


fum    €X   silenfio,    soiulorn    aiu^li    ilio  Komposition    der    älteren 
uns  keimtlichon  Altrisse.     8io  j^e])en   kcino  uiiilassende  syste- 
inatischo  Darstellung,  iu  der  auch  die  horazischcn  Metra  Platz 
finden,  sondern   hän<^en  ihrer  naeli  den  einzeliu^n  Füßen  mehr 
oder  weniger   systematiseli   geordneten   Übersicht   ein   Kapitel 
de  »ictns  lioraiianis  au,    in  dem,   nach    der  Reihenfolge   der 
Oden,  diejenigen  Metra  analysiert  werden,   die  nicht  in  jeuer 
(bersicht  liereits    ihre  Stelle  gefunden  hatten    oder  zwanglos 
finden  komiten.     Einen  solchen  Traktat  de  raetris  Horatianis 
hat  uach    Sciin/r/'   schönem  Nachweis*)    der  Metriker,   den 
Diomedes  ausschreibt,  mit  einigen  anderen  Verslisten  in  eines 
zu  verschmelzen  gesucht,  um  den  verschiedenen  Ursprung  zu 
verdecken,    unbekümmert   darum,    daß    nun    bunteste   Unord- 
nung entstand.    Der  Traktat  vertritt,  wie  gleichfalls  ScHUi/rz 
sezeiort   hat,    mehrfach  Lehren,    die    älter    sind    als    Caesius 
Bassus,   der  gegen  sie  polemisiert:    daraus  allein  könnte  frei- 
lich auf  das  Alter  des  Ganzen  nicht  geschlossen  werden;  aber 
jene  Lehren    stimmen  zur  Tendenz  des  Ganzen  so  wohl,   daß 
wir  iu  der  Tat  ein  einheitliches  und  dann  wohl  das  früheste 
uns  kenntliche  S^'stem  der  horazischen  Metrik  in  ihm  sehen 
dürfen.    Hier,  und  hier  zuerst,  begegnet  uns  die  Tendenz,  die 
äolischeu  Metra  soweit  irgend  möglich  aus  den  beiden  Grund- 
formen des  daktylischen  und  jambischen  Sechsfüßlers  herzu- 
leiten; hier   die  Vorstellung,    daß    mit   dieser   Herleitung   der 
Ursprung   der  Verse,  also   ihre   metrische  Natur  erklärt  sei: 
und  erst  aus  dieser  Vorstellung  heraus  konnten  die  Normal- 
formen der  Verse  als   die   einzig  berechtigten   aufgefaßt,   aus 
der  Derivation  also  bestimmte  Gesetze   für  den  Versbau,   bis 
in    die    Quantität    der    einzelnen    Silben    hinein,    entnommen 
werden.2)    Charakteristisch  ist  der  geringfügige  Gebrauch,  der 


i)  Hermes  22  (1887),  260. 

2)  Haec  metra,  quae  ex  commatibus  constant,  unde  partes  habent, 
inde  et  pedes  sumiint  508,  31.  —  Übrigens  erklärt  auch  Diouiedea  den 
Vers  lioc  deos  vere  etc.  einfach  als  choriambisch  und  miserarnm  est 
neque  amori  als  ionisch;  ganz  glatt  ging  also  die  Rechnung  auch  bei 
seinem  Gewährsmann  nicht  auf. 


70, 4]  Die  lyrischen  Veusk  des  Horaz.  2 1 

von  der  conciimatio  gemacht  wird:  von  den  Odenmaßen  wird 
nur  der  alkäische  und  sapphische  Elfsilbler  durch  Zusammen- 
fügung  zweier  Kommata  erklärt.  Um  so  ungenierter  wirt- 
schaftet dieser  Mefcriker  mit  der  uns  von  Varro  her  vertrau- 
ten adiectio  und  detractio^):  er  läßt  den  Asklepiadeus  ent- 
weder aus  dem  elegischen  Pentameter  durch  Wegfall  einer 
Silbe,  oder  aus  dem  Hexameter  durch  Tilgung  zweier  Silben 

in   der  Mitte  und   zweier   am    Schlüsse   entstehen   ( u  ^  - 

[u  ^]  _  ^  u  _  w  o  [_  _]),  den  Vers  solvitur  acris  hiems  grata  vice 
veris  et  Favoni  durch  Einfügung  einer  Silbe  (der  drittletzten) 
in  den  Hexameter,  den  alkäischen  Zehnsilbler  gar  durch 
Streichung  von  sechs  Silben  aus  dem  Hexameter  heraus 
(._uw_  v^w_  w  [v^ v^u]  _::;):  wie  man  sieht,  ein  ganz  mecha- 
nisches Operieren  mit  dem  Versschema,  ohne  jedes  Gefühl 
für  Wirklichkeiten  der  Yerskunst.  Wenn  dieser  Traktat  Horaz 
zeitlich  am  nächsten  steht,  so  steht  er  ihm  doch  künstlerisch 
am  fernsten:  von  ihm  Aufschlüsse  über  Horaz'  eigene  Auf- 
fassung erbitten,  heißt  vor  die  unrechteste  Schmiede  gehen. 
Das  Buch  des  Caesius  Bassus-)  de  metris  hat  demgegen- 
über immerhin  einen  Fortschritt  bedeutet.  Caesius  ist  höchst- 
wahrscheinlich nicht  Grammatiker  von  Beruf  gewesen,  was 
aber  nicht  hindert,  daß  er,  der  erfolgreiche  lyrische  Dich- 
ter, von  Metrik  mindestens  ebenso  viel  verstand,  wie  irgend- 


i)  Auch  die  Metrik  des  Ps.-Ceusorinus  (VI  610fg.),  auf  deren  alter- 
tümlichen Charakter  Keil  p.  6o6  und  Schultz  a.  a.  0.  265  hingewiesen 
haben,  operiert  in  dem  wenigen,  das  sie  über  die  transfigit ratio  metro- 
rum  gibt  (6 16  fg.),  nur  mit  adiectio  und  detractio  und  Verkürzung  ein- 
zelner langen  Silben;  sogar  den  Phalaeceus,  den  Diomedes,  wie  bei  der 
ersten  divisio  des  Caesius,  durch  concinnatio  entstehen  läßt,  leitet  sie 

aus  dem  Hexameter  ab : u  w  [_  ^  u]  _  w  c>  [_  u]  *-- Leo  urteilt  von 

dem  Stücke  ^es  scheint  ganz  aus  Varro  zu  stammen,  aus  dem  es  etwa 
zur  Zeit  des  Censorinus  exzerpiert  sein  kann'.  Ich  finde  gar  nichts  spe- 
zifisch Varronianisches  darin;  varronischer  Terminologie  widerspricht 
es,  daß  Qv&nög  durch  modus,  {lirqov  durch  numerus  wiedergegeben 
wird:  Varro  stellte  rhythmus  qui  latine  tiumerus  vocatur  und  metrwn 
einander  gegenüber:  Diomed.  p.  513,  i  fr.  66  W. 

2)  S.  zum  folgenden  die  Ausführungen  unten  S.  47  fg. 


2  2  RionAKU  Hkin/.k:  [7>'.  4 

eiu  römisiber  'inimmatiker.  Sein  Buch  liat  iu  dor  röiuisclieii 
.\rotrik  Kpoflie  gomacht:  nicht  als  ol)  Caosius  rifr(>no  noiu* 
Wege  gegangen  wäre;  er  bliel)  viclnifhr  im  l'rin/,ip  bei  der 
Derivationstheorie,  wie  sie  damals  in  K'oni  gelelirt  wurde; 
aber  er  hat  nicht  lediglich  die  Versschemata  angesehen,  son- 
dern die  Verse  gehcirt,  und  er  hat  aus  griechischen  Büchein 
manche  Kenntnis  und  manche  Anregung  gezogen,  die  sein 
Buch  über  das  Niveau  eines  Schulbuchs  erhoben  und  es  den 
Späteren  unentbehrlich  machten,  «soweit  diese  nicht,  wie  Juba, 
es  lieber  mit  der  systematischen  alexandrinisch-heliodorischen 
Metrik  hielten.  Wir  lernen  durch  Analyse  seines  Buches, 
was  uns  der  vielleicht  gleichzeitige  Traktat  von  Oxyrhynchos 
bestätigt,  daß  die  griechische  Derivationsmetrik  damals  jeden- 
falls noch  keineswegs  mit  dem  alexandrinischeu  System  ge- 
brochen hatte,  sondern  in  iiaher  Beziehung  zu  ihm  stand, 
weit  entfernt  von  dem  verknöcherten  Dogmatismus,  der  uns 
bei  dem  Gewährsmann  des  Diomedes  entgegentritt;  daß  z.  B. 
die  äolischen  Verse  noch  mit  alleu  ihren  Freiheiten  der  Ge- 
staltung gekannt  und  begriffen  wurden,  und  von  der  Be- 
schränkung auf  ein  festes  Schema,  an  das  sich  ein  Dichter 
wie  Horaz  hätte  gebunden  fühlen  müssen,  noch  nicht  die 
Rede  war. 

Caesius  hat  freilich  seinen  freieren  Standpunkt  nicht 
konsequent  gewahrt:  er  mochte  vor  allem  für  die  horazischen 
Metra  die  römische  derivierende  Erklärungsweise,  die  sich 
durch  ihre  Einfachheit  und  Übersichtlichkeit  scheinbar  so 
vorteilhaft  von  den  alexandrinischeu  Analysen  unterschied, 
nicht  aufgeben,  und  so  zeigt  sein  Buch  ein  zwiefaches  Antlitz. 
Aber  auch  in  der  Behandlung  der  horazischen  Metra  bewährt 
er,  trotz  aller  grundsätzlichen  Fehler  der  Methode,  doch  einen 
freieren  Blick,  als  der  ganz  auf  die  Derivation  aus  Senar 
und  Hexameter  eingeschworene  Gewährsmann  des  Diomedes.-') 


i)  Die  Theäe  von  Ernst  (Der  Lyriker  und  Metriker  Cae.siu8  Bassus, 
Progr.  München  1901),  daß  das  Kapitel  de  metris  Horatianis  eine  Kom- 
pilation aus  Stücken  des  Caesius  und  einem  älteren  Metriker  sei,  ist 
so  schwach  begründet,  daß  sie  eine  Widerlegung  nicht  verdient. 


7o,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  2^ 

Er  faßt  den  Asklepiadeus,  Gl^^koneus  und  Pherekrateus  als 
choriambische  Maße  —  wenn  er  auch  daneben  die  Ableitung 
aus  dem  Hexameter  erwähnt  —  und  lehnt  die  Derivation 
aus  dem  daktylischen  Pentameter  ab  (268,  24);  er  kehrt  für 
den  Vers  solvitur  acris  hiems  grata  vice  veris  et  Favoni  zu 
der  richtigeren  hephästioniscben  Auffassung  —  Komposition 
aus  daktylischem  und  trochäischem  Gliede  —  zurück,  in  aus- 
gesprochenem Gegensatz  zur  Auffassung  als  liexametcr  maior 
syllaha  (268,  27).  Für  das  zweite  Komma  des  alkäischen 
Elfsilblers  stellt  er  seine  Erklärung  (Choriambus  -\-  Jambus, 
=  zweitem  Komma  des  Asklepiadeus)  mit  einem  potest  etiam 
videri  neben  die  diomedische  _  u  ^^  _  w  [u]  _  (268,  16).  Beim 
alkäischen  Zehnsilbler  ersetzt  er  die  ganz  unsinnige  diome- 
dische Herleitung  aus  dem  Hexameter  (die  später  wieder 
Atilius  302  als  einzige  vorträgt)  durch  die  wenigstens  etwas 
vernünftigere  aus  dem  katalekti sehen  Tetrameter  (26g,  13);  aber 
es  ist  ihm  offenbar  auch  dabei  nicht  ganz  geheuer,  denn  er 
stellt  daneben  als  zweite  Möglichkeit,  mehr  in  der  Art  des 
Oxyrhynchiten,  seine  Herleitung  aus  dem  Archebuleus  durch 
Tilgung  der  ersten  drei  Halbfüße:  wahrscheinlich  ein  eigener 
EinfaU. 

Man  sieht,  hier  ist  alles  noch  im  Fluß,  noch  zwei  Gene- 
rationen nach  Horazens  Tod.  Fest  steht  allein  das  Prinzip 
der  Derivation,  auf  die  äolischen  Maße  in  ganz  anderem 
Sinne  und  in  ganz  anderer  Ausdehnung  wie  es  scheint  an- 
gewendet, als  es  die  Griechen  getan  hatten.  Aber  die  Ein- 
zelheiten der  Anwendung  stehen  im  Belieben  jedes  Horaz- 
metrikers;  man  experimentiert,  man  rät,  zweifelt  oder  dekre- 
tiert: aber  man  weiß  offenbar  von  den  Gesetzen,  nach  denen 
Horaz  seine  Verse  gebaut  hat,  nichts.  Und  doch,  ich  wieder- 
hole es,  hätte  man  es  wissen  müssen,  wenn  vor  Horaz  eine 
Lehre  von  so  hoher  Autorität  bestanden  hätte,  daß  sich  der 
Dichter  ihr  blindlings  fügte. 

Ich  fasse  zusammen:  die  Durchmusterung  unserer  metri- 
schen Üljerlieferung  hat  nichts  ergeben,  was  uns  berech- 
tigte, die  Anwendung  der  Derivationslehre   auf  die  äolischen 


2^  1^'k  II  m;"  Hkin/.k:  IJo,  4 

Verse  wie  sie  von  den  römisoheu  und  den  modernen  Metri- 
kern  gelehrt  wird,  für  älter  /u  halten  als  lloraz.  Im  (Jegen- 
teil  beweist  der  Zustand  dieser  Lehre  iiuch  in  ufronischer 
Zeit,  daß  sie  nicht  a\if  alter  «reheili«;ter  Tradition  beruht, 
sondern  willkürliche  Ausdeutun<T  des  bei  lloraz  vorlie<rendon 
metrischen  Tatbestandes  durch  römische  Oirammatiker  ist,  die 
sich  an  «Griechische  Theorien  zwar  anlehnten,  aber  das  was 
sie  brauchten,  bei  den   Griechen  nicht  aus<rebildet  fanden. 

5. 
Aber  hat  nicht  Horaz  selbst  die  Derivatiou  der  äolischen 
Maße    aus    Hexameter    und    Trimeter    so    unzweideutig    aner- 
kannt, daß  durch  dies  maßgebende  Zeugnis  alles  umgeworfen 
wird     was   wir    bisher    festst(?llen    zu   können   meinten'^    Ich 
denke  natürlich  an  die  Verse  im  Brief  an  Maecenas,  I  1 9,  2  i : 
Libera  per  vacuum  posui  vestigia  princeps, 
non  alima  meo  pressi  pede.    qui  sibi  fidit, 
dux  regit  examen.     Parios  ego  prmus  iamhos 
ostendi  Latio,  numeros  animosfßie  secutus 
ihArchihchl,  non  res  et  agentia  verbä  Lycamben. 
ac  ne  nie  foliis  ideo  brevioribus  ornes, 
quod  timui  niutare  modos  et  carminis  artem: 
temperat  ÄrcJiilocIii  musani  pede  mascula  SappliOy. 
temperat  Älcaeus,  sed  rebus  et  ordine  dispar, 
zonec  socerum  quaerit,  quem  versibiis  oblinat  atris, 
nee  sponsae  laqueum  famoso  carmine  nectü. 
Jmnc  ego,  non  alio  dictum  prius  ore,  Latinus 
volgavi  fidicen. 
KiESSLiNG^)  hat  diese  Verse  zuerst  in  den  Dienst  seiner- 
Hypothese   gestellt:    'nur  wer  gelernt  hatte  ...    den   sapphi- 
schen  Vers   in   seiner  ersten  Hälfte  aus   dem  Tetrameter  des 
Archilochus  abzuleiten,  der   durfte  sagen   temperat  Archilochi 
musam  pede  mascula  Sappho  ...    So  werden  denn  auch  von 
Bassus  die  beiden  schließenden  Kola  der  alkäischen  Strophe^ 
der  Neunsilbler  aus  dem  Dimeter  der  archilochischen  Epode^. 

I)  Philol.  Unters.  II  p.  67  Anm. 


70,4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  25 

der  Zebnsilbler  .  .  .  aus  dem  daktylischen  Epodeu  desselben 
abgeleitet:  temperat  Älcaeus  fährt  Horaz  fort'.  Kiessling  be- 
schränkte sieh  also  darauf,  diejenigen  Metra  heranzuziehen,. 
deren  Erfindung  einstimmig  dem  Archilochus  zugeschrieben 
wird^):  troch.  Tetrameter,  jambischer  Dimeter  und  daktyli- 
scher Tetrameter;  sonach  würde  Alkaios  zwar  archilochische,^ 
oder  aus  archilochischen  abgeleitete  Verse  in  seine  Strophen 
'eingemischt'  haben;  daneben  hätten  jedoch  nicht-archilochische 
gestanden,  und  eben  auf  diese  hätten  doch  die  Gegner  des 
Horaz  sofort  verweisen  können.  Schröder^)  hat  denn  auch 
weiter  gegriffen  und  bei  Horaz  'die  Lehren  der  Derivations- 
metrik' bezeuQft  oefunden,  'die  alle  lesbischen  Maße  .  .  .  aus 
dem  sog.  daktylischen  Hexameter  und  dem  jamb.  Trimeter 
abzuleiten  wußte':  wogegen  denn  freilich  gleich  eingewandt 
werden  muß,  daß  diese  beiden  Verse  nach  der  Lehre  jener 
Metrik  nicht  Äychiloc/n  pes  sind,  da  sie  vor  ihm  existiert 
haben.  Aber  auch  abgesehen  von  solchen  Bedenken  scheint 
mir  KiESSnyo.s  sowohl  wie  Schröders  Erklärung  durch 
den  Zusammenhang  als  falsch  erwiesen  zu  werden. 

Ohne  weiteres  klar  ist  dies,  wenn  wir  annehmen,  der 
Vorwurf  des  non  mutasse  modos  beziehe  sich  darauf,  daß  Horaz. 
keine  neuen  Metra  erfunden  habe.  Denn  unmöglich  konnte 
sich  Horaz  gegen  diesen  Vorwurf  durch  den  Hinweis  darauf 
verteidigen,  daß  Sappho  und  Alcaeus  —  nicht  etwa  archi- 
lochische  Verse  übernommen,  sondern  neue  aus  ihnen  ge- 
bildet, also  gerade  das  getan  hätten,  was  nicht  getan  zu  haben 
den  Inhalt  des  Vorwurfs  ausmacht.  Bei  dieser  Auffassung 
des  V.  27  wären  wir  genötigt,  wirklich  archilochische  Verse- 
bei  den  Lesbiern  zu   suchen,  wie  es  Bentley  tat^):  freilich 


i)  In  der  Ausgabe  der  Oden  hat  er  dann  das  temperoet  Sappho- 
auf  beide  Kola  des  Hendecas.,  das  temperat  Alcaeus  nur  auf  den  Zehn- 
silbler  bezogen  (p.  "5-18):  die  ratio  dieser  Auswahl  ist  mir  nicht  er- 
eichtlich. 

2)  Sitzungsberichte  des  Philolog.  Vereins  zu  Berlin  19 16  S.  4. 

3)  'Scias  et  Sapphonem  et  Alcaeum  (qiios  poetas!)  musam  suam 
illiiis  pede  temperare;  mas  titrumque  Archilocheos  numeros  mis  lyrici>^ 


20 


Kl. 11  vKi»   IIkin/,i::  [7*^-  « 


fiiiid  or  sie  nur  mit  Hilf»'  des  Postulats,  daß  all«»  VcM-srormcu 
d»M-  Oden,  also  auch  (nhoriliKSfii«'  comae  uiul  (//<<  K])hcson  In- 
matisce  Cori>iflil  und  solrifur  (uris  liiotis  grata  vier  rrns  H 
Favoni,  die  als  an-iiilochiscli  hozeugt  sind,  ■/,u<jfloieh  icabisch 
seien.  Die  Möglichkeit  selbst  /,u<i;e^ehen,  würde  doch  aucii 
hier  der  (Jejrner  solürt  eiuRewendet  habcji:  ^^egcuüber  diesen 
wenigen  aus  Arihilochos  übernommenen  Formen  überwiegen 
doch  bei  den  Lesbiern  die  neu  erfundenen  so  stark,  daß  ihr 
Fall  ganz  anders  liegt  als  der  deine:  du  hast  ja  eben  nichts 
ueu  erfunden! 

Aber  so  leicht  können  wir  uns  die  Widerlegung  nicht 
machen,  denn  jene  Auffassung  des  v.  27  ist  unzuläösig.  Ja 
wenn  es  sich  noch  um  den  Lyriker  Horaz  handelte!  Von 
dem  konnte  immerhin  eine  Bereicherung  des  überlieferten 
Forraeubestandes  erwartet  werden:  wir  wissen  ja,  wie  viele 
hellenistische  Dichter  sowohl  tnodos  wie  carminis  artem  in 
lyrischen  Versen  geändert  haben,  und  wie  lange  der  Sport 
der  Erfindung  neuer  Verse  bei  Griechen  und  Römern  betrie- 
ben wurde.  Aber  es  ist  ja  der  Jambiker  lloraz,  der  jenen 
Vorwurf  erfahren  oder  erwarfet  hat,  und  in  diesem  yivo<^  ist 
doch  die  Konstanz  der  Formen  eine  ganz  andere:  Klassiker 
des  Jambus  wie  Semouides  haben  nichts  Neues  erfunden,  und 
ebensowenig  die  römischen  Jambiker  vor  Horaz.  an  die  doch 
wolü  hier  zunächst  zu  denken  ist.    Und  dieser  Gedanke  führt 


ininiscere\  Die  Bedeutung  'mischen'  ist  von  temperare  hier  ganz 
fernzuhalten:  die  greuliche  Vorstellung  einer  ''gemischten  Muse'  hätte 
man  Horaz  nie  zutrauen  sollen.  Zudem  gewinnt  tei}ix>erare  die  Bedeu- 
tung 'mischen'  doch  nur  auf  dem  Umweg  ''das  rechte  Verhältnis  geben', 
'gehörig  einrichten':  diese  Vorstellung  liegt  aber  hier  ganz  fern.  Die 
Parallele  testudinis  dulcem  quac  strepiiwn  IHeri  temperas  Od.  IV  3,  18 
stellt  es  vollends  außer  Zweifel,  daß  temperare  hier  nichts  anderes  sein 
kann,  als  etwa  'ordnend  beherrschen'.  —  Daraus  folgt  weiter,  um  das 
gleich  anzufügen,  daß  Archilochi  pes  hier  nicht  der  Jambus  sein  kann, 
weder  als  Versfuß  (Wkil  Fleckeis.  Jbb.  1862,  336),  noch  als  Versmaß 
(Graf,  Rhythmus  und  ^It-trum  p.  6):  beide  Deutungen  würden  auf  das 
inmiscere  zurückführen.  Wie  in  Lesbium  servate  pedem  Od.  IV  6,35  ist 
liier  vielmehr  'Takt'  ganz  allgemein  für  metrische  Form  gesagt. 


70,4]  Die  lyrischkx  Verse  des  Horaz.  27 

uns  auch  auf  die  richtige  Deutung.  Gerade  das,  was  dem 
Horaz,  wie  sein  Buch  zeigt,  unter  den  archilochischen  Formen 
als  besonders  charakteristisch  und  wertvoll  erschien,  die  epo- 
dische  Komposition  und  die  Verbindung  von  daktylischen  mit 
jambischen  Rhythmen,  teils  in  gesouderten  Versen,  teils  inner- 
halb derselben  asynartetischen  Verse,  war  ja  seit  lano-em  aus 
der  jambischen  Poesie  verschwunden;  selbst  der  jambische 
Trimeter  war  zurückgetreten  hinter  den  dem  Archilochos 
noch  unbekannten  Versen,  dem  Cboliambus  und  ganz  beson- 
ders dem  phaläcischen  Hendecasy Ilabus:  so  waren  in  der 
Tat  nicht  nur  die  modi,  war  auch  die  carminis  ars  muiata, 
durch  eine  neue  ersetzt.  Man  kann  nicht  daran  zweifeln,  daß 
die  aesthetischen  Stimmführer  in  diesem  Wandel  einen  Fort- 
schritt erblickten:  so  sehr  man  die  animi  des  Archilochos 
bewunderte  und  in  seinem  Geiste  dichten  wollte,  so  unmodern 
und  überholt  erschien  die  Form  seiuer  Jamben.  Wenn  nun 
Horaz,  voll  ehrfürchtiger  Bewunderung  für  den  großen  Dich- 
ter, auch  diese  Form  getreu  nachbildete,  weil  sie  ihm  mit 
dem  Geist  aufs  engste  verwachsen  schien  und  er  sich  also 
scheute  (timuii),  sie  wegzuwerfen,  so  konnte  ihm  wohl  der 
Vorwurf  der  Rückständigkeit,  des  Klebeus  an  veralteten,  längst 
durch  Besseres  ersetzten  Formen  gemacht  werden.  Nachfolo-e 
hat  er  ja  mit  diesem  seinem  Wiederbelebungsversuche  noch 
weniger  gefunden  als  mit  seiner  archaisierenden  Lyrik:  Quin- 
tilian  nennt  unter  den  Dichtgattungen  neben  Epos  und  Drama 
Lyrik  und  Elegie  nicht  den  Jambus,  sondern  schlechtweg 
hendecasyllabi  (I  8,  6),  und  wenn  er  neben  Catull  und  Furius 
auch  den  Horaz  als  Koryphäen  der  lateinischen  Jamben  nennt, 
denen  es  geliftigen  sei,  der  Forderung  der  acerbitas  zu  ge- 
nügen, so  fügt  er  einschränkend  hinzu  quamquam  Uli  ejjodiis 
intervenit  (X  i,  96). 

Also  statt,  wie  er  es  gehofft  hatte,  für  die  Übertraguno- 
der  alten  klassischen  Gestalt  des  Jambus  nach  Latiura  be- 
sonderen Ruhm  zu  ernten,  mußte  Horaz  seinen  Ruhm  als 
Jambiker  geschmälert  sehen,  weil  er  sich  nicht  frei  gemacht 
habe  von  dem  Zwange  der  archilochischen  Form,  nicht  archi- 


28  Kii  II  \i;i)   11i;in/k:  [70,  4 

locbischen  Geist,  wie  es  andere  Küliuere  taten,  in  die  neue 
l'orin  ge«;ossen  habe.  Er  be^'egiiet  diesem  Vorwurl'  zu  unserer 
und  wobl  aucb  /u  seiner  /eiti^euössiscben  Leser  ÜberraBcbunjjf 
mit  der  Berufung  —  nicbt  auf  einen  .Ijimbofjfrjipben  (und 
freilich  wäre  es  schwer  gewesen,  einen  iiamliaften  Vertreter 
dieses  yt'i'o^  als  ^'()rgänger  an/n führen),  sondern  auf  Siiijpho 
und  Alkaios:  auch  diese  seien  dem  Archilochos  rehis  et  or- 
d'me  (fis^mrs,  aber  nnfneris  pures  gewesen,  wie  er  selbst. 
Etwas  wie  eine  Ersohleichnng  muß  bei  dieser  Argumentation 
vorliegen  —  darum  kommen  wir  bei  keiner  Deutung  herum: 
'Gleichheit'  der  metrischen  Formen  im  vollen  Sinne  kann 
auch  Horaz  l)ei  den  hier  verglichenen  Dichtern  nicht  gefun- 
den haben.  Aber  die  Derivationstheorie  kann,  wenn  wir  v.  27 
oben  richtig  erklärt  haben,  der  Schlüssel  des  von  Horaz  uns 
aufgegebenen  Rätsels  nicht  sein.  Erstens  legt  sie  ja  gerade 
besonderes  Gewicht  darauf,  daß  durch  die  Variierung  der  alten 
Metra  neue  entstehen  und  geht  in  diesem  Punkte  z.  B.  darin 
über  das  andere  metrische  System  noch  hinaus,  daß  sie  nicht 
von  der  katalektischen  und  akatalektischen  Form  eines  Me- 
trums spricht,  sondern  beide  als  verschiedene  Metra  neben- 
einander stellt.  Sodann  aber,  was  noch  wichtiger  ist:  für 
den  Derivauten  gehen  ja  alle  metrischen  Formen  unterschied- 
los in  letzter  Linie  auf  Hexameter  und  Ti-imeter  zurück,  also 
auch  die  'modernen'  jambischen  Maße,  Skazon  und  Phalae- 
eeus;  für  den  Derivanten  waren  also  Catulls  Verse  genau  so 
011t  'archilochische',  wie  die  der  Lesbier,  und  es  hätte  also 
keinen  Sinn  gehabt,  wenn  Horaz  sich  für  seine  Praxis  auf 
diese  berufen  hätte,  statt  auf  die  modernen.  Wir  müssen 
vielmehr  nach  Eigenheiten  suchen,  die  die  Lesbier  mit  Archi- 
lochos  gemein  haben,  und  die  sie  andererseits  von  den  'mo- 
dernen' Jambographen  unterscheiden.  Solche  Eigenheiten  sind 
I.  die  Polyraetrie  im  allgemeinen,  gegenüber  der  Beschrän- 
kung auf  ganz  wenige,  zwei  bis  drei  Maße,  unter  denen 
aer  Skazon  der  Lyrik  ebenso  fremd  ist  wie  dem  Archi- 
lochos;  2.  die  Verwendung  daktylischer  Maße  sowohl  wie 
jambisch-trochäischer,  und   die  Vereinigung  beider  zu  einem 


70,  4]  DiK    LYRISCHEN  VerSP:    DES   HoRAZ.  2g 

Vers^):  3.  die  Komposition  der  Gedichte  nicht  xcctcc  atCyoi' 
sondern  als  6v6Ty]^att,xd''nud  zwar  als  [lovoötQorpixä,  wobei  es 
nach  den  antiken  Lehren  TtBQi  jcoit^iiatog  keinen  Unterschied 
macht,  ob  die  Strophen  zwei-  oder  vierzeilig  sind:  hat  doch 
auch  Alkaios  zweizeilige  Strophen.  Wie  wenig  Unterschied  in 
diesem  Punkte  Horaz  zwischen  der  'epodi sehen'  Komposition 
des  Archilochos  und  den  zweizeiligen  Systemen  der  Lesbier 
empfand,  hat  er  ja  dadurch  bewiesen,  daß  er  —  wie  ich  im 
(jegensatz  zu  Bentleys  oben  angeführter  These  annehme  — 
archilochische  Epodenformen  unter  seine  Oden  aufnahm.  Bei 
den  Worten  carminis  artem  denkt  er,  meine  ich,  vornehm- 
lich an  diese  Seite  der  archilochischen  Kunst;  die  stichischeu 
Formen  des  Archilochos  hat  er  ja  fast  völlig  vermieden,  und 
ganz  ähnlich  hält  er  es  mit  den  Lesbiern:  selbst  die  stichi- 
schen Asklepiadeen  gelten  ihm  nicht  als  vollgültig  lyrisch-) 
und  außer  ihnen  hat  er  nur  ein  paar  Mal  den  größeren  As- 
klepiadeus  stichisch  verwendet.  Ofienbar  schien  ihm  diese 
Kompositions  weise  der  moderneu  zu  nahe  zu  stehen,  da- 
rum ignoriert  er  sie  so  gut  wie  ganz.  Endlich  4.,  worauf 
aber  wohl  das  geringste  Gewicht  zu  legen  ist,  kann  an  ein- 
zelne Verse  oder  Glieder  der  Asynarteten  gedacht  werden, 
die  den  Lesbiern  mit  Archilochos  gemein  waren,  wie  den 
daktylischen  Hexameter,  den  katalektischen  jambischen  Tri- 
meter,  den  Ithyphallikus.  —  Das  alles  zusammen  reicht  ge- 
wiß nicht  aus,  um  die  Behauptung,  daß   die  Lesbier  musam 


i)  'jQ^iXo^og  .  .  .  TtooGs^EVQS  y.cd  ri,v  sie  tovg  ov^  ofioysvslg  Qvd'- 
uovg  ivTccGiv  Plut.  de  raus.  28.  nqüTog  df  v-ccl  tovroig  {rotg  aüwagti]- 
toig)  'Aqx-  iiiXQrircii,  Hephaest.  c.   15,2. 

2)  In  der  ersten  Odensammlung  hat  er  sie  nur  für  den  Prolog 
und  Epilog  verwendet,  die  sich  eben  durch  diese  Gestaltung  von  den 
Liedern  abheben;  im  vierten  Buch  nimmt  das  in  die  Mitte  gestellte 
Gedicht  donarem  pateras  als  eine  Art  von  Mesolog,  wenn  das  Wort 
erlaubt  ist,  die  Motive  jener  beiden  Gedichte  in  charakteristischer  Um- 
formung wieder  auf,  s.  meine  Einl.  dazu.  Der  größere  Asklepiadeus, 
den  er  auch  nur  dreimal  (I  11.  18,  IV  10)  stichisch  verwendet  hat,  dar- 
unter zweimal  in  ganz  kurzen  Gedichten,  schien  ihm  wohl  noch  den 
lyrischen  Charakter  reiner  ausgeprägt  zu  tragen. 


30  Kh'haki)  Hr.rN/.K:  |7". 4 

Archilochi  pcdc  ivmpennü  ernstbaft  /.ii  bcgriindou:  aber,  wio 
scbon  oben  gesai^t,  eine  solcbe  l^ogriiiidiing  wax  nnnuivflJcli, 
iiml  wir  müssen  also  von  ibrer  Fordonmg  abscbeii. 

Ein  Wort  scbließliob  noch  über  rchns  ei  online  dispar 
r.  2q.  Die  Erklärer  denken  bei  ordo  wieder  an  Metrisches: 
an  die  verschiedenartigen  Verbindungen  der  gleichen  Verse 
(Bentlky),  oder  die  verscliiedenartige  Gni})pierung,  hier  zu 
zweizeiligen,  dort  zu  vierzeiligen  Strophen  (Kiksslinc),  oder 
die  verschiedenartige  Vereinigung  der  mcmhra  zu  Versen  (so, 
wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  Scnu()DKi{).  Aber  wer  soll  der- 
gleichen aus  dem  einfachen  ordo  herauslesen,  zumal  nach- 
dem durch  rehus  der  Blick  vom  Metrischen  abgelenkt  istV 
und  warum  sollte  Horaz  bei  Alkaios  etwas  hervorheben,  was 
für  seine  eigenen  Jamben  nicht  galt?  Neben  den  res,  der 
TTQay^ccTiia,  kann  ordo,  meine  ich,  nur  in  dem  Sinne  stehen, 
in  dem  es  die  antike  Rhetorik  und  Poetik  so  oft  jenem  Be- 
griff zugesellt:  im  Sinne  von  rd^ig.  ohovo^Lu,  dispcsitio^y. 
so  z.  B.  Dionys.  de  imit.  2  von  Panyasis:  TtQay^axBia  xal 
r/y  xar'  avTOv  olxovo(.ii<x  öirjvsyxev,  und  Horaz  selbst:  cui 
lecta  potenter  erit  res,  nee  facundia  deseret  hunc  nee  lucidus- 
ordo  a.  p.  40.  Horaz  sagt  nur,  daß  Alkaios  sich  im  ordo 
von  Archilochos  unterscheide,  also  auch  in  diesem  Punkte 
neu  sei:  er  meint  aber  gewiß,  daß  dieser  Unterschied  einen  Fort- 
schritt bedeute.  Das  Gleiche  gilt  ja  auch  von  den  res;  denn  daß 
Horaz  die  Gehässigkeit  und  Unerbittlichkeit  des  persönlichen 
Kampfes,  noch  dazu  gegen  einstmals  nahe  Verbundene,  so  wenig^ 
echön  findet,  wie  es  die  aesthetische  Kritik  des  Altertums 
überhaupt  tat^),  hört  man  aus  seinen  hier  gebrauchten  Aus- 
drücken und  liest  man  aus  seinen  eigenen  Nachbildungen 
heraus:  er  mag  sich  schon  in  seinen  politischen  Jamben  dem. 


i)  Die  Frage,  wie  ordo  und  disposito  gegeneinander  abzugrenzen- 
seien und  ob  sie  überhaupt  zu  unterscheiden  seien,  war  umstritten  f 
Tgl.  z.  B.  Quintilian  i.  0.  III  2,  8:  VII  i,  i. 

2)  Ut  videatur  quibusdam,  quod  quoquam  minor  est  (Arch.j,  ma- 
teriac  esse,  non  ingenii  Vitium  Quint.  X  i ,  60.  (ibnipuiTO  if  av  xig: 
Aqxi^Öxov  tt^v  cTtoQ'iGLv  Plut.   de  aud.  45  B. 


70.  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  3 1 

AJkaios^)  verwandter  gefühlt  haben  als  dem  Archilochos;  und 
wenn  wir  daran  denken,  daß  im  Werk  des  Alkaios  t6  töv  nolLn- 
xü)v  jtoLr,u(xrc3v  yi&og  (Dionys.  de  imit.  8),  das  der  iKußixi)  idecc 
wenigstens  nahe  kam,  so  besonders  hoch  geschätzt  wurde,  ver- 
steht man  es  auch  besser,  daß  Horaz  seine  nguynaTeCa  überhaupt 
mit  der  des  Archilochos  vergleichen  kann. 2)  Worin  nun  Al- 
kaios' olxovonCa  von  der  des  Archilochos  sich  —  vorteilhaft  — 
unterschied,  können  wir  freilich  nicht  sagen;  daß  Horaz  aber 
online  bewußt  über  Archilochos  hinausging,  lehrt  uns  schon 
der  kunstvoll  disponierte  10.  Jambus  im  Vergleich  mit  dem 
erhaltenen  Fragment  des  Archilochos.  Gibt  doch  selbst  ein 
Bewunderer  des  genialen  Dichters,  der  Schriftsteller  vom  Er- 
habenen,   zu,    daß     er    TtoXla    ical    c.voLXOvö^rjta    jiccQccövQet 

(c-  53,  5^- 

6. 

Damit  ist  denn  der  Weg  zu  einem  historischen  Verständ- 
nis der  horazischen  Metrik  frei  gemacht.  Die  Christ-Kiess- 
LiNGsche  Hypothese  zeigt  uns  einen  Dichter,  der,  als  er  sich 
entschließt,  Oden  zu  dichten,  zu  einem  jüngst  erschienenen, 
auf  abstruse  Theorie  aufgebauten  metrischen  Handbuch  greift 
und  mit  peinlicher  Beflissenheit  Silbe  für  Silbe  nachmacht, 
was  ihm  da  über  'richtige'  äolische  Verse  vorsetraoren  wird, 
oder  der  gar  über  das  dort  Verlangte  hinausgeht  und,  froh^ 
die  Entstehung  der  Verse  aus  je  zwei  Kola  begriffen  zu  haben, 
sie  nun  auch  seinen  Lesern  einhämmern  will,  indem  er  an 
jedem  Kolon  ende  Wortende  eintreten  läßt.  Ich  möchte  dem- 
gegenüber den  Dichter  zu  Ehren  bringen,  der  die  lesbischen 
Verse  mit  den  Ohren  seiner  Zeit  gehört  hat  und  dessen 
Verskunst    mitten    im    Entwicklungsgange    der    hellenistisch- 


i)  Der  in  parte  operis  'anno  plectro''  merito  üonatur,  qua  tyrannos 
insectatus  midtum  etiam  morihus  confcrt  (vgl.  Horaz  Od.  II  13,  81) 
Quint.  X  I,  63,  im  Gegensatz  zu  Archilochos,  dessen  Lektüre  in  Sparta 
verboten  war,  ne  plus  morihus  noceret  quam  ingeniis  prodesset  Val. 
Max.  XI  3,  ext.  i. 

2)  Welcher  Art  die  iaiißi-Kcc  waren,  die  man  bei  Sappho  fand 
(,Philodem.  tc-  Ttotruucrav  II  fr.  29  Hausr.),  weiß  ich  nicht. 


-^2  Rkuaiu)  Hkinzk:  [70.  4 

röinisi-lien  Verskuust  diiriii  steht,  llora/  i)iUlet  keine  neuen 
Formen:  jeder  seiner  Verse  hat  ßicli,  in  der  von  ihm  ge- 
brauchten Form,  fjcenau  so  auch  bei  den  alten  Leshiern  ^o- 
fundeu.  Aber  er  normalisiert,  durch  Festlejrun«,^  der  Quanti- 
täten und  der  Verseinsehnitte.  El)en  diese  Normalisierung 
ist  die  Tendenz  der  ^resamteu  hellenistisch-römiBchen  Vers- 
kunst. M  Die  einzelnen  Tatsachen  sind  zumeist  längst  be- 
obachtet; aber  da  sie  noch  nirgends  zu  überblicken  sind,  muß 
ich  hier  zusammenstellen,  was  mii-  erreichbar  ist,  ohne  An- 
spruch  auf  Vollständigkeit. 

Den  choliambi sehen  Trimeter  baut  schon  Hipponax 
überwiegend  mit  Cäsur  nach  der  Senkung  des  3.  Fußes,  im- 
merhin weist  etwa  ein  Viertel  der  erhaltenen  122  Verse  viel- 
mehr Cäsur  im  vierten  Fuße  auf.^)  In  den  etwa  175  aus- 
reichend erhaltenen  Jamben  des  Kallimachos  finde  ich  diese 
Cäsur  (von  der  Freiheit  der  Eigennamen  abgesehen)  2  2  mal, 
also  nur  im  achten  Teil  der  Verse  (Phoinix  hat  sie  noch 
öfter,  in  74  Versen  21);  daß  in  den  23  kenntlichen  Versen 
des  anonymen  Dichters  im  Pap.  Heid.  310  (Gerh.  p.  4%-)  in 
den  vier  Fällen,  wo  semiseptenaria  anzunehmen  ist,  sich  doch 
überall  auch  Wortschluß  nach  der  vorhergehenden  Senkung 
findet,  mag  Zufall  sein.  Catull  hat  in  seinen  126  Choliamben 
nur  in  sieben  Fällen  (also  1/18)  die  semiseptenaria,  in  dreien 
davon  würde  die  semiquinaria  in  die  Commissur  eines  prä- 
positionalen  Compositum  fallen.  S)  Die  81  Choliamben  der 
Priapea  beschränken   sich  ausnahmslos  auf    die  semiquinaria. 

—   Spondeus    im   fünften   Fuße   (also  Versschluß ^)  hat 

Hipponax  noch  9  mal,  Phoinix  3  mal,  Kallimachos  und  ebenso 
Catull  haben   ihn    durchaus  verpönt.   —   Auflösung  der  He- 

i)  Das  hat  Maas  a.  a.  0.  711  als  wichtig  für  die  Erklärung  der 
horazischen  Metra  mit  Recht  hervorgehoben. 

2)  S.  Pelckmann,  Versus  choliambi  apud  Graecos  et  Romanos 
historia,  Diss.  Kiel  1908  (vor  dem  Fund  der  kallimacheischen  Jamben 
Oxyrh.  VII  und  vor  Gerhardt  Phoinix  von  Kolophon,  Lpz.   1909). 

3)  Cäsurlose  Verse  baut  Catull  natürlich  nicht;  die  sieben  Fälle, 
die  Pelckmann  p.  47  aufzählt,  sind  zu  streichen,  sie  beweisen  nur,  daß 
auch  Catull  die  Cäsur  durch  Synalöphe  zu  überbrücken  für  erlaubt  hält. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  ^;^ 

bung  in  zwei  Kürzen  finden  wir  bei  Hipponax  24  mal,  in 
den  Jamben  des  Kallimaclios  (eingerechnet  die  zahlreichen 
bruchstückweis  erhaltenen  Verse)  nur  7  mal,  bei  Catull  nur 
3  mal,  ebenso  oft  in  den  Priapeis. 

Von  dem  Archebuleum  der  alten  Lyrik  haben  wir  keine 
Probe;  aber  wir  wissen  (Hephaest.  c.  8),  daß  Alkman,  nicht 
nur  im  ersten  Fuß,  statt  des  Anapäst  auch  Spondeus  eintreten 
ließ.  Kallimachos,  vor  dem  wir  nun  ein  erhebliches  Stück  in 
diesem  Maße  besitzen'),  hat  darauf  verzichtet;  er  hat  auch, 
wie  wir  nun  sehen,  nur  ganz  ausnahmsweise,  dem  Eigennamen 
zu  Liebe,  im  ersten  Fuße  Jambus  zugelassen.  Nach  dem 
dritten  Anapäst  ausnahmslos  Diärese:  auch  das  wird  Neue- 
rung sein,  vielleicht  des  Archebulos,  der  den  Vers  zuerst 
stichisch  verwendete.  Im  Mustervers  des  Cacsius  dement- 
sprechend die  Versteilung  durch  Anaphora  betont:  tibi  nascitur 
omne  pecus,  tibi  crescit  Jierbo. 

Unter  den  18  sog.  größeren  Asklepiadeen,  die  wir 
von  Alkaios  besitzen,  weisen  8  Worteinschnitt  nach  dem  ersten 
Choriamben,  4  solchen  nach  dem  zweiten  Choriamben  auf, 
während  in  nur  5  Versen^)  sich  beide  Einschnitte  verbinden, 
also  der  mittlere  Choriamb  abgegrenzt  erscheint  (ein  Vers  ganz 
ohne  solchen  Einschnitt).  Bei  Theokrit  ist  die  Neigung  zu 
jener  Abgrenzung  verstärkt:  unter  den  57  Versen  des  28.  und 
30.  Gedichts  findet  sie  sich  2 7  mal,  also  schon  fast  in  der 
Hälfte  der  Verse  (im  übrigen  fast  gleich  oft  der  erste  oder  der 
zweite  Einschnitt  allein,  aber  allerdings  vier  Verse  ohne 
solche).^)  Catull  hat  unter  den  zwölf  Versen  seines  30.  Ge- 
dichts sieben  mit  beiden  Einschnitten,  keinen  cäsurlos  ge- 
baut. —  In  den  Anfangssilben  hat  Theokrit  die  lesbische  Frei- 

i)  WiLAMowiTz,  Neues  von  Kallimachoä,  Sitzungsber.  d.  Berl.  Ak. 
1912,  524. 

2)  Aus  den  acht  verstümmelten  Versen  Pap.  Ox.  1233  fr.  8  (X  p.  sgfg.) 
kommt  wie  es  scheint  nur  einer  hinzu. 

3)  Unter  den  drei  von  Kallimachos  erhaltenen  Beispielen  (fr.  114 
und  170,  s.  WiLAMOwiTz  Berl.  Klassikertexte  V  i  p.  59,  11)  haben  zwei 
den  Doppeleinschnitt,  der  dritte  nur  den  ersten;  der  Eingang  in  allen 
dreien  spondeisch. 

Phil.-hist.  Klaaae  1918.    Bd.  LXX.  4.  3 


34  UirnAiiD  Hkinzk:  f7o.  1 

lieit  i^SponcUus.  Trurhiiiis,  .lanibus,  l'yirliirliius)  bewahrt.,  Cn- 
tuU  fühlt  (Ion  Sj)()n(hMi,s  aMsiiiihnish)s  (hirch,  wie  dann  llorn/.^ 
iler  auch  dou   Dopi)ehMuschnitt  zun»   (Jesi'tz  orlieht.') 

Im  PhalaeoeuR*)  hevor/ugten  die  maßgebenden  Alexan- 
driner, wie  es  scheint,  den  Kitisrliuitt  nach  dem  ersten  der 
drei  schließondon  Trochäen:  so  durchweg  die  acht  Verse  des 
l*hahiiko8  selbst  (A.  P.  XIII  6),  so  in  sechs  von  den  acht 
Versen  des  theokritischen  Epigramms  22  (A.  P.  IX  5g8,  im 
.siebenten  ist  die  Senkung  des  Trochaeus  einsilbiges  Wort), 
so  in  vier  von  den  fünf  Phalaeceen  der  kallimacheischen  Epi- 
gramme 38,  40  (A.  P.  XIII  24,  VII  728). •')  Die  Lateiner  haben 
sich  davon  emanzipiert,  aber  um  so  festere  Regeln  aufge- 
stellt: von  den  495  Hondecasyllaben  Catulls  (außer  c.  55  und 
58a)  haben  331  Cäsur  nach  der  dritten  Hebung,  153  naeh 
dem  Daktylus,  nur  1 1  Verse  entbehren  der  regelmäßigen  Cä- 
sur; die  wenigen  (7)  erhalteneu  Hendecasyllaben  Varros  haben 
mit  einer  Ausnahme  (dfiktylisch)  die  Ilebungscäsur.  Auch 
von  der  Freiheit  der  beiden  Anfangssilben  wird  bei  jeneti 
Alexandrinern  beschränkter  Gebrauch  gemacht:  bei  Phalaikos 
höchstens  zwei  Trochäen  (der  Überlieferung  ist  nicht  ganz 
zu  trauen),  bei  Theokrit  und  Kallimachos  je  einer,  sonst 
alles  Spondeen.    Bei  Catull   kommt  etwa   auf  jeden  20.  Vers 

i)  Eine  lihuliche  Entwicklung  läßt  eich  bei  den  äolischen  dak- 
tylischen FünffülUern  beoVjachten,  dei'en  wir  jetzt  (Ox.  X)  von 
Alkaios  und  Sappho  eine  größere  Zahl  besitzen:  der  männliche  Eiu- 
echnitt  nach  der  dritten  oder  vierten  Hebung  ist  dort  eher  venniedeu 
als  gesucht  (nur  fünfmal  in  31  Versen);  in  Theokrits  naidiKOv  c.  2^ 
überwiegt  er  durchaus  (33  unter  40  Versen),  und  16 mal  verbinden  8ich 
beide  Einschnitte:  olvog  w  rp/if  nai  liytrat  1  xai  aXd&tu.  Horaz  würde, 
wenn  er  das  Maß  nachgebildet  hätte,  vermutlich  auch  hier  die  Tendenz 
zum  Gesetz  gemacht  haben. 

2)  W.  Meyer,  Cäsur  im  Hendecasyllabiis,  Sitzungsber.  d.  Müncii. 
Ak.   1889,  208. 

3)  In  den  fünf  Phalaeceen  der  Sappho  Berl.  Klassikertexte  V  2,. 
p.  16  nichts  von  dieser  Vorliebe;  dagegen  ist  dort  —  zufällig?  —  die- 
zweite  Hebung  regelmäßig  ein  MoncsjUabon,  also  wenn  man  will  Ein- 
schnitt nach  der  dritten  Silbe:  vgl.  unten  S.  84  zu  des  Alkaios  Neun- 
silblem. 


70,  4]  D^E   LYRISCHEN  VeRSE   DES  HORAZ.  35 

trochäisclier,  auf  jeden  13.  jambischer  Eingang;  Martial  hat 
in  seinen  2054  Hendecasyllahen  den  Spondeus  konsequent 
durchgefükrt. 

Den  katalektischen  ionischen  Tetrameter  hat  ein  alexan- 
drinischer  Poet  —  vielleicht  KaUimachos  —  durch  die  reich- 
liche Verwendung  von  Auflösung  und  uvdxkaöis  zum  auf- 
geregten Galliamhicum  gemacht;  aber  eben  dersellje  hat  wohl 
die  feste  Diärese  nach  dem  zweiten  Fuß  eingeführt,  die  die 
noXv^Qvlr]Tii  xaQuöeCyyiaxa  des  Hephaestion  aufweisen  (c.  i  2) 
und  die  Römer  durchweg  innehalten:  ein  gleichfalls  von  He- 
phaestion zitierter  Yers  des  Phrynichos  ignoriert  sie.  Die 
Vielgestaltigkeit  des  griechischen  Verses  haben  dann  die  Rö- 
mer normalisiert:  statt  des  regellosen  Wechsels  von  reinen 
und  anaklastischen  Dimetern,  wie  wir  ihn  bei  den  Griechen 
annehmen  müssen,  hat  Catull  so  gut  wie  ausschließlich  die 
anaklastische  Form  angewendet:  in  seinen  93  Galliambeu  sind 
nur  zwei,  auch  diese  vielleicht  falsch,  mit  reinen  lonikern 
überliefert  (63,  54;  60);  das  bedeutet  einen  Fortschritt  wohl 
noch  über  Varro  hinaus,  von  dessen  wenigen  (7)  überlieferten 
Galliamben  zwei  einen  reinen  lonikus  in  der  zweiten  Vershälfte 
geben.  Fast  zum  Gesetze  ist  auch  bei  Catull  Auflösung  der 
vorletzten  Hebung  geworden:  nur  fünf  Ausnahmen  liegen  vor. 

Diese  Beispiele  reichen  aus,  um  die  Tendenz  ins  Licht 
zu  stellen;  an  die  bekannten  analogen  Erscheinungen  in  der 
Geschichte  des  Hexameters  und  des  jambischen  Trimeters 
kann  ich  mich  begnügen  zu  erinnern.  Horaz  nun  hat  nichts 
getan,  als  in  derselben  Richtung  weitergehend  die  äolischeu 
Verse  so  zu  normalisieren,  wie  sie  seinem  Ohre  wohl  klangen. 
Ob  freilich  ein  Grieche  diesen  Schritt  getan  haben  würde,  ist 
fraglich.  Denn  wir  dürfen  nicht  vergessen:  die  besprochenen 
Verse  waren  nicht  eigentlich  Verse  aus  Liedstrophen,  sondern 
zumeist  stichisch  angewandte  Rezitationsverse.  Daß  dies  für 
die  Normalisierung  vor  allem  der  Cäsur  von  Bedeutung  ge- 
wesen ist,  kann  man  nicht  bezweifeln:  die  Analogie  der  alten 
Sprechverse,  des  Hexameters  und  des  jambischen  Trimeters, 
mußte  wirken,   auch  abgesehen  davon,  ob  wirklich  die  Rezi- 

3" 


36  HiciiAiu»  HniNzr.:  I/O,  4 

tatioii  rinr  Si>r('rli]i!iusc  nw  üusclit  odor  nötig  imichto.  Uoru7, 
hat  (Ion  ITntorschii'd  des  Lied-  von  dorn  Rezitationsv(M-ac  nicht 
i'nipfundrn,  oder  sagen  wir  lieber  seine  Oden  /unäcliBt  als 
spreclibar,  nicht  sangbar  konzipiert:  dann  war  der  Schritt, 
den  er  tat,  vorgezeiehuet,  nnd  es  bedurfte  keiner  'Theorie', 
die  ihn   /ur  niicht  machte. 

Im    Trin/ip    ist    (bimit    meine   Auffassung   gegeben;    aber 
es    ist    zu    den   einzelnen  Versen  noch   manches  zu  bemerken. 

A US nUir IUI 2:011  zu  Kapitel   I. 

I .  Zu  V  arros  Metrik. 
Das  einzige  wörtliche  Citat  aus  Varros  Ausführungen  über 
Ableitung  der  Metra  giebt  ims  Kuhn  (p.  556):  fd  in  extrcmum 
smarium    totidcm    semipcdihus   adicdis  fiel  comicus  quadrahis 
ut  hie:   'hcri  aliquot  adidescentuU  coinms  in  Piraeo  (Ter.  eun. 
539)'.    Dieselbe  Sache  berichtet  Diomedes  (p.  515)^)  folgender- 
maßen   (fr.  73W):  septenarimn   verswn    Varro  fieri  diät  hoc 
modo,  cum  ad  iamhicum  irisyllalus  pes  additur  et  fit  talc  'quid 
inmerentibus  noees,    quid   invides  amicis?'  similis  in  Tcrentio 
versus  est  'nam  si  remittcnt  quippiam  Thihmenac  dolores  (Hec. 
349)'  et  in  Flauto  saepiiis  tales  reperiuntur.  In  der  Form  weicht 
hier    alles  von    der  authentisch   als   varronisch  bezeugten   ab, 
die  Beispiele  sowohl  wie  die  Terminologie:  iamhicus  statt  sena- 
rius,  sejytenarim  statt  comicus  qnadrafus,  trisyllalvs  pes  statt 
tres  semipedcs.    Sollen  wir  annehmen,  daß  Varro  sich  zweimal 
über  die  Sache  geäußert  und  dabei  im  Ausdruck  so  stark  va- 
riiert habe?    Ich  glaube  nicht.    Die  V^endungen  similis  in  Te- 
rentio  versus  est  und  in  Plauto  saepius  tales  reperiuntur  rühren 
offenbar  von  einem   Grammatiker  her,  der  nur  eine  sehr  un- 
deutliche Vorstellung  von  der  Rolle  hatte,  die  der  jambische 
Septenar  in  der  Komödie  spielt.    Das  Beispiel  quid  inmeren- 

i)  Wörtlich  so   von  Rufin  sowohl  aus  Diomedes  (555,  5)  wie  ans 
Charisius  (ebd.  16)  zitiert,    also,    falls  Jeep    das  Verhältnis  der  beiden 
^richtig    auffaßt,   von  Diomedes    aus   Charisius    abgeschrieben;    doch  s. 
Götz  RE  V  828. 


yo,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  37 

ihm  noces,  quid  invides  amieis  mit  durchweg  reinen  Jamben 
treffen  wir  wieder  bei  Caesius  Bassus  266,  10  in  einem  Ab- 
schnitt, der  aller  Wahrschi'inlichkeit  nach  nicht  aus  Varro 
stammt:  s.  darüber  u.  S.  44.  Daß  schon  Van-ü,  wie  es  Diomedes 
an  unserer  Stelle  und  sonst  in  dem  Kapitel  de  versuum  generi- 
hus  regelmäßig  tut,  den  jambischen  Senar  kurzweg  als  ianibi- 
rns  bezeichnet  habe^),  ist  nicht  anzunehmen.  Der  Ausdruck 
sepfenorius,  den  schon  Cicero  kennt ^),  findet  sich  außer  bei 
Diomedes  {trochaicns  idem  sepfenarms  et  qtiadratus  507,  2^ 
ianibiciis  septenarius  518.  21)  meines  Wissens  nur  noch  bei  Ps.- 
Censorinus  613,  12;  schon  Caesius  Bassus  scheint  den  Namen 
vermieden  zu  haben;  Terentianus  gibt  beiden  Septenaren  über- 
haupt keine  Namen.  Und  da  der  Terminus  auch  in  dem  ver- 
mutlich auf  Varro  ^)  durch  Theomestus  zurückgehenden  Ab- 
schnitt über  die  Metra  der  römischen  Komiker  bei  Aptbonius 
78,  19 fg.  nicht  erscheint,  ist  es  immerhin  möglich,  daß  Varro 
ihn  aus  irgend  einem  Grunde  vermieden  hat.  Er  hat  den  jam- 
bischen Septenar  coniicus  quadratus  genannt  (liipponadeus  ium- 
hicus  quadratus  sagt  Caesius  Bassus  263,  17;  266,  8),  also  den 
Terminus  tsrQccfistQov  in  Übersetzung  beibehalten,  obwohl  er 
ja  den  Vers  gerade  nicht  in  vier  metra  zerlegte  und  außerdem 
mit  seiner  Terminologie  einen  Unterschied  des  katalektischen 
quadratus  vom  akatalektischen,   dem  Oktonar,  gar  nicht  aus- 


i)  Bei  deD  griecliischen  Metrikern  steht  la^ßiKov  ybirgov  für  den 
Trimeter  soviel  ich  sehe  auch  erst  in  später  Zeit;  so  in  Hörschel- 
manns 'Lehrbuch  der  Metrik',  Heph.  p.  280,  4fg. ;  309,  23  fg.  Der  gleiche 
Terminus  im  Bericht  des  Diomedes  515,9  über  den  Octonar  (fr.  75  W.): 
octonarius  est,  ut  Varro  dicit,  cum  duo  iamhi  pedes  iamhico  metro  prae- 
ponuntur,  et  fit  versus  talis  Spater  meus  dicens  docendo  qui  docet  dicit 
docens'.  Das  sinnlose  Beispiel  des  Senars,  der  hier  durch  pater  mens 
erweitert  wird,  wollte  wohl  durch  den  Wechsel  von  die-  und  doc-  die 
verschiedene  Behandlung  der  Senkungen  recht  eindringlich  macheu; 
dann  stammt  es  also  aus  einer  Darstellung  des  griechischen  Trimetera. 
Ob  Varro  das  Beispiel  erfunden  hat,  ist  (trotz  1.  1.  VI  C2)  ganz  un- 
sicher. 

2)  Tusc.  I  106. 

3)  Vgl.  CoNSBRucH  a.  a.  0.  in,  2. 


38  Rh  iiAKi)  IFkinzk:  (70,  4 

drücken  konnte.')  \h-v  (it^fronpatz  aber  zu  rowicus  quachaius 
ist,  wio  Aptlionius  134,  3- tf*)  lehrt,  ini[/irus  (iiifulrafus,  d.i. 
der  trocliäi.sche  Scptenar;  und  daß  Varro  von  dießeni  unmittelbar 
vorher  gesprochen  hatte,  ergibt  sich,  wie  Wk.stimial'*)  sah, 
aus  totidrni  srmipcdihus:  also  etwa  cum  trcs  snnipedrs  ad  smn- 
rii  princitiiio»  udicinninr  fiel  tragicus  qiiadrahis  ul  hie:  conqncri 
fortunam  advcrsam,  non  Inwottari  dcrct.  Man  sieht,  daß  schon 
um  des  Parallelismus  der  (idirdiones  willen  Varro  nicht  statt 
fress€)>ii})cdfs  mit  Diomedes  507,  27  l)eim  trochäischen  Sept.  vom 
amphimacrus,  beim  jambischen  mit  Apthon.  135,  16  vom  anti- 
bncclius  sprechen  konnte;  aber  auch  trisyllnlms  pes,  wie  das 
Referat  des  Diomedes.  hätte  Varro  schwerlich  gesagt:  die  ad- 
iectio  isi  oifeubar  für  ihn  kein  Anstücken  eines  beliebigen  Fußes, 
sondern  ein  Wachsen  des  Verses  nach  oben  oder  unten,  wobei 
die  Füße  sich  nicht  ändern,  nur  vermehren.  —  Das  ganze 
Referat  des  Diomedes  zeigt,  verglichen  mit  dem  authentischen 
Zitat,  wie  wenig  Verlaß  in  terminologischen  Fragen  auf  solche 
Berichte  ist:  ich  werde  mich  im  folgenden  dabei  nicht  auf- 
halten, sondern  nur  auf  die  Sachen  eingehen. 

Korrespondierende  Paare  von  Metren  scheint  Varro  auch 
sonst  zusammengestellt  zu  haben.  Diomedes  .sagt  51,5,  14  vom 
daktylischen  Trimeter  hoc  Varro  oh  Ärchüocho  auctum  dicit 
adhmctü,  sylhiha  et  factum  tale  ^omnipotente  parente  med':  be- 
merkenswert ist  hierbei,  daß  Varro  das  Hephthemimeres  nicht 
einfach  durch  detractio  der  letzten  sieben  Silben  des  Hexameters 
entstehen  läßt,  sondern  vom  akatalektischen  Trimeter  ausgeht, 
dem  Archilochus  eine  Silbe  (vielmehr  wohl:  einen  semipes)  zu- 
gefügt habe;  den  Trimeter  selbst  wird  er,  wie  Diomedes,  ex 

i)  comieum  tetrametrum  cntalecticum  heißt  der  jambische  Septe- 
nar  (innerhalb  anderer  jambischen  Metra,  so  daß  das  Fehlen  von  iam- 
bicum  nicht  auffällt)  bei  Sacerdos  524,  10. 

2)  in  comicis  .  .  nee  mutantur  pedes,  ut  in  tragico  quadrato,  ideo 
quod  non  sesquipes  aliquis,  id  est  trisyllabus,  antepxynitur  trimetro  .  .  ita- 
que  ut  versus  tragicus  anteposito  sesquipede  ex  trimetro  fit  tetranietrus, 
ita  comicus  apposito  sesquipede  in  ultima  sede  versus  adaeque  trimetri 
reddetur  tetranietrus. 

3)  Metr.  d.  Gr.  P  [72. 


70, 4]  Die  lyrischen  Verse  des  Hoiiat:.  39 

saper iore i)arte  hcxametri  (5 1 2,  4)  abgeleitet  haben.  Das  Gegen- 
stück nun  zu  diesem  Maße  folgt  bei  Diomedes  sogleich:  Ärchi- 
lodiium  Vcuro  aliud  (illud  Hss.)  dicit  quod  est  tale  'ex  litorihus 
properantes  navihus  recedunt\  also  'Egaö^ovCöri  Xagilut  iQfiiid 
TOI  ysXoiov:  das  erste  Komma  hiervon  ist,  wie  Varro  gesagt 
haben  wird  (Diomedes  gibt  nur  das  Musterbeispiel  Troiae  qui 
primus  ab  oris),  trimeter  ex  inferiore  parte  hexametri,  cui  Ärchi- 
lochus  unum  semipedem  praeposuit.  Und  der  gleichen  gegen- 
sätzlichen Paarung  begegnen  wir  sogleich  beim  Dimeter,  so 
daß  wir  mit  ziemlicher  Sicherheit  auch  hier  Varro  als  Quelle 
nnnehmen  können:  dimetrum  quod  est  ex  superiore  parte  hexa- 
metri Ärchilochus  una  syllaha  auxit  et  fecit  tale  'vuU  tibi  Titno- 
'iees'  (Timocles  Hss.),  sodann  dimetrum  et  illud  quod  est  ex  infe- 
riore parte  hexametri  Ärchilochus  auxit  praeposita  una  syllaba, 
immo  duabus  quae  pro  una  sunt  et  semipedem  faciunt,  et  est  tale 
*nova  munera  divum' :  statt  una  syllaba  wird  auch  hier  in 
beiden  Fällen  unus  semipes  das  Originale  sein.  Man  sieht  also, 
Varro  hat  den  Hexameter  nicht  in  beliebige  Stücke  zerreißen 
lassen,  sondern  seiner  Übersicht  der  Metra,  ganz  wie  die  '^alexan- 
drinische'  Metrik,  die  soz.  normalen  Bildungen  des  Dimeters, 
Trimeters  usw.  zu  Grunde  gelegt;  statt  aber  dann  mit  der  Kata- 
lexe slg  öiGvXkaßov  oder  slg  övXXaßrjV  zu  operieren,  hat  er 
einesteils  neben  den  xd^/iaTo;  ccQKrixd  des  Hexameters  die  relLzd 
als  Metra  gelten  lassen  —  diese  Termini  gibt  uns  nur  Apthon. 
74,  8 ff.:  sie  beweisen,  was  kaum  des  Beweises  bedürfte,  daß 
die  Methode  nicht  von  Varro  erfunden  ist  — ,  andererseits  mit  der 
Erweiterung  dieser  Metra  nach  unten  oder  oben  durch  je  einen 
Halbfuß  operiert.  Die  varronische  Übersicht  dürfen  wir  uns  also 
ganz  ähnlich  augelegt  denken  wie  die  des  Diomedes  506,  15 ff.: 
wenn  dies  Kapitel  beginnt  versuum  genera  praecipua  sunt  quin- 
que,  aut  enim  dimetri  sunt  aut  trimetri  aut  tetrametri  aut  penta- 
metri  aut  hexametri,  so  ist  das  nichts  anderes  als  die  Bestim- 
mung bei  Apthon.  55,  12  incipit  (versus)  a  dimetro  et  p^'ocedit 
usque  ad  hexametrum,  deren  varronischen  Ursprung  ich  oben 
S.  1 7  fg.  vertreten  habe.  Die  Anordnung  der  dann  bei  Diomedes 
folgenden  jamb.  und  troch.  Maße  wird  nicht  auf  Varro  zurück- 


41)  IxK'iiAiU)  TlinN/.K:  1 71',  I 

gc'lien.  Dioinedes  h.uulelt  vom  jiiniU.  'rriinctcr  ((V)nicus  imd 
lrn()icus),S]ii\7.o\\  imd  (\)l()bus,  sodaiiii  von  den  dioi  entspreclieu- 
deu,  durch  Vorschub  eines  aiH2>hini(icnis  entstandenen  trochä- 
iscben  Maßen  Septenar,  Ska/on  und  Cob)bu8.  Bei  Varro  war, 
wie  wir  sahen,  mit  dem  tioeb.  der  jainb.  Septi'uar  verbunden, 
und  so  vermutlieh  als  korresj)oudierendes  Paar  Trimeter  xo/lo- 
fiög  und  a/Jcpakoi:  Dioniedes'  Fassung  511,  12  Archüoclms  iia 
nirfra  co)isrcuif  ut  et  \i)riniani  sullabamy^)  iamhico  dcfrah^ret 
mag  auf  diesen  ursprünglichen  Zusammenhang  noeh  hindeuten. 
Von  kleineren  jambischen  Gliedern  hat  Varro  den  akatal. 
Dimeter,  ohne  ihn  zu  benennen,  uuter  den  clausuhie")  aufgeführt 
(Kufin  556,  7  fr.  67  W.),  ilen  katal.  Dimeter,  nach  Diomedes'  Be- 
richt^), aus  dem  Seuar  hergeleitet:  die  Terminologie  und  Ausfüh- 
rung dürfen  wir  auch  hier  nicht  als  varrouisch  in  Anspruch  neh- 
men"*), aber  dem  Diomedes  doch  soviel  glauben,  daß  Yarro  hier 


1)  Die  beideu  in  den  alten  Hss.  fehlenden  Worte  werden  sonst 
•  nach  detraheret  eingeschoben. 

2'i  Varro  in  xepUmo:  Clausula f^  quoqtie  priiiium  oppellatas  dicvntf 
quod  daudcrent  f^entevtiam ,  ut  apud  Aecium  'an  haec  iam  obliti  sunt 
Bruges?^  nonnumquam  ab  his  initmm  fit,  ut  apud  Caecilium  'di  boni, 
quid  lioc?\  apud  Terentium  'diserucior  aitimi''..  Man  sieht,  Varro  hat 
den  Terminus  clausula  für  y.(aldQiov  nicht  'eingeführt',  wie  Leo  Syst. 
291  behauptet,  sondern  vorgefunden;  dieser  würde  also  für  die  Bezie- 
hungen der  varrouischeu  Metrik  zur  Rhetorik  nichts  beweisen,  selbst 
wenn  sein  Ursprung  aus  der  Rhetorik  feststünde.  Aber  es  bedurfte 
des  Umwegs  über  die  Rhetorik  gar  nicht,  um  für  die  kurzen  Jtraia,  die 
ja  wirklich  z.  B.  bei  Terenz  (Baese,  de  canticis  Terentiauis,  Diss.  Hai. 
1903,  p.  32  sqq.)  eine  Sinnesperiode  sehr  viel  öfter  abschließen  als  er- 
öffnen, die  Bezeichnung  clausula  zu  erfinden. 

3)  518,  14  <^exy  iambico  novum  Carmen  refert  Varro  (fr.  72'W.)r 
hier  ist  novum  (ganz  anders  514,  6)  ebenso  auffällig  wie  Carmen  für 
mefruvi  oder  comma,  wie  endlich  refert  mit  dem  bloßen  Nominalobjekt. 
Es  wird  also  eine  schwere  Verderbnis  vorliegen;  aber  die  Sache  ist 
durch  das  folgende  gesichert. 

4)  si  addas  hie  quae  detracta  sunt  ex  iambico,  eundem  iambicum 
supplebis  sie:  vgl.  aus  dem  Abschnitt  über  die  Horazmetra  si  reddas  ei 
principia,  supplebis  iambicum  sie  510,  24,  si  haec  verba  'iam  salis  terris^ 
suppleas,  facies  integrum  trochaicum  sie  508,  25;  supplebis  hexametrum 
sie  510,  9;  zum  folgenden  potest  tale  esse  quäle  illud  vgl.  510,  15.  20  etc. 


70,4]  DiK    LYUISOHKN  VerSE   DES   HORAZ.  4I 

nicht,  wie  mau  es  vielleicht  nach  den  vorliin  besprochenen  Proben 
erwarten  könnte,  vom  akatal.  jambischen  Dimeter  ausgehend 
diesen  um  eine  Silbe  hat  verkürzen  lassen,  sondern  den  katal. 
Dimeter  unmittelbar  als  Komma  des  Senars  bezeichnet  hat.*) 
Dazu  würde  es  stimmen,  daß  nach  Dioraedes  511,29  Arclü- 
lochiis  etiam  de  iamho  coloho  fecit  comma  tale  'huc  ades  Lyaee' \ 
auch  dies  wird,  wie  so  viel  Ärchilochisches  bei  Diomedes,  auf 
Varro  zurückgehen,  der  dann  also  den  Ithyphallicus  nicht,  wie 
Caesius  Bassus  266,  11,  als  einen  um  die  Anfangssilbe  ver- 
kürzten katal.  Dim.  aufgefaßt,  sondern  unmittelbar  ex  colobi 
parte  inferiore  abgeleitet  hat:  aus  diesem,  nicht  aus  dem  Septe- 
nar,  mit  guter  Überlegung,  da  Archilochus,  der  Erfinder  des 
Ithyphallicus,  den  Septenar  noch  nicht  kannte.  Der  Unter- 
schied in  der  Methode  der  Derivation  wird  darauf  zurückzu- 
führen sein,  daß  die  besprochenen  Koka^ia  an  Umfang  unter 
einem  Dimeter.  dem  kleinsten  metnim  und  versus,  stehen,  also 
auch  nicht  mehr  als  Variationen  eines  solchen  gelten  können. 

Das  einzige  Beispiel  der  Entstehung  eines  Verses  durch 
concinnatio,  das  für  Varro  sicher  steht,  ist  der  oben  erwähnte 
archilochische  Asynartet  ex  Jitorihus  properantes  fiavibns  rece- 
dunt:  hier  nahm  ja  auch  die  alexandrinische  Theorie  Zusammen- 
setzung aus  zvv-ei  Kolis  au,  und  wenn  Hephaestion  das  erste  als 
anapästisches  Hephthemimeres  bezeichnete,  Varro  als  dakty- 
lischen Trimeter  mit  vorgeschobenem  Halbfuß,  so  lief  auch  das 
im  Grunde  auf  eins  hinaus. 

Sehr  fraglich  dagegen  ist,  ob  Varro  die  Vorzugsform  des 
Saturnius  dahunt  malum  Metelli  Naevio  poetae  als  Zusammen- 
setzung aus  der  zweiten  Hälfte  des  jambischen  Septenars  und 
dem  Ithyphallicum  erklärt  hat,  wie  es  Caesius  Bassus  266 
tut.    Leo  meint,  das  bewiesen  zu  haben  (Sat.  Vers  9,  vgl.  2  4  2): 

O  Währeud  z.  B.  Terentianus  Manrus  den  dimetrus  acephalus  (troch 
katal.)  und  den  claudns  i'jamb.  katal.)  parallelisiert  2458  fg. 

2)  Leo  (und  ihm  folgend  Wissowa,  Geuethliacon  für  C.  Robert  [Berl. 
1910]  59)  sieht  außerdem  in  Varro  denjenigen  Gelehrten,  gegen  den 
Bassus  im  Eingang  polemisiere :  de  saturnio  versu  dicendum  est,  quem 
uostri  cxistimaverunt  proprium  esse  Italicae  reyionis,  sed  falluntur.    Dann 


42  Richard  Hkin/e:  [70,  4 

ich  meiue,  es  läßt  sich  nicht  oiunuil  soviel  beweisen,  daß  Varro 
ül)erhaiipt  eine  metrische  Erklärung  des  Saturniers  gegeben 
habe:  wir  sind  über  die  metrische  Literatur  zwischen  Varro 
und  Caesius  und  über  Caesius' eigne  Studien  viel  zu  wenig  unter- 
richtet, um  mit  Leo  schh'clitweg  l)ehaupten  zu  können,  daß 
Caesius  das  Material  von  Suturniern,  mit  dem  er  operiert,  nur 
bei  Varro  gefunden  haben  könne;  uud  daß  das  Beispiel  des 
Septeuars,  das  Caesius  anfuhrt,  auch  in  Diomedes'  Bericht  über 
Varros  Herleitung  dieses  Verses  auftritt,  beweist  nichts.  Cae- 
sius —  oder  sein  Gewälirsraann  —  luit  in  seinem  Handbuch 
griechischer  Metrik  nach  Vorbildern  des  Saturniers  Umschau 
gehalten  und  ist  dabei  mit  gutem  Blick  auf  die  ccövvdQTijza  und 
7CoXv6ii}liöiti6xa^)  verfallen:  daß  die  beiden  Hälften  des  Satur 
niers  den  zwei  Kommata  eines  a6x'väQtr]xov^  nicht  denen  etwa 
eines  Hexameters  entsprachen,  sagte  ihm,  wenn  nicht  sein  Ohr, 

würde  man  um  so  weniger  glauben,  daß  derselbe  Varro  den  alteinhei- 
misch-italischen Saturnier  aus  griechischen  Versen  abgeleitet  habe. 
Aber  jenen  Eiugangssatz  haben  die  antiken  Benutzer  des  Caesius  schon 
richtiger  verstanden :  quem  credidit  vetustas  tamqiKtm  Italis  repcrtum 
Saturniuin  vocandum  Ter.  Maur.  2500 ;  cui  prisca  apud  Latium  actus 
tamquam  italo  et  indigenae  saturnio  sive  faunio  nomen  dedit,  sed  fallun- 
iur  Mar.  Vict.  138,  32fg.  Die  nostri  sind  nicht  Gelehrte,  sondern  die 
Alten,  die  den  Namen  Saturnius  aufgebracht  haben:  was  natürlich  auch 
Caesius  nicht  der  Zeit  Varros  zuschrieb,  f Gegen  die  Deutung  des  Na- 
mens polemisiert  wohl  bereits  latent  der  Gewährsmann  des  Diomcdes 
512,  18  Saturnium  in  honorem  dei  Naerius  invenit  addita  una  sylldba 
ad  iambicum  versuni:  daß  hier  nicht  Livius  als  tvQsrrjg  genannt  wird, 
braucht  nicht  Ignoranz  zu  sein,  vgl.  Sueton-Hieron.  z.  J.  187  v.  Chr.) 
Varros  eigne  Äußerung  de  1.  1.  VII  36  hos  (seil.  Faunos)  versibtis  quos 
vocant  Saturnios  in  silvestrihus  locis  traditum  est  solitos  fari,  n  quo 
fando  Faunos  dictos,  auf  die  sich  Lko  beruft,  steht  offensichtlich  me- 
trischer Theorie  ganz  fern:  sie  parajjhrasiert  ja  nur  des  Ennius  Vers 
versihus  quos  olim  Fauni  vatesque  cancbant,  von  dem  Varro  wußte,  daß 
er  sich  gegen  Naevius  richtete:  daher  der  Zusatz  Satiirnios. 

i)  a  Graecis  carie  et  multis  modis  tractatus  est  meint  doch  wohl 

eben  dies:  freilich  wird  der  Begriff  ausgedehnt,  wenn  Eupolideum,  Archi- 

locheum  und  Euripideum  als  cxriy-octa  {generaj  eines  und  desselben  Verses 

erscheinen;  aber  angesichts  etwa  der  von  Hephaestion  zitierten  polysche- 

.matistischen  Glykoneen  der  Korinna  konnte  das  als  zulässig  erscheinen. 


I 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  43 

so  das  häufige  Zusammentreffen  zweier  Hebungen  oder  zweier 
Senkungen  in  der  Versmitte.  Saturnier  freilich,  die  sich  in 
beiden  Hälften  mit  den  im  Handbuch  zitierten  griechischen 
Versen  deckten,  mag  er  nicht  gefunden  haben  (wie  sie  sich 
denn  wenigstens  unter  den  uns  erhaltenen  nicht  finden);  so  mußte 
er  sich  darauf  beschränken,  die  griechischen  Verse  zu  zitieren 
—  vielleicht  ursprünglich  im  Original,  das  dann  erst  Caesius 
durch  lateinische  Verse  ersetzt  hat^)  (jedenfalls  sind  sie  jünger 
als  Horaz  und  Vergil).  Gerade  diejenige  Form  des  Saturniers 
aber,  die  durch  häufige  Wiederkehr  sich  besonders  auszeichnete, 
nämlich  Verbindung  von  jambischem  und  trochäischem  Kolon, 
ließ  sich  bei  den  Griechen  nur  dadurch  belegen,  daß  man  des 
Archilochus  'EQaöfiovCdrj  XagCXas  als  jambisch  auffaßte  (wozu 
die  Nebenform  'E^aöfiovCdr}  Bd%-nin£  immerhin  ein  gewisses 
Recht  zu  geben  schien):  dann  konnte  nicht  nur  duello  magno 
dimendo  (was  sich  noch  daktylisch  messen  ließ)  sondern  auch 
fimdit  fugat  prosternit  als  identisch  passieren.  Dem  Caesius  nun 
gilt  diese  Form  schon  so  sehr  als  die  eigentlich  normale,  daß 
er  nur  für  sie  die  metrische  Erklärung  giebt;  und  um  diese 
vorzubereiten,  hält  er  es  für  nötig,  als  versus  optimus  den  ganz 
rein  gebauten  Metellervers  hervorzuheben^),  bei  dem  kein  Zweifel 


i)  WissowAs  Behauptung,  daß  Caesius  diese  lateinischen  Verse 
bereits  vorgefunden  habe,  gründet  sich  darauf,  daß  er  die  Theorie,  um 
deren  willen  sie  zitiert  werden,  verwerfe.  Das  halte  ich  nicht  für  richtig: 
der  in  voriger  Anm.  zitierte  Satz  erkennt  die  Theorie  ja  unumwunden 
an,  und  in  der  folgenden  Auseinandersetzung  widerspricht  ihr  nichts. 

2)  Daß  aber,  wie  Wissowa  zu  beweisen  sucht,  Caesius  diesen  Vers 
gelbst  nebst  seinem  angeblichen  Ursprung  erfunden  haben  sollte,  vermag 
ich  so  wenig  wie  Marx  (Ber.  d.  Sachs.  Ges.  d.  W.  191 1,  66 fg.)  zu  glau- 
ben. Die  Gepflogenheit  der  Metriker,  'die  besprochenen  Versmaße  mit 
fingierten  Musterbeispielen  zu  belegen'  steht  doch  auf  ganz  anderem 
Brett:  diese  Beispiele  beanspruchen  gar  nicht  etwas  anderes  zu  sein 
als  Veranschaulichungen  des  Schemas;  dagegen  optimus  est  quem  Me- 
telli  proposuerunt  de  Naevio  aliquotiens  ab  eo  vernu  lacessiti  wäre  bei 
WissowAs  Annahme  eine  glatte  Lüge,  und  ich  sehe  i.icht,  was  uns  be- 
rechtigte, dem  Caesius  eine  solche  zuzutrauen.  Das  Beispiel  soll  'viel 
zu  musterhaft  sein,  um  echt  zu  sein':  musterhaft  in  Caesius'  Sinne  ist 
nur  der  rein  jambiach-trochäische   Bau;  daß  er  aber  bei  seiner  Erfin- 


44 


HiLiiAKu  Hkinze:  I70, 1 


über  die  metrische  Struktur  cbwaltcu  kaun.  Die  Zuspitzung 
aufjeue  Normalform  tritt  noch  deutlicher  als  bei  Caesius  bei 
dem  Gowährsmanu  des  Diomedes  hervor,  der  (vgl.  ob.  S.  2  i)  den 
Saturnier  schlankweg  als  Senar  +  eiue  Silbe  definiert,  also  sowohl 
die  Nebenformen  wie  überhaupt  das  Prinzip  der  Dikolie  igno- 
riert (512,  18):  das  ist  die  gleiche  gro1)e  Hand,  die  den  archi- 
lochischeu  Asynarteteu  >iolrihtr  acrif^  hious  usw.  als  Hexameter 
mit  eingefügter  Silbe  erklärte  (509,  29),  wogegen  Caesius  (s. 
ob.  S.  23)  polemisiert.  Dann  ist  also  auch  jene  Vereinfachung 
des  Saturuierproblems  älter  als  Caesius,  und  dieser  ver))essert 
mit  Hilfe  noch  älterer,  wenn  nicht  eigener  Forschung  seinen 
Vorcräußfer,  ohne  sich  aber  ganz  von  dessen  Tendenz  freizu- 
machen.  Ob  nun  jene  Forschung,  der  die  Parallele  zwischen 
Saturnier  und  griechischen  Versen,  ferner  die  Hervorhebung 
der  einen  jambisch-trochäischeu  Form  und  ihre  metrische  Be- 
stimmung zufällt,  VaiTO  oder  einem  seiner  Nachfolger  zuzu- 
schreiben ist,  wird  sich  niemals  entscheiden  lassen:  gegen  Varro 
spricht,  daß  dieser  sich  für  den  daktylischen  Charakter  von 
'EQa6noviöi]  XagUat  ausgesprochen  hatte  (s.  ob.  S.  39),  und 
also  wenigstens  in  ein  und  derselben  Schrift  schwerlicl]  eine 
andere  Auffassung  vertreten  hat.  Weniger  Gewicht  lege  ich 
darauf,  daß  Caesius'  Definitionen  des  katalekt.  jambischen 
Dimeters  und  des  Ithyphallicus,  wie  es  scheint,  nicht  die 
varronischen  sind  (s.  ob.  S.  41):  das  berührt  den  Kern  der 
Sache  nicht. 

Daß  Varros  Metrik  in  erheblich  größerem  Umfange,  als 
wir  es  nachweisen  können,  von  der  concinnatio  Gebrauch  ge- 
macht habe,  wäre  sicher,  wenn  er  es  war,  der  die  vier  Prinzi- 
pien der  Derivation,  adiectio,  detractio,  concinnatio,  permutatio, 
festlegte.     Der  varronische   Ursprung    dieser  Tetras    gilt  als 


düng  zufällig  auch  die  Diäresen  nach  der  zweiten  Hebung  beider  Kola, 
die  in  den  früher  gegebenen  lateinischen  Übersetzungen  ganz  vernach- 
läsdgt  sind,  eingeführt  haben  sollte,  wäre  ein  merkwürdiger  Zufall. 
Der  Zusatz  über  die  Herkunft  soll  den  Verdacht  verstärken:  aber  er 
ersetzt  doch  lediglich  das  Zitat  ex  BegilH  tabula  oder  apad  Naevium 
poetam. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  '  45 

Axiom  ^),  seitdem  Kiessling  kurz  gesagt  hat  'wer  Varros  Vor- 
liebe für    viergiiedrige   Dispositionen    und    Schematisieruugeii 
kennt,  wird  hierin  unschwer  seine  Hand  spüren  (Horaz  P  S.  3)'. 
Der  Beweis  scheint  mir  nicht  zwingend,  die  Annahme  selbst 
nicht  ohne  Bedenken.     Unser  cältester  Gewährsmann  für  die 
Lehre  ist  Caesius  Bassus,  der  271,5  sagt,  alle  etwa  neu  er- 
fundene Metra  würde  man  auf  die  von  ihm  aufgezählten  zurück- 
führen können,  cum  omnia  metra  varieatiir  aut  adiectione  aut 
detractione  aut  concinnatione  aut  permutatione ;  esse  et  alias  spe- 
cies  non  vjnoro,  sed  hae  sunt  praestantissimae.    Es  folgen  Bei- 
spiele horazischer  Metra,  eines  für  jede  Kategorie.    Man  sieht, 
Caesius   übernimmt  die   Verantwortung  für  die  Auswahl   der 
vier  aus  einer  größeren  Zahl;  ich  würde  daraus  allein  noch 
nicht  folgern,  daß  er  selbst  diese  Auswahl  getroffen  hat:  aber 
es  ist  doch  bemerkenswert,  daß,  wo  immer  uns  bei  späteren 
Metrikern  die  Tetras  begegnet,  unsere  Caesiusstelle  die  Quelle 
ist.^)    Und  dafür,  daß    sie  Quelle  im   strengen  Sinne  ist,  läßt 
sich  einiges  anführen.    Prüft  man  die  Tetras  selbst,  so  leuchtet 
«in,  daß  gerade  durch  die  conciunatio  eine  vorher  bestehende 
Trias  erweitert  worden  ist:  das  hat  Leo  richtig  gesagt,  nur 
hätte  er  diese  Trias  nicht  aus  der  Rhetorik  herleiten  dürfen.') 

i)  Mindestens  in  dem  Sinne,  daß  Varro  sie  in  Rom  eingeführt 
habe;  Usener,  Ein  altes  Lehrgebilude  der  Philologie  (Münch.  Sitzungsber. 
1892)  S.  61 2 fg.  schreibt  die  Erfindung  dem  Tyrannion  zu,  auf  den  er 
die  varronischen  Tetraden  zumeist  zurückführt. 

2)  Atil.  Fort.  294,  10;  Apth.  52,  19;  100,  8. 

3)  Leo  scheint  davon  selbst  abgekommen  zu  sein:  Ox.  496  fg. 
sieht  er  einen  Unterschied  der  griechi.schen  Form  der  Theorie  von  der 
varronischen  darin,  daß  jene  nur  mit  zwei  Kategorien  der  Versbildung, 
srgog'O'jfMT]  und  acpaiQsaig  operiere.  Aber  der  Anfang  von  col.  III,  aus 
dem  er  dies  schließt  ( —  TtacpvMtav  yslvead'ai  xcctä  TtQos&T]xrtV  kccI  hutcc 
ucpaLQSßiv  ovvco  Sr]lov6Tt.  yal  Ttoai  xat  6j^ijiic^.6i  rotg  avrotg  aa(p6v£QU 
XQfjtui)  bezieht  sich  doch  offenbar  nur  auf  die  zwei  bestimmten  Verse, 
die  ün'  aXXijXcov,  meine. ich,  entstehen,  wenn  mau  dem  einen  etwas 
wegnimmt,  dem  andern  etwas  zufügt  (vgl.  z,  B.  Apthonius  vom  Hexa- 
meter und  Archebuleus  ex  se  per  adiectionem  detractionemque  parantur 

126,  4;    eviißuivBi  ovv  Kccrä  rag  JtQoaO'Eßiig  ^  äcpaiQ^CEig  rdSs  —  näm- 
lich Jamben  und  Trochäen  —  aUi]Xoig  inntXiv.B6%-(xt,  schol.  Heph.  258  C): 


46  Richard  Heinzk:  [7^^,  4 

Vielmehr  findet  sie  sich  bereits,  worauf  CoNSHiacii  hingewiesen 
hat'),  iu  der  alexandriiiischen  Metrik:  Hephaestion  (p.  77 C.) 
läßt  die  Ovyyh'eiu  eines  Metrums  mit  einem  anderen  entstehen 
XÄtd  a(fc(i'Qe6n>^  xatä  nQÖöi^soiv,  y.axä  [.isTad^eöiv,  •/..  B.  durch 
Wegnahme  der  ersten  iSilbe  entsteht  aus  dem  daxToAtxdv  das 
ava':iai6xiv.6v^  durch  Umstellen  aus  dem  x^oyaXy.6v  das  loiVLxbväjtb 
pf/^ofoj.  Den  Übergang  dieser  Lehre  zur  Derivationstheorie  zeigt 
iiufs  sehöustf  Apthonius  (d.  i.  nach  Schultz  Diss.  S.  16  Theo- 
Miet^tus)  in  der  über  Archilochos  handelnden  Einleitung  zum 
IV.  Buch:  Archilochos  hat  zunächst  aus  dem  dactylicum  durch 
adiectioncs,  detractümes  und  iranslationes  die  übrigen  Rhythmen, 
<ien  jambischen,  trochäischeu,  anapästischeu  gebildet;  dann  erst 
aus  den  Versen  per  incisionem  singulorum  atquc  coniunctioneni 
pleraque  ntetrorum  genera  commentus  est  (141,  12  fg.).  Die 
alexaudrinisehe  Metrik  ihrerseits  hat  sich  aber  natürlich  mit 
ihren  Kategorien  an  die  Grammatik  angelehnt:  Aristophanes 
und  Apollodor,  sagt  Varro  de  1.  1.  VI  2,  verba  ex  verhis  ita 
declinari  scribunt,  ut  verha  litteras  alia  assumant,  alia  mutant, 
alia  commident:  da  steht  also  nur  an  Stelle  der  fiEtu&söis  die 
tiXXolaöLg.  Und  wenn  Varro  die  metrische  Trias  durch  eine 
Tetras  ersetzt  hat,  so  würde  man  erwarten,  daß  es  adiectio,  de- 
tractio,  permutatio,  und  commuUdio  gewesen  sei,  entsprechend 
seiner  Vierzahl  der  Ursachen  der  Etymologie  de  1.  1.  V  6:  wäre 
doch  eine  der  ältesten  lariaiiones,  die  Erfindung  des  Skazon^ 
ein  treffliches  Beispiel  für  coinmutatio.  Mau  sieht,  die  concimia- 
tio  ist  in  diesem  Kreise  ein  Fremdling  oder  Spätling;  und  in 
der  Tat  kann  von  variari  eines  Metrums  nur  mit  sehr  zweifel- 
haftem Recht  gesprochen  werden,  wenn  die  abgeschnittenen 
Stücke  zweier  Metra  zu  einem  neuen  dritten  vereinigt  werden. 
Auf  der  verhältnismäßig  primitiven  Stufe  der  Variation stheorie^ 
die  ich  Varro  zuschreibe,  ist  mir  die  Gleichsetzung  dieser  vier- 
ten Kategorie  mit  den  drei  ersten  nicht  wahrscheinlich;  sehr 

Ton  einer  Beschränkung  auf  diese  beiden  Kategorien  ist  nicht  die  Rede^ 
and  wenn  im  folgenden  keine  asräQ^saig  vorkommt,  eo  besagt  das  bei 
dem  fragmentarischen  Zustande  de&  Buchs  nichts. 
1]  a.  a.  0.  (ob.  S.  3,  3)  92. 


70,  4]  Die  lyrischek  Verse  des  Horaz,  47 

viel  wahrscheinlicher  für  Caesius,  der  so  viel  wir  sehen  al& 
erster  von  der  concinnafio  einen  sehr  weitgehenden  Gebrauch 
auch  für  solche  Metra  gemacht  hat,  die  bis  dahin  als  einheit- 
liche gegolten  hatten.  Aber  ich  räume  gern  ein,  daß  er  die 
Vierzahl  bei  dem  Vorgänger  gefunden  haben  kann,  gegen  den. 
er  sonst  gelegentlich  polemisiert.^) 

2.  Zur  Analyse  des  Caesius  Bassus. 

Oaesius  Bassus  erklärt,  das  Buch  de  metris,  dessen  letzten 
Teil  wir  besitzen,  et  paucis  diehus  et  memoria  tanfum  modo 
adiuvante  geschrieben  zu  haben,  also,  wie  er  vermutlich  im 
Prooemium  gesagt  hat,  fern  von  seinen  Büchern,  nicht  in  der 
Situation,  in  der  ihn  sich  Persius  denkt:  admovit  iam  hrmna 
foco  te  Basse  Sahino?  (6,  7),  sondern  etwa  irgendwo  auf  Reisen, 
vielleicht  auf  Wunsch  Neros,  dem  das  Buch  gewidmet  war.    In 


i)  Auffallend  ist  ja,  daß  er  als  Beispiel  für  die  adiectio  den  Vers 
solvitur  acris  Meni)^  usw.  bringt,  dessen  Auffassung  als  Hexameter  -f  einer 
Silbe  er  kurz  vorher  (268,  27)  abgelehnt  hatte.  Spiko  und  Schultz 
(Diss.  p.  6,  I ;  zustimmend  Keil  in  der  Sonderausgabe  des  Caes.  und 
Atil.  Fort.,  Hallenser  Progr.  1885  S.  VI)  hatten  daraus  geschlossen,  daß 
der  ganze  Passus,  der  die  Beispiele  enthält  (271,  7 — 22)  aus  Atilius 
Fortunatianus  interpoliert  sei,  wo  er  (294,  11)  fast  wörtlich  wiederkehrt; 
aber  es  ist  an  sich  unwahrscheinlich,  daß  Caesius  keine  Beispiele  ge- 
geben habe,  und  die  geringfügigen  Abweichungen  selbst  —  z.  B.  daß  cae- 
sura  (^Atil.  =  --töfifio:)  bei  Caesius,  der  den  Terminus  auch  sonst  nicht 
kennt,  vermieden  ist:  daß  bei  Caesius  Z.  22  auf  263,  4  verwiesen  wird 
—  sprechen  gegen  die  Vermutung.  Leo  nahm  an  (Syst.  281,  2),  Cae- 
sius habe  den  gangen  Passus  aus  seinem  Vorgänger  abgeschrieben: 
aber  gerade  wenn  er,  wie  Leo  annimmt,  bei  den  Worten  memoria  tan- 
tum  modo  adiuvante  composui  ein  schlechtes  Gewissen  hatte,  wird  er 
sich  gehütet  haben,  den  Abschnitt  mit  samt  den  Beispielen  aus  einem 
Buche,  das  er  in  aller  Hände  wußte,  abzuschreiben.  Auch  ist  es  mir 
nicht  wahrscheinlich,  daß  Caesius  das,  was  er  vorher  zweimal  (vgL 
268,  29)  auseinandergesetzt  hatte,  hier  ganz  vergessen  haben  sollte.  Ich 
claube  vielmehr,  er  hat,  in  dem  Wunsch  horazische  und  möglichst  ein- 
fache Beispiele  zu  wählen,  für  die  adiectio,  die  er  sonst  nur  durch  den 
komplizierten  Fall  des  Asklepiadeus  hätte  belegen  können,  das  Bei 
spiel  herangezogen,  das  er  ja  prinzipiell  für  zutreiFend  hielt,  unbe- 
kümmert darum,  daß  er  selbst  hier  eine  andere  Erkliirung  vorzog. 


4S  KuiivKD  Hein/k:  17*^.4 

der  Tut  kömiti'  j»^der  lu'uti^e  Metrikor  einen  entsprechenden 
Abriß  mrmorid  fanfum  modo  mUuvaute  in  weni<^en  Ta<;en  niedor- 
schreihen;  t'roilicli  unter  der  Vorausst'tzu?!^,  dali  ersieh  vorher 
{gründlich  mit  d»Mii  (lej^enstand  l)eschilt'(igt,  darül)or  niclit  nur 
gelesen  sondern  auch  nachgedacht  hat.  Und  das  Huch  des 
Hassus  ist  auch  wirklidi  für  Uoui  nicht  ein  beliebiges  unter 
'unzähligen  anderen  f.To/U'rJ/iaT«'')  gewesen,  in  denen  jjoesie- 
bcllissene  Dilettanten  das  was  sie  selbst  gestern  gelernt  hatten 
schlecht  und  recht  wiederholten;  die  maßgebende  Stellung,  die 
es  Jahrhunderte  lang  besessen  hat,  spricht  dafür,  daß  es  nicht 
eben  viele  seines  Gleichen  gehabt  hat.  Es  sind  auch  nicht  ganz 
wenige  Fälle,  in  denen  wir  trotz  unserer  jämmerlich  dürftigen 
Überlieferung  annehmen  dürfen,  daß  Caesius  eigene  Wege  ge- 
gangen i>t,  auf  denen  ihm  die  Späteren  gefolgt  sind.  Freilich 
ein  gelehrtes  Handbuch  zu  schreiben  ist  ihm,  wie  schon  jene 
eingangs  zitierte  Äußerung  lehrt,  nicht  beigekommen  —  nennt 
er  doch  auch  seine  Vorgänger  weder  wo  er  ihnen  zustimmt 
noch  wo  er  gegen  sie  polemisiert")  — ;  er  hat,  natürlich  auf 
Grund  der  vorhandenen  metrischen  Arbeiten,  aber  auf  eigenes 
Urteil  nicht  verzichtend,  einen,  soweit  wir  nach  dem  Vorhan- 
denen urteilen  können,  alles  für  römische  Leser  Wesentliche 
umfassenden,  zw^ar  eilfertig  und  flüchtig  aber  klar  geschriebeneu 
Abriß  zu  praktischem  Gehrauch  gegeben,  in  erster  Linie  für  die 
große  Zahl  derer,  denen  nur  daran  lag,  sich  in  der  verwirrenden 
Mannigfaltigkeit  der  vorhandenen  Metra  zurecht  zu  finden,  da- 
neben  auch  für  die  wenigen,  deren  Ehrgeiz  sich  auf  Erfindung 
neuer  Formen  richtete.  Er  hat  sich  dabei,  von  den  horaziani- 
schen  Metra  abgesehen,  auf  die  stichisch  verwendeten  Metra 
beschränkt:  ob  er  dazu  gelangt  ist,  seinen  Vorsatz  einer  Behand- 

i)  Leo  üx.  506. 

2)  Mit  Unrecht  schließt"  Leo  Syst.  293,  1  aus  'Victorinus',  daß 
Caesius  gegen  Cornelius  Epicadus  polemisiert  habe;  der  Verfasser 
stellt  einfach  den  Gebrauch  der  Form  trimetrus  bei  Caesius  dem  hexo- 
meter  des  Epicadus  gegenüber.  Beiläufig  bemerkt,  Henses  Vermutung 
(de  Juba  artigr.  139),  daß  Lactanz  die  Quelle  des  'Victorinus'  sei,  schwebt 
ganz  in  der  Luft,  und  ebenso  demnach  das,  was  Leo  a.  a.  0.  daran 
knüpft. 


70, 4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  4g 

lung  auch  der  Metra  melischer  Poesie  und  tragischer  Chöre 
auszuführen,  wissen  wir  nicht:  er  bereitet  darauf  vor,  daß  er 
in  diesem  künftigen  Werke  auch  griechische  Beispiele  werde 
anführen  müssen  (272,  7)  —  während  er  in  dem  vorliegenden 
Buch  die  griechischen  Verse  durch  eigne  lateinische  Nachdich- 
tungen ersetzt  hat  — ;  gewiß  wäre  er  hier  nicht  nur  in  den 
Beispielen,  sondern  auch  in  der  Theorie  sehr  viel  abhängiger 
von  seinen  Vorgängern  gewesen,  denn  wenn  ihm  schon  in  dera 
vorliegenden  Buche  de  metris  die  Zurückführuug  aller  Maße 
auf  Seuar  und  Hexameter  nicht  leicht  fällt,  so  hätten  sich  dort 
die  Schwierigkeiten  verdoppelt.  Leo  hat  'einzelne  Spuren  der 
alexandrinischen  Theorie'  bei  Caesius  nachgewiesen  (Syst. 
297  fg.)  und  stellt  sich  vor,  dieser  sei  einem  etwa  gleichzeitigen 
griechischen  Metriker  gefolgt,  der  die  reine  Derivationslehre  durch 
Anleihen  bei  dem  alexandrinischen  System  verfälscht  habe.  Ich 
glaube,  das  Verhältnis  ist  eher  dasumgekehrte:  auf  weite  Strecken 
liegt  bei  Caesius  eine  Derivatioa sichre  zu  Grunde,  die  der  reinen 
alexandrinischen  noch  recht  nahe  stand;  und  die  neuen  Ein- 
sichten sind  dem  so  gut  es  ging  einverleibt. 

Caesius  hat  zu  Beginn  seines  Buchs  eine  pedum  demon- 
stratio gegeben  (264,  28)  und  dabei  nicht  nur  die  zwei-  und 
dreisilbigen,  sondern  auch  die  viersilbigen  Füße  vorgeführt,  für 
den  Proceleumaticus  auch,  wie  vielleicht  vorher  für  den  Mo- 
lossus  (Diomedes  513,  15),  ein  Versbeispiel  gebildet.^)  Diese 
viersilbigen  Füße  kennt  und  verwendet  er  denn  auch  in  seinem 
Buch;  daß  sie  ihm  als  pedes  duplices  gelten,  im  Gegensatz  zu 
den  zwei-  und  dreisilbigen  simplices,  macht  für  seine  Praxis  der 
Versanalyse  keinen  erheblichen  Unterschied.  Auch  für  Cae- 
sius ist,  wie  für  Varro,  der  Septenar  ein  iamhicus  quadratus 
(263,  17;  266,  8)  =  TSTQccnstQov.  Er  hat  einen  Abschnitt  über 
den  proceleumatischen  Vers,  den  er  also  vom  pariambischen 
unterscheidet;  er  kennt  nicht  nur  das  meirmn  hacchicon  oder 
chorianibicum,  sondern  verwendet  auch  den  Choriambus  als  Fuß, 

i)  Auch  Terentianus  gibt  in  seiner  pedum  demonstratio  1464  ganz 
ausnahmsweise  einen  proceleumatischen  Vers.  Natürlich  fehlt  bei  ihm 
auch  der  Antispast  so  wenig  wie  er  bei  Caesius  gefehlt   haben  wird. 

PhiL-hist.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  4.  4 


50  Hi(H\Ki>  Hkin/k:  17*^^.4 

iiulem  er  /.  H.  tlas  Koiiinia  Li/dia  die  pn'  onmcs  aus  Choriani- 
l»us  uu»l  Aiitilmochius,  (Ihn  li'm«<tMt'  ir  tieos  oro  usw.  ati« 
tlrei  (Jboriumben  und  Aiitil>acchius  besteluMi  IsiBt  (270,  lol'g.; 
TK-1.  268,  jot  und  den  IMiilicius  als  hexumcirmn  ex  nmuero  Imc- 
chU'o  contpi>sifi(ni  mißt  1-04,  2);  er  zitiert  Varros  TeiniinuK  loti/- 
ru)n  irinKfnnn  für  den  IMialaeceus  (-'öi,  ki);  <'1'  kennt  und  ver- 
wendet die  vcrschiedontn  Formen  des  Paeon  und  mißt  nach  ihm 
den  päonischen  Tetraineter,  der  contposihts  est  ex  co  pacortc,  qiit 
(■(»istdt  longa  siflhtha  et  trihus  hrccihus  (264,  18):  jranz  begreif- 
lich, daß  er  bier  nicht  8a<>t  (ousiat  ex  chorco  et  parinmho,  denn  er 
wird  in  der  (Hjersicbt  die  vier  Päoue  nach  der  Stellung  der 
laufen  Silbe  gescbieden  hal)en,  wie  es  Terentiauus  tut:  is  pri- 
mus  rsf,  longa  cui  locata  printa  est,  qua»!  rontimw  tres  aliae  hre- 
ves  secuntur  1534.  Es  ist  also  nicht  berecbtigt,  wenn  Leo  nur 
den  Paeon  als  wirklichen  viersilbigen  Fuß  lierausbebt  und 
scbließt,  gerade  dieser  Paragraph  sei  aus  einem  Lehrbuch  alexan- 
driniscber  Herkunft  ül)eruommen  (298).  Wir  werden  vielmehr 
sagen  müssen,  daß  Caesius  in  der  Lehre  von  den  pe^^es- (abgesehen 
freilieh  von  den  Unterschieden,  die  sich  aus  dem  Verzicht  auf 
das  Prinzip  der  Katalexis  ergaben)  ganz  auf  dem  Boden  der 
alexaudrinischen  Lehre  steht,  mit  der  einzigen  Abweichung, 
daß  er  die  viersilbigen  Füße  als  duplaea  nicht  nur  bezeichnet, 
sondern  auch  beschreibt  (z.  B.  profelenmaticns  ronsfat  ex  dtiohus 
pariamhis  id  est  quaifuor  hrevihus  syllah^s).  Aber  auch  Hephae- 
stion  denkt  ja  die  viersilbigen  Füße  nicht  eigentlich  als  Ein- 
heiten, sondern  als  Paare;  er  spricht  nicht  von  avti0:ia6tog  oder 
hoviy.ös,  sondern  von  avri6ncc6Tiy.il  und  lavLxi]  öt'^vyCa^),  und 
läßt  beim  Skazou  nicht  den  letzten  Fuß  einen  Antispast,  son- 
dern den  letzten  Jambus  einen  Trochäus  sein  (p.  17,  4  C). 

i)  Und  so  der  Metriker  vun  Oxyrbynchos  von  einer  jrp&jrTj  xwqcc 
oder  SfJtoSiu  statt  von  einem  iv}Viv.6g  oder  uvtianuarog,  was  Leo  Ox. 
503  also  nicht  als  Kennzeichen  des  'varroniscben''  Systems  auffassea 
durfte.  Ein  mit  einem  uepos  röiv  icovr/.wv  identisches  Anacreonteum 
hat  Tov  &vüjiaiarov  ntJÜTov  y.al  xltv  xqoxclIov  t^fjg:  vgl.  Hephaestion  vom 
Sotadeus  -/.utu  rag  rgsig  ;^w()as  dixitui  ioirtxi,v  6v^vyi(cv  .  .  ')]  Ti]v  ^|  iiva- 
Ttuierov  x«!  nvootyiov  p.  36,  8  C. 


70,4]  Die  lyrischen  Vekse  des  Horaz.  51 

Daß  null  die  Derivatiouslehie,  die  ( 'aesius  Bassus  vorfand, 
noch  keineswegs  auf  das  Gesamtgebiet  der  Metra  systematisch 
übertragen  war,  zeigen  zunächst  die  Abschnitte  über  das  päoni- 
sche  und  proceleumatische  Metrum:  hier  ist  auf  den  Versuch  der 
Derivation  ganz  verzichtet  und  es  bleibt  einfach  bei  den  vier- 
silbigen  Füßen.  Die  anapästischeii  Metra  hat  Caesius  nicht  im 
Zusammenhange  behandelt^);  er  greift  das  Archebuleum  (25Ö, 
8)  heraus,  weil  sich  dies  am  leichtesten,  durch  detractio  von 
nur  zwei  Silben,  aus  dem  Hexameter  ableiten  ließ,  und  fügt 
die  generelle  Ableitung  des  avc::tca6tiy.6v  aus  dem  öaxrvß.ixöv 
hinzu,  mit  der  hephästionischen  S7Ti3i?.oy.)j-):  das  zeigt,  daß  er 
früher  nicht  von  anapästischeii  Versen  gesprochen  hat.  He- 
phaestion  erklärt  das  Archebuleum  als  i:vu%ai6Tiy,ov  loyaoiäi- 
xöv,  rö  (letci  räöfJccgag  :rödag  ccvrbv  sxov  xhv  ßay.yeiov:  Caesius 
modifiziert  das,  um  Verwandtschaft  mit  dem  Senar  herauszu- 
bringen: post  fres  anapaestos  accedit  ad  iriinetrum.  Er  spricht 
hier  nicht  von  Entstehung  aus  dem  Trimcter,  denn  die  Deri- 
vation geht  ja,  bei  Anerkennung  der  drei  Anfangsanapästen, 
nicht  rein  auf:  Terentianus  hat  denn  auch,  als  konsequenter 
Derivant  der  er  ist,  auf  diese  Ausführung  verzichtet  (1908  fg.). 
Ich  sehe  nicht,  was  Leos  Annahme  empfehlen  könnte  (Syst. 
299),  daß  uns  in  diesem  Abschnitt  des  Caesius  eine  durch 
alexandrinische  Anleihen  verfälschte  Umgestaltung  einer  ur- 
sprünglich  reineren  Derivationslehre  vorliege. 

i)  Der  anapästische  Dimeter  wird  später  gelegeutlich  behandelt 
(267,  18)  als  identisch  mit  dem  Adonius.  Das  hat,  soviel  ich  sehe,  bei 
den  Späteren  keinen  Anklang  gefunden  (außer  bei  Atilius  297,  20);  es 
Aviderspricht  auch  der  Derivation  strenger  Observanz,  daß  die  Hebung 
des  Daktylus  hierliei  aufgelöst  wird. 

2)  est  antem  hie  versus  anapaesticiis,  iniia,  aim  piimus  li^roi  liexa- 
metri  dactyliis  syllfibam  amittit,  rdiqiiae  diiae  breves  /.unffiint  se  lonyae 
inseqtienti  et  deinceps  ceterae  in  eandem  farmulain  voiiunt:  i'cTco  arlxog 
uXos  öaxtvhnos  .  .  tovrov  tolvi^v  TComtriv  cifpaigw  avX?.aßi]v  Kul  ro  Xst- 
^öfisi'ov  yiitTcci  iiva'nuiaxLv.öv  schol.  Heph.  259,7  C.  —  So  ist  auch  beim 
Philicius,  der  als  einziger  Vertreter  der  choriambischen  Metra  behan- 
delt wird,  vor  der  Ableitung  des  reinen  choriamb.  Tetrameters  ans  dem 
daktyl.  Pentameter  die  generelle  Ableitung  des  Choriambus  von  dem 
daktylischen  Maß  gegeben,  264,  5.. 

4* 


52  RirnAKP  Hf.inzk:  ["o,  4. 

Ganz  besonder«  lehrreich  ist  Cuesiu.s'  großes  Kapitel  über 
den  Phalaeceus.  Er  zählt  du  sieben  divisiones  dieses  Verses 
auf  (258 fl'.),  deren  Zusam!nenstellun«r  otten]):ir  von  ihm  selbst 
herrührt');  sie  finden  sieh  wieder  nur  bei  den  von  ihm  abhän- 
gigen Meirikern  Terentiunus  und  Apihonius,  und  zwar  überall 
in  der  gleichen  Reihenfolge,  die  sich  nicht  von  selbst  ergeben 
konnte.  An  der  Spitze  stehen  zwei  divisiones,  durch  die  der 
Vers  in  zwei  Kommata  zerfällt,  die  erste  daktylisch  jambisch 

( kj  u  _  I  u  _  w  _  ^),  als  vulgaris  illa  divisio  bezeichnet,  also 

von  Caesins'  Vorgängern,  vielleicht  als  einzige^),  gelehrt;  die 
zweite  daktylisch-trochäiseh  ( v^  w  _  ^  ]  _  ^'  _  w);  sie  repräsen- 
tieren die  beiden  Formen  des  Phalaeceus,  die  Catull  so  gut  wie 
ausschließlich  anwendet,  mit  Cäsur  nach  der  fünften  und  der 
sechsten  Silbe;  und  die  erstere  überwiegt  bei  ihm  und  so  viel 
wir  urteilen  können  auch  bei  seinen  Zeitgenossen  so  stark, 
daß  es  begreiflich  ist,  wenn  eine  auf  Vereinfachung  bedachte 
Metrik  sie  als  Normalform  heraushob;  auch  daß  der  spondeische 
Eingang  hiernach  als  der  normale  erscheint,  ist  aus  Catulls 
Praxis  erklärlich.')  Es  folgen  bei  Caesius  vier  divisiones,  bei 
denen  kürzere  selbständig  auftretende  Kola  aus  dem  Phalaeceus 

abgesondert  werden,  zwei  vom  Anfang  —  Glykoneus  ( ^  -j 

_w_|u__),  hier  als  anacreonteum  choriamhicum  bezeichnet, 
und  Pherekrateus  ( ^.y  ^  _  kj  |  _  u_  _),  unbenannt,  aber  mit  Hin- 
weis auf  seinen  Gebrauch  bei  Kalliraachos  und  Bakchylides  — 
und  zwei  vom  Schluß,  achtsilbiges  Anacreonteum  ianibicuni 
( |uu_u_u__)  und  siebensilbiges,  identisch  mit  dem  Schluß- 
glied des  hipponadcus  quadratus: w]w_w_v —    Zwischen 

die  beiden  Paare  schiebt  sich,  als  Nummer  5  der  Reihe,  die 
Ableitung  durch  detractio  dreier  Silben  aus  dem  Sotadeus*): 


1)  Bemerkt  von  Schultz  Hermes  22  (1887)  271. 

2)  Als  einzige  erscheint  sie  bei  Diomedes  509,  14. 

3)  s.  ob.  S.  34. 

4)  Quintilian  bat  nicht  diese  divit-io  im  Auge,  wenn  er  I  8,  6  die 
Phalaeceen  als  commata  sotadeorum  bezeichnet  (denn  durch  Herausneh- 
men dreier  Silben  entsteht  kein  Komma),  sondern  entweder  — o»  ]  ^ 
_  -ui-z-u  —  u oder cäj uu_u_  ^ . 


70, 4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  53 

__[uw_]_uu_u_u Es  scheint,  daß  Caesius  selbst  durch 

Einschiib  dieser  divisio  den  Zusammenhang  der  ihm  über- 
lieferten beiden  Paare  zerrissen  hat. 

Die  Nebeneinanderstellung  der  sieben  divisiones  erweckt 

—  wohl  absichtlich  —  den  Eindruck,  daß  hier  sieben  Ver- 
suche aufgeführt  werden,  die  Entstehung  des  Phalaeceus  zu 
erklären,  durch  concinnatio,  defr actio  und  adiectio  ;bo  ist  es  denn 
auch  von  Neueren  verstanden  worden.^")  Sieht  man  näher  zu, 
so  sagt  Caesius  dies  ausdrücklich  nur  bei  der  ersten  divisio: 
docet  cum  partem  hadere  ex  lieroo,  pariem  ex  iamho;  dagegen 
sagt  er  im  Eingang,  jede  divisio  sei  ex  se  efficiens  aut  ad  ali- 
quod  pertinens  metnim,  und  am  Schluß,  er  habe  durch  sorg- 
fältigen Nachweis  der  articidi  (=  Kommata)  des  Hendeca- 
syllabus  gezeigt,  cum  qiiof  metris  ei  quaedam  necessitudo  con- 
tingeret.  Und  zweifellos  sind  jene  beiden  Paare  von  divisiones 
ursprünglich  nicht  als  Herleitungen  des  Phalaeceus  gedacht 
gewesen,  sondern  haben  umgekehrt  die  Entstehung  von  vier 
Metra  aus  dem  Phalaeceus,  oder  richtiger,  die  Möglichkeit,  diese 
Metra  aus  dem  Phalaeceus  herauszulösen,  vorgeführt.  Das  ist 
besonders  deutlich  bei  der  dritten  divisio.  Hier  entsteht  durch 
Wegnahme  der  drei  letzten  Silben  ein  choriambisches  Metrum, 
d.  i.  der  Glykoneus,  über  das  wohl  nichts  weiter  gesagt  war 

—  die  Stelle  ist  leider  lückenhaft  überliefert  —  als  daß  es 
in  der  Mitte  einen  Choriamben  hat^):  also  analysiert  als  __j 
_uw_[o_;    über    die   einrahmenden    Silben  paare    scheint   sich 


i)  Z.  B.  KiEssLiNG  Philo!.  Unters.  IJ  67  und  in  der  Einl.  der 
Ausgabe. 

2)  fit  anacreonteon  metnini  syllabariim  octo,  qxiod  musici  bacchicon 
i^ocant.  grammatici  choriambicon,  <^quia  medium  habet  choriambum,y 
qui  duplex  constat  ex  longa  et  duabus  brevibus  et  longa,  id  est  ex  clioreo 
et  iambg.  So  ist  -wohl  zu  ergänzen,  nicht  mit  Leo  Syst.  297,  3  quod 
^medium  habet  pedem  quemy  musici  etc.,  denn  das  Metrum,  auch  der 
Asklepiadeus  (268,  21)  heißt  bei  Caesius  cJioriambicnm ,  der  Fuß  Chori- 
ambus, wie  gleich  259,  10  usf.  Die  Eingangsworte  des  Kapitels  vom 
Philicius  (263,  23  fg.)  scheinen,  wie  Lko  selbst  gesehen  hat,  inter- 
poliert; dann  hat  dem  Interpolator  bereits  unser  lückenhafter  Text 
vorgelegen. 


54  Hl«  iiAKi'  Hi;in/k:  [7'">,  4 

CaosiuK  iiirlit  f^eäuBt^t  zu  hiihen.M  Die  Dorivatiou  des  Koniina, 
flio  wir  hier  vormissen,  wird  allerdinijs  später,  nachdem  ans 
ihm  «Irr  kloinorr  und  <rröß(TO  Asclcpiadeiis  (beide  also  gh'ich- 
falls  chctriamhisehe  Metra)  entwickelt  sind,  nachgeholt:  al)«M- 
in  sehr  einfentfinilieher  Weise.  Znnäehst  heißt  «is  260,  i  2  rx 
hnc  divisionr  rt  pria/H'Ks  miscifur  vcrsiis:  die  beiden  Kommata 
des  Ver.ses  hiinc  litaim  tibi  drdiro  conseeroquc  Priapfi  sind  näni 
lieh  eben  jenes  Aiiaereontenm  und  seine  nni  t-ine  SilVje  ver- 
kürzte Form  (Pherekrateus).  Der  ganze  l^riapens  aber  e.r 
heroo  venit  hcranietro.  nämlich  ans  Versen  wie  cui  mm  dictiis 
Hylas  pacr  et  Latonia  Drh>s.  Da  hätten  wir  denn  also  die 
vermißte  Derivation  des  Anacreonlenm.  das  nun  freilich  plötz- 
lich nicht  als  choriambisches,  sondern  als  daktylisches  Me- 
trnm  erseheint.  Es  ist  meine  ich  klar,  daß  Caesius  diese 
Derivation  von  sich  ans  oder  einem  anderen  Gewährsmann 
folgend  eingefügt  hat:  er  hebt  sie  nämlich  im  Grunde 
selbst  wieder  auf,  indem  er  260,  32  zugibt,  daß  der  Pria- 
peus  zn  Beginn  statt  des  Spondeus  auch  den  Jambus  oder 
Trochäus  zulasse,  was  auch  vom  Pbalaeceum  gelte;  CatuU  hat 
diese  Freiheit,  Sappho  und  Anakreon  und  anderen  folgend, 
nicht  als  Verstoß  geuen  die  Regel,  sondern  als  legitim  be- 
trachtet:  so  muß  denn  der  Priapeus,  da  er  aus  dem  Phalaeceus 
entsteht,   die   gleiche  Freiheit  haben. 'j     Also   die  Herleituug 

i)  Terentianus  sagt  26 11  fg.  vou  diesen  Paaren  evcremenia  marjis 
jiutant  iiec  dncuut  numero  j>eduiii ,  und  enteprecheud  Aptbonius  149 
tarn  primae  quam  ulfimac  dnae  syllahae  incroiHntd  mayis  quam  fe.rfni. 
jicdum  nrcc-sariac:  das  beruht  wohl  nur  auf  Mißverständnis  von  Cae- 
siu?'  Worten  hoc  jnetrum  (seil,  der  Glykoneu.s  increinentum  accipit,  die 
sich  auf  das  folgende,  die  Entstehung  des  Asclepiadeus  durch  den  Zu- 
wachs eines  weiteren  Choriamben  beziehen:  demns  Uli  incrcmentum ,  id 
est  pro  UHO  dxos  dioriambos  259,  10,  uud  weiter  demus  cfiam  iiunc 
ilti  untut<  dioriatnbi  iitcrementum  28.  Augustinus  analysievt  de  mus. 
V  12  den  Asklepiadens  wie  Caesius  ^_  _  uv^  ^  ]' _  1-1  ^  ^  u^  und  läßt 
die  beiden  äuUeren  Siliteupaare  sich  zu  einem  dritten  sechszeitigen 
Fuße  ergänzen.  Alter  und  Herkunft  der  Lehre  von  der  Taktgleichheit, 
die  hier  zu  Grunde  liegt,  bleibt  zu  untersuchen. 

2)  ex  quibus  sc.  hendecasyltabis)  quoniam  priapeus  nascttur;  ne- 
cesse  est  e<zsdcm  habeat  l>ber(ntes. 


70.  4l  DiK   LYRISCHEN  VeRSE    DB.S   HuRAZ.  55 

aus   dem  Hexameter,   der  spondeischen  Eingang  fordert,  ist 
aufgegeben. 

Ist  demnach  die  Derivation  des  Priapeus,  also  auch  des 
Olykoneus  und  Pherekrateus,  aus  dem  Hexameter  ein  unorga- 
nisches Einschiebsel,  so  bleibt  nur  übrig,  daß  der  Gewährs- 
mann des  Caesius  ausging  vom  Phalaeceus  und  zeigte,  wie  man 
von  diesem  zum  Glykoneus  gelangt.  Das  bestätigt  sich  aus 
anderen  Quellen.  Diomedes  trägt  die  gleiche  Lehre  vor:  prae- 
cistis  hie  (Anacreonteus)  est  de  .  .  hem/ecasyllaho  509,  21,  im 
Widerspruch  zu  seiner  Erklärung  desselben  Komma  als  ex 
superiore  parte  hcxamdri  512,4  (die  Identifizierung  mit  dem 
ersten  Komma  des  Priapeus  kennt  er  nicht,  er  mißt  dies  viel- 
mehr _  v.y  _  w  V  _  u  -  512,  28).  Vor  allem  aber  faßt  der  Me- 
triker von  Oxjrhvnchüs  (col.  VIII  p.  405C.1,  der  sechsten 
divisio  des  Caesius  entsprechend,  das  achtsilbige  Auacreonteum 
u  -  _  V  _  w  _  _  nicht  als  Yorstnfe  des  Phalaeceus,  sondern  zeigt, 
wie  man  es  durch  Abzug  dreier  Silben  aus  ihm  entstehen 
lassen  kann.  Ich  sage  absichtlich  nicht  'wie  es  entstanden 
ist'.  Denn  dieser  Metriker  wiU  ja  offenbar  überhaupt  keinen 
Aufschluß  darüber  geben,  wie  die  Metra  entstanden  sind:  ja 
man  muß  weitergehen:  er  will  mit  seinen  Ableitungen  gar 
nichts  über  die  Natur  der  einzelnen  Metra  lehren.  Die  me- 
tritBche  Natur  z.B.  das  Phalaeceum  und  Asklepiadeum  bestimmt 
er  kurz  durch  Hinschreiben  des  y.avcöv,  der  mit  seinen  vier- 
silbigen Füßen  ganz  dem  hephaestionischen  Gebrauch  ent- 
spricht: das  Anakreonteum  bezeichnet  er  als  di^iergov  (col. 
Vlll):  für  diese  Dinge  setzte  er  offenbar  Kenntnis  der  vul- 
gären   alexandrischen   Metrik    voraus.^)      Aber   dann    geht    er 


i)  Es  ist  mir  daher  auch  zweifelhaft,  ob  es  bei  den  Griechen 
derivierende  Abrisse  der  Metrik  gegeben  hat,  die  es  an  Vollständigkeit 
und  Geschlossenheit  dem  des  Hephaestion  gleichtaten.  Der  Oxyrhyn- 
ohit  hat  ja  offenbar  nichts  weniger  als  systematisch  disponiert,  und  so 
ist  denn  auch  Caesius  keineswegs  darauf  bedacht,  auch  nur  die  häu- 
tigen Yersformen  vollständig  und  in  gehöriger  Folge  aufzuführen,  wie 
es  der  Autor  des  Diomedes  getan  hat.  —  Leider  ist  die  Aufgabe  noch 
nicht  gelöst,  die  verlorenen  Partien  des  Caesius  aus  Terentian  und 
Aphthoniiis    zu  rekonstnüercn ;    wie  denn    überhaupt   die  Analyse  und 


5^  RiCH  \ui>  Hkinzk:  [70,4 

weiter:  er  labt  (s.  ob.  S.  45,  3)  das  Pluilaikeion  und  das  Nikar- 
cheion  aus  oinander  oiitstelieii:  niiui  }  raucht  mir  eine  Silbe 
hiu/.u  oder  weij;/.utun.  Er  sagt  von  jenem  Anakreouteuni,  es 
berülire'  sicli  mit  den  Jcniikern,  wenn  es  eine  bestimmte 
Form  babo;  cfs  entstehe  aus  dem  l'hulaikeion,  ebenso  auch 
aus  dem  i^raxilleion-,  aucli  vom  jaml)isclieu  Dimeter  könne 
nnm  es  ableiten^),  der  mit  ihm  zusammenfalle,  wenn  der  erste 
Fuß  anapästiseh  sei.  ich  meine,  es  ist  klar,  daß  mit  dem  allen 
nieht  gemeint  ist  'so  oder  so  ist  das  Metrum  entstanden', 
sondern  nur  'so  oder  so  kann  man  sich  die  Gestaltung  des 
Kolon  klarmachen':  ei  ^hv.  w  q)ClraTi.  6ccq:fg  Goi  tööe  tö 
xö^oi',  y,((Tcc?.ei7Te  xal  fiij  diu  tcXslövov  öxÖTtsi  heißt  es  col.  XI 
p.  406  C.  Und  nicht  anders  ist  es  doch  wohl  aufzufüssen, 
wenn  ))ei  Caesius  der  GaUiambus  erst  nascitur  aus  zwei  ana- 
kreontisehen  Kommata,  dann  aus  dem  jambischen  Senar  durch 
adieetio  einer  Silbe,  dann  erklärt  wird,  es  bestehe  auch  eine 
cognatio-)  mit  dem  Sotadeus,  da  beide  Verse  durch  eine  mo- 
dica  translatio  in  einander  übergingen  (261  fg.)'):  auch  hier 
hat  sein  Gewährsmann  offenbar  nichts  über  die  wirkliche  Ent- 
stehung des  GaUiambus  aussagen  wollen.  Die  Grammatiker 
dagegen,  gegen  die  er  polemisiert,  weil  sie  den  Asklepiadeus 
nicht  als  choriam])isch  erkennen,  sondern  hoc  putant  metrum 
de  curtato  pentamefro  factum,  oder  weil  sie  den  Vers  solvikir 


Rekonstruktion  der  lateinischen  Metriker  seit  Schultz'  vielversprechen- 
den Arbeiten  (1885  und  1887)  kaum  nennenswerte  Fortschritte  ge- 
macht hat. 

i)  Nebenbei  bemerkt:  ist  os  reiner  Zufall,  wenn  er  nach  Anfüh- 
rung der  Beispiele  fitv  icpaivs^'  a  osXccva  \  oviäv  rs  Kai  iysiav  \  ccc  cpvyonii 
Ttuiäsg  i'jßcc  fortfährt  övvuTai  (U  rig  voui^Biv  \  an'  lafißLKwv  diuhgcov  | 
■/.ciTuXriiiTiyi&v  .  .  V 

2)  Der  Terminus  stammt  aus  der  alexandrinischen  Lehre  von  der 
iTtmloy-i] :  Gvyyivtia  yivtrai  \ibZQOV  TCQog  ^lirgov  t(}ijws,  v.axa  äfpaiqsGiv, 
-/.am  nQÖe&bGiv.  v.uzu  ^Etä&tßiv  Hephaestion  p.  77  C. 

3)  Dem  steht  die  Art  sehr  nahe,  wie  Dionys.  Hai.  de  comp.  4 
durch  ^Btd&tais  einzelner  Worte  aus  Hexametern  Priapeen  und  ionische 
Tetrameter  macht:  auch  hier  keine  Andeutung  davon,  daß  diese  Verse 
aus  dem  Hexameter  'entstanden'  seien. 


7°^  4j  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  57 

acris  h'iems  usw.  nicht  ex  duohus  metris  compositum  putant,  son- 
dern ihn  hcccametrum  maiorem  syllaha  vocant  (268,  24  fg.),  die 
haben  wirklich  gemeint,  der  Entstehung  der  Verse  auf  die 
Spur  gekommen  zu  sein  und  sie  damit  erklärt  zu  haben.  Eine 
solche  genetische  Erklärung  lag  nahe,  wenn  man,  wie  etwa 
beim  archilochischen  iambus  colohus  oder  dem  hipponadens 
quadratus  sowohl  den  Erfinder  kannte  als  auch  genau  wußte, 
welches  Material  ihm  für  seine  Neubildung  vorlag.  Die  Über- 
tragung aber  solcher  apodiktischer  Weisheit  auf  die  Gesamt- 
heit der  Metra  ist  meine  ich  erst  die  Tat  römischer  Gram- 
matiker gewesen.  Man  sehe  wie  sich  Diomedes  ausdrückt: 
von  jenem  archilochischen  Vers:  hoc  ut  fieret,  indita  est  hexa- 
metro  syllaha  ante  duas  uUimas,  oder  vom  Asklepiadeus  Jdc 
potest,  unde  ortus  est,  ad  pentam-etrum  elegiaciim  redigi  addita 
ana  syllaha.  usf.  Erst  in  diesen  Kreisen  ist  wahrscheinlich  auch 
die  Lehre  aufgekommen,  daß  alle  Verse  unmittelbar  oder 
doch  über  ganz  wenige  Mittelstufen  aus  Senar  und  Hexameter 
entstanden  seien.  Diese  Metriker  bedurften  denn  auch  für  ihre 
Zwecke  keiner  großen  Gelehrsamkeit:  wir  werden  uns  die 
Horazmetrik,  auf  die  Diomedes  zurückgeht  —  nennen  wir  sie 
immerhin  die  des  Remmius  Palaemon^)  —  als  einen  knappen 
dogmatisclien  Abriß  für  Schulzwecke  zu  denken  haben.  Cae- 
sius  Bassus  danken  wir  es,  daß  er,  wenn  auch  im  Prinzip  auf 


1)  Auf  ihn  hat  Kiksslikg  Philol.  Unters.  II  65  hingewiesen  und 
Leo  hat  die  Vermutung  Syst.  293,  i  aufgenommen.  Mit  dem  Bilde, 
das  wir  una  von  Palaemons  Grammatik  machen,  stimmt  das  oben  über 
die  Metrik  Gesagte  gut  iiberein.  Daß  der  Gegner  Varros  das  varro- 
nische  System  vertreten  habe,  erklärt  sich  Leo  dadurch,  daß  es  eben 
das  von  Horaz  tatsächlich  befolgte  gewesen  sei;  wir  werden  nunmehr 
sagen,  Palaemon  hat  zwar  das  varronische  Prinzip  akzeptiert  —  von 
dem  er  ja  wußte,  daß  nicht  Varro  es  erfunden  hatte  —  aber  in  einer 
Weise  ausgebaut,  die  weit  über  Varro  hinausging.  Vielleicht  hat  er 
dabei  sogar  gelegentlich  gegen  Varro  polemisiert:  Caesius'  Bemerkung 
ex  (juo  non  est  mirandum  quod  Varro  .  .  phalaecion  metrum  ionicnm 
trimttrum  appdlat  261,  18  sieht  doch  so  aus,  als  habe  ein  Vorgänger 
dem  Varro  diesen  'wunderlichen'  Irrtum  aufgestochen.  Caesius  vertei- 
digt also  den  Varro  —  freilich  ohne  ihn  ganz  zu  verstehen,  s.  ob.  S.  10  fg. 


5^  RionARi»  Hkinzk:  [70,4 

dem  gleichen  Boden  stehend \),  doch  sich  mit  dieser  diirn'u 
Theorie  uiclit  begnügte,  sondfirn  auf  die  reicheren  Darstollnngcn 
der  (Jriechen  zurückgritt-.  das  hat  seinem  Hneh  den  lang- 
<lanernden   Erfolg  verschatft. 


Kapitel   II. 
Die  ('in/eliieii   Verse. 

1 .  Asklepiadeus. 

Von  den  43  Asklepiadeen  des  Alkaios,  die  soweit  er- 
halten sind,  daß  sie  uns  ein  Urteil  eriauben,  weist  die  stark 
überwiegende  Mehrzahl  Worteinschnitt  nach  der  sechsten  oder 
nach  der  siebenten  Silbe  auf;  nur  vier  Verse  weichen  davon 
ab.  Bei  Horaz  ist  der  Einschnitt  nach  der  sechsten  Silbe  Ge- 
setz: ob  er  dies  selbst  sich  gegeben  oder  vorgefunden  hat, 
können  wir  nicht  sagen,  da  uns  Asklepiadeen  aus  helleni- 
stischer Zeit  nicht  überliefert  sind.  Und  doch  hat,  wie  der 
Name  des  Verses  lehrt.  Asklepiades  ihn  nicht  nur  gelegent- 
lich angewandt,  und  bei  der  einflußreichen  Stellung  dieses 
Dichters  ist  anzunehmen,  daß  er  auch  in  diesem  Punkte  Nach- 
ahmung gefunden  hat.  Der  Grand  dazu,  dem  Vers  seinen 
Namen  zu  geben,  ist  nicht  wie  bei  anderen  solchen  Taufen 
der,  daß  er  den  Vers  zuerst  stichisch  verwandt  hat:  das  war 
ja  alte  Gepflogenheit.  Es  ist  also  wahrscheinlich,  daß  sein 
Verdienst  um  dem  Vers  ein  anderes  war:  das  kann  dann  nur 
seine  Normalisierung  gewesen  sein,  und  da,  wie  wir  oben 
sahen,  wahrscheinlich  schon  bei  Varro,  und  dann  also  auch 
in  der  griechischen  Metrik,  dem  Vers  eine  Sonderstellung  gegen- 
über anderen  äolischen  angewiesen  war,  ist  es  wohl  möglich, 
daß  schon  Asklepiades  die  uns  erst  aus  Horaz  bekannte  Cäsur 


i)  Das  tritt  vor  allem  darin  zu  Tage,  daß  er  bei  den  ilolisclieu 
Versen  von  den  Analysen  nach  alexandrinischem  System,  die  wie  wir 
sahen  der  Oxyrhynchit  voraussetzt,  ganz  absieht.  Sein  Gewährsmann 
hat  gewiß  den  Phalaeceus  als  Trimeter  definiert,  sei  es  ausdrücklich 
sei  es  durch  Hinschreiben  des  xavoiv.  ob  als  ionischen  oder  als  anti- 
spastischen, können  wir  nicht  sagen. 


"0,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Hora/.  59 

eingeführt  hat.  Die  Wahl  zwischen  dei*  sechsten  und  sieben- 
ten Silbe  war,  wenn  einmal  gegeben,  auch  entschieden:  da» 
Zusammentreffen  der  beiden  Hebungen  in  der  Mitte  bedingte 
nach  der  ersten  Hälfte  des  Verses  ohnehin  bei  der  Rezitation 
•einen  gewissen  Halt,  ganz  wie  im  daktylischen  Pentameter. 
Ebenso  wird  schon  in  hellenistische  Zeit  zurückgehen  die 
Einschränkung  (nicht  Beseitigung)  der  Freiheit  der  ersten 
beiden  Silben  zu  gunsten  des  Spondeus,  wie  wir  es  oben  S.  34 
beim  Phalaeceus  sahen;  schon  Alkaios  hat;  wie  es  scheint,  spon- 
deische  'Basis'  stark  bevorzugt.')  Christ  und  Kiessling 
glaubten  in  der  Festlegung  des  Spondeus  für  den  Eingang 
von  Asklepiadeus  und  Glykoneus  einen  Beweis  dafür  zu  haben. 
<laß  Horaz  diese  beiden  Maße  aus  dem  daktylischen  Hexa- 
meter hergeleitet  habe:  mit  Recht  hat  schon  Maas  dagegen 
bemerkt,  daß  die  Theorie  für  andere,  offensichtlich  analoge 
Fälle  versagt.  Wenn  Horaz  z.  B.  unter  seinen  3 1 7  alkäischen 
Neunsilblern  nur  10 mal  jambischen,  sonst  durchweg  spondei- 
schen  Eingang  hat,  wenn  er  im  sapphischen  Elfsilbler  aus- 
nahmslos Spondeus  vor  die  Cäsur  setzt,  so  hat  das  mit  der 
Derivationslehre,  die  in  beiden  Fällen  jambische  Kola  annahm, 
nichts  zu  tun.  Es  kommt  aber  hinzu,  daß,  wie  oben  S.  34  be- 
merkt, Catull  schon  den  größeren  Asclepiadeus  durchweg  mit 
spondeischem  Eingang  baut:  und  Catull  soll  ja  von  jener 
Theorie  noch  unberührt  sein.  Daß  aber  Horaz  nicht  etwa 
meinte,  durch  den  spondeischen  Eingang  der  ersten  Hälfte  des 
Verses  daktylischen  Charakter  aufzuprägen,  geht  aus  folgen- 
der Beobachtung  hervor:  am  Eingang  des  Hexameters  galt 
bekanntlich  ein  spondeisches  Wort  für  unschön  und  Horaz 
hat  sich  das  demgemäß  in  den  76  Hexametern  der  Epoden 
nur  5  mal,  in  den  48  der  Oden  nur  4  mal  erlaubt;  er  hat  das 
auch  auf  die  anderen  daktylischen  Verse  ausgedehnt:  die  10 
iikatalekt.    Tetrameter   (erstes  Komma   des   Archilochius  I  4) 

i)  Bei  den  neiigefundeneu  Asklepiadeen  des  Alkaios  sind  die  An- 
fangssilben leider  fast  durchweg  zerstört;  die  Zahl  der  von  früher  be- 
kannten ist  zu  geringe  um  Schlüsse  zu  ziehen,  aber  in  Alkaios'  großen 
Asklepiadeen  zähle  ich  17  Spondeen  gegenüber  4  Trochäen. 


6o  IJiniAKii  Hi;inzk:  [7^",  4 

haben  i  Beispiel,  die  34  katnlektisoheu  Tetrameter  {l  7.  28) 
keines.*)  Im  Asklopiadeus  zeigt  sicli  vou  dieser  Lehre  keine 
Spur:  unter  den  36  Versen  z.  B.  von  1  i  beginnen  (wenn  wir 
quodsi  nicht  mitreclinen)  9  mit  sjiondeischem  Wort,  unter 
den  20  von  I  3  nicht  weniger  als  sechs.*)  Nun  liat  zwar 
Schultz  (Ilerm.  22,  2-2)  geglaubt,  beweisen  zu  können,  daß 
Horaz  den  Asklepiadeus  ebenso  wie  es  Diomedes'  Quelle  tat 
aus  dakt.  Peuthoniimeres  und  zwei  Daktylen  bestehen  ließ. 
Denn,  so  schließt  er,  hätte  Horaz  den  Asklepiadeus  wie  Cae- 
siiis  Bassus  als  einen  durch  einen  Choriambus  er%veiterten  Gly- 
koneus  aufgefaßt,  so  hätte  er,  wie  er  es  bei  dem  größeren  As- 
klepiadeus getan  hat,  auch  im  kleineren  den  eingeschobeneu 
( 'horiambus  durch  Worttrennung  abgegrenzt.  Der  Schluß  ruht 
auf  den  wie  ich  meine  falschen  Voraussetzungen,  daß  Horaz 
notwendig  eine  jener  beiden  Auffassungen  geteilt  haben  müsse, 
und  daß  jene  im  größern  Asklepiadeus  befolgte  Kegel  den 
Choriambus  als  eingeschoben  kennzeichnen  soll,  während  sie 
doch,  wie  wir  oben  S.  33  sahen,  nichts  ist  als  die  Erhebung 
einer  schon  früher  vorwaltenden  Tendenz  zum  Gesetz.  Es  kommt 
aber  hinzu,  daß  die  Derivationstheorie  zwar  Wortschluß  überall 
da  voraussetzt,  wo  zwei  Kommata  aneinandergerückt  sind,  aber 
keineswegs  da,  wo  der  Vers  aus  einem  kürzeren  durch  adiedio 
eines  oder  mehrerer  Füße  entstanden  ist:  wie  denn  auch  der 
Gewährsmann  des  Caesius  bei  seiner  Ableitung  des  Askle-  1 
piadeus  aus  dem  Glykoneus  sich  durch  die  fehlende  Woi-ttren-  | 
nung  keineswegs  hat  irre  machen  lassen.  Müßte  ich  mich 
für  eine  der  beiden  von  Diomedes  (p.  518,  32;  519,  i)  zur 
Wahl  gestellten  Scansiouen  (___uu|_;_uw|_wu  und  __  _ 
vw_  -.ww_'wu)  entscheiden,  so  \^ürde  ich  unbedenklich  die 
choriambische  vorziehen :  für  die  erste  Vershälfte  aus  dem  oben 


i)  Ep.  12  hat  durchweg  daktylischen  Eingang.  Die  daktylische 
Penthemimeres  (ep.  11.  13.  od.  IV  7)  ist  stets  rein  daktylisch. 

2)  Unter  den  405  Pentametern  von  Tibull  Buch  I  findet  sich  spon- 
deischer  Eingang  ja  sehr  viel  seltener  als  daktylischer,  epondeische-s 
\Vort  aber  nur  7  mal,  stets  vor  Monosyllabum  oder  einsilbiger  Präpo- 
sition (wozu  auch  inter  zu  rechnen)  im  Compositum. 


70,  4]  DiK    LYRISCHEN  VeRSE    DES    HoRAZ.  6  I 

angeführten  Grunde,  für  die  zweite,  weil  ich  akatalektischen 
daktylischen   Yersschluß,    d.   h.  Versausgang    auf  zwei    ictus- 
lose  Silben,  Horaz  nicht  zutraue:  er  hat  sich  ja  auch  vor  den 
sog.  akatalektischen  daktylischen  Versen  der  Lesbier  gehütet, 
die    doch  bei  Alkaios  und  Sappho  reichlich  vertreten  waren. 
Es  ist  bemerkenswert,  daß  auch  Diomedes,  obwohl  er  die  erste 
der  oben  genannten   Scansionen  bevorzugt,   doch,   wo  er  die 
Herleitung  des  Asklepiadeus  aus  dem  elegischen  Pentameter  de- 
monstrieren will,  diesem  nicht  die  letzte,  sondern  die  vorletzte 
oder  drittletzte  Silbe  entziehen  heißt  ^)  (519,  4):  d.  h.  er  hat 
den  Tonfall  der  zweiten  Pentameterhälfte,  nur  mit  Ersatz  der 
zweisilbigen  Senkung  durch  einsilbige,  herausgehört.     Wollte 
aber  jemand   behaupten ,   Horaz   habe    die   zweite  Hälfte   als 
Daktylus  und  Creticus  empfunden,  so  wüßte  ich  ihn  nicht  zu 
widerlegen;  ja   die   feste   Cäsur   wenigstens   würde   gar  nicht 
dagegen  sprechen,  daß  Horaz  schon  gelernt  hätte,  den  ganzen 
Vers,  wie  es  der  Metriker  von  Oxyrhynchos  und  der  Gewährs- 
mann des  Atilius  p.  296,  10  tun,  als  antispastischen  Trimeter 
aufzufassen.    Ich  glaube  nicht,  daß  wir  in  dieser  Frage  je  zu 
einer  bestimmten   positiven    Entscheidung   gelangen   können: 
genug,  wenn  wir  wissen,  daß  für  die  metrische  Praxis  nicht 
theoretische  Analyse,  sondern  das  Vorbild  Früherer  und  das 
Ohr  des  Dichters  maßgebend  gewesen  ist. 

2.  Glykoneus  und  Pherekrateus. 

Der  Glykoneus  erscheint  in  reichlich  y^  der  horazischen 
Oden  (28  :  103);  er  spielt  also  da  eine  erheblich  größere  Rolle, 
als  wir  sie  bei  Alkaios  und  Sappho  nach  Ausweis  der  Frag- 
mente —  freilich  ein  unsicheres  Kriterium  —  für  wahr- 
scheinlich halten  müssen;  bei  Horaz  wird  Anakreons  Ein- 
fluß eher  als  der  der  Lyrik  hellenistischer  Zeit  anzuneh- 
men sein.  Wenn  er  darauf  verzichtet  hat,  Glykoneen  anein- 
ander zu  reihen,  wie  es  doch  Sappho  und  Anakreon  getan 
hatten,  also   etwa  Strophen  aus   drei   Glykoneen  und   Phere- 

i)  Während  Atilius  p.  296,  6  sagt  hui(^  (Äsclepiadco)  st  rrddas  in 
ultimo  syllabam,  integer  eritpeutameter,  ut  'Maecenas  atavis  edite  rcgihus  o\ 


62  KiiiiAUi»  Hkin/-k:  17*^»  + 

krateus  /u  bauen,  so  hat  wohl  oben  der  Umstiinil,  daß  solche 
Komposition    in    hellenistischer   Zeit   beliebt   wiir,    ihn    davou 
ab}^'ehalten.     Er    verbindet   den  Glykoneus   ausschließlich    mit 
Asklepiadeen.  entweder  als   Trooden  oder  als  Abschluß  einer 
vi«  rzeiliijen  Strophe,  uacii  drei  Asklepiadeen   oder  nach  zweie» 
und  Pherekrateus,  so  daß   also  aut'fallenderweise  die  katalek- 
tische   Form  des  Verses  der   ukatalektiscbeu   vorangeht.     Daß 
er   alle   diese  Kombinationen   bei  Alkaios  gefunden  habe,   ist 
möglich,    aber  nicht   sicher:    die   zweite    der    oben    genannten 
Formen   ist   uns   aus   Alkaios    gar    nicht,    die    beiden    anderen 
nicht  zweifelsfrei  überliefert  (fr.  4.^  82).    Aus  jener  Beschrän- 
kung aber   möchte    ich   ächließen,   daß   Horaz  Verwandtschaft 
des   Glykoneus   mit  dem    Asklepiadeus    empfunden  hat;   den) 
entspricht  es,  daß  er,  wie  den  Asklepiadeus,  so  auch  den  Gly- 
koneus (und  natürlich  den  Pherekrateus)   spondeisch  beginnt 
(mit   einziger  Ausnahme    von  I  15,36),   wie    das  Auakreou*) 
und  vielleicht  auch  überwiegend  Alkaios  getan  hatte:  wenig- 
stens   ist    das    in    dessen    aus    dem    <Tlykoneus    entwickelten 
großen  Verse  uaQ^ut:LQ£i  dl  utya^  dö^os  (fr.  15),   «a^ch  unse- 
rem   Fragment    zu    urteilen,    der   Fall   gewesen.^)     CatuU   da- 
gegen hatte  vielleicht   die  Verse   der  Sappho  im  Ohre,    wenn 
er  den  Trochäus  (besonders  in  61)  stark  bevorzugte,  daneben 
den    Spoudeus    durchaus    gelten   ließ    und    auch    den   Jambus 
nicht   völlig  ausschloß:    in    den  Givkoneen^)    (und  Phaläceen) 

i)  Bi.Ass  Rh.  M.  29  ii«74),  153:  sichere  Ausnahme  nur  der  Phere- 
cvateus  2,  3  nogcpvQti]  r  'Acpgoöirri.  Wii.amowitz  Chor.  Dim.  24,  i  (Berl. 
Sitzungsber.  1902,  888;  hält  fr.  8  das  überlieferte  iyä  t'  uv  ovv'  'Anal- 
9ir,c,  als  iambischen  Dimeter. 

2)  II  Spondeen,  2  Trochäen,   i  Pyrrhichius. 

3)  Ob  man  die  Verse,  die  in  SL  1=  Supplementum  Lyricum  voa 
E.  DiKHi-,  Lietzmanns  kleine  Texte  33/34,  3-  Aufl.  1917)  ^3  dem  äoli- 
schen  daktyl.  Tetrameter  vorausgehen,  als  Glykoneen  oder  als  daktylische 
Trimeter  fassen  soll,  ist  freilich  zweifelhaft:  die  antike  Metrik  wird 
sich  für  Glykoneen  entschieden  haben,  da  Hephaestion  äol.  daktyl.  Tri- 
meter nicht  kennt,  p.  23  C.  Ich  glaube  daher  auch  nicht,  daK  der- 
jenige Derivijtionsmetriker,  der  zuerst  den  Priapeus  mit  dem  herous 
identifiziert  hat,  sich  dabei  an  eine  bereits  früher  geltende  Definition 
des  Glvkoneus  als  äol.  Trimetere  anechließen  konnte. 


70,4]  DiK    I.YRISCHKN  VeR8E    DKS    HoRA/..  63 

der  neuen  Sappholieder  tritt  der  Jambus  ganz  hinter  Trochäus 
und  Spondeiis  zurück,  der  Trochäus  überwiegt  (wenn  auch 
nicht  so  stark  wie  bei  Catull).^) 

Von  einer  Gliederung  des  Glykoneus  hat  Horaz  völlig 
abgesehen;  er  will  ihn  als  ganz  einheitliche  Reihe  hören 
lassen,  wie  er  ihn  offenbar  bei  seinen  griechischen  Mustern 
gehöi-t  hat.  Worteinschnitt  findet  sich  zwischen  den  beiden 
Kürzen  ( ^  w  _  ^  _)  seltener  als  an  den  übrigen  Vers- 
stellen 155 mal  in  246  Versen);  das  liegt  wohl  daran,  daß 
hierbei  diiambischer  Schluß  entstand:  im  Pherekrateus  ist 
dieser  Einschnitt  A-erhältnismäßig  viel  häufiger  (17  mal  in 
35  Versen). 

Gegen  die  daktylische  Messung  gilt  das  beim  Asklepia- 
deus  Gesagte.  Spondeisches  Wort  zu  Anfang  ist  hier  sogar 
2anz  besonders  beliebt:  es  findet  sich  in  etwa  der  Hälfte  aller 
Verse. 

3.  Der  sapphische  Elfsilblor. 

Der  sapphische  Elfsilbler  hat  den  Derivationsmetrikern 
keine  Schwierigkeit  bereitet;  sie  sind  einig  darin'),  ihn  zu 
erklären  als  entstanden  durch  coucinnatio  eines  trochäischeu 
und  eines  jambischen  Kolon:  ein  geringfügiger  Unterschied 
besteht  nur  darin,  daß  Atilius  p.  297  das  trochäische  Kolon 
als  dimeiran  brach i/rafalecfoii  bezeichnet,  also  abteilt  _^_. _u_w| 
w_w_u,  während  die  anderen  entsprechend  der  überwiegenden 
horazischen  Praxis  das  jambische  Kolon  mit  zweisilbiger  Sen- 
kuncf  beo'inneu  lassen:  _v^--u_  ww_vj_^. 


i)  Im  Päan  des  Aiistouoos  haben  immerhin  etwa  '  '^  der  Glyko- 
ueen  jambische  "Basis":  trochäische  erheblich  weniger,  spondeische 
überwiegt  (s.  die  Tabelle  in  Ckdsuts'  'Delphische  Hymnen',  Philol. 
Bd.  VIII  (1894)  Suppl.  S.  24).  Natürlich  läßt  das  keinen  Schluß  auf 
allgemein  hellenistische  Technik  zu. 

2)  Nicht  mit  Recht  zieht  Kiessling  (Einl.  zu  den  Oden  p.  6fg.)  auch 
die  Analyse  des  Augustinus  de  mus.  IV  18  (-v_  — ^^  _w_>^)  und 
die  zweite  des  Atilius  (..  w  _  u  _  w  -.  _  o  ^  _)  in  den  Bereich  der  Deriva- 
tionsmetrik; da  liegt  im  Gegenteil,  wie  besonders  die  Erörterung  Au- 
guetins  ganz  deutlich  macht,  die  Auflassung  als  Trimeter  (drei  sechs- 
zeitige  Füße)  vor. 


^4  KicuARD  Hkinzk:  [7«,  4 

Von  den  beiden  Eigentüniliclikeiton  des  horazischcn  Ver- 
ses vermag  diese  Theorie  die  eine  —  Cäsur  nach  der  fünften 
Silbe  —  nur  halb,  die  andere  —  Länge  der  4.  Silbe  —  gar 
nicht  zu  erklären.  Erklären  könnte  sie  höchstens  die  Durch- 
führung einer  Cäsur:  aber  warum  Horaz  diese  in  den  drei 
ersten  Büchern  fast  ausscliließlich,  später  ganz  überwiegend 
nach  der  fünften,  nicht  nach  der  sechsten  Silbe  ansetzt,  bleibt 
unerklärt.  Alkaios'  und  Sapplios  Verse  haben  keine  Cäsur; 
das  können  wir  nach  den  neuen  Funden  mit  noch  größerer 
Sicherheit  als  zuvor  sagen.  Zwar  für  Sappho  stand  es  schon 
immer  fest:  aber  für  Alkaios  konnte  der  —  wie  sich  nun 
herausgestellt  hat  —  zufällige  Umstand,  daß  die  sieben  von 
ihm  in  Zitaten  erhaltenen  Verse  sämtlich  Worteinschnitt  nach 
der  fünften  Silbe  aufweisen,  zu  der  Vermutung  verführen,  daß 
Horaz  ihn  sich  zum  Muster  genommen  habe^):  unter  den 
36  neuen  Versen,  deren  Erhaltung  uns  ein  Urteil  gestattet 
hat  genau  die  Hälfte,  18,  jenen  Einschnitt  nicht;  10  davon 
haben  auch  nach  der  sechsten  Silbe  kein  Worteude;  so  daß 
also  der  Gedanke  an  eine  beabsichtigte  Zweiteilung  des  Ver- 
ses hier  noch  weniger  aufkommen  konnte  als  beim  Asklepia- 
deus.  Und  geht  man  über  solche  äußerliche  Statistik,  bei 
der  die  Zusammengehörigkeit  der  Worte  ganz  außer  Acht  ge- 
lassen ist,  hinaus^)  und  sieht  auf  den  Sinnesabschnitt,  so 
haben  diesen  Alkaios  und  Sappho  in  der  Mitte  des  Verses 
ebenso  wenig  gesucht  oder  vermieden  wie  an  anderen  Stellen: 
wenn  er  in  (pKivstaC  ^loi  %y\vog  niemals,  in  noiKiXdd^Qov 
uQ'dvat  ^AcpQodiTa  verhältnismäßig  häufig  in  der  Mitte  des 
Verses  auftritt,  so  ist  das  kein  metrischer,  sondern  ein  stili- 


i)  KiKssLiNG  Philol.  Unters.   11  67  Anm.  24. 

2)  Ich  bemerke  hier  ein  für  alle  Mal,  daß  ich,  da  ich  die  lesbi- 
schen Verse  nicht  um  ihr^r  selbst  willen  behandle,  in  den  Fragen  der 
Verseinschnitte  ganz  nach  Analogie  horazischen  Versbaues  gerechnet 
habe;  es  mußte  versucht  werden,  die  Dinge  so  aufzufassen,  wie  sie 
Horaz  wahrscheinlich  aufgefaßt  hat.  —  Die  dramatische  Lyrik  habe 
ich  ganz  bei  Seite  gelassen;  für  Horaz  ist  sie  schwerlich  irgendwie  in 
Betracht  gekommen. 


70, 4]  Die  lyrischen  Versr  des  Horaz.  65 

stischer  Unterschied,  der  mit  dem  verschiedenen  Ethos  der 
Gedichte  zusammenhängt:  die  leidenschaftliche  Erregung  von 
(paCverai  ;tot  xfivog  spiegelt  sich  auch  darin,  daß  metrisches 
und  syntaktisches  Kolon  ungewöhnlich  häufig  nicht  zusam- 
menfallen, sondern  ein  Satzglied  mit  ein  oder  zwei  Worten 
in  den  folgenden  Vers  hinüberreicht  oder  kurz  vor  dem  Vers- 
Bchluß  anhebt.  Beim  dritten  Hendecasyllabus  der  Strophe 
vor  allem  konnten  die  lesbischen  Dichter  um  so  weniger  auf 
eine  Zweiteilung  verfallen,  als  ja  der  Adonius  für  sie  kein 
vierter  Vers  ist,  sondern  zum  dritten  gehört:  mit  dem  ihn  in 
der  dritten  Strophe  von  TtoixiXö&Qov  ä&dvat  ^AcpQodCxa  Wort- 
einheit, in  der  vierten,  fünften  und  siebeuten  die  syntaktische 
Gliederung  (Kolonschluß  vor  der  zweit-  oder  drittletzten  Silbe 
des  dritten  Verses)  aufs  engste  verbindet. 

Als  einziges  Dokument  der  Entwicklung  in  hellenisti- 
scher Zeit  müssen  uns  die  fünf  sapphischen  Strophen  des 
Hymnus  der  Melinno  auf  Rom  dienen  (bei  Stob.  lU  7,  12), 
der  freilich  erst  dem  letzten  Jahrhundert  v.  Chr.  entstammt; 
aber  was  er  etwa  an  Neuem  aufweist,  wird  nicht  gerade  erst 
Melinno  geneuert  haben:  wir  dürfen  von  ihm  auf  ältere  Praxis 
schließen.  Hier  ist  nun  ein  deutlicher  Fortschritt  in  der 
Richtung  auf  Horaz  hin  festzustellen.  Zwar  ist  die  Cäsur 
nach  der  fünften  Silbe  nicht  durchgeführt,  aber  sie  findet 
sich  in  10  unter  15  Versen,  drei  weitere  haben  sie  nach  der 
folgenden  Kürze;  nur  zwei  also  entbehren  eines  solchen  Ein- 
schnitts in  der  Mitte.  ^)  Fast  wichtiger  noch  ist,  daß  deut- 
lich die  Empfindung  einer  Zweiteilung  der  Verse  hervortritt, 
indem  die  zweite  Hälfte  durch  zwei  eng  zusammengehörige 
Worte  ausgefüllt  wird  —  &vydTi]Q  'läQrjog,  datcpQcov  ävaööa, 
XQat£Qä)v  IsTtddvcov,  TCoXiäs  ^alcc60ag,  6  ^ayiövog  aiäv,  oder, 
wie  dann  so  oft  bei  Horaz,  zwei  Paare  von  Subst.  und  Adj. 


1)  Beidemale  (13,  17)  ist  es  der  dritte  Vers  der  Strophe:  ob  darin 
noch  das  Bewußtsein  von  dessen  Zusammengehörigkeit  mit  dem  Adonius 
wirkt?  Durchweg  bilden  die  beiden  ersten  Verse  der  Strophen  in  sich 
gegenüber  3  und  4  eine  Einheit;  nur  einmal  (13)  greift  der  Satz  mit 
einem  Wort  in  den  3.  Vers  über. 

PhU  -hist.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  4.  5 


ö6  KicHAiii»  IIkinze:  f7o,  4 

in  einem  Vers  verscliränkt  sind:  xvdo^  «()(>»JxTaj  ßaöiXyov 
aQX(^9i  oder  ein  Pniir  iiuf  die  KolaBchliisse  vorlcilt  wird:  <ig)(>a 
y.oi()ttvfjOV  f';|^o((y«  xa'pro«,'  oder  die  Cilsur  umgibt:  öol  ^6v<f 
:TXyjötörioi>  ovqov  «();t«i,%  xQutidTOix;;  \  «rdpag,  aix^i'ijTng  ^fyd- 
Xoxy^  Xoxevftg.  wie  iinderorseits  auf  Anfjiug  und  Schluß  dos 
Verses :  öe^ivm'  ci  vaCfig  ircl  y&g  "OXv^Ttov  —  alles  aus  Horaz 
uns  wolilbekanute  Sclu'mata 

Die  Vermutung,  daß  wir  Meliunos  Teclinik  als  tvi'iHch 
anseilen  dürfen,  wird  dadurch  bestätigt,  daß  CatuU  genau  die 
gleiche  aufweist:  auch  er  hat  sie  gewiß  nicht  selbständig  auf 
Grund  einer  Analyse  von  Sapphos  Liedern  geformt,  sondern 
der  Praxis  hellenistischer  Dichter  nachgebildet.  Von  den 
zwölf  sapphischeu  Hendecasyllaben  von  c.  51  haben  neun 
Wortende  nach  der  fünften,  die  übrigen  drei  nach  der  sechsten 
Silbe;  unter  den  18  Versen  von  c.  11  finden  wir  vier  ohne 
solchen  Einschnitt^),  Qmal  fällt  er  nach  der  fünften,  5 mal 
nach  der  sechsten  Silbe.  Das  Verhältnis  ist  also  ganz  ähn- 
lich wie  beim  Phalaeceus,  wo  CatuU  gleichfalls  zwei  Cäsuren 
anerkennt,  der  einen  entschieden  den  Vorrang  gibt,  ausnahms- 
weise von  beiden  absieht.  Auch  bei  Catull  weist  die  Gestal- 
tung der  Rede  oft  genug  auf  das  Bewußtsein  der  Zweiteilung 
hin:  man  lese  nur 

Furi  et  Aureli  \  comites  Catulli 
sive  in  extremos  j  penetrahit  Indos 


und 


und 


sive  trans  alias  |  gradietur  Alpes 
Caesaris  visens  \  monimenta  magni, 
Gallicuni  Rhenum 


lingua  sed  torpet,  \  tenuis  sub  artus 
flamma  demanat,  \  sonitu  suopte 
tintinant  aures,  \  gemina  teguntur 
liimina  node. 
Hora/.   hat   nun    den   entscheidenden   Schritt   getan,   die 
Tendenz,  die  er  bei  seinen  nächsten  Vorgängern  beobachtete, 

i)  In    drei    von   diesen  Fällen    handelt   es    sich   um    den    dritten 
Uendecasyllabus:  b.  vorige  Anm. 


70»  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Hohaz.  67 

zum  Gesetz  zu  erheben;  er  hat  die  von  jenen  bevorzuo-te 
Form  des  Verses  mit  dem  Einschnitt  nach  der  fünften  Silbe 
die  auch  ihm  offenbar  die  schönste  zu  sein  dünkte  in  dem 
größten  Teil  seiner  Produktion  zur  allein  gültigen  erhoben. 
Die  Einförmigkeit,  die  hierdurch  entstand,  ist  ihm  nicht  lästig 
erschienen,  so  wenig  wie  die  regelmäßige  Wiederkehr  ein  und 
derselben  Cäsur  im  Hexameter  und  jambischen  Trimeter-  ja 
er  hat  diese  Einförmigkeit  noch  durch  weitere  Beschränkun- 
gen der  Wortschlüsse  gesteigert.  Nicht  nur,  daß  er  vor  der 
Cäsur  einzelstebende  Monosyllaba  so  gut  wie  ganz  vermied  — 
darüber  wird  gleich  mehr  zu  sagen  sein  — :  er  hat  auch  nach 
dieser  Cäsur,  offenbar  um  den  anapästisch  ansteigenden  Rhyth- 
mus der  zweiten  Vershälfte  nicht  zu  hemmen,  einsilbio-es 
Wort,  abgesehen  von  et,  das  sich  für  sein  Ohr  fast  restlos 
mit  dem  folgenden  Worte  verband,  nur  in  sehr  seltenen  Aus- 
nahmen zugelassen^);  in  der  ersten  Vershälfte  aber  überwiegt 
Worteinschnitt  nach  der  dritten  Silbe  so  stark,  daß  z.  B.  unter 
165  Versen  des  ersten  Buches  122  diesen  Typus  (_  .^  _  I  _) 
aufweisen. 

Als  unverbrüchliches  Gesetz  der  Versbildung,  analog  etwa 
dem  der  Elfzahl  der  Silben,  hat  die  Cäsur  nach  der  fünften 
Silbe  dem  Horaz  zu  keiner  Zeit  gegolten.  Er  hat  sich  schon 
in  den  ersten  Büchern,  freilich  äußerst  selten,  Ausnahmen 
gestattet,  für  die  ein  besonderer  Grund  nicht  ersichtlich  ist: 
I  12, 1  quem  virum  aut  heroa  lyra  vel  acri 
I  30, 1  0  Venus  regina  Cnidi  Paphique 

I  25,11   Thracio  hacdiante  magis  sub  inter- 

II  6,  1 1  fliimen  et  regnata  petam  Laconi 
sowie  dreimal  in  den   15  Versen  von  I  10: 

I.  Mercuri  facunde  nepos  Atlantis 
6,  nuniium  curvaeque  lyrae  parentem 
i8.  sedibus  virgaque  levem  cocrces. 

1)  et  findet  sich  an  dieser  Stelle  i4mal;  die  übrigen  vier  Fälle 
sind  I  20,  2  cantharis,  Graeca  quod  ego  ipse  testa,  22,  2  sive  facturus 
per  inliospüdlem,  32,  2  lusimus  tecum,  quod  et  hunc  ia  annum,  III  7,  i 
Martiis  caeltbs  quid  agam  calendis. 


5 


* 


6S  RiCHAUi)  Hiunzk:  17*^.4 

Das  tritt  daim  häulif^or,  nii-lit  mehr  als  Ausnahme,  son- 
dern wie  eine  herechtigte  Nebeutbrm,  im  ('iirmen  saeculare 
-  19  Fälle  in  h)  Strophen  —  und  in  den  Oden  des  vierten 
Buches  auf:  1 2  mal  in  Pindanim  rinisquis  (45  llendecasyll.), 
dmal  in  Divc  quem  jyroles  {^^i),  4 mal  in  Est  mihi  nonum  (27). 
Alle  diese  Verse  sind  nicht  etwa  cäsurlos,  sondern  die  Cäsur 
ist  nur  um  eine  Silbe  weitergerückt:  das  ist  also  die  zweite 
der  bei  Iloraz'  Vorgängern  beliebten  Formen.  Es  liegt  auf 
den  ersten  Blick  nahe,  die  Tatsache,  daß  un^  der  Umschwung 
zuerst  deutlich  im  Carmen  saec.  entgegentritt,  so  aufzufassen, 
daß  Horaz  in  dem  für  Chorgesang  gedichteten  Text  geglaubt 
habe,  sich  von  seiner  für  den  Rezitationsvers  aufgestellten 
Regel  emanzipieren  zu  dürfen^):  läge  nur  ein  Verzicht  auf 
die  Cäsur,  nicht  lediglich  ein  Wechsel  zweier  Cäsuren  vor! 
So  ist  der  Fall  m.  E.  im  Prinzip  nicht  anders  zu  beurteilen, 
als  wenn  etwa  unter  den  18  Hexametern  von  1  28  sich  drei 
nicht  mit  Penthemimeres,  sondern  mit  trochäischer  Cäsur 
(oder  Hephthemimeres)  finden;  man  wird  sich  mit  der  Fest- 
stellung begnügen  müssen,  daß  Horazens  Ohr  im  Laufe  der 
Jahre  seine  Ansprüche  in  diesem  Punkte,  wie  ja  in  anderen 
bekanntlich  auch  (insbesondere  betreffs  der  Zulässigkeit  von 
Synalöphen)  geändert  hatte. 

Aus  der  Sonderstellung  von  I  10  innerhalb  der  ersten 
Sammlung  würde  ich,  wenn  nicht  reiner  Zufall  anzunehmen 
ist,  auf  späte  Abfassung  zu  schließen  geneigt  sein;  Kiessling 
dagegen  knüpfte  daran  seine  Hypothese,  auf  die  ich  schon 
oben  S.  3  hindeutete.  Er  beobachtete,  daß  I  10  noch  eine 
andere  Eigentümlichkeit  aufweise:  unter  15  Hendecasyllaben 
schließen  13  mit  dreisilbigem  Wort;  einer  viersilbig:  reddi'- 
cHsses,  wobei  Einschnitt  nach  der  Präposition  anzunehmen 
sei,  einer  zweisilbig:  Troiae,  was  als  Eigenname  nicht  unter 
die  Regel  falle.  Indem  Kiessling  beide  Besonderheiten  kom- 
binierte, glaubte  er  in  dem  Gedicht  eine  bewußte  Variation 
des  sapphischen  Metrums  zu  erkennen:  hier  liege  nicht  die  Auf- 


1)  WiLAMowiTz,  Die  Ilias  und  Homer  (1916),  S.  353. 


70, 4]  Die  lykischen  Verse  des  Horaz.  69 


u u  u  . 


fassung  _u !uw_;^_u  zugrunde,  sondern 

concinnatio  von  einer  glykoneischen  Reihe,  die  als  selbstän- 
diges Kolon  in  I  8  (hoc  deos  vere  Syharin)  wiederkehre,  und 
Amphibrachys.^)  Diese  Auffassung  ist,  ura  das  gleich  zu 
sagen,  nirgends  überliefert,  und  die  Analogie  der  Analyse 
Augustins,  auf  die  sich  Kiessling  beruft,  habe  ich  schon 
S.  63,  2  abgelehnt.  Aber  au6h  abgesehen  davon  ist  Kiess- 
LiNGs  Hypothese  unhaltbar:  sie  schiebt  dem  Dichter,  den  sie 
als  Anhänger  der  Derivationstheorie  zu  erweisen  sucht,  Theo- 
rien unter,  die  dieser  Metrik,  soweit  wir  sie  kennen,  fremd 
sind,  und  sie  traut  ihm  weiter  zu,  seine  Theorien  sehr  unge- 
schickt in  die  Praxis  übersetzt  zu  haben.  Es  ist  erstens 
jenen  Metrikern,  wenn  sie  verschiedene  Möglichkeiten  für  die 
Ableitung  eines  Verses  aufstellten,  nie  eingefallen,  daraus 
'Variationen'  des  Verses  zu  konstruieren:  der  Vers  blieb  einer 
und  derselbe,  mochte  er  so  oder  so  entstanden  sein.  Kiess- 
ling beruft  sich  auf  die  sieben  Divisionen  des  Phalaecens 
bei  Caesius,  von  denen  die  eine,  ganz  ähnlich  wie  es  Horaz 
in  I  10  bei  dem  Sapphiker  angenommen  haben  soll,  den  Vers 
'aus  dem  Hinzutreten  eines  schließenden  Araphibrachys  zu 
der  achtsilbigen  anakreontischen  Reihe  erwachsen  läßt'.  Ich 
habe  oben  S.  53  zu  zeigen  gesucht,  daß  hier  in  Wirklich- 
keit nicht  eine  Ableitung  des  Phalaeceus,  sondern  des  Glyko- 
neus  aus  diesem  vorliegt;  aber  gleichviel:  auch  Caesius  hat 
nicht  gemeint,  daß  es  sieben  Variationen  des  Phalaeceus  gebe, 
sondern  er  wählt  nur  mit  castae  Pierides  meae  \  Gamenae  ein 
Beispiel,  an  dem  sich  die  divisio  durch  Streichen  des  letzten 
Wortes  recht  anschaulich  machen  läßt;  so  wie  ein  anderer 
Metriker,   um    die  Entstehung   des  jambischen  Septenars   aus 


i)  Schröder  p.  20  schließt  sich  ihm  an,  nur  daß  er  (ganz  ohne 
antiken  Vorgang)  das  erste  Kolon  als  Daktylenhephthemimeres  inter- 
pretiert. In  einem  Verse  wie  lenis  Ilitliyia  tuere  inatres  läßt  er  dann 
die  beiden  Interpretationen  des  Verses  'ineinander  übergehen'.  Ein 
Daktylenhephthemimeres,  in  dem  der  erste  Fuß  durchweg  Trochäus, 
der  zwoite  durchweg  Spondcus  ist  —  darf  man  so  etwas  wirklich  noch 
Interpretation  nennen? 


70  EiciiAui)  ITkinze:  [70,4 

ilcni  Seiiar  zu  voninscbauliclicu,  das  Beispiel  wälill  quid  in- 
mercntihns  noces,  quid  itividcs  \<nnicis,  aber  natürlich  nicht 
sagen  will,  daß  «liese  Ableitung  nur  für  solche  Verse  gelte, 
die  Wortschhiß  vor  den  letzten  drei  Silben  haben.  Bei  der 
concinnatio  steht  es  anders:  da  gibt  die  feste  Cäsur  des 
Verses  die  Fnge  der  beiden  Kommata  an;  die  udiectio  da- 
gegen hinterläßt  im  fertigen  Verse  keine  Spur,  und  der  Me- 
triker von  Oxyrh^'nchos  hält  es  denn  auch  gar  nicht  für 
nötig,  daß  die  Silben,  die  er  bei  seiner  Demonstration  ^veg- 
schneidet,  ein  ganzes  Wort  bilden.  Somit  hätte  Horaz,  wenn 
er  sich  darauf  kapriziert  hätte,  seine  Analyse  in  I  10  durch 
Abtrennung  der  letzten  drei  Silben  zu  markieren,  schwerlich 
selbst  beim  Kenner  auf  Verständnis  rechneu  können;  und  als 
'Variation'  des  Verses,  die  dem  Metrum  den  Anspruch  auf 
einen  selbständigen  Platz  neben  dem  sapphischen  Metrum 
von  I  2  gäbe,  hätte  es  der  Kenner  nicht  gelten  lassen.  Weiter: 
die  seltsame  Theorie  wäre  aufs  ungeschickteste  in  die  Praxis 
übertragen.  Sie  macht,  nach  Kiessling,  die  Cäsur  über- 
flüssig: trotzdem  behält  Horaz  in  12  von  15  Versen  die  regel- 
mäßige Cäsur  bei,  und  läßt  nur  in  dreien  —  eine  andere 
eintreten,  die  ihm  auch  sonst  gelegentlich  als  vollwertig  gilt.^) 
Endlich,  statt  nun  wenigstens  den  dreisilbigen  Schluß  durch- 
zuführen, führt  er  auch  da  den  harmlosen  Leser  irre,  indem 
er  zweimal  sich  Lizenzen  erlaubt.  Ich  kann  darin,  daß  gerade 
hier  diese  Schlüsse  so  stark  überwiegen,  nur  einen  Zufall 
sehen:  so  hat  I  38,  wenn  wir  analog  dem  reddidisses  auch 
adparatus  und  adlahores  gelten  lassen,  nur  dreisilbige  Schlüsse, 
aber  durchweg  die  regelmäßige  Cäsur,  und  I  30,  worin  nur  v.  i 
"weibliche  Cäsur  hat,  nur  v.  6  zweisilbigen  Schluß  (NympJiae: 
Name!)  —  weshalb  denn  freilich  Scuröder  auch  dies  Ge- 
dicht mit  I  10  auf  die  gleiche  Stufe  stellt.  Andererseits  fin- 
den sich  im  CS.  und  in  Buch  IV  unter  den  Versen  mit  tro- 
chäischer Cäsur  eine  Anzahl  —  freilich  die  große  Minder- 
heit  —    mit    zweisilbigem  Wort    am    Schluß:    wo   also    von 

i)  In  zweien  von  diesen  drei  Fällen  braucht  man  noch  dazu  nur 
vor  qiie  einzi||SchDeiden,  um  die  regelmäßige  Cäsur  zu  erhalten. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  7 1 

einer  Wirkung  jener  Analyse  nicht  die  Rede  sein  kann.  Die 
beiden  Erscheinnugeu,  von  denen  KiesslIng  ausging,  können 
allerdings  zusammenhängen,  aber  in  ganz  anderer  Weise  als 
er  meint:  wenn  Horaz  in  Buch  I — III  in  allen  Füllen,  im 
Buch  IV  wenigstens  meist  da,  wo  er  die  weibliche  Cäsur  hat, 
auch  dreisilbig  schließt,  so  vermeidet  er  vielleicht  absichtlich 
die  Wiederholung  des  trochäischen  Schlusses:  lUlhjm  \  tuere\ 
matres  mag  ihm  in  früherer  Zeit  doppelt  weichlich  geklungen 
haben.  Ich  halte  das  für  denkbar,  weil  auch  Catull  die  gleiche 
Regel,  und  zwar  ausnahmslos,  'befolgt  hat. 

Wenn  nach  dem  allen  die  Durchführung  der  Cäsur  von 
analytischer  Theorie  ganz  unabhängig  gewesen  ist,  so  dürfen 
wir  bei  dem  Versuche,  etwas  über  Horazens  metrische  Auf- 
fassimg  des  Verses  festzustellen,  jedenfalls  von  den  beiden 
durch  die  Cäsur  gesonderten  Teilen  des  Verses  nicht  ausgehen. 
Gegen  die  Auffassung  des  ersten  Teiles  als  trochäischen  Ko- 
lon, wie  sie  nach  den  antiken  Metrikern  Christ  und  Kiess- 
LiNG  lehrten,  spricht  überdies  die  Gestaltung  des  einzelnen 
so  deutlich,  daß  man  glauben  könnte,  Horaz  habe  ihr  ge- 
flissentlich vorbeugen  wollen.  Zwei  Besonderheiten  treten  hervor. 
Erstens  die  ausnahmslos  festgehaltene  Länge  der  vierten  Silbe. 
Freilich  hat  Horaz  auch  in  diesem  Punkte  nur  zum  Abschluß 
gebracht,  was  sich  schon  vorbereitet  hatte.  Bei  Alkaios  und 
Sappho  überwiegt  zwar  die  Länge,  aber  die  Kürze  ist  so 
häufig,  daß  man  sieht,  jenes  Überwiegen  ist  nicht  Absicht  des 
Dichters;  Melinno  dagegen  hat  in  15  Versen  nur  2 mal,  Catull 
in  seinen  30  HendecasyUaben  nur  3  mal  Kürze.  Ich  nehme  an, 
daß  schon  ihnen  der  rein  'trochäische'  Eingang  _  ^  _  u  _  w  . . . 
den  Vers  zu  leichtfüßig  erscheinen  ließ-,  der  Römer  zumal 
konnte  befürchten,  daß,  wenn  ein  scheinbar  trochäischer 
Rhythmus  zu  stark  ins  Ohr  falle,  er  an  die  volkstümlichen 
trochäischen  Verse  erinnere.  Das  mag  denn  auch  —  zweitens  — 
dazu  mitgewirkt  haben,  daß  Catull  —  wie  übrigens  schon 
Melinno  fast  ausnahmslos  —  Wortschluß  nach  der  vierten 
Silbe  vermieden  hat,  der  die  vier  Silben  als  trochäisches  Me- 
trum hätte   empfinden  lassen   und  zudem   durch  den  Zusam- 


7  2  RiOHARi»  Hrinze:  [70.4 

luonschluß  von  Wortakzent  und  Versakzont,  einen  lässig  vul- 
gären Rhythmus  erzeu^^t  hätte:  v<,M.  etwa  difjiia  dignis,  sie  Sar- 
»lentus  habeai  <rass(ix  cornjicdes.  Diesen  Wortschluß  liat  CatuU 
auch  in  den  Versen  vernneden,  wo  nach  der  t'iinften  Silhe 
nicht  Cäsur  eintritt,  also  auch  nicht  Monosylhihuin  vor  die 
Cäsui-  zu  stehen  gekommen  wäre;  zugelassen  hat  er  ihn  dar 
gegen  nach  oinsilhigem  Worte  (4  mal):  da  waren  jene  be- 
denken erhehlich  gemildert.  Daß  l)ei  Horaz  in  der  weitaus 
größten  Zahl  der  Fälle  Wortschluß  nach  der  vierten  Silhe 
schon  durch  die  nach  der  fünften  Silbe  eintretende  Cäsur  aus- 
geschlossen war,  liegt  auf  der  Hand;  nicht  durchaus  vermie- 
den hat  auch  er,  wie  Catull,  den  Wortschluß  nach  Mono- 
syllabum  (so  daß  nun  zwei  Monosyllaba  vor  der  Cäsur  stehen): 
der  fin  let  sich  20 mal,  während  Wortschluß  nach  Polysylla- 
bum  au  dieser  Stelle,  ohne  daß  die  letzte  Silbe  verschliffen 
ist,  keinmal,  mit  Verschleifung  nur  4mal  eintritt:  obwohl 
doch  in  diesem  letzten  Falle  der  Wortakzent  nicht  hinderlich 
sein  konnte.  Und  auch  in  den  47  Versen,  in  denen  die  Cä- 
sur trochäisch  ist,  findet  sich  nur  i  mal  Wortschluß  nach  der 
vierten  Silbe,  und  da  nach  doppeltem  Monosyllabum  (IV  1 1,  29 
setnper  ut  te  digna  sequare),  woran  das  folgende  Wort  eng  an- 
schließt.^^ 

Mit  dieser  negativen  Feststellung  ist  aber,  glaube  ich^ 
erschöpft,  was  sich  über  Horazens  Auffassung  des  Verses  mit 
einiger  Bestimmtheit  sagen  läßt.  Wenn  er,  was  ich  für  wahr- 
scheinlich halte,  den  Vers  als  Trimeter  aufgefaßt  hat,  so  wird 
die  bei  Augustin  überlieferte  Analyse  _u_j__uw|_u_u  den 
Vorzug  vor  der  des  Atilius  _k^_v^!_oi^_jv_u  verdienen:  das 
Überwiegen  des  Worteinschnitts  nach  der  dritten  Silbe  (s.  ob. 
S.  67)  über  dem  nach  der  zweiten  scheint  anzudeuten,  daß 
Horaz  den  Eingang  als  kretisch  gehört  hat;  was  gegen  trochä- 


i)  In  seinen  Trochäen  fnon  ebur  neque  aureuvi)  hat  Horaz  Ein- 
schnitt nach  der  vierten  Silbe  so  wenig  vermieden,  wie  es  die  trochä- 
ischen Verse  der  Komiker  tun,  oder  wie  er  selbst  es  in  den  jambischen 
Versen  tut:  ep.  i,  5.  15.  19.  24.  dazu  in  diesem  Jambus  9 mal  nach 
Monosyllabum,  u.  s.  f. 


70,4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  73 

ische  Auffassung  spricht,  haben  wir  oben  gesehen.  Aber 
jedenfalls  hat  Horaz  keinen  Wert  darauf  gelegt,  dem  Hörer 
den  Vers  als  Trimeter  zu  demonstrieren:  die  Zweiteilung  hat 
damit  ja  nichts  zu  tun,  und  sie  ist  es,  die  dem  Vers  den 
Stempel  gibt.  Sie  wird,  wie  beim  Asklepiadeus,  aufs  stärkste 
betont  durch  die  Wortgruppierung ,  insbesondere  durch  die 
Verteilung  von  Substantiv  und  zugehörigem  Adjektiv  auf 
die  Schlüsse  oder  —  seltener  —  die  Anfänge  der  beiden 
Hälften  eines  oder  zweier  aufeinanderfolgender  Verse. 

4.  Größere  Sapphisclie  Strophe  (od.  I  8), 


_u_ uu_     -jw-k^ 


Hier  sind  wii"  in  der  glücklichen  Lage,  mit  Bestimmt- 
heit zu  sagen,  wie  Horaz  in  seinen  metrischen  Handbüchern 
die  beiden  Verse  der  Strophe  analysiert  fand  —  wenn  er 
sich  die  Mühe  nahm,  nachzusehen.  Den  kürzeren  Vers  er- 
klärt die  antike  Metrik  einhellig,  sowohl  Hephaestion  wie  die 
römischen  Horazmetriker,  aber  auch  Augustiu,  als  choriam- 
bisch: ob  man  sagt  di^stQov  xaxuXr^Kxizov  (Heph.  9.  Atil. 
p.  300)  oder,  genauer,  %OQiu^ßixbi'  sqj&rjfiLfiSQsg  tö  slg  ri)v 
iccußLX7)v  xardxkstda  (Heph.  15  p.  55  C.)  oder,  äußerlicher, 
ex  cJioriamho  et  anfihacchio  compositum  est  (Caesius  270  vgl. 
Augustin.  de  mus.  HI  8,  18  post  choriamhum  hacchium  com- 
perinms)  bleibt  sich  gleich;  auch  Diomedes'  Identifikation 
mit  dem  zweiten  Teil  des  längeren  Verses  (50g)  läuft  auf  das- 
selbe hinaus.  Der  längere  Vers  wird  in  der  horazischen  Form 
von  Hephaestion  nicht  erwähnt.  Diomedes  bezeichnet  ihn 
p.  508  einfach  als  choriambisch,  p.  520,  in  den  Metra  Hora- 
tiana,  wo  er  ihn  skandiert  hippius  secundus  (=  epitritus),  duo 
choriambi,  bacchius,  nennt  er  ihn  Alcaicum  metrum.  Auch 
Caesius  270  weiß,  daß  er  von  Alkaios  erfunden  und  choriam- 
bisch ist:  aber  ein  genau  entsprechendes  griechisches  Beispiel 
hat  er  offenbar  nicht  gefunden,  denn  er  behauptet,  Horaz 
habe  die  choriambische  Natur  des  Verses  verkannt  und,  ab- 
weichend  von   Alkaios,   fälschlich   an  zweite  Stelle    statt  des 


74  1\i(ii\Ki>  TTkin/k:  [70.4 

.Iiinibus  eiiioii  Spondeus  gosotzt  Diese  worfcreiclie,  Tadel  uiul 
Entschuldii^uiig  sell)st*jefiillif^  sibwiii^endf  I*]x])ekt()ratioii  ist 
ottenltar  Caesius'  eigene  L»'istung,  mit  der  er  Eindruck  ge- 
macht hat:  Atilius  schreibt  sie  ilim  p.  3011  mich,  fügt  aber 
dann,  aus  anderer  QueUe,  zwei  griechische  Beispiele  hinzu, 
nicht  aus  Alkaios,  sondern  aus  Anakreou  ccönCöa  Qtil<as  nora- 
uov  •/mX?aq6ov  jtao  öyi^ci^'  und  aus  Sa])plio  devra  vvv  aßQcd 
XägiTeg  y.aXXixouoi  rf  Movöca:  dies  der  Vers,  den  Ilephaestion 
als  Beispiel  für  den  (reinen)  choriambischen  katal.  Tetraineter 
gibt  (p.  30  C).  Daß  er  dazu  ein  gutes  Itecht  hatte,  nehme 
ich  als  sicher  an:  es  müssen  in  dem  Gedicht,  das  offenbar 
mit  jenem  Verse  begann,  solche  reiugebaute  Tetrameter  vor- 
gekommen sein,^)  Aber  es  wird  auch  niemand  bestreiten, 
daß  die  Bildung  mit  erstem  trocMischem  Metron  für  Sappho 
möglich  war:  und  daß  Horaz  solche  Verse  bei  den  Aoliern 
vorfand,  ergibt  sich  aus  seiner  Nachahmung.  Nur  darf  man 
bezweifeln,  daß  diese  Bildung  in  einem  ganzen  Gedichte  kon- 
sequent festgehalten  war:  das  würde  äolischer  Gepflogenheit 
widersprechen.  Dann  hat  also  Horaz  entweder  hellenistischen, 
uns  unbekannten  Vorgängern  folgend,  oder  auf  eigene  Hand, 
den  vielgestaltigen  choriambischen  Tetrameter  normalisiert: 
genau  wie  er  es  bei  den  übrigen  äolischen  Versen  tat.  Die 
römischen  Metriker  hatten  es  nicht  ganz  leicht,  sich  mit  dem 
Verse  abzufinden.  Der  Autor  des  Diomedes  scheint  keinen 
Anstoß  dabei  gefunden  zu  haben,  ihn  einfach  als  choriam- 
bisch zu  bezeichnen:  ob  er  sich  weitere  Gedanken  darüber 
gemacht  hat,  wissen  wir  nicht,  jedenfalls  wußte  er,  daß  Al- 
kaios choriambische  Tetrameter  gedichtet  hat.  Caesius  be- 
merkte, daß  die  Rechnung  nicht  rein  aufging,  und  legte  sich 
das,  ohne  sich  weiter  umzusehen,  in  seiner  Weise  zurecht. 
Der  gelehrte  zweite  Autor  des  Atilius  suchte  nach  Beispielen; 
wenn  es  ein  Zufall  wäre,  daß  er  gerade  zwei  Verse   anführt, 


i)  WiLÄMowiTz,  der  früher  (Isyllos  133)  den  Vers  der  Sappho  in  zwei 

äolische  Kola  --> ^u_   und   _uu_^__  zerlegte,  erklärt  ihn  Sitzungs- 

ber.  d.  Berl.  Ak.   1902,  885  (Choriamb*  Dim.  21),  gewiß  richtiger,   wie 
Hephaestion  als  choriambischen  Tetrameter,  mit  kurzer  dritter  Silbe. 


70,4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  75 

in  denen  die  fragliche  dritte  Silbe  auch  lang  gemessen  werden 
könnte,  so  wäre  das  ein  seltsamer  Zufall:  der  Anakreonvers  ist 
ja  offenbar  aus  einem  Gedichte  geflissentlich  herausgesucht. 
Wie  dem  auch  sei:  von  einer  derivierendeu  Auffassung 
des  Verses  findet  sich  bei  den  antiken  Metrikern  keine  Spur. 
Die  neueren  haben  diesem  Mangel  abzuhelfen  gesucht.  KiESS- 
LING  (Phil.  Unters.  II  69)  erklärte,  Horaz  habe  den  kürzeren 
Vers  sicher  nicht  als  choriambischen  Dimeter  gemeint:  das 
lehrten  die  offenbar  absichtlichen  daktylischen  Worteinschnitte; 
vielmehr  sei  es  ihm  ein  Komma  des  sapphischen  Hendecasjl- 
labus,  dem  der  anlautende  Epitrit  vorne  weggeschnitten  ist^;, 
d.  h.  Avie  er  sich  später  ausdrückte  (Einl.  z.  d.  Oden  8),  eine 
daktylische  Reihe,  Spielart  des  Pherekrateus.  Hierbei  ist  erstens 
die  unbewiesene  Voraussetzung  gemacht,  daß  Horaz  die  ihm 
bekannte  theoretische  Analyse  des  Verses  auch  praktisch  durch 
die  Worteinschnitte  wiedergegeben  haben  müsse.  Daß  ferner 
KiESSLiNG  irrte,  wenn  er  meinte,  die  von  ihm  hier  präsumierte 
divisio  des  Sapphischen  Heudecasyllabus  auch  bei  Atilius  zu 
finden,  habe  ich  schon  S.  63,  2  gezeigt.  Die  derivatio  ist  also 
ganz  willkürlich  und  könnte  mit  besserem  Recht  noch  vom 
alkäischen  Zehnsilbler  oder  vom  Archebuleum  ausgehen,  die 
doch  wenigstens  selbst  dem  genus  dactylicum  angehören:  m. 
a.  W.,  sie  würde  uns  gar  nichts  zum  Verständnis  des  Verses 
nützen,  selbst  wenn  sie  richtig  wäre.  Ebenso  unbefriedigend 
ist  KiESSLiNGs  concinnatio  des  größeren  Verses  aus  dem  An- 
fangskomma des  Sapphikers  und  dem  kleineren  Verse.  Die 
Identität  zwar  des  zweiten  Teiles  mit  dem  Prooden  steht  fest, 
mag  man  diesen  auffassen  wie  man  wiU;  für  die  erste  Hälfte 
aber  stützt  sich  Kiessling  auf  seine  Analyse  des  Sapphikers 
in  I  10,  die  ich  oben  S.  68 fg.  widerlegt  habe-,  und  er  traut 
zudem  Horaz  den  seltsamen  Widerspruch  zu,  daß,  während 
er  dort  die  regelmäßige  Cäsur,  als  für  das  Komm.a  nicht  mehr 


i)  L.  Müller  (de  re  metr.*  116),  den  Kiessling  als  seinen  Vor- 
gänger nennt,  hätte  das  schwerlich  gelten  lassen:  er  stand  der  Christ- 
Bchen  Theorie  sehr  skeptisch  gegenüber  (82  fg.),  ohne  sich  aber  be- 
stimmt darüber  zu  äußern. 


76  luciiAiti»   Heinzk:  |7<'i-1 

Hültii;,  vernachliissigt  hal)e,  er  sie  hier,  in   jiietiiivollor  l<]riij- 
nerunj;  an  seinoii   Ursprung,  beihelinlten   habe. 

Wir  werden  besser  tun,  von  der  Theorie  ganz  a})/,usehen 
und  /n  fragen,  ob  niclit  das  Heisjiiel  der  Vorgänger  und  das 
eigene  Gehör  des  Horaz  zu  der  vorliegenden  ßestaliiing  der 
Verse  fuhren  konnte. 

Im  kürzeren  Vors  fällt  in  dci-  Tat  der  Wortschluß  nach 
dem  Eingangsdactylns  vor  allem  auf,  der  im  Prooden  aus- 
nahmslos durchgeführt,  im  Epoden  wenigstens  fünfmal  in 
den  acht  Versen  beobachtet  ist.  Unser  griechisches  Ver- 
gleichsmaterial ist  äußerst  gering;  und  wenn  unter  den  fünf 
Versen  der.  Sappho,  ihre  choriambischen  'Asynarteten' 
(Heph.  p.  55  C.)  eingerechnet,  vier  jene  Abtrennung  des  Dak- 
tylus aufweisen  — 

51   TCKQd-Evov  üdvcpavov 
QO  i'ilßis  ya/r/i^f,  öol  iihv 
drj  ydiiog,  üg  ccquo  .  . 
TrapO'fVov,  c?v  ägao  — 
so    werden    wir    nicht    schließen ,    daß   dies  Verhältnis  durch- 
gängig gewesen  sei;   aber  reichlich  vertreten   war  der  Typus 
jedenfalls.    Wenn  ihn  Horaz  fast  ausschließlich  zuließ,  so  hat 
er    durch    die   Gliederung    jl^^\  j.^\j.^    (neben    der    nur    noch 
_uv|_|u__  öfters  auftritt)  den  fallenden  Rhythmus  der  Zeile 
so  stark  wie   nur  möglich   betont,   viel  stärker   als   es   durch 
_uw_|^^__    oder    durch    _w!w_ju__   geschehen   wäre;    die  Ab- 
weichung  in  V.  14  _|ww_uj__    ändert  daran  nicht  viel.     Im 
vollen  Gegensatz  dazu  hat  er  im  ersten  Gliede  des  längern  Verses 
durch    die   männlichen   Einschnitte  den  steigenden  Rhythmus 

hervorgehoben:   .u^|_.i|uuj:   (nur  einmal   _w| 1^-^-)  —  es 

mag  Zufall  sein,  daß  die  beiden  Beispiele  des  Atilius,  wenn 
wir  den  Eingang  epitritisch  messen,  genau  die  gleiche  Glie- 
derung aufweisen,  aber  an  solchen  Beispielen  wird  ihm  die 
Wirkung  klar  geworden  sein,  und  an  die  Abtrennung  des 
vorletzten  Anapäst  in  Theokrits  daktylischen  P'ünffüßlern 
(oben  S.  34,  i)  sei  nebenbei  erinnert.  Daß  das  Metrum  durch 
diesen  ausgeprägten    Kontrast   einen   sehr  pikanten   Reiz   ge- 


70, 4]  Die  lyrischen  Vekse  des  Hokaz.  7  7 

winut,  wird  man  uachempfiudeu,  und  wer  will,  mag  darin  ein 
Symbol  für  den  inhaltlichen  Kontrast  sehen,  auf  dem  sich 
das  Gedicht  aufbaut:  dann  kann  man  sogar  die  Abweichung 
im  letzten  Verse  in  Lycias\proriperet\caUrvas,  als  gewollt, 
weil  mit  dem  Inhalt  harmonierend  ansehen:  ich  traue  Horaz 
derartiges  rhythmisches  Raffinement  zu.  » 

Als  Ganzes  ist  die  Strophe  ein  treffliches  Beispiel  dafür, 
wie  Horaz,  ganz  unabhängig  von  einer  theoretischen  Analyse, 
dem  metrischen  Material  frei  schaltend  die  Form  gab,  die 
seinem  rhythmischen  Empfinden  zusagte.  Mag  mau  dies 
Empfinden  teilen  oder  nicht,  bewundernswert  auf  alle  Fälle 
ist  es,  wie  der  Dichter  das  sprachliche  Material  beherrschte, 
so  daß  nicht  ein  Wort  den  mannigfachen  Zwang  verrät,  den 
er  selbst  sich  auferlegt  hatte. 

5.  Der  alkaisclie  Elfsilbler. 
Unmittelbaren  Anschluß  an  das  lesbische  Vorbild  wird 
man  nirgends  zuversichtlicher  erwarten,  als  in  der  Strophe, 
die  xar  ^ ii,oxi]v  die  des  Alkaios  ist:  der  war  ja  wirklich,  wie 
Horaz  selbst  es  sagt  und  wie  sich  immer  deutlicher  heraus- 
stellt, sein  eigentlicher  Leitstern  auf  dem  Felde  der  Lyrik, 
und  von  heUenistisch-römischen  Zwischenstufen  ist  uns  wenig- 
stens bei  dieser  Strophe  nichts  bekannt,  anders  als  bei  der 
sapphischen  Strophe,  bei  Asklepiadeen  und  Glykoneen.  In 
der  Tat  hat,  was  zunächst  den  Elfsilbler  angeht,  Horaz  nur 
alle  die  bei  Alkaios  noch  schwankenden  Bestimmungen  des 
Versbaues  consequent  in  der  Richtung  normalisiert,  die  bei 
jenem  schon  deutlich  überwog.  Unter  48  Versen  des  Alkaios, 
die  uns  ein  Urteil  verstatten,  weisen  i"],  also  ca.  %  Wortein- 
schnitt an  der  Stelle  auf,  an  der  Horaz  die  feste  Cäsur 
ansetzte^);      die    übrigen    verschieben     den    Einschnitt    mit 


i)  Wenn  der  Dichter  des  alten  attischen  Gedichts  AP  XIII  28 
(behandelt  von  Wilamowitz  Hermes  20,  62  =  Sappho  u.  Simon.  218)  sei- 
nen Epoden  bilden  darf  g_u_o  _wu_-u^_u__,  also  das  erste  Glied 
des  alkäischen  Elfsilblers  mit  dem  alkäischen  Zehnsilbler  verbindet, 
80  hat  er  den  Elfsilbler  offenbar  schon  gehört  wie  Horaz. 


78  RiciiAui)  Heinze:  [7<^^  4 

ganz  wenigen  Ausnahmen  eine  Silbe  weiter.  Das  wird  lloraz 
wie  (las  Schwanken  von  männlicher  und  weiblicher  Cäsur  im 
dritten  Fuße  des  Hexameters  aul"«r(>ralit,  den  Vers  als  deut- 
lich zweigliedrig  empfunden  haben:  den  Einschnitt  nach 
der  vierten  Silbe,  durch  die  der  Vers  etwa  in  drei  Metra 
>j_>j_[__wuj.w-  zerfällt  werden  könnte,  hat  Alkaios,  außer 
wenn  ein  Mono sy Ilabon  folgte,  fast  vf'Ulig  vermieden  (sehr 
im  Unterschied,  nebenbei  bemerkt,  zum  sapphischen  Elf- 
silbler,  wo  .der  Einschnitt  nach  der  vierten  Silbe  sogar  recht 
beliebt  ist).  Die  fünfte  Silbe  ist  zwar  bei  Alkaios  noch  an- 
ceps,  aber  doch  in  der  Regel  lang:  icli  zähle  in  45  Versen 
nur  6  Kürzen.  Bei  Horaz  ist  sie  durchweg  lang,  mit  einer 
einzigen  Ausnahme  (III  5,  17),  die  ich  nicht  anzutasten  wage, 
und  die  immerhin,  wenn  sie  zu  Recht  besteht,  beweist,  daß 
Horaz  sich  der  Möglichkeit  kurzer  Messung  bewußt  war.  Die 
erste  Silbe  ist  bei  Alkaios  zwar  gleichfalls  überwiegend  lang, 
aber  es  kommen  doch  auf  31  kenntliche  Fälle  8  Kürzen: 
dem  hat  Horaz  Rechnung  ^getragen,  indem  er,  ein  ganz 
seltener  Fall  in  seiner  metrischen  Praxis,  hier  gleichfalls  die 
Kürze  als  berechtigt  anerkannte,  freilich  selten  genug  (ig mal, 
keinmal  in  Buch  IV)  zuließ:  die  Erscheinung  wiederholt  sich, 
gleichfalls  Alkaios  zu  Liebe,  im  Neunsilbler  derselben  Strophe. 
Die  Derivationstheorie  läßt  den  Vers  aus  einem  jambi- 
schen Kolon  und  dem  zweiten  Gliede  des  Asklepiadeus,  also 
daktylischem  oder  choriambischem  zusammenwachsen,  d.  h. 
sie  geht  von  der  festen  horazischen  Cäsur  aus:  mit  dem 
Einschnitt  nach  der  sechsten  Silbe  hätte  sie  sich  natürlich 
ebensogut  abgefunden.  Zur  Erklärung  der  Länge  der  fünften 
Silbe  trägt  sie  vollends  nichts  bei:  die  jambische  Messung 
hätte  hier  gerade  eine  syllaba  anceps  erfordert.  Gegen  die 
daktylische  Messung  der  zweiten  Hälfte  gilt,  was  ich  oben 
beim  Asklepiadeus  sagte.^) 

i)  RicHARDSoN,  Horace's  alcaic  stroplie  (Univ.  of  California  publi- 
eations,  class.  philol.  vol.  I  p.  175%.,  1902)  hat  gemeint,  von  den  hora- 
zischen Worttchlüssen  den  Charakter  des  Verses  als  'epionischen'  Tri- 
nieter  (y  _  y  _  |  _  _  uw  |  _  >.  l_)  ablesen  zu  können;  ich  gehe  hiernuf  nicht 


70,4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  79 

6.  Der  alkäische  Neunsilbler. 

Im  dritten  Verse  der  alkäischen  Strophe  hat  Horaz,  wie 
zuerst  Lachmann  (in  C.  Frankes  Fasti  Horatiani  [Berlin 
1839]  p.  238 f.)  bemerkt  hat,  Wortende  nach  der  vierten  Silbe 
außer  nach  einem  Monosyllabon,  Wortende  nach  der  fünften 
Silbe  außer  vor  einem  Monosyllabon  vermieden.  An  klaren 
Ausnahmen  von  dieser  Regel  gibt  es,  was  die  vierte  Silbe  an- 
langt, in  den  317  Versen  nur  eine,  I  26,  1 1 :  hunc  Lesbio  sacrarc 
pledro.  Dasselbe  Gedicht  hat  im  Neunsilbler  v.  7  Einschnitt 
nach  der  fünften  Silbe,  im  Zehnsilbler  v.  12  die,  wie  wir 
sehen  werden,  gleichfalls  sehr  seltene  Gliederung  _  w  !  w  _  u ' 
u_ju__,  im  Eifsilbler  v.  6  die  unbeliebte  Stellung  zweier 
Monosyllaba  vor  der  Cäsur.  Alle  diese  Abweichungen  von  der 
Norm  innerhalb  von  12  Versen  sind  gewiß  nicht  Zufall;  aber 
auf  frühe  Abfassung  der  Gedichte  möchte  ich  sie  nicht  (mit 
Lachmann  und  Kiessling,  denen  ich  mich  bisher  ange- 
schlossen habe)  zurückführen;  ein  so  frühes  Gedicht  wie 
I37  weist  von  allen  diesen  Besonderheiten  keine  auf  Die 
metrische  Form  lehrt  uns  auch  hier,  den  Ton  des  Gedichts 
richtig  erfassen:  es  ist  ein  lebhaftes  Impromptu,  plötzlicher 
Eingebung  entsprungen,  ein  energisches,  freudiges  Sichauf- 
raffen aus  tristitia  et  metus:  da  taugt  kein  ebenmäßig  feier- 
licher Gang  des  Verses.  Anders  steht  es  um  eine  zweite  schein- 
bare Ausnahme,  113,27 

sors  exitura  \  et  nos  in  aeternmn 

exilium  impositura  cymhae. 
Da  ist  der  Einschnitt  durch  die  Elision  überbrückt:  aber  die 
Verse  sollen  überhaupt  nicht  normal  klingen:  vier  Mono- 
syllaba, dazu  noch  drei  einsilbige  Präpositionen  in  Zusammen- 
setzung, drei  Synalöphen,  darunter  die  nur  noch  III 29,  35 
begegnende  zwischen  dritter  und  vierter  Zeile  dieser  Strophe, 


ein,  da  ich  seine  Methode  für  garz  verfehlt  halte,  und  bemerke  nur, 
daß  er  den  fundamentalen  Irrtum  begeht,  die  in  allen  lateinischen 
Versen  durchgehende  Abneigung  gegen  Stellung  eines  Monosyllabum 
vor  der  Cäsur  zu  ignori'ren. 


8o  liiciiAKi)  Hkinzk:  [70,  4 

endliclulie  ungewöhnliche  Gcistiiltiin«ir  des  leUton  Verses  (s.  unten 
S.  86)  —  diese  sich  häufenden  lleninuini,aMi  des  Rhythmus 
sind  beabsii'litjoft:  sie  sollen  den  Todes^edankeu  wie  mit  wuch 
tigen  Schlägen  iu  stoß  weis  artikulierter  Rede  einhämmern. 
Wortschluß  nach  der  fünften  Silbe  vor  mehrsil))igem 
Wort  ist  etwas  häufiger,  aber  doch  auch  nur  10 mal  zugebissen: 
I16, 3  pones  iamhis,  sive  flamma 

sive  inari  lihct  Hadriano. 
1113,27  Alcaec  plectro,  dura  navis, 

dura  fugae  mala,  dura  hdli. 
II 14,  II  enavi(/anda,  sive  reges 

sive  inopes  erimus  coloni. 
1119,7  laetalnr.    eulioe!  parce  Liher, 
parcc  gravi  metucnde  thyrso. 
ebd.  1 1   cantare  rivos  atquc  Inmcis. 
ebd.  19  nodo  coerces  viperino. 

I  26,  7  gaudes,  apricos  necte  flores. 
129,11  pronos  reldbi  posse  rivos. 
I35>^^  regumque  matres  harharorum  et 

II  1 ,  1 1   res  ordinär is,  gründe  tnunus 

Cecropio  repetes  cothurno. 

In  den  drei  ersten  Fällen  ist,  wie  man  sieht,  der  Wunsch 
maßgebend  gewesen,  mit  hervorgehobenem  Wort,  das  sich 
zu  Beginn  des  folgenden  Satzgliedes  wiederholt,  kräftig  ein- 
zusetzen. W  as  es  zu  bedeuten  hat,  daß  in  II  1 9  sich  die 
Fälle  häufen  —  der  Vers  hat  in  den  acht  Strophen  über- 
haupt nur  einmal  die  sonst  bevorzugte  Gestalt  —  vermag  ich 
nicht  zu  sagen.  Über  I  26  ist  oben  gesprochen;  in  I  29,  1 1 
kann  man  iu  den  drei  aufeinanderfolgenden  trochäischen 
Schlüssen  malende  Absicht  erkennen. 

Fallen  nun  so  die  Einschnitte  nach  dem  vierten  und 
fünften  Fuße  so  gut  wie  ganz  weg,  so  ergibt  sich  ohne  wei- 
teres, daß  die  häufigste  Gestalt  des  Verses  sein  wird:  _-u| 
^^ju--^):  sie  findet  sich  mit  dreisilbigem  Wort  in  der  Mitte 

I)  Die  verschiedenen  Grestaltungen  des  ersten  und  dritten  Gliedes 
bezeichne   ich   nicht,   da   sie   ohne  Interesse   sind.    Monosyllabum    am 


70, 4j  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  8 1 

143  mal,  mit  Monos.  +  Disyll.  37,  mit  Disyll.  +  Monos,  27, 
insgesamt  207  mal,  also  in  %  aller  Verse.  Demnächst  ist  mit 
viersilbigem  Wort  (a)  oder  dreisilbigem  +  Monos.  (b)  zu  er- 
warten __  |o.__i_  |u__  (a:  29,  b:  9 mal)  und  __u|_|__ul__ 
(a:  37,  b:  11  mal).  Die  ganz  wenigen  Fälle  von  fünf-  und 
eechssilbigen  Wörtern  können  hier  außer  Acht  bleiben.  Den 
drei  Hauptformen  aber  steht  Horaz  nicht  ganz  indifferent 
gegenüber,  so  daß  ihre  relative  Häufigkeit  sich  nur  nach  der 
Häufigkeit  der  drei-  und  viersilbigen  Worte  richtete:   die  im 

ganzen  naturgemäß  überwiegende  Form  _  _  u  j | '-'  -  -  ist  in 

den  53  Versen  von  Buch  IV  41  mal,  also  in  ca.  ^5  der  Fälle 
vertreten,  in  den  72  Versen  von  HI  1—5  5  4  mal,  also  in  % 
der  Fälle ^),  in  den  acht  Versen  des  Siegesliedes  I37  7 mal 5 
dagegen  in  den  acht  Versen  der  bacchischen  Ode  II  19  und 
in  den  sechs  Versen  des  lebhaft  bewegten  sympotischen  Lieds 
I27  nur  je  i  mal.  Man  sieht,  in  feierlicher  Stimmung,  wo 
des  Dichters  Herz  nicht  turbidum  laetatur,  sondern  sich  in 
bewußter  Klarheit  erhebt,  da  ist  die  vöUig  symmetrische 
Gliederung  des  Verses  in  drei  gleiche  Teile  mit  ihrem  Wech- 
sel von  weiblichem  und  männlichem  Ausgang  der  entsprechend- 
ste Ausdruck  der  Empfindung. 

Die  monosyllabischen  Ausnahmen  nun  fordern  geson- 
derte Betrachtung.  Daß  nach  der  vierten  Silbe  Einschnitt 
nur  statt  hat,  wenn  diese  Monosyllabum  ist  (47  mal),  hat  na- 
türlich nur  dann  Sinn,  wenn  dabei  der  Einschnitt  so  gut  wie 
ganz  verschwindet,  d.  h.  das  Monosyllabum  darf  kein  eigenes 
Gewicht  haben,  vor  allem  nicht  etwa  inhaltlich  das  Vorher- 
gehende abschließen.  In  der  Tat  finden  wir  an  dieser  Stelle 
niemals  eine  Nominal-    oder  Verbalform,   ganz  selten  Prono- 


Versschluß  findet  sich  8  mal,  nur  imal  {nee  II  7,  19)  ohne  Verschleifung, 
6 mal  et,  i  mal  in:  also  fast  nur  die  leichtesten  Formen;  in  Buch  IV 
keinmal. 

i)  Dagegen  in  den  12  Versen  von  III  6  nur  6 mal:  ein  unschein- 
bares metrisches  Indicium,  das  die  aus  dem  Inhalt  zu  erschließende 
seitliche  Sonderstellung  des  Gedichtes  bestätigt:  es  ist  aus  anderer 
Stimmung  geboren  als  i — 5. 

Fhil.-hlBt.  Klaese  1918.  Bd.  LXX.  4.  6 


82  RicuAKu  Heinzb:  L?«^»* 

luiiiii:  2 mal  (juae  zu  Beginn  des  Reliitiv8iit/08,  i  mal  mc  nach 
starker  Interpunktion  (I31,  15),  i  nuvl  ebenso  idem  mit  Syna- 
löphe  (111  4,  67);  im  übrigen  Präpositionen  (18  mal)  und 
Partikeln,  die  zumeist  nicht  ein  neues  Kolon  einleiten,  wo- 
durch ein  gewisser  Nachdruck  auf  sie  fiele,  sondern  parallele 
Glieder  eines  Kolons  verbinden  oder  trejinen,  oder  eng  zum 
folgenden  Wort  gehören  (wie  dcvota  nun  vxiinxit  arbos,  por- 
Uisque  non  clausas,  consalquc  non  unius  (mni  u.  dgl.). 

Um  die  (40)  Monosyllaba  an  sechster  Stelle  steht  es 
anders.  Zwar  fehlen  auch  hier  Nominal-  und  Verbalformeu; 
aber  das  Relativpronomen  erseheint  6  mal,  das  Personalpro- 
nomen und  PVagepronomen  je  2  mal,  Präpositionen  nur  2maP); 
auflallend  häutig  stehen  die  Pronomina  oder  die  Partikeln 
non,  nee,  num,  iam,  seu  anaphorisch,  so  daß  ein  gewisser 
Nachdruck  darauf  liegt,  oder  es  leitet  die  Partikel  mit  Be- 
tonung ein  Satzglied  ein^);  im  ganzen  hat  man  bei  dieser 
Anordnung  deutlich  den  Eindruck,  daß  der  Vers  durch  die 
Cäsur  nach  der  fünften  Silbe  in  zwei  Teile  zerfallt.*)  Auf 
den  ersten  Blick  kann  es  seltsam  scheinen,  daß  Horaz,  der 
im  aligemeinen  diese  Cäsur  vermeidet,  sie  da,  wo  er  sie  zu- 
läßt, geflissentlich  durch  eine  Siunespause  verstärkt.  Aber 
gerade  dieser  scheinbare  Widerspruch  verhilft  uns  zum  richti- 
gen Verständnis  der  ganzen  Erscheinung:  was  er  vermeidet  ist 
im  Grunde  mehr  noch  als  die  Cäsur  der  schließende  Doppel- 


i)  II  13,  3  produxit  arbos,  in  nepotum.  IV  9,  23  exeepit  ictus  j)ro 
pudicis.  Der  dritte  Fall  wäre  1 27,  19  quantu  lahorus  in  Charybdi: 
aber  hier  ist  die  Überlieferung  lahorahas  in  jeder  Beziehung  besser. 

2)  Z.  B.  II  17,  15  diveUet  umquam:  sie  potenti  lustitiae  placi- 
tumqiie  Purcis;  III  6,  47  nos  nequiores,  mox  daturos  progeniem  viHo- 
siorem;  III  29,  43  dixisse  'vixi\  cras  vel  atra  nube  polum  PaUr 
occupato. 

3)  Man  lese  etwa  nacheinander  aus  I  16  pones  iambis,  j  sive  flam- 
ma;  nmi  Liter  aeque,  |  non  acuta;  nee  saevus  ignis  \  nee  tremendo , 
stetere  causae,  \  cur  perirent.  Das  Gedicht  mit  seinem  Rückblick  auf  die 
dulcis  iuventa  gehört  gewiß  nicht  zu  den  frühen;  daß  gerade  hier  die 
Cäsuren  des  Trimeters  sich  so  häufen  wie  in  keinem  anderen  Gedicht, 
liegt  vielleicht  daran,  daß  eben  von  Jamben  die  Rede  ist. 


70, 4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  83 

trochäus;  deshalb  dürfen  die  abgetrennten  vier  Scblußsilben 
nicht  _  ^' _  u  oder  _  u  |  _  w  ',  müssen  vielmehr  _  |  ^  _  _  gruppiert 
sein,  und  um  das  zu  betonen,  darf  das  Monosyllabum  nicht, 
wie  es  die  Präposition  tun  würde,  mit  dem  folgenden  Worte 
fast  zur  Einheit  verschmelzen,  sondern  muß  sich  möglichst 
stark  abheben:  das  wird  am  besten  dadurch  erzielt,  daß  es, 
durch  die  Anapher  oder  sonstwie  betont,  ein  neues  Satz- 
glied einleitet.  Wir  werden  demnach  die  eingangs  wieder- 
gegebene LACHMANNsehe  Regel  zu  formulieren  haben:  Horaz 
vermeidet  es,  einen  doppelten  Jambus  am  Anfang  und  einen 
doppelten  Trochäus  am  Ende  des  Verses  durch  Wortschluß 
so  abzuteilen,  daß  sie  als  solche  ins  Ohr  fallen.  Theoretische 
Analyse  des  Verses  kann  zu  dieser  Beschränkung  nicht  ge- 
führt haben,  mag  er  nun  für  den  Dichter  der  Theorie  nach 
ein  hyperkatalektischer  jambischer  Dimeter  oder  ein  trochä- 
ischer Dimeter  mit  Vorsilbe  gewesen  sein:  Horaz  hat  im 
jambischen  Dimeter  der  Epoden  den  diiambischen  Eingang 
nicht  streng  vermieden^),  obwohl  die  dadurch  erzeugte  Hal- 
bierung des  Verses  ein  starkes  Moment  dagegen  sein  mußte, 
ebenso  nicht  im  Trimeter,  obwohl  es  dort  die  Penthemime- 
res,  vor  die  so  ein  Monosyllabum  zu  stehen  kam,  widerriet^) 

i)  In  den  213  üimetern  findet  er  sich  I4mal. 

2)  In  den  311  Trimetern  20  mal  bei  Penthemimeres,  7  mal  bei 
Hephthemimeres.  Die  Ausetzung  der  Cäsur  ist  freilich  mehrfach  zwei- 
felhaft. Horaz  hat,  wenn  er  in  die  dritte  Senkung  ein  Monosyllabum 
(außer  nach  Monosyllabum)  stellte,  in  der  Regel  auch  nach  dem  folgendem 
Trochäus  eingeschnitten,  so  daß  Hepbthemimeres  möglich  ist,  vorzu- 
ziehen gewiß  in  Fällen  wie  5,  33  longo  die  bis  terque  mutatae  dapis  oder  61 
quid  accidit?  cur  dira  barbarae  minus;  8,  3.  7.  In  den  seltenen  Aus- 
nahmen ist  das  Monos.  durch  die  Satzgliederung  eng  an  das  vorher- 
gehende angeschlossen:  5,  5  per  liberos  te,  si  vocata  partubus ;  7, 11  neque 
hie  lupis  mos,  nee  fuit  leonibus ;  17,25  urget  diem  nox  et  dies  noctem 
neque  est  .  .;  dazu  auch  zu  stellen  quid  amplius  vis?  0  mare  et  terra 
ardeo.  In  6,  1 1  cave,  eaoe,  nawque  in  malos  asperrimus  ist  die  Cäsur 
durch  die  nach  dem  Ausruf  erforderte  große  Sprechpause  illusorisch 
gemacht;  in  dem  leichtfüßigen  Verse  2,-35  pavidumqtie  leporem  et  ad- 
venam  laqueo  gruem  soll  sie  offenbar  verschwinden;  für  5,87  in  Haupts 
Fassung  venena  maga  non  fas  nefasque,  non  valent  wüßte   ich   keine 

6* 


B\  Richard  IIkinze:  [70,4 

—  die  HejdiUu'niinieres  ist  ja  sehr  selten  — ;  im  liypeikatal. 
Diiueter,  wo  beide  Gegeii^rüude  fnrtH«'leu,  müßte  luiin  er- 
warten, jenen  Eiiigaiij^  noch  viel  (if'ter  zu  linden,  lloraz  liat 
auch  im  katalektisehen  Trimeter  der  Oden  (II  18)  den  tri- 
trochäischen  Ausiran<:^  nieht  vermieden  {scdf  desÜnafa,  tendis 
aequa  irllus),  so  weni}^  wie  im  jambischen  Dimeter  und  Tri- 
meter der  Epoden  den  diiambischen,  wenn  dieser  ein  Wort 
füllte');  im  katalekt.  troch.  Dimeter  von  Od.  11  18  lallt  auch 
diese  Bedinifung  fort  {nihil  supra,  dies  die,  slrais  domos, 
fcrens  deos). 

Vergleichen  wir  nun  Alkaios,  so  wird  uns  sofort  klar, 
woher  die  horazische  Regelung  stammt.  In  den  20  Versen 
und  \  ersbruchstücken,  die  ich  mit  einiger  Sicherheit  glaube 
heranziehen  zu  dürfen,  findet  sich  einmal  (SL.  26,  i  ttüv  ^öqxlov) 
Einschnitt  nach  der  vierten  Silbe  (außer  nach  Monosyllabon), 
einmal  (fr.  34,  5  iiihyQov,  avtaQ  a^cpl  x6q6<x)  nach  der  fünften 
(außer  vor  Monosyllabon).  Normal  ist  Einschnitt  nach  der 
dritten  Silbe:  er  ist  außer  im  jenem  Verse  SL.  26,  i  nur  in 
einem  nicht  ganz  sicheren  Falle  (SL.  4,  11:  [^-w]  /uijtoj  '|«v- 
og  aXXag)  vernachlässigt.  Der  Einschnitt  nach  der  sechsten 
Silbe  ist  eben  so  häufig  wie  der  nach  der  siebenten.  Also: 
Horaz  hat,  indem  er  den  allzu  auffallenden  jambischen  Ton- 
fall zu  Anfang,  den  allzu  auffallenden  trochäischen  am  Schluß 
vermied,  den  Rhythmus  seines  Vorbildes  genau  nachgebildet; 
weitergebildet  nur  darin,  daß  er,  wenigstens  in  einer  gewissen, 
besonders  hohen  Gattung  von  Oden,  ^Normalisierung  auch  des 
zweiten  Einschnittes  und  damit  regelmäßige  Drittelung  des 
Verses  anstrebt.  Möglich,  daß  er,  was  den  Einschnitt  nach 
der  dritten  Silbe  angeht,  von  der  alkäischen  Strenge  etwas 
nachgelassen   hat:   das   läßt  sich  mit   unserem  Material  nicht 


I 


Absicht  des  ganz  ungewöhnlichen  Rhythmus  anzugeben  (die  Trennung 
der  Hebungssilben  von  der  folgenden  Senkung  wäre  an  eich  nicht  an- 
stößig: 2,23;  67). 

i)  In  ep.  I:  periculum,  euperstife,  paravero  und  weiterhin  offen- 
bar ganz  ohne  Beschränkung;  zwei  jambische  Worte  nur  i,  15  iuvetn 
meo,  2,  7  decus  precor,  9,  33  puer  scyphos,  16  66  datur  fuga. 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  85 

sicher    beurteilen,    aber    die  Hauptsacbe   wird   dadurch  nicht 
berührt.*) 

Normalisiert  hat  Horaz  auch  hier  die  Quantitäten  der  bei 
Alkaios  noch  schwankenden  Silben.  Die  erste  Silbe  ist  bei  Alkaios 
15  mal  lang,  2  mal  kurz:  bei  Horaz  verschwindet  die  Kürze  fast 
TÖllig:  nur  neunmal  tritt  sie  noch  auf;  in  den  Römeroden  einmal, 
im  Buch  IV  keinmal.  Die  fünfte  Silbe  ist  bei  Alkaios  zehnmal 
lang,  siebenmal  kurz:  Horaz  hat  auch  dies  sich  zu  Nutze  ge- 
macht, um  den  jambischen  Fluß  zu  hemmen,  weniger  stark  ins 
Ohr  fallen  zu  lassen;  die  Silbe  ist  bei  ihm  ausnahmslos  lang. 


i)  Ganz  im  Gegensatz  zum  alkäischen  Neunsilbler  bat  Horaz  in 
dem  um  zwei  Silben  längeren  jambischen  katalektischen  Tri- 
meter  (I  4  und  U  18),  der  wirklich  jambischen  Tonfall  haben  soll,  die 
Normalcäsur  des  akatale-ktischen  Trimeters  sogar  konsequenter  als  in 
diesem  selbst  durchgeführt:  keiner  der  30  Verse  ohne  Penthemimeres. 
Das  gleiche  gilt  von  der  großen  Mehrzahl  der  mir  bekannten  griechi- 
schen Beispiele,  darunter  allen  älteren  und  allen,  in  denen  der  Vers 
als  Epodos  jenes  unten  S.  88,  i  besprochenen  Asynarteten  auftritt:  Archil. 
fr.  101;  103,  2;  ii6.  Alk.  fr.  102.  Sappho  fr.  103.  Alkman  fr.  i,  3;  4; 
6;  7;  36,  I.  2;  Theokr.  ep.  XXI  3.  6.  Ps.  Simon.  AP.  XlII  20,  2.  4;  26, 
2.  4.  Asklepiades  ebd.  23,  4.  6,  Phalaikos  ebd.  5,  i.  4.  5.  6,  cäsurlos  da- 
gegen 2.  3.  7,  Asklep.  a.  a.  0.  2.  Der  gleiche  ithyphallische  Ausgang  der 
Verse  in  od.  1  4  ist  also  schon  bei  Archilochos  und  vermutlich  auch 
bei  der  Mehrzahl  der  vswtbqoi,  die  nach  Hephaest.  50,  7  den  Asynarteten 
80  oft,  und  gewiß  gern  in  der  gleichen  Verbindung  anwandten,  zu 
hören  gewesen.  —  Die  erste  Silbe  des  Verses  ist  in  I  4  (außer  v.  2) 
lang,  dagegen  in  11  18,  nach  dem  trochäischen  Verse  non  ebur  neque 
aureuni,  kurz  (außer  in  v.  6  und  34);  jenes  ist  ein  archilochisches  Sy- 
stem, dies  nach  Caesius  Bassus  270,  21  sumptum  ab  Alcaeo  et  ab  illo 
tractatum  frequenter.  So  bestimmt  wie  üsener  (Altgriech.  Versbau  108, 
21)  möchte  ich  freilich  nicht  behaupten,  daß  die  horazische  Differen- 
zierung auf  die  beiden  Vorbilder  zurückgebt:  dazu  reicht  unser  Mate- 
rial —  drei  archilochische,  ein  alkäischer  Vers  —  nicht  aus;  aber  es 
ist  wohl  denkbar,  daß  schon  Alkaios  den  leicht  beschwingten  Rhyth- 
mus des  Prooden  sich  gern  in  reinen  Jamben  fortsetzen  ließ;  nach  dem 
gewichtigen  Asynarteten  war  dazu  kein  Anlaß.  Horaz  hat  in  H  18  den 
jambischen  Fluß  noch  dadurch  gefördert,  daß  er  im  ersten  wie  im  letzten 
Vers,  dann  auch  v.  14  und  38  die  fünfte  Silbe  kurz  sein  läßt,  die  in 
I  4  stets  lang  ist:  aus  unseren  griechischen  Beispielen  müßte  man  auf 
völlige  Freiheit  der  Quantität  schließen. 


86  Ki<niAui)  Hi:iN/.i::  [7^^.  4 

7.  Dor  alkaiscbo  Zehnsilblor. 

loh  verzoiclme  zunliohst  die  HiiuH^keit  der  für  die  Vers- 
gliederunij;  wichti«;en   Einsclinilte  in  den  317    Versen: 

1)  _  wu  _   wu_>^  '  _  _*)  163  mal 

2)  _uw_|  wu_  !  w__*)     74    „ 

3)  _«.wl_^w_lw__»)  28  „ 
4)_uuj_ww_u|__)  23  j, 
5)    -w^j-juul.u--    )       12       „ 

Unter  den  verbleibenden  17  Versen  haben  sechs  Einschnitt 
nach  der  fünften  Silbe  und  mehrsilbigem  Wort®),  nur  einer 
beginnt  mit  Daktylus  +  Daktylus^);  die  übrigen  Singulari- 
täten werden  vielsilbigen  Worten,  z.  T.  Eigennamen  verdankt. 

i)  In  der  Mitte  127  mal  viersilbiges  Wort,  33  mal  w^:  _u,  zwei- 
mal w  I  i--  _  w,  einmal  ^  j  0  |  _w.  Die  verschiedenen  Zusammensetzungen 
des  ersten  Gliedes  notiere  ich  hier  und  bei  den  folgenden  Schemata 
nicht;  den  beoinnenden  Choriamben  bildet  QO  miil,  also  bemerkenswert 
häufig,  viersilbiges  Wort.  Wenn  die  vierte  Silbe  ein  Monosyllabum  ist, 
kann  man  schwanken,  ob  der  Fall  zu  1.2  oder  zu  3.  4  /u  rechnen  ist; 
ich  habe  diese  23  Fälle  sämtlich  zu  den  bevorzugten  Formen  i.  2  ge- 
zählt. Lehrreich  hierfür  sind  die  Römeroden  IIT  1  —  5  (denn  6  steht  auch 
hier  für  sich,  s.  ob.  S.  8t,  i).  In  den  72  Vei-sen  fällt  der  Einschnitt  G4  mal 
nach  der  vierten  Silbe,  wenn  man  die  acht  Monosyllaba  zum  Daktylus 
zieht;  in  weiteren  vier  Fällen  ist  die  vierte  Silbe  Präposition  im  Kom- 
positum, so  daß  es  wohl  richtiger  wäre,  den  Einschnitt  auch  da  als  den 
normalen  anzunehmen.    Die  übrigen  vier  Fälle  treffen  auf  Eigennamen. 

2)  Das  Mittelglied  dreisilbiges  Wort,  nur  viermal  uw|_,  einmal 
j  I  v./  _.    Das  Schlußglied  mit  sechs  Ausnahmen  (w  |  _  _)  dreisilbiges  Wort. 

3)  In  der  Mitte  choriambisdies  Wort,  nur  dreimal  _  w  |  c^  _ ,  ein- 
mal  _  j^vj_.     Am  Schluß  dreisilbiges  Wort,  nur  zweimal  u| 

4)  In  der  Mitte  fünfsilbiges  Wort,  nur  einmal  (II  13,  8)  _u!vj_i-'. 

5)  Am  Schlus.se  stets  viersilbiges  Wort. 

6)  I  9,  8  0  ThaJvtrclie  merum  diota  (Eigenname);  26,  12  teque  tuas- 
que  decet  sorores  (zweifelhaft  wegen  que^  übrigens  s.  ob.  S.  79);  31,  16 
me  eichorea  levesque  »lalvae;  II  1,  36  quae  caret  ora  cruore  nostro  (vier 
weibliche  Einschnitte:  malend?)  3,  8  anteriore  nota  Falerni;  IV  g,  8  Ste- 
sichorive  grares  Camenae:  hier  kann  Einschnitt  vor  ve  gehört  sein. 

7)  IV  4,  72  nominis  Hasdrubale  interempto:  Eigenname,  und  in  die 
folgende  Hebung.  In  derselben  Rede  Hannibals  der  metrisch  unklare 
Vers  52  f allere  et  effugere  est  triumphus,  wohl  _>>/u_|wu_jw 


k 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  87 

Aus  diesen  Tatsachen  ergibt  sich:  vermieden  hat  Horaz 
einen  Einschnitt  nach  der  fünften')  oder  sechsten  Silbe,  der 
den  Eindruck  einer  Cäsur  machen  könnte:  er  hat  den  Vers 
ebenso  wenig  wie  den  Neimsilbler  als  zweiteilig  empfinden 
lassen  wollen^);  darin  sollten  sich  beide  Verse  von  den  Elf- 
silblern  ebenso  abheben  wie  etwa  Pherekrateus  und  Glykoneus 
von  zwei  die  Strophe  beginnenden  Asklepiadeen. 

Bevorzugt  ist  Einschnitt  nach  der  zweiten  Hebung,  also 
choriambisch  lautender  Eingang:  fast  Yg  aller  Verse  weisen 
ihn  auf;  die  große  Zahl  der  hierzu  gesuchten  choriambischen 
Worte  läßt  das  besonders  stark  ins  Ohr  fallen.  In  den  Fällen 
aber,  wo  Wortende  nicht  nach  dem  Choriambus,  sondern  nach 
dem  Daktylus  eintritt,  ist,  abgesehen  von  den  Eigennamen, 
die  auch  hier  für  sich  stehen,  ganz  überwiegend  die  vierte 
Silbe  Präposition  im  Kompositum:  fltimina  constiterint  acuto 
I  9,  4  usf.;  ich  nehme  an,  daß  Horaz  auch  hier  den  Eingang 
als  choriambisch  gehört  hat:  an  abweichenden  Fällen  bleiben 
dann  im  ganzen  nur  zehn,  die  also  klärlich  als  Ausnahmea 
erscheinen.^)  Es  folgt  mit  Vorliebe  Einschnitt  nach  der  achten 
Silbe,  also  weiblich,  mit  dem  ersten  kontrastierend;  wieder 
weist  die  große  Zahl  der  an  diese  Versstelle  gesetzten  vier- 
silbigen Worte  (uu.v..)  auf  die  Absicht  des  Dichters  hin,  den 
Einschnitt  hörbar  zu  machen.  In  den  Oden  III  1 — 5  ver- 
binden sich  beide  Einschnitte  48  mal  unter  64  Fällen  des 
ersten  (vgl.  ob.  S.  81):   _ww-.  j  uw_  w  j_o  ist  also   die  für  den 

erhabenen  Ton  festgelegte   Normalform,  wie  __u' 1^-- 

beim  Neunsilbler. 

i)  Im  ganzen  14  mal,  darunter  fünfmal  nach  Monosyllabum  (ein 
que  eingerechnet). 

2)  Die  beiden  möglichen  Cäsuren  wären  allerdings  auch  an  sich 
für  Horaz  mißfällig  gewesen  (Maas  a.  a.  0.),  da  dann  beide  Versteile 
weiblichen  Ausgang  gehabt  hätten.  An  sich  ist  der  Einschnitt  nach 
der  sechsten  Silbe  nicht  gemieden  (52  mal):  nur  ist  Einschnitt  nach  der 
vorausgehenden  Hebung  Voraussetzung,  wodurch  die  beiden  Kürzen  zum 
folgenden  geschoben  werden. 

3)  I  29,  4  regibus  horribüique  Medo\  35,4.  36;  II  1,4;  13,8;  17,8; 
19,  24;  m  6,  28;  21,  8;  23,  12. 


88  RiCHAun  lIi:iN/.r,:  [7^,4 

Die    antiken    lloraziuetrikor    haben    den    Vers    daktylinch 
interpretiert;  neuere  tun  es  iliueu  nach.     Die  Betrachtung  des 
Versschemas    kann    das    auf  den   ersten  Blick    zu    empfehlen 
scheinen;  die  Betrachtung  der  Verse  selbst  widerspricht,     la 
den  daktylischen  Versen  und  Kola  der  Oden   und  Epoden  ist 
daktylisches  Wort  im  Eingang  häufig,  etwa  in  Va  der  in  Be- 
tracht kommenden  Fälle  gesetzt  —  wenn    man  die  Daktylen 
mit  folgendem  MonosyUabon  hinzu  rechnet,  sogar  in  über  Yj 
der  Fälle;  choriambisches  Wort  dagegen  reclit  selten:    14  mal 
in    156  Fällen,  darunter  fünf  choriambische  Eigennamen.     Im 
Zehnsilbler  dagegen  steht  daktylisches  Wort  nur  in  knapp  Vg, 
und  mit  folgendem  Monosyllabuni  in  stark  V5  der  Fälle;  un- 
zweideutig choriambischer  Eingang  ist  dagegen,  wie  wir  sahen, 
otfensichtlich   angestrebt.     Die   Eigenart   des  Verses   fällt  be- 
sonders stark  ins  Ohr  beim  Vergleich  mit  dem  daktylischen 
katalektischen  Tetrameter,  von  dessen  rein  daktylischer 
Form  er  sich  ja  äußerlich   betrachtet   nur  durch  das  Fehlen 
einer  Kürze  unterscheidet.     Aber  Horaz   hat   den  Zehnsilbler 
zunächst  eher  im  Gegensatz  zum  Tetrameter  gebaut,  als  mit 
dem  Wunsch,  den  gleichen  Rhythmus  zu  erzielen;  die  Verse 
stehen  einander  so  fern,  wie  es  bei  der  fast  völligen  Gleich- 
heit des  metrischen  Schemas  möglich  ist.    Erst  allmählig  hat, 
soweit  unser  geringes  Material  einen  Schluß  zuläßt,  der  Zehn- 
silbler Einfluß  auf  den  Tetrameter  gewonnen  — ,   nicht  um- 
gekehrt — ,  ohne  doch  seine  Eigenart  ganz  auf  ihn  zu  über- 
tragen.^) 

I)  In  dem  ältesten  der  betr.  Gedichte,  ep.  12,  in  dem  die  Verse 
fast  rein  daktylisch  (nur  drei  Spondeen  in  13  Versen),  also  dem  Zehn- 
silbler besonders  ähnlich  sind,  ist  durch  die  Worteinschnitte  der  dakty- 
lische Rhythmus  noch  stark  hervorgehoben:  fünfmal  Wortschluß  nach 
dem  ersten,  ebenso  oft  nach  dem  zweiten  (darunter  dreimal  ohne  Wort- 
echluß  in  der  zweiten  Hebung),  ebenso  oft  nach  dem  dritten  Daktylus; 
Wortschluß  nach  dem  ersten  Choriamben,  der  in  den  Zehnsilblern  so 
stark  überwiegt,  nur  fünfmal  in  13  Versen,  darunter  ein  choriam- 
bisches Wort.  Wie  nach  der  sechsten,  ist  auch  nach  der  fünften  Silbe 
Einschnitt  zugelassen  (zweimal).  Man  sieht,  hier  ist  so  gut  wie  alles, 
was  verschieden   sein  kann,  verschieden.    In  od.  I  28  steht  der  Tetra- 


70,  4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horäz.  89 

Im  Negativen  nun,  der  Vermeidung  eines  cäsurälmlichen 
Einschnitts  in  der  Versmitte,  hat  Horaz  die  bei  Alkaios  deut- 
lich hervortretende  Tendenz  weiter  verfolgt.    In  den  1 8  Fällen, 


meter  dem  Zebnsilbler  schon  etwas  näher:  Wortschluß  nach  der  fünften 
(viermal  iu  18  Versen)  und  sechsten  Silbe  (dreimal)  ist  zwar  auch  hier 
nicht  vermieden,  aber  der  letztere  ist  nur  einmal  ohne  vorhergehenden 
Hebungsschluß,  und  dieser  findet  sich  in  der  Hälfte  der  Verse  (zweimal 
choriambisches  Wort  zu  Beginn);  die  Normalform  des  Zehneilbiers 
_v-"-'_|w^_u|__  ist  also  noch  nicht  angestrebt.  Über  die  Hälfte  der 
Verse  (zehn)  haben  Wortschluß  in  der  dritten  Hebung,  so  daß  der  Ein- 
druck des  ersten  Kolons  eines  normalen  Hexameters  entsteht:  im  Zehn- 
silbler  überwog,  wie  wir  sahen,  vielmehr  der  trochäische  Einschnitt 
nach  der  achten  Silbe.  —  Endlich  in  I  7  ist  der  Tetrameter  dem  Zebn- 
silbler noch  näher  gerückt:  keinmal  Einschnitt  nach  zweitem  Troch., 
keinmal  nach  zweitem  Dakt.  (mit  vorhergehendem  Hebungsschluß),  14  mal 
in  16  Versen  nach  dem  ersten  Choriamben,  nur  viermal  Penthemimeres. 
Freilich  auch  hier  nur  zweimal  choriambisches  Wort  im  Eingang,  und 
in  der  Mitte  des  Verses  nur  einmal  die  für  den  Zebnsilbler  so  charakte- 
ristische Wortform  vu_u.  Man  wird  nach  dem  allen  I  28  als  Mittel- 
stufe zwischen  ep.  12  und  od.  I  7  ansehen  und  annehmen,  daß  der 
alkäische  Vers  allmählich  immer  stärker  den  daktylischen  beeinflußt  hat. 
—  Der  akatalektische  daktyl.  Tetrameter,  der  den  ersten  Teil 
des  archilochischen  Asynarteten  bildet,  ist,  um  dies  hier  anzufügen,  ganz 
gebaut  wie  der  entsprechende  Teil  des  Hexameters,  d.  h.  häufiger  Wort- 
einschnitt nach  dem  ersten  Daktylus  (sechsmal  in  zehn  Versen),  keinmal 
choriambisches  Wort  zu  Anfang;  sodann  ausnahmslos  caesura  penthe- 
mimeres, danach  ganz  überwiegend  (wie  in  den  Hexametern  von  I  7) 
Spondeus  (nur  zweimal  Daktylus).  Auch  die  griechischen  Beispiele 
haben  außer  der  Diärese  nach  dem  vierten  Daktylus  (die  nur  AP.  XHI 
28,  9  vernachlässigt  ist)  noch  Cäsur  nach  der  dritten  Hebung  (Archil. 
fr.  100;  103,  3;  114;  115.  Kallim.  igr.  Theokrit.  ep  XX  2 ;  XXI  4.  Pha- 
laikos  AP  XHI  27,  5  Ps.-Simon.  fr.  148  AP.  XIII  28  [s.  ob.  S.  77,  i]  in  den 
sechs  Versen  durchweg.  Theodoridas  AP.  XIII  8)  oder  —  seltener  —  dem 
dritten  Trochäus  (Archil.  fr.  103,  i.  Ps.-Simon.  fr.  112  AP.  VIII  26,  i.  3. 
Phalaikos  AP.  XIII  27,  i.  Theokr.  ep.  XX  4.  XXI  i):  Horaz  hat  auch 
hier  die  Penthemimeres  durchgeführt,  wie  in  den  Hexametern  der  Oden, 
unter  denen  nur  vier,  und  den  Epoden,  unter  denen  nur  sieben  eine 
andere  Cäsur  aufweisen.  Von  der  offenbar  auch  bei  den  Griechen  sel- 
tenen Länge  der  letzten  Silbe  des  Tetrameters  (Hephaest.  p.  50,  4,  der 
einen  Vers  des  Archilochos  zitiert;  dazu  Theokr.  ep.  XX  2)  hat  Horaz 
natürlich  abgesehen. 


go  Hi<  MARI)  TIicinze:  [70,4 

die  uns  für  diesen  ein  Urteil  erlauben,  findet  sich  Worteudo 
nach  der  fünften  Silbe  einmal  (SL.  26,  2),  und  da  nicht  abso- 
lut sicher;  Wortende  nach  der  sechsten  Silbe,  ohne  daß  solches 
nach  der  vierten  vorherginge,  viermal  (fr.  1  H,  4  vor  Monosyll. ; 
SL.  4,  20;  26,  lO:  Eigenname;  27,  13^  darunter  zweimal  dop- 
pelter Daktylus,  eine  von  Iloraz  besonders  streng  vermiedene 
Form.  Also  auch  der  Einschnitt  nach  der  sechsten  Silbe 
scheint  bei  xMkaios  unbeliebt  äxewosen  zu  sein.  Daijejjen  hat 
er,  im  Gegensatz  zu  lloraz,  den  Einschnitt  nach  der  dritten 
Hebung,  also  vor  den  drei  letzten  Sill)en,  oft  in  Verbindung 
mit  solchem  nach  der  zweiten  Hebung,  stark  bevorzugt:  unter 
I Q  Fällen  fehlt  er  nur  fünfmal.  IToraz  ist  davon  abgesanofen, 
vermutlich  weil  der  Vers  dadurch  für  ein  römisches  Ohr  zu 
deutlich  als  daktylisches  Penthemimeres  -\-  Bacchius  ge- 
klungen hätte:  was  eben  vermieden  werden  sollte.  Das  Resul- 
tat also  ist,  daß  Iloraz  das  alkäische  Vorbild  im  wesentlichen 
treu,  aber  nicht  ohne  eignes  Urteil  befolgt  hat;  von  Einwir- 
kung der  von  den  Derivationsmetrikern  ihm  zugeschriebenen 
Analyse  könnte  höchstens  insofern  gesprochen  werden,  als  sie 
ihn  veranlaßt  haben  würde,  sie  in  seiner  Gestaltung  des  Verses 
nach  Möglichkeit  zu  verdecken. 


Ich  fasse  zum  Schluß  das  Wesentliche  zusammen,  was  uns 
die  Betrachtung   der  lyrischen  Verse   des  Horaz  gelehrt  hat. 

1.  Von  Einfluß  einer  metrischen  Theorie  ist  keine  Spur 
vorhanden. 

2.  Horaz  hat  alles  getan,  um  in  seinen  äolischen  Versen 
den  Eindruck  des  jambischen,  trochäischen  und  daktylischen 
Rhythmus  zu  vermeiden  oder  abzuschwächen;  eine  Analyse 
also,  die  seine  Verse  in  Jamben,  Trochäen  und  Daktylen  auf- 
löst, ergibt  das  genaue  Gegenteil  dessen,  was  der  Dichter  beab- 
sichtigt hat. 

3.  Mit  seiner  Normalisierung  der  Verse  steht  Horaz  im 
allgemeinen  Zuge  der  hellenistischen  und  römischen  Verskunst- 


10, 4]  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.  9 1 

4.  In  der  Festlegung  der  im  griechischen  Verse  freien 
Silbenquan^täten  hat  Horaz  die  von  seinen  Vorgängern  be- 
vorzugten Quantitäten  durchgeführt. 

5.  In  der  Ansetzung  der  festen  Cäsuren  und  bevorzugten 
Wortschlußstellen  hat  Horaz  mit  selbständiger  Auswahl  Ten- 
denzen, die  er  bei  seinen  lesbischen  Vorbildern  oder  in  der 
hellenistischen  Lyrik  bemerkte,  weiter  verfolgt  und  teils  zu 
Regeln,  teils  zu  Gesetzen  des  Versbaus  erhoben. 


i 


Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologisch-historisclie  Klasse 

70.  Band    1918    5.  Heft 


Heinrich  Zimmern 
Zum 

babylonischen  Neujahrsfest 

Zweiter  Beitrag 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1918 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  3.  Februar  19 17. 

Das  Manusliript  eingeliefert  am  9.  November  19 18. 

Druckfertig  erklärt  am  31.  Januar  19 19. 


^ 


Hermann  Guthe 

zum  siebzigsten  Geburtstag 

(lo.  Mai  19 19) 

Carl  Bezold 

zum  sechzigsten  Geburtstag 

(18.  Mai  191g) 


freundschaftlich  gewidmet 


/■ 


Im  folgenden  behandle  ich,  in  Fortsetzung  meiner  früheren. 
Arbeit^  „Zum  babylonischen  Neujahrsfest"  (=  ZbN)^,  wieder 
eine  Anzahl  von  Texten,  die  erst  im  Laufe  der  letzten  Jahre 
erschienen  sind  und  in  engerem  oder  weiterem  Zusammen- 
hang mit  dem  babylonischen  Neujahrsfest  stehen. 

Von  assyriologischer  Literatur,  die  in  der  Zwischenzeit  zur  Sache 
erschienen  ist,  nenne  ich  außer  solcher,  die  unten  im  Zusammenhang 
der  Arbeit  zur  Erwähnung  kommt,  und  abgesehen  von  etwaigen  seit 
Kriegsausbruch  erschienenen,  mir  nicht  zu  Gesicht  gekommenen  Äuße- 
rungen in  französischer,  englischer  und  amerikanischer  Fachliteratur, 
hier  chronologisch  folgende:  Haupt,  Purim  (BA  6,  2),  1906;  ZDMG  Oi 
(1907),  276f.;  Amer.  Journ.  of  Sem.  Lang.  24  (1908),  128;  OLZ  1909, 
65 £F.  (zu  akltu).  —  Kuglek,  Im  Bannkreis  Babels,  1910,  S.  ]2ff.  — 
KoLDEWEY,  Die  Tempel  von  Babylon  u.  Borsippa,  191 1  (dazu  Meissner, 
OLZ  1912,  4i6ff.)  —  Frank,  Studien  zur  babyl.  Religion,  1911,  S.  2iff., 
45  f.,  82.  —  Baudissin,  Adonis  und  Esmun,  191 1,  S.  107 f.,  376 ff.,  447/. 
u.  sonst.  —  Langdon,  Die  neubabyl.  Königsinschriften,  1912.  —  Jeremias 


i)  Erschienen  als  3.  Heft  des  58.  Bandes  dieser  Berichte  vom 
Jahre  1906.  Im  Hinblick  darauf,  daß  ich  öfter  wegen  angeblich  schwie- 
rigen Bezugs  dieser  wie  auch  anderer  meiner  in  den  Belichten  der 
Sachs.  Ges.  der  Wissensch.  erschienenen  Arbeiten  angegangen  werde, 
bemerke  ich,  daß  sie  alle  leicht  als  Sonderhefte  zu  verhältnismäßig 
niedrigem  Preis  aus  dem  Verlag  von  B.  G.  Teubner,  Leipzig,  auf  buch- 
händlerischem Wege  zu  beziehen  sind. 

2)  Von  sonstigen  in  dieser  Arbeit  öfter  verwendeten  Abkürzungen 
beachte  folgende:  BA  ^  Beiträge  zur  Assyriologie.  —  CT  =  Cuneiform 
Texts  (British  Museum).  —  KB  =  Keilinschriftliche  Bibliothek.  — 
KTAR  =  Keilschi-ifttexte  aus  Assur  religiösen  Inhalts,  hsg.  von  Ebeling. 
-  MDOG  ==  Mitteilungen  der  Deutschen  Orient-Gesellschaft.  —  MVAG 
=  Mitteilungen  der  Vorderasiatischen  Gesellschaft.  —  OLZ  =  Orienta- 
listische Literaturzeitung.  —  R  ==  Rawlinson.  —  SBAW  =  Sitzungs- 
berichte der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften.  —  VAT  =  Vorder- 
asiatische Abteilung.  Tontafel.  —  ZA  =  Zeitschrift  für  Assyriologie.  — 
ZDMG  =  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenländischen  Gesellschaft. 
Phil.-hiBt.  Klasse  191S.  Bd.  LXX.  5.  I 


2  Hkinku'ii  Zimmkkn:  \7^,S 

Hiuuib.   (i.  altorii'ut.  »ii'i.steskuUur,    1913,  S.  i^)'-,   '"<'■»,   .5>-tr.  Scmkii. 

et  DiKri.AKOY,  Esajiil,  1013.  —  Wkionkk,  (M,Z  i  )I3,  22  (l)etr.  I'rozes- 
Bionsschitf).  —   Sausowsky,   OLZ   i<)i?,    iH^   ^^/.ii    nktlu).  Haupt,  OI/Z 

'*>'3^  532  (zu  akitu).  --  Koi.ur.wKv,  Dns  wiodtMerBtelioiule  Haliylon, 
it)i3,  S.  2^  ff.  (l'ro/.essionsBtraße),  S.  2iiutl'.  (KKaijilii)  —  Wkihsiiacii,  OLZ 
i<)i4,  n)3tf.  [ZU  Esiigila  iiud  Ktemeiiaiiki).  -  Jknskn,  KU  VI  2,  i  (1915), 
S.  24 ff.  (Texte  zum  Viabyl.  Neujahrsfest).  —  Lanushkiuikk,  Kultischer 
Kalender,  11)15,  S.  12  ff.  (zu  akltu).  —  Dklitzscii  ,  Zu  II(>rodot8  babyl. 
Nacbrii'htou  S.  97 1.  (Sachau-Festsrhrift  1915).  —  Stkkck,  Assiirl>anij)al, 
lOK),  8.  82",  248**,  271",  3iO*.  —  SciiKOKDKK,  DaH  Paiithoüii  dor  Stadt 
Iruk  (SBAW  1916  XLIX),  S.  Ii86f.  (zu  bd  akitu  in  Uiuk).  —  Un(jnai), 
ZA  31  (1917),  43f.  (zu  aktlu).  —  Koldewey,  MDOG  Nr.  59  (1918)  (zu 
Ksajrila  und  Ktemenauki).  —  Domhart,  OLZ  191 8,  161  ff.  (zu  Ktemen- 
aiikil  —  Koi.DKWEv,  Das  Ischtar-Tor  in  Babylon,  1918.  —  Nicht  be- 
rücksichtiirt  ist  hierbei  die  Literatur  über  die  eventuellen  Vorläufer  dea 
babylonischen  Neujahrsfestes,  das  Neujahrsfest  der  Bau  von  Lagas  und 
das  Neujahrsfest  der  „Herrin  Ton  Isin",  sowie  die  sich  daran  anschlie- 
ßenden viel  erörterten  Fragen  über  den  Jahresanfang  und  die  Monats- 
folge in  der  älteren  babylonischen  Zeit. 

I.  Leiden  und  Triumph   Bel-Marduks  an  seiuein 
Hauptfeste,  dem  Neujahrsfeste  im  Frühling. 

Vor  acht  Jahren  schrieb  ich^:  ,,Der  eigentliche  Ursprung 
des  Mardukneujahrsfestes  in  Babylon  wird  darin  zu  erblicken 
sein,  daß  Marduk  als  ein  Gott  des  Lichtes  und  der  neuen 
Vegetation  für  seine  Verehrer  im  Frühlincr  besonders  in  die 
Erscheinung  trat;  und,  sofern  er  eben  auch  Vegetationsgott 
war,  ist  es  sehr  wohl  möglich,  wenn  auch  bis  jetzt,  soviel 
ich  sehe,  inschriftlich  noch  nicht  ausdrücklich  zu  belegen, 
daß  auch  von  Marduk,  entsprechend  wie  bei  Tamüz,  ein  Ver- 
schwinden, ein  Hinabgehen  zur  Unterwelt,  und  alsdann  ein 
Wiedererscheinen,  ein  Emporsteigen  zur  Oberwelt  angenom- 
men wurde."  Desgleichen^:  „Allerlei  Anzeichen  sprechen  da- 
für, daß  in  Babylonieu  selbst  die  eigentliche  Tamüzverehrung, 
wenigstens  im  offiziellen  Staatskult,  mit  der  Zeit  immer  mehr 
in  den  Hintergrund  getreten  ist,  und  Feiern,  die  ehemals  dem 
Tamüz  galten,   dann  auf  andere  Götter,   wie  Nin-ib   und  na- 


1)  Zum  Streit  um  die  „Christusmythe"  48.  2)  Ebenda  36. 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  3 

mentlich  Marduk,  übergegangen  sind.  So  könnte  sehr  wolü 
—  sicher  belegen  läßt  es  sich  freilich  noch  nicht  —  in  dem 
schließlich  alle  andern  Feste  überragenden  und  absorbieren- 
den Neujahrsfeste  des  Marduk  zur  Zeit  der  Frühjahrs -Tag- 
und  Nachtgleiche  auch  ein  altes  Tamüzauferstehungsfest  auf- 
gegangen sein."  Dieser  damals  von  mir  noch  vermißte  deut- 
liche insehriftliche  Beleg  für  einen  Kult  des  verschwundenen 
und  wiedererschienenen  Marduk,  und  zwar  eben  an  seinem 
Hauptfeste,  dem  Neujahrsfeste  im  Frühling,  liegt  nunmehr  in 
dem  aus  den  Ausgrabungen  in  Assur  stammenden  Texte  VAT 
9555;  veröffentlicht  von  Ebeling  KT  AR  Nr.  143,  vor.^  Hier- 
bei handelt  es  sich,  ganz  ähnlich  wie  in  der  ZbN  127 ff.  von 
mir  behandelten  Tafel  K.  3476  (CT  15,  44),  um  einen  kom- 
mentarartigen Text,  worin  einzelne  Festkulthandlungen,  z.  T. 
auch  einzelne  Kultörtlichkeiten,  mythologisch  ausgedeutet 
werden.  Wir  erhalten  dadurch  etwa  folgendes  Bild  von 
mythologischen  Vorstellungen,  die  sich  an  Festgebräuche  beim 
Mardukneujahrsfest  knüpften: 

(i)  [Bei   (Marduk)   wird   im  „Berge" ^  festge]halten.  =  — 


i)  Dazu  kommt  vou  Z.  27  ab  bis  Z.  64  ein  ebenfalls  aus  Assur 
stammendes,  vielfach  ergänzendes  Duplikat,  VAT  9538,  auf  das  mich 
Ebeling  freundlichst  aufmerksam  machte,  und  das  ich  mit  Erlaubnis 
der  Deutschen  Orient-Gesellschaft  für  diese  Arbeit  verwerten  konnte. 
Der  Originaltext  dieses  Duplikates  wird  in  einem  der  späteren  Hefte 
von  KTAR  von  Ebeling  veröffentlicht  werden. 

2)  Unter  diesem  „Berge"  {hursän)  ist  der  Weltberg  zu  verstehen, 
worin  die  Unterwelt,  das  Totenreich  sich  befindet.  Vgl.  die  KyflFhäuser- 
Sage  und  Verwandtes.  Zugleich  gilt  dieser  „Berg^',  genauer  ein  Haus 
am  Rande  dieses  Berges  als  Gerichtsstätte,  wohl  im  Hinblick  auf  ein 
auch  für  die  ßabylonier  beim  Übersetzen  über  den  Hubur-Strom  vor 
dem  Eintritt  in  das  Totenreich  anzunehmendes  Totengericht.  Ein 
solcher  „Berg"  {Imrsün)  als  Gerichtsstätte,  wohl  als  das  irdische  Gegen- 
büd  des  kosmischen  „Berges"  Qiurscin)  begegnet  wiederholt  auch  in 
juristischen  Urkunden  (vgl.  dazu  Peiser,  OLZ  191  i,  477  f.).  Es  ist  an 
den  betreffenden  Stellen  (KB  IJI  i,  160,  Kol.  IV  38,  V  4.  14.  17;  KB 
IV  88,  Kol.  IV  16;  KB  IV  168  Nr.  II  6f.)  davon  die  Rede,  daß  jemand, 
um  ein  Urteil  über  ihn  herbeizuführen,  nach  dem  ,, Berge"  (Irursän) 
geschickt  wiid,  oder  „der  Berg"  für  ihn  bestimmt  wird,  wobei  er  dann 

I* 


^  Hki.nuicii  Zimmkkn:  [70. 5 

(2  ff.) Ein    Göttorbote    läiil't     umher    (rufend):    „Wor 

wird  ihn  herausführen?"  |Üütt ]  j^eht  diihin,  ihn  heraus- 

zufüliren.'     -    (6)    Nach    dem    ,,Bert^e"    geht    er    dahin, - 
(7)  (Er  kommt  /um)  Hause  am  Räude  des  „Beroes",  worinnen 
man  ihn  verhört.^  —  (8)  ([Nabu])  kommt  wegen  des  VVohl- 


uuter   Umstilndea    \vu    seiner   Scljuld    frei    werden    [zakü)   kann.     Wie 
Peiser   durch   Herauziebuu«,'  der   Stolle  V  11  47,    3"f-    „am    Ufer    des 
Fluß(,gott)eB,    woselbst    der    Streit    der    Leute    geklärt    wird"    (pui    itr 
<'Kuri  a^ar  den   ttiüe  ibbirru,    vgl.   dazu  Waltueu,   Altbab.  (ierichtsw. 
226)  wurde  ich   aus   dem  Sklavenzustande   befreit,  mit  der  Erklärung 
ite  ^Näri  =  hursän ,   richtig   gesehen   hat,   handelt   es   eich   dabei  um 
Gottesurteile,  und  zwar  ursprünglich  wenigstens  um   die  Wasserprobe. 
Falsch  ist  aber,  wenn  Pkiskh  daselbst  die  Lesung  hur-sa-an  durch  terlu 
sa  ili  ersetzen  zu  mü-^seu  glaubt.    (Die  endungslose  Form  von  hursän, 
an  der  Peiskk  Anstoß  nimmt,  erklärt  sich  einfach  dadurch,  daß  hursän 
bereits   zu   einer  Art  Eigennamen  geworden  ist.)    Vgl.   auch  noch  aus 
der  assyrischen  Brietliteratur  die  Stellen  über  hursän,  hursän  (Hakper, 
Letters  Nrr.  49  Rs.  4;  390  Rs.  16;  550,  10;  896,  lo;  965  Rs.  12.  14;  1202 
Rs   14)  bei  Ylvisaker,  Zur  babyk  u.  assyr.  Grammatik  8  und  Klaubek, 
Amer.  Journ.  of  Sem.  Lauguages  30  (19  H),  276  f.  —  Die  gleiche  Vor- 
ßtellung  vom  „Berge"  bzw.  dem  „Rande  des  Berges"  als  Gerichtsatätte, 
und    zwar   hier  wieder  im  kosmischen  Sinne,   liegt  auch  dem  vielbe- 
sprochenen Ausdruck  für  „sterben"  zu  Grande:  eynedu  hadä-su  „an  sei- 
neu Berg   anlegen"   (nämlich    mit   dem  Kahn  bei   der  Überfahrt   über 
den  Totenfluß),  wofür  Sargon,    Huit.   camp.  150   emedu  sahat  sadi-su 
„an  den  Rand  seines  Berges  anlegen"  bietet,  wie  andererseits  an  einer 
ßoghazköi- Stelle   hue-sag   d.  i.  hursän  emedu  für  sadä  emedu  steht 
(WiNCKLEK,   MDOG  Nr.  35  S.  43).    Auch  hier  ist  Peiser  auf  falschem 
Weo-e,   wenn  er.MVAG2i  (1916),  171  £F.   statt   sadä-su  .emedu   wieder 
eine    seinerzeit   vorübergehend    von   Delitzsch    vorgeschlagene    Lesung 
7cur-su  emedu   zur  Geltung  bringen  will,    emid,   iiemid  in   dieser  Wen- 
dung  im   selben  Sinne   wie   vom  Anlegen   {itemid)    der  Arche    an    den 
Berg  Nisir. 

3)  Der  entsprechende  kultische  Vorgang  ist  abgebrochen. 

1)  Von  dem  entsprechenden  kultischen  Vorgang  ist  nur  noch  er- 
halten: „führt  ihn  heraus".  Wegen  des  fragmentarischen  Zustandes 
des  Textes  ist  in  diesen  Zeilen  2  —  5  übrigens  auch  nicht  ganz  sicher, 
wie  weit  die  Worte  dem  kultischen  Vorgang  oder  der  mythologischen 
Ausdeutung  angehören. 

2)  Entsprechend  %vie  [jemand  .  . . .]  dahinfährt. 

3)  Entsprechend  dem  [ ,  zu  dem  jemand]  kommt.  —  Es  han- 


/0, 5j  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  5 

Befindens  seines  gefangen  gehaltenen  Vaters/'^  —  (9)  Man 
sucht  Bei,  wo  er  gefangen  gehalten  wird.^  —  (10)  ([Belit- 
Babili^])  fleht  zu  Sin,  Samas  also:  „Mach  Bei  (wieder)  leben- 
jj-g4j«5  —  ^jj-j  gjg  g^^ij^  2um  „Tor  des  Begräbnisses"  und 
sucht  nach  ihm.^  —  (12)  Wächter  sind  über  ihn  bestellt, 
ihn  zu  l)ewachen.'^  —  (i3f-)  Die  Götter  haben  ihn  einge- 
schlossen, er  ist  entschwunden  aus  dem  Le[ben],  [ins  Gejfängnis, 
von  Son[ne]  und  Licht  hinweg  haben  sie  ihn  hinabsteigen 
lassen.'^  —  (15)  (Er  trägt)  Wunden,  durch  die  er  verwundet 

worden   ist,   in   (mit)  seinem  Blute  [ Y  —   (16)   (Eine 

bei  ihm  weilende  [Gött]in^°)  ist  wegen  seines  Wohlbefindens 
hin[abgestiegen^^].^^  —  (jyS.)  Ein  „Sohn  Assurs",  der  (da  er 
kein  Verbrecher  ist)  nicht  mit  ihm  geht,  ist  als  Wächter 
über  ihn  bestellt,  bew[acht]    die   Festung  seinetwegen.*^  — 


»lelt    sich   bei  dem  kultischen  Vorgang   wohl   um    eine   besondere    Ge- 
bäulichkeit  in  Esagil. 

i)  Entsprechend  wie  [Nabu  -pon  Borsjipj^a  kommt.  —  Es  bezieht 
bich  dies  wohl  auf  das  Kommen  Nabüs  von  Borsippa  nach  Babylon 
am  Neujahi-sfest. 

2)  Entsprechend  den  [ ],  die  auf  den  Gassen  umherlaufen. 

3)  Bel-Marduks  Frau.  4)  Oder  auch:  „Laß  Bei  am  Leben!" 

5)  Entsprechend  der  [Belit-Babili],  deren  Hände  ausgebreitet  sind. 

6)  Entsprechend  dem  [Tor]  der  [ ],  7,u  dem  sie  geht.  —  Es 

handelt  sich  wohl  wieder  um  ein  so  benanntes  besonderes  Tor  in  Esagil. 

7)  Entsprechend  den  Zwillings-[.  . .  .],  die  am  Tor  von  Esagil 
stehen. 

8)  Die  kultische  Entsprechung  ist  verstümmelt. 

9)  Entsprechend  den  [ ],   die  unter  ihm  herankommen,   mit 

denen  er  bekleidet  ist. 

10)  Es  handelt  sich  wohl  wieder  um  Bels  Frau  Belit-Babili. 

11)  Oder:  hin  [gegangen]. 

12)  Entsprechend  einer  [Gött]in,  die  bei  ihm  weilt. 

13)  Entsprechend  wie.  [ein  „Sohn  Assurs" (?)]  nicht  mit  ihm  geht, 
indem  er  spricht:  „ich  bin  kein  Verbrecher"  und  weiter:  ,, nicht  werde 
ich  geschlagen  (?),  die  [....]  Assurs  haben  mein  Recht  (?)  vor  ihm  klar- 
gestellte?) (wörtlich:  geöffnet),  haben  mein  Recht(?)  ent[schieden (?)]".  — 
Es  scheint  sich  also  um  jemand  als  Verbrecher  angeklagten,  aber  ge- 
rechtfertigten zu  handeln.  Nicht  ganz  klar  ist,  ob  „Sohn  Assurs"  im 
eigentlichen,  mythologischen  Sinne  gemeint  ist,  oder  ob  es  einfach  sc- 


6  Hkinuioii  Zimmekn:  l7^,  5 

(2of.~)  DtMi  Kopf  oines  mit  iliiii  fo|rt>ferührt,en]  und  dann 
[<:!;ot]()tet('n  Verbrechers  bindet  man  nn  den  N[acken(V)J  der 
Bölit  Babili.^  —  {22  f.)  Nachdem  Böl  in  den  Ber^  ^regaii<;-en 
ist,  gerät  die  Stadt  [seinet] wogen  in  Aufruhr  und  nuin  stellt 
Kampf  darinnen  an.^  —  (24tl".)  (Nabu)  erblickt  (bei  seinem 
Kommen)  jenen  Verbrecher  bei  Bei.''  —  (27)  Seine*  Leute 
■wehklingen]  vor  ihm.''  • —  (28f.)  Ein  Herold  weint  vor  (Belit- 
Babili)    also:   „Nach    dem    Berge   bringt    man    iliu    weg";    sie 

aber   stößt   aus(V):   „0  mein  Bruder!     0  mein   Bruder! "^ 

—  (30)  Seine  Gewänder  br[ingtj   man  weg.'   —  (31)  Seinen 

Tempel   [leert  mau].^  —  {32)  In [ 

....]. 9  —  (^33)  (Istar)  hatte  ihn  aufgezogen,  ihm  Huld  er- 
zeio-t. '" —  (34 ff)  Er  ist  gefangen  gehalten,  ....  betet  und  fleht. 
Der spricht  also:    „Guttaten    vor   Assur  siod  es,   die 


viel  wie  „ein  Assyrer"  bedeutet.  Vielleicht  ist  übrigens  —  mit  Lands- 
BKRGER  —  in  Z.  i/fF.  die  Kulthandlung  und  deren  mythologische  Aus- 
deutung überhaupt  etwas  anders  abzugrenzen  und  zu  erklären,  als  hier 
und  in  der  Übersetzung  der  Stelle  unten  geschehen  ist,  nämlich  so, 
daß  durchweg  vielmehr  von  Bei   selbst  als  Angeklagtem  die  Rede  ist. 

i)  Entsprechend  einem  [ ],  der  an  den  Türverschluß  der  Belit- 

Babili  gebunden  ist. 

2)  Entsprechend   dem   [ ],   der  sich   nach  Borsippa  zurück- 

begiebt;  dem  Türv[erschluß(?)],  worein  er  ...  [ ]  wird. 

3)  Entsprechend  den .  Schweinekofen  vor  dem  Wege  Nabüs,  wenn 
er  v[on]^  Borsippa  kommt,  um  zu  huldigen,  Nabu,  indem  er  kommt, 
herantritt,  (sie)  erblickt.  —  Der  Verbrecher  wird  anscheinend  mit  einem 
Schwein  verglichen. 

4")  D.  h.  doch  wohl  Bels. 

51  Entsprechend  Beschwörern,  die  vor  ihm  (d.  h.  doch  wohl  Bei) 
hergehen,  eine  Beschwörung  hersagen. 

6)  Entsprechend  einem  Magier,  der  vor  Belit-Babili  einhergeht. 

7)  Entsprechend  wie  man  seine  Kleidung  zur  Belit-Uruk  bringt. 
—  D.  h.  wohl  aus  Esagil  weg  nach  dem  Istartempel. 

8)  Entsprechend  wie  man  Silber  oder  Gold  oder  seine  (Edel)steine 
aus  Esagil  nach  den  (andern)  Tempeln  hinausbringt.  —  Der  in  den 
„Berg"  hineingehende  Bei  muß  sich  also  all  seiner  Kleidung  und  seines 
Schmuckes  entledigen,  wie  Istar,  wenn  sie  in  die  Unterwelt  eintritt. 

9)  Entsprechend  einem  Ähren('?)gewand,  mit  dem  er  bekleidet  ist. 
10)  Entsprechend  Milch,  die  man  vor  Istar  von  Nineve 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  7 

ich(?)  tat",  ferner:  „Was  ist  [meine (?)]  Sün[de]?"i  —  (37)  Er 
fleht  zu  Sin  und  Samas  also:  „Mach  mich  (wieder)  lebendig!"* 

—  (38)   (Mau   bittet),   daß,    da   sein darauf  gestellt 

ist,  er  aus  dem  Innern  des  „Berges"  (wieder)  herausk[orame].' 

—  (39)  ([•  •  •  •])  ^i'ägt  das eines  Gefangenen,  s[it]zt  mit 

ihm    zusammen^    —    (40  f.)    Zur    Verwalterin    des    Hau[ses 

spricht(?) „...]...  des  Hauses  kennst  du",  ferner: 

„Das    Haus   bewache,   mit  deinen  Händen   rei[ß(?)  heraus  (?) 

!"]5  _  (42  f.)  Sie  [wischt  (?)]  mit  ihrer  [Ha]nd  das  Blut 

des  Herzens,  das  vergossen  ist,  [ab].^  —  (44ff-)  Jene  [Ver- 
walterjin  des  Hauses  fragen  sie  also:  „Wer  ist  der  Verbrecher?", 

ferner:  ,,.  .  [ ?"....  die  ..  .]  wegbringen,  den  Verbrecher 

[töten  (?)].'  —  (47  ö.)    (Die  folgenden  5  Zeilen    sind   zu  ver- 

i)  Entsprechend  wie  man  „Einst  als  droben"  hersagt  vor  Bei,  im 
Monat  Nisan  ihm  singt.  —  Mit  „Einst  als  droben"  {enuma  clis)  ist 
natürlich  das  babylonische  Scböpfungsepob  gemeint.  Durch  diese,  wie 
die  weiteren  Stellen,  an  denen  der  Nisan,  speziell  auch  der  8te  Tag 
des  Nisan  genannt  wird,  wird  es  auch  so  gut  wie  sichergestellt,  daß 
es  sich  in  diesem  Texte  wirklich  um  Kultbräuche  speziell  am  Neu- 
jahrsfeste im  Anfang  des  Monats  Nisan  handelt. 

2)  Entsprechend  wie  [der ],   der  den  Himmel  anblickt.    — 

Statt  „mach  mich  (wieder)  lebendig!"  oben  auch  möglich:  „laß  mich 
am  Leben!" 

3)  Entsprechend  wie  [der ,  der]  den  Erdboden  anblickt. 

4)  Entsprechend   wie  [ ,   der  mit]  Bei  zum  Festhause  nicht 

auszieht. 

5)  Entsprechend  wie  [Belit(?)-]Babili  nicht  in  das  Festhaus  hinein- 
geht. —   Beziehen   sich   die  Worte    „Mit   deinen  Händen  rei[ß(?)  her- 

au8(?) !!"  vielleicht  darauf,  daß  die  Verwalterin  des  Hauses  dem 

durch  einen  Speer  tötlich  getroffenen  Bei  diese  Waffe  aus  dem  Körper 
ausreißen  soll?    Vgl.  dazu  das  Folgende. 

6)  Entsprechend  wie  [Belit(?)-]Babili  schwarze  Wolle  an  der  Rück- 
seite trägt,  bunte  (?)  Wolle  an  der  Vorderseite  trägt.  —  Beim  Abwischen 
des  vergossenen  Herzblutes  ist  doch  wohl  an  die  Wunden  und  das 
Blut  Bels  zu  denken,  von  denen  in  Z.  15  die  Rede  war.  Vgl.  auch  das 
in  der  vorhergehenden  Anmerkung  Gesagte. 

7)  Entsprechend    der  [ ],    vor   der  man  am   8*6»  Nisan    ein 

Schwein  schl[achtet.]  —  Auch  hier  wird  anscheinend  der  mit  Bei  ab- 
geführte und  getötete  Verbrecher  durch  ein  Schwein  symbolisiert,  ähn- 
lich wie  bereits  oben  in  Z.  24. 


8  Hkiniucm  Zimmkun:  [70,5 

stümmolt,  um  eiiu-  wtut liehe  Wiedergabe  hier  zu  lohnen. 
Doch  hißt  sich  wohl  soviel  daraus  entnehmen,  daß  allerlei 
auf  Abwehr  von  lastendem  Bann  berechnete  Kulthandlungen' 
wieder  auf  die  „Gefangensoliaft"  Hels  [und  seine  darnach  fol- 
gende Befreiung]  bezogen  worden.)  —  (S^ft-)  Innerhalb  „Einst 
als  droben"  sagt  man:  aMss  Himmel  und  Erde  (noch)  nicht 
geschaüen  waren,  da  ent[standj  Ansar,  als  Stadt  und  Tempel 
gemacht  wurden,  da  entstand  (Bei)  selbst,  die  Wasser,  die  auf 
Ansar  [ein drangen (?),   bezwang^?)   erj;   jener,    dessen   Sünde 

in jener dem  Wasser  (?)  war  er  bekleidet,  .... 

.  .  [ J.2  —  (5  7  ff.)    Assui-  schickte  den  Ninurta  betreffs 

der  Gefangennahme  des  Zu  aus.  Gott  [....]  sprach  vor  Assur 
also:  „Zfl  ist  gefangen'',  Assur  [sprach]  zu  Gott  [....]  also: 
„Geh  hin,  den  Göttern  insgesamt  verkünde  (es)!"  Er  ver- 
kündete (es)  ihnen,  sie  aber  [freuten (?)  sich]  darüber.'  — 
(61  f.)  Die  Götter,  die  Väter  (Bels),  [befeinden(?)  ihn.]*  — 
(63)  Gula  sendet  seinetwegen- einen  Boten  (Nusku).^  (^4^-) 
(Kleider  und  Schuhe)  läßt  er  der  (Belit-Babili)  bringen,  darum 


1)  Darunter  auch  der  Gesanj^  eines  Liedes  auf  [Marduk(y)]  als 
den  [Bez\v]inger(?)  der  Wasser;  ferner  ein  im  Monat  Nisan  [darge- 
brachtes] sehr  reichliches  [Opfer]. 

2)  Entsprechend  dem  Handwasser,  das  man  herbeibringt,  indem 
man  au8oagt(?),  daß  dieses  die  Seuche  [wegnimmt (?)],  (und)  entspre- 
chend dem  Ähren(?)gewand,  das  (Bei)  trägt,  in  bezug  worauf  man  also 
sagt:  selbige  (?)  Wasser  (bedeuten)  Weben  (?).  —  Es  scheint,  daß  das  im 
Neujahrsfestkulte  eine  so  große  Rolle  spielende  „Handwasser"  (s.  unten 
Nr.  2  beim  Erechritual)  hier  zu  den  Wassern  der  Tiämat  in  Beziehung 
gesetzt  ist. 

3)  Entsprechend  dem  Schnelllauf,  den  man  im  Monat  Nisan  vor 
Bei  und  allen  Kultstätten  anstellt.  —  Hier  werden  also  kultische  Schnell- 
läufe direkt  als  Abbilder  eines  entsprechenden  Vorgangs  im  Zü-Mythus 
ausgedeutet. 

4)  Entsprechend  den  Reden  insgesamt,  die  unter  den  ^aZw- Prie- 
stern [geführt  werden],  von  den  Plünderern,  die  ihn  ausplündern,  die 
ihn  schlagen  lassen.  —  Der  Sinn  ist  wohl  ähnlich  wie  oben  Z.  30  f., 
wo  von  der  Leerung  des  Tempels  Esagil  und  dem  Wegbringen  der 
Kleidung  Bels  die  Rede  war. 

5)  Entsprechend  wie  Nusku  von  E-sa-bad  hinübergeht. 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   TT.  g 

daß   man   ihn   nicht  losläßt,   er   nicht  herausgehen  kann. ^  - 

(66)  (Sein   Wagen)   stürmt   ohne   seinen   Besitzer   dahin.*  — 

(67)  Sein  Klageweib  wimmert  (?)  aus  der  Stadt  heraus.^  — - 
(6 8  f.)  Nachdem  man  ihn  eingeschlossen  hatte,  er  in  das  Haus 
eingetreten  war,  man  die  Tür  vor  ihm  verriegelt  hatte,  bohrten 
die  Götter  Löcher  in  die  Tür  hinein,  stellten  Kampf  drinnen  an* 

Durch  den  aus  dem  Vorstehenden  sich  ergebenden  baby- 
lonischen Mythus  vom  leidenden,  im  fin*^tern  „Berge"  ge- 
fangenen, dann  aber  zur  Neujahrsfestzeit  im  Nisan  wieder 
befreitvu  Bel-Marduk  ist  nunmehr,  wie  bereits  einleitend  be- 
merkt, in  der  Tat  ein  dem  Tamüz-Mythus  entsprechender 
Bel-Marduk-Mvthus  auch  inschriftlich,  und  zwar  mindestens 
für  das  8*^  vorchristliche  Jahrhundert  —  aus  dieser  Zeit  wird 
wohl  die  Assurtafel  stammen  -  bezeugt.  Bemerkenswert  ist 
dabei,  daß  die  unmittelbare  Aussage  von  einem  „Sterben", 
vom  „Tode"  des  Gottes  Bei  offenbar  absichtlich  vermieden 
wird,  vielmehr  immer  nur  von  seinem  „Verschwinden",  „Ge- 
fangengehaltenwerden"   im    Berge   u.  ä.    die    Ivede    ist.^     Die 


i)  Entsprechend  wie  man  Kleider  und  Schuhe  in  den  Tempel  der 
Belit-Babili  bringt. 

2)  Entsprechend  dem  Wagen,  der  zum  Festhause  gefahren  kommt. 

3)  Entsprechend  einer  vermummten(?)  Göttin,  die  aus  der  Stadt 
heraus  wimmert (?). 

4)  Enti^preehend  der  sogenannten  Fenstertür.  —  Damit  ist  offenbar 
wieder  eine  besondere  Tür  in  Esagil  gemeint,  an  die  sich  dieser  my- 
thische Zug  knüpfte.  Bei  dem  letzteren  liegt  wohl  die  Vorstellung  zu- 
grunde, daß  die  Götter,  die  vorher  ja  allerdings  als  diejenigen  er- 
scheinen, die  die  Einschließung  Bels  bewirkt  haben,  nunmehr  ihn  auch 
wieder  mit  Gewalt  aus  seinem  Berggefängnis  befreien. 

.5)  S.  hierzu  bezw.  zu  der  gleichen  Ez'scheinung  im  Tamüzmythus 
meine  Bemerkungen  in:  Zum  Streit  um  die  „Christusmythe"  43 f.  — 
In  ein^t- gewissen,  allerdings  etwas  entfernteren,  Zusammenhang  mit 
dieser  Vorstellung  von  dem  verschwundeuen  Bel-Marduk  oder  Tamüz 
steht  auch  die  Vorstellung  von  dem  zürnend  und  untätig  in  seinem 
Ekur  daliegenden  {salil,  sa  sallu),  nicht  aufstehenden  {lä  itebbi)  Enlil, 
den  Istar  auf  einem  mit  den  Farben  einer  Höllenfahrt  geschilderten 
Zuge  aufsucht.  S.  dazu  meine  Besprechung  der  Texte  Rkisnkk,  Sum.- 
bab.    Hymn.    Nr.  43   und   44    in   Sumer.-babyl.   Tamüzlieder   S.  248 ff. 


lo  Hkinkich  Zimmkkn:  [70,5 

Volksmeinnng  vom  „sterbenden"  Gotte  durfte  bei  einem  Haupt- 
gotte  wie  Bel-Marduk  in  der  Priester! iteraiur  offenbar  nicht 
so  imverblüint  zum  Ausdrui^k  kommen.  Später  wo,  wenigstens 
bei  griechischen  SohriÜstellern,  von  einem  Eindringen  in  das 
Grab  des  Belitanas  (Ktesias  §  21),  bzw.  des  „alten  Bei" 
(Aelian,  Var.  ,Hist.  XIII  3)  durch  Xerxes  die  Rede  ist',  ist 
man  in  diesem  Punkte  anscheinend  weniger  sch(!U  zurück- 
haltend gewesen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  in  diesem  babylonisclien 
Mythus  auch  der  Zug,  daß  ein  Verbrecher  zugleich  mit  dem 
Gotte  Bei  abgeführt  und  dann  getötet  wird.  Wahrscheinlich 
haben  wir  in  dieser  dem  ganzen  Zusammenhange  nach  eben- 
falls in  die  Nisanfestfeier  zu  versetzenden  Szene  das  Vorbild 
zu  dem  „Spottkönig" ^  am  babylonischen  Sakaia-  bzw.  am 
persischen  Sakäenfeste^,  von  dem  Berossos  und  Dion  Chry- 
sostomos  erzählen.*     Andererseits  erinnert  dieser  mit  Bei  ab- 


(diese  Berichte  Bd.  59,  Heft  4)  und  Stellen  wie  Rkisnek  a.  a.  0.  Nr.  29 
Vs.  i9if.  (Rs.  16 ff.);  Nr.  14  Rs.  24 f.,  sowie  insbesondere  IV  R  23 
Nr.  I  Kol,  I  26flF.,  wo  das  Enlillied  mu-lu  nä-a  e-lum  mu-lu  nä-a 
li-sü  ba-an-nä-a  {sa  sallu  belum  sa  salin  adi  mati  salil)  (auch  zi- 
tiert KTAR  Nr.  60  Rs.  i)  in  einem  kultischen  Zusammenhang  auttritt, 
der  auch  aus  andern  Gründen  auf  eine  bestimmte  Jahresfeier  deutet 
(s.  dazu  unten  S.  50  unter  Nr.  6d  zu  der  Jahresfeier  für  Enmeaara). 

i)  Vgl.  dazu  Lehmann-Haupt  in  Orient.  Studien  Nöldeke  gewidm. 
998tF.   1003;  auch  Baudibsin,  Adonis  u.  Esmuu  447. 

2)  S.  dazu  Näheres  im  Anschluß  an  die  Szene  der  Verspottunj? 
Jesu  durch  die  römischen  Soldaten  in  meiner  Schrift  Zum  Streit  um 
die  „Christusmythe"  38flF. 

3)  In  welchen  beiden  Namen  doch  wohl  das  babylonische  Neu- 
jahrsfest, Zag(muk),  fortlebt. 

4)  Nach  Berossos  bei  Athenaeus  feierte  man  in  Babylon  am  16. 
des  Monats  Loos  ein  fünftägiges  Fest  des  Namens  Sakaia,  an  welchem 
die  Sklaven  über  die  Herren  Macht  hatten,  und  an  dem  ferner  einer 
der  Sklaven  mit  einem  königlichen  Mantel  bekleidet  wurde  und  den 
Namen  Zoganes  (d.  i.  vielleicht  das  bab.  sukallu,  Wesir)  führte.  — 
Andererseits  berichtet  Dion  Chrysostomos  Orat.  IV  67,  daß  die  Perser 
am  Sakäenfeste  folgendes  tun:  Sie  wählen  einen  von  den  zum  Tode 
verurteilten  Gefangenen  aus,  setzen  ihn  auf  den  Königsthron,  legen 
ihm  das  Königsgewand  an  und  lassen  ihn  kommandieren,  trinken  und 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   IL  1 1 

o-eführte  und  dann  getötete  Verbrecher  auch  sehr  an  die 
beiden  Verbrecher,  die  mit  Jesus  zusammen  abgeführt  und 
gekreuzigt  werden,  wie  denn  auch  im  übrigen  dieser  neu- 
gewonnene  Mythus  vom  leidenden  und  triumphierenden  Bel- 
Marduk  sich  als  ein  neues  wichtiges  keiliuschiiftliches  Seiten- 
stück zu  den  neutestamentlichen  Schilderungen  von  Jesu  Leiden, 
Tod,  Grablegung  und  Auferstehung  ergibt.  Indem  ich  für 
meine  prinzipielle  Stellungnahme  hinsichtlich  der  Heranziehung 
solcher  Mythen,  speziell  auch  aus  dem  babylonischen  Kultur- 
kreis, für  die  Leben- Jesu-Forschung  mich  einfach  auf  die 
Ausführungen  in  meiner  Schrift:  Zum  Streit  um  die  „Christus- 
mythe", insbesondere  auf  das  in  der  Einleitung  daselbst  Be- 
merkte, beziehe  \  setze  ich  darum  hier  einfach  die  auf  beiden 
Seiten  entsprechenden  Züge  einander  gegenüber.  Dabei  kann 
man  natürlich  über  die  stärkere  oder  schwächere  Schlagkraft 
der  einen  und  der  andern  angeführten  Parallele  verschiedener 
Meinung  sein.  Teilweise  eine  Änderung  in  der  Reihenfolge 
der  einzelnen  mythischen  Züge  auf  der  babylonischen  Seite 
hierbei  vorzunehmen,  wird  durch  den  eigenartigen  Charakter 
des  kommentarartigen  babylonischen  Textes  an  die  Hand  ge- 
geben. Denn  dieser  gibt  ja  nicht  in  geordneter  fortlaufender 
Rede  einen  zusammeniiängenden  Mythenstoif  wieder,  sondern, 
wenn  er  auch  stellenweise  wohl  die  Aufeinanderfolge  einhält, 
80  tritt  er  andererseits  doch  auch  wieder  mehrfach  aus  der 
Reihenfolge  der  einzelnen  Mythentatsachen  heraus  und  greift 
nur  sprunghaft  und  ohne  Berücksichtigung  des  Vorher  und 
Nachher  einzelne  Züge  aus  dem  ganzen  Mythenkomplexe  heraus. 
Auch  wird  noch  allerlei  nicht  direkt  zu  diesem  Mythus  Gehöriges, 
so  z.  B.  der  Zü-Mythus,  in  unserem  Texte  mit  hereingezogen. 

schwelgen,  auch  mit  deu  Kebsweibern  des  Königs  in  jenen  Tagen  ver- 
kehren: überhaupt  darf  ihn  keiner  hindern,  zu  tun,  was  ihm  beliebt. 
Danach  aber  zieht  man  ihn  aus,  geißelt  ihn  und  hängt  ihn  auf.  —  Zur 
Sitte  der  Freilassung  von  Sklaven  oder  Gefangenen  aus  Anlaß  religiöser 
Feiern  in  Babylonien  vgl.  auch  die  Belege  in  keilschriftlichen  Texten 
bei  Landsbekger,  Kult.  Kalender  115  ff. 

i)  Vgl.  auch  bereits   meine   prinzipiellen  Ausführungen   in  dieser 
Einsicht  in  Keilinschr.  u.  Alt.  Test.  *  377. 


12 


Hbiniuch  Zimmbun: 


[70,  5 


l^abyloniscli. 

Bel-Marduks  Geian»^ennahme. 

Bels  Verhör  im  Hause  am  Rand 
des  „Berges"  (an  der  Ge- 
richtsstjitte). 

Bei  wird  geschlagen  (ver- 
wundet). 

Bei  wird  nach  dem  „Berge" 
abgeführt. 

Zugleich  mit  Bei  wird  ein  Ver- 
brecher  abgeführt  und  dann 
getötet.  Einaiiderer(V ),  gleich- 
falls als  Verbrecher  angeklagt, 
wird  losgelassen  (V)  und  da- 
her nicht  mit  Bei  abgeführt. 

Nachdem  Bei  in  den  „Berg'' 
gegangen  ist,  gerät  die  Stadt 
darüber  in  Aufruhr,  findet 
Kampf  darinnen  statt. 


Bels    Kleider    werden    wegge- 
bracht. 


Eine  Frau  [wischt]  das  ver- 
gossene Herzblut  (Bels  ?)  [abl, 
das,  wie  es  scheint,  von  einem 
herausgezogenen  [Speere] 
hen'ührte. 


Bei  mußte  in  den  „Berg"  hin- 
absteigen,   fern    von    Sonne 


Neutestamentlich. 

Jesu   Gefangennahme. 

Jesu  Verhör  im  Hause  des 
Hohenpriesters  und  des  Pi- 
latus. 

Jesu  Geißelung. 

Jesu  Abführung  zur  Kreu- 
zigung auf  Golgatha. 

Zugleich  mit  Jesus  werden 
zwei  Verbrecher  al)geführt 
und  gekreuzigt.  Ein  an- 
derer Verbrecher,  Barabbas, 
wird  von  Pilatus  dem  Volke 
freigegeben  und  daher  nicht 
mit  Jesus  abgeführt. 

Bei  Jesu  Tod  zerreißt  der 
Vorhang  im  Tempel  (Syn- 
opt.),  erbebt  die  Erde, 
spalten  sich  die  Felsen,  tun 
sich  die  Gräber  auf,  kom- 
men die  Toten  in  die  hei- 
lige Stadt  (Matth.). 

Jesu  Kleider  werden  unter 
die  Soldaten  verteilt  (Syn- 
opt.,  Joh.,   vgl.  Ps.  22^  19). 

Lanzenstich  in  Jesu  Seite, 
Herausfließen  von  Wasser 
und  Blut  (Joh.).  Maria 
Magdalena  und  zwei  an- 
dere  Frauen  beabsichtigen, 
den  Leichnam  Jesu  einzu- 
salben (Marc,  Luk.). 

Jesus  im  Grabe,  genauer  im 
Felseugrabe  (Synopt.),   ins 


70,  5] 


Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II. 


13 


und  Licht;  er  ist  aus  dem 
Leben  entschwunden  und 
wird  im  „Berge''  wie  in  einem 
Gefängnis  festgehalten. 

Wächter  bewachen  den  in  der 
Bergfestung  eingeschlosse- 
nen Bei. 

Eine  Göttin,  wohl  Bels  Gattin, 
weilt  bei  Bei:  sie  ist  seines 
Befindens  wegen  gekommen. 

Man  sucht  Bei,  wo  er  gefangen 
gehalten  wird.  Lisbesondere 
eine  bittfiehende  Frau,  wohl 
Bels  Gattin,  sucht  nach  ihm 
beim  „Tor  des  Begräbnisses". 
Desgleichen  heißt  es  von  der 
Belit-Babili,  Bels  Frau,  daß 
sie,  als  Bei  nach  dem  „Berge" 
fortgeführt  wurde,  in  den 
Klageruf  ausbracli :  „0  mein 
Bruder!    0  mein  Bruder!" 

Bei  wird  wieder  ins  Leben 
zurückgebracht,  kommt  (wie 
die  Frühlingssonne)  wieder 
aus  dem  „Berge"  heraus.  Sein 
Hauptfest,  das  babylonische 
Neujahrsfest  im  Nisan  zur 
Zeit  der  Frühlings-Tag-  und 
Nachtgleiche,  gilt  zugleich 
als  die  Feier  seines  Sieges 
über  die  Mächte  der  Finster- 
nis (das  Weltschöpfungslied 
„Einst  als  droben"  als  das 
Neujahrsfestlied). 


Totenreich  hinabgestiegen 
(i  Petr.  3,  ig;  Matth.  12, 
40;  Act.  2,  24;  Rom.  10,  17; 
Dogma  vom  descensus  ad 
inferos). 
Wächter  am  Grabe  Jesu 
(Matth.). 

Maria  Magdalena  und  die  an- 
dere Maria  sitzen  dem  Grabe 
Jesu  gegenüber  (Matth., 
ähnlich  Marc). 

Frauen,  insbesondere  Maria 
Magdalena,  kommen  zu 
Jesu  Grab  und  suchen  ihn 
daselbst  hinter  der  „Grabes- 
tür". Von  Maria  Magda- 
lena heißt  es  (Joh.),  daß 
sie  weinend  vor  dem  leeren 
Grabe  stand,  weil  man 
ihren  Herrn  weggenommen 
hatte. 

Jesu  Auferweckung  durch 
Gott,  seine  Auferstehung  aus 
dem  Grabe  (an  einem  Sonn- 
tage). Sein  Fest  zur  Zeit 
der  Frühlings -Tag-  und 
Nachtgieiche  gilt  zugleich 
als  die  Feier  seines  Sieges 
über  die  Mächte  der  Finster- 
nis   (vgl.  z.  B.  Col.  2,  15). 


14  Hkinuicu  Zim-mkun:  [70>  5 

Hei  der  im  folgemlrii  mui  <^eboteu(  n  Umschrift  und  Uber- 
spt/uiig  dos  Text»'s  VAT  9555  =  KTAR  Nr.  143  ist  in  der 
ühlirlien  Weise  Ergänztes  in  eckige  Klammern  gesetzt.  Das  in 
der  Umschrift  von  Z.  31  bis  Z.  04  in  runde  Khimniern  Ge- 
setzte stammt  aus  dem  oben  S.  3  Anm.  1  erwähnton  l)u])likat 
VAT  9538.    Herrn  Dr.  Eiielolf  bin  ich  zu  Dank  verpflichtet 

(i)  [ ^B('l  sü-ü  inii  hur-sa-an  ik-k\a-ii    (2)  [.  . 

\-vn-ni   (3)  [ ]  ü-se-m-as-su 

(4>  [ i]-(la-la  t"'"''''»/[ä]r  s\ip\ri  \s\d  hele-su  man-nu  ü-äc-sa- 

as-m    (5)  [ i]l  lalc-u-nl  u-se-sa-assü-ni   (6)  [. . .  sd  i]-ra-]cab- 

u-ni  a-na  hur-sa-an  sn-ii  il-Iak  (7)  [.  .  .  m]  il-laJc-u-ni  bltu  st'i-ii 
ina  eli  sap-fe  sd  hur-sa-an  ina  libhi  i-sa-'-n-hi-su  (8 )  [''Nalü  sd 
isiu  Bdr-s]ip'''  il-Jak-an-ni  a-na  sul-me  sd  ahi-su  sd  sa-hit-ii-ni 
sü-ü  illa-ka  (9)  [. .  .y^'sd  ina  su-qa-qa-a-te  i-du-lu-u-ni  ^Bcl  ü-ha-'u- 
tna  a-a-hi  sa-bit  (10)  [. . . .]  sd  qdtd-sa  tar-sa-a-ni  a-na'' Sin ^Samas 
tu-sal-la  ma-a  ^Bel  bid-li-[s'\u  (11)  [&ä&...]^'  H  tal-lak-u-ni  bäb 
qa-bu-rat  sü-ü  tal-Iak  hc-b[a-'-s]u  (12)  [.  .  .].  ma-a-se  sd  ina  b[d]b 
sd  E-sag-il  i-za-zu-u-ni  '^'^^^  massare-su  sü-nu  ina  muhhi-su  paq-du 
i-na-s[a-ru  si(^  (13)  [.  .  .  .].-qu-ri  [.  .]  e-pi-sü-ni  a-hi  iläni  e-si-ru- 
sü-ni  ih-ti-Iiq  ina  llb-hi  na\psäte\  (14)  [ana  bU  ntje-si-ri  sam-[su] 
u  nüru  istu  lib-bi  us-si-n-du-nis-[sM^  (15)  [.  .  .]  sd  ina  sapU-m 
i[q]-tar-ri-bn  sä  lab-bu-sü-ni  mi-ih-si  sd  mah-lm-su-ni  su-nu  ina 
däme-su  [.  .  .]  (lö)  [(Ij-üiin  sd  is-lsi^-su  kam-mu-sa-tu-ni  a-na 
sid-me-su  ta-ta[rad'^]  (17)  [mär  ''Assur{?)  s]d  is-si-su  la  i?-[Z]afe- 
tt-wi  ma-a  la  bei  M-it-ti  a-na-kn  ma-a  la  us-sa-ia-am-mah-[has (?)] 

(18)  [.  .].  '^Ässur  d[i]-na-ni  ina  pa-ni-su  ip-ti-ü  di-na-ni  i-d[i-mi\ 

(19)  [.  .  sä    is]-si-su   la  ü-lak-u-ni  mär  ^  Ässur  sü-u-tü  ma-su-ru 

i)  Oder:  ta-ta-[lak]. 


70,5]  Zum  BABYLONISCHEN  Neujahrsfest.   II.  15 

für  eine  orrößere  Anzahl  von  Kollationen  am  Original  der 
Tafel  VAT  9555,  die  mehrfach  durch  ein  beigesetztes  Aus- 
rufungszeichen von  mir  kenntlich  gemacht  sind;  Herrn  Dr. 
Landsberger  für  eine  Reihe  wertvoller  Berichtigungen  meiner 
ursprünglichen  Auffassung  einzelner  Textstellen. 


(i)  [ :  Das  ist   Bei,  tvie  er  im  „Berge"  fest- 

ge]halten  wird.  —  (2)  [ 

]  .  .    (3)  [ ]  führt  ihn  heraus:  (4)  [ es 

lä\uft  umher  ein  B[o]tc  von  seinen  Herren  (rufend):  „Wer  führt  ihn 

heraus?''  (5)  [ ist  es,  der  hin(j\eht,  Um  herausführt.  —  (6)  [.  .  ., 

der]  daliinfälert :  Das  ist,  tvie  er  nach  dem  „Berge"  hingeht.  — 
(7)  l^Das  .  .  .,  zu  dem  .  .  .  .]  kommt:  Das  ist  das  Haus  am  Bande 
des  „Berges",  icorinnen  man  ihn  verhört.  —  (8)  [Nabu,  der  von 
Bors\ippa  kommt:  Das  ist,  wie  er  wegen  des  Wohlbefindens  seines 
Vaters,  der  gefangen  gehalten  wird,  kommt.  —  (9)  Die  [.  .  .],  die 
auf  den  Gassen  umherlaufen:  (Das  ist),  wie  man  Bei  sucht: 
„Wo  wird  er  gefangen  gehalfen?"  —  (10)  [Die  .  .  .  ],  deren  Hände 

ausgebreitet  sind:  (Das  ist),  tvie  sie  zu  Sin,  Samas  also  fleht: 
„Mach  Bei  (tcieder)  lebendig .''^^  —  (11)  [Das  Tor]  der  [...], 
zu  dem  sie  geht:  Das  ist  das  Tor  des  Begräbnisses,  sie  geht  hin. 
su[cht  nach  i]hm.  —  (12)  Die  Zicillings-[. . . .],  die  am  T[o\r  von 
Esagil  stehen:  Das  sind  seine  Wächter,  sie  sind  über  ihn  bestellt, 
bew[achen  ihn.]  —  (13 )  [•  •  •  •]•  ■[•  ■  die]  gemacht  sind:  (Das  ist) 
nachdem  die  Götter  ihn  eingeschlossen  haben,  ist  er  entschwunden 
aus  dem  Le[ben,]  (14)  [ins  Ge]fängnis,  von  Son[ne]  und  Licht 
hiniceg  haben  sie  ihn  hinabsteigen  lassen.  —  (15)  [Die  ....],  die 
unter  ihm  herankommen,  mit  denen  er  bekleidet  id:  Das  sind  die 
Wunden,  durch  die  er  vencundet  ist,  in  seinem  Blute  [....]  — 
(16)  Eine  [Göt]iin,  die  bei  ihm  weilt:  Wegen  seines  Wohlbefindens 
ist  sie  hiTi[algestiegen^.]  —  (17)  [Der  Sohn  Ässurs(?),  d]er  nicht 
mit  ihm  geht,  indem  er  spricht  „ich  bin  kein  Verbrecher'"''  und  weiter: 
„nicht  werde  ich  geschla[gen{y)],  (18)  [die  ....].  Assurs  haben 
mein  Becht(?)  vor  ihm  klargestellt (?),  habm  mein  Eeehti?)  eni[schie- 
de«  (?)'':]    (19)  [. . .  der  m]it  ihm  nicht  geht,  selbiger  ('^)  Sohn  Assurs, 


i)  Oder  auch:  Laß  Bei  am  Leben!  2)  Oder:  hin[gegangen]. 


lü  Hkin'uu'm  /i.mmkun:  [7<Ji  5 

sii-i'<  hui  »luh-hi-su  }ia-qid  '^'"bir  tii  itia  niuh-hi-§u  i-}i\a-as-sar]  (20) 
[.  .  .  m\  Uta  '*tal-li  sd  '^  Bv-lit-  linhili  'ula-an-ni  (jaq'jadu  sd  bei 
hi-i(-(i  sd  is  si-sii  i-i\  itl-du-su-tü\  (  2  1 )  [/  <i]a-hi(su-ni  sii-d't  qwjqad-su 
iiia  ^"k[ii(idi{'n\  sd  '' iic-lil-Iiahili  c-{i(-'\-lii\  {22)  [.  .J  M  aiix 
Bdr-sip*"'  i-sa-h(n-n-ni  illuk-u-iii  ''l(d-[l]u{?)  M  ina  libbi-su  is-sa- 
na-.[.]  (23)  [a/-Ä"/"J  sd  ^  bil  ina  hur  sa  an  it-lik-uni  alu  ina  miihlii- 
[su]  H-tn-bal-kid  (ju-ia-bu  ina  libbi-sii  u\i)]{'^)p\u\{'^)-su  (24)  [ad]' 
ndti '  sd  sähe  sd  ina  mahur  liarrän  §d  ''Nabu  ki-i  i[§tu\  Jidr-sip''* 
il-la-kan-an-ni  i-kai-ra-bu-ni  (25)  [.YNabü  sd  il-lak-an-ni  ina 
mulj-hi  i-ea--u  u-ni  im-innr-u-ni  bei  hi-i(-(i  sd  itt't  ''Bei  sü-lü\-ni  sü-u] 
(26) [.J  ki-i{\)  sd  itti  ''Bei  sd-iü-ni  im-[m(i  ar-su]  (27)  ^""•'^^' mahna^e 
id  ina  ^j(i-««-^?/-s/f  il-lak-u-ni  si-ip-tn  i-waan-nu-ii-m  nise-su  si'i-nu 
ina  pa-na-tU'SH  n-nii-bui'^)[-i(]  (28)  ^'^'"^^'mahhu-u  sä  ina  mahar 
'^Be-ld-Babili  ilhi-ku-u-ni  "■'"^^ mu-pa-si-ru  sü-u  a-na  irti-sa  i-bak- 
^[(..1  (2g)  [.]  ma-a  a-na  hur-sa-an  ub-bu-lu-§u  sl-i  ia-ia-rad 
ma-a  ahu-u-a  alm{^.)-u-a\.  .  .]  (jo)  [.]  la-bu-su-sü  sd  a  na  ^Bllit- 
Uruk  ü-sc-bal-u-ni    ku-zip-pi-sii    sü-nu  ii-tu-b\a-lu-ni^    (31)  {lu-u) 

sarpu  lu-u  huräsu  lu-u  abne-su^  sd  is(tu)  l{ibb)i  E-sag-il  a-na 
ekurräte    ü-sc-su-ti-ni  blt-su    sü-(u-tu)  [. . .]     (32J    (?"'-«<)   §e-ir-i-tu 

{sd  lab-b)u-sü-ni  ina  ka-dam-me  [ ^]    (ü)  {si-i)z-bu  sd  ina 

mahur  ^Istar  s{d  JSinua  i-hal-li-bu-7i)i  ni-nii-il  s!-i  tu-ra-bu-su-ni 
ri-e-mu  d-ka-{al-litn-u)ls-su-ni]  (34)  {c-n)u-ma  e-Iis  {sd  da-bi- 
ib-u-ni   ina    mahar  ''Be)l   ina   '^''"^^ Nisanrd   i-za-mur-ü^-su-ni    ina 

muhhi    sd  sa-bit-u-ni  [ ]    (35)     {s)u-ul-l{i-c-su-nu    ü-sal-la) 

su-ra-ri-su-nu  i°-sa-r[a-ai-\  (36J  (.)  [  J.  s{ü-tu  i-da-bu-ub  ma-a 
damqa-a-te  s)d   ''Assur   si^-tta   e-ta-pa-as  ma-a   mi-i-nu  hi-\it-lu- 

*C^)]  (37)  [•■••]  {ß^  same^  i-da-gul-u-ni  ana  '^Sin)  ^Samas  ü-sal- 
la  ma-a  bul-li-[ta-an-n]i  (38)  [.  .  .  sd]  {qaq-qu-ru  i-da-yal-u-ni  hu- 
ur-'ni-su  ina  mu)\h\hi-su  kar{\)-ru-ni  ina  muhhi'^  sd  isla  libbi  hur- 
sa-an  i[i-lak-u-\ni  (39)  [.  .  .  .  sa  ittt]  {^Bel  a-na  bit  a-ki-ti  la 
ü-su-nt)  .  .  -ü  sä  '^"'^'sa-ab-te  i-na-us-si  i-si-su  i{?)[-ia-s]ab  (40)  \Be- 
lit{?)-]  {Bäbili  sä  ina  libbi  bit  ä-ki-it  l[a\  t[a\-a\l])-lak-u-ni  Ha- 
ki-in-tü   sd   bllti  si-i]    (41)  [ ](• -^*  ^^^^   tu-di-i  ma-a   blta 


i)  Geschr.  [gJi-l'iü"-  2)  su  fehlt  in  Dupl. 

3)  Vgl.  zu  etwaiger  Ergänzung  unten  Z.  56. 

4)  Fallit  im  Dupl.  5)  Dupl.  ü. 

6)  Kaum  lirn-na  zu  lesen. 

7)  ina  muhhi  fehlt  im  Dupl. 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  17 

das  ist  der  Wächter,  er  ist  über  ihn  bestellt,  die  Festung  be[ivacht 
«r]  sdnettvegen.  —  (20)  [J)er  .  .  .  .,  tZer]  an  den  Türverschluß  der 
Bellt- Bahili  gebunden  ist:  Das  ist  der  Kopf  des  Verbrechers,  den  man 
mit  ihm  fo\iiführt\    (21)  {und  dann)  \t\ötd;  seinen  Kopf  bind\ct\ 

man  an  den  N\acken{^y\  der  Belit-Babili.   —  {-'^^  { \  der 

sich  'Wieder  nach  Borsippa  zurUckhegibt ;  der  Tiirv[erscMuß{?)], 
tvordn  er  .  .[.  .  .]  wird:  {zt,)  (Bas  ist,)  \nac1i\dem  Bei  in  den  „Berg'"' 
gegangen  ist,  ti^e  da  die  Stadt  [seinet^ivegen  in  Aufruhr  gerät,  und 
man  Kampf  darinnm  anstellt.  —  (24)  Die  Schtvdne[]coYcn  vor  dem 
Wege  Nabüs,  wenn  er  v[on^  Borsippa  kommt,  um  zu  hiddigen, 
(25)  Nabu,  indem  er  kommt,  herantritt,  [sie)  erblickt:  [Das  ist^ 
jener  Verbrecher  bei  Bei,  (26)  gleich  als  ob  es  jener  bei  Bei  wäre, 
erb[lickt  er  es.]  —  (27)  Die  Beschtcörer,  die  vor  ihm  hergehen,  eine 
Beschwörung  hersagen:  Das  sind  seine  Leute,  vor  ihm  w-ehk[lagcn^ 
sie.  —  (28)  Der  Magier,  der  vor  Belit-Babili  einhergeht:  Das  ist 
der  Herold,  vor  ihr  weint  er  (29)  also  „Nach  dem  „Berge''''  bringt 
man  ihn  weg^\-  sie  aber  stößt  atis(?)  „0  mein  Bruder!  0  mein 
Bruder!"  [....]  —  (30)  Seine  Kleidung,  die  man  zur  Belit-Urivlv 
bringt:  Das  sind  seine  Gewänder,  die  man  wegbr[ingt.]  —  (31)  Sei 
es  Silber  oder  Gold  oder  seine  Steine,  die  man  aus  Esagil  nach  den . 

Tempeln  hinausbringf:  Das  ist  sein  Tempel  [ ]  —  (1^2)  Das 

Ähren(?)geivand ,  ivomit  er  bekleidet  ist:  In [ 

]  —  (33)  Milch,  die  man  vor  Istar  von  Nineve ; 

(Das  ist)  weil  sie  es  ist,  die  ihn  aufgezogen  hat,  Huld  ihm  erzeigt 
hatte.  —  (34)  „Einst  als  droben",  das  man  hersagt  vor  Bei,  im 
Monat  Nisan  ihm  singt:  [Das  ist)  darum  daß  er  gefangen  gehalten 

ist,  [ ]  (35)  *''^6  Gebete  betet  er,  ihr  Flehen 

fle[ht  er.]  (36)  .  .  [.  .'j  .  .  ist  es;  er  spricht  also  „Guttaten  vor  Ässur 
sind  es,  die  ich(?)  tat",  ferner  „Was  ist  [meine (?)]  Sün[de?"]   — 

(37)  [Der ],  der  den  Himmel  anblickt:  Zu  Sin,  Samas  fleht  er 

also:  mach  [mi]ch  (wieder)  lebendig!"^  —  (38)  [Der ,  der]  den 

Erdboden  anblickt:  (Das  geschieht  darum)  daß  sein  ....  darauf  ge- 
stellt ist,  daß  er  aus   dem  Innern   des   „Berges"  (wieder)  heraus- 

k[omm]e.  —  (39)  [ cler  mit]  Bei  zum  Festhause  nicht 

auszieht:  das eines  Gefangenen  trägt  er,  mit  ihm  zu- 
sammen s[it]zt  er.  —  (40)  [Belit('^)-]BabiU,  die  in  das  Festhaus 
nicht  hineingeht:  [Das  ist]  die  Verwalterin  des  Hau[ses]:  (41)  [es 


i)  Oder:  Laß  mich  am  Leben! 

Phil.-hiBt.  Klasse  1918.    Bd.  LXX.  5. 


i8  Hkinuich  Zimmkkn:  (7^0 

u)s-H  ina  qäte-U  H-s[u-uh-hi{?)  . . .]  (42)  \. . .  Be-lH{'^)\-{imhili  .^ä 
sipäti  s(tlmnii^  ina  hit-tal-li-s)(t-)ii  si/iat  tab-ri-mu'^  ina  pa-ni 
(.s')|a-»/  .  .  -  .]  (43)  [ina  muh/n  sd  qa-t\{n)iii-sa  da-mu  sä  mr-ri 
s{(i  tah-h(-n^\i  . . .  .|  (44)  [.  T.!  (.  H  um  Vlfl'^'"'  sä  "'''t  :Msamn) 
iähü  ina  pa-ni-sa  i-([(i-ba-ku-ni  .  .  .|  (45)  [-^m-ki-in-tKa  m  hiti 
si-i  i-sä-'u-ht-si  ma-)a    man-nu  bei    hi-it-fi  ma-a  .\.'. . .]  (46)!....] 

{.  i'i-bal-u-ni  bei  h)i-it-ti  i-[da-hi-niC^) ]   (47)  !•■•]  {.  il-lak-u-ni 

As(V)  MUT ^ LI  -6-)a*  a-ki  imma  a\h-ha-su.-ni  .  .  .|  (48')  [ {- 

»m"  mc  {dr-his  i-za-am-m)\>(-ru  .  .  .]  (49)  [.  .  .  .  ä-dal-l\{nh-hu-ni 

d-sar-ra-ru-u-ni)    mc    [da-al-hu-te   iu-n)[ii |    (50J    |.  ,  .J 

(.  .  bil{'^)-la['?)  ba-ak-ieiy)  i-kar-ra-ru-ni  sä  qa-du-ur-ti  .)  \ ] 

(51)  [.  .]  (ia  ina  libbi  '"''^- Nisanni  a-na  ma-gal  ma-'-du-ni  kcmu^ 
[.  .]  ki-i  sa-bit-u-ni  .)  1-  .  .|  (52)  {me  qätä  sä  d-qar-rab-u-m  bi-id 
ip-lu'^-ni  ^)w-«f  di--{a)  [. .  .J  (53)  ('^"'^^^ se-ir-'-i-tu  M  ina  muh-hi-ki 
sä  i-qa-b)u-u-ni  ma-a  me  s{lü(\'^)]-mi-[ti(?)]\^  si-li-'-a-te  si-na) 
(54)  (sH-ü  Ina  libbi  e-nu-ma  c-lis  iq-[fi-])bu-H\^ki-i  same"  irsi-i(im 
la  ib-ba-nu-ni  An-sär  it-)\tä-ab-sib\  (55)  {ki-i  aln  u  bliu  ep-sü-n-n)i 

sü-d  it-tab-si  mit  sä  (ina  muhhi  An-sär)  [ ]  (56)  {sü-u-td'  sd 

hi-ti-^u  ina  libbi)  ka-dam-me^ sd-tü  e-si-ip  la me^°  lia-bis  ka-d)[am-me^ 
•  •  •]    (57)  Qi-is-mu  sä  ina  "''^~Ni)sanni  ina  mahar  ''Bei  ü  ma-ha- 

sa-a^^-ni  (gab-bu  i- .)  [ ]  (58)  (ki-i  '^Assur  ^Nin-iir)ta  ina  muhhi 

ka-sa-di  sä  '^Zi-i  is-pur-u-{ni  '^ .)  [ ]    (59)  {ina  mahar  ^ Assur 

iq-ti)-bi  ma-a^^ ^Za-u  ka-si-id  '^ Assur  a-na'^[ iq-ü-bi]  (60)  (ma-a 

a-lik  a-na)  iläni"^  gab-bu  pa-si-ir  d-pa-sa-ar-su-nu  ü  su-nu  ina 
muhhi  i[h(?)-du-u(?)]  (61)  (da-b)a-bu  gab-bu  sä  ina  Ub-bi  ""'^'kale 
[ ]  (62)  (sä  ha)-ba-a-te  sä  i-hab-ba-tu-su-ni  sä  ti-sal-pa-iu-su-ni 

sdrü  iläni  abe-su  s[u]-nu  .  [,].  (63)  (''■N[us])ku  sä  E-sa-bad  ib-bir- 
an-ni  '^"'■^'■mar-sipri  sü-u-td  '^Gu-la    ina    muh-M-su    ia-sap-pa-ra 


i)  Geschr.  s'ig.mi. 

2)  So  ist  vielleicht  mit  Landsbeegee  nach  KTAR  Nr.  141  Vs.12.  16 
zu  lesen.     Allerdinga  bieten  beide  Exemplare  deutlich  bu,  nicht  mu. 

3)  Oder  HO  gir 

4)  So  Dupl. ;  Haupttext  anscheinend  -s]ü. 

5)  Dupl.  ü  und  davor  noch  der  Rest  eines  mit  senkrechtem  Keil 
schließenden  Zeichens. 

6)  Geschr.  ku.da.  7)  Oder  Ä:w?  8)  Neue  Zeile  im  Dupl. 
9)  Vgl  oben  Z.  32. 

10)  Doch  wohl  so  zu  lesen,  nicht  etwa  la-a-mes. 
n)  Fehlt  im  Dupl.  12)  ma-a  fehlt  im  Dupl. 


70,5]  Zum  B.VBYLONISCHEN  Neujahrsfest.   II.  19 

sprich t(?) „  .]  ...  des  Hauses  kennst  du",  ferner  ,,das 

Haus  beivacke,    mit  deinen  Händen   rei[ß   /ieraus(?) "•]  — 

(42)  [.  .  .  Belit{j!)-]Bahili ,  die  schwarze  Wolle  an  der  Rückseite 
(trägt),  hunfe{?)  Wolle  an  der  Vorderseite  (jrä[fjt)  .  .  .  .J.-  (43)  (Das 
ist)  [darum  daß  sie^  mit  ihrer  [Ha^nd  das  Blut  des  Herzens,  das 
vergossen  ist,  [abuischiX?).^  —  (44)  [Die  ....],  vor  der  man  am 
ßten  2(isan  ein  Schivein  schl[achtet  ....];  (45)  Jene  [Vene alter \in 
des  Hauses    fragen   sie  also    „Wir   ist  der    Verbrecher'::'",    ferner 

[„ i-'"]  (46)  [.  .  die  .  .]  icegbringen,  den  Verbrecher  [iöYew(?)J 

[ ]  —  (47)  [....]  die  kommen, ,  ela  sie  ge- 

sch[lag€n   werden ]   —   (48)   [ ]  .  .   die   Wasser 

schleunigst,  sin[gcn]  sie.   —   (49)  [.  .  .  .  die  sie  trü]ben,  ßeßen(?) 

lassen:  Das  sind  die  trüben  Wasser  [ ]  —  (50)  [ ] 

die  sie  hinstellen [ ]  —  (51)  [..].,  elas  im  Monat  Nisan 

gar  sehr  reichlich  ist,  das  Mehl  [. .];  ...  ah  er  gefangen  war  [ ] 

—  (52)  Das  Hemdwasser,  das  man  herbeibringt,  indem  man  aus- 
sagtiyy,  daß  dieses  die  Seuche  [weg nimmt (?)^;  (53)  das  Ähren(?)- 
geicand,  das  er  trägt,  in  bemg  tvorauf  man  also  sagt  „selbige{?) 
Wasser  (bedeuten)  Wehen{?y':  (54)  Solches  sagt  man  innerhedb 
.,Einst  als  droben":  Als  Himmel  und  Erde  (noch)  nicht  geschaffen 
waren,  da  eni[stand]  Änsar,  (55)  als  Stadt  und  Tempel  gemacht 
wurden,  da   entstand  er  selbst,  elie  Wasser,    die  auf  Ansar  [ein- 

drangen(?),  hezwang(?)  er];    (56)  jener,  dessen  Sünde  iti 

jener dem  Wasser  (?)  ivar  er  bekleidet,  .  .  .  .  [ ].  — 

(57)  Der  Sehnelllauf,  den  im  Monat  Nisan  vor  Bei  und  den  Kiüt- 
stätten  insgesamt  man  an^stelW]:  (58)  (Das  ist,)  als  Assur  den 
Nin-urta  betreffs  der  Gefangennahme  des  Zu  ausschickte,  ^''°".  [.  .] 
(59)  sprach  vor  Assur  also  „Zu  ist  gefemgen".  Assur  [sprach]  zu 

^^"[ ]    (60)  also  „Geh  hin,  den  Göttern  insgesamt  verkünde  (es)/" 

Er  verkündete  (es)  ihnen,  auch  [freuten(?)~\  sie  sich  darüber.  — 
(61)  Die  Beden  insgesamt,  die  unter  den  kalü- Priestern  [geführt 
werden(?)],  (62)  von  den  Plünderern,  die  ihn  ausplündern,  die  ihn 
schlagen  lassen:  Das  ist,  die  Götter,  seine  Väter,  sie  [•  .  •]  — 
(63)  Nusku  von  E-sa-bad,  der  ftinübergeJit:  Ein  Bote  ist  es;  Gula 

i)  Oder:  Als  bezw.  wo  er  weggeführt  war(?). 


20  Hkinuicu  Zimmiorn:  [7O1 5 

(64)  (^si()[botu  s\f>ui  iid  hm  bd  ''Bv-lit-liabili  ub-bal-u-ni  it-hu-vr^ 
sii-utii  ii-<c-bal-(i.^-^i  (05)  [ny(\)-mi-il  a-na  m-u-tiu  la  ü-sar-u  su-ni 
la  i(-su-i(-»i  (66)  varlcablu  sd  a-na  bd  a-ld-it  tal-lah-u-m  ta-la-lcan- 
mi-hi  b(iki  la-as  i!i(  sä  In  beli  ta-sa-bu-  (67)  ii  ilfu  sal-ha-l;u-Ui 
ää  istü  all  ia-lab-ba-an-ni  ba-li-su  si-i  ishi  aU  tu-la-bi-a  (68)  dalhi 
bir-ri  sä  i-qa-bu-u-ni  iläni  sh-uu  i-td-as-ra-m  ina  blti  eiar-ba  daltu 
ina  päni-su  e-te-di-li  (69)  hi-nu  hu-nr-ra-a  ie  ina  libbi  dalti  up-ta- 
li-sii  qa-ra-bu   ina  l'ib-bi  up-pu-su 

(70)  man-nu  sd  tiip-pu  an-ni-u  e-mar-ra-qu-u-ni  lii-u  ina  me 
i-Jiar-ra-ar-u-ni  (71)  ü  im-mar-u-ni  a-na  sd  la  ii-du-u-ni  la  ü-sa- 
as-mu-u-nl  (72)  '^Assur  ^Sin  ^Samas  ''Ädad  ü  ^Is-tar^Bel  ^Nabü 
^Net-ffal  ^Istar  sd  Ninua^*  (73)  '^Tstar  sä  "'"Ärbu-il  '^Tsiar  sd  Blt- 
]cid-mur-r[i]  {7^)  iläni  sä  same^  irsi-üm  ü  iläni^^^'Assur^*  ka-li-su-nu 
(75)  at'-i'ot  itt  nap-sü-ri  ma-rn-us-iu  li-ra-ru-sü-ma  a-di  üme  bal-tu 
a-a  ir-sil  r/-e-m[a]  (76)  süm-su  .z'er-su  ina  mäti  li-se-lu-tl  slre-su 
ina  pi-i  sä  lab-bi  Us-kun-lmi]. 

2.  Die  Neujahrsfeier  iu  Erech. 

Der  von  Ebeling  KTAR  III  Nr.  132  veröfi'entlichte  Text 
stellt  eine  Tafel  dar^  die,  wie  mir  scheint,  nur  versehentlich 
unter  die  Assurfunde  geraten  ist,  in  Wirklichkeit  vielmehr, 
wie  man  schon  auf  Grund  der  Schrift  vermuten  kann,  aus 
den  Warkagrabungen  herrühren  wird  und  wohl  auch  erst  aus 
spätbabylonischer,  seleuzidischer  Zeit  stammt.^  Wie  dem  auch 
sei,  jedenfalls  enthält  der  Text  dieser  Tafel  eine  Beschreibung 
der  Neujahrsfeier  speziell  in  Erech.  Und  wenn  die  Nieder- 
schrift des  Textes  vielleicht  auch  erst  aus   der  jüngsten  Zeit 


1)  Wohl  Schreiberversehen  für  mi-it-hu-ur. 

2)  Die  Richtigkeit  dieser  meiner  Vennutuug  wird  mir  nachträglich 
auf  meine  Anfrage  von  Herrn  Dr.  Ehelolf  auf  Grund  der  äußeren  An- 
zeichen des  Originals  in  jeder  Hinsicht  bestätigt. 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  21 

sendet  (ihn)  seinehvegen.  —  (64)  Kl€i\der  und  8]c/iuhc,  die  man  in 
den  Tempel  der  Belit-BabUi  'bringt:  Dies  entsj)richt{?):  er  läßt  {sie) 
ihr  bringen,  (65)  darum  daß  man  ihn  nicht  losläßt,  er  nicht  heraus- 
gehen 'kann.  —  (66)  Der  Wagen,  der  zum  Festhanse  gefahren 
kommt:  {Das  bedeutet,)  sein  Besitzer  ist  nicht  darauf;  ohne  seinen 
Besitzer  stürmt  er  dahin.  —  (67)  Auch  die  vermummte (J)  Göttin, 
die  aus  der  Stadt  heraus  tvimmert{?):  Das  ist  sein  Klageiveib,  aus 
der  Stadt  heraus  wimmert{T)  sie.  ■ —  (68)  D'ie  sogenannte  Fenstertür : 
Das  sind  die  Götter,  nachdem  man  ihn  eingeschlossen  hatte,  er  in  das 
Haus  eingetreten  war,  man  die  Tür  vor  ihm  verriegelt  hatte,  (69)  wie 
sie  da  Löcher  in  die  Tür  hinein  bohrten,  Kampf  drinnen  anstellten. 

(70)  Wer  diese  Tafel  zertrümmert  oder  ins  Wasser  uirff, 
(71)  auch  wenn  ein  solcher  sie  zu  sehen  bekommt,  der  nichts  davon 
wissen,  den  man  nichts  davon  hören  lassen  darf,  (72)  den  mögen 
Ässur,  Sin,  Sanias,  Adael  und  Istar,  Bei,  Nabu,  Nergal,  Istar  von 
Nineve,  (73)  Istar  von  Ärbela,  Istar  von  Bit-kidmuri,  (74)  die 
Götter  Himmels  und  der  Erden  und  die  Götter  des  Landes  Assur 
insgesamt  (75)  mit  einem  unlösbaren  widerwärtigen  Fluche  ver- 
fluchen, so  daß  er  zeitlebens  nicht  Gnade  findet,  (76)  seinen  Namen, 
seinen  Samen  mögen  sie  aus  dem  Lande  entfernen,  sein  Fleisch  in 
eines  Löwcn^  Maul  legen! 


des  babylonischen  Schrifttums  herrührt,  so  ist  der  Text  selbst 
jedenfalls  doch  nur  die  Abschrift  eines  solchen  aus  viel  äl- 
terer Zeit  und  bietet  darum  ein  getreues  Bild  davon,  wie  in 
alter  Zeit  der  Kult  der  Neujahrsfeier  in  Erech  gestaltet  war. 
Hier  sind  natürlich  der  Stadtgott  von  Erech,  Ann,  seine 
Gattin  Antu  und  seine  Tochter  Istar  die  Hauptgötter",  um 
die  sich  alles  dreht,  während  z.  B.  von  Marduk-Bel  (außer 
etwa  unter  der  Gestalt  des  Sulpaea)  in  dem  ganzen  Texte 
überhaupt  mit  keinem  Worte  die  Rede  ist.    Im  übrigen  aber 


i)  Doch  wohl  so,  nicht  etwa  kal-bi  „Hund"  zu  lesen. 

2)  Diese  stehen  auch  noch  in  der  Seleuzidenzeit  an  der  Spitze 
des  Pantheons  in  Uruk;  vgl.  die  übersichtlichen  Zusammenstellungen 
bei  ScuROEDER,  Das  Pantheon  der  Stadt  Uruk  in  der  Seleuzidenzeit 
(SBAW  19 16  Nr.  XLIX). 


22  Hkinuicii  Zimmkkn:  f?«,  5 

gloiclit  die  hier  für  Erech  t>'eschilderte  Neujahrsfcier  in  iliren 
Einzelheiten  so  selir  der  Form,  wie  wir  sie  i'ür  Jiahylon  teils 
tatsächlich  kenneu,  teils  nach  mittelbaren  Anij^ahen  uns  vor- 
stellen müssen,  daß  man  wohl  nicht  sehr  viel  fohlgihen  wird, 
wenn  man  entsprechend  dieser  eingehenden  Schilderung  für 
Erech  sich  nun  auch  die  Festfeier  für  Babylon  in  iliren  noch 
nicht  bekannten  Einzelheiten  ganz  ähnlich  verlaufend  vor- 
stellt. Desgleichen  dürfen  wir  nunmehr  eben  auf  Grund  un- 
seres vorliegenden  Textes  vielleicht  auch  aussprechen,  daß  die 
Neujahrsfeier,  das  große  Mardukfest,  in  Babylon  nicht  so  sehr 
einem  entsprechenden  früheren  Enlilfest  inNippur,  als  vielmehr 
einem  ents])rechenden  Anufeste  in  Erech  nachgebildet  sein  wird. 

Ich  gebe  nun  zum  besseren  Verständnis  des  Textes  zu- 
nächst wieder  eine  eingehendere  Inhaltsangabe  unter  Hervor- 
hebung der  einzelnen  sich  gegeneinander  abhebenden  Kultakte 
dieses  Festrituals  und  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
verschiedenen  einzelnen  Kultstätten,  an  denen  die  Feier  statt- 
findet, und  lasse  alsdann  wieder  eine  vollständige  Umschrift 
und  Übersetzung  des  Ganzen  folgen. 

Der  Anfang  des  Textes  fehlt.  Es  handelt  sich  jedoch 
w^ohl  nicht  um  eine  allzu  erhebliche  Lücke.  In  dieser  war 
auf  Grund  des  Folgenden  wohl  berichtet,  daß  zu  Beginn  des 
Neujahrsfestes  der  König  sich  nach  dem  Eanna- Tempel  zu 
Erech  begibt.  Denn,  avo  der  Text  mit  Vs.  I  i  ff.  einsetzt,  ist 
davon  die  Rede,  daß  jemand,  und  zwar  wohl  der  König,  die 
goldenen  Götterembleme  des  Anu,  der  Antu,  der  Istar  vor 
den  zu  deren  Kapellen^  gehörigen  Göttern  und  Göttinnen 
vorüberziehen  läßt.  Es  ziehen  alsdann  Enlil,  Ea,  Adad,  Sin, 
Samas,  wie  alle  übrigen  (zum  engeren  Gefolge  Anus  gehörigen) 
Götter,  sowie  deren  Waffen,  „Sonnen"  und  Wagen,  von  ihren 
üblichen  Standorten  auf  einem  königlichen  Prachtgefährt  (?) 
nach  der  Anukapelle  {du{l)maJihii)  hinauf  und  richten  sich 
daselbst  auf  Anu  hin.  Nunmehr  —  die  Schilderung  spricht 
auch    weiterhin    von    den    Götterbildern    durchweg   wie    von 


i)  duiPjmahhu  des  Anu,  du  der  Autu,   Ubsukkinaku  der  Istar. 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  23 

lebenden  Wesen  —  treten  Enlil  und  Ea  in  die  Anukapelle, 
das  „rechtmäßige,  glänzende  Thron  gemach  (?)"  ein  und  setzen 
sich  zur  Rechten  und  Linken  Anus  nieder.  Die  übrigen 
Götter,  Sulpaea,  Ninurta,  Misan'u,  Nusku,  Istar-LAL  und 
Nin-SAR+GUD,  und  andererseits  Bunene,  Girru,  Zagaga,  Ner- 
gal,  Lugalgirra,  Il-Amurrü,  Azagsud,  Sa,  stellen  sich  da- 
gegen in  zwei  Reihen,  mit  Sin  bzw.  Samas  an  der  Spitze, 
zur  Rechten  und  Linken  des  Tores  der  Anukapelle  (papahu), 
an  dessen  rechter  Seite  auch  Adad  Platz  genommen  hat, 
auf.  —  I  i3ff-  berichtet  nun  weiter:  Der  König  geht  zur 
Kapelle  (papahu)  der  Antu;  die  Göttinnen  Belit-ile,  Sala,  die 
„Töchter  Anus",  A-a,  Gula,  Nin-esgal,  Ama-sig-nu-du,  . .  .-nun-na, 
Asrat  und  Sarrat-same^  begeben  sich  von  ihren  üblichen 
Standorten  weg  auf  einem  königlichen  Prachtgefährt  (?)  zu 
Antu.  Antu  selbst  aber  wird  vom  König,  umgeben  von 
Priestern  aller  Art,  nachdem  er  ihre  „Hände  ergriffen^',  in 
feierlichem  Zuge  nach  der  Kapelle  {duiljmahhu)  Anus  ge- 
leitet und  setzt  sich,  das  Gesicht  nach  Osten  gerichtet,  an 
ihrem  Platz  auf  goldenem  Sitze  nieder.  Die  genannten  Göt- 
tinnen ihres  engeren  Gefolges  stellen  sich,  auf  Antu  hin  ge- 
richtet, auf.  Die  Priester  fällen  vor  Antu  ihre  Entschei- 
duno-en.  —  I  23  ff.  Der  König  und  der  erib-hiiP -Friester 
begeben  sich  nach  dem  Palaste  Unugal.'  Der  erib-bUi- 
Priester  bringt  „Handwasser"  für  Istar.  Darauf  wird  Istar  in 
gleicher  Weise  wie  vorher  Antu  auf  einem  Prachtgefährt  (?) 
vom  König,  nachdem  dieser  „die  Hände"  der  Istar  und  den 
in  der  Istarkapelle  befindlichen  ,,Sitz"  Anus  „ergriffen"  hat, 
umgeben  von  Priestern  aller  Art  in  feierlichem  Zuge  nach 
der  Anukapelle  (du{l)mahhii)  überführt,  desgleichen  mit  ihr 
die  ihr  zugehörigen  Göttinnen  Nana,  Ninsianna,  Ninigizibarra, 
Isirtu,  Ninmeurur,  Belit(?)-Eturra,  Saggipadda,  die  „Töchter 
von   Uruk",   die   „Töchter   von   Eanna",   Ninsun   und   Sarrat- 

i)  Hiervon  ist  Belit-ile  die  Frau  Enlils,  Sala  die  Frau  Adads,  A-a 
die   Frau  Samass,  Gula  die  Frau  Ninurtas,  Asrat  die  Frau  Il-Amurrüs. 

2)  Geschr.  ameiiv-E;  gemeint  ist  der  Oberpriester  des  Tempels. 

3)  Anscheinend  Name  des  Istartempels  in  Erech. 


24  Heiniuch  Zimmkun:  (70,5 

parakki.     lu    der  Anukapelle   jingelangt    [setzt   siclij   l.star   an 
ihrem    Plat/.e    [auf  goldenem    Sitze    nieder].     Hier   folgt    nun 
mit   dem    felilenden    oberen    Teile    von    i\ol.  Jl   eine   größere 
Lücke  im  Text,  worin  zunächst  jedenfalls  noch  bericlitct  ge- 
wesen   sein  wird,   wie   die  genannten  Göttinnen   des   engeren 
Gefolges  der  I§tar  sich  in  der  Anukapelle,  auf  Lstar  hin  ge- 
riclitet,   aufi^tellten;    desgleichen  wohl    auch  wieder,   wie   ihre 
Priester  vor  ihr  Entscheidungen  fällten.   —   Vermutlich  schloß 
sich  nunmehr   eine    feierliche  Kulthandlung  an,   die  vor  den 
sämtlichen  von  Anu,  Antu  und  lstar  in  der  Anuka])clle  ver- 
sammelten  Göttern   vorgenommen   wurde.     Sodann   aber  nmß 
im  folgenden   wohl  berichtet  gewesen  sein,   wie   diese  Götter 
alle  von   der  Anukapelle   aus   in  feierlicher   Prozession,   vom 
König    und    den    Priestern    geleitet,    samt   ihren    Emblemen, 
Waffen,  Wagen  usw.   nach  dem  „Schicksalsgemache"  (parak 
simäte)  gezogen  sind,  wie  sich  daselbst  Anu,  Antu  und  lstar 
auf    ihren    Prunksitzen    niederließen,    desgleichen   Enlil    zur 
Rechten  Anus   und  Ea   zu   seiner  Linken,    sowie   Adad.     An 
diese  schlössen  sich  dann  wieder  rechts  und  links  stehend  die 
oben  genannten  Reihen  mit  Sin  und  Samas  an  der  Spitze  an. 
Denn   wo   der    Text   mit   II  i  ff.    wieder   einsetzt,    haben    wir 
eben   die  Schilderung   der   Aufstellung   dieser   beiden  Götter- 
reihen  vor   uns.     Es   folgt   weiter   die  Aufstellung  des  oben 
genannten  Antu-Göttinnengefolges  mit  Belit-ile  an  der  Spitze 
hinter    Antu,    desgleichen    des    gleichfalls    genannten    Istar- 
Göttinneugefolges  mit  Nanä   an   der  Spitze  hinter  lstar.     Es 
folgen   nun    in  der  Aufstellung  noch  weitere,   im   bisherigen 
Text,    wenigstens    soweit   er   erhalten,    noch    nicht    genannte 
Götter  und  Göttinnen,    unter   den  ersteren  z.  B.    die    Sieben- 
gottheit, unter  den  letzteren  z.  B.  Ningal,  die  Frau  Sins,  die 
sich   neben   und   hinter  den  vorher    genannten  Gruppen    auf- 
stellen, desgleichen  Priester,  darunter  die  Schwertträger  {iiäs- 
patri)  im  Dienste  der  lstar.    Es  folgt  darauf  wieder  eine,  je- 
doch nur  kleinere   vollständige  Lücke   von   etwa    10  Zeilen^, 

i)  Dies  allerdings   unter  der  Voraussetzung,   daß    die  Tafel  (was 
nach  einer  Mitteilung  Ebelings  der  Wölbung  der  Tafel  nach  das  Wahr- 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  2  5 

worin  sich  diese  Schilderung  der  Aufstellung  im  Scbicksals- 
gemache  zunächst  noch  weiter  fortgesetzt  haben  muß.  Spe- 
ziell scheint  alsbald  die  Schilderung  der  Aufstellung  der 
Götterembleme  und  des  sonstigen  Götterzubehörs  begonnen  zu 
haben.  ^  Denn  wo  der  Text  mit  111  1  ff.  wieder  einsetzt,  be- 
finden wir  uns  mitten  in  der  Schilderung  der  Aufstellung  von 
Götterwagen.  Diese  Götterwagen,  die  speziell  als  Kriegswagen 
auftreten  (mit  kriegerischer  Mannschaft,  [Bogen,  Pfeilen  und] 
Köchern),  setzen  sich  zu  einem  Zuge  mit  dem  Wagen  Anus 
an  der  Spitze  in  BewegU'  g.  Und  zwar  handelt  es  sich  dabei 
wohl  bereits  um  den  Aufbruch  aus  dem  Schicksalsgemache. 
Diesem  Zuge  schließen  sich  zunächst  diejenigen  Götter  an, 
die  vorher  bei  der  Aufstellung  an  letzter  Stelle  genannt 
waren  (die  Siebengottheit  usw.),  sodann  vor  allem  solche,  die 
zum  besonderen  Gefolge  des  Anu  gehören,  wie  Lugalgirra, 
Ninurta,  Bunene,  Zagaga,  Samas  und  Adad,  Nusku,  Girru, 
Il-Amurnl,  Azagsud  und  andere.  Dazu  auch  Papsukkal. 
Ferner  allerlei  Arten  von  Priestern.  Sodann  noch  rechts 
und  links  von  den  Beschwörungspriestern  zwei  Tempelange- 
stellte, die  in  Gefäßen  allerlei  kostbare  Kultgeräte  heraus- 
tragen. Dahinter  endlich  der,  nicht  ausdrücklich  genannte, 
Oberpriester,  der  „Handwasser"  für  Anu  und  Antu  bringt''^ 
und  damit  den  König  und  das  Volk  ,,berührt".  Darauf  „er- 
greifen" —  merkwürdigerweise  ohne  daß  anscheinend  über- 
haupt eine  weitere  größere  Kulthandlung  im  Schicksalsgemache 
vorgenommen  worden  wäre^  —  nachdem  der  König  das  gol-' 


'ö" 


scheinlichere  ist)  nur  2,  nicht  etwa  3  Kolumnen  auf  jeder  Seite  gehabt 
hätte.  Im  letzteren  Falle  würde  es  sich  dagegen  um  eine  große  Lücke 
von  über  2  Kolumnen  handeln.  Beachte  dazu  das  weiterhin  unten  in 
Anm.  3  Bemerkte. 

i)  Doch  beachte  auch  die  vorhergehende  Anm.         2)  Oder:  trägt. 

3)  Damit  verhielte  es  sich  allerdings  anders,  wenn,  entgegen  der 
in  obiger  Anm.  mitgeteilten  Ansicht  Ebelings  und  auch  Ehelolfs,  doch 
vielmehr  volle  2  Kolumnen  fehlen  würden.  Denn  dann  könnte  in  dieser 
großen  Lücke  natürlich  eine  ausführliche  Beschreibung  der  Vorgänge 
im  „Schicksabgemache",  nämlich  der  Schicksalsbestimmung  durch  die 
versammelten   Götter  unter  dem  Vorsitze  des   Götterkönigs  Anu,   ent- 


20  HioiNKicii  Zimmrkn:  [70.5 

deue  8peiuler]joiiiß(y)  vor  Ami  ^ctuliil  lint,  Piipsukkal,  Nusku, 
Su  und  der  Kchiig  „die  Hände"  Anus  und  führen  ihn  aus  dem 
Schieksalsgemache  (parak  .slnuife)  heraus.  Bei  dem  sich  nun- 
mehr in  Bewegung  setzenden  Zuge  vom  Schicksalsgemache 
weg,  da  Anu  „zum  zweitenmale  aufbricht"*,  schließen  sich 
zunächst  wieder  Enlil  zur  Rechten,  J<]a  zur  Linken  Anus 
gehend  an,  während  die  ül)rigen  Götter  des  Anugefolges, 
Samas,  Adad,  Ninurta,  Nusku  usw.  sich  ja  bereits  an  der 
Spitze  des  Zuges  befanden.  Es  folgen  Antu,  Istar  und  Nanä, 
darauf  die  zu  Antus  Gefolge  gehörigen  Göttinnen.  —  Es  folgt 
nun  zunächst  wieder,  mit  der  fehlenden  unteren  Hälfte  der 
III.  Kolumne,  eine  größere  Lücke  im  Text,  worin  jedenfalls 
vorerst  noch  etwas  weiter  der  Götterzug  vom  Schicksalsge- 
mache weg  geschildert  war.  Sodann  aber  muß  von  dem  Ein- 
treffen des  Zugs  im  Festhause  {hit  alätu)  die  llede  gewesen 
sein.  Denn,  wo  der  Text  mit  Kol.  IV  i  ff.  wieder  einsetzt, 
befinden  wir  uns  bereits  in  diesem.  Hier,  im  Festhause  an- 
gelangt, wnrd  Anu,  nachdem  der  König  wieder  das  goldene 
Spendegefäß  (?)  vor  ihn  geführt  hat,  von  Papsukkal  und  dem 
König,  die  seine  „Hände  ergreifen",  in  die  Kammer  {du)  des 
Festhauses  geleitet,  wo  er  sich,  sein  Gesicht  nach  Osten  ge- 
richtet, auf  einem  Prunksitze  (haragaUu)  niedersetzt.  Enlil 
und  Ea  treten  in  die  Kammer  ein  und  setzen  sich  zu  seiner 
Rechten  und  Linken,  desgleiclien  Antu,  Istar  und  Nanä  auf 
die  Sitze  hinter  Anu,  sowie  auch  Adad  neben  Enlil  rechts 
von  Anu.  Darauf  treten  die  Götter  insgesamt  ein  und  stellen 
sich  in  der  Kammer  des  Festhauses  vor  Anu  auf.  Der,  wie- 
derum nicht  ausdrücklich  genannte,  Oberpriester  bringt  „Hand- 
wasser" für  Anu  und  Antu  und  „berührt"  König  und  Volk 
damit.  —  Auch  in  dieser  Kammer  des  Festhauses  findet  merk- 


halten gewesen  sein.  Saclilicli  spricht  vieles  für  diese  letztere  An- 
nahme, da  mau  nur  ungern  in  diesem  Texte  eine  solche  Schilderung; 
dessen  vermissen  würde,  was  gewiß  auch  in  Erech  gerade  den  Mittel- 
punkt der  Neujahrsfestfeier  bildete. 

i)  Unter  dem    „ersten  Aufbruch"  ist  also  der  Zug   von   der  Ka- 
pelle Anus  zur  Schicksalskammer  zu  verstehen. 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrspest.   II.  2  7 

würdigerweise  sonst  keine  weitere  Kulthandluncr  statt.  Viel- 
mehr führt  der  König  alsbald  wieder  das  goldene  Spende- 
gefäß (?)  zu  Ann  und  Antu,  Papsukkal  und  der  König  „ergreifen 
die  Hände"  Anus  vom  Prunksitze  weg,  d.  h.  sie  führen  ihn 
von  diesem  weg.  —  Darauf  tritt  Anu  in  seine  Kapelle 
(papahu)  ein  und  setzt  sich  daselbst  nieder.  Wir  befinden 
uns  damit  also  wieder  in  demselben  Raum,  worin  die  erste 
Götterversammlung  stattgefunden  hatte,  ehe  von  da  aus  der 
Zug  nach  dem  Schicksalsgemache  angetreten  wurde.  Nach 
Anu  treten  Enlil  und  Ea  in  die  Anukapelle  ein  und  setzen 
sich  zur  Rechten  und  Linken  Anus.  Desgleichen  nimmt  Antu 
ihren  Sitz  in  der  Kapelle  ein,  sowie  rechts  und  links  von 
ihr  Sala  und  die  j,Töchter-Anus".  Ebenso  Istar  und  rechts 
und  links  von  ihr  Nanä  und  Ninsianna.  Endlich  setzt  sich 
Adad  neben  Enlil  rechts  von  Anu,  und  Samas  neben  Ea  links 
von  Anu.  —  Nunmehr  folgt  eine  eigenartige  Handlung,  bei 
der  Papsukkal  eine  leitende  Rolle  spielt.  Dieser  tritt  auf 
bzw.  stellt  sich  an  den  hihurrü  des  Tores  der  Anukapelle. 
Darauf  schließt  man  den  goldenen  Türverschluß  (tallu)'^  des 
Anu(?)  auf,  und  ebenso  den  des  Enlil,  Ea,  der  Antu  und  Istar, 
des  Adad  und  Samas.  Sobald  der  Türverschluß  wieder  ver- 
riegelt (V)^  ist,  geht  Papsukkal  wieder  vom  Tore  weg  und  setzt 
sich  auf  seinen  Sitz.  —  Danach  stellt  sich  [der  Oberpriester] 
zur  Seite  (Anus)  und  spricht  vor  ihm  ein  „Handerhebungs- 
gebet" (sü-il-lu,  nis  qäti\  das  mit  den  Worten  „Großer  Anu" 
beginnt.  Hier,  wo  vermutlich  der  Text  gerade  interessant  ge- 
worden wäre,  wird  er  lückenhaft  und  bricht  bald  ganz  ab. 
Ich  lasse  nun  wieder  Umschrift  und  Übersetzung  des 
Textes  folgen.  Dabei  gilt  hinsichtlich  freundlicher  Beihilfe 
von  Seiten  Ehelolfs  und  Landsbergers  dasselbe,  was  be- 
reits zu  dem  unter  Nr.  i   behandelten  Texte  bemerkt  wurde. 


1)  Vgl.  zu  tallu  zuletzt  Streck,  Assurbanipal  290*.  630  und  dazu 
noch  Meissner,  OLZ  1916,  308.  Meine  Übersetzung  durch  „Türverschluß" 
im  Anschluß  an  Weis.sbach,  Wädi  Brtsä  zu  Kol.  IIa  9.  Vgl.  auch  noch 
den  oben  unter  Nr.  i  behandelten  Text  KTAR  Nr.  143,  Z.  20  und  Z.  22. 

2)  So,  falls  it-tal-du,  wie  ich  vermute,  eine  Metathesis  für  ütadlu  darstellt. 


28  Heiniucii  Zimmkkn:  [7^1  5 

{Der  rorheryeheniU-  Teil  der  Koli(ninr  fehlt.) 

Kol.  1     (i)    [ 1     (^)   I  •  •  •  •   /""■"\''"   pa-ni  ''Aimm 

a-tia   pa-ni\   ''Arnim    />    iUnii    iixi-lu    hia   dn{l)muhhi   ii-§e-U-cq 
(3)  [••••]   /'i'>'(i?i  pa-ni  An- tum    a-na  pa-ni  '^Islarätr  Sa  ina 
de       ü-sc-ü-cq       (4)  |.  .  .  .  h]iinisi  pa-ni  ''Istar  a-na  pa-fii  iläni 
mala  ina  Ub-süukkin-nd-gr  n-k-ti-eq     (5)  ['^J^:n-lü'^K]-a  '^Adad' 
^Sin  ''Samdii     ilan'i     Inlama     hMc     mmsäli      (6)  [«]  narhahäti 
[ult\u  sub-ti-sa-nu  ina  ma-a1c-ni{\)-tum  ia  na-mur-tum  Mrri  uhthu- 
mm-ma    (7)   \'i-n\a    d)i{l)mahhi    ellü-ma    a-na    ''A-nmn    ittarrasu 
''En-lil   errub-ma   (8)  [.].  m  ki  hara{y)-zi{d)-da  a-na  imitü  '' A-mim 
iilasub"'     '^ E-a    cirub-ma    (9)  [.].    hi  ki  bara{J)-azag-(ia  a-na  su- 
min  '^A-nnm  itlasab'"'  ''Sin  ''Sul-pa-'e'-a    (10)  \''Ninu\ita  '^Mi-mr- 
ri  "^Nuf^ku  "Jslar-'LkL.     ü     ''Nin-  sar+oud     (ii)  [ina  i]mitii  bäb 
pa-paha  ina  idi  ^ Adad  iszam'"  '^Samas  '^Bu-nc-ne    (12)  \'^\Girru 
'^Za-gd-gd  ''Nergal  ''Lugal-gir-ra  '' ll-Amurrü    ''Asag-sud  (13)  L'^] 
^Sd  ina  sumeli  bäb  jja-iia-ha  izzam'''  sarru  a-na  pa-pa-ha  An-tmu 
ülak-ma    (14)  [us-]lxn-ni  '^Be-lit-ile, '^Sä-la  '^Märüte-'^Anum'' A-a 
''Gu-la  (15)*  [^ N ]in-es-gal  '^ Ama-sig'^-nu-dü  ^ E{^)-gakm-^cu-'■''■nun- 
na^Äs-rat    (16)  [?>]  '' Sar-rat-same"  idtu  sub-U-si-na  ina  ma-ak-ki- 
tum,  sa  na-mur-üi  sarri    (17)  [usatbu]-nim-ma  a-na  An-tum  iitar- 
rasa  surm  ma-aq-qu-ü  huräsi  a-na  An-tum    (18)   [i-r]id-di-c-ma 
qätä    An-tum    ina    '"""^masmase    ''"'"kale    '"'"h-amke    sid-di    qiie^ 
(19)  [w]  ma-aq-qu(^.)  Imräsi  imbbat^'^*-am-ma  An-tum  iltakf^^-ma  ina 
man-za-zi-su    (20)  [ina  d]u{l)mahhi  ina  muh-M  m-bat  huräsi  pa- 
ni-su  a-na  slt-Somsi  istakan^'^-ma  ittasab"''    (21)   [Ihtur\ate  nap- 
har-si-na  a-na  tar-si  An-tum  iszazir'    {22)  ["'""inas]mase  "'""kale 
ü  ''^h-awke    ina  pa-ni  su    i-pär-ra-su     {2^)    [sarru]   ü  "•''"'' erib- 
biti^  a-na\'s-gdl-la  Unu-gal     illak^^  P'-ma     (24)  [«""'']  erib-biti  nie 
qätä   a-na   ^Istar   inassf^'-ma    sarru   ma-ak-ki-tum   sa  na-mur-tü 
(25)  [a-n]a  pa-ni  '^Istar  isabbat'""-ma  qätä  ^Istar  ü  sn-bat  ''Anmn 
sa  lit  pa-pa-ha  ''Mar    (26)   [ina  ''""'' mas]mase  '"'""kale  ''»^''ramke 
sid-di    qite^   ü  ma-aq-qu-ü  huräsi     (27)    [i^abbat^'^J-am-ma   ''Na- 
na-a  '^Nin-sl-an-na    ^Kin-igi^^-zi-bar-ra     (28)  [^I-si]r-tum  '^Nin- 


i)  Für   \<^Ba-ti'\y    das   nach  II  5   III  24   hier  zu   erwarten  ist,    ist 
wohl  kaum  Raum. 

2)  Geschr.  pa.gan.  3)  Oder  m?  4)  Geschr.  ameiiv.K. 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  29 

{Der  vorhergehende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 
Kol.  /  (i)  f-  •]  (2)  [das  goldene  .  .  .  des  Angesichts  des  Ann] 
läßt  er  [vor]  Anu  und  den  Göttern,  soviel  im  „hehren  Gemacli", 
vorüberziehen,  (3)  [das\  goldene  [.  .  .]  des  Angesichts  der  Antu  läßt 
er  vor  den  Göttinnen,  die  im  Gemache,  vorübersiehen,  (4)  [das] 
goldene  [.  .  .]  des  Angesichts  der  Istar  läßt  er  vor  den  Göttern, 
soviel  in  Uhsukldnna,  vorüberziehen.  (5)  [Enlil,  E]a,  Adad,  Sin, 
Samas,  die  Götter  insgesamt,  Waffen,  Sonnen  (6)  [und]  Wagen:  von 
ihren  Sitzen  iceg  auf  einem  glänzenden  Gefährt {^y  des  Königs  läßt 
man  sie  aufbrechen  und  (7)  [na]eh  dem  „hehren  Gemache"  ziehen  sie 
hinauf,  auf  Anu  hin  richten  sie  sich.  Enlil  tritt  ein  tind  (8)  . ...  im 
„rechtmäßigen  Throngemach  (^)"  zur  Rechten  Anus  setzt  er  sich.  Ea 
tritt  ein  und  (g)  .  ...  im  „glänzenden  Throngemach  (^f)"  zur  Linicen 

Anus  setzt  er  sich.  Sin,  Sul-pa-ii-a,  (10)  [Ninii\rta,  Misarru,  Nushu, 
Istar-L,kL  und  Nin-SAR-{-GVD:    (11)  zur  Hechten  am  Tore  der  Ka- 

jyclle  zur  Seite  Adads  stellen  sie  sich  auf.  Samas,  Bunene,  (12)  Girru, 

Za-gü-gd,  Ncrgal,  Lugalgirra,  Tl-Amurrü,  Azag-sud  (13)  [und]  Sd: 
zur  Linken  am  Tore  der  Kapelle  stellen  sie  sich  auf.  —  Der  König 

geht  in  die  Kapelle  der  Antu  und  (14)  [be]tet  an.  Belit-ile,  Sala,  die 

Töchter-Anus,  A-a,    Gala,     (15)   Nin-csgal,  Anid-sig-nu-du,  -E(?)- 

gasan-hj-^mm-na,  Asrat  (16)  und  Sarrat-same:  von  ihren  Sitzen 
weg  auf  dem  glänzenden  Gefährti^^)  des  Königs  (17)  \läßt  man  sie  auf- 
brechen] und  auf  Antu  hin  richten  sie  sich.  Der  König:  das  goldene 
Spendegefäß  zu  Antu  (18)  [f]ührt  er  und  die  Hände  der  Antu  inmitten 
von  Beschwörern,  Sühne-,  Spendepriestern,  des  ....  (19)  [und]  des 
goldenen  Spendegefäßes  ergreift  er\  alsdann  geht  Antu  dahin,  darauf 
an  ihrem  Platze  (20)  [im]  „hehren  Gemache"  auf  dem  goldenen 
Sitze  richtet  sie  ihr  Gesicht  nach  Sonnenaufgang  und  setzt  sich  dann. 
(21)  Die  [Gött]innen  insgesamt  stellen  sich  auf  Antu  hingerichtet 
auf.  {^2  2^)  Die  [Besch]^ivörer,  die  Beinigungs-  und  Spendepriester 
fällen  vor  ihr(T)  ihre  Entscheidungen.  —  {^'^3)  [Der  König]  und  der 
Tempel-Priester  gehen  nach  dem  Palast  Unugal:  (24)  Der  Tempel- 
Priester  bringt  Handwasser  für  Istar.  Darauf  der  König:  das 
glänzende  Gefährt(?)  (25)  [v]or  Istar  ergreift  er,  darauf  die 
Hände  der  Istar  u/nd  den  Sitz  Anus  in  der  Kapelle  der  Istar 
(26)  [inmitten  von  Besch]wörern,  Beinigungs-  und  Spendepriestern, 
des  ....  und  des  goldenen  Spendegefäßes  (27)  [ergreifjt  er;  als- 
dann Nanä,  Ninsianna,  Ninigizibarra,    (28)  [Isi]rtu,  Ninmeurur, 


30  Hkinkich  Zimmkkn:  [70, 5 

me-ur-ur  Bi{?)-Iit-J:-ti()-ra  '' Säg-fli-p(id-(i[(i\  (29)  ['' Märale]- Uruk 
'^ ]\Imiitc-E-a)i-iia  ^Kin-sim  U  ''Sar-rat-\paraMi]  (30)  [ana 
**  Jstar  ittarasa{'?)y"-'ni)n-  ma  '' Isiar  a-nit  di((l)mahlii  clln-ma  nm 
man-:a-:i-su 

{Der  vorhergehende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 
hol.  II  (i)  '^üin  ''lS[ul-pa-  c'-a  '^Kinuria ''  Mi-'sar-ri'^  Nuslm  'Tslar- 
LÄL  u  ''JN^i»-sAH4GUu]  (2)  inü  idi  '' Adad  [izzazu  ^Samas  '^Bu-nc- 
nc''Girru  ''Za-gd-gd  '^Na-gal\  (3)  ^ Lugal-gir-ra  ''Il-Am[urri(  ''Äzag- 

si(d  i(  ''Sä ]     (4)   ina   idi  '^Ea  izzazu'"  "^ Bc-l[it]-ilc  '^Sd-la 

^[Mdrüte-'^ Änum  '^Ä-a']     (5)  '^Gtda  ^Ba-u  ^Nin-fs-gal  '^Ama-sig- 

nu-d[ü  ^ E{J)-gasan'ku-^"nun-na]  (6)  "^As-rat  h  '^Sar-rat-samc" 
arki  An-tum  izlsaza""  ^Nana-a  ^ Nin-st-an-na]  (7)  '^Nin-igi^-zi- 
bar-ra  ^I-sir-i[iim]  ^ Ni[n]-me-u[r-ur  Bi{7)-lit-E-iür-ra]  (8)  ü  ^Säg- 
gi-pdd-da  ''Märä[ie-U]r[uJc  '^Mürüie-Ean-na  '^Nin-sun]  (q)  ü  '^Sar- 

rut-puraUi  illal^''-a-m[a  arki  ^Istar  izzaza'" ]    (10)  iUa1{f''-ma 

a-na  imitti  ^Na-na-a  izzaz-za  ''[....]  (i  0  '^Lvgal-mär-da  "^Vll-hi 
^Igi-du  ''Ifes-lam  t[a-e-a  .  .  .'j  (12)  '^Pa-sag-gä  ü  ^Sü-hu-ld  ina 
mah-ri  pa-ni-su{-nu    a-na   .  .  .   -Samsi]      (13)    is-saJc-kan-nu-ma 

ittezizu"'^''''  '^Sis-ka-su  **[ ]  (14)  ^Nin-ur-bu  '^Nin-gal  ^Silam-Mr- 

ra  [ ]  (15)  arU  '^Nin-si-an-na  izzaza'"  '^Sin{?)  [ ]  (16)  sa 

bäb  c's-mah  ittezizW'  ^"  ''.[ ]  (17)  bi-'-u(J)  ia  es  mali  '^Istari?) 

[ J   (18)  rak-su  '""''näs-patri  '^I[btar{?) ]   (19)  ippar-su 

a-na    [ ]     (20)    sa  paha[ri{?)  .  .  .  .]     (21)    bäb    [ ] 

(22)  •  [ ] 

{Es  fehlen  bis  zum  Schluß  der  Kolumne  etwa  10  Zeilen) 

Eol.  III  (i)  arki-su  II  .  .  [ ]     (2)  arki-su  IV  .[ 

.  .]    (3)  arki  öu  II  «^'"«'wm-  .  [ ]     (4)   arki-su  '^''^''"'> narkabfu 

narkahat-su  [ J    (5)  arki-su  narkabat  ''Ninurta  narka[bat  . . 

. . .]    (6)  arki-su  narkabat  ^Simal  ü  narkabat  \^Adad ]     (7)  o^*- 

na-a  narkabäti  ''""'ummäni"'  [....]  (8)  is-paiP'  elleti  sa  '^ Arnim 
ü  An-tu[m  .  .  .  .]    (9)  if-ti  narkabat  ^Anum  illak''^  p'-  ark[i-su ] 

(10)  w  ^Liigal-mär-da  arki-su  '^  Vll-bi  '^Ig[i]-d[u  .  .  .  '^  I'a-sag-gd] 

(11)  M  '^Sii-bu-ld  arki-su   '^Lugal-g'ir-ra    '^ Mes-lam-t\a-e' -a  .  .  .  .] 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  3 1 

Belit{?)-E-tur-ra,  Saggipadd[a],  (29)  [cHe  Töchter]  von  Uruk,  die 
Töchter  von  E-anna,  Xinsun  und  Sarrai-[parakki\  (30)  [sind  auf 
Istar  (jiri]chtet(?);  darauf  geht  Istar  nach  dem  „hehren  Gemache" 
hinauf  und  an  ihrem  Platze  [setzt  sie  sich  nieder.] 

{Der  vorhergehende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 
Kol.  II  {\)   Sin.  S[uJpaea,  Ninurta,  Misarru,  NusJcu,  Istar- 
LAL  und  JVin-sAR+GUD:]    (2)  Zur  Seite  Ädads  [stellen  sie  sich  auf, 
Samas,  Bunene,  Crirru,  Zagaga,  Nergal,]  (3)  Lugalgirra,  Il-Am[urrü, 

Äsag-siid  und  Sä :]    (4)  Zur  Seile  Eas  stellen  sie  sich  auf  — 

Bellt- ile,  Sala,  [die  Töchter- Anus,  A-a^  (5)  Gula,  Bau,  Nin-esgal, 
Ama-sig-nu-d[u,  E{7)-gasan-]cii-^"nun-na,]  (6)  Asrat  und  Sarrat- 
same: Hinter  Antum  ste[llen  sie  sich  auf  —  Xanä,  Ninsianna,] 
(y)  Nin-igizibarra,  Fsirtu,  Kinmci([rur  BiUt(?)-E-turra]  (8)  und 
Saggipadda,  die  Töch[ter  von  Uruk,  die  Töchter  von  Eanna,  Nin- 
sun]  (9)  und  Sarrat-parakki  kommen  un[d  stellen  sich  hinter  Istar 
auf  —  .  .  .  .]  (10)  kommt  und  stellt  sich  zur  Rechten  der  Nanä 
auf  '"'""[.  .  .  .]  (11)  Lugalmarda,  die  Siehengottheit,  Igi-du,  Mes- 
lamt[aea  .  .  .]  12]  Pasagga  und  Suhula:  Davor  ihr[e]  Gesicht[er 
naäi  Sonnen-  .  .  .  .]    (13)  richten  sie  und  stellen  sich  auf.  ^''"Ses- 

ka-su,  '^''"[.  .  .  .],    (14)  Nin-tirbu,  Ningal,   Silam-kurra,  [ ]: 

(15)  Hinter  Ninsianna  stellen  sie  sich  auf.    Sin{?)  [....]    (16)  des 

Tores  des  „hehren  Hauses"  stillen  sich  auf  ^''"[ ]  (i  7 j  Eingang 

des  „hehren  Hauses"  der  Istar{?)  [ ]    (18)  •  •  •  Schwertträger 

der  I[sfar{?) ]    (19)  tverden  gehemmt  zu  [ ]    (20)  des 

Töpf[ers{?)  .  .  .]    (21)  Tor  [ ]    (22)  .[ ] 

(Es  fehlen  bis  zum  Schluß  der  Kolumne  etwa  10  Zeilen.) 

Kol.  III  (i)  Dahinter  2  .  .  [ ]  (2)  Dahinter  4  •  [ ] 

(3)  Dahinter  2 -Leute  [ ]  (4)  Dahinter  das  Wagen- 
gestirn, sein  Wagen  [ ]    (5)  Dahinter  der  Wagen  des  Ninurta, 

der  Wagen  [des ]    (6)  Dahinter  der  Wagen  des  Samas  und 

der  Wagen  [des  Adad  .  .  .  .]  (7)  Dicse(?)  Wagen,  die  Krieger 
[....]  (8)  die  glänzenden  Köcher  des  Anu  -wid  der  Antu  [..••] 
(9)  mit  dem  Wagen  Anus  kommen  sie.  Dahin[ter  .  .  .  .]  (10)  und 
Lugalmarda.  Dahinter  die  Siebengottheit,  Igi-d[u,  ....  Pasagga] 
(11)  und  SubuXa.  Dahinter  Lugalgirra,  Meslamt[aea, ...]  (12)  Istar- 


^2  Heiniucii  Zimmkkn:  [7*^'.  5 

(12)  ''Jitar-iAi.  u  '' Nin-sxii-^uuu  ''Mas-tab-ba  '' Tu-ma  ..[  J  (13) 
arki-su  ''Nhiurta  ^Bu-nc-nc  h  ''  Za-pn-ffä  arki-su  '^Samas  u  ^Ad\ad] 

(14)  arJäsu    '^Pap-sulkal    ''Niisku    ''Girru    '"'""ramkc  ü  """'kale 

(15)  arki-hi  "'"'''oiüH  ''Il-Amurrn  ''Azap-sud  '^Asilal  ii  """''masw?a6[c] 

(16)  im)ia  II  snniela  sa  '^'""'mtismasc  II  '^""''nia-bmi-nu-ü  «'«gir  za- 
gm-iui  gai-ra  bu^  erini  (17)  i>ia  '^"''P'"huhippak  ina  pa-ni-su  uscsü- 
nim-ma  arki-su  tue  qäiä  a-na  ''Anum  (18)  ü  An-ium  inassf"*  sarru 
ü  nisc  u-lap-pat  '^Pap-sukhd  (ig)  ^ Nuskii  ü  '^Sä  a-na  ^A-num 
iüarrasii-ma  s<(rru  ma-aq-qu-ü  huräsi  (20)  a-na  pa-ni  ^A-num 
irid-di-e-nia  ^Pap-sukkal  ^Nusku  '^Sd  ü  sarru  (21)  qätä  '^A-num 
iditi  parak  slmäü  isabbal'""  P'--ma  '^En-Iü  ina  imitti-su  ü  '^[E-a] 
[22)  ina  simieli-su  illdf^  ^^-ma  satm'^-fa  a-na  na-mis-su  arhl-su 
'^[An-tum  '^Istar]  (23)  ü  '^Na-na-a  arki-su  ^ Nin-si-an-na  '^Sd-la 
ü  [^Jläräte  '^Anmn]    (24)  arki-su  '^A-a  '^Gula  ''^Ba-ü  ü  ^Nin-i'S- 

\gal\  (25)  arki-su  ^ Ama-sig-nu-du  '^ E('^^)-gasan-ku-^"'nun-na  '^As- 
rat  [ü  ^Sar-rat  same^^ 

{der  folgende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 

Kol.IV(i)  [. . .  .^kak1cu(?)sa  "^A-numil)  ina  muh-hi  a-ra-am 
(2)  [...].  .-ü  iläni  gab-bi(?)  a-na  pa-ni-su  Haras'^f  (3)  [. . .]  ^'qa-ru-ü 
ir-rak-kas-ma  (4)  [.  .  .  sa^rru  ma-aq-qu-ü  huräsi  a-na  pa-ni  '^A-num 

(5)  [i-rid-di-e-ma  '^]Pap-sukkal  ü  sarru  a-na  ^A-num  iUaras^-  f'-ma 

(6)  [^ä/ä]  '^Anim  isabbatu-ma  a-na  de  bit  ä-ki-tum  errub-ma  ina  muh-M 

(7)  [bar]a-gal  ina  de  blt  ä-ki-tum  pa-ni-su  ana  slt-Samsi  istakan'^'^-ma 
iltasdb°^  {^)\^ E^n-lil  ü  '^E-a  errubu-ma  imna  sumela  iitasab'^^  An- 
ium  ^Istar  (9)  ü  '^Na-na-a  ina  muh-hi  sü-baP'^  arki  ^Anum  ittasab'^ 
^Adad  ina  idi  (10)  ^En-Ul  ana  irnUW^Anum  ittasab^^  iläni  nap- 
har-su-nu  errubu-ma  ina  de  blt  a-ki-tum  (11)  ina  pa-ni-su  iezazi'^  ^'• 
me  qätä  a-na  '^ Arnim  ü  An-tum  inassi-ma  sarra  u  nise  (12)  ü-lap- 
pat  sarru  ma-aq-qu-ü  huräsi  a-na  '^Anum  u  An-tum  i-red-di-e-wa 

(13)  '^Pap-sukkal  ü  sarru  qätä  ^A(\)-num  istu  bara-gal  isabbat'"^' ^^-ma 

errub-ma  ina  pa-pa-ha-su  (14)  \iltasahY''  arki-su  '^En-lü  ü  ^E-a 
errubu-ma  imna  u.  sumela  ittasab'^^    (15)  [J.w]-^wm  errub-ma  ina 

i)  Nach  Landsberger  vielleicht  im  Hinblick  auf  sid-di  isi  (falls 
BO  statt  qite  zu  lesen)  Kol.  I  17.  26  als  Uddu  zu  fassen. 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.    IT.  ^^ 

LÄL  uml  iV%-SAR+GUD,  Mustabha,  Tuma  .  .[.  .]  (13)  Dahinter  Nin- 
urta,  Bunene  und  Zagaga.  Dahinter  Samas  und  Ad[cid?^  (14)  Da- 
hinter PapsuMat^  Nusku,  Girru,  Spende-  und  Sühnepriester.  (15)  Da- 
hinter HoQhpriester,  ll-Ämurrü,  Asagsud,  Asilal  und  Beschwörer. 

(16)  Hechts  und  links  von  den  Beschwörern   2 -Leute  einen 

Fußschemel{?)   mit  Lasurstein   eingefaßt,   ein  .  .  .   aus   Zedernhols 

(1  7)  in  einem -Gefäß  bringen  sie  vor  ihm  heraus.    Darnach 

Handle  asser  für  Ann  (18)  und  Antu  bringt  er,  den  König  und  das 
Volk  berührt  er  [damit).  Papsukkal,  (19)  Nusku  wnd  Sä  richten 
sich  Ann  zu;  alsdann  der  König:  das  goldene  Spendegefäß  (20)  führt 
er  vor  Anu:  darauf  Papsukkal,  Nusku,  Sd  und  der  König:  (21)  die 
Hände  Anus  aus  dem  Schicksalsgemach  heraus  ergreifen  sie;  alsdann 
Enlü  zu  seiner  Fechten,  [Ea]  (2  2)  zu  seiner  Linken  gehen  sie,  in- 
dem er  zum  zweiten  Male  aufbricht.  Dahinter  [Antu,  Istar]  (2^)  und 
Xanä;  dahinter  Ninsianna,  Sala  und  [die  Töchter  Anus-]  (24)  da- 
hinter A-a,  Grula,  Bau  und  Nines[gal-\  (25)  dahinter  Ama-sig-nu-du, 
E{T)-gasan-hu-^''nun-na,  Asrat  [und  Sarrat-same] 
(der  folgende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 

Kol.  IV  {i)[... .]  Waffe{?)  Anus  darauf (2)  [••••]••  • 

die  Götter  alle(?)  vor  sich  richtet  er  (3)  [•  •  •  •]  Mast{?)  tcird  gebunden, 
darauf  (4)  [.  .  .  .  der  Kö]nig:  das  goldene  Spendegefäß  vor  Anu 
(5)  [führt  er,  darauf]  Papsukkal  und  der  König  zu  Anu  richten  sie  sich, 
darauf  (6)  [die  Hände]  Anus  ergreifen  sie,  darauf  in  die  Kammer 
des  Festhauses  tritt  er  ein,  darauf  auf  (7)  dem  Prunk[sitze]  in  der 
Kammer  des  Festhauses  richtet  er  sein  Gesicht  nach  Sonnenaufgang 
und  setzt  sich  alsdann.  (8)  Enlil  und  Ea  treten  ein  und  setzen  sich 
alsdann  zur  Rechten  und  zur  Linken.  Antu,  Istar  (9)  und  Nanü 
setzen  sich  auf  die  Sitze  hinter  Anu.  Adad,  zur  Seite  (10)  Enlils 
zur  Fechten  Anus  setzt  er  sich.  Die  Götter  insgesamt  treten  ein, 
alsdann  in  der  Kammer  des  Festhauses  (11)  stellen  sie  sich  vor  ihm 
auf  Handtcasser  für  Anu  und  Antu  bringt  er,  alsdann  den  König 
und  das  Volk  (12)  berührt  er  {damit).  Der  König:  das  goldene 
Spendegefäß  zu  Anu  und  Antu  führt  er,  darauf  (13)  Papsukkal 
tmd  der  König:  die  Hände  Anus  von  dem  Prunksitze  weg  ergreifen 
sie,  darauf  tritt  er  ein  und  in  seiner  Kapelle  (14)  setzt  er  sich  als- 
dann. Darnach  treten  Enlil  u/nd  Ea  ein  und  setzen  sich  alsdann 
zur  Rechten  und  zur  Linken.    (15)  [J.w]<«  tritt  ein  und  setzt  sich 

Phil.-lü»t.  Klasse  1918.   Bd.  LXX.  5.  3 


34  Heinkich  Zimmern:  "[70. 5 

mith-hi  st<bti-sii  Utasah"''  ''Sd-la  i(  '' Märätc-'' Änum  (16)  [ana] 
iniitti  Jt  sinneli  sa  Än-ium  ifiasab"''  '^Istar  irruh-ma  ina  muhhi  sUh- 
ti-su  ittasab"^  (17)  ['']  Ka-na-a  i\  '^ Nin-si-an-na  hnna  u  sum'ela 
.sa  ''Istar  itinsab"''  (18)  [''J  Adad  errub-ma  ina  Uli  ^Fm-IU  a-na 
imiili  ''A-nu)n  itiasab"''  (19)  [''J  Samas  nruh-ma  ina  idi  ^E-a 
ana  hamdi  ''Ä-mim  ittasab'^''  (^20)  [f]  Fap-suklcal  ina  Jcu-bur-ru-ü 
bdbi  pa-pa-ha  iezaz-za  ''ial-lu  Imräsi  sa{'^)  ^A-num(T)  (21)  ü-se-el- 
bi-ii  sa  '^E^i-lil  ''Ea  An-tum  ''■Istar  ^Adad  n  ''Samas  ki-min-ma 
{^22)  [Ä]i  sa  '"tal-lu  it-tal-du  'Tap-suMal  Ulak^'^-ma  ina  muh-hi 
sub-ti-su  iUasab"^  {2^)  [.].  ina  [i]di  izzas-za-ma  An  gal-e  su-il-la- 
kan  a-na  ^Anmn  inassi"  (24)  [,  .  illak'^^]  P'--ma  ina  sub-ti-su-nu 
sa  de  ittasab'^  ^1-sim.  illah°'^-ma  (25)  [. . .  i-z\a-\m'\ar(J)  sarru  a-na 
rmitfi  ittasab"^  ^ Mes-sag-Unuif'  illal^^-ma  (26)  [.  .  .  .  s\a  '''Arnim 
a-na  §unieli  itiasab^^  (27)  [. . .  s]a  ^Anum  ina  pa-ni-su-nu  i-sal-li- 
(28)  [. . . .  su]-nu     it-[t]a-[s^ab     .... 

{der  folgende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 


3.  Die  Hemerologie  für  das  Neujahrsfest  in  Babylon. 

Bereits  ZbN  149  ff.  habe  ich  eingehend  ein  Stück  aus 
den  eng  zusammengehörigen  Texten  DT  15  (IV  ß  40  Nr.  i), 
im  folgenden  =  A,  DT  .114  (=  IV  R  40  Nr.  2)  =  B^,  und 
DT  109  (Craig,  Rel.  Texts  I  i  f .  und  Hehn,  BA  V  398—400) 
=  B2  behandelt,  die  in  Form  einer  Hemerologie  ein  ausführ- 
liches Ritual  für  die  einzelnen  Tage  des  Neujahrsfestes  im 
Nisau  enthalten.  Dazu  ist  unterdessen  als  weiteres  Stück 
dieser  Tafelserie  der  äußerst  wichtige  Text  MNB  1848  (Dhorme, 
Rev.  d'Ass.  VIII  41  ff.,  Autographie  von  Thukeau-D angin) 
=  C  getreten.  Mit  Hülfe  dieses  letzteren  Textes  läßt  sich, 
wie  auch  Dhorme  selbst  bis  zu  einem  gewissen  Grade  schon 
gesehen  hat,  ein  großer  Teil  speziell  des  Rituals  für  den 
4*^"  und  namentlich  den  s*®""  Nisan  jetzt  gewinnen.  Leider 
ist  gerade  für  die  folgenden  Tage  (6*^'  bis  11*^''  Nisan),  die 
gewiß  besonders  interessant  wären,  weil  in  sie  die  Höhepunkte 
der    Neujahrsfeier    fielen,    bis   jetzt    noch    nichts    von    dieser 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.  II.  35 

alsdann  auf  ihren  Sitz.  Sala  und  die  Töchter- Anus  (i6)  sdäen  sich 
[gur]  Eechten  und  Linken  der  Antu.  Istar  tritt  ein  und  setzt  sich 
alsdann  auf  ihren  Sitz.  (ly)  Nanä  und  Ninsianna  setzen  sich 
rechts  und  Unis  von  Istar.  (i8)  Adad  tritt  ein  und  setzt  sich  alsdann 
zur  Seite  Enlils  zur  Hechten  Anus.  (19)  Samas  tritt  ein  und  setzt 
sich  alsdann  zur  Seite  Eas  zur  Linken  Anus.  (20)  PapsuMal  stellt 
sich  an  den des  Tores  der  Kapelle.  Den  goldenen  Türver- 
schluß des  Anu  (?)  (21)  schließt  man  auf,  den  des  JEnlil,  Ea,  der 
Antu,  Istar,  des  Adad  und  Samas  desgleichen.  {22)  [So]hald  der 
Türver Schluß  (^wieder)  verriegelt  (?)  ist,  geht  PapsuMal  hin  wnd 
setzt  sich  auf  seinen  Sitz.  {25)  [Der  .  .]  stellt  sich  zur  Seite,  darauf 
erhebt  er  „Großer  Anu"  als  Handcrhehu'ngs{gehet)  zu  Anu.  (24)  [Die 
....  'ko'ntm]en  und  setzen  sich  alsdann  auf  ihren  Sitz  im  Götter- 
gemach. Ikmi  kommt  uhd  (25)  [.  .  .  .  si'\ngt  (?).  Der  König  setzt 
sich  zur  Eechten.  Mes-sag-Unug  kommt  und  (26)  [....]  Anus 
zur  Linken  setzt  er  sich.  (27)  [.  .  .  .]  Anus  vor  ihnen  sprengt  (?)  er 
(28)  [.  .  .  ih^ien  setzt  er  sich  .... 

{der  folgende  Teil  der  Kolumne  fehlt.) 


Textserie  zum  Vorschein  gekommen.  Den  ganzen  bis  jetzt 
zu  erreichenden  Text  dieses  Rituals  hier  mitzuteilen,  muß  ich 
mir  versagen.  Einmal  liegt  er  ja  für  den  größten  Teil  be- 
reits in  Umschrift  und  Übersetzung  vor.^  Sodann  aber  möchte 
ich  auch  Landsberger  nicht  zu  sehr  vorgreifen,  der  bereits 
vor  mehreren  Jahren  eine  ausführliche  Behandlung  dieser 
Textserie  für  die  Fortsetzung  seines  „Kultischen  Kalenders" 
druckfertig  ausgearbeitet  hatte  und  nur  durch  seine  Teil- 
nahme am  Feldzug  seit  dem  zweiten  Kriegsjahre  bisher  an 
der  Veröffentlichung  verhindert  worden  ist.  Doch  empfiehlt 
es  sich  als  Ergänzung  zu  dem  in  den  Texten  von  Nr.  i  und 
Nr.  2  dieser  Arbeit  Enthaltenen  wenigstens  die  Aufeinander- 
folge  der   einzelnen  Kulthandlungen   für   diese  Nisantage   an 

1)  A  I  1—32;  IV  I — 29;  B^  I  I  — 17,  IV  Schluß  bei  Jensen,  KB 
VI  2,  I  S.  28f.  —  A  I  1—32;  Bi  I  I  — 17;  11  1—8;  Bj  Vs.  1—26,  Rs.  1—2 
bei  Hehn  a.  a.  0.  375  ff.  —  A  IV  1  —  27  bei  mir  a.  a.  0.  149  f.  —  C  bei 
ÜHORME  a.  a.  U.,  allerdings  melirfacb  sehr  der  Verbesserung  bedürftig. 

3* 


36  Heimuch  Zimmern:  I7"i5 

der    UjukI    dieser   liemerologie    hier    kurz    vor/.ulegen.     iJabei 
nehme  ich  dankbar  einige  sehr   scharl'sinnige  Beobachtungen 
Laxdsbkrükks^  zu  diesen  Texten  schon  jetzt  im   voraus  auf. 
2^^^  Nisan.     A  1    i — 4:    Noch    zur    Nachtzeit    steht    der 
urigaUn  („Großbruder'"'),  der  Oberpriester  Marduke,  auf,   und 
spricht,   in  ein  besonderes  Leinengewand   gekleidet,   vor  Bel- 
Marduk  ein  lluhiigung-sgebet,   das  im  Worthiut,   anfangs  su- 
merisch und  akkadisch,   weiterhin    bloß   akkadisch,  mitgeteilt 
wird  (A  I  5 — T)2).    Das  Gebet  enthält  einen  Lobpreis  Bels  und 
läuft  aus  in  eine  Bitte  um  Erbarmen  für  Babel,  Esagil   und 
die   Einwohnerschaft  Babels.    —    AI  33—35    enthält   wahr- 
scheinlich   dif  Anweisung,   daß   während    dieses   Gebetes   des 
/(;7'(/f?//«-Priesters  vor  Bei  niemand  von  der  Priesterschaft  außer 
ihm   allein   im    AUerheiligsten   weilen    darf.   —    AI  36 — 40^ 
enthält    die    Angabe,    daß    nach    diesem   Gebet    des   urigallu- 
Priesters    die   Türen    geöifnet   werden,   die   erib-hiti^-'PnQ^ie,r 
eintreten  und  ihren  ständigen  Dienst  vor  Bei  und  Bellt  ver- 
richten.   In   gleicher  Weise   auch    die   /caZw-Priester   und   die 
Gesangspriester.  —  Schluß  von  Kol.  I  und  Anfang  von  Kol.  II 
absrebrochen.  —  Wo   der  Text  in  II  ö  wieder  einsetzt:   A  II 
6 — 13    Anweisungen    für    Kulthandlungen    am   Morgen    des 
2ten  Nisan,   die    sich  u.  a.    auf  die    „Königsmütze   Anus'^   be- 
ziehen  (die   sich  nach  C  II  25   zusammen  mit  der  des  Enlil 
im    Mardukheiligtum    befand),    sodann    auf    ein    dreimal    zu 
sprechendes  Gebet  an  Bei,  das  wieder  im  Wortlaut,   diesmal 
ausschließlich  akkadisch,  mitgeteilt  wird  (A  II  14—39).    Das 
Gebet   stellt   sich   dar   als   ein  Beschwörungsgebet  gegen  die 
„bösen  Widersacher"  und  läuft  wieder  aus   in  eine  Bitte  für 
Babel  und  E-ud-ul.    Der  Schluß  des  Gebets  fehlt.  —  Es  folgt 
nunmehr    wahrscheinlich   eine    große   Lücke    von    über    zwei 
Kolumnen  mit  je  über  40  Zeilen,  im  ganzen  also  wohl  minde- 


i)  Dazu  gehört  u.  a.  auch  die  für  die  Erkenntnis  des  Zusammen- 
hanga  wichtige  Feststellung  Landsbergers,  daß  B,  und  B^  nur  Teile 
ein  und  desselben  Tontafelexemplars  sind. 

2)  EsentprechenAIIl33— 35;  B^  II  12—14;  C  II  18—23;  11134—37- 

3)  Geschr.  «»ne^Tü.E. 


70, 5l  Zum  BABYLONISCHEN  Neujahrsfest.    It.  37 

stens   100  Zeilen^  die  sich   mit  dem  weiteren  Ritual   für   den 
2ten  j^isau  befaßt  haben  müssen. 

^ter  Nisan.  Wo  der  Text  in  der  V.(?)  Kolumne  Avieder 
einsetzt,  folgt,  nach  der  nur  noch  durch  i  Zeichen  vertre- 
tenen letzten  Zeile  (A  III  3)  des  Rituals  für  den  2*^"^  Nisan, 
für  den  mit  A  III  4  beginnenden  3*«°  Nisan  in  A  III  4 — 6 
zunächst  wieder  ein  entsprechender  Passus  wie  A  I  i — 4,  der 
sich  auf  das  Aufstehen  des  tirigallu-Friesters  zur  Nachtzeit 
und  sein  Sprechen  eines  Gebetes  vor  Bei  bezieht.  Die.ses 
Gebet  (A  III  7 — 32)  wird  wieder  im  Wortlaut  mitgeteilt, 
anfangs  anscheinend  bloß  sumerisch,  weiterhin  bloß  akkadisch. 
Es  läuft  am  Schlüsse  wieder  in  eine  Bitte  um  Huld  für  Babel 
und  Esagil  aus.  —  Es  folgt  A  III  33— [36]  wieder  ein  ent- 
sprechender Passus  wie  A  I  36 — 40  mit  der  Angabe,  daß 
nach  diesem  Gebet  des  iirigalhi-FrieBters  die  Türen  des  Bei- 
Heiligtums geöffnet  werden,  die  erib-hUi -Vriesier  eintreten 
und  ihren  Dienst  vor  Bei  und  Belit  verrichten,  [desgleichen 
die  /ia?M-Priester  und  die  Gesangspriester].  —  Lücke  von  un- 
bestimmt wieviel  Zeilen  bis  zum  Schluß  der  Kolumne.  — 
A  IV  I  —  II  und  12 — 27  bringt  nun  in  zwei  Abschnitten  den 
bereits  von  mir  ZbN  149  und  auch  von  Jensen,  KB  VI  2,  i, 
2  8  f.  im  Wortlaut  vorgelegten  Passus,  der  für  den  Vormittag 
des  3*®*^  Nisan  als  Vorbereitung  für  eine  Sühnehandlung  am 
5ten  J^isan  die  Anfertigung  von  zwei  mit  Gold  überzogenen, 
mit  Edelsteinen  besetzten  und  mit  Tuch  bekleideten  Holz- 
figuren durch  einen  Holzschnitzer,  einen  Goldschmied,  einen 
Steinschneider  und  einen  Weber  anordnet.  Dabei  wird  die 
Beköstigung  dieser  Kunsthandwerker  aus  der  Priesterküche 
des  Beltempels  für  die  mehrtägige  Zeit  ihrer  Arbeit  an  diesen 
Figuren  festgesetzt.  Auch  wird  das  Aussehen  dieser  Figuren 
und  ihrer  Beigaben  im  einzelnen  näher  beschrieben  und  dann, 
bereits  vorwegnehmend  für  den  6*®^  Nisan,  die  magische 
Vornahme  mit  diesen  Figuren  zum  Zwecke  einer  symboli- 
schen Sühnezeremonie  geschildert.  —  Damit  schließen,  ver- 
hältnismäßig nur  wenig  umfangreich,  die  Kultvorschriften  für 
den  3'^^  Nisan. 


jS  Hkixrk'ii  Zimmkkn:  [7^,5 

^ter  Nigan.  in  den  uniiiittelbaj-  sieh  auschließendon  Vor 
Schriften  für  den  j'""  Nisau  bringt  zuniichst  wieder  H^  1  i  —  5, 
entsprechend  wie  zn  Beginn  des  2^"^  und  3**"  Nisan,  die  An- 
gabe, daß  der  iirigalhi-Friesier  zu  einer  bestimmten  Stunde 
der  Nacht  aufstehen,  sich  in  Flußwasser  waschen,  in  ein 
Leiuengewand  kleiden,  und  zunächst  vor  Bei  ein  Gebet  sprechen 
soll.  Es  folgt  dieses  Gebet  Bj  I  6 — 18  und  weiter,  nach  nur 
wenigen  fehlenden  Zeilen,  Bj  I  i  — 11.  Der  Text  des  Gebets 
ist  wieder  in  der  ersten  Hälfte  sumerisch  und  akkadisch,  in 
der  zweiten  bloß  akkadiscb.  Dem  Inhalt  nach  stellt  das  Ge- 
bet einen  Lobpreis  auf  Bel-Marduk  als  Götterkönig  und 
Weltenherr  dar,  und  geht  —  im  Munde  des  urigallii  —  dann 
zuletzt  wieder  über  in  die  Bitte  um  Gnade  für  Babel,  Esagil 
und  die  Bewohner  von  Babel.  —  Bg  I  12  folgt  die  Zwischen- 
zeile: „Von  Böl  geht  er  (nämlich  der  im^ö/^w-Priester)  heraus 
und  spricht  dann  zu  Beltija  sein  Gebet."  Dieses  Gebet  ist 
in  seinem,  diesmal  durchweg  akkadischen,  Wortlaut  vollständig 
erhalten  in  Bg  I  13 — 26  und  dessen  unmittelbarer  Fortsetzung 
in  B^  II  I — 8,  sowie  (von  B2  I  21  ab)  nochmals  in  dem 
Duplikat  dazu  C  II  i  — 14.  Es  enthält  einen  Lobpreis  auf 
Beltija-Sarpanitu  und.  ihre  über  alle  anderen  Göttinnen  er- 
habene Größe,  preist  sie  als  Helferin  gegen  Feinde  und  allerlei 
Not,  und  bittet  alsdann  um  gute  Schicksalsbestimmung  für 
den  König  und  um  Huld  für  die  Bewohner  Babels  durch 
Eintreten  für  sie  bei  Marduk.  Es  folgt  noch  die  Bitte  um 
Huld  für  den  betenden  Oberpriester  selbst.  —  Darauf,  voll- 
ständig erhalten  durch  die  sich  gegenseitig  ergänzenden  Dupli- 
kate B^  11  9 — 14  und  C  II  15  —  20,  die  Angabe,  daß  der 
Oberpriester  nach  dem  „hehren  Gemach"  (duQ^mahlm)  hinaus- 
geht, sein  Gesicht  nach  Norden  richtet  und  dreimal  ein  Hul- 
digungsgebet für  Esagil  spricht.  Alsdann  noch  in  demselben 
Abschnitt  wieder  der  A  I  36 — 40  usw.  entsprechende  Passus 
über  Öffnung  der  Türen,  Eintreten  der  en&-&^^^-Priester,  Ver- 
richtung des  ständigen  Dienstes;  desgleichen  der  Ä'aZw- Priester 
und  Gesangspriester.  —  C  II  21 — 26,  für  die  beiden  letzten 
Zeilen  auch  etwas  ergänzt  durch  das  hier  einsetzende  Duplikat 


70, 5j  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   IT.  39 

ß  11  I — 2,  enthält  die  Weisung,  daß  bis  zum  Tagesende  der 
tmgallu-Pi'iester  von  E-KU-a  von  Anfang  bis  zu  Ende  Enuma 
elis  d.  i.  das  bekannte  Weltschöpfungsepos  vortragen  solle  \ 
unO.  daß  während  dieses  Vortrags  die  Königsmütze  Anus  und 
der  Sitz  Enlils  bedeckt  bleiben  sollten.  —  Damit  schließen 
die  auch  für  den  4*^"*  Nisan  verhältnismäßig  nur  kurzen  Kult- 
vorschriften. 

S'er  Nisan.  Zunächst  bringt  C  II  27 — 31  (und  Dupl. 
B^  n  3—6)  wieder  die  gleiche  Weisung  wie  an  den  früheren 
Tagen  (A  I  1—4  usw.),  daß  der  urigallu-'PnesteY  zu  einer 
bestimmten  Stunde  der  Nacht  aufstehen,  in  Tigris-  und 
Euphratwasser,  wie  es  hier  heißt,  sich  waschen,  vor  Bei  ein- 
treten, sich  vor  Bei  und  Beltija  in  ein  Leinengewand  kleiden 
und  zu  Bei  ein  Gebet  sprechen  soUe.  Das  Gebet  selbst  folgt 
im  Wortlaut  C  11  32 — III  16  (in  den  ersten  17  Zeilen  auch 
vertreten  durch  das  Duplikat  B2  II  7— 23,  das  alsdann  ab- 
bricht). In  diesem  in  der  ersten  Hälfte  sumerisch,  in  der 
zweiten  gemischt  akkadisch  und  sumerisch  gehaltenen  Ge- 
bete wird  Bel-Marduk  unter  den  verschiedensten  Namen,  da- 
runter insbesondere  zahlreichen  Gestirnnamen,  mit  der  Bitte 
um  Beruhig-ung  angerufen.  —  Nach  der  Zwischeuzeile  C  III 1 7 
„zu  Beltija  spricht  er  dieses  Gebet"  folgt  C  III  18—33  auch 
dieses  Gebet  an  Beltija  im  Wortlaut,  in  Form  und  Aufbau 
ähnlich  dem  vorhergehenden  an  Bel-Marduk.  Auch  hier  wird 
Sarpanitu  vorwiegend  unter  Sternnamen  gepriesen.  —  C  III 
34—37  bringt  wieder  die  Angabe  (vgl.  zu  A  I  36 — 40),  daß 
nach  diesem  Gebete  die  Türen  geöffnet  werden,  die  erib- 
hlti-Friesier  insgesamt  eintreten  und  ihren  ständigen  Dienst 
verrichten,  desgleichen  die  lalü-  und  die  Gesangspricster.  — 
Es  folgt  nun  C  III  38 — 43  und,  in  unmittelbarer  Fortsetzung, 
C  IV  1—40  für  den  Vormittag  des  S^^""  Nisan,  nachdem  das 
Morgenopfer  für  Bei  und  Belit  vollzogen  ist,  eine  ausführ- 
liche Anweisung  für  kultische  Reinigung  (insbesondere  mittels 

i)  Auch  hier  ist  also  die  Rezitation  des  Enuma-elis-Epos  als  ein 
Bestarultpil  der  Neujahrsfestliturgie  direkt  urkundlich  bezeugt,  wie  in 
dem  Texte  von  Nr.  i  oben  Z.  34;  vgl.  auch  ebenda  Z.  54. 


40  Hkinkich  Zimmkkn:  [70,5 

Besprengungeu,  Aiixüiulen  von  iräuchcrwerk  und  VevwoiKluuf!; 
der  kupfernen  Kesselpauke)  der  Kapelle  {papahu)  dos  lidl  uud 
der  Belit  und  anschließend  der  Kapelle  des  Nabu  durch  dön 
Beschwörungspriester  (masmasu)  im  Auftrag  des  urigallu.  Es 
wird  hierbei  ausdrücklich  wiederholt  (IV  i  f.  2 1  f.)  hervorge- 
hoben, daß  während  dieses  Keinigungsiiktes  der  Hri^ttiZw- Priester 
selbst  (um  sich  nicht  zu  verunreinigen)  sich  im  Heiligtum 
nicht  aufhalten  darf,  sondern  im  Hofe,  außcrhtilb  desselben, 
weilen  muß.  Bei  der  Reinigung  des  Nabü-Hciligtums  tritt 
noch  der  bemerkenswerte  Kultakt ^  hinzu,  daß  durch  einen 
herbeigerufenen  „Schwertträger"  {nas  patri)  einem  Schafbock 
der  Kopf  abgehauen  wird,  und  daß  dann  vom  Beschwörungs- 
priester mit  dem  Rumpf  des  Schafbocks  unter  dem  Hersagen 
von  Tempelreinigungsbeschwörungen  der  Tempel  „bestrichen" 
{kuppuruY  wird.  Der  Rumpf  des  Schafbocks  wird  darauf 
vom  Beschwörungspriester  zum  Flusse  hinausgebracht  und  in 
diesen  geworfen,  worauf  der  Beschwörungspriester  nach  der 
Steppe  hinausgehen  muß.  Dasselbe  geschieht  durch  den 
„Schwertträger"  mit  dem  Kopf  des  Schafbocks,  worauf  auch 
der  Schwertträger  ebenso  wie  der  Beschwörer  nach  der  Steppe 
hinausgehen  muß.  Solange  Nabu  während  der  Pestzeit  in 
Babel  weilt,  dürfen  beide  nicht  nach  Babel  hineinkommen, 
sondern  müssen  sich  vom  5*®°  bis  zum  i2*®°Nisan  in  der 
Steppe  aufhalten.  Im  Anschluß  an  diese  „Reinigung"  der 
beiden  Kapellen  Marduks  und  Nabüs,  die  lYg  Stunde  in  An- 
spruch genommen  hatte,  läßt  der  M>"j^a?Zt(-Priester  noch  durch 
Kunsthandwerker  mit  einem  „goldenen  Himmel",  den  er  aus 
dem  Tempelschatze  des  Marduk  herausgegeben  hatte,  die  Nabü- 

i)  Dieser  erinnert  auffällig  an  den  ,, Sündenbock"  beim  israeliti- 
schen ,.Versölinungs"fest,  das  ja  schon  mehrfach,  und  wohl  mit  Recht, 
mit  dem  babylonischen  Neujahrsfest  in  Zusammenhang  gebracht  wor- 
den ist. 

2)  Also  derselbe  technische  Ausdruck  wie  beim  „Versöhnungs"tag 
(Jörn  hak-l-ippürim) ,  der  in  Wirklichkeit,  wenigstens  seiner  ursprüng- 
lichen Bedeutung  nach,  ja  gleichfalls  die  äußerlich  rituelle  Reinigung 
des  Heiligtums  zu  seinem  Hauptzwecke  hatte  (vgl.  Siegfried  in  Guthes 
Kurz.  Bibelwörterb.  181). 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  4 1 

kapelle  Ezida  überziehen   und    stimmt   dann   gemeinsam   mit 
den  Kunsthandwerkern  einen  kurzen,  im  Wortlaut  mitgeteilten 
Beschwörungshymnus  an,  worin  verschiedene  Götter,  darunter 
an  erster  Stelle  Marduk,  zur  Reinigung  des  Tempels  und  Ver- 
treibung  von  jeglichem  Bösen  daraus  angerufen  werden.  — 
Darauf  verlassen  die  Kunsthandwerker  die  Kapelle  (CIV  41).  — 
Es  folgt  unmittelbar  ein  langes,  gegen  70  Zeilen  umfassendes 
Ritual  (C  V  I — 44,  dann,  nach  wenigen  fehlenden  Zeilen,  B^ 
V  1—7  und  unmittelbar  darauf  Bg  VI  i  — 12),  das  Kulthand- 
lungen des  urigallu-Vriesiers  für  Marduk  und  Nabu,  immer 
noch  im  Verlauf  dieses  5*^"^  Nisan,   zum  Inhalt   hat.     Er  hat 
zunächst   vor  Marduk   ein  Opfer,   aus  Fleisch,   Broten,   Salz, 
Honicr,   Räucherwerk   und   Wein   bestehend,   zuzur ästen   und 
ein   kurzes,   im   Wortlaut  gegebenes.    Gebet   zu    Marduk    zu 
sprechen,  das  um  Huld  für  den  König  bittet,  der  „die  Hände 
des    Gottes    ergreift."    Nach    diesem    Gebet   und   nach   Weg- 
räumen  des  Opfers   läßt   der   urigallu  Kunsthandwerker   des- 
gleichen für  Nabu  ein  Opfer  hinstellen,  das  dann  später  auch 
wieder  weggeräumt  wird.    Unterdessen  kommt  Nabu  auf  sei- 
nem Schijffe  (aus  Borsippa)  an  und  gleichzeitig  wird  der  König 
nach   Esagil  hineingeleitet,  während  andererseits   die  Kunst- 
handwerker das  Heiligtum  nunmehr  verlassen.    Es  folgt  nun 
eine  besonders  eigenartige  Szene,   wobei  der  König  die  Stel- 
lung   eines   Büßers    einzunehmen    hat.      Sobald    nämlich    der 
König  zur  Kapelle  Marduks   gelangt  ist,   tritt    der  urigallu- 
Priester  aus  dieser  heraus,  nimmt  dem  König  Szepter,  Krumm- 
stab (?),   Wafie,    desgleichen    seine    Königsmütze    ab,    bringt 
diese  Königsinsignien  vor  Bei  hinein  und  legt  sie  vor  Bei  auf 
einem    Sitze   nieder.     Sobald   er   dann   wieder   herausgetreten 
ist,   schlägt   er  den  König  auf  die  Backe,   führt   ihn   zu  Bei 
hinein,  zieht  ihn  an  den  Ohren  und  läßt  ihn  am  Boden  nieder- 
knien und  ein  Bußgebet  sprechen,  das  im  (akkadischen)  Wort- 
laut mitgeteilt   wird.     Der  Inhalt  des  Gebets   stellt  eine  Un- 
Schuldsversicherung  des   Königs   dar   („nicht   war   ich   lässig 
gegen  Deine  Gottheit,  nicht  habe   ich  Babel  zerstört,  Esagil 
nicht   vernichtet"   usw.).     Das   Ritual   geht    alsdann   über   in 


42  Hkixru  n  Zimmkrn:  f7".  S 

eine  Ermahnung  des  Olierpricstors  an   den    König,    allen   kul 
tischen  VerpHiclitungen  richtig  naclr/ukomnien,  die  Bel-Stadt 
Babel,  das  Bel-Heiligtum  Esagil  und  die  Bel-Schützlinge,  die 
Bewohner  Babels,    gebührend  in  Obhut  zu  nehmen,  um  sich 
dadurch  die  Huld  Bels  zu  siehern.    Nach  diesen  Ermalinungs- 
worten    gibt   der   Oberpriester   dem    König   Szepter,    Krumm- 
stab (?),  Waffe,   Königsmütze   wieder  zurück.     (In   einer,  wie 
es    scheint,    als    nachträglicher    Zusatz    zu    den    Worten    „er 
schlägt  den  König  auf  die  Backe"   zu    betrachtenden  Bemer- 
kung heißt   es  noch:   „Wenn    beim    auf  die   Backe   schlagen 
seine  Tränen  fließen,  so  ist  Bei   gnädig;   wenn   seine  Tränen 
nicht  fließen,  so  zürnt  Bei,  ein  Feind  wird  sich  erheben  und 
ihn  zu  Falle  bringen.")  —  Darnach  folgt  noch  Bg  VI  13  —  25 
eine  vom   w>7^a^/'M-Priester  und   dem   König   gemeinschaftlich 
vorzunehmende,    als   Sühneritus    zu    denkende  Verbrennungs- 
zeremonie, zu  der  anscheinend  4.0  drei  Ellen  lange  unversehrte 
Rohre  benutzt  werden.     Während  der  Verbrennung  sprechen 
der  König  und   der  urigallii-Fiiester  zu   dem  Feuergotte  ein 
wieder   in   akkadischem   Wortlaut   angeführtes    Gebet.     Nach 
nur   Avenigen   fehlenden   Zeilen,   die   eben    den  Schluß   dieses 
Gebets  an  den  Feuergott  enthalten  haben  müssen,  liegt  mit 
Bi  VI   auch    der  Schluß    dieser   das  Ritual   des  4*«"^   und  s'«-^ 
Nisan  enthaltenden  Tafeln  B  und  C  vor.     Allerdings  scheint 
nach  der  sowohl  auf  B  als  auf  C  angegebenen  Stichzeile  auch 
die  bis  jetzt  noch  fehlende  folgende  Tafel  gleichfalls  zunächst 
noch  vom  Ritual  des  5*®''.  Nisan  gehandelt  zu  haben  —  falls 
hier  nicht  in   beiden  Fällen    der    5*^  Nisan    auf  einem  Ver- 
sehen für  den  6*®°  Nisan  beruht. 

4.  Die  sieben  Namen  Marduks  bei  der 
Neujahrsprozession. 

Der  eigenartige  Text  KT  AR  Nr.  142,  der  allerlei  Sieben- 
heiten  unter  Göttern^,  Sternen,  Dämonen,  Heiligtümern^,  Kult- 


I)  So  auch  T[  2  5ff.:  „7  große  Götter  beim  üm[hergeben]  des  Zugs 
im  Monat  Nisan,  am  Tage  des  (Neujahrs) llestes]"  {VII  iläni  rabüti  ina 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  43 

statten  aufführt,  bringt  an  erster  Stelle,  Vs.  i  —  8,  laut  Unter- 
schrift Z.  9  auch  „7  Namen  Marduks  bei  (seinem)  Gehen  und 
Zurückkehren"  {VII  sumäti  sa  Marduk  ina  alciki  u  täri).  Es 
handelt  sich  dabei,  Avie  die  einzelnen  Namen,  Handlungen  und 
Ortlichkeiten  klar  zeigen,  um  die  feierliche  Prozession  Mar- 
duks am  Neujahrsfest.  Als  die  einzelnen  Namen,  die  hierbei 
Marduk  zukommen,  und  die  einzelnen  aufeinander  folgenden 
Akte  und  Orte  der  Feier  werden  folgende  aufgeführt: 

1 .  „Im  Kapellengemach"  (ina  hit  papahi)  trägt  Marduk 
den  Namen  „Ansar  des  Himmels"  {Änsar  samu).  Mit  dem 
Kapellengemach  ist  gewiß  E-KU-a,  die  Kapelle  Marduks  in 
Esagil  gemeint. 

2.  und  3.  Für  diese  beiden  Punkte  sind  die  Handlungen, 
Ortlichkeiten  und  Namen  nicht  ganz  klar,  zumal  auch  gerade 
hier  der  Text  etwas  zerstört  ist.  Die  erste  dieser  beiden  Hand- 
lungen ist  jedenfalls  ina  hirit  siddi  „zwischen  den  siddii's", 
wobei  aber  die  Bedeutung  von  siddu,  das  jedenfalls  eine 
Kulthandlung  bezeichnet,  noch  nicht  sicher  ist^;  die  zweite 
wohl    das    unmittelbar    folgende    ma   suhtP   pa-an    {Tcjakliab 

[ — ]  „auf  dem  Sitze  vor  dem  Stern  [ ]".    Es  folgt  darauf: 

„Der  Sitz,  der  heilige  Ort,  der  Wohnsitz  des  Gottes.  [...  .]; 
die    Stätte ^(?),    wo   der   Gott   Enbilulu    sich    niederläßt   und 


sa[häri]  täluku  sa  arah  Nis\anni\  um  a\]äii]),  nämlich  Ann,  Enlil,  Ea, 
Mab  (A[ruru]),  Ninurta,  Gula,  Istar  (Istar-Bäbili). 

2)  So  werden  u.  a.  II  11  ff.  auch  „7  Schicksalsgemächer"  {VII 
paralke  '^simati)  aufgeführt,  nämlich  in  Nippur,  in  Babylon,  in  Borsippa, 
in  Der,  in  Uruk,  in  Akkad,  in  Hursagkalama. 

i)  Vgl.  den  häufigen  kultischen  Ausdruck  siddu  sadUdti  und  dazu 
meine  Bemerkungen  zu  Rit.  Taf.  Nr.  56,  10.  In  dem  daselbst  auch 
bereits  erwähnten  Text  82-3-23,  3  (s.  für  einige  Zeilen  Bezold,  Cat. 
p.  1814)  ist,  nachdem  vorher  der  Ausdruck  siddi  tasadad  gebraucht  war, 
weiterhin  ebenfalls  von  ina  bi-rit  sid-di  die  Rede.  Vgl.  ferner  noch 
siddi  qite  KTAR  Nr.   132  I  17.  25  (oben  Nr.  2). 

2)  Statt  mit  siihtu  könnte  ki.kü  bzw.  ki.dur  auch  mit  dem  daraus 
entstandenen  Lehnwort  Jdturru  umschrieben  werden.  Vgl- KTAR  Nr.  146 
Vs.  15b:  sarru  ina  muhhi  '".ki-tu-ri  ussah. 

3)  Es  liegt  wohl  das  Zeichen  gisgal  für  manzasu  bzw.  gisgallu  vor. 


44  Heinrich  Zimmern:  [7".  5 

[.  .  .  .|"    Demnach  lautet  der  dritte  Marduknanio  Eubilulu^, 
während  der  vorhergehende  zweite  abgobroclien  ist. 

4.  „Im  Schicksalsgemach"  {ina  parak  '^simaic'"^)  trägt 
Marduk  den  Namen  Lugal-di[m-me-i]r-[an]-ki-a  „König 
der  Götter  Himmels  und  der  Erdenk  Dieser  Name  ist  ja 
auch  anderweit  bekannt  als  Bezeichnung  für  den  Gott,  der 
am  Neujahrsfeste  im  Schicksalsgemache  die  Geschicke  be- 
stimmt. Vgl.  Neb.  II  54flF.  und  dazu  meine  Bemerkungen 
KAT3  402. 

5.  „Auf  der  Straße"  (ina  süqi)  trägt  Marduk  den  Namen 
Asari-lü-dug.  Es  handelt  sich  bei  der  „Straße"  jedenfalls  um 
die  bekannte  Prozessionsstraße  Äi-lhur-sähüm. 

6.  „Auf  dem  Schiffswagen"  (ina  rukübP)  trägt  Marduk 
den  Namen  [S]ul-ba-ab^,  bezw.  [S]ul-ba-u.  Mit  dem 
Schiffswagen  ist  natürlich  das  Schiff  ku.a  bei  der  Neujahrs- 
prozession Marduks  gemeint. 

7.  „Im  Festhause"  {ina  hit  aklti)  trägt  Marduk  den  Na- 
men „Gott  des  Gebetshauses"  {il  E-zür^  bezw.  il  Utihribi.^) 
Auch  diese  Bezeichnung  des  hit  alätu  als  hlt  ikrihi  ist  ja 
aus  Neb.  IV  7  usw.  bekannt. 


i)  Im  selben  Texte  III  19  wird  Enbilulu,  auch  sonst  ja  ein  bekannter 
Name  Marduks,  als  erster  der  7  Adad's  als  Adad  sa  Babili  bezeichnet. 

2)  slmtu  mit  dem  Gottesdeterminativ,  ebenso  in  II  15,  findet  sich 
auch  anderwärts  so,  s.  Tdureau-Dangin  zu  Sargon,  Huit.  camp.  2. 

3)  So  ist  ?«»Mi.u  nach  SAI  2380  wohl  am  besten  zu  umschreiben. 

4)  Möglicherweise  ist  dazu  zu  vergleichen  der  hinter  [Enjbilulu 
erscheinende,  auf  bab-e-sul  endigende  Marduknamen  in  der  wohl  zu 
Tafel  II  der  Götterliste  An  =  (ilu)  Anum  gehörigen  Liste  mit  Marduk- 
namen Sm.  78  U.SW.  CT  25,  46. 

5)  Vgl.  zur  Lesung  zur  Delitzsch,  Sum.  Gloss.  227,  und  beachte 
die  Schreibung  E-zür-ra  bei  Reisnee,  Sum.-bab.  Hymn.  Nr.  VIII 
S.  145,  Vs.  4- 

6)  Daß  E-zür  als  hit  ikrihi  „Gebetshaus"  und  nicht,  wie  vielfach 
geschieht,  als  hit  niqe  „Opferhaus"  zu  fassen  ist,  zeigt  klar  die  akka- 
dische  Übersetzung  durch  hit  ikrihi  Nabonid-Stele  IX  8,  ebenso  in  dem 
oben  unter  Nr.  3  besprochenen  Texte  MNB  1848  Rucks.  II  18. 


70,  5]  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   IL  45 

5.  Spuren  von  Mysterien  am  Mardukfeste? 

Wir  wissen  bisher  noch  recht  wenig  Tatsächliches  von 
Mysterien  in  Babylonien  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  d.  h. 
nicht  bloß  von  „Geheimwissen"  im  allgemeinen,  als  welches 
wohl  alle  Priesterweisheit  mehr  oder  weniger  in  Babylonien 
gegolten  hat,  sondern  in  dem  engeren  Sinne  von  Mysterien, 
d.  h.  der  Anteilnahme  des  Verehrers  der  Gottheit  an  deren 
mythischen  Erlebnissen  (dga^sva),  die  ihm  zum  Unterpfand 
seines  eigenen  Erlebens  werden,  so  insbesondere  des  Mitlei- 
dens („Sterbens")  und  Mittriumphierens  („Auferstehens")  mit 
der  Gottheit.  Und  doch  weist  insbesondere  im  Istar-  und 
Tamüzkulte  mancherlei  darauf  hin,  daß  auch  innerhalb  der 
babylonischen  Religion  solches  Mysterienwesen  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  nicht  fehlte.  Ohne  hier  auf  weiteres  in 
dieser  Hinsicht  einzugehen^,  möchte  ich  mich  nur,  weil  viel- 
leicht für  Mysterien  am  babylonischen  Neujahrsfeste  in  Be- 
tracht kommend,  mit  einem  Texte,  KTAR  Nr.  10  nebst  Dupli- 
kat Nr.  1 1 ,  befassen,  auf  den  Ebelixg  -  mich  hingewiesen  hat. 

Der  Text  gibt  sich  zwar  im  allgemeinen  als  Dankgebet 
im  Munde  eines  durch  Marduk  aus  schwerem  Leiden  Erlösten. 
Doch  finden  sich  im  einzelnen  darin  so  eigenartige  Aus- 
drucksweisen und  so  merkwürdige  symbolische  Handlungen 
und  Bezugnahmen  auf  eine  Prozession  durch  die  verschie- 
denen heiligen  Stätten  im  Marduktempel  Esagil,  daß  man  in 
der  Tat  auf  den  Gedanken   kommen  könnte,   es   handle   sich 


i)  Für  die  große  Ähnlichkeit  mancher  Erscheinungen  in  den  baby- 
lonischen Sühnriten  mit  solchen  in  griechischen  und  altcliristlichen 
Mysterien  vgl.  Schrank,   Babyl.  Sühnriten   (s.  Register  s.  v.  Mysterien). 

2)  Im  Anschluß  an  meinen  Nachweis,  daß  KTAR  Nr.  143  (oben 
Nr.  i)  den  dramatischen  Neujahrstexten  nahestehe,  warf  dieser  in  einer 
Zuschrift  vom  12.  April  1917  mir  gegenüber  die  Frage  auf,  ob  nicht 
vielleicht  auch  KTAR  Nr.  10  in  diesen  Kreis  gehöre,  da  dieser  Text 
offenbar  eine  Auferstehungsszene  enthielte,  deren  Schauspiel  in  Esagila 
vor  sich  ginge.  [Korrekturzusatz:  Wie  Landsberger  sah,  bildet  KTAR 
Nr.  IG  u.  II  vielmehr  den  Schluß  zu  dem  babyl.  ^,Hiob"-Texte  Ludlul 
hei  mmeqil    Damach  nun  auch  im  folgenden  allerlei  zu  ändern.] 


46  Heinuicii  Zimmkun:  [70,  S 

um  ein  Kultlied  für  Myston,  die  bei  einer  Prozession sfoi er  an 
der  Stätte  des  Marduklieiligtunis  Esat;il,  dem  „Hause  des 
Lebens'',  Avie  es  anderwärts  genannt  wird,  mit  Hilfe  des  Gottes 
dessen  teilhaftig  werden  sollen,  was  auch  der  Gott  selbst  an 
seinem  Feste  erlebt  hat. 

Der  im  Anfang  lückenhafte  Text  beginnt  damit,  daß  der 
Gerettete  die  einzelnen  Rettungstaten  Marduks  an  sich  auf- 
zählt, so  Z.  2:  „er  hat  mich  ergriffen",  Z.  4:  „er  hat  mich 
lebendig  gemacht"  Z.  7!'.:  „[Da  mich  der  Widersacher  zum 
Flusse]  Hubur'  wegschleppte,  faßte  mich  |Marduk]  bei  der 
Hand",  Z.  9 f.  „[Da  der  Feind]  mich  schlug,  erhöhte  [MardukJ 
mein  Haupt",  Z.  11  f.:  „Er  hat  zerschlagen  die  Faust  meines 
Widersachers,  zerschmettert  hat  seine  Waffe  Marduk."  Nach 
einer  Lücke  im  Texte  ist  von  einem  „Schmaus  der  Bewohner 
Babels"  {kireti  mär  Bähili)  die  Rede,  dessen  Zubereitung  nach 
den  noch  erhaltenen  Spuren  im  vorhergehenden  geschildert 
gewesen  sein  muß.  Um  was  für  einen  Schmaus  es  sich  aber 
hierbei  wahrscheinlich  handelte,  nämlich  um  den  Leichen- 
schmaus für  den  (symbolisch)  Begrabenen,  legen  die  unmittel- 
bar folgenden  Worte  des  Textes  nahe: 

Seine  Bcgräbniskammer^  hatte  man  gemacht,     beim  Schmause  [saßen 

sie.] 
Da  sahen  die  Bahylonier,     tvie  er^  \thn\  lebendig  machte, 

alle  insgesamt    priesen  (seine)  Größe: 
„Wer^  sprach  davon,     daß  er  seine  Gottheit^  schauen  sollte, 

„in  wessen  Sinn  kam  es,     daß  er  auf  seiner  Straße  wandeln ^  sollte'^ 
,^Wer  ivenn  nicht  Marduk     hat  ihn  vom  Tode  (wieder)  mm  Leben 

gebracht^, 
„was  für  eine  Göttin  außer  Erua     hat  ihm  (^icieder)  seinen  Odem 

geschenkt? 

i)  Der  auf  dem  Weg  zur  Unterwelt  zu  überschreiten  war. 

2)  Doch  wohl  hit  ki-bi-ri-sü  zu  lesen.  3)  D.  h.  Marduk. 

4)  D.  h.  welcher  andere  Gott  außer  Marduk. 

5)  Doch  wohl  irgendwie  amär  ilütisu  gemeint. 

6)  Gemeint  ist  die  Prozessionsstraße  dös  Gottes. 

7)  Wörtlich:  sein  Totsein  (wieder)  lebendig  gemacht  {mitütasu 
uballit). 


70, 5]  Zum  babylonischen  Neujahrspest.   II.  47 

„MurduTc  vermag  es,     aus  dem  Grabe  aufsuer wecken^, 

„Sarpanltu  ist  darauf  bedacht,    aus  der  Vernichtimg  zu  erretten." 

Unmittelbar  hierauf^  ist  nun  von  der  erstmaligen  Lebens- 
verleihung  durch  Marduk  bei  der  Menschenschöpfung  am  An- 
fang der  Welt  die  Rede,  möglicherweise  aber  auch  in  dem 
Sinne,  daß  es  sich  um  eine  symbolische  Kulthandlung  als 
Nachbildung  jener  ersten  Menschenschöpfung  handelt: 
Als  die  Erde  hingestellt  war,    die  Himmel  sich  ausgebreitet  hatten, 

die  Sonne  erglänzte,     Feuer  aufleuchtete, 

Wasser  dahinfloß,     der  Wind  tvehte, 
I)a  kniffen  die  {Dienerinnen)  der  Aruru     ihre  StäcJce^  ab, 

die  Verivalterin  (?)  des  Lebensodems,  [ihre)  Schritte  waren  ge- 
öffnet. 
Hier  wird  der  Text  wieder  lückenhaft,  und  es  ist  nur 
noch  zu  erkennen,  daß  weiterhin  zunächst  wohl  noch  von 
dem  Lebendigmachen  (bul[liitu])  von  Lebewesen  ([napsjätum) 
durch  Marduk  die  Rede  ist.  Wo  der  Text  von  neuem  ein- 
setzt, handelt  es  sich  wieder  um  den  Geretteten,  der  unter 
Gebet,  Niederwerfen  und  Seufzen  in  den  Tempel  Esagil  [ein- 
tritt]. In  einem  neuen  Abschnitt  rühmt  nun  der  Gerettete 
wieder  mit  eigenen  Worten,  wie  er,  durch  die  verschiedeneu 
Tore  des  Esagiltempels  dahiuschreitend,  aus  dem  „Tode" 
wieder  zum  „Leben"  zurückgekehrt  ist: 
[Der  ich  hi'}nabgestiegen  war  ins  Grab,     bin  ich  wiedergekehrt  zum 

Tor  der  Leb[enden\, 
[im  Tor]  der  Lebens  fülle     umrde  ich  mit  Lebensfülle  besch[enkt'\, 
\im   T^or  des  großen  Schutzgeistes      kam   [mir]  mein  Schutzgeist 

wieder  nahe, 
[im]  Tor  des  Wohlbehaltenseins     erblickte  ich  Wohlbehaltensein, 
im  Tor  des  Lehens     wurde  mir  Leben  zuteil, 
m  lor  des  Sonnenaufgangs     umrde  ich  unter  die  Lebenden  gerechnet, 

1)  Wörtlich:  lebendig  zu  machen  (pulluta). 

2)  Der  Abteilungsstrich  zwischen  Z.  14  und  15  steht  wohl  an 
falscher  Stelle,  er  sollte  wohl  eine  Zeile  früher  stehen. 

3)  Nämlich  Stücke  aus  Tonerde ;  Einleitung  zur  Menschenschöpfung 
aus  Tonerde,  wie  sie  ähnlich  auch  am  Schlüsse  des  Atrahasis-Mythus 
erzählt  wird. 


4^  Hkiniucii  ZiM>tioKN:  lyojS 

im  Tor  der  hellen   Vorz(idi<n     ivwäeii  lueific  Vorziehen  hell, 
im  Tor  der  SüHdcnlösiwf)     wurde  mein  Bann  gelöst, 
im  'Tor  der  Mundbefragung     befragte  mein  Mund, 
im  Tor  der  Seufzerläsung     irurde  mein  Seufzen  gilösl, 
im  Tor  der   Wasscrreinigung     irurde  ich  mit  JReinigungsirasser  be- 
sprengt, 
im  Tor  des  Wohlbehaltenseins     u-urdc  ich  zur  Seite  Marduks  erblickt, 
im  Tor  der  Füllcausschütiung      war  ich  zu   Füßen  der  SurpanUu 

niedergelegt.  ^ 
In  Gebet  und  Flehen     seufzte  ich  vor  ihnen, 
gutes  BäucherwcrJc     legte  ich  vor  ihnen  nieder. 

Die  folgenden  Zeilen  bis  zum  Schluß  des  Textes  ent- 
halten noch  weiterhin  die  Schilderung  der  Darbringung  von 
Speis-,  Tier-  und  Trankopfern  von  Seiten  des  Erlösten  für 
die  Schutzgötter  von  Esagil,  und  es  folgt  endlich  noch  eine 
(am  Anfang  abgebrochene)  Zeile  mit  mir  nicht  ganz  klarer 
Unterschrift  zum  Ganzeih 

Verschiedene  Texte. 

Hier  möchte  ich  wieder,  wie  früher  am  Schluß  meiner 
ersten  Abhandlung  zum  babylonischen  Neujahrsfest,  in  Kürze 
auf  eine  Anzahl  weiterer,  zumeist  gleichfalls  erst  neuerdings 
veröffentlichter  Texte  hinweisen,  die  für  das  babylonische 
Neujahrsfest   mehr    oder  weniger   noch   in  Betracht  kommen. 

a)  Das  Bruchstück  KT  AR  Nr.  io6  ist,  wenn  auch  nicht 
unmittelbar  Duplikat,  so  doch  nahe  verwandt  mit  dem  Gebet 
an  Marduk  bei  seinem  Einzug  in  den  Tempel  Esagil  am 
Neujahrsfest  (IV  li  i8  Nr.  2  und  Weissbach,  Mise.  Nr.  13; 
in    Umschrift    und    Übersetzung    bei    Jensen,    KB    VI   2,    i 

S.  3  7  ff.)  Rs.  5  7  ff. 

b)  KTAR  Nr.  104,  in  Umschrift^  und  Übersetzung  bei 
Ebeling,  Quellen  z.  Kenntn.  d.  bab.  Rel.  I  (MVAG   19 18,  i) 

i)  Doch  wohl  so  (annasik),  nicht  etwa  „küsse  ich  die  Füße"  (annasiq). 

2)  In  Ebelings  Umschrift  ist  u.  a.  Z.  17  statt  zikaru{?)  pal-ki 
i-da-at  zu  lesen:  us-pal-ki-i  da-ad-[me];  Z.  27  statt  pi-lik-sn  vielmehr 
pe-tas-sü  („ihm  zu  öffnen");  Z.  22  statt  i-.-ni  wohl  i-[s]in-m',  Z.  11  statt 
pal-ti  wohl  bal-ti. 


70, 5j  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  49 

S.  73f.,  enthält  einen  Hymnus  auf  Nabu,  der  in  seinem  letzten 
Teile  in  eine  Schilderung  des  festlichen  Auszugs  Marduks 
übergeht,  der  also  anscheinend  ein  Kultlied  aus  der  Neu- 
jahrsfeier darstellt. 

c)  KT  AR  Nr.  125,  ein  sehr  eigenartiges  Textfragmeut, 
worin  eine  große  Schar  von  Vögeln,  und  zwar  als  Zugehörige 
bestimmter  Götter,  handelnd  auftreten.  Da  Marduk  als  Götter- 
könig in  dem  Texte  die  Hauptrolle  zu  spielen  scheint,  auch 
Gaga  (Vs.  16,  Rs.  8),  ferner  Kingu  (Vs.  10)  und  Tiämat 
(Ys.  19,  Rs.  16)  darin  vorkommen,  könnte  man  daran  denken, 
daß  es  sich  um  eine  Art  Festspiel  ato  Neujahrsfest  handelte, 
bei  dem  der  Weltschöpfungsmythus  zugrunde  läge. 

d)  Eine  deutliche  Bezugnahme  auf  die  Neujahrsfeier  in 
Babylon  liegt  auch  vor  in  dem  von  PmCHES,  Proc.  Soc.  Bibl. 
Arch.  30  (1908),  80  ff.  unter  dem  Titel  „The  Legend  of  Me- 
rodach"  veröffentlichten  neubabylonischen  Text.  Es  wird  hier 
in  Kol.  D  gesagt:  „Die  Götter  insgesamt,  die  Götter  von 
[.  .  .  .],  von  Borsippa,  von  Kutha,  von  Kis,  und  die  Götter 
sämtlicher  Kultstädte,  um  „zu  fassen  die  Hände"  des  großen 
Herrn  Marduk,  kommen  nach  Babylon  und  ziehen  mit  ihm 
zum  Fest(haus)  {dkltu).  Der  König  bringt  vor  ihnen  eine 
Spende  {sirqii)  dar.  Am  6*«°  (?)  ^  Tage  bei  Hell  werden  kommen 
Anu  und  Enlil  aus  Uruk  und  Nippur,  um  „zu  fassen  die 
Hände"  Bels,  nach  Babylon,  und  ziehen  mit  ihm  in  Prozession 
nach  dem  Gebetshaus  (hU  ikrihi  bezw.  E-zür),  Gleich  (?) 
ihnen  kommen  auch  alle  großen  Götter  nach  Babylon.  Die 
Götter  alle,  die  mit  Bei  nach  dem  Gebetshause  ziehen:  einem 
König,  dessen  Heer  versammelt  (?)  ist,  gleicht  es."  —  Im 
selben  Texte  ist  eingangs  davon  die  Rede,  daß  Marduk  dem 
„Gefängnis"  sich  naht,  worinnen  die  „gefangeneu  Götter"  sich 
befinden  —  es  handelt  sich  um  das  Totenreich  —  und  im 
Anschluß  daran  von  einer  durch  Nergal  verkündeten  Drohung 


i)  AS  vielleicht  mit  dem  Lautwert  ses  zu  lesen  (vgl.  ziz  als  su- 
merische Lesung  von  as),  falls  nicht  vielmehr  in  as  eine  Verlesung 
für  die  Ziffer  VI  vorliegt.  Oder  ist  doch  bei  der  Lesung  asm  stehen 
zu  bleiben? 

Phü.-hist.  Klasse  1918.   Bd.  LXX.  5  4 


b<^ 


HtJNRicii  Zlmmern:  I/^^,  5 


Marduks  gegenüber  Enraesara,  daß  desseu  sieben  Kinder  als- 
bald vernichtet  worden  sollen,  auf  welche  Nachricht  hin  En- 
mesara  in  hiute  Wehklage  ausbricht.  Auch  weiterhin  han- 
delt der  leider  dann  /um  großen  Teil  nur  ganz  verstümmelt 
erhaltene  Text  noch  von  Marduk  und  Enmesara. 

Da  der  Schluß  des  Textes,  wie  oben  dargelegt,  nun  aber 
in  eine  Schilderung  des  Neujahrsfestes  in  Babylon  übergeht, 
so  liegt  es  nahe,  auch  diesen  mit  Enmesara  und  seinen  Kin- 
dern verknüpften  mythischen  Vorgang  kultisch  im  Jahres- 
lauf festgelegt  zu  denken,  wobei  dann  auch  noch  allerhand 
astronomisch-astrologische  Ausdeutungen  hineinspielen  werden.* 
Und  in  der  Tat  begegnen  wir  ja  auch  einem  „Weinen  im 
Monat  Tebet  für  Enmesara"  (hilutmn  sa  Tehet  ana  ^Enmesara) 
ZA  6,  243,  36;  desgleichen  Reisner,  Sum.-bab.  Hymn.  S.  146, 
35  ([«wj«  ^Enmesara  isdlclcan  hihUum)  und  ebenda  42  {[^E^n- 
mesara  ikkamü  ^Gula  ishim  hikUum).  So  wird  darum  auch 
der  Brüsseler  kultische  Text  aus  Warka  (Nr.  175),  über  den 
ich  ZA  ^2,  63 ff.  ausführlich  handle,  worin  von  Enmesaras 
sieben  Kindern  eingehend  die  Rede  ist,  für  eine  bestimmte 
Kultfeier  im  Jahre  berechnet  sein.  Zu  beachten  ist  dabei 
namentlich  auch,  daß  in  diesem  Brüsseler  Text  neben  En- 
mesara ebenso  Lugal-dul-azag  eine  besondere  Rolle  spielt,  wie 
auch  an  der  genannten  Stelle  ZA  6,  243,  36  unmittelbar  vor 
der  Feier  für  Enmesara  eine  solche  für  Lugal-dul-azag  auf- 
geführt wird.* 

e)  In  King,  Chronicles  conc.  Early  Babyl.  Kings  finden 
sich  mehrfach,  insbesondere  in  dem  „Religious  Chronicle" 
Nr.  35968,  Bezugnahmen  auf  das  babylonische  Neujahrsfest. 
Siehe  dazu  King,  Vol.  I  195 ff.;  2 27 ff. 


i)  Für  die  Z'amäww-Frage  kommt  übrigens  —  gegen  Pinches  a.  a.  0. 
und  Langdon,  Hist.  and  Rel.  Texts  36  —  dieser  Text  in  keiner  Weise 
in  Betracht,  da,  wie  Landsbeeger  richtig  gesehen  hat,  das  angebliche 
wiederholte  kaimänu  in  diesem  Texte  durchweg  nur  auf  einer  Ver- 
lesung von  PiNCHEs  für  sä  beruht 

2)  Beachte  ferner  auch  noch  das  oben  S.  9  Anm  5  zu  der  Enlil- 
hymne  mulu  nä-a  e-lum  mu-lu  nä-a  in  IV  ß  23   Nr.  i  Bemerkte. 


70,  5l  Zum  babylonischen  Neujahrsfest.   II.  5 1 

f)  Über  das  bei  den  Grabungen  der  Deutschen  Orient- 
Gesellschaft  1906/07  in  Assur  gefundene  „Neujahrsfesthaus" 
(hu  aklU)  Sanheribs  berichtet,  unter  Beigabe  von  A.bbildungen, 
Andrae  in  MDOG  Nr.  2>5  (iQo?)  S.  240".;  dazu  Delitzsch, 
ebenda  S.  34ff.  Vgl.  auch  die  Abb.  141  auf  Blatt  53  vor 
S.  93  bei  Andrae,  Festungsbauten  von  Assur,  Textband,  und 
ebenda  im  Tafelband  die  Stadtpläne  von  Assur  auf  Taf.  I 
und  III  mit  Einzeichnung  des  Festhauses. 

g)  Endlich  möchte  ich  hier,  ohne  mich  auf  die  schwie- 
rigen topogTaphisehen  Fragen  betreffs  der  örtlichen  Fest- 
setzung der  einzelnen  Heiligtümer  beim  babylonischen  Neu- 
jahrsfest, der  „Schicksalskammer"  (paraJc  simäte)  im  Dul-azag 
und  dem  „Gebetshaus"  (E-zür  bezw.  hlt  ikrihi),  auch  „Fest- 
haus" (hu  akiti)  genannt,  hier  einzulassen,  nur  auf  eine  ur- 
kundliche keilschriftliche  Grundrißdarstellung  zur  Topographie 
Babylons  hinweisen,  die,  seit  langer  Zeit  vorliegend,  jedoch, 
soviel  ich  sehe,  bisher  nicht  die  nötige  Beachtung  erfahren 
hat,  die  aber  wegen  des  darin  eingezeichneten  Arahtu-Kanals 
auch  für  das  babyionische  Neujahrsfest  eine  gewisse  Bedeu- 
tung hat.  Denn  am  Arahtu-Kanal  entlang,  eventuell  viel- 
leicht auch  geradezu  auf  diesem  selbst,  bewegte  sich  ja  die 
feierliche  Prozession  mit  dem  „Schiffs wagen"  bezw.  dem  Schiffe 
Marduks  am  Neujahrsfeste.^  Es  handelt  sich  um  die  im 
Berliner  Museum  befindlichen  Tontafelfragmente,  die  seiner- 
zeit BoRCHARDT  unter  dem  Titel  „Ein  babylonisches  Grund- 
rißfragment" veröffentlicht  hat  (SBAW  1888  V  S.  i29ff.). 
Der  Herausgeber  mußte  damals  von  einer  näheren  Bestim- 
mung des  Ortes,  auf  den  sich  dieses  Grundrißfragment  bezieht, 
ganz  absehen,  da  ihm  über  die  keilschriftlichen  Beischriften, 
die  sich  außer  den  Ziffern  der  Maßangaben  auf  den  Frag- 
menten noch  finden,  von  Winckler  damals  kein  sicherer 
Aufschluß  gegeben  werden  konnte.  Indessen  sind  die  Bei- 
schriften  des  kleineren   wahrscheinlich   einst   die   linke  obere 


i)  S.  dafür  insbesondere  die  Wädi-Brisa-Inschrift  Nebukadnezars 
A  V  igff.  =  B  Illa,  i  flf.  (Weissbach,  Wädi  Biisä  S.  18;  Langdox, 
Neubab.  Königsinschr.  S.  156). 

4* 


5-        Heinkk  u  Zimmkun:  /im   r.AUVLUN.  Nkitjahksfest.    Tl.      [70,5 

Ecke  bildpiulon  Fragnionts  hei  näherem  Zus(>hen  ju  /.inmlich 
einfacli  zu  lesen  und  zu  deuten.  Und  zwar  stellt  in  der 
oberen  „Mauer"  deutlioli'  '""' yi-ra-a\h]-tu»i  „Kanal  Arahtu", 
90  daß  also  keine  Mauer,  sondern  vielmehr  eben  dieser  KanaP 
vorliegt.  Es  handelt  sich  demnach  bei  diesem  Grundrißfrag 
ment  jedenfalls  um  den  Grundriß  einer  Gebäuliehkoit  in 
Babylon  und  zwar  einer  in  der  Nähe  des  Arahtu-Kanals, 
d.  h.  also,  da  wir  es  bei  der  komplizierten  Anlage  doch  wohl 
sicher  mit  einem  Palast  zu  tun  haben,  wohl  um  einen  Teil 
des  großen  Palastes  Nebukadnezars  bzw.  des  Palastes  eines 
früheren  Königs  an  derselben  Stelle.  Die  Gruppe  links, 
AN. ZA. KAR,  ist  natürlich  nicht,  wie  Winckler  damals  wollte, 
als  „Gott  Za-l;ar",  sondern  vielmehr  als  dimtu  „Pfeiler"  auf- 
zufassen. In  der  unteren  „Mauer"  ist  die  darin  stehende 
Gruppe  E  sarri  doch  wohl  als  iqii  sarri  „Wassergraben  des 
Königs"  zu  deuten,  so  daß  es  sich  also  auch  hier  nicht  um 
eine  Mauer,  sondern  um  einen  Kanal  ^  handeln  würde.  P^erner 
ist  der  zwischen  den  beiden  „Mauern"  oder  Kanälen  befind- 
liche, sich  nach  links  zu  verbreiternde  Kaum  keine  „Straße", 
wie  BoRCHARDT  meinte,  vielmehr  gemäß  der  darin  stehenden 
Beischrift  eqil  hltä^-nu  „Feld  des  Palastes"  ein  zu  dem  Palast- 
komplex gehörendes  freies  Stück  Feld. 

i)  So  namentlich  auf  dem  Original  selbst  und  auf  der  vom  Ber- 
liner Museum  ausgegebenen  Photographie  klar  zu  sehen,  aber  selbst 
in  der  Wiedergabe  bei  Borchakdt  noch  ziemlich  deutlich  zu  erkennen. 

2)  Ähnlich  wird  der  Euphrat  und  ein  Kanal  gezeichnet  auf  dem 
Plan  von  Sippar  CT  22,  49:  50644.  Der  ebenda  veröffentlichte  Plan 
73319  bietet  übrigens  nicht,  wie  King  in  der  Einleitung  annimmt,  einen 
Plan  von  Babylon,  speziell  von  Esagil  und  von  der  Prozessionsstraße 
Ai-ibur-säbü,  vielmehr,  da  ja  blt  '^En-Ul  beigeschrieben  ist,  eher  einen 
solchen  von  Nippur  und  dessen  Haupttempel. 

3)  Aber  gewiß  nicht  um  den  bekannten  ,, Königskanal". 

4)  Das  Zeichen  als  liit^  nicht  als  tt,  aufzufassen,  läßt  sehr  wohl 
der  gemischt  assyrische  und  babylonische  Stil  der  Schrift  in  diesen 
Beischriften  zu.  Dieser  Schrifttypus  scheint  übrigens  in  etwas  ältere 
Zeit,  als  die  neubabylonische,  zu  weisen,  etwa  in  die  Sargonidenzeit. 
So  ja  auch  bereits  Winckler  a,  a.  0. 


Bericlite  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologisch-liistorisclie  Klasse 

70.  Band.    1918.    6.  Heft 


Karl  Brngmann 

Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung 

nach  Maßgabe  der  seelischen  Grundfunktionen 

in  den  indogermanischen  Sprachen 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1918 


Vorgetraj^en  für  die  Berichte  am  7.  Dezember  iqi8. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  11.  Dezember  1918. 

Dructirtertig  erklärt  am  28.  Januar  1919. 


r. 

Die  Frage,  was  Satzlehre  sei  und  wie  sie  vom  Stand- 
punkt sprachgeschichtliclier  Betrachtung  aus  am  zweckmäßig- 
sten darzustellen  sei,  ist  seit  einem  halben  Jahrhundert,  na- 
mentlich seit  W.  Scherer's  Aufsatz  "Schriften  zur  deutschen 
Grammatik  lU",  Ztschr.  f.  d.  österr.  Gymn.  29  (1878)  S.  logif., 
nicht  von  der  Tagesordnung  verschwunden.  Sie  hier  von 
neuem  aufzurollen  und  zu  den  verschiedenen  geäußerten  An- 
sichten Stellung  zu  nehmen,  ist  nicht  meine  Absicht.  Nur 
habe  ich,  damit  die  nachfolgenden  Ausführungen  nicht  miß- 
verstanden werden,  das  folgende  dazu  zu  bemerken. 

Die  bis  jetzt  angestellten  Erörterungen  über  die  beste 
Art  der  Behandlung  des  Satzes  gehen  im  wesentlichen  von 
dem  formalen  und  dem  logischen  Verhältnis  der  Teile  des 
Gesprochenen  aus,  die  Darstellung  der  Syntax,  der  Syntax 
einer  Sprache  oder  einer  Sprachengruppe,  soll,  um  einen  Aus- 
druck von  Behaghel  (Synt.  des  Heliand  p.  VIII)  zu  gebrau- 
chen, die  Glieder  der  Rede  an  der  Arbeit  zeigen,  den  Zu- 
sammenhang aufweisen,  in  welchen  sie  sich  einfügen.  Das 
betrifft  aUes  die  Form  der  Sätze.  Nun  verkennt  aber  nie- 
mand, daß  die  Form  des  Satzes  sehr  häufig  nicht  dem  ent- 
spricht, nicht  das  widerspiegelt,  was  beim  Sprechenden  der 
Grundtrieb  für  seine  sprachliche  Äußerung  gewesen  ist.  Ich 
wiU  z.  B.,  daß  einer  mit  mir  gehe,  kleide  meine  Aufforderung 
an  ihn  aber  in  die  Form  des  Fragens:  du  liommst  doch  mit? 
oder  kommst  du  nicht  mit?.  Es  ergibt  sich  somit  die  Frage 
an  die  wissenschaftliche  Grammatik,  speziell  an  die  mit  der 
Psychologie  Hand  in  Hand  gehende  Satzlehre:  welche  Mittel 
der  Satzgestaltung  stehen  oder  standen  einer  Sprache  zu  Ge- 
bote, um  die  mannigfaltigen  seelischen  Grundfunktionen,  die 
zum  Sprechen  drängen,  zum  Ausdruck  zu  bringen? 

PMl.-Mst.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  6  I 


2  Kari,  Riuiomann:  |7<^,  ^» 

Divs  Seelenleben  des  MtMischon  in  seinem  seh  wer  ühcr- 
sehbureu  Heiclituni  an  Enmtindnntjjen  nnd  Vorstellungen  strebt 
ja  in  sehr  versehiedenen,  «lie  Unterschiede  der  seelisciien  An- 
triebe so  i^nt  als  nir)svlich  ansdrüekcnden  Satzgestal tnn<^en  sidi 
verständlieh  darzustt'lh'n.  Dnreh  die  Sjirache  äußert  der 
Menseh  Lust-  und  Unlustempfindungen,  Wünsche,  Bitten,  Be- 
fehle, Beschwerden,  er  weist  Vorstellnngen  und  Ansinnen  al), 
warnt,  droht,  verwünscht,  bekundet  Zweifel,  tut  Fragen  und 
beantwortet  Fragen,  stellt  Behauptungen  auf,  urteilt  über  Vor- 
gänge, Gegenstände  und  Personen  u.  dgl.  mehr,  und  das  alles^ 
jedes  in  seiner  seelischen  Eigenart,  ringt  nach  möglichst  un- 
mißverständlicher Darstellung  durch  die  Form  des  Satzes. 
Wie  verhält  sich  da  entwicklungsgeschichtlich  die  jeweilige 
Satzform  zu  tler  psychischen  Grundstimmung,  aus  der  sie 
hervorgegansfen  ist? 

OD  O 

Rücksicht  o-euommeu  wird  in  der  wissenschaftlichen 
Grammatik  auch  auf  diese  Seite  <ler  Satzgeschichte,  aber  in 
unseru  Satzlehren,  wie  sie  nach  äußeren,  formalistischen  Be- 
ziehungen der  Teile  der  Rede  aufgebaut  sind,  doch  nur  neben- 
her, bei  gerade  gegebener  Gelegenheit,  und  nicht  so,  daß  man 
alles,  was  zu  einem  Satz  als  dem  üblich  gewordenen  Aus- 
drucksmittel einer  bestimmten  seelischen  Gruudfunktion  ge- 
hört, beisammenhat  und  überschaut.  Was  z.  B.  einen  Satz 
charakterisiert,  der  einer  Wunschregung  entspringt,  findet  sich 
zerstreut  in  der  Moduslelire,  der  Lehre  vom  Verbum  infinitum, 
der  Lehre  von  den  Partikeln,  Interjektionen,  Konjunktionen, 
der  Lehre  von  der  Wortstellung  und  noch  sonstwo.  Am 
häufigsten  noch  wird  in  unsem  Grammatiken  dafür  gesorgt, 
daß  mau  in  einem  überschauen  kann,  was  zum  Ausdruck  einer 
Frage  gehört.  Doch  muß  auch  hier  immer  noch  dieses  oder 
jenes  zur  A'ervollstäudigung  aus  andern  Kapiteln  der  Syntax, 
z.  B.  bei  uns  Deutschen  aus  dem  über  die  Wortstellung^ 
herbeigeholt  werden.  Manches  aber,  was  für  die  Bestim- 
mung der  zu  Grunde  liegenden  Seelenstimmung  wichtig  ist, 
bleibt  darum  überhaupt  unberührt,  weil  die  Form,  in  der  sich 
die  betreffende  seelische  Stimmung  ausdrückt,  im  allgemeinen 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzge.staltung  usw.  3 

dieselbe  ist,  die  auch  für  andere  Seelenreguugen  gilt,  und  die 
etwaige  Besonderheit  der  Satzbetonung  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen wird,  z.  B.  die  energische  Versicherung  einer  Tatsache 
im  Kleid  der  Frage,  wie  hin  ich  etiva  dein  sMavc?,  iver  lann 
wissen,  tvann  er  sterhen  ivird?. 

Die  mannigfaltigen  seelischen  Gruudmotive  des  Sprechens 
haben  von  allem  Anfang  an  die  Satzgestaltung  nicht  nur  be- 
einflußt, sondern  die  Verschiedenartigkeit  der  Satzformen  be- 
ruht letzten  Endes  ganz  auf  ihnen.  Müßte  man  also  nicht 
erwarten,  daß  die  entwicklungsgeschichtlich  vorgehenden 
Grammatiker  das  Haupteinteilungsprinzip  für  die  Satzlehre 
gerade  von  hier  genommen  hätten  und  nähmen?  Aber  wer 
tut  das? 

In  der  Theorie  ist  selbstverständlich  längst  zugegeben, 
daß  die  Satzarten  auch  von  dieser  Seite  her  sich  betrachten 
und  darstellen  lassen,  wie  auch  öfters  schon  in  der  Sprach- 
wissenschaft von  ihren  geschichtlichen  Wechselbeziehungen 
die  Rede  gewesen  ist.  S.  z.  B.  Th.  Imme  Die  Fragesätze  nach 
psychologischen  Gesichtspunkten  eingeteilt  und  erläutert  I 
(Cleve  1879)  S.  8 f.,  W.  Wündt  Völkerpsych.  i"-,  2,  2 54 ff.  (der 
'Ausrufungs-',  'Aussage-'  und  'Fragesätze'  unterscheidet  und 
S.  262 f.  auch  den  Wechselbeziehungen  einen  kurzen  beson- 
deren Abschnitt  gewidmet  hat)  oder  Rick.  M.  Meyer 
Germ.-roman.  Monatsschr.  1913  S.  644  (der  die  Syntax 
einteilt  in  i)  die  Lehre  von  den  Satzformen,  d.  h. 
äußere  Einteilung  der  Sätze,  and  2)  die  Lehre  von  den 
Satzarten,  d.  h.  innere  Einteilung  der  Sätze,  mit  Unter- 
scheidung von  'Aussagesätzen',  Tragesätzen'  und  'Heische- 
sätzen'). In  der  Praxis  dagegen,  d.  h.  in  der  Darstellung  der 
Geschichte  einer  bestimmten  Sprache,  merkt  man,  wie  gesagt, 
von  dieser  Betrachtungsweise  der  Satzarten  wenig.  Die  meisten 
Grammatiken  geben  überhaupt  nichts  Zusammenhängendes  über 
diese  entwicklungsgeschichtliche  Seite  des  Satzes.  Und  wo 
sie  etwas  darüber  bringen,  bleibt  es  doch  nur  bei  Andeutun- 
gen, wie  z.  B.  bei  Schmalz  in  seiner  Lateinischen  Syntax^ 
S.  331  f.  467  oder  in  Behacihel's  Heliandsyntax  S.  237, 


4  Kahl  Bkuom ANN:  l7o. '> 

2. 

Woher  diese  Vernachliissigung  —  so  wird  man  es  nenuon 
dürfen  —  kommt,  ist  nicht  schwor  zu  sehen.  Der  Ursachen 
sind  mehrere.  Insbesondere  kommen  zwei  Schwierij^keiten  in 
Betracht,  die  sich  der  Forscliiing,  noch  niclir  aher  der  Darstel- 
lung auf  Schritt  und  Tritt  entgegenstellen. 

i)  Die  seelischen  Regungen,  die  Stimmungen  und  Gefühle, 
die  zu  sprachlichen  Auß(Mungon  tndhen,  sind  so  mannigfaltig 
und  oft  in  sich  so  kompliziert,  daß  daraufhin  eine  sachge- 
mäße und  zweckentsprechende  Einteilung  der  Satzarten,  auch 
wenn  man  sich  auf  Berücksichtigung  der  in  den  Sprachen 
konventionell  gewordenen  Ausdrucksweisen  beschränken  will, 
sehr  schwer  zu  erzielen  ist.  Ein  Satz  ist  ja  oft  niclit  Aus- 
druck eines  einfachen  Gefühls-  oder  VorstcUungsverlaufs,  son- 
dern Ergebnis  eines  mehr  oder  weniger  verflochtenen  psy- 
chischen Prozesses. 

Hierauf  hat  von  den  Sprachforschern  am  nachdrücklichsten 
G.  VON  DER  Gabei.entz  hingewiesen  in  dem  Buch  Die  Sprach- 
wissenschaft S.  315.  Nachdem  er  eine  Klassifizierung  der  Satz- 
arten nach  Maßgabe  der  psychischen  Antriebe  versucht  hat, 
sagt  er,  man  befinde  sich  hier  mitten  drinnen  in  dem  üppigen 
Gewirre  psychologischer  Möglichkeiten.  „Wir  müssen  darauf 
gefaßt  sein,  jetzt  die  eine  oder  andere  mitteilende  Redeweise 
in  ausrufendem  Sinne,  jetzt  diese  oder  jene  Art  des  Ausrufes 
statt  der  Mitteilung,  der  Frage  oder  des  Befehles  angewandt 
zu  sehen.  Es  ist  denkbar,  daß  im  Leben  einer  Sprache  die 
ausrufenden  Redeformen  die  mitteilenden  geradezu  verdrängen, 
ersetzen,  und  so  mag  in  vielen  Fällen  die  Kunst  der  Klassi- 
fikation überhaupt  versagen,  weil  der  seelische  Tatbestand 
nicht  festzustellen  ist,  vielleicht  weil  er  an  sich  ein  unsicherer, 
gemischter  war". 

2)  Die  in  Rede  stehende  Aufgabe  kann  am  ehesten  bei 
lebenden  Sprachen  gelöst  werden.  Am  leichtesten  natürlich 
so,  daß  der  Forscher  sein  eigenes  Sprechen  beobachtet.  Des 
Sprachgenossen  Rede,  die  an  sein  Ohr  kommt,  muß  er  inbe- 
zug    auf   die    ihr   zu   Grunde  liegenden   Impulse   immer  erst 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  5 

interpretieren,  und  dabei  muß  er  den  Maßstab  zum  Verständ- 
nis Ton  seinem  eignen  Empfinden  nehmen.  Er  läuft  aber 
häufig  Gefahr,  falsch  zu  interpretieren,  weil  so  manche  Satz- 
^»•estaltung,  die  auf  einer  Umformung  der  dem  Grundtrieb  ent- 
sprechenden Satzgestaltung  beruht,  in  dem  Maß  konventionell 
geworden  ist,  daß  die  wahre  Seelenstimmung  des  Sprechenden 
nicht  zu  erkennen  ist. 

Ist  man  nun  auf  geschriebene  Rede,  also  nicht  auf  die 
Sprache  selbst,  sondern  ihr  in  so  vielen  Hinsichten  so  dürf- 
tif^es  Abbild  ano-ewiesen,  so  häufen  sich  die  Schwierigkeiten. 
Man  entbehrt  hier  der  wichtigsten  Hilfsmittel  zu  sicherer 
Interpretation,  der  Hilfsmittel,  die  dem  lebende  Sprache  Ver- 
nehmenden in  den  meisten  Fällen,  die  Zweifel  aufkommen 
lassen  können,  das  Richtige  ohne  weiteres  an  die  Hand  geben: 
es  fehlt  die  Gesprächssituation,  die  lebendige  Anschauung 
dessen,  worüber  gesprochen  wird,  es  fehlen  die  die  Rede  be- 
gleitenden und  sie  erläuternden  Gebärden,  und  in  der  Regel 
ist  auch  ganz  unbekannt  die  Satzbetonung  mit  ihrer  aus  den 
Grundstimmungen  fließenden  und  diese  widerspiegelnden  und 
erläuternden  Mannigfaltigkeit.  Wo  der  Erforscher  des  leben- 
digen Wortes  auf  Grund  dieser  Beihilfen  den  psychischen 
Hintergrund  sofort  klar  erfaßt,  steht  ihm  der  auf  das  Schrift- 
bild Angewiesene  etwa  ebenso  benachteiligt  gegenüber,  wie 
jemand,  der  auf  Grund  von  Bildern  und  Plänen  den  Verlauf 
einer  Schlacht  erzählen  soll,  zu  dem  steht,  der  den  Kampf 
selbst  aus  der  Nähe  von  einem  den  Überblick  gut  ermöglichen- 
den Standort  aus  angeschaut  hat. 

3- 

Sind  nun  die  in  §  2  angedeuteten  Schwierigkeiten  so 
groß,  daß  die  entwicklungsgeschichtliche  Sprachwissenschaft 
darauf  verzichten  muß,  ein  ins  einzelne  ausgeführtes  Bild  von 
der  Geschichte  der  Satzarten  nach  Maßgabe  der  psychischen 
Grnndfunktioneu  zu  entwerfen? 

Mit  dieser  Frasre  hat  sich  von  der  Gabelentz  a.  a.  0. 
S.  308  ff.    eingehend    beschäftigt.      Seinem    theoretisch    ange- 


6  Kaki,  BkrcMAJiN:  f7f>, '> 

8telltr>n  Vorsnoh,  Hif  Siitzgostaltiinj2foii  uutor  jenem  (lesichts- 
punkt  zu  klassifizieren,  spricht  er  selber  die  praktische  Ver- 
wertliarkoif  nl>,  er  hält  es  nicht  für  an<;iln;j;i;j^,  liierniich  die 
Sat/lehro  ir<:joud  einer  Sprache  darzustellen,  und  er  schließi 
das  fjanzc  Kapitel  mit  der  Hemerkuug:  „Fruchtlos  aber  war  die 
Untersuchung,  wenn  anders  sie  gelungen,  darum  doch  nicht. 
Sie  hat  zur  Entwicklung  einer  Keihe  von  HegrilFen  geführt,  mit 
denen    die  Sprachwissenschaft    fort   und   fort  hantieren  mufV. 

Auch  Paui-  Prinz.*  133  Fußn.  1  lehnt  es  ausdriicklicb 
ab,  daß  die  psychischen  Grundstimnninsceu  einen  Einteiluntrs 
grund   für  die  Satzarten  abgeben  könnten. 

Ganz  so  ungünstig  liegen  nun  meiner  Ansicht  nach  die 
Verhältnisse  doch  nicht,  daß  gänzlicher  Verzicht  am  Platz 
wäre.  Mau  darf  nur  nicht  die  seelischen  Grundfunktionen  zu- 
nächst in  abstracto  ohne  Rücksicht  auf  tatsächlich  vorliegen- 
den sprachlichen  Ausdruck  klassifizieren  wollen,  um  dann  nach 
einem  so  gewonnenen  Schema  die  sprachlichen  Erscheinungen 
einzuteilen  und  ihre  geschichtliche  Entwicklung^  zu  verfolgen. 
Vielmehr  hat  man  zuzusehen,  was  die  Sprache  selbst  in  der 
Vielheit  ihrer  Ausdrucksmittel  an  die  Hand  gibt  für  eine 
psychologische  Einteilung  der  Satzarten,  und  dies  als  Anhalts- 
punkte zu  benutzen,  um  zu  einer  Gliederung  des  ganzen  Stoffs 
zu  kommen.  Für  eine  ganze  Reihe  von  einfacheren  und  kom- 
plizierten seelischen  Autrieben  zum  Sprechen,  auch  für  feinere 
Nuancen,  zeigen  unsere  idg.  Sprachen  teils  von  uridg.  teils 
von  jüngerer  Zeit  her  bestimmte  mehr  oder  weniger  konvoi- 
tionell  gewordene  satzbildende  Ausdrucksweisen,  von  denen 
wir  annehmen  dürfen,  daß  sie  seit  der  Zeit,  in  der  sie  in 
unseren  Gesichtskreis  treten,  gerade  diesen  und  keinen  andern 
grundfunktionellen  Bedeutungsgehalt  gehabt  haben,  z.  B.  die 
sogen.  Imperativformen.  Andere  Formen  zeigen  seit  ältester 
Zeit  zwar  psj^chologisch  mehrseitigen  Gebrauch,  z.  B.  der  Op- 
tativus  als  Wunschmodus  und  als  sogen.  Potentialis;  aber  wir 
vermögen  dann  solche  Sinnesverschiedenheiten  meistens  doch 
auf  weite  Strecken  hin  mehr  oder  minder  deutlich  auseinander- 
zuhalten. 


70, 0]         Veuschif:dknheitkn  dek  Satzgestaltung  usw.  7 

Berflcksichtigea  wir  solche  durch  die  Sprache  selbst  an 
die  Hand  gegebenen  Tatsachen,  so  ist  zwar  7a\  keinem  psycho- 
logisch in  sich  geschlossenen  System  zu  kommen,  zu  keiner 
Gliederung  des  Sprachstoffs,  die  der  Gliederung  genau  ent- 
spricht, welche  der  die  Grundlagen  des  Vorstellens,  Fühlens 
und  Denkens  untersuchende  Psychologe  für  sich  vornimmt. 
Es  ist  aber  immerhin  eine  wissenschaftlich  begründete  Über- 
sicht zu  gewinnen,  bei  der  das  sachlich  Zusammengehörige 
jedesmal  zusammensteht.  Und  nur  so  ist  d;inn  auch  zu  er- 
warten, daß  uns  Aufklärung  über  mancherlei  in  der  Sprach- 
geschichte zuteil  wird,  was  bei  dem  üblichen  nur  gelegent- 
lichen Hinschauen  auf  die  Grundmotive  übersehen  oder,  wenn 
«s  auch   ins  Auge  fällt,   doch  nicht  tief  genug    erfaßt   wird. 

4- 

Die  hauptsächlichsten  Erkenntnismittel,  die  uns  die  idg. 
Sprachen  für  unsern  Zweck  bieten,  habe  ich  bereits  genannt: 
<lie  grammatische  P"'orm  des  Einzelworts  und  des  Satzes  in 
Zusammenhang  oder  ohne  Zusammenhang  mit  der  Bedeutung 
des  Einzelworts,  die  Satzbetonung,  die  Gesprächssituation  und 
<lie  die  Rede  begleitenden  Gebärden.  Aber  nur  für  die  Inter- 
pretation des  gesprochenen  und  gehörten  Satzes  sind  sie  alle 
vier  unmittelbar  zu  benutzen. 

Im  einzelnen  mag  dazu  noch  folgendes  bemerkt  sein. 

i)  In  vielen  Fällen  kann  uns  mit  größerer  oder  geringerer 
Sicherheit  leiten  die  grammatische  Form  des  Wortes  oder 
des  Satzes  auch  ohne  die  Beseelung,  welche  die  Satzbetonung 
der  Rede  verleiht. 

Eindeutig  sind  so  gut  wie  immer  z.  B.  die  Imperativ- 
formen, mögen  sie  für  sich  allein  oder  im  Zusammenhang 
mit  andern  Elementen  einen  Satz  ausmachen.  An  sich  selbst 
gewähren  sie  nur  insofern  keinen  genaueren  Einblick  in  die 
Seelenstimmung  des  Sprechenden,  als  sie  von  jeher  in  der 
ganzen  Stufenleiter  von  der  flehenden  Bitte  bis  zum  schroffen 
Befehl    verwendet    worden    sind    und    noch    heute    verwendet 


8  K.\UL  Bbuumann:  [7^1  f^ 

wt'rden.  *^  Entspn'cheud  weist  eine  indikativische  JViiterital- 
forni  iu  der  Kegel  auf  Mitteilung,  Bericht,  Ei/iihluug,  also 
auf  Aussagesat/.eharakter.  Anderseits  sind  Sätze  /..  B.  mit 
Formen  des  Pronomens  *5''o-,  auch  abgesehen  von  lUni  üe- 
braueh  als  Indetiiiitum,  i'a.st  in  allen  idg.  Sprachen  durch  das 
Pronomen  seihst  iiibe/.ug  auf  das  (irundmotiv  des  Sprechens 
nicht  genügend  gekennzeichnet:  z.  B.  wie  viel  hast  du  verloren 
kann  ebenso  gut  als  Ausruf  wie  als  Frage  gemeint  sein.  Der 
Indikativ  des  Präsens  kaim  in  Sätzen  erscheinen,  (h'c  die  ver- 
schiedensten Gruttdstimmungen  ausdrücken;  vornehnilicli 
kommt  er  vor  in  Aussage-,  Ausruf-,  Aufforderun g.s-  und  Frage- 
sätzen. Ebenso  kann  ein  Vokativ  vielerlei  sein:  Anruf,  Aus- 
ruf, Aufforderung,  Warnung,  Drohung  u.  dgl.  mehr. 

Die  Wortstellung  unterstützt  oft  das  Verständnis.  Z.  B. 
wi^  teuer  das  ist,  für  sich  allein  gesagt,  wird  man  )mr  als 
Au.sruf  verstehen  fwährend  wie  teuer  ist  das  sowohl  Ausruf 
als  auch  Frage  sein  kann). 

Viel  häufiger  noch  ist  es  die  ganze  materielle  Be- 
deutung eines  Wo-rtes  oder  einer  Wortgruppe,  die  die  Grund- 
stimmung erkennen  läßt.  Viele  Interjektionen  sind  in  dieser 
Beziehung  eindeutig,  wie  bei  uns  etwa  pfui,  owch.  Im  älte- 
ren Griechisch  konnte  ein  Satz  mit  {iri  nur  so  verstanden 
werden,  daß  der  Sprechende  sich  gegen  eine  Vorstellung  in- 
nerlich wehrt  (§  12). 

Schließlich  darf  in  diesem  Zusammenhang  auch  noch  die 
Wiederholung  erwähnt  werden,  die  durch  gehobenes  Gefühl 
des  Sprechenden  veranlaßt  wird,  wie  ei  ei,  ach  ach,  geh  geh,, 
lat.  age  age,  arma  arma^),  Italien,  subito  suhito  usw.   Vgl.  Verf. 

i)  Das  voluntative  Bedeutungselement  der  Imperativform  kann 
freilich  auch  ganz  im  Hintergrund  bleiben,  namentlich  wenn  man  nur 
eine  Bedingung  für  etwas  ausdrücken  will,  wie  lass  dich  den  teufel  hei 
einem  haare  fassen,  and  du  bist  sein  auf  ewig,  ahd.  Otfr.  3,  20,  155 
leset  allo  huah,  ni  findet  ir  =  'wenn  ihr  (auch)  alle  Bücher  lest,  so 
Ändet  ihr  nicht'  f%  9). 

2)  Ovid.  Met.  12,  241  certatiffique  omnes  tuio  ore  arma  arma  lo- 
qnwüur,  vgl.  mhd.  wäfena  uüfen. 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  9' 

Grundr.  2^,  i,  46  f.,  K.  Stiebeling  Stilist.  Untersuch,  über 
Gottfried  vou  Straßburg,  Halle  1 905,  S.  1 7  ff.,  J.  Ae.  Wartena 
De  geminatione  figura  rhetorica  omnibus  exemplis  illustrata,. 
quae  e  fabulis  Plautinis  et  Terentianis  afferri  possunt,  Gro- 
ningen  19 15.  — 

In  allen  solchen  Fällen  vermag  also  auch  schon  das  ge- 
schriebene Wort  ohne  Beigabe  von  Akzent-  und  sonstigen 
Lesezeichen  die  richtige  Interpretation  an  die  Hand  zu  geben 
oder  wenigstens  vor  gröberen  Mißverständnissen  zu  schützen. 

2)  Noch  wichtiger  ist  die  Satzbetonung.  Diese  beruht 
bekanntlich  auf  dem  Zusammenwirken  verschiedener  Faktoren. 
Eine  wesentliche  Rolle  spielt  die  Ordnung  und  Distance  der 
musikalischen  Töne,  der  Tonfall  oder  die  Satzmelodie.  Dazu 
kommt  der  Grad  der  Exspirationsstärke,  der  Nachdrucks- 
akzent. Auch  sind  dabei  für  die  Interpretation  oft  nicht  gleich- 
gültig Verschiedenheiten  im  Tempo  des  Sprechens,  oder  ob 
Artikulationssilben  legato  oder  staccato  gesprochen  werden. 
Überdies  die  Stellung  der  Sprachwerkzeuge,  wie  sie  von  ge- 
wissen Reflexbewegungen  und  der  ethischen  Gegenwirkung- 
gegen  sie  (z.  B.  Unterdrücken  von  Weinen  oder  Lachen,  Be- 
herrschung des  Luftstroms  beim  Stöhnen)  abhängig  ist.  AUes 
das  nuanciert  die  Satzakzeutuation  ununterbrochen  und  bringt 
im  Zusammenwirken  die  seelische  Grundstimmung  gewöhnlich 
ebenso  deutlich  zu  Tage,  als  wenn  sie  der  Sprechende  eigens 
durch  ein  sie  materiell  bezeichnendes  Wort  kundgibt:  man 
vergleiche  etwa  ich  wundere  mich  über  ihre  Schönheit  mit  wie 
schön  sie  ist!. 

Das  Bedeutsamste  ist  die  Modulation.  Sie  ist  nicht  nur 
Mithilfe  zur  Unterscheidung,  sondern  oft  auch  das  einzig  Un- 
terscheidende (sofern  wir  vou  den  Hilfsmitteln  der  Gesprächs- 
situatiou  und  der  begleitenden  Geste  absehen),  vgl.  z.  B.  ivie 
teuer  ist  das  als  Ausruf  und  als  Frage,  und  sie  läßt  oft  auch 
feinste  Abschattungen  der  Stimmung  genau  hervortreten. 
Freilich  schafft  sie  dem  Satz  nicht  immer  Eindeutigkeit. 
Z.  B.  Jcommst  du  mit?  kann  in  gewissen  Gesprächssituationen 
bei  gleichem  Tonfall  sowohl  als  Ja-Nein-Frage  Avie  auch  als. 


fO  K.viJi,  Hiu!c,mann:  l7^',<> 

Aufforderung  gciueiut  sein.  Ich  bekomme  kaff'r,  zum  Kollucr 
gesprochen,  ist  Auffordorun«^,  und  in  gleicher  Weise  zu  einem 
neben  mir  sitzenden  (Just  auf  dessen  Frage,  was  ich  mii-  be- 
stellt habe,  geäußert,  ist  es  einfacher  Aussagesatz.  J 

Die  Exspirationsstärke,  wenn  sie  sich  auf  den  gesamten  I 
Satz,  nicht  bloß  auf  eine  Einzelheit  in  ilim,  erstreckt,  gibt  im 
ganzen  genommen  mehr  von  der  Stärke  des  Impulses  Kunde, 
der  einen  zu  der  Äußerung  veranlaßt  hat,  als  von  seiner  spe- 
zifischen Art.  Man  betont  gewisse  Aussagen  {das  ist  nähr), 
Ausrufe  i^ivie  (]id!),  Wünsche  {kam'  er  doch  noch!),  Aufforde- 
rungen [laß  das  sein)  usw.  das  eine  Mal  mehr,  das  andere 
Mal  weniger  energisch.*)  Doch  kann  auch  diese  Verschieden- 
heit dem  Verstehen  der  besonderen  Art  des  Grundtriebs  dienen. 
Z.  B.  bei  oh  du  herijehst? !  oder  gehst  du  her'::'.',  in  eri-egter 
Stimmung  gesprochen,  kennzeichnet  der  größere  Nachdruck 
<ien  Satz  leicht  als  aus  Aufforderungsabsicht  geboren  gegen- 
über etwa  von  oh  er  heute  noch  kommt r'  oder  ist  die  zeitumj 
schon  da?,  was  beides  immer  nur  eine  einfache  Frage  (Ja- 
Nein-Frage)  sein  wird.  So  zeigen  auch  die  in  Frageform  ge- 
kleideten Ausrufe  des  Unwillens,  der  Entrüstung,  etwa  ueißt 
du  das  wirklich  nicht?.',  du  begreifst  das  immer  noch  nicht?.', 
«ine  stärkere  Exspiration  als  die  gewöhnliche  Frage.  Vgl.  die 
hierauf  bezügliche  Skala,  die  Imme  Die  Fragesätze  2,  31  für 
die  Fragesätze  im  Deutschen  aufstellt,  im  allgemeinen  aber 
über  das  Exspiratorische  der  Betonung  auch  W.  Reichkl 
Von  der  deutschen  Betonung  (Jena   i888).^j 

Wie  blutwenig  ist  nun  das,  was  wir  in  allen  diesen  Be- 
ziehungen von  den  nur  zu  lesenden,  nicht  mehr  zu  hörenden 

i)  Hervorhebung  bloß  einzelner  Glieder  eines  Satzes  deutet  in 
der  Regel  nur  darauf  hin,  daß  der  Sprechende  dem  betreffenden  Be- 
griff eine  besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet  wissen  möchte,  /..  B. 
komm  hierher,  gib  es  mir,  fähr  heim. 

2)  Versuche,  die  traditionelle  Satzbetonung  des  Neuhochdeutschen 
genauer  graphisch  darzustellen,  sind  schon  mehrfach  gemacht  worden. 
Ich  verweise  auf  Fr.  Pompk  Die  Laut-  u.  Akzentverhältnisse  der  Scho- 
kauer  Mundart,  Leipzig  1907,  S.  71  ff.  und  R.  Bllmel  Einführung  in  die 
Syntax,  Heidelberg  1914,  S.  213  tf. 


70, 6]         Verschikdenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  i  i 

Sprachen  der  Vergangenheit  wissen.  Wie  wenig  ist  von  dem, 
was  an  exspiratorischeu  und  rhythmisch-melodischen  Eigen- 
schaften dem  lebendigen  Wort  anhaftet,  in  der  Schrift  sym- 
bolisiert! Man  denkt  da  natürlich  zunächst  an  die  'Interpunk- 
tionszeichen' genannten  Lesezeichen,  die  ja  nicht  nur  Kenn- 
zeichnung von  Satzgrenzen  sind  oder  von  logischen  Beziehun- 
o'en,  in  denen  zusammengehörige  Sätze  zueinander  stehen, 
sondern  auch  Hinweise  auf  die  psychische  Grundfunktion  des 
Satzes.  Bei  den  Ausrufezeichen  usw.  sehen  wir  —  hat  einmal 
ein  AVitzbold  gesagt  —  nur  Glockenstricke  von  Kirchtürmen 
bammeln,  von  den  Klängen  der  Glocken  aber  vernehmen  wir 
nichts.  Bei  uns  Deutschen  sind  .'  und  .^  in  Übung,  auch  .'/ 
und  '^?  sowie  ? '.  und  .'?.  Aber  im  Gebrauch  herrscht  wenig 
Übereinstimmung,  und  wie  wenig  wird  mit  diesen  Zeichen 
erreicht,  wenn  es  auf  feinere  Unterschiede  in  den  Grundstim- 
mungen ankommt !\)    Was  bei  den  anderen  Indogernianen  in 

i)  Das  Ausrufezeichen  setzen  manche  hinter  beliebige  Interjekti- 
onen, beliebige  Vokative,  beliebige  Imperative,  mir  um  deren  Wort- 
charakter anzudeuten,  wo  er  durch  den  Zusammenhang  nicht  klar  ge- 
nug hervortritt,  aber  auch  ohne  das.  Allgemeiner  üblich  ist  seine  An- 
wendung hinter  sogen.  Satzfragmenten  (^vgl.  §  5,  i),  die  zwar  keine  von 
jenen  Wortarten  enthalten,  aber,  ohne  es  durch  sich  selbst  auszusagen, 
aus  Willensregungen  hervorgegangen  sind  und  sie  ausdrücken  sollen, 
z.  B.  hierher!  =  l:omm  hierher.  Eingeschränkter  ist  der  Gebrauch  von  .', 
um  auf  irgend  etwas  in  der  geschriebeneu  Rede  die  besondere  Auf- 
merksamkeit des  Lesers  zu  lenken  (wo  auch  Unterstreichung  bezieh. 
Sperrdruck  üblich  ist),  z.  B.  Gerh.  Hauptmann  Der  Ketzer  von  Soana 
(Berlin  191 8)  S.  113  Er  hatte  den  Stolz  des  Priesters  noch  keineswegs  ab- 
(fcsf reift:  es  ist  dies  der  xvildeste  und  unbeugsamste!  und  dieser  Stolz 
war  aufs  tiefste  verletzt  worden,  S.  135  Der  Sindaco  hörte  ihn  ruhig  an, 
Francesco  hatte  ihn  glücldicherweise  zu  Hause  getroffen!  und  nahm  in 
der  Sache  den  Standpunkt  des  Priesters  ein. 

Größere  Übereinstimmung  herrscht  in  der  Verwendung  von  ?. 
Doch  gibt  es  auch  hier  verschiedene  Schwankungen,  z.  B.  darin,  daß 
in  Ausrufen  mit  n/e,  ivelcher  usw.  manche  ?  setzen,  wo  andere  (ange- 
messener) .'  gebrauchen.  Die  Kombinationen  ?!  oder  !?  erscheinen  teils 
bei  Fragen,  die  in  größerer  Erregung  getan  werden,  z.  B.  iver  von  euch 
hat  das  getan?!,  teils  bei  Fragen,  die  im  Grande  energische  Aufforde- 
rungen sind,  wie  kommt  denn  keiner  zu  hilfe?!,  ob  du  hergehst?!,  gehst 


12  Kahl  Biu'Omann:  f 70i  (> 

dieser  Beziehung  heuti'  in  Übung  ist,  verdeutlicht  nicht  mehr 
■An  diese  bei  uns  benutzten  Zeichen,  und  je  weiter  man  bei 
deu  einzelnen  Völkern  in  der  litenirischen  Überlieferung  zu- 
rückgeht, um  so  mehr  versagt  die  griii)]iisc])e  Darstellung, 
um  so  mehr  beschränkt  num  sich  auf  die  'logizistische'  Ver- 
wendung von  Interpunktionszeichen  (vgl.  ■/..  B.  K.  Kaiser  De 
inscriptionum  (iraecarum   interpunctione,  Berlin   1887). 

Nennenswert  ist  nur  das  Zeichen  der  Plutieruny:  bei  den 
alten  Indern  {pli(tl  'verschwininiende,  gedehnte  Aussprache 
eines  Vokals'),  da  es  nicht  nur  Darstellung  des  Fragetons,, 
sondern  auch  allerhand  anderer  Aäektbetouung  war,  bei 
Drohung,  Versprechung,  Lobeserhebung,  beim  Grüßen  usw. 
An  nicht  wenigen  Stellen,  wo  Pluti  überliefert  ist,  bleibt 
freilich  der  Verwendungsgrund  für  uns  ganz  im  dunkeln,  und 
das  Schematische  der  Anwendung  für  recht  verschieden  «e- 
artete  Fälle  gibt  uns  keine  Möglichkeit,  irgendwo  den  leben- 
digen Klang  genau  zu  reproduzieren;  vor  allem  fehlt  bei  der 
Pluti  die  Darstellung  der  Tonhöhenabstufungen.  Ausgegangen 
ist  diese  Bezeichnungsweise  vermutlich  von  gewissen  Fällen^ 
in  denen  die  Grundstimmung  des  Sprechenden  auch  bei  uns 
und  bei  andern  heutigen  Indogermanen  Vokaldehnung  in  der 
Ausgangssilbe  hervorrufen  kann,  z.  B.  im  Zu-  und  Anruf  mit 
dem  Vokativ,  wie  ai.  ägnaSi,  devadattäSa  für  die  gewöhnliche 
Schreibung  ägne  (äliex  "^dgnäi,  'o  Feuer'),  devadatta  (^o  D.'); 
nhd.  Otto  mit  mehrmorigem  -o  und  Analoges  anderswo 
(s-  §  7,  2).  Vgl.  Wackernagel  Altind.  Gramm,  i,  97  ff.,  Bez- 
ZENBERGER    BB.    1 5,  296,    DELBRÜCK    Altind.    Sjnt.    549 ff., 


du  her?!.  Die  Verschiedenheit  der  Stellung  der  beiden  verbundenen 
Zeichen  zueinander  finde  ich  bei  Fedor  von  Zobeltitz  in  den  Dienst 
einer  Bedeutungsunterscheiduug  gestellt :  Die  papieme  Macht  (Stuttgart 
1902)  I,  71  liest  man  „Scherst  dir  raus!?'''  schrie  Nagel,  wo  Aufforde- 
rungssinn dominiert,  und  gleich  danach  „Was  grinst  du  denn  ewig?!" 
schrie  Dassel  ihn  an.  ,,Kannst  du  denn  nie  ernst  hleiben?!'\  wo  mehr 
die  Frage  als  solche  hervortritt.  Freilich  ist  das  so  nicht  durch  die- 
sen ganzen  Roman  konsequent  durchgeführt,  vgl.  2,  79.  89.  118.  119. 
136.  138. 


Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  13 

Vergl.  Synt.  3,  87,  Kirste  Wiener  Sitzungsber.  160  TigoS)  i^ 
S.  5ff. 

Auf  welchen  andern  Wegen  man  zu  hinlänglich  genauer 
Einsicht  in  die  Satzbetonung,  namentlich  in  die  für  uns  in 
erster  Linie  in  Betracht  kommende  Satzmelodie  älterer  Texte, 
z.  B.  altgriechischer  oder  lateinischer,  gelangen  könne,  ist  vor- 
läufig nicht  abzusehen.  Ich  begnüge  mich  mit  einem  Hin- 
weis auf  Thumb  'Satzrhythmus  u.  Satzmelodie  in  der  alt- 
griech.  Prosa',  in  Marbe's  Fortschr.  der  Psychol.  i,  3,  i39ff., 
'Musikalische  Formung  des  Satzes'  in  Brugmann-Thumb's 
Griech.  Gramm.^  6650".  Dort  ist  noch  andere  einschlägige 
Literatur  genannt. 

Man  hat  sich  daher  mit  der  allgemeinen  Vermutung  zu 
begnügen,  daß,  wie  in  den  modernen,  so  im  allgemeinen  auch 
in  den  alten  Sprachen  den  verschiedenartigen  seelischen  Grund- 
stimmungen Verschiedenheiten  der  Satzbetonung  entsprochen 
haben.  Dabei  läßt  sich  am  sichersten  weitgehende  Überein- 
stimmung inbezug  auf  die  Unterschiede  der  Exspirationsstärke 
annehmen.  Li  dieser  besonderen  Hinsicht  möchte  ich  nicht 
unterlassen,  auf  die  ansprechenden  Vermutungen  von  Loewe 
PBrB.  41,  3040".  zu  verweisen. 

3)  Ein  weiteres  Hilfsmittel  für  die  Erkenntnis- des  dem 
gesprochenen  Satz  zu  Grunde  liegenden  Motivs  ist  durch  die 
Gesprächssituation  gegeben,  d.  h.  durch  die  Dinge,  Per- 
sonen, Verhältnisse,  welche  die  Gesprächspersonen  umgeben. 
Die  gemeinsame  Anschauung  schafft  bei  diesen  Personen 
Gleichheit  der  Vorstellungen,  so  daß  z.  B.  am  Fahrschein- 
schalter des  Bahnhofs  Berlin  zweite  genügen  kann  für  gehen 
Sie  mir  eine  fahrharte  zweiter  Masse  nach  Berlin.  Dieses 
Situationsbewußtsein  erspart  dem  Redenden,  wenn  er  nicht 
gerade  über  räumlich  und  zeitlich  Fernes  zu  sprechen  hat,  viele 
Worte  und  läßt  namentlich  in  den  'Kurzsätzen'  (vgl.  §  5,  i) 
leicht  erkennen,  ob  etwas  so  oder  so,  z.  B.  als  Aufforderung 
oder  als  schlichte  Aussage,  gemeint  ist. 

Der  Lesende  dagegen  ist  stets  nur  auf  den  ganzen  Zu- 
sammenhang, in  dem  der  Satz  steht,  darauf,  daß  dieser  Zu- 


14  Kaki.  1?riiomann:  |7^,6 

sanuu(Miluiug    es    ihm    (.'luiögliclio,   sich    div    Sit»iat,ion    /u    ver- 
gegouwJirtis^t'Li,  äuge  wiesen. 

4)  Eine  Holle  spielen  emilicii  aiidi  die  (itbilideu,  wel 
che  die  Rede  begleiten,  die  niiniiseheu  und  die  pantonüiui- 
seheu,  die  unwlllküiiieheu  und  die  absichtlichen.  Von  den 
Vorstellungen,  die  sich  im  Bewußtsein  des  Sprechenden  drän- 
gen, findet  immer  nur  ein  Teil  iiiutsprachliehen  Ausdruck. 
Das  Gebärdenspiel  geht  ergänzend  luul  erläuternd  nebenher. 
Als  Interpretatiousbeihilfe  waren  die  Gesten  im  Beginn  der 
menschlichen  Sprache  überhaupt  unentbehrlich,  man  muß  an- 
nehmen, daß  damals  Laut-  und  Gebärdensprache  noch  völlig 
gleichwertige,  aufs  innigste  verbundene  und  sich  gegenseitig 
erfordernde  Ausdrucksbeweouno'en  gewesen  sind.  In  vielen 
Einzelfällen  ist  das  bis  heute  bei  allen  Völkern  so  geblieben. 
Man  denke  beispielsweise  daran,  wie  schon  dadurch  oft  Worte 
erapart  werden  oder  das  Gesagte  sein  Verständnis  bekommt, 
daß  das  Auge  des  Sprechenden  die  Richtung  auf  eine  Sache 
oder  Person   nimmt,  die  gemeint  sind. 

Hatte  nun  schon  in  schriftlosen  Zeiten  die  Lautsprache 
allmählich  das  Übergewicht  bekommen  und  die  Gebärden- 
sprache zu  einer  bloßen  Gehilfin  der  Lautsprache  herabsinken 
lassen,  so  wurde  mit  der  Einführung  der  Schrift  die  Gebärde 
für  die  schriftliche  Übermittlung  der  Gedanken  geradezu  aus- 
geschaltet. Glücklicherweise  konnte  jedoch  fast  alles,  was  die 
Gebärde  bis  dahin  den  Gesprächspersonen  geleistet  hatte  und 
was  sie  ihnen  noch  heute  leistet,  in  der  geschriebenen  Rede 
durch  Worte,  wenn  auch  in  mehr  oder  weniger  umständlicher 
Weise,  ersetzt  werden.  ^) 


i)  Hinweisende  Gebärdeu,  die  der  Dramatiker  bei  der  .schriftli- 
chen Abfassung  eines  Dramas  im  Auge  hat,  wie  wenn  es  z.  B.  bei 
Terenz  Ad.  163  beißt  tu  quod  te  posterius  purgcs,  harte  iniuriam  mihi 
nolle  I  faciain  esse,  hidtis  non  faciam  oder  in  Körners  Zriny  i.  Akt, 
I.  Auftr.  Herr!  diese  Frage  kann  nur  der  dort  lösen  (nämlich  Gott), 
kommen  hier  natürlich  nicht  in  Betracht.  Denn  der  Dichter  faßt  von 
vornherein  schon  den  das  Drama  in  wirkliche  Sprache  umsetzenden 
Schauspieler   ins  Auge.     In  gleicher  Weise   stellt   sich   der  erzählende 


"0,  (']         Verschiedexhkiten  der  Satzoestai/fung  usw.  1 5. 

5- 

Die  Eigenart  imseres  Themas  macht  es  notwendig,  zu- 
vor noch  auf  ein  paar  Tatsachen  von  allgemeinerem  Belang 
den  Blick  zu  lenken.  » 

i)  Wenn  von  Satzgestaltung  und  Satzarten  gehandelt 
werden  soll,  muß  man  sich  zunächst  über  den  Begriff  'Satz' 
verständigt  haben.    Nun  brauche  ich  mich  hier  nicht  auf  eine 


Schriftsteller  bei  derartigem  Gebrauch  von  deiktischen  PronomiHa  in 
dramatischen  Teilen  seiner  Erzählung  die  zugehörige  pantomimische 
Greste  vor,  und  er  überläßt  es  dann  dem  Leser,  sie  auch  seinerseits  sich 
hinzuzudenken  oder  aber  bei  etwaigem  Vorlesen  sie  leibhaftig  anzubrin- 
gen. Es  sei  erlaubt,  hierfür  aus  unserer  deutschen  Erzählungsliteratur 
einige  Belege  herzusetzen.  Gust.  Freytag  Soll  und  Haben  i  (Leipzig 
1889)  S.  106:  Fink  sagte...  ,,Was  meinen  deutschen  Adel  betrifft,  so 
fiel  darauf!",  i,  200 :  „Herr  Wohlfart,  ein  kleines  Buch  in  rother  Seide, 
so  groß,  ist  hier  im  Saale  von  Theone  Lara  verloren".  P.  Heyse  No- 
vellen, Auswahl  fürs  Hau.s  2'  (Berlin,  W.  Hertz)  S.  270 :  „Plötzlich  fühl' 
ich  einen  kleinen  Stich  am  Herzen  —  hier  — ,  daß  ich  auf  einmal  still 
steJm  und  mich  besinnen  muß".  Fr.  Gerstäckers  Ausgewählte  Er- 
zählungen u.  Humoresken,  5.  Bd.  S.  6:  „Papperlapapp",  brummte  der 
Förster,  „auf  das  Geschwätz  geb'  ich  nicht  so  viel  und  kenne  meine 
Leute'-'.  Bei  H.  Hesse,  Nachbarn"  (Berlin  1909)  S.  91,  sagt  zu  einem, 
verbummelten  Studenten  seine  Mutter:  „I)^^  hast  doch  meiner  SeeV  nicht 
so  viel  studiert".  Korfiz  Holm,  Thomas  Kerkhoven  S.  188:  „Ich  kann 
dir  bloß  sagen",  erwiderte  sie,  „daß  ich  so  viel  auf  diesen  TheateHratsch 
geb'!".  C.Viebig,  Das  tägliche  Brot  (Berlin  19 15)  S.  369:  „Warum  biste 
denn  so?  Du  hätt'st  ihr  vohl  reinlassen  können.  Kuckste,  so  stand  se 
hier  und  so'ne  Äugen  machte  se  und  kloppte  un  lauerte",  S.  148:  „Dtt 
hast  keen  Herz  vor  deine  Kinder.  Wenn  der"  —  sie  wies  mit  dem  Blick. 
nach  dem  voranschreitenden  Courmacher  —  „dir  so'n  Radau  machen  hört, 
schnappt  er  jleich  ab".  R.  Stratz,  Die  Faust  des  Riesen  (Stuttgart) 
I,  23:  „Ich  kann  dir  nur  sagen:  Papa  hat  die  Geschichte  jetzt  dick  bis 
dahin!  Er  hat  erklärt..  .",  S.  135:  „Ich  scliwöre  dir,  ich  könnte  mei- 
nen Kopf  und  mein  Herz  dttrchstöbern  —  ich  fände  keinen  Mann,  der 
auch  nur  so  viel  Einfluß  auf  mich  hätte.  Bis  jetzt  ^venigstens !" .  VgL 
auch  L^hland,  Siegfrieds  Schwert:  Und  von  der  letzten  Eisenstang' 
Macht  er  ein  Schivert  so  breit  und  lang.  Ob  außei-halb  des  Dramas 
solcher  Gebratpch  von  Demonstrativpronomina  in  der  Literatur  auch 
älterer  idg.  Sprachen  vorkommt,  ist  mir  nicht  bekannt  (vgl.  Verf.  De- 
monstrativpron.   S.  7). 


i6  Kaki.  BRiKiMANN:  [70.6 

Erörterung  der  in  den  letzten  Jahren  immer  von  neiumi  uu- 
ternommenen  Versuche  einzuhissen,  den  Hogriff  Sat/,  unzwei- 
deutig und  nach  allen  Seiten  liin  einwandfrei  zu  definieren. 
Ich  darf  mieh  an  die  hindlilufige  Auffassung  halten,  die  un- 
gefähr dahin  bestimmt  werden  kann,  daß  ein  Satz  eine  in 
artiknlatorischer  Hede  erfolgende  Äußerung  sei,  die  ihrem 
Sinne  nach  dem  Sprechenden  und  dem  Hörenden  als  ein  in 
sich  zusammenhängendes  und  abgeschlossenes  Ganzes  erscheint. 
Danach  sind  für  mich  nicht  nur  z.  B.  icJi  habe  durst  oder 
lomm  Sätze,  sondern  auch  leider/  oder  herein/  oder  weh  mir/ 
oder  (futen  tag  (als  Grußformel)  oder  du/   (drohend). 

Bei  der  letzteren  Gattung  von  Äußerungen  wird  oft  von 
"^fragmentarischem'  oder  'elliptischem  Satz'  gesprochen.  Hier- 
auf muß  etwas  näher  eingegangen  werden. 

Von  einem  Satzfragmeut  sollte,  streng  genommen,  nur 
dann  die  Rede  sein,  wenn  jemand  in  der  Abwicklung  einer 
beabsichtigten  satzlichen  Äußerung  von  außen  her  gestört  und 
unterbrochen  wird  oder  sich  selber  auf  einen  dazwischen  ge- 
kommenen Impuls  hin  unterbricht.^)  Denn  was  man  gewöhn- 
lich so  nennt,  ist  in  der  Regel  darum  doch  etwas  Vollstän- 
diges und  Abgeschlossenes,  weil  Betonungsart,  Situation  und 
Gebärde  das  volle  Verständnis  des  Gesagten  vonseiten  des 
Hörenden  bewirken.  Es  kommt  für  die  Beurteilung  nicht 
darauf  an,  daß  bei  Äußerungen  wie  tveh  mir/,  wie  schön/, 
schon  surück  von  der  reise?,  daß  du  so  spät  heute  kommst/ 
der  Grammatiker  etwas  an  Vollständigkeit  vermißt,  oder 
daß  dem  Sprechenden,  sei  er  grammatisch  geschult  oder  nicht, 
in  dem  Augenblick,  wo  er  sagt  schon  zurück  von  der  reise? 
zum  Bewußtsein  kommt,  daß  er  auch  hätte  sagen  können 
du  bist  schon  zurück  von  der  reise?.  Sondern  das  ist  das  We- 
sentliche, ob  auch  die  knappere  Ausdrucks  weise  so  aufgefaßt 
wird  wie  sie  gemeint  war,  ob  sie  ebenso  gut  und  sicher 
verstanden  wird  wie  der  sogenannte  vollständige  Satz. 


i)  Zu  letzterem  gehört  großenteils  das,  was  man  Anakoluth  nennt: 
gewöhnlich  ist  es  Zerstreutheit  oder  Erregung  des  Sprechenden,  die 
die  Fort-  und  Zuendeführung  des  angefangenen  Satzes  hindern. 


70, 6]  Verschikdenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  i  7 

Letzterer  ist  jedoch  in  vielen  Fällen  doch  nicht  wirk- 
lich 'vollständig'.  Denn  könnte  man  nicht  auch  wieder  z.  B. 
du  bist  schon  siirücJc  von  der  reise?  für  fragrmentarisch  oder 
elliptisch  erklären  gegenüber  du  bist  schon  zurück  gekommen 
von  der  reise?  Man  sollte  also  von  der  sXXsiipig  in  der  Satz- 
bildimg  nicht  so  viel  Wesens  machen  in  der  Grammatik, 
wie  es  seit  alten  Zeiten  der  Fall  ist.  Wenn  man  aber  denn 
doch  einen  Terminus  braucht,  um  vollere  und  kürzere  Satz- 
gestaltung auseinander  zu  halten,  so  rede  man  von  Kurz- 
satz und  YoUsatz  in  Anlehnung  daran,  daß  man  beim  ein- 
zelnen Wort  Kurzformen  (Kurznamen)  und  Vollformen  (Voll- 
namen) einander  gegenüberstellt,  z.  B.  bocJc  und  hocJchier,  Frieda 
und  Friderike. 

Beim  Satz  ist  übrigens  diese  Unterscheidung  in  einer 
großen  Anzahl  von  Fällen,  z.  B.  bei  tveh  mir.',  mhd.  wol  dir! 
und  2vol  dich!,  lat.  me  miserum!,  vae  mihi!,  hene  tibi!  und 
hene  te!,  agriech.  co-^ol  (co^ol),  ngriech.  cj'i^eva,  nur  für  die 
Zeit  angebracht,  in  der  neben  diesen  Kurzsätzen  auch  noch 
die  entsprechenden  volleren  Sätze  mit  dem  gleichen  Kasus 
lebendig  waren  oder  sind.  Denn  während  man  z.  B.  bei  den 
Grüßen  (/iden  tag,  guten  abend  u.  dgl.  wegen  ich  wünsche  dir 
^'inen  vergnügten  tag,  ein  fröhlichen  abend  usw.  noch  eine  Vor- 
stellung davon  haben  kann,  wie  der  Akkusativ  als  solcher  zu 
nehmen  ist,  ist  in  den  Fällen  wie  iveh  mir!,  wol  dir!  ein  Ge- 
fühl für  die  ursprüngliche  Beziehung  des  Kasus  kaum  mehr 
vorhanden.  Solche  Wendungen  sind  in  der  Zeit,  in  der  sie  uns 
entgegentreten,  schon  in  ähnlicher  Weise  starr  geworden,  wie 
gewöhnlich  die  aus  lebendigen  Kasus  erwachsenen  Adverbia.^) 

Nun  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  die  primitivsten  Satz- 
gebilde nur  aus  einem  'Wort'  oder  ganz  wenigen  Wörtern 
bestanden  haben,   vor  allem   überall  da,   wo  stärkere  Affekt- 

i)  Den  von  Wegener  neuerdings  (IF.  39,  iff.)  angewandten  Aua- 
dnick  Wortsatz  für  das,  was  ich  Kurzsatz  genannt  habe,  halte  ich 
für  wenig  angemessen.  Denn 'Wortsätze'  sind  auch  z.B.  komm!,  kommt!, 
iceh!,  pfui!,  Karl!:  diese  bestehen  nur  aus  einem  Wort,  dabei  lassen 
«ie  aber  in  grammatischer  Hinsicht  nichts  vermissen. 

Phil.-hi8t.  Klasse  1918.  Bd.  LXX.  6.  2 


l8  Kaui.  Bi:r(;M\NN:  (70,6 

TCLjnn^oii    lauts))riiehlicho    Ausdrncksbcwpgungeii    vcranlaBten. 
So  möchte  man    denn  «gerade   auch    die  Satzgestaltiingen,   die 
ich  als   Ivurzsätze  bezeichnet  habe,  wegen    der  Knappheit  des 
Ausdrucks  für  besonders  altertümlich  halten.  Und  doch  weisen 
sie  durch   die   mit  einer  bestimmten  Flexionsendung,  z.  B.  mit 
einer  bestimmten  Kasusendiuig,  versehenen  Formen,  die  einen 
bestimmten    syntaktischen    Zusammenhang    Toraussetzen,    auf 
ausgebautere  Satzbildungen  als  Grundlage  und  Vorlauter  hin. 
Wie  ist  das  zu  beurteilen?    Sicher  ist  jeder  einzelne  Fall  von 
besonderer    Art   und    daher   zunächst   für    sich    ins    Auge    zu 
fassen.     Im  großen  Ganzen  aber  dürfte  der  Entwicklungsweg 
der  folgende  gewesen  sein.     Die  Wörter,  die  nominalen,  pro- 
nominalen und  verbalen,  hatttn  einmal  in  uridg.  Zeiten  nicht 
diejenige  Art  von  Flexionsendungen,  die  in   den  historischen 
Sprachperioden  erscheinen,  und  die  wir  ihnen  auch  schon  für 
die    letzten    Zeiten    der    Urgemeinschaft    zusprechen    müssen. 
Was    diese    Endungen    für    das   Verständnis    des    Satzes    von 
uridg.  Zeit  her  leisten,  wurde  in  noch  älterer  Zeit  hauptsäch- 
lich   durch    Gebärde,    Situationsbewußtsein   der   Sprechenden, 
Betonungsweise  u.  dgl.  geleistet.  Nachdem  man  aber,  bei  fort- 
schreitender Entwicklung  des  syntaktischen   Denkens,   immer 
mehr  verschiedene  Wortformen  mit  einer  bestimmten  syntak- 
tischen Rolle  im   Satzbau   dazubekommen  hatte,   wurden   die 
bis  dahin  allein  üblich  geweseneu  Formen  in  den  Kurzsätzen 
nunmehr  denen  der  dem  Sinne  nach  entsprechenden  Vollsätze 
angepaßt.  Man  ist  also  aus  dem  uralten  Zustand  des  Sprechens 
in  Kurzsätzen  niemals  ganz  herausgekommen,  hat  nur  in  der 
Gestaltung  des  Kurzsatzes    selbst  vielfach  feinere  Differenzie- 
rungen der  Wortformen   vorgenommen,  bei   denen   man   sich 
von  den    im   Bewußtsein   daneben   vorhandenen   Gestaltungen, 
von  VoUsätzen  leiten  ließ. 

Dadurch  wurden  die  Kurzsätze  oft  unmißverständlicher. 
Z.  B.  deinen  stocJ:!,  die  akkusativische  Gestaltung  in  Auf- 
forderungstonart, wird  als  Aufforderung,  den  Stock  zu  geben,, 
leichter  verstanden  als  bei  gleicher  Gelegenheit  das  nomina- 
tivische dein  stock!.    Die  richtige  Interpretation  des  letzteren 


70, 6]         Vehschledenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  1 9 

wäre   nur   durch   eine    begleitende    deiktisclie   Gebärde  zu  er- 
reichen. 

2)  Wenn  man  sagt  wie  spät  du  kommst/,  tvie  spät  kommst 
du.'  oder  kommst  du  spät!,  so  drückt  man  damit  dieselbe 
Empfindung  aus,  wie  wenn  man  sagt  ich  wundere  mich  über 
dein  spätes  kommen  oder  ich  wundere  mich,  daß  du  so  spät 
kommst.  So  läßt  sich  der  Antrieb,  der  eine  sprachliche  Äuße- 
rung zur  Folge  hat,  jedesmal  durch  ein  besonderes  diese 
seelische  Grundstimmung  bezeichnendes  Wort  ausdrücken:  hilf 
mir  neben  ich  fordere  hilfe  von  dir,  fordere  dich  auf  mir  zu 
helfen;  iväre  ich  gesund!  neben  ich  wünschte  gesund  zu  sein; 
wenn  er  sich  nur  nicht  verspätet!  neben  ich  fürchte,  er  verspätet 
sich;  das  ist  wahr  neben  ich  behaupte,  daß  das  wahr  ist;  ivie 
heißt  der?  neben  ich  frage,  wie  der  heißt  usw. 

In  jeder  von  diesen  der  psychischen  Grundlage  nach  ver- 
schiedenen Satzgattungen  können  natürlich  auch  feinere  Schat- 
tierungen in  dieser  Grundlage  zugleich  auf  die  eine  oder 
andre  Weise  zur  Darstellung  kommen,  in  der  ersteren  Art 
der  Satzgestaltung  etwa  durch  die  verschiedenen  Grade  des 
Nachdrucksakzents,  oder  durch  Zusatz  von  Partikeln  u.  dgl. 
Mit  Flexionsformen,  die  durch  sich  selbst  deutlich  dem  Aus- 
druck einer  bestimmten  psychischen  Grundfunktion  dienen, 
wie  z.  B.  mit  den  Imperativformen,  sind  oft  Partikeln,  die 
einer  solchen  feineren  Nüancierung  dienten,  fest  verwachsen 
und  haben  großenteils  dann  mit  der  Zeit  durch  Mechanisie- 
runo-  des  Gebrauchs  diese  besondere  Bedeutsamkeit  wieder 
eingebüßt,  z.  B.  lit.  du-k(ij  'gib'  (so  vielleicht  auch  uridg. 
*i-dhi  'geh'  ai.  ihi,  neben  *ei  'geh'  lat.  *). 

Eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung  ist  es  nun,  daß  ein 
Nebensatz^)  oder  ein  ihm  gleichwertiges  Redeglied  für  sich 
allein   in   derselben   Bedeutung  gebraucht   wird   wie   der   die 


i)  Über  A.  Dittmar's  Bekämpfung  der  Unterscheidung  von  Haupt- 
und  Nebensatz  und  dessen,  was  damit  zusammenhängt  (Syntakt,  Grund- 
fragen, Progr.  Grimma  191 1),  denke  ich  wie  E.  Hermann  Griech.  Forsch. 
I  (1912)  S.'if.  328  f.  und  R.  Blümel  Die  Haupttypen  der  heutigen 
nhd.  Wortstellung  (19 14)  S.  65 ff. 

2* 


20  KaKI.  I>Kt;(JMANN:  [7O1 '^ 

Grundstim mmig  rlurcli  ».'in  l)e<i()ii(InroR  Wort,  %.  B.  uh,  ivnndre 
mich,  ich  icünachc  usw.,  ausdiiiclvfude  Il!iu|»tsatz  in  Verbindung 
mit  diesem  ahliängigfii  Satz  oder  Satzglied.  Doch  handelt  es 
eich  dann  nicht  etwa  ])loß  um  Herstellung  eines  einfachen 
Kurzsatzes  durch  Beschränkung  der  Hede  auf  Grund  von 
einer  Beihilfe,  die  dem  Verständnis  durch  eine  Gebärde,  durrh 
die  Gesprächssituation  oder  dgl.  zuteil  wird.  Denn  wähi-end 
Äußerungen  wie  icli  hin  dartihcr  veru'undcti,  daß  .  .  .,  ich  flehe 
dich  an,  daß  du  .  .  .  immer  nur  einfache  Aussagesätze  sind, 
die  freilich  oft  auch  (wie  alle  einfachen  Aussagen)  mit  be- 
sonderer Nachdrucksl^etonung  gesprochen  werden,  haben  die 
entsprechenden  gleichbedeutenden  Kurzsätze  —  wenn  man 
diesen  Ausdruck  auch  hier  anwenden  will  —  den  Tonfall  des 
Ausrufungssatzes,  z.  B.  wie  spät  du  hommst!,  wie  Jcall  es  heute  ist!, 
daß  du  so  spät  kommst!,  ebenso  z.  B.  lat.  tantam  esse  inscitiam! 
(woueben  miror  tantam  esse  inscitiam);  ferner  haben  Sätze  wie 
daß  du  gleich  tviederJcomnist!  (neben  ich  iihU,  ich  wünsche,  daß 
du  .  .  .),  still  stehn!  (neben  ich  iviinsche,  daß  du  still  stehst)  den 
Tonfall  des  Aufforderuugssatzes,  oh  er  heute  noch  kommt ?  (neben 
ich  iveiß  nicht,  oh  er  .  .  .)  den  Tonfall  des  Fragesatzes  usw. 

Neben  diesen  beiden  Ausdrucksformen  gibt  es  nun  noch 
eine  altüberkommene  Ausdrucks  weise,  die  eine  Zwischenstufe 
darstellt.  Ganz  gewöhnlich  ist  nämlich  in  den  verschiedensten 
idg.  Sprachen  die  Erscheinung,  daß  sich  die  jeweilige  Grund- 
stimmung der  Seele  zunächst  in  einer  Interjektion  (dies  Wort 
im  weitesten  Sinne  genommen)  äußert  und  dieser  sich  dann 
das,  worauf  die  Stimmung  sich  bezieht,  wie  ein  abhängiger 
Satz  ebenso  anschließt  wie  den  Sätzen  ich  wundere  mich,  ich 
will  usw.,  z.  B.  mhd.  Nib.  2260  o/re,  da^  vor  leide  nieman  wol 
sterben  mad,  Nib.  2  2  hei,  tvaj  er  guoter  degene  ze  dirre  iverlde 
gewan!,  gi-iech.  u  2)^  w  tcoxol,  oiov  8t^  vv  dsovg  ßgorol 
altiöavtaL,  lat.  Ter.  Euu.  730  vah,  quanto  nunc  formosior\videre 
mihi  qiiam  dudum!.  Die  besondere  affektische  Satzbettmung 
setzt  sofort  bei  der  Interjektion  ein  und  zieht  auch  das,  was 
sich  der  Interjektion  anschließt,  in  ihren  Bereich.  Dabei  haben 
die  Interjektionen,   so  lange   sie  nicht  einem  Satz   so  einver- 


70, 6]         Verschiedenkeiten  der  Satzgestaltung  usw.  2 1 

leibt  sind,  daß  sie  uiit  Aufgabe  ihrer  Eigenbetonung  nur  als 
einfache  Satzglieder  empfunden  werden,  selbst  Satzcharakter. 
Und  wenn  man  nun  bei  den  Ausdrücken  daß  er  immer  noch 
nicht  l'ommt.',  ivie  schön  sie  ist.',  daß  er  doch  bald  Mme!,  ob 
ir  hahJ  Tiommt?,  griech.  Plato  Euthjphr.  15  e  oia  Tcoistg^  g) 
iTiÜQS  von  verselbständigten  Nebensätzen  oder  zum  Hauptsatz 
erstarrten  Nebensätzen  (Sütterlix  Die  deutsche  Spr.  der 
Gregeuw.*  421  f.)  sprechen  darf,  so  liegt  es  wegen  der  Be- 
touuugsart  jedenfalls  näher,  diese  Satzgestaltuug  aus  dem 
Typus  mit  der  die  Äußerung  einleitenden  Interjektion  hervor- 
gegangen sein  zu  lassen  als  (mit  Sütterlin)  aus  der  Aus- 
drucksform wie  z.  B.  ich  wundere  mich,  daß  .  .  .  Eine  Paral- 
lele hierzu  bildet  übrigens  die  Entstehung  von  vielen  sogen, 
sekundären  Interjektionen.  Gebilde  nämlich,  die  aus  Wörtern 
wie  gott,  himmel,  teufel  mit  vorausgehender  primärer  Interjek- 
tion zusammengesetzt  sind,  wie  z.  B.  ach  gott!,  0  himmel f,  pfui 
teufel!,  sind  entstanden  aus  zwei  ursprünglich  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  selbständigen  Teilen:  ach!  gott!,  0!  himmel!, 
pfni!  teufel!  In  vielen  Fällen  aber  darf  für  sich  allein  ge- 
sprochenes interjektionales  gott!,  himmel!,  teufel!  so  zu  sagen  als 
Kurzform  zur  zweigliedrigen  Ausdrucksweise  angesehen  werden. 

Von  den  Satzformen,  die  man  als  verselbständigte  Neben- 
sätze bezeichnet,  wird  unten,  bei  der  Erörterung  der  einzelnen 
Satzarten  nach  ihrer  Grundstimmung,  noch  zu  handeln  sein. 
Jetzt  haben  wir  uns  noch  der  Wortklasse  der  Interjektionen 
zuzuwenden,  die  in  den  Affektsätzen  aller  Art  eine  hervor- 
ragende Rolle  spielt. 

3)  Man  ist  heutzutage  in  bezug  auf  die  sogen.  Inter- 
jektionen im  allgemeinen  wohl  über  den  Standpunkt  hinaus, 
daß  man  sie  mit  den  stimmlichen  Äußerungen  des  Schreiens, 
Scliluchzens,  Jauchzens  u.  dgl.  in  einen  Topf  wirft  und  sagt, 
sie  gingen,  wie  diese,  den  Erforscher  der  menschlichen 
Sprache  nichts  an.^) 

i)  Bei  Kihnkr-Blass  AuBführl.  Cxramm.  d.  griech.  Sprache  i',  2, 
252  heißt  es:  „Die  Interjektionen  sind  bloße  Empfindungslaute  und 
sind  daher  füi-  die  (iramniatik  bedeuttingslos". 


2  2  Kari.  BiiuOMAhfN:  [70. '> 

Wer  so  urteilt,  macht  sich  nicht  kbir,  dsiß  tust  ;ille 
Sprach ontwickluD}:;  von  jeher  auf  fortschreitender,  sich  ver- 
foinenuler  Organisation  /um  Zweck  der  Vorstündii!;ung  zwi 
sehen  Menschen  beruht.  Das  Interjnktionale  stellt  das  primi- 
tivste Mittel  in  diesem  Vervollkonimnuugsgang  dar.  Da  es 
aber  noch  am  Leben  ist  und  den  gleichen  Zwecken  dient  wie 
in  den  Anlangen  menschlicher  Sprache,  hat  die  Sprachwissen- 
schaft ihm  dieselbe  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  wie  allen 
andern  Teilen  des  Sprachstoös. 

Man  begegnet  aber  mitunter  auch  der  Auffassung,  eine 
Interjektion  werde  erst  dann  zu  einem  Bestandteil  der  Sprache, 
wenn  sie  die  Stufe  einer  unwillkürlichen,  ohne  einen  Mit- 
teilungszweck erfolgenden  stimmlichen  Äußerung  überschritten 
habe,  wenn  sie  also  zum  Ausdruck  eines  Wunsches,  einer 
Warnung,  einer  Drohung  u.  dgl,  an  eine  andre  Person,  even- 
tuell auch  an  ein  Tier  (vgl.  z.  B.  huss  als  Iletzruf,  schu  schu 
als  Seheuchruf)  gerichtet  werde.  Auch  diese  Auffassung  ist 
zu  eng.  Gegen  sie  macht  0.  Dittrtcii  Die  Probleme  der 
Sprach spy eh.  191 3  S.  7 6 f.  mit  Recht  geltend,  wenn  z.  B. 
beim  Anblick  einer  bunten  Glaskugel  ein  Kind  im  Gefühl  der 
Freude  darüber  ei!  ausrufe,  sei  das  darum  Sprache  und  Satz, 
weil  es  dasselbe  sei  wie  wenn  ein  Erwachsener  ivelcJi  schöne 
Tcugclf  rufe,  der  sprachliche  Charakter  dieses  letzteren  Aus- 
rufs stehe  aber  ja  außer  Frage.  Eif,  hei,  aha!,  ui!  und  über- 
haupt alle  die  Interjektionen,  die  von  Anfang  an  reine  Natur- 
laute gewesen  zu  sein  scheinen,  dürfen  aber,  ebenso  wie  die 
aus  grammatisch  sinnvollen  Wortformen  erwachsenen,  wie 
holla!,  hurra!,  schon  darum  nicht  vom  echt  Sprachlichen 
ausgeschlossen  werden,  weil  sie,  im  Gegensatz  zu  den  Äuße- 
rungen des  Schreiens,  jammernden  Weinens,  Winseins  u.  dgl, 
artikulatorisch  dem  Lautmaterial  der  echten  Sprache  an- 
geglichen worden  sind  und  zusammen  mit  allem  andern,  was 
zur  Sprache  gehört,  vom  Kind  seiner  sprechenden  Umgebung 
abgelernt  und  so  traditionell  weitergegeben  werden.  Die 
Grenze  gegenüber  den  unsprachlichen  stimmlichen  Ausdrucks- 
bewegunsen  ist   freilich  überall   eine   fließende,   wie  ja  auch. 


70, 6j         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  u.svn'.  2^ 

bei  den  mit  den  Interjektionen  wesensverwandten  Vokativ-  und 
Imperativformen  sich  in  erregterer  Rede  oft  nebenher  stimm- 
liche Elemente  geltend  machen,  die,  weil  mit  den  gewöhn- 
lichen Sprachlauten  nicht  in  Übereinstimmung,  sich  schrift- 
lich nicht  fixieren  lassen,  und  die  demnach  in  den  Augen  des 
Grammatikers  den  Formen  wie  etwas  außerhalb  der  eigent- 
lichen Sprache  Stehendes  anhaften.^) 

Daß  ein  irgendwiegroßer  Teil  von  den  primären  Inter- 
jektionen, die  in  der  geschichtlichen  Zeit  der  idg.  Sprachen 
begegnen,  schon  in  der  uridg.  Periode  vorhanden  gewesen  ist, 
kann  nicht  bezweifelt  werden.  Nur  ist  es  bei  dem  größeren 
artikulatorischen  Spielraum,  den  sie,  wie  die  onomatopoieti- 
schen  Gebilde,  gegenüber  dem  sonstigen  Material  der  Sprache 
überall  haben,  schwer,  ja  unmöglich,  in  derselben  Weise  wie 
bei  den  andern  Bestandteilen  der  Sprache  idg.  Grundformen 
in  der  üblichen  graphischen  Darstellung  anzusetzen.^)  Es  ist 
auf  Grund  der  Überlieferung  auch  gar  nicht  festzustellen,  ob 


i)  Die  menschliche  Sprache  hat  sich  ohne  Zweifel  nur  sehr  all- 
mählich aus  der  Gesamtheit  derjenigen  Ausdriicksbewegungen,  die  als 
Merkmal  psychischer  Vorgänge  das  animalische  Leben  kennzeichnen, 
herausentwickelt  und  ist,  wie  nicht  oft  genug  betont  werden  kann,  bis 
auf  den  heutigen  Tag  noch  nicht  in  allen  Einzelheiten  etwas  grund- 
sätzlich anderes  als  die  Tiersprache. 

2)  Folgende  Interjektionen  dürfen  unter  der  Voraussetzung,  daß 
sie  von  jeher  reine  Gefühlslautungen  gewesen  sind,  als  '^urverwandt' 
gelten,  a)  Griech.  m,  w.  Lat.  ö.  Ir.  o  (auch  ä  geschrieben),  mkymr. 
corn.  a.  Got.  0  (das  nicht  nur  a>,  sondern  auch  ovä  übersetzt,  also  wohl 
nicht  zu  den  Gräzismen  zu  rechnen  ist),  mhd.  nhd.  ö  (S.  32),  mhd.  -ä  in 
nein-ä  nein,  bliuw-ä  lliu,  väh-ä  väch  u.  dgl.  (vgl.  Eur.  Kykl.  imuy  m 
vnay  m  Ksgaara,  Ov.  Metam.  14,  842  duc  0  duc).  Wohl  auch  ä  in  av. 
ä-vöya  'wehe!'  neben  voya-  'Wehruf,  vayUi  'wehe!'.  Zweifelhafter 
bleibt  Zugehörigkeit  von  ai.  ä  (Ausruf  eines  sich  auf  etwas  Besinnen- 
den) und  lit.  a,  ä,  lett.  a.  b)  Ai.  uve,  av.  vayöi  avöi  ävoya  npers. 
väi.  Arm.  vay.  Griech.  oiai  (spät),  ngriech.  ßdi.  Lat.  vae.  Ir.  fe,  kymr. 
gwae.  Got.  wai,  ahd.  mhd.  nhd.  we  (ö-we)  ags.  wä.  Lett.  uai.  Vielleicht 
Zusammenhang  mit  lat.  au,  mhd.  ou  nhd.  au.  c)  Griech.  ort',  ul,  cciai, 
ot,  oi'or,  ngriech.  ai,  wi.  Lat.  ez,  hei  (wozu  das  Verbum  eiuläre).  Mhd. 
nhd.  ei.  Lit.  al,  et,  lett.  ai,  ei.  d)  Griech.  qpsü,  ngriech.  (pxov.  Lat.  /'«, 
fue.    Nhd.  pfui.    Hierzu  lit.  hiau-rüs  'häßlich,  greuelbaft.  unrein'?? 


24  Kaki.  Bkuhmann:  |7<J,  ^> 

in  den  Volkssprachen  seit  urid^.  Zeit  die  Zahl  der  allgemein 
gebrauchten  Interjektionen  ah-  oder  zugenommen  hat,  wenn- 
gleich a  priori  zu  vermuten  ist,  daß  die  [)riniär('ii  Interjektionen 
g»'gen  die  sekundären  seit  jener  Zeit  an  Zahl  zurückgc^treten 
sind,  und  daß  im  ganzen  eine  Abnahme  interjektionaler  Aus- 
drucksweise stattgefunden  hat.') 

Es  ist  khir,  daß  von  allen  stimmlischen  Aus(h-u('ks- 
bewegungeu  in  der  menschliclien  Sprache  die  interjektionalen 
der  primitivste  Bestandteil  ist.  Wie  viele  aber  von  den  Inter- 
jektionen, die  in  den  historischen  Zeitläuten  der  idg.  Sprachen 
erscheinen,  und  von  denjenigen,   die  man  mit  einiger  Wahr- 

i)  WuNDT  Völkerpsycb.  i*,  i,  308 f.  glaubt  auf  Grund  der  er- 
haltenen Literatur  zeigen  zu  können,  daß  die  alten  Griechen  und  Römer 
noch  eine  größere  Anzahl  von  eigentlichen  Interjektionen  besessen 
hätten  als  die  neueren  Völker.  Nachweisbar  ist  aber  vielleicht  nur,  daß 
jene  Völker  häufiger  als  die  neueren  Völker  den  Interjektionen  in  der 
Literatur,  im  Drama  und  in  dramatischen  Bestandteilen  von  Kizählun- 
gen  und  Reden,  Zutritt  gewährt  haben.  Ob  dieser  Beweis  zu  führen 
ist,  möcht'  ich  jedoch  im  Hinblick  z.  B.  auf  Wkinhold  Mhd.  Gramm.* 
S.  345  ff.  bezweifeln.  AllerdingH  dürfte  Anpassung  vielsilbiger  inter- 
jektionaler Gebilde  an  das  Metrum  in  der  Art,  daß  sie  einen  ganzen 
längeren  Vers  füllen,  wie  bei  Sophokles  Philo]it.  745: 

änolcolu,  ttKvov  ßQVKonat,,  xskvov  nccnal, 

anannaTtai,  ^iccTtccitnaitannccTiaTinanat , 
in  neuerer  ernsthafter  Literatur  unerhört  sein  und  würde  jetzt  jeden- 
i'alls  als  Geschmacklosigkeit  empfunden  werden.  Doch  hierauf  kommt 
wenig  an.  Die  Hauptfrage  ist  die,  wie  es  mit  den  Interjektionen  im 
Volksmund  heute  steht  und  bei  den  Alten  gestanden  hat.  Aus  der 
großen  Masse  von  Interjektionen  in  der  Literatur  der  alten  Griechen 
und  Römer  (auch  der  alten  Inder,  s.  Benfey  Vollständ.  Gramm.  1852 
S.  346,  Kurze  Sanskrit- Gramm.  1855  S.  348 f.)  ist  natürlich  auf  eine 
mindestens  gleichgroße  Masse  in  der  Alltagssprache  des  Volkes  zu 
schließen.  Aber  neuere  Volksmundarten  stehen  hiergegen  schwerlich, 
zurück:  ich  verweise  auf  0.  Büttgeu  Der  Satzbau  der  erzgebirgischen 
Mundart,  Leipzig  1904,  Anhang  I  Die  Gefühlsausdrücke  S.  157  If.  und 
K.  Ehelicher  Zur  Syntax  der  Sonneberger  Mundart:  Gebrauch  der 
Interjektion,  des  Substantivs  und  des  Adjektivs,  Leipzig  1906,  S.  i2if. 
—  Wie  ich  nachträglich  bemerke,  spricht  sich  auch  schon  Sittbklix 
Das  Wesen  der  sprachl.  Gebilde,  Heidelberg  1902,  S.  25  gegen 
WuNUT  aus. 


70, 6j         Verschiedenheiten  üeu  Satzgestaltung  usw.  25 

scheinlichkeit  zu  dem  Bestand  der  schon  in  uridg.  Zeit  ge- 
brauchten zählen  kann,  von  jeher  wirklich  nichts  anderes  als 
'Naturlaute'  gewesen  sind,  d.  h.  durch  einen  natürlichen  Draug^ 
nach  lautlicher  Reaktion  heivorgerufene  Stiramlaute ,  wie  sie 
schon  der  Vorstufe  der  menschlichen  Sprache  angehört  und 
als  Überlebnisse  eines  vorsprachlichen  Zustands  in  die  sprach- 
liche Zeit  hinein  sich  erhalten  haben,  wird  nie  ermittelt 
werden  können.  Wir  sehen,  wie  überall  in  der  geschichtlicheji 
Zeit  sinnvolle  Wortformen  bei  Affektbetonuug  in  den  Bereich 
der  Interjektionen  hineingezogen  worden  sind*)  und  dabei  oft 
von  ihrer  ursprünglichen  Lautung  so  viel  eingebüßt  haben» 
daß  das  Gefülü  für  Identität  mit  der  Wortform,  der  sie  ent- 
stammen, ganz  abhanden  gekommen  ist.  Bei  jesses!  mag  mau 
vielleicht  noch  an  Jesus,  bei  leider!  an  leid  erinnert  werdeu,. 
vielleicht  auch  der  Italiener  bei  tie.'  und  tef  noch  an  fene,  bei 
giiarf  an  guarda,  der  Grieche  bei  özoXXcar}/  (etwa  Mu  kannst 
mir  was!',  ironisch)  an  sig  tcoXXcc  sxy]  ('auf  viele  Jahre !'^ 
Grratulatiousformel),  der  Lette  bei  a  jjass !  an  a  paslicd  C^ei 
sieh  doch'),  und  so  mag  auch  dem  Römer  z.  B.  bei  pol!  noch 
Pollux  ins  Gredächtnis  gekommen  sein.  Aber  die  Fäden  sind 
abgerissen  z.  B.  bei  holla!,  das  ursprünglich  Zuruf  an  den 
Fergen  gewesen  ist  ijiol-o  hol-a,  ferg,  hol),  bei  hurra!,  das 
ebenfalls  Imperativ  war,  zu  mhd.  hurren  'sich  schnell  bewegen^ 
wild  losrennen'  —  beide  mit  dem  verstärkenden  -a  wie  in 
mhd.  blimv-ö,  s.  S.  2;^  Fußn.  2  — ,  bei  oje!,  ojemine!,  ojerum 
u.  a.  dgl.,  die  Jesus  enthalten,  bei  heda !,  worin  das  Adverbium 
da  steckt,  bei  ngriech.  ^tiqs!  ('heda!')  aus  iiaQS^  und  so  war 
es  auch  vielfach  bei  Interjektionen  alter  Sprachen,  z.  B.  bei 
lat.  eml,  aus  dem  Imper.  eme  ('nimm,  da  hast  du').  Wer 
kann   also    wissen,    ob    nicht    auch   unter  Interjektionen   wie 


i)  Bekannte  Beispiele  sind  u.  a.  griech.  aye,  qp^ps,  lat.  age,  nhd. 
halt,  geh,  ai.  ehi  (Vevf.  Gruudr.  2-,  3,  822f.).  —  Ist  nicht  das  qq  von 
homer.  ^qqs  '^pack  dich!  geh  zum  Henker!'  (vgl.  Wackebnagel  Sprachl. 
Unters,  zu  Homer  S.  x)  afiektische  Gemination  gewesen?  Zuverläösigen 
etymologischen  Anschluß  an  Außergriechisches  hat  igoi  noch  nicht 
gefunden. 


2  0  Karl  Bkuümann:  [70,  <> 

etwa  ai.  iivc  arm.  vay  usw.,  griech.  q^ev  hit  fit  usw.  (S.  2;^ 
Fußn.  2)  diese  oder  joue  aus  i'iner  wirkliclien  Wortforni  um- 
gestaltet worden  war'?  Mit  dtii  'Lautj^csetzen',  wie  wir  sie  auf 
die  Formen  anderer  Wortklassen  au/nwenden  pflegen,  ist  hier 
ja  eine  Kontrolle  nicht  zu  üben.^) 

Das  Hauptgebiet  der  Interjektionen  sind  naturgemäß  von 
jeher  die  Satzarten  gewesen,  deren  Grundlage  Gefühle  und 
Empfindungen  waren.  Sie  treten  hier  noch  vielfach  als  selb- 
ständige Sätze  auf,  und  sie  stehen  oft  auch  noch  dann,  wenn 
sie  durch  Einverleibung  in  einen  andern  Satz  zum  Satzglied 
herabgesunken  sind,  im  Dienste  des  Ausdrucks  der  besonderen 
seelischen  Grundstimmung. 

i)  Gewissermaßen  das  Gegenspiel  dazu,  daß  echie  Wortformen  zu 
reinen  Getuhlslautungen  werden,  bildet  die  Erscheinung,  daß  aus  Inter- 
jektionen Wortformen   referierender    Bedeutung,   rein   aussagenden  In- 
halts geschaffen  werden.  Der  Empfindungston,  der  vorlianden  ist,  wenn 
der  Sprechende  selbst  der  Träger  und  das  Subjekt  der  Empfindung  ist, 
wird  dabei   von   dem,  der  aus   dem   Gefühlslaut  ein  Wort  macht,  zu- 
nächst vielleicht  noch  bis  zu  einem  gewissen  Grad,  so  zu  sagen,  ono- 
matopoietisch  beibehalten,    verliert  sich   aber  mit  der   Zeit.     So  nihd. 
ächzen  echzen  nhd.  ächzen  zu  ach!,  n\\x(\..  jüwcn  jüwezen  %\iju!,  juchezen 
uhd.  juchzen  zu  juch!,  nhd.  jucheen  jucheien  zu  jucke!  jucheU,  griech. 
(pivta   'wehklage'   zu    qptv,  lat.    eiulo   zu   ei!,  ai.  RV.    aJMMU-kftya 
"jauchzend',    'den   Ruf  akhkhala   ausstoßend',    ferner    die    Substantiva 
■wie  nhd.  das  iveh  zu  tveh!,  av.  avaetät ,  gewissermaßen  'das  Wehtum' 
(wie  es  Baktholomak  übersetzt),  zu  avöi  (vgl.  S.  23  Fußn.  2),  lett.  ivai- 
mana   'Wehklage'    (mit   dem  Verbum   imimanät   'wehklagen')    zu    ivai 
man!  'weh  mir!'.     Solche  Wortbildungen   kommen  okkasionell  immer 
noch  neu  auf:  z.  B.  bei  lt.  Puesber  Das  Mädchen  vom  Nil'  S.  159  ruft 
einer  „Aha!";  daraufsagt  ein  andrer  „Gar  nichts  aha!  Du  ahast  immer 
viel  zu  fruit."     Man  mag   auch  vergleichen  die  Bildung  von  Personen- 
namen auf  Grund  von  gefüdlsbetonten  Wunschausdrücken,  z.  B.  Gott- 
helf,  Waltsgott,  Leberecht,  Turecht,  der  Gottseibeiuns,  spätlat.  Vincemalus 
(zu  vince  malos),  oder  appellativische  Nomina  wie  russ.  sudibogi  'Klagen, 
in  denen  oft  sudi  bog!    gesagt  wird",    ai.  kändis-   'ein  Flüchtiger',  zu 
kä  disam  'nach  welcher  Richtung  [soll  ich  mich  wenden]?',  ferner  die 
Benennungen    von    Sachen    und    Lebewesen    auf   Grund    von    gehörten 
Schällen    und    Geräuschen,    wie    die   ticktack   'Uhr',  kuckuck   guvkguck 
griech.  xÖhxvI  usw.,  ai.  kiki-h  (kiki-dli>ih)  griech.  v-ieau  xi'rra  (aus  *>ciHia) 
ahd.  hehara  ags.  hi^era  'Häher'. 


70,6]  VeRSCHIEDEKHEITKN    DER   SATZGESTAliTUNG   USW.  27 

6. 

S.  6  ist  darauf  hingewiesen,  daß  für  unsere  Betrachtimg 
der  Satzarten  diese  nicht  wohl  eingeteilt  werden  könnten 
nach  Maßgabe  einer  solchen  Einteilung  der  psychischen  Ge- 
bilde, namentlich  der  Affekte  und  Willensvorgänge,  wie  sie 
von  der  Psychologie  ohne  spezielle  Berücksichtigung  der 
sprachlichen  Ausdrucksbewegungen  vorgenommen  wird.  Die 
psychischen  Vorgänge  selbst  sind  fast  immer  reicher  und  kom- 
plexer als  ihre  verschiedenen  Ausdrucksformen,  und  es  fehlen 
besondere  Namen  für  alle  unterscheidbaren  Schattierungen. 
Bei  der  Gruppierung  des  Stoffes  hat  man  daher  sofort  die 
von  der  Sprache  selbst  gebotenen  konventionellen  Ausdrucks- 
formen als  Anhaltspunkte  und  Leitfäden  zu  benutzen. 

So  gehen  wir  denn  jetzt  der  Reihe  nach  die  Satzarten 
durch,  wie  sie  in  unsern  idg.  Sprachen  in  den  Dienst  des 
Ausrufs,  des  Wunsches,  der  Aufforderung,  der  Ein- 
räumung, der  Drohung,  der  Abwehr  und  Abweisung, 
der  Aussage  über  eine  vorgestellte  Wirklichkeit  und 
der  Frage  getreten  sind.  In  diesen  Fällen  sind  für  den 
Sprachforscher  die  Grundmotive  des  Sprechens  am  leichtesten 
erfaßbar.  Dabei  ist  dann  im  einzelneu  zu  untersuchen,  wie 
die  vorhandenen  Ausdrucksmittel  dadurch  abgeändert  worden 
sind,  daß  Satzformen  zu"  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  noch 
neue  Bedeutungen  hinzubekommen  haben,  und  wie  sie  sich 
dabei  den  neuen  Verhältnissen  angepaßt  haben. 

Daß  es  inbezug  auf  die  Grundstimmung  Mischformen 
gibt,  Satzgattungen,  die  genau  genommen  in  zwei  von  den 
angesetzten  Kategorien  zugleich  gehören,  darf  kein  Hindernis 
für  unsere  Einteilung  bilden.  So  gibt  es  z.  B.  Sätze,  die  man 
zugleich  als  Ausruf ungs-  und  Fragesätze  zu  bezeichnen  hat, 
wie  z.  B.  (staunend)  du  schweigst? .',  lat,  taces?!,  und  daß 
etwas  unter  verschiedene  Gesichtspunkte  zugleich  fällt,  be- 
gegnet auch  sonst  in  allen  Teilen  der  Grammatik. 

Es  soll  aber  hier  nur  eine  einigermaßen  orientierende 
Umschau  geboten  werden,  nicht  eine  vollständige  Vorführung 


28  Kahl  Bkigmann:  [70,^' 

des    überall    in    üppigster    Fülle    ont^'o^entrekMulen    Materials. 
Kür/e    ist    umsoniehr    niöglii'li    und    i^eboten,    als    es   sicli   im 
wosentliclieu  ja  um  nicht  Un))ekanntes  handelt.    Das  Neue  liegt 
daher  allermeisteus  nur  in  der  Zusaujuieustellung  und   Grup- 
pierung  des   sacldich    Zusammengehörigen;    eingehendere  Be- 
handlung, die  vermutlich   mancherlei   Neues,    auch    grundsätz- 
lich Neues,  wird  hinzubringen  können,  überlasse  ich  andern. 
Zum    Beispiel    hoöe    ich,    daß   tiefer    schürfende   Einzeluuter- 
suchun«»-    wenn  sie  in  den  von  uns   angedeuteten  Richtungen 
vorgeht,  uns  eine  klarere  Einsicht  bringen  werde  in  das  ent- 
wicklungsgeschichtliche  Verhältnis,  in   dem   die  verschiedenen 
von  uridg.  Zeit    nebeneinander  hergehenden  Gebrauchsweisen 
des  Konjunktivs  und  des  Optativs  zueinander  gestanden  haben. 
Ich  habe  besonders  solche  Erscheinungen  berücksichtigt, 
die   in   mehreren  idg.   Sprachen   in   gleicher  Weise  entgegen- 
treten, dabei  aber  durchaus  nicht  Wert  darauf  gelegt,  jedes- 
mal alle  diejenigen   Sprachen   namhaft   zu   machen,   in    denen 
sich  die  gleiche  Erscheinung  vorfindet. 

7- 
Satzbildung  im  Dienste  des  Ausrufs.  Unwillkür- 
liche Ausrufe  sind  das  Primitivste  im  Sprachleben.  Sie  sind 
reflexartige  Ausdrucksbewegungen  mit  dem  Vorstellungsinhalt, 
der  den  jeweiligen  Affekt  begleitet.  Da  sie  absichtslos  und 
mehr  oder  minder  unbewußt  hervorbrechen,  sind  sie  zunächst 
'monologischer'  Art.  Von  dieser  Art  sind  aber  nicht  etwa 
Idoß  solche  interjektionale  Gebilde  wie  achf,  ei!,  au!,  sondern 
auch  ausgebautere  Sätze  sind  in  den  Dienst  des  unwillkür- 
lichen Ausrufs  geraten,  nachdem  der  Mensch  im  Verkehr  mit 
seinesgleichen  bereits  zu  einer  höheren  Stufe  im  sprachlichen 
Ausdruck  der  Gefühle  und  Gedanken  gekommen  war:  so  z.  B. 
wenn  einer  im  einsamen  Zimmer  für  sich  ausruft  donner- 
Lvetter,  hob  ich  mich  geschnitten!^)  Ausrufe  erfolgen  aber  nicht 

i)  So  sicher  es   ist,   daß  jeder  Fortschritt,  den  die  menschliche 
Lautsprache  gemacht  hat,  durch  das  soziale  Zusammenleben  der  Men- 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzge.stat.tuno  u8w.  29 

nur  rein  mechanisch  ohne  Rücksicht  auf  Mitmenschen.  Sie 
richten  sich  auch  an  einen  andern  Mensclien,  in  welchem 
Falle  sie  Reaktionen  eines  Willens,  Willenshandlungen  (das 
Wort  Wille  in  seinem  landläufigen  Sinne  genommen)  sind. 
Sie  sind  dann  zugleich  Zurufe.  Wenn  der  andere  dadurch  zu 
einer  Tätigkeit  veranlaßt  werden  soll,  werden  sie  zu  Auf- 
forderungen. Diesen  letzten  Fall  besprechen  wir  besonders  (§  9). 
Der  Ausrufsatz  ist  diejenige  Satzart,  die  am  wenigsten 
von  den  andern  Satzarten,  wie  wir  sie  in  §  6  unterschieden 
haben,  abgesondert  werden  kann.  Es  rührt  das  daher,  daß 
man  es  auf  diesem  Gebiet  am  häufigsten  mit  Kompliziertheit 
der  seelischen  Regungen  zu  tun  hat  und  bei  der  Interpreta- 
tion des  Gesprochenen  so  oft  nicht  einmal  das  herauszuhören 
ist,  welches  von  den  in  einander  verflochtenen  Motiven  der 
redenden  Persönlichkeit  das  dominierende  gewesen  ist. 

sehen  bedingt  gewesen  ist,  so  ist  es  doch  nicht  richtig,  das  monolo- 
gische Sprechen,  wie  z.uweilen  geschieht,  darum,  weil  es  nicht  als  Ver- 
kehrsmittel erscheint,  wie  etwas  anzusehen,  das  ganz  außerhalb  der 
eigentlichen  Sprache  und  ihrer  Geschichte  steht.  Zunächst  haben  schon 
bei  der  ersten  Entstehung  der  Sprache  zwecklose  automatische  Laut- 
äußerungen dann,  wenn  sie  von  andern  Menschen  gehört  und  von  ihnen 
so  oder  so  verstanden  wurden,  deren  stimmliche  Äußerungen  ebenso 
beeinflussen  und  sie  ebenso  zur  Nachahmung  anregen  können  wie  die 
aus  Mitteilungsabsicht  hervorgegangenen  Äußerungen.  Ferner  ist  für 
das  Sprechen  des  sprechenleruenden  Kindes  im  Spiel  mit  Puppen  oder 
im  Verkehr  mit  Haustieren,  mag  man  da  auch  von  anomaler  oder 
illusionistischer  Störung  des  Situationsbewußtseins  reden  dürfen,  zu  be- 
achten, daß  solches  Sprechen  mit  zu  den  Übungen  gehört,  wie  sie  das 
Kind  nötig  hat,  um  in  den  Vollbesitz  der  Sprache  zu  gelangen.  Weiter 
aber  wird  niemand  es  als  etwas  Abnormes,  Wesenswidriges  im  Ge- 
brauch der  Sprache  brandmarken  wollen,  wenn  sich  einer  Aufzeich- 
nungen macht  in  der  Absicht,  sie  nur  für  sich  späterhin  zu  verwenden, 
wobei  also  dieselbe  Person  Sprachgeber  und  Sprachempfänger  ist.  Was 
im  Verkehr  von  Mensch  zu  Mensch  entwickelt  worden  ist,  verliert 
durch  Verwendung  außerhalb  dieses  Verkehrs  sein  Wesen  ebenso  wenig 
wie  etwa  ein  Messer,  das  zum  Schneiden  fabriziert  worden  ist,  aufhört 
Messer  zu  sein,  wenn  man  es  auch  einmal  zum  Einschlagen  eines  Nagels 
benutzt.  Vgl.  hierzu  0.  Dittrich  Zeitschr.  für  roman.  Phil.  30  (1Q06) 
S.  480. 


30  Kabl  Brlumann:  [70,6 

Die  primitiviste,  ursprüu^lichste  Gattung  der  Ausrul- 
sätze  sind 

i)  ilio  luterjektiouen  (G  efilhlslaut  ungen).  Sie 
haben  uus  oben  S.  21  ff.  schon  so  weit  beschäftigt,  daß  hier 
nur  weniges  hiuzugel'iigt  z.u   worden  braucht. 

Sic  hissen  sich  nach  verschiedenen  Gesiclitspunkteu  iu 
Gruppen  sondern,  /..  B.  danach,  ob  sie  unwillkürlich  heraus- 
kommen, wie  gewöhnlich  z.  B.  ach!,  au!,  oder  auf  Grund  eines 
Willensvorgangs,  wie  z.  B.  pfui! ,  oder  danach,  ob  in  ihnen 
eine  Lust-  oder  eine  Unlustempfindung  hervorbricht,  vgl.  etwa 
das  S.  22  genannte  ei!  des  Kindes,  das  etwas  ihm  Wohl- 
gefälliges  erblickt,  und  anderseits  hü!  oder  pfui!. 

Ihren  Satzcharakter  zeigen  die  Interjektionen  nicht  bloß 
in  ihrem  Auftreten  für  sich  allein,  als  in  sich  geschlossene 
verständliche  Äußerungen,  sondern  auch  dadurch,  daß  sie,  wie 
die  andern  Satzarten,  satzverbindende  Partikeln  zu  sich 
nehmen  können,  z.  B.  Goethe  Ged.  (Hemp.)  i,  59  Aher  ach!, 
griech.  Pkt.  Phaedr.  p.  263a  »^  y(^Q?,  etwa  'nicht  wahr?'  (in 
Frageform   umgesetztes  versicherndes  r]  yccQ). 

Überaus  häufig  bildet  in  allen  Sprachen  eine  Inter- 
jektion in  der  Weise  eine  Art  Einleitungssatz  zu  einem 
nachfolgenden  Satz,  daß  sie  zunächst  einer  Affektregung  für 
sich  Ausdruck  gibt  und  ein  sich  anschließender  Satz  dann 
die  Vorstellung  ausdrückt,  welche  den  Affekt  begleitet,  z.  B. 
ach!  das  ist  schön!,  bezieh,  (in  einheitlicherer  Aussprache) 
ach  das  ist  schön!.  Öfters  aber  folgt  die  Interjektion  auch 
nach,  oder  sie  wird  eingeschoben,  in  welchen  Fällen  sie  ihre 
Selbständigkeit,  ihren  Charakter  als  Satz  aufgegeben  hat  und 
nur  noch  als  Glied  eines  Satzes  oder  gar  nur  als  Anhängsel 
an  eine  einzelne  Wortform  erscheint,  z.  B.  mhd,  blimr-ä  hliu 
(S.  23). 

Von  den  mannigfachen  Arten  von  An-  und  Eingliederung 
des  aus  der  Interjektion  bestehenden  Satzes  an  und  in  andere 
Sätze  sei  hier  noch  genannt  die  Gattung  der  Kurzsatzformen, 
wie  weh  mir!,  mhd.  öwe  mir!,  ach  mines  libes!,  lat.  vae  mihi !,. 
0   nie   miserwn!.    griech.    co-uot.     Die   Herstellung   des  Kurz- 


70,  6]         Veusciüedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  3 1 

Satzes  (S.  17)  ist  hier  durch  die  vorausgehende  Interjektion 
wesentlich  begünstigt  worden:  je  klarer  die  Interjektion 
schon  für  sich  die  seelische  Grundstimmung  kundgibt,  um  so 
leichter  verträgt  der  auf  denselben  Ton  gestimmte  Gedanke, 
der  sich  anschließt,  eine  die  Meinung  des  Redenden  nur  an- 
deutende sprachliche  Gestaltung. 

2)  Der  Vokativ.  In  welcher  besonderen  Seelenlage  diese 
nominale  Form,  ursprünglich  nur  die  Stammgestalt  des 
Nomens,  als  Satz  zu  allererst  angewendet  worden  ist,  wird 
nicht  zu  ermitteln  sein.  Delbrück  Grundfragen  S.  144  sagt, 
als  Äußerung  habe  der  Vokativ  die  Aufgabe,  durch  Nennung 
des  Namens  im  Rufe  die  Aufmerksamkeit  zu  erregen.  Eben- 
so Ottmau  DiTTRKii  Wundt's  Philcs.  Stud.  19,  104,  der 
'gewünschte  Aufmerksamkeit  des  Angeredeten'  als  die  eigent- 
liche syntaktische  Bedeutung  des  Vokativs  bezeichnet.  Viel- 
leicht ist  es  richtiger,  nur  die  sprachliche  Hinwendung  an 
eine  vor  Augen  stehende  Person  (oder  auch  Sache)  im  all- 
gemeinen als  'Grundbedeutung'  hinzustellen  und  das  Zweck- 
motiv, als  ein  zwar  häufig  vorhandenes,  aber  nicht  notwendig 
mit  zu  Grunde  liegendes  Element,  beiseite  zu  lassen.  Vom 
Nominativ  unterschiede  sich  dann  ursprünglich  der  Vokativ 
nur  dadurch,  daß  er  den  N-ominalbegriff  nicht  in  einen  syn- 
taktischen Zusammenhang  hineinzog,  sondern  als  eine  in  sich 
abgeschlossene  Äußerung  frei  und  selbständig  ließ. 

Ausrufcharakter  hat  der  Vokativ  (und  die  so  oft  an  seine 
Stelle  getretene  Nominativform)  vor  allem  dann,  wenn  der  Spre- 
chende an  das  Wesen,  die  Eigenschaften,  die  Stellung  der  Person 
denkt  und  diese  Vorstellung  ihn  seelisch  erregt:  z.  B.  vaterf, 
etwa  wenn  der  Sohn  den  Angeredeten  an  seine  Vaterpflichten 
erinnern  will,  ferner  auch  entweder  ein  bloßes  du!  in  Fällen 
wie  bei  A.  Meinhardt  Ein  Regentag  (Reclam  n.  5312)  S.  28 
0  du!,  schluchzt  sie,  wie  oft  hast  du  nicht  sonst  gesagt,  du 
würdest  alles  tun  für  die  Mutter,  oder  in  Verbindungen  wie 
du  guter!,  du  liebes  mädchcn!,  du  schuft!.  Oder  als  Gefühls- 
ausbruch f/ott!,  herrgott!,  herrjesus!,  hinimeH,  lat.  pol!  usw., 
was   alles,   teils  für  sich  allein,    teils  im  Zusammenhang  mit 


22  \\Kiu.  Bin  (»mann:  [7<^«6 

Intoijoktioüon,  z.  1^  ach  (loH!,  n  (fofff,  sclhor  «^pijkUv/.u  inter- 
jektionale  Oeltunj^  bekonmien  hat,  so  daß  also  clor  Vokaiiv 
als  eiiio  an  eine  konkrete  Vorstellung  gebundene  Interjektion 
erscheint. 

Minder  proß  ist  die  seelische  Erregung  im  allgemeinen, 
wenn  der  Vokativ  als  An-  und  Zuruf  dient.  Meistens  l)ildet 
er  dann  die  Einleitung  /u  allerlei  Arten  von  Äußerungen,  zu 
Aufforderungen,  Mitteilungen,  Fragen  u.  dgl.  So  steht  er  denn 
y.uuächst  voran,  dann  aueli  eingeschoben  oder  naeligestellt. *) 
Auch  so  kann  er  sieh  mit  einer  Interjektion  verl)inden.  Ver- 
breitet war  so  besonders  die  Vorausstellung  von  *o,  im  Grie- 
chischen (w),  Lateinischen  (ö)  und  Keltischen  (ir.  a  und  a 
geschrieben^  Im  Griechischen  6  namentlich  in  vertraulicher 
Anrede,  wie  w  cpCle,  co  (fiXoi.  co  iitTiov.  Im  Lateinischen  o 
bei  stärkerer  Emphase,  wie  Cic.  Arch.  lo,  24  0  fortunatc 
ndulesccns,  qiii  hiae  virtutis  Homenim  praeconem  inveneris.'. 
Am  festesten  war  die  Verbindung,  am  engsten  auch  in  laut- 
licher Beziehung  im  Irischen,  z.  B.  ä-fir  'Mann!',  a-phopul 
'Volk!',  a-cJiosm  'Füße!'  (mit  Lenieruug  des  Anlauts  des 
Nomens).^)  Konventionelle  Anreden,  wie  sie  bei  Ansprachen 
beliebt  sind,  z.  B.  meine  lierrn,  griech.  (ca)  avÖQsg  'A^y]valoi^ 
werden  bei  längerer  Rede  gern  wiederholt,  sei  es  um  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  Sprecher  überhaupt  wach  zu  halten, 
sei  es  um  für  eine  Einzelheit  der  Rede  die  besondere  Auf- 
merksamkeit zu  erbitten. 

Der  Vokativ  als  Ausruf,  Anruf,  Zuruf  ist  der  verschie- 
<3ensten  Tonmodulatiou  fähig,  wie  natürlich  auch  der 
verschiedensten  Grade  der  Exspirationsstärke.  Dadurch  tritt 
für     den    Hörenden     die    Grundstimmuug     des    Sprechenden 


i)  Für  das  Altindiscbe  s  besonders  Thommen  Die  Wortstellung  im 
nachved.  Altindisclien  (Gütersloh   1903)  S.  7. 

2)  Unser  hd.  seit  dem  13.  Jahrb.  auftretendes  ö  als  Begleiter  des 
Vokativs  gilt  als  Latinismus.  Vielleicht  bat  aber  der  Latinismus  nur 
darin  bestanden,  daß  ein  schon  von  älterer  Zeit  her  vorhandener  echt 
germanischer  Gebrauch  der  Interjektion  vor  Vokativen  durch  das  La- 
teinische größere  Verbreitung  gewonnen  hat. 


/0, 6]         Verschiedenhkitkn  der  Sa-Tzgestaltung  usw.  ii^i 

meistens  weit  klarer  hervor  als  sie  sich  dem  Lesenden  zu 
enthüllen  vermag.  Mit  der  Tonart  verbinden  sich,  worauf 
schon  S.  12  f.  hin2;ewiesen  ist,  oft  Dehnungen  des  sonantischen 
Elements  der  Scblußsilbe.  Bei  uns  wird  in  Namen  wie 
Otto,  Emma  der  Schlußvokal  namentlich  dann  stark  gedehnt^), 
wenn  der  Angeredete  weitab  ist,  oder  auch  wenn  er  auf  ein 
«rstes  Anrufen  nicht  reagiert  hat  und  nun  erneut  angerufen 
wird.  Im  Altindischen  wurde  nach  den  Angaben  der  Natio- 
nalgrammatiker im  Vokativ  Tluti'  angewandt  beim  Ruf  aus 
<ler  Ferne,  bei  Androhung  und  im  ersten  von  zwei  gleich- 
lautenden Vokativen  im  Satzanfang,  wenn  Neid,  Lob,  Arger 
oder  Tadel  ausgesprochen  werde  —  was  lauter  Gelegenheiten 
sind,  in  denen  solcher  Quantitätszuwachs  auch  bei  uns  oft 
statthat;  bei  den  in  der  älteren  Literatur  handschriftlich  über- 
lieferten vokativischen  Plutierungen  ist  freilich  der  besondere 
Anlaß  nicht  immer  erkennbar,  z.  B.  SB.  14,  9,  i,  1  tarn 
udilsyuhliy  üväda  himäraS  iti  sä  hhoS  iti  präti  susräva  'nach- 
dem er  ihn  erblickt  hatte,  redete  er  ihn  an:  „Knabe!",  der 
antwortete:  „Herr!"'  Im  Kleinrussischen  wird,  wie  Hanüsz 
Über  die  Betonung  der  Substantiva  im  Kleinruss.,  Leipzig 
1883,  S.  36  bemerkt,  im  Vokativ  beim  lauten  Nachrufen  ge- 
Avöhnlich  die  letzte  Silbe  gedehnt,  so  daß  sie  betont  zu  sein 
scheine,  z.  B.  panicü  (Hanusz  vergleicht  damit  lit.  pone, 
deve,  (ike ,  sUnaü  u.  dgl.).  Die  Plutierung  des  Vokativs  — 
wenn  es  erlaubt  ist,  diesen  Ausdruck  auch  für  andere  Spra- 
chen als  das  Altindische  anzuwenden  —  ist  bei  uns  oft  mit 
Ansteigen  der  Stimme  in  der  letzten  Silbe  verbunden.  Das 
ist  das  Kennzeichen  der  Spannung,  mit  der  der  Redende 
Reaktion  vonseiten  des  Angerufenen  erwartet. 

Die  verschiedenen  Akzentuierungsarten  des  alten  Vokativs 
«ind  überall  auf  die  norainativischen  Formen  übergegangen, 
so  weit  diese  für  die  Vokativform  eingetreten  sind.  Daher 
z.  B.  im  Altindischen  dyaiih  d.  i.  diyauli  '0  Himmel'  neben 
dyaiih  'der  Himmel'.    Ob  der  Nominativ  im  Plural  und  Dual 

i)  Ich  las  diese  Dehnung  in  einer  humoristischen  Erzählung  durch 
die  Schreibung  Ottoooo!  dargestellt. 

Ihil.-hist.  Klasse  1918.   Bd.  IjXX.  6.  3 


34  Kaut,  Brucjmann:  [7^1 '• 

\on  Anfang-  Jin  nur  noniiniitivisclio  Knnl<tion  g(>lml)t  Imt  und 
erst  sekundär  auch  vokativiscli  hpuut/.t  worden  ist,  ist  nicht 
7.U  wissen.  Yernnitlich  enthalten  alx-r  die  bcirell'enih'n  Kornion 
üborhrtupt  kein  Kasus-,  sondein  nur  ein  Nuinerus/eidien,  wie 
auch  /.  li.  die  singuhirisdien  Nominative  prieeli.  iln«,  ai.  divi 
ohne  Noniinutivendung  sind.  Hetonun'^suuterseljiede  zwisclien 
Nominativ  und  \'okativ  im  IMural  und  Dual  sind,  so  weit 
wir  riu'kwärt.s  zu  schauen  vermö(i;en,  ebenso  alt  wie  die  Be- 
tonungsunterschiede  im  Singular,  vgl.  /,.  li.  ai.  Noin.  Flur. 
devah  ('Götter'),  Vok.   Plur.  dcräh. 

In  die  Tonlage  des  Vokativs,  sei  es  des  alleinstehenden 
oder  des  mit  vorausgehender  Interjektion  verbundenen,  werden 
gewöhnlieh  Genitive,  Adjektive  und  was  sonst  etwa  sich  dem 
vokativischen  Substantiv  enger  anschließt  mit  hineingezogen, 
z.  B.  du  lieber  himmd!  Im  Ai.  bekundet  sich  das  in  der 
Schreibung  wenigstens  hinsichtlich  der  Exspirationsstärke:  der 
Vokativ  mit  seinem  Zusatz  zusammen  steht  im  Satzant'ang 
unter  einem  Akzent  auf  der  ersten  Silbe  des  ersten  Wortes, 
z.  B.  rdjan  söyym,  somn  räjan,  pänca  janah,  während  in  andrer 
Stellung  die  ganze  Grupi)e  gleich  dem  alleinstehenden  Vokativ 
nn akzentuiert  ist,  z.  B.  RV.  i ,  1 1 ,  2  saJihfß  ta  indra  vajino 
md  hhemn  savasos  pate  'in  deiner,  des  kräftigen,  Freundschaft, 
o  Indra,  sollen  wir  uns  nicht  fürchten,  Herr  der  Stärke'. 

3)  Der  Ausruf  kleidet  sich  in  die  Form  des  einfachen 
Aussagesatzes,  namentlich  bei  Verwunderung.  So  nhd. 
der  ist  groß!,  der  kann  schreien!,  Rosegger  Das  lichte  Land 
(Leipzig  1917)  S.  248  Meiste^-  Liician  Flnrihiis  war  der 
musttrsclmster  in  Trumhach.  Dos  gab  Stiefel!  Oft  auch  mit  • 
vorausgeschickter  Interjektion,  wie  ei,  das  ist  schön!  So  überall 
in  unsern  idg.  Sprachen.-') 

i)  Beiläufig  eine  Bemerkung  über  die  altertümliche  Wortstellung 
in  nbd.  Ausrufungssätzen  wie  Mos.  i,  26,  27  (Luther)  hasset  ihr  mich 
doch!  oder  ist  der  dumm!,  bist  du  groß  geworden!,  wurde  der  memch 
zm-nig!  (vgl.  Erdmann  Grundz,  i,  187).  üegenüTjcr  der  im  schlichten 
Aussagesatz  üblich  gewordenen  Wortstellung  (der  mensch  wurde  zorni(j) 
und    der  Satzformuug    mit    e«   vor  dem  Verbum  (es  icurde  der  mensch 


70,6]         Verschiedenheiten  di:i{  Satzgestaltung  üsw.  35 

Dazu  überall  auch  Kurzsätze,  wo  denn  je  nach  der  Situ- 
ation die  Betonung-  verschieden  ist.  Nhd.  ein  hasef,  dieser 
äummhopf!,  sieg!,  ich  armer!,  lat.  Ter.  Ad.  304  hocine  saeculnm!, 
griech.  d  292  äXyiov'  ov  yaQ  ot  n  xd  y  tjqxsös  XvyQov 
b?.£d-Qov  'recht  schlimm!,  denn  dies  hat  ihm  in  keiner  Weise 
das  böse  Verhängnis  abgewehrt'.  Auch  mit  einleitender 
Interjektion,  wie  ei,  ein  hase!,  nihd.  Parz.  326,  28  ach  ich  arm 
unsaelec  man! 

Solche  Kurzsätze  haben  vielfach  den  Charakter  von 
Interjektionen  bekommen.  So  nhd.  leider!,  ursprünglich  Kom- 
parativ des  Adjektivs  leid.  Lät.  malum,  besonders  oft  in  Frage- 
sätze eingeschoben,  bei  zorniger  Erregung,  etwa  wie  bei  uns 
ziim  donnenvetter!  (ivo  zumdomKrivetter  hUihst  du  denn?), 
zum  hichicJi!  u.  dgl.:  PJaut.  Amph.  403  quid  —  malum  — 
non  sum  ego  servos  Amphitruonis  Sosia?,  Cic.  off.  2,  15,  53 
quae  te  —  mahtm  —  ratio  in  istam  spem  induxit?  Ai.  l'astam,, 
etwa  Veh!',  Neutr.  zu  liastnli  'schlimm,  arg',  auch  dJiiMastam 
mit  der  Interjektion  dhiJi  (P.  W.  2,  191).  Lett.  te  pa  galam! 
bei  getäuschter  Erwartung,  'jetzt  ist's  am  Ende!,  da  haben 
wir'sl'  — 

Eine  Grenzlinie,  von  der  an  man  einer  in  lebhafterer 
Stimmung  geäußerten  Aussage  den  Charakter  des  Ausrufungs- 
satzes zuzusprechen  habe,  ist  naturgemäß  nicht  zu  ziehen. 
Daher  das  starke  Schwanken,  das  man  im  Gebrauch  des  Aus- 
rufezeichens in  diesem  Fall  beobachtet. 

4)  Daraus,  daß  Staunen  und  Verwunderung  Unsicherheit, 
Zweifel,  Verlegenheit  in  sich  schließt,  erklären  sich  die  Aus- 
rufungen in  Form  des  Fragesatzes.  Besonders  oft  erscheint 
diese  Ausdrucksweise,  wenn  Unwille,  Mißbilligung,  Entrüstung 
sich  zugesellt.     Nhd.  du  List  schon  nieder  zurücli? !,  so  früh 

zornig)  hat  hier  der  Ausrufcliarakter  ebenso  isolierend  und  konservie- 
rend gewirkt,  eine  in  alter  Zeit  weiter  verbreitet  gewesene  Wortstellunff 
ebenso  geschützt,  wie  es  in  der  lebhaften  Erzählung  deren  psychischer 
Grundcbarakter  getan  hat,  z.  B.  Job.  4,  9  (Luther;  spricht  zu  ihm  das 
weih.  Vgl.  SüTTERLiK  Die  d.  Spr.  der  Gegenw.*  29of.,  Verf.  13er.  d. 
Sachs.  Ges.  d.  Wis?.   1917,  5.  Heft,  S.  44  f. 

3* 


3^  IvAia,  Bia.ciM.vN.N:  [70,  (> 

schon  anff!,  ich  ein  li((jiicr ':!.',  ha!  hisi  das,  vnräter? !  Lat. 
Plaut.  Mil.  8_nj  L.  i\o/<  jmnnpsi.  V.  Ncf/as'f'f,  Cure.  41  e/mwi 
taccsY!,  Pers.  275  scclcratc,  ctiam  rcspicis?!,  Aniph,  813  vir  cyo 
tuos  sim?.'  'ich  soll  doin  Manu  sriu?!',  besonders  auch,  wenn 
eine  Zumutunjr,  etwas  zu  tun,  zu rück<^e wiesen  wird,  wie  Hacch. 
627  P.  )ion  tacf'S  insipiens':'  M.  taccam';' !  'icli  soll  schwei- 
gen VI',  Mil.  49b  S.  vicinc,  ansculfa,  gnncso.  P.  cfjo  auscidtcm 
tibi':'!  (A.  R.  An'dkkson  Pepudiate  Questions  in  (jireek  Drama 
and  iu  Plautus  and  Terence,  Transact.  of  the  Anier.  Philol. 
Ass.  44  (1913)  S.  43  ff.,  KüHiNER-Stkgmann  Ausf.  Glranim.  2, 
501  f.,  Bexnett  Synt.  of  early  Lat.  i,  25,  Schmalz  Lat.  ßynt." 
472).  Vgl.  Lmmk  Die  Fragesätze  2  (Progr.  von  Cleve  iSSi) 
S.  1 1  f.,  Paul  Prinz.*  137. 

5)  Die  (fo-  und  die  ?ö-Sätze  als  Ausrufe.  Es  handelt 
sich  hier  um  Sätze,  die  mit  Formen  der  Pronominalstämnie 
*2"o-  (bezieh.  *q~i-,  *q'Mi-)  und  *io-  eingeleitet  sind,  die  mit 
g-o-Formeu  sind  von  Haus  aus  teils  unabhängige  teils  ab- 
hängige Sätze,  die  mit  */o-Formeu,  du  dieses  Pronomen  in 
diesem  Fall  nur  älteres  Relativum  gewesen  sein  kann,  zu- 
nächst immer  abhängige  Sätze  gewesen.  Gemeinsam  ist  allen 
diesen  Satzgestaltungen  die  Grundstinimung,  aus  der  sie 
fließen,  im  wesentlichen  freudige  oder  unfreudige  Verwunde- 
rung, und  gemeinsam  deshalb  auch  die  Beionungsart;  für  ver- 
gangene Zeiten  läßt  sich  das  letztere  freilich  nur  vermuten. 
.  Bezüglich  der  Entwicklung  dieser  Ausrufungssätze  er- 
heben sich  mehrere  Schwierigkeiten,  die  uns  nötigen,  auf  sie 
etwas  ausführlicher  einzugehen. 

Klar  ist  zunächst  die  Entstehungsgeschichte  der  iö- Ausruf- 
sätze, wie  sie  im  Altgriechischen  und  im  Slavischen  vorliegen. 
Griech.  Beispiele:  «410  oiov  avuti,ag  äcpaQ  alj^tcu  Vie 
er  aufgesprungen  und  hurtig  davongegangen  ist!',  Plat. 
Euthyphr.  p.  156  oia  xoLslg,  a»  hulQS.  Meist  im  Anschluß  an 
an  einen  Vokativ,  eine  Interjektion  u.  dgl.:  <!>  441  vrjnvrt, 
ci)g  avoov  XQadiy,v  e%£s^  Soph.  Ant.  572  w  cftltud^'  Aliiov^ 
&S  (?'  aTuittt,€i  TiarrJQ,  Ai.  923  a  övö^ioq'  Al'ccg^  olog  hv  oXag 
sX^ig,    a  2)2   ü   tcöttol,    oiov    drj    vv  Q-sovg  ß^orol  aitiocovtai. 


70,6]         Verschiedenheitex  deu  Satzgestaltung  usw.  37 

Dieselbe  Gattung  von  Relativsätzen  findet  sich  auch  im  An- 
schluß au  Worte,  die  selbst  Verwunderung  bezeichnen,  wie 
a  382  Tr^^tuctiov  d-avuat,ov^  ö  d-aQöaXsojg  ayÖQSvsv  'sie 
bewunderten  den  T.,  was  er  kühn  redete',  Plat.  Civ.  p.  35od 
asT(<  idQcoTog  d-avfic(6rov  o'^ov,  vgl.  auch  Herodot  3,  113 
aTiö^si  ds  rr]g  Xt^Qv^g  rfjg  'jQaßirjg  d^sö^ceöiov  63g  ijöv  'es 
duftet  von  Arabien  her,  unaussprechlich  wie  lieblich',  Plat. 
Charm.  p.  155c  iv^ßltxl^B  ^loi  rotg  öcp&al^iolg  G^atjxavöv  n  oIoik 
Noch  weiter  als  in  den  letztgenannten  Fällen  ist  die  Ein- 
verleibung gegangen  in  solchen  Sätzen  wie  Plat.  Phaed.  p.  63  a 
avÖQsg  aocpol  tog  cchjd-ög  (vgl.  Kühner-Gekth  Ausf.  Gramm. 
2,  415  f.).  Über  die  besondere  Art  der  Satzbetonung  in  den 
verselbständigten  Sätzen  mit  cbg,  oiog  usw.  ist  nichts  über- 
liefert; sicherlich  war  aber  die  Tonmodulation,  wo  keine 
Einverleibung  stattgefunden  hat,  nicht  wesentlich  verschieden 
von  der  in  nhd.  ivie  kalt  es  heut  ist!  Und  mit  dieser  nhd. 
Satzart  mit  Nebeusatzstellung  des  Verbums  ist  die  griechische 
innerlich  auch  insofern  enger  verwandt,  als  auch  im  Grie- 
chischen der  Charakter  als  untergeordneter  Satz  noch  lange 
muß  empfunden  worden  sein.  Übrigens  kommt  es  nicht  da- 
rauf an,  ob  man  diese  /o-Sätze  zu  den  Relativsätzen  oder  zu 
den  indirekten  Frag-esätzeu  rechnet.  Denn  zwischen  beiden 
ist  in  der  historischen  Gräzität  ebenso  wenig  mehr  scharf  zu 
scheiden  wie  im  Altindischen  (vgl.  z.  B.  RV.  i,  170,  3  vidma 
hi  te  yätJiä  mänali  'wir  wissen  ja,  wie  deine  Gesinnung  ist', 
Delbrück  Vergl.  Synt.  3,  43 1  f.). 

Von  dem  in  alexandrinischer  Zeit  im  staunenden  Ausruf 
für  og  eingetretenen  xCg  wird  unten  zu  sprechen  sein. 

Im  Slavischen  treten  Relativ-  und  g-o-Pronomen  im  Aus- 
ruf beide  schon  in  aksl.  Zeit  auf.  Mit  je-  z.  B.  aksl.  Psalt. 
Sin.  8,  2  gospodi  nah,  jalo  cjiuhno  imjc  tvoje  po  Vbseji  zemli 
'unser  Herr,  wie  herrlich  dein  Name  über  die  ganze  Erde 
hin  ist!',  103,  24  jalio  vb^velicisj^  sjg  dcla  tvoja,  gospodi/  'wie 
erhaben  deine  Werke  sind,  Herr!';  poln,  jak  tvieJJä  jest  Bog! 
S.  VONDKÄK  Vergl  Slav.  Gramm.  2,  294  f.  Über  die  ko- 
Sä,tze  unten. 


^8  K  \i;i.  Itui  liM  \nn:  (70,  6 

Im  Griecliisclu'ii  uiul  kSluvihcliiii  liinulflt  vs  sich  also  um 
selbsüiutiig  gowonlcuo  lu'lativsätzo.')  Wo  nun  (j"o-  für  ?'o  For- 
men erscheiueu,  Tragt  es  sich,  ob  uud  wie  weit  man  es  mit 
alten  Ilauptsätzeu  7.u  tun  hat  oder  mit  alten  Nobensätzen  und 
weiter  im  lot/,tereu  Fall,  <»b  und  wie  weit  mit  indirekten  Frage- 
sätzen oder,  weuu  das  ^^"ö-Prouumeu  zugleich  die  J3edeutuug 
als  Kehitivum   bekommen  hatte,  mit  Ivelativsiitzen. 

Wie  im  Nhd.  heute  die  llau|it.s;itze  ivic  teuer  isl  dtts! 
und  nie  teuer  ist  das:'  oder  wie  viel  hast  du  vcrloicn.'  und 
tvic  viel  hast  du  verloren:'  in  der  Bedeutung  verschieden  sind, 
so  muß  das  auch  schon  in  uridg.  Zeit  gewesen  sein.  Denn 
diese  Gesceusätzlichkeit  tindet  sich  außer  im  German.  seit  ältester 
Zeit  im  Arischen,  Italischen,  Baltisch-Shivisehen  und.  wohl  auch 
im  Griechischen.  Daß  auch  die  Satzbetonung  überall  von 
Anfang  an  verschieden  war,  wie  sie  es  überall  in  denjenigen 
modernen  Sprachen  ist,  die  diese  Satzdoppelheit  noch  auf- 
weisen, läßt  sich  zwar  historisch  nicht  nachweisen,  ist  aber 
durchaus  wahrscheinlich.  Nun  leiten  Wegener  Grundfr.  64 f., 
Paul  Prinz.^  138,  v.  d.  GabelejsTZ  Die  Sprachwissenschaft 
310  u.  andre  die  Ausrufbedeutung  aus  der  Fragebedeutung 
her,  und  zwar  soll  die  sogen,  rhetorische  Frage  (vgl.  §  13,  4) 
die  nächste  Grundlage  für  den  Ausruf  gewesen  sein.  Psycho- 
logisch ist  das  aber  wenig  wahrscheinlich.  Der  Interrogativ- 
gebrauch der  3"- Pronomina  stammt  sicher  aus  uridg.  Zeit 
(§  14),  aber  aus  dieser  stammt  auch  der  exklamative  Gebrauch 
dieser  Pronomina,  und  da  fragt  es  sich  docli,  ob  nicht  die 
exklamative  Anwendung,  der  Gebrauch  mit  Verwunderungston, 
an  der  Spitze  der  ganzen  Gebrauchseiitwicklung  gestanden 
hat.  Daß  dies  der  Fall  war,  ist  die  Ansicht  von  Th.  Imme 
a.  a.  0.  I,  S.  19 ff.:  er  führt  hier  die  sämtlichen  Formen  der 
Q —Pronomina  auf  eine  uridg.  Interjektion  der  Verwunderung 
„*Ä:«.'''  (heute  würde  man  hierfür  eher  "'q-a.'.  bezieh,  '-q-c'  oder 
q^f  schreiben)   zurück  und  vergleicht  sie   mit  unserm  nhd. 

i)  An  dieser  .\uffaäsuug  macht  mich  nicht  irre,  was  A.  Dittmak 
Syntakt.  Grundfr.  63  if.  gegen  sie  vorbringt.  Vgl.  E.  Heemann  Griech. 
Forsch.  I,  if.  328. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  39 

bei  Staunen  hervorbrechenden  ha!^)  Daß  eine  mit  <£--  be- 
ginnende Interjektion  zu  Grunde  gelegen  hat,  ist  auch  mir 
wahrscheinlich.  Doch  will  ich  auf  diese  Vermutung  kein  Ge- 
wicht legen.  Jedenfalls  ist  es  von  psychologischer  Seite  her 
weit  wahrscheinlicher,  daß  die  Anwendung  in  Sätzen  verwun- 
derten Ausrufs,  wenn  man  in  Verlegenheit  und  Unsicherheit 
etwas,  das  einem  gegenübertritt,  bestaunt,  die  Grundlage  für 
die  Anwendung  in  einfachen  Fragen  (und  damit  zugleich  für 
den  Gebrauch  als  Indefinitum)  gewesen  ist  als  das  Umgekehrte. 
Man  lese  die  eingehenden  Betrachtungen  von  Imme  hierüber, 
die  mich  wenigstens  überzeugt  haben  (wenn  man  sich  auch 
in  manchem  Punkt  heute  etwas  anders  auszudrücken  hätte 
als  Imme).  Wegen  der  sogen,  indefiniten  Bedeutung  begnüge 
ich  mich  mit  Hinweis  auf  Delbrück  Vergl.  Synt.  i,  5 10 ff., 
Wegener  a.  a.'O.  76  und  Cacek  Grammatica  militans^  214. 

Beispiele  für  den  exklamativen  Gebrauch  sind  folgende. 
Für  das  Indische  kommen  Sätze  in  Betracht  wie  Säk.  117,  3 
Burkh.  hi  nu  khalu  gitärtham  äkarnifestajanavirahäd  rte  'pi 
balavad  utkanditö  'smi  'wie  bin  ich  doch,  nachdem  ich  des 
Gesanges  Inhalt  vernommen,  auch  ohne  Trennung  von  der 
Geliebten  höchst  sehnsuchtsvoll!',  20,  20  präkr.  Jcäö  vaq  pa- 
rittädu  (Ice  ävq,  pariträtuni)  'wer  sind  wir,  um  beschützen  zu 
können!'.  Ferner  die  Komposita  mit  kim-,  Jeu-,  liö-,  Jcavä-, 
kad-,  kd-,  wie  kim-purusä-  'Mißgeschöpf,  Kobold',  ku-carä- 
'gewaltig  schreitend',  Jcu-varsa-  'Platzregen',  kat-payä-  'schreck- 
lich anschwellend',  ka-püya-  'sehr,  arg  stinkend',  wozu  aus 
dem  Avestischen  kü-nffrt-  'schlechtes  Weib,  Hurenweib'.  Ur- 
sprünglich waren  das  Ausrufe  des  Staunens:  'was  für  ein  Ge- 
schöpf!' usw.,  die  mit  der  Zeit,  ähnlich  wie  im  Griechischen 
die  einstens  exklamativen  a^  alrjd'äg,  ag  stsQcog  u.  dgl ,  andern 
Sätzen  einverleibt  worden  waren.  S,  Wackernagel  Altind. 
Gramm.  2,  i,  82  ff.  Psychologisch  begreift  sich  leicht,  daß 
sich    die   Auffassung    gewöhnlich   in   malam  partem   wandte. 


1)  Imme  denkt  au  etymologische  Identität  seines  *ka!  mit  diesem 


haJ.     Das  ist  sicher  unrichtig. 


40  Kaki.  HuidMANN:  (7". '► 

N'orwmuh'ruiig  v'\i\v  giüBi-ic  Kullc  sitielte  al«  liownnderuiig. 
Zur  \  orbiiulimg  dieser  proiU)nii]ialeii  Präfixe  mit  Suhstaiitiva 
vgl.  uhd.  u)ini<  lisch,  unniassc,  griodi.  ^Ivü  jtuqi^  w.  dgl.  Wie 
W.  öriiULZK  KZ.  33,  243  t'.  erkannt  liat,  hatte  auch  (his  (irie- 
ehisehe  diese  Kompositiousart  in  böot.  :Tov-Xinog  'lleiBhunger' 
(woran  sich  der  Personenname  Ux^kiiiiäÖa^  aiigesclik>ssen  hat). 
In  IF.  39  habe  ich  aus  dem  Griechischen  weiter  noch  dazu- 
gestellt  öK-g:tjg  oa-cptivijg,  ursprünglich  Svie  klar!',  daiui  'sehr 
klar',  das  mit  Tl-tvqo^  gleichbedeutende  und  niil  rvXog  'Pe- 
nis' (zu  tti-  'schwellen,  strotzen')  zu  verbindende  2Jä-xvQog, 
ursprünglich  'was  für  einen  Penis  habend!'*),  (>«-/Ji;TTog  'weib 
liclies  Schaniglied'  neben  gleichbedeutendem  ßvxTog  ßvaaog 
(zu  ßi^aaog  'Tiefe');  6a-  =  meg.  öd  ion.  öad  att.  tt«,  Plural 
zu  tC,  identisch  mit  lat.  quin  {quianani':'  'weswegen?  warum V), 
dem  Plural  zu  quid.  Weiterer  Einzelheiten  *wegen  verweise 
ich  auf  den  genannten  Aufsatz  in  den  IF. 

Das  Griechische  verwandte  also  ebenfalls  einmal  die  q-- 
Pronomiua  im  Ausrufsatz.  Seit  Homer  erscheint  dafür  der  verselb- 
ständigte relativische  Nebensatz  mit  '^io-.  Und  wenn  im  hel- 
lenistischen Griechisch  (in  gewissen  Dialekten  wohl  auch  schon 
früher)  für  og  auch  rtg  in  Ausrufungssätzen  neu  aufgekommen 
ist,  wie  es  dann  bis  ins  Neugriechische  in  dieser  Anwendung 
verblieben  ist  (z.  B.  tl  ^ai)  ;^apüt\a£i'7j !  'was  für  ein  frohes 
Leben!',  ri  xalccl  ^wie  schön!'),  so  ist  das  in  syntaktischer 
Hinsicht  keine  Rückkehr  zu  jeuer  urgriechischen  Weise  von 
:cov-2,T^og,  6a-(frjg  usw.  Vielmehr  beruht  es  auf  Verselbstän- 
digung von  Nebensätzen  und  zwar  auf  der  bekannten  Ver- 
mischung der  Relativ-  mit  den  indirekten  'Fragesätzen' 
(Bkugmann-Thumb  Griech.  Gramm.'*  646). 

Als  unmittelbare  Fortsetzung  der  uridg.  ^"-Sätze  dürfen 
auch  angesehen  werden  die  germanischen  Ausrufsätze  mit 
Formen  von  '■•'q^o-  (got.)  ka-.  Z.  B.  Matth.  7,  14  han  aggwu 
ßata   daiir  jah  praihans   ivigs  sa  hrigganda  in  lihainai!  'ort 


I;  Vgl.  ved.  kä-prth-  und  ka-piiM-  'Penis',  ursprünglich  Vie  .sich 
ausdehnend!',  'sich  sehr  ausdehnend',  zu  pratJt-  (Johansson  IF.  14,  312). 


70,6]         Vkuschiedknheiten  deu  Satzgestaltung  usw.  41 

(v.  1.  Tt)  öxevri  i)  nvXr]  xul  re^ki^fiävi^  i]  oöbg  /j  ccTcdyovöa  elg 
Tfjv  ^coT^i''  (Vulg.  quam  angusta  etc.),  ahd.  Otfr.  2,  6,  3g  «raj 
er,  Zei<;e5,  ivunni!  'was  hätte  er  doch,  ach,  erreichen  köuneu!', 
Notk.  Boeth.  i,  i  ah  se  sere,  uio  uhilo  er  die  wencyen  gcJioret!, 
mhd.  Nib.  19  nie  sere  si  daj  räch.'  Im  Nhd.  begegnet  eben- 
sowohl die  Wortstellung  der  unabhängigen  Sätze,  z.  B.  wie 
Icalt  ist's  heute!,  icas  hat  er  schon  durchgemacht!,  wie  die  der 
abhängigen  Sätze,  z.  B.  wie  halt  es  heute  ist!,  ivas  er  schon 
durchgemacld  hat!,  eine  Doppelheit,  die  bei  den  zeitwortlosen 
Kurzsätzen  wie  wie  halt!,  ttelche  zähigheit!  natürlich  nicht 
hervortreten  kann.  Da  fragt  es  sich  denn,  wie  lange  das 
Germanische  den  ursprünglichen  unabhängigen  Ausrufsatz  mit 
q"o-  festgehalten  hat  und  wo  und  wann  man  bei  dieser  Art 
Ausruf  zur  Nebensatzform  gekommen  ist.  Die  Untersuchung 
dieser  Frage  muß  ich  andern  überlassen.  Nur  folgendes  sei 
dazu  bemerkt.  Nach  dem,  was  S.  19  f.  dargelegt  wurde,  ist 
mir  wahrscheinlich,  daß  Empi^idung  für  abhängigen  Satz  sich 
zunächst  da  eingestellt  hat,  wo  dem  Ausrufsatz  eine  gleicher 
Stimmung  entsprungene  Interjektion  vorausging,  wie  Nib.  22 
/<e«,  'ivao  er  sneller  dcgene  se  den  Burgonden  vnnt!,  Heinr. 
V.  Freiberg  1604  hiu,  iva^  man  rittcrschffte  jiflac  in  dem  tan!,. 
Ub-ich  von  Türheim  540,  13  ahl,  wie  wol  si  künden  küssen 
mit  den  munden!.  Hierbei  wirkten  assoziativ  ein  die  Neben- 
sätze mit  dem  g'" -Pronomen,  welche  von  Verba  des  Sich- 
wunderns,  Hörens  usw.  als  sogen,  indirekte  Fragesätze  ab- 
hingen: so  schon  im  Gotischen  Luk.  i,  21  jaJi  sildaleiki- 
dedun,  ha  latidedi  ina  in  ßizai  alh  'und  sie  wunderten  sich, 
was  ihn  in  dem  Tempel  aufhalte',  Mark.  3,8  gahausjaudans, 
Imn  filii  is  tawida  '  welche  hörten,  wie  viel  er  verrichtete '. 
Vollends  gewann  der  Nebensatzcharakter  dann  noch  eine 
Stütze  da,  wo  die  ^"-Formen  auch  noch  die  Geltung  als  Re- 
lativpronomina bekamen. 

Im  Slav.  erscheinen  gleichzeitig  /jo-Formen  mit  zo-Formen 
im  Ausruf:  aksl.  Matth.  7,  14  koh  qz^ka  vrata  i'  tcsm  pqtt 
Vivod^b  Vi  Hvott!  'ort  (v.  1.  ri)  örsvri  i]  nvXrj  y.ccl  rcd-Ximisvi] 
i}  6dbs  ij  uTtv.yovöa  aig  r))v  JIcot^i^',  Psalt.  Sin.  30,  20  koh  (Cod. 


42  KakI.  UlllKiMANN:  [7*^'. '> 

ßucur.  j(i/io)  imtKK/o  nnio':hslio  hinj/osfi  tvujrj^'^  i/ospodif]  nhul^. 
hikri  cndcsn  nc  stavnt^  na  s/v'Ya/,  uniss.  hdi'd  li  nulostu! 
(v^l.  VoNDKAK  VjM-gl.  Sliiv.  (imnim.  2,  294 f),  Dali  sicli  iuicli 
hier  Nebcnsaty.eharukter  cinj^estHllt  hat,  ist  wej^t'ii  der  Vcr- 
st'lbstämli^uu»;  der  /o  Sat/forni  im  AusiuC  wahrscheinlich. 
I)ü(di  vermag  ich  über  den  Umfang  dieser  Erscheinung  nichts 
zu  sagen.  *) 

Im  Lateinischen  herrschen  die  g^-Pronomina  schon  seit 
Beginn  der  Überlieferung  gUMchmälilg  in  unal)hiingigea  Aus- 
rufsätzt'n,  in  Ausnifsät/en  hinter  interjektionalen  Aus(hücken, 
in  direkten  und  indirekten  Fragesätzen  und  im  Rehitivsatz. 
Daher  ist  der  Entwicklungsgang,  den  die  Ausrufungssätze  ge- 
nommen haben,  nicht  mehr  zu  enthüllen.  Ter.  Ad.  555  quae 
harc  esf'  miscria!,  Phorm.  51 1  ijiiam  inclüjnum  facinu.sf,  Euft  730 
vah,  quanto  nunc  formosior  !  vidcre  mihi  quam  dudiim!,  was 
ebenso  wohl  mit  'ach,  wie  viel  schöner  erscheinst  du  mir  jetzt 
als  vorher'  wie  mit  'ach,  wie-,  viel  schöner  du  mir  jetzt  als 
vorher  erscheinst!'  übersetzt  werden  darf,  H.  T.  250  vae  mi- 
sero  mihi,  qunnta  de  spe  decidif,  Eun.  472  en  eunuchmn  tibi, 
quam  hhcrali  facie,  quam  aetate  inteiira!  Daneben  z.  B.  Ter. 
Hec.  go  non  dici  potcst,  quam  cupida  eram  huc  redeundi  und 
das  den  griech.  ^av^aöxöv,  ^ccv^icculov  entsprechende  mlrum 
in  Sätzen  wie  Liv.  2,  i,  11.  id  mirum  quantum  profuit  ad  con- 
cordiam  civitatis,  Cic.  Att.  1 3,  40,  2  mirum  quam  inimicus  ihat 
(Kühner-Stegmann  Ausf.  Gramm,  i,  13  f.).  Der  Charakter 
als  abhängiger  Satz  tritt  deutlich  erst  seit  Einführung  des 
Konjunktivs  für  den  Indikativ  in  die  Erscheinung,  z.  B.  Liv.  i, 
1 6,  8  mirum,  quantum  Uli  viro  nuntianti  haec  fides  fuerit.  Vgl. 
Kroll  Glotta  3,  5. 

Im  Baltischen  liegen  die  Verhältnisse  wie  im  Lateinischen, 
da  *io-  im  Ausrufsatz  fehlt.  Alte  unabhängige  Ausrufungs- 
sätze können   noch  sein   solche   wie  lit.   kek  menkai  iü  iszlei- 


i)  Über  dae  chrouologieche  Verhältnis  der  io-  und  der  Äro-Formen 
im  allgemeinen  im  Baltisch- Slavischen  b,  E.  Hermann  Über  die  Ent- 
wickl.  der  litau.  Konjunktionalsätze,  Jena  1912,  S.  84  ff. 


70,  6]  VEUt^CHIEDKNHEITEN   DER   S ATZGESTALTUNG    USW.  43 

dai/  'wie  wenig  liast  du  verausgabt!'  (oder  'wie  w.  du  ver- 
ausgabt hast!'),  Jcöks,  äklas  äs.z  buvaüf  'wie  blind  war  ich!' 
(oder  'wie  bl.  ich  war!'). 

6)  Wie  im  Ausruf  abhängige  Sätze  sich  verselbständigen, 
so  sind  im  Griechischen  und  Lateinischen  auch  Infinitiv- 
koustruktionen  selbständig  geworden.  In  sie  kleiden  sich 
Äußerungen  von  Unwillen,  Arger,  Betrübnis  u.  dgl.,  weshalb 
•dieser  Infinitiv  auch  Intinitivus  indignantis  genannt  wird. 

Solche  Infinitive  hingen  zunächst  von  verbalen  Aus- 
drücken ab,  die  die  betrelfeude  Gemütsstimmung  bezeichneten, 
z.  B.  Plaut.  Capt.  600  crucior  lapidem  non  habere  me'  ut  Uli 
■mastigiae  cerehrum  excutiam  (vgl.  Lindsay  Syntax  of  Plau- 
tus  75). 

Brauchte  hiermit  nun  noch  keine  Affektbetonung  der 
Infinitivkoustruktion  verbunden  zu  sein,  so  wurde  dagegen 
der  Infinitiv  in  diese  Betonungsart  sicher  hineingezogen,  wenn 
mit  dem  Infinitiv  ein  selbst  schon  interjektionaler  oder  über- 
haupt afi'ektischer  Ausdruck,  gewöhnlich  ihm  unmittelbar  vor- 
ausgehend, verbunden  war.  Menand.  K.  402,  10  o£'ftot,  Kqco- 
ßvkviv  Xaßtiv  h^Li^  Soph.  Ai.  410  oj  dvöxdXaiva^  roidd'  ävöga 
IQriöiyiov  (pcoveZv,  Aeschyl.  Eum.  837  i^a  jta^slv  räds,  (pev, 
ifis  jiaXat6q.Q0V()C  xard  re  yäg  oixstv  drCsrov,  ohne  interjektio- 
nale  Einleitung  Demosth.  21,  209  tovxov  ö\  vß^t't,siv^  avuTtvslv 
ds  (Kühner-Gerth  a.  a.  0.  2,  23,  Stahl  Krit.-hist.  Synt.  660 f.), 
Plaut.  Epid.  521  ei,  sie  data  esse  verbal,  Capt.  945  vae  misero 
mihi,  propter  meum  caput  labores  homini  evenisse!,  ohne  interjek- 
tionale  Einleitung  Gas.  89  non  mihi  Heere  meam  rem  me  solum 
ut  volo\loqui  atque  cogitare  sine  ted  arbitrof,  Bacch.  66  penetrare 
huius  modi  in  ■palaestram!  (Kühner-Stegmann  Ausf.  Gramm. 
1,  719t'.,  Schmalz  Lat.  Synt.^  434f-,  Bennett  Synt.  i,  423ff.). 

Entwicklungsgeschichtlich  lassen  sich  mit  diesen  infini- 
tivischen Ausrufsätzen  unsere  nhd.  Sätze  mit  daß  vergleichen, 
wie  daß  mir  das  passiert  ist!  neben  ei  {ach),  daß  7nir  d.  p>.  i.! 
und  neben  ich  ärgere  mich,  d.  m.  d.  p.  i. 

Im  Griechischen  tritt  vor  die  Infinitivkonstruktion  häufig 
To,  z.  B.  Soph.  Phil.  234  w  (pCkxaxov  (fcovrj^a'  (pev  tb  xal  Xa- 


44  K AKi- Hkiiumann:  l7^\t> 

ßfh' \  :TQ60rfi)fy}i(C  xoioviY  (.v()()o>;  /r  ;i;()oj'(i)  ttaxoij)  '»»  will- 
küinnmer  L.nut!  acli,  daß  man  luicli  80  langer  Zeit  auch  nur 
die  Anrede  eines  solchen  ]ManneB  (eines  kriechen)  erhält!', 
Eur.  Alk.  832  öilkcc  öov,  tö  jtn"/  (jQciöat  'o  über  dich,  daß  (hi 
mir  nichts  gesa*j;t  hast!',  Aristoph.  Nub.  819  t»"]^'  }icooCu^,  to 
^{f(  louf^fiv  TijXixovTOVt'  Mio  Torheit,  daß  einer  in  solchem 
Alter  an  Zeus  gUiul)t!'  (Iuunkk  Gkkth  a.  a.  O.  2,  46).  Durch 
t6  erscheint  hier,  wie  sonst,  der  in  der  Inti)iitivkonstruktiou 
lieirende  (Jedanke  einheitlich  sul)stantivisch  zusammengefaßt, 
und  die  Form  des  Ausrufungssat/es  ist  der  unter  3)  S.  35 
genannten  Kurzsatzform  angenähert. 

Im  Lateinischen  zeigt  die  Infinitivkonstruktion  oft  »c, 
wie  Plaut.  Cure.  695  hocine  pacta  me  ahripü,  Ter.  Audr.  253 
iantamne  rem  tarn  neclcgcnter  agere!,  Eun.  225  adeon  homincs 
immutarier!  Dieses  -ne  ist  dasselbe  Element,  das  in  cgo-nc, 
tü-nCj  hici-ne  u.  dgl.  in  beliebigen  Satzgattungen  auftritt,  wo 
es  affirmativen  Sinn  hatte,  z.  B.  Plaut.  Cure.  13g  tibine  ego^ 
si  fidem  servas  mccum,  vineam  pro  aurca  statua  statuani 
(Wakuen  Am.  Jouru.  of  Phil.  2,  5of.,  Peksson  IF.  2,  2i7f., 
Verf.  Grundr.  2-,  3,  996). 

8. 

Satzbildung  im  Dienste  des  Wunsches.  Reflektiert 
man  bei  einem  Wollen  und  Begehren  einfach  auf  Verwirk- 
lichung des  Vorstellungsinhalts,  der  sich  mit  dieser  seelischen 
Reguncr  verbindet,  so  redet  man  von  Wunsch.  Dem  Wunsch- 
satz  steht  der  Aufforderungssatz  nahe.  Sic  unterscheiden  sich 
dadurch,  daß  bei  der  Aufforderung  über  das  einfache  Wünschen 
der  Verwirklichung  hinaus  diese  durch  einen  Angeredeten 
oder  andern  Anwesenden  oder  wenigstens  durch  deren  Bei- 
hilfe erwartet  wird.  Die  Grenze  zwischen  Wunsch  und  Aul^ 
forderung  ist  für  den  Hörer  naturgemäß  häufig  fließend  und 
die  Interpretation  des  Gesprochenen  im  Hinblick  auf  die  Grund- 
stimmung des  Sprechenden  daher  oft  zweifelhaft. 

Auch  hier  sehen  wir  uns  zunächst  nach  den  Mitteln  um, 
die  seit  alter  Zeit  in  unsern  idg.  Sprachen  zum  Ausdi-uck  6.e\' 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  45 

hier  in  Rede  stehenden  besonderen  Grandstimmung  zur  Ver- 
fiio-unc  orestanden  haben.  Als  ältestes  formales  Ausdrucks- 
mittel  ist 

i)  die  sogen.  Optativ  form  von  der  Gattung  der  griech. 
(pEQOL  und  £iT]  zu  nennen. 

Diese  Formation  zeigt  seit  uridg.  Zeit  neben  der  Wunsch- 
bedeutung zugleich  Potentiale  Bedeutung  {slt]  etwa  'das  mag 
sein').  Es  ist  möglich,  daß  der  letztere  Gebrauch  der  ursprüng- 
lichere war  und  aus  ihm  die  Wunschbedeutung  hervorgegangen 
ist.  Das  könnte  u.  a.  so  geschehen  sein,  daß  interjektionale 
Ausdrücke  des  Wüuschens  sich  der  potentialen  Verbalform 
bedient  und  so  ihr  ihre  besondere  Art  mitgeteilt  haben. 
Aber  auch  der  umgekehrte  Entwicklungsgang  ist  wohl  denk- 
bar, und  er  wird  von  der  Mehrzahl  der  Sprachforscher,  mit 
größerer  oder  geringerer  Bestimmtheit,  angenommen.  (Wenn 
man  hierfür  sich  entscheidet,  darf  man  fragen,  ob  nicht  das 
Bildungselement  dieses  Modus  -ie-  :  -l-  ursprünglich  eine 
Wunschinterjektion  gewesen  ist.)  Endlich  ist  aber  auch  zu 
erwäcren,  ob  weder  der  potentiale  noch  der  wünschende  Sinn 
an  der  Spitze  der  Gebrauchsentwicklung  gestanden  hat,  son- 
dern eine  dritte  Gebrauchsweise,  aus  der  diese  beiden  Bedeu- 
tungen abo-eleitet  wurden  und  die  in  der  historischen  Zeit 
unserer  Sprachen  verloren  gegangen  ist. 

Jedenfalls  ist  man  zu  der  Annahme  voll  berechtigt,  daß 
der  Wunschgebrauch  des  Optativus  aus  uridg,  Zeit  mitgebracht 
war,  ferner,  daß  die  so  gestalteten  Wunschsätze  in  uridg.  Zeit 
auch  schon  eine  eigene  Tonmodulation  hatten.  Sicher  konnte 
der  Wunschsatz  damals  auch  schon  von  Interjektionen  und 
mit  ihnen  verwandten  Ausdrücken  begleitet  sein,  namentlich 
so,  daß  diese  vorangingen,  nach  Art  von  nhd.  ach,  war'  ich 
gesund! 

Beispiele.  Ai.  RV.  7,  59,  12  mrtyor  muJcsitja  'ich  möchte 
vom  Tode  frei  werden'  oder  'möcM'  ich  vom  Tode  frei  wer- 
den!', TS.  I,  7,  I,  3  2/rt  hlmäyetäpasuh  syad  iti  'derjenige,  von 
dem  er  wünscht:  möcht'  er  ohne  Herde  sein!',  RV.  8,  18,  22 
ye  cid  dlii  mrtyuhändhava  ddityä  manavuh  smäsi  prä  sü  na 


46  K  \iti,  Bim'Omann:  l70i^ 

(ii/iir  jivasf  tiritfoia  'in(»ohlot  ihr,  A.,  diis  Lcboii  von  luis 
Menschen,  die  wir  ilem  Todo  verwandt  sind,  verlängern!'. 
2J  g8  arrCxa  TsOfuhj)'  'ich  möchte  sofort  tot  sein',  'wäre  ich 
sofort  tot!'.  So})h.  Ai.  550  co  icai,  ysvoio  TTaxQog  EvrvytGTfQoq 
'Kind,  möchtest  du  glücklicher  worden  als  dein  Vjiter!'  Got. 
Rom.  15,  5  ?/>  giij)  jiula'mais  jah  ßrofsicinais  (p'hai  izwis  juita 
snmo  frtipjau  '6  füe  dsbg  TYJg  vjronovijg  xal  r^g  naQuxXyascog 
dcpt]  v^iiv  Tu  ccvTO  q)Qov{:tv\  Luk.  20,  16  nis-sijai  V'/  yi^voiro', 
alul.  Otfr.  Lud.  5  ihenio  sl  iamer  Jieill  'ihm  sei  immer  Heil!', 
mhd.  Iw.  5997  got  griicjc  hichf,  Wulth.  75,  8  öwc,  gcscehe  ichs 
(=  ich  .•?/)  wider  Ironcf,  Nib.  983  ei,  ivoJdc  got  der  ivärc!, 
nhd.  hätV  ich  doch  einen  totenschein!,  lang  lebe  der  Mnig!.  Im 
Lat.  erscheinen  infolge  des  Synkretismus  zwischen  Konjunktiv 
und  Optativ  auch  alte  Konjunktivformen:  Plaut.  Aul.  182  sal- 
Hos  atque  fortiinatus,  Eudio,  semper  sies,  Cic.  Mil.  34,  93  va- 
Jeant  dies  mei,  valeant,  sint  incolumes,  sint  florenies. 

Im  Griech.  und  im  Lat.  trifft  man  als  Einleitung  des 
Wunschsatzes  sehr  häufig  f/,  ei  yäg,  si&e,  ai,  <xi  yuQ^  cd%'£  und 
ut,  uti-nam.  So  z.  B.  y  205  cci  yuQ  fuol  ro66i]vÖ€  ^sol  öv- 
vaiiiv  TtSQi^slsv,  I  tsCöaöd-ai  iivrjGrfjQag,  A  670  h^'  log  7}ßcooiiu 
ßCr}  TS  ^OL  eumdog  fl'Tj,  üg  o-ttot  xtL,  Soph.  0.  R.  863  ei  fioi, 
i,vv£Lr}  cfbQovTi  (ioiga  täv  kyvuav  Xöyav,  Ter.  Ad.  713  ut, 
Syre,  te  cum  tua  |  nwnstratione  tnagmis  perdat  Juppiter!,  Plaut. 
Amph.  632  utinam  di  faxint!.  Diese  Partikeln  hatten  wahr- 
scheinlich von  Haus  aus  keine  interjektionale  Natur,  hatten 
dem  Satz  auch  nicht  einen  Nebensatzcharakter  gegeben,  son- 
dern dienten,  ähnlich  wie  unser  so  in  so  niöcht'  ich  doch, 
daß...!,  so  gib  doch!,  ursprünglich  dazu,  den  Wunsch  an 
die  Situation,  aus  der  er  entsprungen  ist,  anzuknüpfen.  Mit 
diesem  si  ist  wohl  nächstverwandt  das  auf  demselben  Prono- 
minalstamm beruhende  ai.  aija  'so'  beim  Optativ,  wie  RV. 
6,  17,  15  ayd  vdjq  devähitq  sanema  'so  möchten  wir  den 
von  den  Göttern  bestimmten  Wohlstand  erlangen',  und  lat.  ut 
scheint  sich  mit  av.  tiHi  'so'  zu  decken.  S.  Verf.  Grundr.  2-,  3, 
982f.  990,  Ander|  über  ut,  utinam  Schmalz  Lat.  Synt.'^  479. 
569.   Vgl.  auch  unten  §  9,  9. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Sätzgestaltung  usw.  47 

Eine  besondere  Schattieruucr  der  Wnnscbstimmuncr  ist 
die,  daß  sich  mit  dem  Begehren  die  Vorstellung  der  Nicht- 
verwirklichung,  der  Unerfüllbarkeit  verbindet.  Hierfür 
hat  es,  wie  es  scheint,  in  uridg.  Zeit  noch  keine  besondere 
Gestaltung  der  Verbalfortn  gegeben,  es  kann  jedoch  sein,  daß 
dieses  Sinneselement  in  der  Betonungsart  geueben  war. 

Nichtverwirklicbung  versteht  sich  von  selbst,  wenn  der 
Wunsch  auf  etwas  Vergangenes  geht,  wie  z.  B.  in  wäre  er 
nicht  so  früh  gestorhen!.  Die  hierfür  vorhandene  Ausdrucks- 
weise, die  das  Zeitstufemnoment  dei  Vergangenheit  mit  zum 
Ausdruck  brachte,  bat  sich  in  einigen  Sprachen  auch  da  ein- 
gestellt, wo  der  Wunsch  einem  gegenwärtigen  Zustand  gilt 
und  dabei  den  Wunsch  die  Vorstelluuo-  der  Unerfüllbarkeit 
begleitet.  So  hat  im  Griech.  diese  Nebenvorstellung  iür  die 
Gegenwart  ihren  Ausdruck  bekommen  durch  die  W^abl  eines 
Indik.  Prät.,  wie  Eur.  El.  1061  eW  dx^Sj  ^  rr/.ovGa^  ßslriov^ 
(pQsvag,  im  Germanischen  durch  die  Wahl  des  Opt.  Prät.,  wie 
got.  I.  Kor.  4,  8  inu  uns  ßiudanodedu]);  jah  irainei  piudano- 
dedeij),  ci  jah  weis  izivis  mißjjiudanonm  'xoQtg  i]yLüv  sßaöi- 
Xtvöars '  y.al  cxpekov  yt  tßccöiXsvöars,  Iva  xccl  rjfietg  vutv  6vfi- 
ßaöilevöco^sv,  im  Lateinischen  durch  die  Wahl  des  sogen. 
Konj.  Imperf.,  wie  Plaut.  Rud.  533  idinam  fortnna  nunc  hie 
anatina  uterer!  S.  Verf.  Grundr.  2^,  3,  863 f.  86gf.  885. 

Wie  im  Griechischen  hier,  im  Zusammenhang  mit  vor- 
ausgehender Wunschpartikel  sl  {ild-e,  al  y^g),  der  Indikativ 
von  Präterita  in  Wunschsätze  zu  stehen  gekommen  ist,  so 
wurde  in  dieser  Sprache  auch  auf  andere  Weise  der  Indik. 
Prät.  zum  Träger  von  Wunschbedeutung.  Die  Präterita  aqs- 
Xov,  'dicpsXkov  bedeuteten  von  Haus  aus  'debebam'  und  bilde- 
ten mit  zugehörigem  Infinitiv  einen  Aussagesatz.  So  läßt  sich 
diesem  ursprünglichen  Sinne  nach  noch  z.  B.  Xen.  An.  2,  i,  4 
«AA'  (hcpEks  ^Iv  KvQog  triv  interpretieren,  wenn  man  es  sich 
in  der  Betonung  des  gewöhnlichen  Aussagesatzes  gesprochen 
vorstellt  Aber  schon  seit  Homer  ist  cjcpaXov  mit  Inf.  Aor. 
oder  Präs.  auch  bereits  unter  die  Affektbetonung  des  Wün- 
schens  gekommen.   Das  bekundet  sich  durch  zweierlei.  Erstens 


48  K AKi,  Hkikjmann:  170,0 

durch  den  Auschluß  dieses  l*räterituiii8  au  die  Wuusolipjirti- 
keln  sl&£,  sl  ycxQ,  wp,  z.  B.  7^428  i?jAi>i>«g  i-x  Tioltfiov'  cog 
torpfXfg  Kvr6d'  öXt'tJd-ca  |  avögl  dccfieic;  xQcasQcf)  'wärst  du  doch 
daselbst  zu  Grunde  ge«^au^en!',  Soph.  El.  102 1  fi'{>'  o'}(pfXe>^ 
roiäde  rijv  yi'cö}i)ji'  7T(CTi)os  |  Tfi'i'jiixomOii  dvcci  'hättest  du 
doch  schon  beiui  Tod  des  Vaters  so  liohen  Sinn  gehabt!'. 
Zweitens  durcli  /o;  für  ov  (v*fl.  i?  12),  /.  li.  I  698  (itjd'  o(jp£- 
Xeg  Uüöföd-ca  d^iviiova  ni^leiiow:  'hättest  du  doch  den  Fre- 
uden nicht  gebeten!',  Domosth.  25,  44  o)cpslt  yccfj  ^ir^ödg  äX- 
Xos  l4Qi6toysirovi  iuC^elv}) 

2)  Der  Wunsch,  kleidet  sich  überall  oft  in  die  Form 
einer  Frage.  So  nhd.  hilft  mir  einer  von  euch?,  -wer  von  euch 
hilft  mir?  =  tnöge  mir  einer  von  euch  helfen!  Soph.  0.  R.  139 1 
xi  ,u  ov  Xaßojv  \  sxrsivag  svd^vg^  cog  sösl^cc  iiyJTiore  |  ffiavrbv 
ccvd'Qio-JtoKjiv  h'd-sv  ij  yeycbg?  Vas  gabst  du  mir,  nachdem 
du  mich  aufgenommen,  nicht  gleich  den  Tod,  damit  ich  der 
Welt  niemals  meine  Abkunft  kund  getan  hätte?';  hier  weist 
das  cjg  sdsi^a  deutlicli  darauf  hin,  daß  die  Frage  rt  ^i  ovx 
fKtuvag  im  Grunde  ein  Wunsch  ist. 

In  andrer  Weise  fand  im  Griechischen  der  Wunsch  Aus- 
druck durch  Pronominalfragen  mit  dem  Optativus  potentialis: 
der  Wünschende  fragt,  wie  das,  was  er  wünscht,  sich  erfüllen 
könne,  oder  wer  es  erfüllen  könne.  So  schon  bei  Homer 
o  195  NsörogCdr],  Ticog  x£v  iiot  xmoßjjSiievog  tslsGaiag  \  ^iv^ov 
lli6v?  'wie  könntest  du  wohl  vollenden?'  d.  i.  'könntest  du 
wohl  irgendwie  vollenden?',  K  303  xCg  xev  ^01  töds  €Qyoi> 
'6;toö;i^d^£Vog  reXedeis  \  öcÖqg)  stcl  fieyäXc)?  'wer  könnte  wohl 
vollenden?'  d.  i.  'könnte  wohl  einer  vollenden?"  Dieses  ;rög 
äv  erscheint  dann  weiterhin  ganz  formelhaft,  so  daß  eine 
Übersetzung  mit  'wie'  nicht  mehr  möglich  ist,  bei  den  Tra- 
gikern, wie  Soph.  Phil.  531  Tiäg  äv  v^lv  e^(pavr}g  |  «pyco  ye- 
voLfiTjv,  cag  ft'  ed^söd^s  7ioo6(pLXr}?  d.  i.  'könnt'  ich  durch  eine 
Tat  es  irgendwie   euch   zeigen,   welchen  Freund   ihr  euch  in 


i)  Über  die  Form  otp^Xov  im  Wunschsatz  vgl.  Wackkrhaokl  Sprach- 
liche Untersuch,  zu  Homer,   19 16,  S.  199  f. 


70,  6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestalt ung  usw.  49 

mir  gemacht  habt!',  Eur.  Med.  gj  Id)  (lOi  (tot,  nag  ctv  6X0C- 
fiuv?  d.  i.  'könnt'  ich  doch  irgendwie  zu  Grunde  gehen'/. 
Ähnlich  mit  r/'g  äv  z.  B.  Aesch.  Ag.  1450  (pev,  rCg  civ  ev  rä- 
X8L  uökoi?     Vgl.  Kühner-Gerth  Ausf,  Gramm,  i,  235. 

Vielleicht  mit  Recht  wird  diesem  :icbg  das  lat.  Adverhiura 
qul  ('wie')  verglichen  in  Wunschsätzen  wie  Plaut.  Gas.  279 
qui  illiim  di  perdant!.  Nach  Lucilius  erscheint  dieses  qul  nur 
noch  vereinzelt.  S.  Schmalz  Synt.*  479,  Bennett  Sjnt.  i,  193. 
Man  kann  in  qul  aber  auch  eine  Art  'relativischer  Anknüpfung' 
an  vorher  Gesprochenes  oder  an  die  dem  Sprechenden  vor  Augen 
stehende  Situation  sehen,  eine  Deutung,  die  zugleich  für  ag 
in  Wunschsätzen  wie  2J  loy  d)g  SQLg  ex  xs  d-eäv  ex  x  ävd^Qcb- 
7CC3V  ccKoloLxo  annehmbar  wäre.  In  beiden  Fällen,  bei  qul  und 
o)g,  hätte  sich  das  Gefühl  für  ursprüngliche  Bedeutung  der 
Wunschpartikel  mit  der  Zeit  verloren. 

3)  Verselbständigte  abhängige  Sätze  kommen  zum 
Ausdruck  von  Wünschen  wohl  noch  häufiger  denn  als  Aus- 
rufungssätze vor  (S.  36  ff.).  Die  Wunschstimmung  war  oft 
schon  gegeben  durch  vorausgehende  auch  ihrerseits  schon 
wunschbekundende  interjektionale  Elemente;  deren  Tonart  er- 
streckte sich  mit  auf  den  Wunschsatz. 

a)  'Daß'-Sätze.  Besonders  in  neueren  idg.  Sprachen.  Es 
ist  dieselbe  Satzart,  die  nach  'ich  wünsche'  u.  dgl.  üblich  ist. 
Nhd.  Offenb.  Joh.  3,  15  ach,  daß  du  kalt  oder  warm  wärest/, 
ahd.  Otfr.  4,  26,  37  tha^  sallg  si  in  güvissl  thiu  Jcindes  um- 
iera  slf,  mhd.  Klage  1508  da^  ich  erstorben  ivcere!  Vgl.  Erd- 
mann Unters.  2,  65,  Grundz.  i,  126,  Paul  Mhd.  Gramm.'^  187. 
Lit.  äk,  Tiäd  tu  heh  sävo  iszganytojui  vernas  pasillktumbei!  'ach, 
daß  du  doch  deinem  Heiland  treu  bliebest!',  Märch.  Md  ß 
vaeiutu  sü  tu  Jcetvertu  arJcliü  namö  ö  ynümetn  i)aVüdu  szitq 
kumeükq/  'daß  sie  doch  mit  ihrem  Viergespann  heimführen 
und  uns  die  kleine  Stute  ließen!',  Dain.  kdd  äs3  turcczau  nört^ 
motinel^f  'daß  ich  doch  wenigstens  ein  Mütterchen  hätte!'; 
lett.  mit  ka,  z.  B.  ka  wlnsch  ifputetuf  'daß  er  verstäuben 
möchte!'  (Verwünschung),  vgl.  Bielenstein  D.  lett.  Spr.  2, 
354-  356.    Franz.  que,  Italien,  che,    span.  qite:   franz.  que  dieu 

Phil  -hlit  Klasse  1918.   Bd.  LXX.  6,  4 


50  K  \ni.  BuroMANN:  [7<»i  <> 

reille  sur  vous!,  italien.  che  dio  vi  hcncdicn!,  spiin.  qne  diofi  le 
guardc  de  mal!  Nengr.  6  ^ehc;  vä  oäg  öiöan  xah)v  vyEi'uv! 
'Gott  gebe  dir  gute  Gesnndlieit!'. 

b)  'Wenn'-Sätze.  Man  kaun  diese  Ausdrucksforni  in 
der  Weise  als  Kur/satz  ansehen,  daß  l)ei  ihrer  ersten  Ent- 
stehung ein  Naclisatz  des  Sinnes  '(dann)  wäre  es  gut  (ge- 
wesen)' oder  'wie  gut  wäre  das  (gewesen)!'  u.  dgl.  vorge 
schwebt  habe.  Nhd.  z.  B.  trenn  das  gelänge!,  rcemi  er  »wr 
hnld  läme.',  wenn  er  doch  rechtzeitig  gelommcn  ivärc!  Aus  dem 
Lat.  stellt  sieh  der  im  Altlat.  nur  vereinzelt  auftretende,  mit 
si,  0  si  eingeleitete  Wunschsatz  hierher:  Attius  53  tutn  autem 
Äegistus  si  med  eodeni  lecto  comitasset  pairü,  Verg.  Aon.  8,  560 
0  mihi  praeteritos  referat  si  Juppiter  annos!  (Blase  Histor. 
Gramm.  3,  i,  134,  Kühnek- Stegmann  Ausf.  Gramm,  i,  184). 
Weitere  Verbreitung  fand  dieses  si  im  Roman.:  franz.  oh  si  je 
pouvais  le  voir!,  italien.  0  se  potessi  dormire!,  span.  oh  si  sn- 
pinra  qnien  es!. 

Dem  nhd.  wenn  das  gelänge!  stehen  nahe  Wunschsätze 
wie  wer  mir  hiirge  wäre!  'wenn  einer  mir  bürge  wäre!',  eilende 
wolhen,  segler  der  lüfte,  iver  mit  euch  wanderte!  wer  mit  euch 
schiffte!  Vgl.  Erdmann  Grundz.  i,  126,  Paul  D.  Wtb.^  650. 
4)  Kurzsatzformen  sind  häufig.  Als  Wunschsätze  sind 
sie,  abgesehen  vom  Wortsinn,  vor  allem  durch  den  Satzton 
gekennzeichnet. 

Ai.  svasti  'Heil!  Glückauf!'  (P.  W.  7,  ^öof.),  z.  B.  Säk. 
52,  18  Burkh.  svasti  hhavate  'Heil  dem  Herrn!'  (Begrüßung 
des  Königs).  Got.  Mark.  15,  18  hails,  jdudan  ludaie!  ''yalQe 
ßaöLlsv  T03V  'IovdaCo3v\  mhd.  so  {sam,  sem)  mir  got!  'so  möge 
mir  Gott  helfen!'.  Cic.  Att.  4,  7,  i  gui  di  Uli  irati!  (vgl.  qui 
illum  di  perdant!  S.  49). 

Eine  Art  Gegenstück  zu  denjenigen  Satzgestaltangen, 
die  verselbständigte  Nebensätze  waren  (S.  19  ff.),  bildet  im  La- 
teinischen der  Wunschsatz  ita  mc  di  ament!,  z.  B.  Ter.  H.  T. 
383  minim.eque  —  ita  mc  di  ament  —  miror,  Plaut.  Stich. 
685  ita  MC  di  ament,  lepide  accipianmr,  quoniam  hoc  recipiamur 
in  loco.    Ursprünglich  hatte  man  etwa  gesagt  ita  me  di  ame^ri. 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  5 1 

id  verum  dico  oder  iit  iusiurandum  servaho  oder  dsl.,  vgl. 
Plaut.  Cure.  208  ita  nie  Venus  amct,  iii  ego  te  .  .  .  mmquam 
sinam  in  domo  esse.  S.  Wünsch  Rhein.  Mus.  69,  123!?., 
Kühner-Stegmann  Ausf.  Gramm,  i,  190 f.  Wahrscheinlich  ist 
auch  nacli  Aufgabe  des  ?i^- Satzes  die  ursprüngliche  Beto- 
nung des  ?7rt- Satzes  wenigstens  eine  Zeitlang  noch  festge- 
halten worden,  ähnlich  wie  bei  uns  jetzt  auch  nach  Wegfall 
des  nachfolgenden  abhängigen  Satzes  der  verbliebene  Haupt- 
satz noch  mit  nach  dem  Schluß  zu  ansteigender  Stimme  ge- 
sp  rochen  wird  z.  B.  in  es  tvar  eine  liiize  heute  .  .  . .',  er  redete 
so  auf  mich  ein  .  .  .!^)  (ebenso  franz.  il  s'cst  mis  dans  ime 
furcur  .  .  .  f). 

9- 

Satzbildung  im  Dienste  der  Aufforderung.  Der 
Gtundtrieb  für  den  Aufforderungssatz  ist  das  Streben  des 
Sprechenden  nach  Verwirklichung  einer  Vorstellung  in  der 
Art,  daß  die  Verwirklichung  durch  einen  Angeredeten  oder 
andern  Anwesenden  oder  wenigstens  durch  deren  Beihilfe  er- 
wartet wird.  Daß  die  Grenzen  zwischen  Wunsch  und  Auffor- 
derung fließend  sind  und  deshalb  die  Interpretation  des  Ge- 
sprochenen mit  Rücksicht  auf  die  Grundstimmung  des  Spre- 
chenden oft  zweifelhaft  ist,  sei  auch  hier  (vgl.  S.  44)  betont. 

Für  den  Aufforderungssatz  stand  seit  uridg.  Zeit  als  ge- 
läufigstes Ausdrucksmittel  zu  Gebote 

i)  der  sogen.  Imperativus.  Die  unter  diesem  Namen 
zusamm. engefaßten  Formen  stellen  für  keine  Sprache  und  für 
keine  Sprachperiode  seit  uridg.  Zeit  ein  bezüglich  der  Grund- 
bedeutung der  verschiedenen  Formen  einheitliches  System  dar. 
Sie  gehörten,  welchen  Zeitpunkt  der  Sprachentwicklung  man 
auch  ins  Auge  fassen  mag,  jedesmal  von  älterer  Zeit  her  ver- 
schiedenen 'Modi'  an,  waren  dabei  aber  in  der  Weise  bedeu- 
tungsgleich oder  sind  es  mit  der  Zeit  geworden,  daß  dadurch 


i)  Korfiz  Holm,  Thomas  Kerkhoven  S.  234  „Die  liebe  Familie  liot 
sich  (jegen  wich  so  benommen .. .!". 


4* 


52  Kaki-  Buuomann:  [7^1  ^ 

der  Umfiiug   und    die  Art   der  urid«^.    Imperutivbedeutuug  ge- 
wahrt goblioben  ist.  S.  Yorf.  («ruudr.  2-,  3,  563  ft'. 

Teils  sc'liou  in  iiridg.  Zeit  teils  im  EinzcUebeji  der  idg. 
Sprachoii  sind  gewisse  interjektionale  (iebilde  oder  l'artikeln 
mit  einzelnen  Imperativiormen  imiverbiert  worden  und  haben 
dann  ihre  ursprüngliche  Eigenbcdeulung,  die  dem  Imperativ- 
sinu  anfangs  eine  besondere  Schattierung  z.ugebracht  haben 
muß,  aufuej^eben.  So  ist  das  wohl  schon  in  uridg.  Zeit  ge- 
schehen  mit  dem  der  2.  Sing,  angehängten  '''dhi:  nirgends 
mehr  bedeuten  Formen  wie  *i-<Uu  ==  ai.  iht  griech.  lAtt  etwas 
anderes  als  Formen  ohne  dieses  augefügte  Element  wie  *ci 
=  griech.  (£|-)ft,  lat.  ei  l  (a.  a.  0.  2-,  3,  569).  Im  vorgeschicht- 
lichen Litauisch  ist  der  Partikel  */a  in  ei-Ji(i)  'geh',  dU-Jc{i) 
'gib'  u.  a.  ihre  noch  konstatierbare  ursprüngliche  Sonderbe- 
deutuug  abhanden  gekommen  (a.  a.  0.  2^,  3,  566f.  811.  looi). 

Andere  ursprünglich  selbständige  Elemente  dagegen,  die 
sich  einzelnen  Imperativformen  zugesellten  und  die  Bedeutung 
dieser  Verbalforraen  so  oder  so  modifiziert  haben,  lassen  diese 
Sinnesmodifikation  in  der  historischen  Zeit  noch  durcherken- 
nen. Dahin  gehören  die  in  uridg.  Zeit  zustande  gekommenen 
Formen  auf  '■^'-fM,  wie  lat.  veJä-to{d)  ai.  vaha-tät:  sie  unter- 
scheiden sich  noch  in  historischer  Zeit  von  den  Formen  wie 
velie,  vdlia  dadurch,  daß  sie  eine  Aufforderung  bezeichneten, 
der  erst  in  einem  gewissen  Zeitpunkt  oder  in  verschiedenen 
Zeitpunkten  der  Zukunft  nachgekommen  werden  soll,  was 
durch  den  Sinn  des  Adv.  '^'tßd  an  die  Hand  gegeben  war  (a. 
a.  0.  2^,  3,  571  ff.  Siyfi'.).  Aus  späterer  Zeit  sei  genannt  die 
rahd.  Imperativformation  auf  -U,  wie  väh-a,  die,  neben  und 
gewöhnlich  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  der  einfachen 
Imperativform  gebraucht  (vähä  väcli),  die  Aufforderung  drin- 
gender gemacht  hat  (S.  2:^  Fußn.  2). 

Sehen  wir  von  solchen  sekundären  Gebrauchsschattie- 
rungen ab,  so  zeigt  die  Übereinstimmung  in  der  Verwendung 
der  Imperativformen  in  allen  idg.  Sprachen,  daß  diese  For- 
men von  der  Zeit  der  idg.  Urgemeinschaft  her  aUen  Arten  des 
Verlangens   vom   schroffsten    Geheiß    bis    zur    flehentlichsten 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  53 

Bitte  herab  Ausdruck  geben  konnten;  von  jeher  sind  also 
auch  Ermahnung,  Ratschlag,  Erlaubuiserteilung,  Aufmunte- 
rung u.  dgl.  eingeschlossen  gewesen. 

Oft  wird  die  Ausführung  einer  Aufforderung  als  Voraus- 
setzung für  ein  anderes  Geschehen  hingestellt  auch  dann, 
wenn  der  Sprechende  gar  nicht  an  wirkliche  Ausführung 
denkt.  So  ist  in  unsern  Sprachen  der  Imperativ  auch  eine 
dem  Bedingungssatz  nahe  verAvandte  Ausdrucksform  geworden. 
Z.  B.  ahd.  Otfr.  4,  30,  28  stig  nidar  liera  in  uär,  icir  güoubcn 
{hir  sär  d.  i.  Venu  du  herniedersteigst,  werden  wir  dir  glau- 
ben', mhd.  Marner  i,  i,  18  du  sitz,  du  stant,  du  ivat,  du  sivim: 
du  soU  dich  slner  (d.  i.  gotes)  helfe  niemer  entänen,  nhd.  Goethe 
nehmt  die  freunde  m  euch,  laßt  sie  iceg  —  alles  ist  einerlei, 
Lessing  laß  dich  den  teufel  hei  einem  haare  fassen,  und  du 
bist  sein  auf  etvig,  lit.  (Sprichwort)  iszelk  nevalgqs,  pareisi 
iszcUk^s  'geh  ohne  gegessen  zu  haben  aus,  so  kommst  du 
hungrig  nach  Haus',  griech.  Plat.  Theaet.  154  c  ö^lxqov  Xaßh 
^jtaQccösiyiicc,  ''icd  Ttdvra  el'öet,  a  /SotUo/ica,  Dem.  18,  112  dsc- 
^dto,  y.äyd)  ötagtco  aal  6ico7Cijöo^ai^  lat.  Plaut.  Bacch.  1024 
em  specta,  tum  scies,  Cic.  Tusc.  i ,  30  tolle  hanc  opinionem, 
luctum  sustuleris.  Hierüber  und  über  gewisse  Erweiterungen, 
die  dieser  Imperativgebrauch  erfahren  hat,  s.  Erdmann  Unters. 
1,  105 f,  Grundz.  i,  120,  Kühner- Gerth  Ausf.  Gramm,  i, 
237,  Kühner-Stegmann  Ausf.  Gramm.  2,  165,  Verf  Grundr. 
2^,  3,  810. 

Der  weite  Umfang  und  die  Mannigfaltigkeit  des  Gebrauchs 
des  Imperativs  bekundet  sich  in  den  lebenden  Sprachen  durch 
die  große  Verschiedenheit  der  Betonungsart  des  Imperativ- 
satzes in  Hinsicht  der  Exspirationsstärke  und  der  Tonmodu- 
iation.  Ohne  Zweifel  hat  man  es  hier  mit  bereits  uridg.  Be- 
tonungsverschiedenheiten zu  tun.  Mit  diesen  Unterschieden 
mögen  dann  in  den  einzelnen  Sprachen  noch  diese  und  jene 
andern  Unterschiede  an  den  Imperativformen  zusammen- 
gehangen haben,  vermutlich  z.  B.  die  altlateinische  Doppel- 
heit  dlce  und  die,  dfice  und  düc.  Im  Altindischen  zeigt  sich 
Plutierung  in    einem    kleinen  Teile    der   Imperativsätze,  wie 


3  1  K.VKL  BllLMi.MANN:  [?'■>,  ^ 

TS.  7,    I,  f>,    I    (isIk    }ur  ^triip'ilji    (isla   hio    ity  (ibnitam  \'.a  sei 
auch   mir  ein  Anteil  diivoii.    „(uit,  es  sei!"  .sprachen   sie'. 

2)  Injunktiv-  und  Kon junktivl'ornien  der  2.  und 
3.  Person.  Dio  beiden  Modi  nui^tii  liier  zusiinimcngenomnien 
werden  wegen  iler  senniutisehen  Venniscliung,  die  sie  in  den 
meisten  Si)rnclien  schon  in  vorhistorischer  Zeit  erfuhren  hüben. 

Injunktivische  Formen.  Ai.  KV.  lo,  6g,  3  sd  reväc 
clioca  sii  (liro  jusasva  sä  väjq  darU  sä  iliä  srävo  dhali  'du 
leuchte  Reichtum  herbei,  nimm  unsere  Lieder  an,  eröffne  uns 
Besitz,  gib  uns  hier  Keichtum',  KV.  7,  15,  6  stma  vetu  vä- 
safhrtim  agnir  jüsata  niv  f/irah  'er  komme  zu  diesem  vasat- 
Kuf,  Agni  nehme  meine  Lieder  an'.  Griech.  cptQso  'trage  dir', 
q)tto  'sag',  t7Tl-6yBg  'halt  an',  lat.  es  'iß'  aus  '*cd-s,  ir.  airre 
'erheb  dich'  aus  *-rcJiS-s,  lit.  te  ei  preuss.  ei-lai  'er  gehe'  aus 
*ci-t  Hierher  gehört  auch  die  ital.-kelt.  Konjunktivbilduug 
mit  -ä-  (wie  lat.  ad-renat,  ir.  -cria),  weil  sie  von  Anfang  au 
durchweg  sekundäre  Personalendungen  hatte;  daher  sind  hier 
auch  Stellen  wie  Plaut.  Poen.  134g  low,  in  ins  eas  zu  nennen. 
Aus  dem  Litauischen  ist  ferner  hierher  zu  ziehen  der  Gebrauch 
des  sogen.  Permissivus  in  Sätzen  wie  Genesis  i,  3  if  Btvas 
tär'e:  te-si-randa  szvl'sä  'es  werde  Licht!'. 

Daß  die  Lijunktivformen  von  idg.  Urzeit  her  zugleich 
'indikativische'  Bedeutung  aufweisen,  ist  nicht  im  geringsten 
auffallend.  Voluntativer  (konjunktivischer,  imperativischer) 
Sinn  wurde  ihnen  im  Zusammenhang  mit  der  voluntativen 
Satzbetonung  zugebracht,  und  in  weiterem  Zusammenhang  mit 
Geberde  und  Situationsbewußtsein  wurde  die  richtige  Liter- 
pretation  stets  ebenso  sicher  ermöglicht,  wie  du  schiveigst,  du 
bist  still  durch  eine  bestimmte  Tonart  eindeutig  Imperativi- 
schen Sinn  bekommen  (s.  unten  4). 

Konjunktivische  Formen,  z.  B.  ai.  KV.  4,  31,  3  ahM 
Sil  nah  säkhinäm  avifd  jaritfndm  \  satäm  hhaväsy  ütibhih  'komm 
herbei  als  Helfer  unsrer  lobsingeuden  Freunde  mit  hundert 
Hilfsleistungen',  RV.  5,  40,  4  yuUvd  häribhyäm  üpa  yäsad 
arvän  mddhyudim  sdvane  matsad  indrali  'nachdem  er  an- 
geschirrt hat,   komme   er  mit  den   Falben  herwärts,   an  dem 


70,  bj         Verschiedenheiten  DER  Satzgestaltung  USW.  55 

Mittagsopfer  erfreue  sich  ludra',  el.  Inschr.  SGDI.  1172,  :i2 
t6  öh  7pdq)i6[ia  .  .  .  ccvatsd-ä  sv  to  iaQOv  'der  Beschluß  soll 
in  dem  Heiligtum  aufgestellt  werden'.  Audi  bei  den  Kon- 
junktivformen muß,  namentlich  wegen  der  Identität  des  kon- 
junktivischen -t-:  -0-  mit  dem  sogen,  thematischen  Vokal  des 
Indikativs,  durchaus  mit  der  Möglichkeit  gerechnet  werden, 
daß  der  Imperativische  Sinn  nur  im  Zusammenhang  mit  der 
besonderen  Satzbetojmng  zustande  gekommen  ist.  S.  Verf. 
Orundr.   2\  3,  837. 

Für  die  Beurteilung  des  Verhältnisses  der  Meinung  der 
Imperativformen  zu  der  Meinung  der  Injunktiv-  und  Kon- 
junktivformen ist  wichtig,  daß,  wenn  auf  einen  Imperativ  oder 
eine  imperativische  Interjektion  noch  eine  weitere,  sachlich 
zugehörige  Aufforderung  folgt,  diese  sich  in  eine  Injunktiv- 
oder  Konjunktivform  kleiden  kann.  So  ai.  RV.  i,  139,  7  0  sw 
m  agne  srnuhi  tväm  llito  devebhyd  hravasi  yajniyebhyah  'hör 
auch  du,  o  Agni,  auf  uns,  nachdem  du  angefleht  bist,  sprich 

zu  den  verehrungswürdigen  Göttern'  (SB.  i,  2,  5,  2  häntemq 
prthivi  vibhäjämahai  'auf,  laßt  uns  diese  Erde  unter  uns 
teilen!'),  Soph.  Phil.  30g  q)SQ\  «  tenvov,  vvv  aal  xo  rf}s 
vrjöov  ^dd-rjg.  S.  Delbrück  Altind.  Synt.  43f.  309ff.,  Verf. 
Grundr.  2^,  3,  8390*.  Die  Rolle  des  Injunktivs  und  Konjunk- 
tivs hat  in  diesem  Fall  (wie  auch  sonst  vielfach)  im  Goti- 
schen die  Optativform  übernommen,  wie  Luk.  17,  3  jabai 
fmivaiirJcjai  broßar  jieins,  gasah  imma,  jah  ßan  jabai  idreigo 
sik,  fraletais  imma  'eäv  d^aQtr}  6  ccdsXcpög  6ov,  hnixi^ri^ov 
«VTö,  xul  häv  ^etavoT^öTj,  äcpsg  avxä\  Mark.  7,  14  hauseil) 
mis  allai  jah  fraßjaiß  'ccxovsxe  [xov  Ttdvxsg  xal  övvCsxe . 
S.  Streitberg  Got.  Elem.^  204.  Dies  Verlassen  der  Impe- 
rativform bei  der  an  die  erste  Aufforderung  angeschlossenen 
zweiten  Aufforderung  hat  ihre  Parallele  in  dem  Übergang 
Tom  Injunktiv  zum  Optativ  bei  der  i.  Plur.  in  der  delibera- 
tiven  Frage,  wie  Matth.  6,  31  ni  maurnaij)  nu  qißandans: 
ha  matjam  aißßau  ha  drigkam  aißßau  he  wasjaima'f'  xl 
tpayco^sv  t)  xC  tcCcj^sv  tJ  xl  7t£QLßaXcb[i£d-a?'  (§  14,  6).  Wahr- 
scheinlich hing  dieser  Wechsel  mit  dem  sonstigen  reichlichen 


56  Karl  Buuomann:  (70,6 

Gebrauch  tlos  Injuiiktivs  und  Konjunktivs  und  ihrer  got.  Fort- 
setzung, des  Optiitivs,  in  ahhiingigen  Sätzen  vohmtativer  Fär- 
bung zusammen.  Die  hätiiige  Vereolbständigung  aber  von 
Nebensätzen  der  Aufibrderung  (unten  o)  hat  Anteil  daran  ge- 
habt, daß  auch  ohne  vorausgegangene  im})erativi8che  Form 
80  oft  injunktivisclu'  und  koujunktivisclie  Formen  auftreten, 
wo  man   imperativische  erwarten  könnte. 

3)  In  den  Sprachgebieten,  wo  der  Konjunktiv-Injunktiv 
und  der  Optativ  im  Beginn  der  Überlieferung  noch  gcHchiedon 
geblieben  sind,  begegnet  man  nicht  selten  der  Optativ- 
forni  da,  wo  mau  nach  2]  eine  Imperativ-  oder  eine  Konj.- 
Inj.-Form  erwarten  könnte.  Man  hat  für  diesen  Optativ- 
gebrauch den  Namen  'präskriptiver  Optativ'  aufgebracht.  Z.  B. 

ai.  SB.  II,  6,  1 .  2  prdh^  putraka  vrojatät.  tätra  yät  päses  iän 
ma  d  caJcslthäh  'Geh  nach  Osten,  mein  Sohn;  was  du  dort 
sehen  wirst,  teile  mir  mit',  £1  149  x^ov|  reg  ol  eitoixo  ysQccC- 
TSQog  'ein  älterer  Herold  folge  ihm',  kypr.  SGDI.  n.  60,  6 
rj  dvJ^dvOL  jn'  a{v)Tl  reo  UQyvQco^f  (oder  aQyvQov?)  Töde  'oder 
er  gebe  anstatt  dieses  Geldes  .  .  .'.  S.  Verf  Grundr.  2^,  3,  863. 
An  sich  kann  dieser  Optativgebrauch,  da  bei  ihm,  so  weit 
ich  ihn  überschaue,  eine  besondere  Schattierung  im  Gebiet 
des  Sinnes  der  'Aufforderung'  nicht  hervortritt,  ebensowohl 
an  die  alte  Wunschbedeutüng  als  an  die  alte  potentiale  Be- 
deutung dieses  Modus  (S.  45)  angeknüpft  werden,  zumal  da 
wir  die  Tonmodulation,  in  der  solche  optativische  Aufforde- 
rungen in  den  ältesten  Zeiten  des  historischeu  Arischen  und 
Griechischen  gesprochen  worden  sind,  nicht  kennen.  Immer- 
hin ist  aber  wahrscheinlich,  daß  im  Griechischen  der  Ge- 
brauch zum  Teil  auf  dem  alten  Potentialis  beruht.  Dafür 
sprechen  die  nur  als  potential  deutbaren  Stellen  mit  dem 
Optativ  wie  el.  SGDI.  n.  1149,  2  6vvu.u%ia  x  sa  exarbv  fixEo, 
'das  Bündnis  gelte  hundert  Jahre',  J5  250  (zu  Thersites  ge- 
sagt) rci  ovx  av  ßaöLXfjug  avä  6r6\l  e^cov  äyoQSvoig  'drum 
führe  du  nicht  die  Fürsten  laut  im  Munde'.  Mag  hier  im 
Anfang,  beim  Aufkommen  dieser  Ausdrucksweise,  eine  gewisse 
Zurückhaltung    des    Sprechenden    in    der    Aufforderung    das 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestai^tung  usw.  57 

Motiv  gewesen  sein,  ähnlicli  wie  wenn  wir  du  Tcannst  (könntest) 
jetzt  gelin  für  geh  jetzt  sagen,  so  muß  sich  dieser  Modus- 
gebrauch doch  mit  der  Zeit  so  stark  mechanisiert  haben,  daß 
man  sich  auch  bei  energischerer  Aufforderung  dieser  Aus- 
drucksweise bedienen  konnte.  Das  muß  sich  auch  in  der 
Änderung  der  Betonungsart  dargestellt  haben.  Vgl.  Verf. 
Grundr.  2^,  3,  857.  863f.-,  Caüer  Gramm,  mil.^  i44f. 

In  weitem  Umfang  sind  im  Germanisehen  und  im  Sla- 
vischen  Optativformen  in  das  Gebrauchsgebiet  der  imperati- 
vischen  und  konjimktivisch-iujunktivischen  Formen  eingerückt. 
Sie  haben  sämtliche  Funktionen  dieser  Formen  übernommen, 
z.  B.  ahd.  Sit  got.  sijai])  'seid!',  aksl.  vedHe  'führt!'.  S.  Del- 
brück Vgl.  Synt.  2,  396,  Verf.  Grundr.  2^,  3,  8i4ff.  Wie  sich 
diese  Entwicklung  im  einzelnen  abgespielt  hat,  ist  nicht  mehr 
zu  erkennen. 

4)  Ist  bei  einer  Aufforderung  die  seelische  Grundstim- 
mung vorwiegend  die,  daß  man  die  Ausführung  einer  Hand- 
lung vom  Angeredeten  ganz  sicher  erwartet,  so  stellt  sich 
der  Indikativus  Futuri  oder  der  futurische  Indikativus 
Präsentis  als  nächstliegende  Ausdrucksform  ein.  Die  Ton- 
art, der  Aufforderungston,  gibt  dann  dem  Angeredeten  die 
richtige  Interpretation  leicht  an  die  Hand.  So  nhd.  du  kommst 
mit!,  ihr  kommt  mit!  oder  du  ivirst  mitkommen!,  ihr  werdet 
mitkommen!  (Erdmänn-Mensing  Grundz.  i,  96).  Griech.  Plat. 
Prot.  p.  338  a  Gig  o'bv  7ioi7]6sTS,  Lykurg.  67  xo^aörJov  söxl 
tovtov,  sl  iiiXlexE  rovg  äXXovg  TtoUrag  ßsktiovg  jtoirjöSLV,  xal 
ov  rovto  Xoyi£Lö&£^  sl  dg  sßti  uövog  6  avd-Q(07tog,  aXX' 
sig  xb  TtQäy^u.  Im  letztgenannten  Satz  läßt  ov  die  Einklei- 
dung der  Aufforderung  in  die  Form  eines  Aussagesatzes  deut- 
lich erkennen.  Doch  kam  neben  ov  im  Attischen  auch  ^rj 
auf,  herübergeholt  aus  anderen  Bezeichnungsweisen  des  Ver- 
bots, z.  B.  Lys.  2g,  13  xcil  firjds^Cav  ai>toig  aösiav  d(o6£tE. 
S.  Kühner-Gerth  Ausf.  Gramm,  i,  176.  Lat.  Plaut.  Cure.  728 
tu,  miles,  apud  me  cenahis,  Asin.  373  ^m  cavehis^  ne  me  attin- 
gas,  si  sapis,  Cic.  Att.  12,  28,  i  si  igitur  illum  conveneris, 
scrihes  ad  nie,  si  id  videtur;  mit  non,  entsprechend  dem  ov, 


^8  K  AKi,  Hin  (iMAN.N  :  f?^,  <> 

z.  B.  Cic.  Faiu.  5,  12,  10  tu  initrm  tum  crssdhia  vi  ra,  (/ikic  hahcs 
insfi(t(f",  pcrpolici  (KriiNKR-STKCMANN   Ausf.  (Jramin.  1,  144). 

5)  Eine  l)esomlere  Stt'lluiijjj  iiclmicii  die  Ausdiücke  ein, 
die  iu  versehiodonen  Qraniinatiken  verschiedener  Spraclieii 
als  erste  Personen  des  Duals  uud  des  [Muralfl  dos  Im- 
perativs bezeichnet  und  mit  den  oben  unter  i  l)is  4  be- 
handelten zweiten  und  dritten  Personen  im  1^'orineusysteni 
verbunden  werden.  Sie  besaji^eu,  daß  der  Sprc'chcnde  zu  etwas, 
was  er  tun  will,  zugleich  einen  Anwesendi'n  oder  mehrere 
Anwesende  auffordert,  wie  lat.  ca»ius  'gehen  wir!,  laß(t)  uns 
gehen!' ^)  Die  Verbalformen,  um  die  es  sich  hier  bandelt, 
werden  von  den  systematisierenden  Grammatikern  teils  zum 
Imperativsyetem  gerechnet  (so  im  Altind.,  Kelt. ,  German., 
Balt.-Slav.),  teils  zum  Konjunktiv  (so  in  den  klassischen 
Sprachen). 

Ai.  UV.  1,  25,  17  sq  mi  vöcävahai  punar  yätö  nie  mddhv 
dbhrtam  'hiß  uns  nun  wiederum  miteinander  uns  besprechen, 
nachdem  mein  süßer  Trank  herbeigebraclit  ist',  AB.  2,  25,  i 
te  'bruvan:  hantajim  aijäma  'sie  sprachen:  wohlan,  laßt  uns 
einen  Wettlauf  anstellen'.    S.  Delbrück   Altind.  Synt.  306  ff. 

Griech.  -9-  133  dsms,  (pCloi,  töv  i,eivov  iQco^u&a  'hier- 
her, Freunde,  laßt  uns  den  Fremdling  befragen',  z/  418  aXX 
aye  d»)  xal  vai  iisdcb^iE&a  d'ovQiÖog  uXxjjg  'wohlan,  laß  auch 
uns  beide  stürmischer  Abwehr  gedenken'.  S.  Kühneu-Gerth 
Ausf.  Gramm,  i,  2191 

Lat.  Plaut.  Stich.  147  abeamus  intro,  Cic.  Off.  i,  41  me- 
minerimus  etiam  adversus  infimo^  histitiam  esse  servandton. 
S.  Kühner-Stegmann  Ausf.  Gramm,   i,  180. 

Dem  Sprachgefühl  der  Litauer  waren  diese  Aufforde- 
rungen 'Imperative',  wie  man  daran  sieht,  daß  sie  z.  B.  elkime 

i)  Daß  man,  wie  es  oft  geschieht,  auch  bei  der  i.  Sing.  Konj. 
oder  Inj. ,  z.  B.  ai.  hrarä,  vöcam  'ich  -will  sprechen',  griech.  dw  ''ich 
will  geben',  alat.  adeam  'ich  will  herantreten',  von  Aufforderung, 
nämlich  des  Sprechenden  an  sich  selbst,  redet,  entspricht  nicht  der 
wahren  Meinung  dieser  Formen.  Diese  Sinnesbestimmong  ist  nur 
durch  den  Gebrauch  der  i.  Du.  und  i.  Plur.  veranlaßt  worden. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  bAxzGESTALTUNG  usw.  59 

*laßt  uns  gekeu'  und  eikiva  'laß  uns  gelien',  ebenso  wie  die 
2.  Plur.  elliite  und  die  2.  Du.  eihita,  auf  Grund  der  2.  Sing. 
ei-Jc(i)  (S.  52)  geschaffen  haben.  Daneben  sind  aber  auch 
noch  die  Injunktivformen  eime  und  eivä  in  demselben  Sinn 
erhalten  geblieben.  Sie  sind  yermutlich  aus  stoßtonigen 
^eime,  *eiv6  hervorgegangen,  und  diese  hatten  im  Zusammen- 
hang mit  der  Aifektbetonung  eine  Vokaldehnung  nach  der 
Art  der  Piutierung  des  Altindischen  erfahren.  S.  Verf.  Grundr. 
2-,  3,  621.  815.  Im  Slavischen,  wo  größtenteils  der  Optativ 
die  Funktion  des  Imperativs  übernommen  hat  (S.  57),  haben 
sich  unsere  1.  Plur.  und  i.  Du.  hiermit  in  Übereinstimmung 
gesetzt,  z.  B.  vederm  'laßt  uns  führen',  vedcve  laß  uns  führen', 
wie  2.  Plur.  vedHe,  2.  Du.  vedlia.  Über  vidhm,  vidive  s.  Verf. 
Grundr.  2^,  3,  561.  812. 

Am  schwierigsten  ist  die  Beurteilung  der  Verhältnisse 
im  Germanischen.  Über  sie  ist  oft  gehandelt  worden,  zuletzt 
von  Behaghel  „Der  got.  Adhortativus"  PBrB.  43,  325  und 
in  unmittelbarem  Anschluß  an  diesen  Aufsatz  von  W.  Bkaune 
„Der  german.  Adhortativus"  S.  3276". 

Im  Got.  und  Nord,  nämlich  erscheint  als  i.  Plur.  (die 
1.  Dual,  kommt  nicht  in  Betracht,  weil  sie  in  diesem  Sprach- 
zweig schon  in  vorhistorischer  Zeit  der  i.  Plur.  gewichen  ist) 
eine  Form,  die,  äußerlich  betrachtet,  mit  der  Indikativform 
identisch  ist:  got.  hindam  aisl.  hindom  '■laß(t)  uns  binden'. 
Ich  erklärte  die  Form  für  alten  Injunktiv  (Grundr.  2-,  3,  521). 
Wenn  Braune,  der  darin  alten  echten  Indikativ  sieht,  gleich- 
wie Behaghel,  betont,  daß  im  Got.  diese  Indikativform  ganz 
besonders  bei  perfektiven  Verben  adhortativ  auftrete,  und  die 
auf  die  Zukunft  weisende  Bedeutung  der  Perfektiva  die  i .  Plur. 
leicht  habe  als  adhortativ,  nicht  als  Aussage  über  etwas 
Wirkliches  verstehen  lassen,  so  ist  das  an  sich  richtig.  Nur 
hätte  der  Hinweis  auf  den  Unterschied  der  Satzbetonung  (vgl. 
du  Jcommst  mit!  S.  57)  nicht  fehlen  dürfen:  diese  Tonver- 
schiedenheit treonte  auch  ein  duratives  gaggam  als  Adhorta- 
tivus  von  voru/verein  von  einem  nicht  adhortativen  gaggam 
'wir  gehen'. 


6o  Kaul  Buuomann:  |7'\^ 

Im  liot.  orsclu'iiit  mm  in  ^leii-hein  Siim  oll  die  Optativ- 
loriH,  z.  H.  Köm.  i,>,  13,  {larcdalxi  gn<igaima  ' svOi^i^iövoq 
zfQi:TaT)jö(o^isv ,  'lasset  uns  rhrbarlicli  wandeln',  mul  im  Wcst- 
irermanisclien  mit  Ansnahme  des  lld.  lierrsclit  dieser  Modus 
durchaus.  Die  1.  Plur.  Ojit.  hat  sieli  im  Zusammenhang^  mit 
dem  imperati vischen  Gebrauch  in  der  2.  Person  (vgl.  3  S.  57) 
eingestellt  und   war  die  jüngere  Ausdrucksweiso. 

Das  Hochdeutsche  zeigt  die  dem  got.  huidam  aisl.  hhulom 
entsprechende  Stammform  mit  der  viel  erörterten  Endung 
-mcs  und  /war  sowohl  in  adhortativer  Avie  in  indikativischer 
Bedeutung:  hiniumcs,  gamts  usw.  Braune  a.  a.  0.  S.  t,2() 
Fußn.  I  lehnt  alle  bisherigen  Erklärungen  des  -7ncs  ab  und 
benierkt,  er  könne  iu  der  -m?.S'- Frage  über  ein  Non  liquet 
nicht  hinauskommen.  Ich  halte  mich  an  die  Tatsache,  daß 
,,im  Imper.  das  -mcs  viel  fester  haftet  als  im  Indikativ,  bei 
Otfr.  geradezu  für  den  Imp.  charakteristisch  ist"  (Bkaune 
S.  33  0>  ^^^  bleibe  bei  meinem  Deutungsversuch  in  Gruudr. 
2^,  3,  621  (der,  wie  es  scheint,  Bkaunk  nicht  bekannt  ge- 
worden ist,  jedenfalls  von  ihm  nicht  erwähnt  wird).  Hiernach 
war  -mes,  gleichw^ie  lit.  '■'•'■eime,  woraus  historisch  eime  (S.  59), 
in  der  adhortativen  Verwendung  aufgekommen  im  Zusammen- 
hang mit  der  adhortativen  Affektbetonung.  Diese  hatte,  ebenso 
wie  bei  der  ai.  Plutieruug.,  der  Schlußsilbe  mit  der  Vokal- 
dehnung noch  einen  stärkeren  Nachdruckston  zugebracht,  aus 
dem  sich  das  Verbleiben  des  -5  erklärt  {-tnes  =  dor.  -^sg). 
Später  hat  sich  dieser  Nachdruckston  verloren,  wodurch  be- 
wirkt wurde,  daß  man  die  Formation  nunmehr  auch  indika- 
tivisch gebrauchtet),  ferner  daß  das  e  voji  -mt's  blieb,  nicht 
zu  ä  geworden  ist. 

Die  ahd.  Formen  auf  -)ms  waren  hiernach  von  Beginn 
an  Indikativformen  gewesen,  nicht  Injunktive,  da -mes  wegen  des 
-s  nur  als  primäre  Personalendung  verständlich  ist.  Ob  da- 
gegen auch  got.  hindam,  aisl.  hindom  als  Adhortative  alte  In- 


i)  Im  Ahd.  treten  auch  optativische  Ausgänge  im   Indikativ  auf, 
8.  Bkaune  Ahd.  Gramm. ^  254 


70,6]         Verschiedenheitek  der  Satzgestaltung  usw.  6i 

•dikativibrmeii  gewesen  sind,  muß  dahin  gestellt  bleiben.^) 
Übrio-ens  hat  unter  allen  Umständen  —  was  nicht  genügend 
beachtet  worden  ist  —  die  adhortative  Affektbetonung  von 
Anfang  an  im  Gebrauch  eine  schärfere  Abgrenzung  gegen  den 
Indikativgebrauch  ermöglicht. 

6)  Die  Absicht,  etwas  zu  fordern,  verbindet  sich  leicht 
mit  dem  Zweifel,  ob  der  Aufforderung  auch  Folge  geleistet 
werde.  Daher  häufig  die  Form  des  Fragesatzes:  kommst  du 
mit?,  icürdest  du  mitkommen?.  Faßt  man  dabei  die  Eventua- 
lität der  Nichterfüllung  des  Verlangens  ins  Auge,  so  ergibt 
sich  Zusatz  der  Negativpartikel:  liommst  du  nicht  mit?,  ivür- 
dest  du  nicht  mitliommen?. 

Im  allgemeinen  kamen  diese  Arten  der  Aufforderung  da 
auf,  wo  man  dem  Geheiß  einen  milderen  Ausdruck  geben 
wollte:  mit  der  Frageform  ordnet  man  ja  den  eignen  Willen 
dem  des  Angeredeten  bis  zu  einem  gewissen  Grad  unter. 
Doch  bediente  man  sich  dieser  Form  der  Aufforderung  mit 
der  Zeit  wohl  überall  auch  bei  schärferer  Mahnung,  was  dann 
zu  schärferer  Tonart"  führte:  gehst  du  hcngel  gleich  her?!,  willst 
du  gleich  herkommen? .' 

Ob  auf  dieser  selben  Grundlage  auch  die  kurzen  Auf- 
forderungen mit  nachgestelltem  Personalpronomen,  bei  denen 
heute  wenigstens  nichts  von  der  Fragebetonung  zu  spüren 
ist,  wie  nhd.  gehste!  (gehst  du),  gehmer!  (gehen  loir),  mhd.  den 
volgen  ivir!  'diesen  laßt  uns  folgen'  (vgl.  Baesecke  Ein- 
führung in  das  Ahd.  S.  iQQf.,  Braune  a.  a.  0.  S.  329f-)j  ^®" 
ruhen,  lasse  ich  unentschieden. 

Ai.  Säk.  172,  9  Burkh.  evq  hho  na  me  säsane  tiSthasi 
'he,  wirst  du  nicht  so  meinem  Befehl  gehorchen?',  RV.  8,  7, 
30  kadd  gachätha  maruta  itthd  viprq,  hävamänam  'wann,  o 
Maruts,  werdet  ihr  zum  rufenden  Sänger  hierher  kommen?' 
d.  i.  'kommt  bald'.    Griech.  rj  22  a  tsxog,  ovx  (xv  aoi  öo^ov 

i)  Zugunsten  alten  Indikativcharakters  darf  nicht  (mit  Braunh 
S.  331)  die  adhortative  2.  Du.  hindats  mit  ihrer  Primärendung  geltend 
gemacht  werden.  Denn  dieses  -ts  erscheint  auch  in  hindaits  und  hun- 
duts^  Formen,  die  ja  ursprünglich  Sekundärendung  gehabt  haben  müssen. 


62  Kaui- Bkihsmann:  |7o,  6 

«i'f'()oc  i^yijöaio^  !/Ax/j'd<)r.^  'Kind,  würdrst  du  mir  nicht  den 
VVojr  woison  /um  Haus  lincs  Mannes,  des  A.V.  Lat.  Plaut. 
Amph.  516  (il)in  c  conspcctu  tnro?,  Cure.  189  dinm  dispcrti- 
miiii':',  Ter.  Andr.  743  »0»  w/?7//  respondcs? ,  Ser.  Sulj).  bei  Cic. 
Farn.  4,  5,  4  i'/.s>?r  tu  te  coJiihcrry 

Solche  Fragen  werden  auch  mit  'was  (warum)  nicht?' 
pebikh't:  man  erwartet  mit  Ungeduld  von  jemand  den  Vollzug 
einer  verlangten  Handlung  und  kleidet  so  die  Aufforderung 
zur  Ausführung  in  diese  Art  Frage.  Nlid.  ivas  (ivarum) 
Ixommd  du  nicht':'.  Griech  mit  xi  {ovv)  ov:  Aristoph.  Ach.  359 
rt  ovv  ov  ktysig?^  Xen.  Kyr.  2,  1,4  xC  ovv,  ecprj  6  Kvqo^, 
Ol'  xcd  x)]v  övva^av  Blei.äg  uoi?  (Kühner- Gerth  Ausf.  Gramm. 
I,  165  f.,  Stahl  Krit.-hist.  Synt.  135.  353).  Im  Lat.  so  (juln, 
aus  qiä-ne  'wie  nicht?,  warum  nicht?',  wie  Plaut.  Capt.  592 
quin  fugis?,  Men.  1000  quin  me  mittitis?. 

Durch  Mechanisierung  dieser  Aufforderungsform  ist  es 
im  Lateinischen  schon  zu  Plautus'Zeit  dahin  gekommen,  daß 
quin  auch  vor  Imperative  gesetzt  wurde,  offenbar  mit  gänz- 
lichem Verlust  des  Fragetons:  z.  B.  Plaut.  Bacch.  276  quin 
audi,  was  man  sich  als  quin  audis?  -\-  audi  denken  mag^), 
Men.  416  quin  tu  iace  modo,  Cic.  Rose.  com.  25  quin  tu  hoc 
crimen  aut  ohice  aut  ,  .  .  S.  Schmalz  Lat.  Synt.^  594  f.,  Ben- 
nett Synt.  I,  24  f.  350,  Wegener  IF.  39,8  f. 

7)  Mancherlei  Interjektionen  bilden  durch  sich  selbst 
Aufforderungssätze.  Als  solche  darf  man  alle  die  ansehen^ 
die  den  Angeredeten  auffordern,  dem  Sprechenden  seine  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden.  Sie  werden  teils  für  sich  allein  ge- 
sprochen, teils  bilden  sie  die  Einleitung  zu  Aufforderungs- 
sätzen, die  den  Willen  des  Sprechenden  inhaltlich  genauer 
angeben,  zu  Sätzen  also  mit  Imperativen  usw.  Z.  B.  nhd.  Ite, 
lat.  hcus,  eho  (chodmn),  ai.  hänta,  e,  ai]  ferner  lat.  und  hd. 
st,  Schweigen  gebietend,  gi-icch.  xr]  lit.  te  'da!,  nimm!'  u.  dgl. 
Mannigfaltig  sind  die  an  Tiere  gerichteten  iuterjektionalen 
Aufforderungen,  z.  B.  nhd.  hü!,  hott!. 


i)  Vgl.  Plaut.  Most.  815  quin  tu  is  iniro  atque  otiose  perspecla. 


70,  6]         Vkuschiedexheiten  der  Satzgestaltung  üsu'.  63  ■ 

Manche  interjektionale  Gebilde,  die  Aufforderungssinn 
haben,  sind  selbst  ursprünglich  Imperativformen  gewesen  und 
kommen  zum  Teil  daneben  auch  noch  mit  ihrem  ursprüng- 
lichen Gedankeniuhalt  vor.  Die  Erstarrung  zur  Interjektion 
kann  sich  an  verschiedenem  kundtun,  z.  B.  daran,  daß  die 
2.  Sinar.  auch  im  Zuruf  an  mehrere  gebraucht  wird.  So  z.  B. 
nhd.  halt!,  holla!,  griech.  äys,  (ftQS,  lat.  age  (agedum),  ai. 
m.  Vgl  S.  2iff. 

8)  Ferner  läßt  sich  auch  hier  wieder  der  Vokativ  nennen, 
insofern  er,  wie  die  Interjektion,  dazu  dient,  die  Aufmerksam- 
keit des  Angeredeten  für  den  Sprechenden  überhaupt  oder  für 
etwas  besonderes,  was  er  sagen  will,  zu  fordern.    Vgl.  S.  3 1 . 

9)  Verselbständigte  abhängige  Sätze  kommen  un- 
gefähr ebenso  häufig  vor  wie  bei  den  Wünschen  (S.  49  f.).  Selt- 
ner aber  als  beim  Wunschsatz  wird  dann  beim  Aufforderungs- 
satz eine  Interjektion  vorausgeschickt,  z.  B,  he,  daß  du  mir 
gleich  wiederhommst!. 

a)  Sätze  mit  finalem  'daß',  wie  sie  auch  in  Abhängig- 
keit von  den  Verba  des  Forderns  u.  dgl.  üblich  sind,  z.  B. 
nhd.  daß  du  mir  gleich  wiederhommst ! ,  daß  er  si(Ji  beeile!. 
Naturgemäß  ist  es  für  den  Hörer  oft  zweifelhaft,  ob  er  es 
mit  einem  bloßen  Wunsch  oder  einer  Aufforderung  zu  tun 
habe:  vgl.  Goethe  Tasso  i,  2  0  daß  er  sein  gemiit  an  deinen 
lehren  bilde!,  mhd.  Nib.  1423  das  ir  des  ane  zwivel  Sit!,  Iw. 
42 14  das  ^s  got  erbarme!  (Konj.  Prät.  erscheint  nur  im  Wunsch: 
daß  du  mir  wiederMinst!). 

Im  Griech.  OTtcog,  in  jüngerer  Zeit  auch  iva.  Aristoph. 
Plut.  326  oxcos  ds  ^loi  xccl  xalXa  6v\i%aQa6xäx ai  s6e6&s  xai 
6(orr,Qss  'daß  ihr  mir  Gehilfen  seid!',  Xen.  An.  i,  7,  3  ö^03g 
ovv  S6S69-S  ccvÖQSs  a^ioi  tijg  iXsvd^SQCag,  vgl-  TtoCsi,  ÖTicog . .  ., 
imuslov,  Ö7C(og  ...  NT.  Eph.  5,  i2>  V  dh  yvvri  Iva  (poßrjtai 
TOI'  ävÖQu,  vgl.  Mark.  6,  25  ^Üa  iva  öäg  fiot.  S.  Kühnek- 
Gerth  Ausf.  Gramm.  2,  376,  Brugmanx-Thumi>.  Griech. 
Gramm.*  639. 

Im  Slav.  da  mit  Indik.:  aksl.  da  vcsi  'wisse',  vgl.  chosfq, 
da  dasi  mi.  In  den  3.  Personen  ist  diese  Ausdrucksweise  für 


64  Kaki,  Hkikjmann:  [7O1 6 

Aufforderung'  die  einzig  vorliaudene  (gleichwie  im  Krunzösi- 
schen  7'^/'  bei  den  3.  IVrsonen  unentbehrlich  geworden  ist: 
(ju'il  nitre' ,  qiCU  le  fasse!).  Z.  H.  uksl.  Matth.  6,  0  da  svt^tih 
S(;  i»i{'  troji'  'ccyiaö^iirco  to  örou«  Oov\  Mattli.  5,  16  tdko  da 
prosv^titi  Sf  svrl-b  t'ash  'ovicog  XKuxjjcirco  to  qnös"  v^m'\  russ. 
da  zdrarstvujct  liossija.'  'es  lebe  Russhind!'.  Vgl.  DiiLiudCK 
Vergl.  Synt.  2,  396,  VonohAk  Vergl.  Slav.  (iranini.  2,  281. 

Im  Altlat.  kommen  Aufforderungssilt/e  mit  ut  vor,  wie 
Plaut.  Baccb.  739  maic,  patrr  nii ,  proin  tu  ah  co  ut  caveas 
td)i,  Ter.  Ad.  280  at  ut  omnc  reddat  (Blase  Higt.  Gramm.  3, 
I,  129).  Wie  sich  dieses  ut  entwicklungsgeschichtlich  /u  dem 
uf  (^ul/nam)  im  Wunsclisatz  (S.  46)   verhält,  ist  unklar. 

b)  Wenig  verbreitet  ist  der  indirekte  Fragesatz  neben 
dem  direkten  (oben  6  S.  61):  oh  du  mitliommst?.  Im  Nhd.  ist 
diese  Außerungsform  geläufiger  bei  energischer  Aufforderung: 
oh  du  gleich  hergehst?! 

10)  Verselbständigte  Infiuitivkonstruktionen,  ur- 
sprünglich von  einem  Verbum  voluntativen  Sinnes  abhängig, 
erscheinen  im  Germanischen,  Griechischen,  Italischen,  Arischen 
(vgl.  das  nämliche  Selbständigwerden  des  Infinitivs  im  Ausruf, 

S.  43). 

Nhd.  langsam  gehn!,  den  Fuß  vorsetzen!  (J.  Grimm  D. 
Gr.  4,  92  ff.  Neudr.).  Griech.  E  iid^  d^ccQö&v  vvv,  zliöfirjdsg, 
ijtl  TQcbiööi  ^iccxeö&ai  'mutig  kämpfe  jetzt,  D.,  gegen  die 
Troer'.  Lat.  Val.  Flacc.  3,  4 1 2  ergo  uhi  puniceas  oriens  ascen- 
derit  imdas,  j  tu  socios  adhibere  sacris.  Ai,  RV.  6,  15,6  agnim- 
<ignj  vah  samidhä  duvasyata  priyq,-priyq  vö  dtithj  grnisäni 
'verehrt  euren  Agni  mit  Holz,  euren  lieben  Gast  preiset'. 
S.  Verf.  Grundr.  2-,  3,  339  ff. 

Ursprüngliche  Abhängigkeit  von  einem  Verbum  tritt  im 
Griechischen  darin  deutlich  zutage,  daß  bei  3.  Personen  der 
Accusativus  cum  inf.  erscheint:  F  28,5  si  de  x  ^iXa^ccvdQov 
xrsLvri  ^avd-bg  Mavilaog^  \  Tgäag  btcei^  'Ekevrjv  xccl  xrij^ata 
xävr  (iTCodovvuL  'dann  sollen  die  Troer  die  H.  und  alle 
Schätze  zurückgeben',  kret.  SGDI.  n.  4991,  10  tä  Öl  XQÖvca 
xov  dixa6tav  öuvvvru  xqCvev  'wegen   der  Zeit   aber  soll   der 


70,6]         Verschiedenheiten  DER  Satzgestaltung  USW.  65 

Richter  unter  Schwur  entscheiden'.  S.  Brugmann-Thumb 
Griech.  Gramm."*  597,  Verf.  Grundr.  2^,  3,  941  f. 

11)  Kurzsätze  begegnen  in  der  verschiedensten  Art. 
So  z.  B.  vielfach  Adverbia  der  Bedeutung  'hierher'  u.  ähnl. 
im  Sinn  einer  Aufforderung,  an  eine  gewiesene  Stelle  zu 
kommen:    nhd.  herein!,   heran!,    griech.  N  481    devre,  (pikoiy 

xal  liolco  d^vvste,  prakr.  Säk.  51,  10  Burkh.  ido  ido  hha- 
vantä  (skr.  ita  itö  hhavaniäu)  'hierher,  hierher,  ihr  Herrn!'. 
Vgl.  Paul  Prinz.^  i34f..  Wegener  Grundfr.  144  f.,  IF.  39,  4 ff. 

10. 

Satzbilduno'  im  Dienste  der  Einräumung.  Die 
seelische  Grundstimmuug  ist:  man  wünscht  oder  fordert  ein 
Geschehen,  eine  Handlung,  doch  entspringt  dabei  die  Willens- 
regung nicht  der  freien,  unvermittelten  Initiative  des  Sprechen- 
den, sondern  dieser  fühlt  sich  einem  gewissen  Widerstand 
gegenüber,  der  entweder  in  seiner  eigenen  Seele  liegt,  oder 
an  ihn  von  außen  herangetreten  ist.  Eine  besondere  mo- 
dale Verbalform  als  Ausdruck  dieses  Grundstimmungskom- 
plexes hat  es  in  den  idg,  Sprachen  von  der  Zeit  der  Urge- 
meinschaft her  nicht  gegeben.  Die  besondere  seelische  Ver- 
fassung kann  jedoch,  wo  nicht  die  Situation  oder  der  Zu- 
sammenhang ohne  weiteres  das  Verständnis  sichern,  ebenso 
im  Tonfall  und  in  begleitender  Gebärde,  namentlich  in  mi- 
mischer Gebärde,  Ausdruck  finden  wie  durch  Zusätze  zum 
Verbum  wie  immerhin,  meinetwegen,  lat.  sane  u.  ähnl. 

Für  gewöhnlich  erscheinen  der  wünschende  Optativ  und 
der  Imperativ,  die  in  diesem  Falle  auch  als  Concessivus 
und  Permissivus  bezeichnet  werden.  Dabei  ist  der  Bedeu- 
tungsunterschied zwischen  den  beiden  Modusformen  derselbe 
wie  in  dem  Fall,  daß  Wunsch  und  Aufforderung  aus  der  freien 
Initiative  des  Subjekts  hervorgegangen  sind. 

i)  Optativus.  Nhd.  lioste  es,  was  es  wolle;  möge  er  zür- 
neti,  ich  tu'  es  doch,  mhd.  Nib.  nu  si  sivie  starc  si  welle,  ine 
läse   der   reise  niht.    Got.  Luk.   i,  38  qa^  ßan  Mariam:  sai, 

PhiL-hist.  Klaaae  1918.   Bd.  LXX.  6.  5 


üO  Kakk  Hki'omann:  |7f. '> 

piui  fratijins,  nairjnii  mis  hi  icaurda  Jicinamma  'löov  i)  dovkti 
xx'qCoi\  yt'i'ot.TÖ  /u)f  xc(T((  TM  (>t]u(x  6ov'  (Vgl.  liVlk.  2,  2i)). 
IJ riech,  il  2  2()  avxUa  yäij  ^u  xuTUXT.u'vftfi'  .'-/;i;<AA/^j>i,'  |  dyxccg 
ekovr  ^/<(»J'  vlöv  'meiuotwcgeii  luaj^  mich  AchiUcs  sofort 
tütou',  0  -'71  ineira  öl  xai  ri  7cä\)oiui  '(hiiiii  mag-  mich 
meiuohvegcii  das  Sdiicksal  treflfii',  Sl  139  t/^ö'  «t?  "  J)g  aTiotva 
(pEQOi,  xcu  vfXQov  «j'OiTo,  ((  402  XTtj^ucTU  ö' uvtog  «JJOIC,"  ««i 
ÖMuccßiv  olöiv  ävccöaoii:  (Küiinkr-Gkkth  Aiisf.  Gramm,  i,  228). 
Lat.  Plaut.  Trin.  979  sis  mca  rausa  qnUuhct,  Att.  trag.  203 
odcrint,  dum  mdKont,  Cato  bei  Gell.  6,  3,  50  sint  sane  sur 
pirhi,  quid  id  ad  nos  attinct?,  Cic.  Verr.  5,  4  sit  für,  sit  saeri- 
legus,  sit  flacjitionon  oninium  vitiorumquc  princeps:  at  est  ho- 
nus  Imperator  (Kühner -Stegmann  Ausf.  Gramm,   i,  189 f.). 

Im  Litauischen  hat  die  alte  Optativform  der  3.  Personen 
so  vorwiegend  diese  Bedeutung,  daß  sie  hiernach  in  der 
Grammatik  überhaupt  den  Namen  Termissivus'  ])ekommeii 
hat,  z.  B.  te-ateini'  'er  mag  fmeinetAvegen)  kommen',  tesc  'er 
(es)  mag  sein'. 

2)  Imperativus.  ^hA.  geh  meinetwegen,  geM  meinetwegen. 
RV.  10,  108,  6  anisavyds  tanväh  santu  papili  \  ädhrstö  va 
etavd  astu  pdnthä  hrhaspätir  va  uhJiaijd  nn  mrlät  'mögen  eure 
bösen  Leiber  schußfest  sein,  mag  undurchdringlich  der  Weg 
zu  euch  hin  sein,  B.  wird  euch  in  keinem  von  beiden  Fällen 
gnädig  sein',  Mhbh.  14,  6,  8  gaccha  vä  mä  vä  'du  magst 
gehen  oder  bleiben',  z/  29  eQÖ]'  araQ  ov  toi  xdvteg  inaivio- 
fisv  dsol  akXoi  'tu  es  (immerhin),  aber  nicht  sind  "wir  andern 
Götter  alle  damit  einverstanden',  Soph.  Ai.  961  of  d'  ovv 
yeXdivrav  'x&:ti%aiQ6vxcov  xaxolg  \  rolg  tovd''  l'öwg  rot  -  ■  ■  \ 
d^ccvovT  av  ol^ä^siav  iv  %Qtkc  doQog  'mögen  sie  lachen  und 
sich  freuen  über  die  Leiden  dieses  Mannes:  vermutlich  werden 
sie  noch,  wenn  er  tot  ist,  in  der  Not  des  Kampfes  ihn  be- 
klagen', Plat.  Symp.  p.  201  c  ovxag  exita,  6)g  6v  Isyeis  'es  mag 
so  sein,  wie  du  sagst',  kret.  SGDI.  4991,  6,  6  a  T^  Öd  x  av- 
xhg  näösxai  .  .  . ,  a;to(5t(Jd^)"^^G^,  ai  xa  kr}  'was  er  selbst  er- 
worben hat,  mag  er  verkaufen,  wenn  er  will'  (Kühnek-Geetu 
Ausf.  Gramm,  i,  236 f.).   Lat.  Plaut.  Pers.  500  cedo  sane,  Trin. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  67 

384  tibi  pcrmitto,  posce,  duce,  Men.  727  mca  qiddem  her  de 
causa  vidua  vivito  'meinetwegen  magst  du  als  Witwe  leben', 
Men.  1029  mca  quidem  hercle  causa  liher  esto  atqiie  ito,  quo 
voles,  XII  Taf.  3,  3 f.  vincifo  .  .  .,  aut  si  volet  maiore  vincifo;  si 
volet  siio  vivito.  Oft  esto  so  wie  sit  saue.  S.  Küiiner-Steg- 
MANN  Ausf.  Gramm,  i,  199,  202.  Aus  dem  Litauischen  sind 
hier  zu  nennen  die  mit  den  alten  optativischen  Formen  (s.  i) 
gleichbedeutenden  injunktivischen  Bestandteile  des  Permissivus, 
z.B.  te-suJca  'er  drehe  (immerhin)',  vgl.  Verf.  Grundr.  2^^  3,  522. 

II. 

Satzbildung  im  Dienste  der  Drohung.  Die  seeli- 
sche Verfassung  des  Sprechenden  bekundet  sich  außer  durch 
begleitende  mimische  und  pantomimische  Geberden  nament- 
lich durch  die  Art  der  Satzbetonung. 

Ich  erwähne  diese  seelische  Grundstimmung  darum  be- 
sonderSj  weil  bei  ihr  in  mehreren  Sprachen  übereinstimmend 
verselbständigte  Nebensätze  mit  'wenn'  auftreten..  Dabei  hat 
im  Nhd.  die  Stimme  eine  bis  zum  Schluß  ansteigende  Be- 
wegung. So  wenn  du  das  noch  einmal  tust!,  lat.  Ter.  verbum 
si  addideris!,  quem  quidem  si  ego  sensero! . 

Dazu  den  Nebensatz  verkürzende  Satzformen,  wie  nhd. 
weyin  du  noch  ein  wort!,  Ter.  verhum  si  mihi  unum  praeter 
quam  quod  te  rogo! 

12. 

Satzbildung  im  Dienste  der  Abwehr  und  Ab- 
weisung. Was  hier  vorzubringen  ist,  gruppiert  sich  im 
wesentlichen  um  die  Geschichte  der  uridg.  Trohibitivpartikel' 
*me,  die  sich  erhalten  hat  im  Arischen  als  ma,  im  Armeni- 
schen als  mi,  im  Griechischen  als  ^iij,  im  Albanesischen  in 
mos,  das  aus  uridg.  me  -j-  s  'nicht'  ^)  besteht. 

In  den  meisten  andern  Sprachzweigen  ist  das  einfach  ne- 
gierende uridg.  *ne  *ne  an  die  Stelle  von  *me  getreten,  wobei 


i)  s  aus   lat.  dis-  ist  zunächst  an  zusammengesetzten  Verben    er- 
wachsen (G.  Mkyer  Et.  Wtb.  der  alb.  Spr.  376). 

5* 


68  •  Kaki.  Bkucimann;  [7u,  o 

im  Lat.  die  ikHli'utiiun-söi'hattitMun^  von  "''nie  spo/iell  auf  *He 
überfifoi^angon  ist.  Diese  \  i'riiiiaeliun«^  mit  ''■/?',  die  meist  mit 
der  Zeit  zur  viillijren  ^'(•r(ll•älll,a^n«J;  von  *»ic  «^erülut  hat,  ist 
dadurch  angehahnt  worden,  lUiü  im  (Jehiet  der  voluntativon 
Sätze  zumteil  von  uridt;.  Zeit  her  nehen  *ni('  schon  '*nr  im 
(lehrauch  war.  Bei  dem  Übergang  /,u  *ni'  ist  wahrsclieinhch 
üherall  auch  ilie  hcsoudere  Betonungsart  der  *;>iP-i5ätzo  mit 
üheruommeu  worden,    ^'gl.  Verf.  Gruudr.  2^,    s,   ^27 f.,  974 f. 

Ohne  Zweifel  aus  uridg.  Zeit  erer])t  war  die  Verbindung 
von  '""'mc  mit  dem  Inj  unkt.  Aor.,  bzw.  dem  frühzeitig  an 
dessen  Stelle  getretenen  Konjunkt.  Aor.  Diese  Verbindung 
diente  dem  Verbot,  sowie  der  Bitte,  daß  etwas  nicht  gescheiie. 
So  ai.  RV.  I,  104,  8  ?)id  nö  vadhlr  indra  ma  pdrä  da  md 
nah  priyd  hhojanäni  jirä  mös'ih    'töte  uns   nicht,    Indra,  gib 

uns  nicht  preis,  entziehe  uns  nicht  die  liebe  Nahrung',  SB. 
II,  5,  I,  I  aJiämq  sma  ma  ni  padyasai  'der  uiclit  danach  Be- 
gehrenden sollst  du  nicht  nahen',  E  684  IjQia^Cdrj,  ^r]  di]  ,u£ 
eXcjQ  ziavccoiöLv  idöyg  \  xdad-ca  Tr.,  laß  mich  nicht  als  Beute 
für  die  Dauaer  daliegen',  arm.  Matth.  16,  18  drunU  dzoxoc  sna 
nii  yalCaharescen  'die  Pforten  der  HöUe  sollen  sie  (die  Ge- 
meine) nicht  überwältigen',  lat.  Ter.  Andr.  789  ne  me  altigas. 
Wie  der  Injunktiv  im  Gebot  nicht  von  Haus  aus  den  vo- 
luntativen  Sinn  hervorgebracht  hat,  sondern  ihm  dieser  Sinn 
erst  im  Zusammenhang  mit  der  Satzbetonung  zugebracht  wurde 
(S.  54),  so  hat  er  diese  Bedeutung  auch  im  Verbot  durch 
die  Tonart  erhalten,  hier  aber  zugleich  durch  den  ursprüng- 
lichen Sinn  von  *me.  (Beim  Injunktiv  erscheint  im  Ved.  mö, 
wenn  keine  voluntative  Bedeutung  vorliegt,  z.  B.  RV.  7,  20,  6 
nü  cit  sä  hhresate  jdnö  nä  resat  'nicht  wankt  das  Volk,  noch 
wird  es  zu  Schaden  kommen'.)  S.  Delbrück  Vergl.  Synt.  2, 
355 f-  519,  Verf.  Grundr.  2-,  3,  808.  974 f. 

Weniger  sicher,  aber  nicht  unwahrscheinlich  ist,  daß  Wic* 
in  der  Zeit  der  idg.  ürcremeinschaft  auch  schon  im  Wunsch- 
satz  gebraucht  worden  ist.  Im  RV.  erscheint  hier  zwar  ge- 
wöhnlich   nci,    doch   kommt  auch  mehrfach  vor  ma  hhujema 


70, 6]         Yehschiedenhetten  der  Satzgestaltung  usw.  69 

'möchten  wir  nicht  zu  fühlen  (auszukosten)  bekommen!'.  Im 
jüngeren  Av.,  im  Apers,,  im  Armen,  und  im  Griech.  ist  diese 
Ausdrucksweise  bei  Wunschäußerung  geläufig:  av.  V.  4,  46  mä 
gdus  mä  väsfrahe  hatö  adWtim  vaocoit  'man  möge  nicht  von 
Verweigerung  eines  wirklich  vorhandenen  Fleischstücks  oder 
Kleides  reden',  apers.  D.  4,  3  abiy  imäm  dahycmm  mä  äja- 
miyä^  mä  hainä  mä  dusiyäram  mä  ärauga^  'zw  diesem  Land 
möge  nicht  ein  Heer,  nicht  Mißwachs,  nicht  Lug  kommen', 
armen.  Matth.  16,  22  mi  elici  Uez  aid  'dies  möge  dir  nicht 
widerfahren',  griech.  7  601  ^rjds  6s  dai^cjv  \  ivxavd-a  tgeifsis, 
cpiXog  'und  möge  dich  nicht  ein  Dämon  dahin  vertreiben, 
Freund'.  Entsprechende  Sätze  im  Lat.  mit  ne,  neben  dem  hier 
aber  auch  nön  vorkommt  (Schmalz  Lat.  Synt.'^  478)- 

Auch  beim  Imperativ  erscheint  *me  übereinstimmend 
im  jüngereil  Avesta,  im  Armenischen  und  im  Griechischen, 
wofür  wieder  rie  im  Lateinischen. 

Ich  vermute  in  *me  eine  alte  Interjektion,  mit  der  man 
sich  von  einer  einem  unangenehmen  Vorstellung  abwandte, 
etwa  gleichwertig  mit  'bewahre!  behüte!  das  sei  ferne!'.  In- 
terjektionen desselben  oder  ähnlichen  Sinnes  im  Bereich  der 
historischen  idg.  Sprachphasen  sind  u.  a.  nhd.  pä!  (mit  jähem 
Decrescendo  vom  Silbeugipfel  ab),  lat.  a,  ah  (Ter.  ah,  ne  saevi 
tanto  opere),  olie  (Ter.  ohe,  desiste),  ai.  lium^  Isoliert,  als  Satz 
für  sich,  kommt  *me  in  historischer  Zeit  nirgends  mehr  vor; 
denn  Sätze  wie  ai.  mä  maivam  (Säk.  18,  18.  185,  19  Burkh.), 
griech.  ^i]  xovto  (Eur.  Ion  1331),  arm.  mi  (Matth.  13,  29 
Ixamis  zi  erficiiJc  V alescuU  zain  i  hac.  ev  na  ase  cnosa:  mi 
'willst  du,  daß  wir  hingehen  und  es  [das  Unkraut]  beseiti- 
gen? Und  er  spricht  zu  ihnen:  Nein',  d.i.  'tut  es  nicht')  sind 
natürlich  Kurzsätze  gewesen.  Das  Wort  ist  demnach  in  Sätzen, 
an  deren  Spitze  es  auftritt,  schon  in  uridg,  Zeit  ebenso  in 
diese  Sätze  einverleibt  gewesen,  wie  das  mit  vielen  andern 
'Partikeln'  in  einzelsprachlicher  Zeit  geschehen  ist.  ^)     Dabei 

i)  Eine  Anzahl  solcher  Fälle  bespricht  Wackernagel  Verm.  Beitr. 
2iflF.  Vielleicht  gehört  dazu  auch  das  dem  \ii]  eemantisch  nahestehende 
lat.  haud,  s.  Thukneysen  IF.  21,  179,  Walde  Lat.  et,  Wtb.*  361, 


70  Kakl  Bhu(jmann:  [70.6 

wurde  ilie  Tonart,  in  cIlt  *)>ir  «gesprochen  wurde,  t'iir  den 
ganzen  Satz.  niaßgi'l)enil. 

Im  Vedisehen  ersclieinl  so  um  nur  erst  in  unal)hängigen 
Sätzen,  noch  nicht  als  nebensatzeiuleitende  Konjunktion.  Ebenso 
ist  hierfür  im  Altiranischen  kein  sicherer  Beleg.  Wo  die  Par- 
tikel zur  Konjunktion  geworden  ist,  geschali  das  hauptsäch- 
lich infolge  davon,  dali  man  häufig  auf  einen  Aufforderungs- 
satz, um  die  Aufforderung  zu  motivieren,  einen  Prohibitivsatz 
folgen  lieli:  z.  B.  Ind.  Spr."  4844  nid  vami  chiiuklhi  saryiighrq 
ma  vi/df/lira  nlnah))  vandt  'haue  nicht  einen  von  Tigern  be- 
wohnten Wald  nieder,  damit  nicht  die  Tiger  aus  dem  Walde 
verschwinden',  Plaut.  Pseud.  942  vide,  nc  tituhcs. 

Im  Griech.  und  Lat.  spielen  (ly  und  iie  in  Äußerungen 
von  Befürchtung  eine  größere  lloUe.  Sie  wurden  hier  hinter 
Verba  des  Fürclitens  die  ständigen  nebensatzeinleitenden  Kon- 
junktionen. Z.  B.  E  488  u^i  ^cog . . .  ärÖQuöi  övOßevi'f-aöi  tlojQ 
xcd  y.vQucc  yEvrjö&s  'daß  ihr  nur  nicht  für  feindselige  Männer 
Kaub  und  Beute  werdet!',  £  473  deCdicc,  firj  &riQEG6tv  i'XcoQ  xal 
xvQuu  yerai-iai,  Plaut.  Pseud.  284  nam  id  liic  metiiü,  ne  illam 
vendas.  Im  Arischen  usw.  erscheinen  hier  andere  Ausdrucks- 
weisen, wie  TS.  2,  I,  4,  3  yadi  hihhiijdd  duscärmä  hhavisyamili 
'wenn  er  fürchten  sollte:  ich  werde  hautkrank  werden'  (Del- 
brück Altind.  Synt.  292,  Vergl.  Syut.  2,  521.  3,  29of.). 

Auch  für  Warnung  war  der  *»<e-Satz  geeignet,  z.  B. 
1?  195  fijj  XI  io?.co6ä[.uvos  Q^ifi  xay.bv  ^nag  yliaiüv  Maß  er  nur 
nicht  im  Zorn  Leid  den  Söhnen  der  Achäer  zufügt!',  A  2t 
fii'l  6e,  ysQOv,  xoUr]6iv  iya  TtaQu  Wii-öl  v.iyr^io  'daß  ich  dich, 
Alter,  nicht  bei  den  hohlen  Schiffen  antreffe!'. 

Der  Bedeutungsunterschied  zwischen  *me  und  *«e,  wie 
er  aus  der  Zeit  der  idg.  Urgemeinschaft  ererbt  war,  hat  in 
keinem  Sprachzweig  für  den  Sprechenden  die  Möglichkeit  so 
feiner  Sinnesabschattung  beschaffen  wie  im  Griechischen.  Ich 
setze,  um  das  zur  Anschauung  zu  bringen,  eine  Stelle  aus 
Cauer's  Grammatica  militaus'^  her.  S.  56  heißt  es:  „Daß  ein 
griechischer  Fragesatz  entgegengesetzten  Sinn  bekommt,  je 
nachdem  ob  er  mit  oux  oder  yuli  eingeleitet  wird,  hat  seinen 


70, 6]         Verschiedenheitex  der  Satzioestalti'ng  usw.  7 1 

Grund  in  der  Stimmung  des  Redenden,  die  sich  in  Worten 
nicht  äußert  [sicher  aber  doch  in  der  Satzbetonung  zutage 
trat!]-,  wer  ^i^  sagt  oder  hört,  empfindet  dabei  etwas  wie  einen 
negativen  Wunsch,  eine  Abwehr:  t]  (it]  xCg  ösv  ^ij^.a  ßQox&v 
M'KovTOs  ilavvet-^  {i  405)  'es  treibt  dir  doch  nicht  einer  dein 
Vieh  weg?'  Die  begleitende  Empfindung  kann  sich  sogar, 
obgleich  das  nicht  häufig  ist,  in  Aussagesätzen  äußern.  Mi] 
pbhv  eyco  xovqij  BoL6r,idc  yßQ  eit^veixa:  so  schwört  Agamem- 
non (T  261)',  er  gebraucht  fir/',  weil  er  den  Wunsch  hat,  die 
Möglichkeit,  daß  es  doch  geschehen  wäre,  weit  von  sich  ab- 
zuweisen. 'Es  ^hv  axQoaöiv  Xacjs  t6  ^i]  (ivd^ädsg  uvrCn>  cctsq- 
:r£6t€Qov  (pavsttai,  schreibt  Thukydides  I  22,  4,  und  meint: 
die  Ablehnung  des  Sagenhaften.  Ähnlich  bei  Demosthenes 
I.  Phil.  15,  oluai  eyco  xavta  Xaysiv  ex^iv,  ^li]  xcolvcov  d  xvg 
kUos  hjiayyilXaral  xi'.  Ich  meine  dies  sagen  zu  können; 
doch  fern  sei  von  mir,  einen  andern  zu  hindern,  der  sich  zu 
etwas  erbietet".  Auch  hier  wäre  ov  logisch  richtig  und  dem 
Gebrauche  gemäß,  aber  ^tj  ist  psychologisch  verständlich  und 
lebendig  wirkend."  Daß  in  der  späteren  Gräzität  firj  dem  ov 
ein  gut  Teil  Terrain  abgewann,  rührt  nicht  etwa  daher,  daß 
man  gegen  den  Bedeutungsunter.schied  der  beiden  Negationen 
unempfindlich  geworden  wäre,  sondern  daher,  daß  man  in 
gewissen  Fällen,  wo  ov  und  /atj  an  sich  gleich  angemessen 
erscheinen  konnten,  bestimmte  Wendungen  mit  ^iri,  die  schon 
in  älterer  Zeit  vorhanden  waren,  mehr  und  mehr  gegenüber 
solchen  Wendungen  bevorzugte,  in  denen  von  älterer  Zeit 
her    Ol'»    seinen    Platz    hatte.     S.  Brugmann-Thumb    Gr.  Gr.* 

572.  611. 

13- 

Satzbildung  im  Dienste  der  Aussage  über  eine 
vorgestellte  Wirklichkeit.  Diese  vorgestellte  Wirklichkeit 
kann  der  Gegenwart,  der  Vergangenheit  und  der  Zukunft  an- 
gehören, und  es  stellen  sich  hierher  Behauptungen,  Erklärun- 
gen, Urteile,  Berichte,  Erzählungen  u.  dgl. 

In  unsern  idg.  Sprachen  kann  man  zwei  Hauptformen 
dieser  Satzart  unterscheiden,  den  nominalen  Typus,  der  vor- 


'}2  Karl  Bruomann:  (70,6 

zu^sweise  der  ErkliiruTif^  und  Beaclireibnng  dioni,  wi«»  omnin 
pracvhira  rata,  und  den  verl)iiloti  Typus,  in  dcMu  niiin  na- 
niontlich   beriolitot,  erzählt,  schildert,   wie  niairr  ahiif. 

Der  AuBsagesiitz  ist  von  aUcn  Siitz«ratlun<^on  die  syn- 
taktisch am  iiKinni<^raIli<;jsten  und  reichsten  entwickelte 
\\  ährcud  die  Satzarton,  die  auf  dem  Hoden  des  rein  Gofülils- 
iniißii^en  erwachsen  siud,  in  der  Alltajrssprachc»  von  jeher  kurz 
und  weniijf  get^liodert  waren  und  hier  überdies  die  Form  des 
'Kurzsatzes'  immer  besonders  beliebt  war,  hat  der  Aussago- 
satz sowie  der  auf  ihm  beruliende  Fragesat/,  mit  der  wach- 
senden sprachlichou  Gliederung  komplizierterer  Gesamtvor- 
steDungeu  überall  die  Pcriodenbildung  gefördert. 

Diese  sprachliche  Ausbildung  des  Aussagesatzes  hat 
aber  mit  der  Zeit  auf  die  Gefühlssätze  in  der  Art  hinüber- 
gewirkt, daß  auch  diese  sich  syntaktisch  in  sich  mehr  und 
mehr  Ijereicherten.  Diese  Wirkung  macht  sich  ganz  beson- 
ders in  der  geschriebenen  Rede  geltend.  Denn  so  ließ 
sich  vielfach  eine  Art  Ersatz  schaffen  für  die  dem  Verständ- 
nis dienenden  Hilfsmittel,  die  dem  geschriebenen  Wort  ab- 
gehen, die  Satzbetonung,  die  Gebärde  und  die  Situatiousan- 
schauung. 

Im  gewöhnlichen  Aussagesatz  spielt  die  Tonart  für  das 
Verständnis  eine  weniger  wichtige  Rolle  als  anderwärts.  Ge- 
meinsam hat  er  mit  allen  andern  Satzgattungen,  daß  eine 
Äußerung  gegenüber  einem  andern  ausgesprochenen  oder  nur 
vorgestellten  Gedanken,  sei  es,  daß  zwei  Gesamtvorstellungen 
oder  nur  zwei  Einzelbegriffe,  eventuell  zwei  Sätze  oder  zwei 
Worte  einander  entgegengestellt  werden,  dadurch  gehoben 
werden  kann,  daß  ein  Nachdrucksakzent  darauf  gelegt  wird. 
Hierdurch  erfährt  also  die  Natur  des  Aussagesatzes  an  und 
für  sich  keine  Änderung.  Und  wie  in  den  Gefühlssätzen  die 
Wirkung,  die  durch  die  besondere  Art  der  Satzbetonung  er- 
zielt wird,  zumteil  auch  durch  besondere  Wörter,  Interjektio- 
nen und  Partikeln,  erreicht  werden  kann,  so  haben  auch  die 
Aussagesätze  als  solche  ihre  der  Exspirationsverstärkung  un- 
gefähr gleichwertigen  Zusatzwörter  interjektionalen  Charakters, 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  73 

wie  lat.  nae  ne  griech.  vccC  v»^;  av.  hä  arm.  ba  lit.  6a;  nhd.  ja, 
fürivahr;  lat.  profecto,  sane;  gi-iech.  f/,  [iijv,  öi/rraj;  ai.  tvi, 
araga,  addhä. 

Am  schwierigsten  sind  Grenzlinien  zwischen  Aussagesatz 
und  Ausrufsatz  zu  ziehen.  Man  wird  darauf  Gewicht  legen 
müssen,  ob  stärkere  Betonung  nur  aus  dem  Bestreben,  das 
Verständnis  des  Gesagten  beim  Hörer  zu  sichern,  hervorgeht 
oder  aus  stärkerer  Gefühlsteilnahme.  Im  letzteren  Fall  wird 
man  den  Satz  zu  den  Ausrufungssätzen  rechnen,  z.  B.  der  ist 
groß!,  das  ist  herrlich/  (S.  34).  Entsprechend  sind  Sätze  in 
Aussageform,  die  aus  der  Absicht  hervorgegangen  sind,  je- 
manden zu  einer  Handlung  zu  veranlassen,  z.  B.  du  Jcommsi 
mit!,  als  Aufforderuugssätze  zu  bezeichnen  (S.  57).  Für  den 
Hörenden  können  in  allen  solchen  Fällen  kaum  je  Zweifel 
entstehen:  für  ihn  sind  die  Tonmodulation,  die  Situation  und 
die  begleitenden  Gebärden  wegweisend. 

Die  Tonart  der  Aussagesätze  ist  mit  der  Zeit  von  man- 
cherlei angenommen  worden,  was  ursprünglich  andern  Satz- 
arten angehört  hat,  manches  hat  konventionell,  durch  Mecha- 
nisierung in  dem  Maß  die  Natur  seiner  ursprünglichen  Satz- 
art aufgegeben,  daß  es  mit  der  Bedeutungsmodifikation  ganz 
den  Tonfall  des  echten  Aussagesatzes  bekam,  z.  B.  er  ver- 
schwand hast  du  nicht  gesehn  um  die  ecke  (ursprünglich  er  ver- 
schwand —  hast  du  nicht  gesehn?  —  um  die^cJic)  mit  derselben 
Satzbetonung  wie  etwa  er  verschivand  eilenden  Schrittes  um 
die  ecke,  oder  er  läßt  sich  wer  weiß  was  aufhinden  etwa  wie  er 
läßt  sich  alles  mögliche  aufhinden,  oder  griech.  ag  aXrid-ag,  ur- 
sprünglich *wie  wahr!',  z.  B.  in  ävÖQsg  ao<pol  cjg  aXrjd'öjg  etwa 
wie  avÖQSs  ovrog  <3o(pol  bvtsg  (S.  37.  39). 

Elemente,  die  ursprünglich  nicht  der  schlichten  Aussage 
angehört  haben  und  in  sie  erst  herübergenommen  worden  sind, 
finden  sich  am  häufigsten  in  der  Erzählung.  Hier  machen 
sie  sich  als  die  Erzählung  belebende  dramatische  Bestand- 
teile geltend.  Beispiele  hiervon  werden  unten  noch  vorzu- 
führen  sein. 

Im  einzelnen  bemerke  ich  noch  folgendes. 


7-1  Kari.  Biukimann:  \7^^,(^ 

\]  Die  i^cläiiiigsto  l''orin  des  riiliij^(Mi,  roiii  vorKtiUules- 
niiißijioii  verbali'M  AussagesatzoB  z»'i}^t,  wenn  dif  Aussage  vom 
(lefülil  der  Gewißheit  des  Mit/.iitoiK  iidcii  getragen  wird,  seit 
uridg.  Zeit  diejoiiig<ri  W'rljall'onmMi,  dio  in  der  Grammatik 
Indikative  heißen. 

Dazu  sind  von  vorn  herein  aucli  die  sogen.  Iiijunktiv- 
formen  /u  reclnion,  soweit  sie  nicht,  im  Zusammenhang  mit 
der  aus  der  Willensstimmung  entspringenden  besonderen  Be- 
tonuugsart.  in  den  Dienst  voluiitativer  Äußerungen  gestellt 
Avorden  sind  (S.  54).  Der  Injunktiv  erscheint  in  dieser  indi- 
kativischen Geltung  vor  allem  in  den  augmentierten  Verbal- 
formen, d.  h.  in  denen,  die  mit  dem  auf  die  Vergangenheit 
weisenden  Sprachelemeut  *c  versehen  sind,  z.  B.  griech.  €-cpsQ£ 
ai.  ähliarat   arm.  c-her  (Verf.  Grundr.  2^,  3,  loff.). 

2)  Für  Aussagen,  die  nicht  von  dem  Gefühl  vcilliger  Ge- 
Avißheit  bezüglich  der  Wirklichkeit  des  Vorgestellten  begleitet 
sind,  hatte  man  seit  uridg.  Zeit  die  Optativforraen,  die  in 
diesem  Fall  als  Potentialis  bezeichnet  werden,  z.  B.  lat. 
dixerit  qimpiam^),  griech.  y  231  Qila  ^a6g  y'  td^eXav  aal 
Ti]k6iyev  üvÖQa  öcmdia  'leicht  errettet  wohl  ein  Gott,  wenn 
er  will,  einen  Manu  auch  aus  der  Ferne',  ai.  RV.  10,  117,  7 
■prndnn  äpir  nprnanfam  ahhi  syät  *ein  Freund,  der  schenkt, 
übertrifft  wohl  einen,  der  nicht  schenkt'.  Im  Griechischen 
bekam  dieser  Sin^  der  Optativform  noch  einen  besonderen 
Exponenten  durch  den  Zusatz  der  Partikeln  xtv  und  av,  die 
ungefähr  das  bedeuteten,  was  wir  mit  allenfalls,  eventuell, 
unter  umständen  bezeiclinen  (Brugmann-Thumb  Gr.  Gr.'*  572. 
621.  62 6 f.).    Vgl.  Verf.  Grundr.  2 2,  3,  85 6 ff. 

Auf  demselben  Motiv  der  Unsicherheit  des  Urteils  beruht 
der  Gebrauch  des  futurischen  Indikativs,  wo  von  etwas 
Gegenwärtigem  oder  Vercrangenem  die  Rede  ist.  Z.  B.  das 
wird  so  sein,  das  wird  so  genesen  sein  etwa  so  viel  als  das 
dürfte  so  sein,  gewesen  sein,  lat.  Plaut.  Pseud.  677  profecto  hoc 

i)  Die  von  Kroll  Glotta  7,  iiyfF.  über  den  Ursprung  des  poten- 
tialen  Konjunktivs  im  Lateinischen  entwickelte  Ansicht  ist  m.  E.  un- 
haltbar.    Vgl.  Steomann  Jahresber.  des  philol.  Vereins  44,  S.  66 ff. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltüng  usw.  75 

sie  erit  'dürfte  wohl  so  sein',  Plaut.  Pers.  645  haec  erit  hono 
genere  nata:  nil  seit  nisi  verum  loqui,  Herenn.  i,  11  de  exordio 
satis  erit  dietum  (vgl.  Cic.  Ac.  2,  29  satis  dictum  sit,  Inv.  i,  30 
satis  dictum  videtur).  Die  Wahl  des  Futurums  beruht  auf  der 
Erwartung  des  Sprechenden,  daß  sich  seine  Aussage  als  rich- 
tig erweisen  werde,  vgl.  Lessing  Juden  i,  2  ich  werde  Martin 
Krumm  heißen  =  ich  heiße,  wie  man  sehen  wird,  M.  K.,  Ter. 
H.  T.  nisi  me  animits  fallit,  haud  multum  a  me  aberit  infor- 
funium.  Vgl.  Verf.  Grundr.  2^,  3,  791  f. 

Diesem  Gebrauch  des  Futurums  steht  nahe  der  bei  Vor- 
führung allgemeiner  Wahrheiten.  Man  will  ausdrücken,  daß 
nach  den  bisherigen-  Erfahrungen  das  Eintreten  eines  Vor- 
gangs oder  Zustands  erwartet  werden  kann,  z.  B.  Herodot  5, 
56  ovdslg  dvd^QG)7t(ov  ädixäv  rCöiv  ovk  ccTCorsCöei  'kein  Übel- 
täter wird  der  Strafe  entgehen',  Ter.  Ad.  55  nam  qui  mentiri 
aut  fallere  insuerit  patrem,  fraudare  tanto  magis  audebit  eeteros, 
lit.  Sprichw.  Jcäs  vöks,  nepralöps  Ver  stehlen  wird  (stiehlt), 
wird  nicht  reich  werden'. 

3)  Bei  der  Unsicherheit,  in  der  man  sich  dem  Künftigen 
gegenüber  hinsichtlich  seiner  Wirklichkeit  oder  Verwirklichung 
oft  fühlt,  ist  es  begreiflich,  daß  sich  mit  Ausdrücken,  die  die 
Zukunft  eines  Seienden  oder  Geschehenden  bezeichnen,  wie 
er  wird  Tiommen,  Ausdruckweisen  gemischt  haben,  die  ein 
'modales'  Bedeutungselement  in  sich  enthalten. 

Die  sogen.  Konjunktivformen  des  Arischen  und  Grie- 
chischen werden  seit  vorhistorischer  Zeit  auch  rein  futurisch 
('prospektiv',  was  Voraussicht  ohne  gemütliche  Erregung  be- 
sagen will)  gebraucht,  z.  B.  RV.  i,  48,  3  uvasosa  uchac  ca  mi 
'die  Morgenröte  ist  vordem  erschienen  und  wird  auch  jetzt 
erscheinen',  ^262  ov  yccQ  na  roCovg  Xdov  ävsQug  ovös  l'dcoftat 
'ich  habe  noch  nicht  solche  Männer  zu  sehen  bekommen  und 
werde  sie  nicht  zu  sehen  bekommen'.  In  diesem  griechischen 
Satz  ist  ov  zu  beachten  (gegenüber  fiTJ  mit  Konjunktiv  z.  B. 
in  X  123  ^7^'  (iLv  ayco  ^sv  ixco^ai  'ich  will  ihm  nicht  nahen'). 
Ferner  kommt  in  Betracht,  daß  bei  diesem  futurischen  Ge- 
brauch «V  und  xhv  ebenso  hinzutreten   wie  zum  Indik.  Fat., 


76  Kaut.  Bruqmann:  [70,6 

7.  B.  A  387  oux  CLV  rot  XQalöatpi  ßibi;  xccl  ragcphg  ioi  'niclits 
wird  dir  lielioii  der  Bo»:;en   und  die  diclitcn   Pfeile'. 

Eine  Anzahl  von  kurzvokalischcn  Konjunktiven  im  Grie- 
cliischen  und  Italischen  erscheinen  ganz  vorzugsweise  in  der 
rein  zeitlichen  liedeutun^-,  weshalb  sie  in  der  einzelsprach- 
lichen Grammatik  geradezu  als  ludieativi  futiiri  bezeichnet 
werden,  wie  z.  B.  griech.  fdo/i«r,  xQE^icca^  lat.  erOy  faxo  (Verf. 
Grnndr.  2^,  3,  836). 

Was  ist  nun  bei  den  Konjunktivbildungen  das  Ursprüng- 
lichere gewesen,  die  rein  zeitliche  oder  die  (den  Zeitbegriff 
eo  ipso  einschließende)  voluntative  Bedeutung?  Hierüber 
gehen  die  Ansichten  auseinander.  Was  nicht  zu  verwundern 
ist.  Denn  sieht  man  sich  in  den  Gebranchsveränderuncren 
um,  die  verbale  Formensysteme  in  den  im  Lichte  der  Ge- 
schichte stehenden  Sprachphasen  erfahren  haben,  so  lassen 
sich  Analoga  sowohl  für  die  Entwicklung  vom  Futurischen 
zum  Voluutativen  als  auch  für  den  umgekehrten  Weg  vor- 
bringen. Vgl.  Cauer  Gramm,  mil.^  145  f.,  Verf.  Grundr.  2^^ 
3,  748  ff.  834  ff.  Jedenfalls  haben  bei  der  Gebrauchsdifferen- 
zierung auch  hier  wieder  Verschiedenheiten  der  Betonungs- 
art als  unmittelbarster  Ausfluß  der  Seelenstimmung  eine  Rolle 
gespielt. 

4)  Versicherung  und  Behauptung  kleiden  sich  oft,  na- 
mentlich wenn  sie  nachdrücklich  auftreten,  in  die  Form  des 
Fragesatzes.  Es  sind  das  die  sogen,  rhetorischen  Fragen, 
Fragen,  die  selbst  ihre  Beantwortung  in  sich  tragen.  Nhd. 
Jiab  ich  nicht  recht  gehabt?,  hin  ich  etwa  dein  sMave?,  wer  gibt  mir 
hierfür  auch  nur  einen  dreier?,  wer  Itann  ivissen,  wann  er  ster- 
ben   ivird?,    mhd.    Ulrich  v.  Türheim  587,  6  wer  vernam  so 

j(Bmerllc1ien  tot  an  zwein  gelieben  ie  me?.  Ai.  Säk.  59,  6  Burkh. 
M  Jcathä  bänasqdhane  'welche  Rede  kann  von  Pfeilauflegung 
sein?'  so  viel  als  'keine  Rede  kann  von  Pf.  sein',  76,  14 
hhadre,  Jcj  hahiinä  'Beste,  was  bedarf  es  vieler  Worte?',  eigent- 
lich 'wozu  mit  vielem?'.  Griech.  A  iii,  n&g  yccQ  rot  da6ov6i 
ysQag  ^isyd^vfioL  'iiaioi?   'wie  wird  es   den  A.  einfallen,  dir 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  77 

ein  Ehren geschenk  zu  geben?',  Xen.  Oik.  12,  i  älXu  yccQ, 
scprjv  iyäy  fit]  ds  xaraXva  aniivai  ijör]  ßovlon^vov? .  Lat.  Plaut. 
Amph.  403  non  sum  ego  servos  Amphitruonis  Sosia?,  Tac. 
Ann.  13,  21  vivere  ego  Britannico  potiente  rerum  poteram?]  oft 
quid  midta? .  _ 

Diese  Aussageforin  kam  in  dem  Fall  auf,  daß  der  Spre- 
chende sich  in  engstem  seelischen  Kontakt  mit  dem  Ange- 
redeten fühlt.  Man  will  etwas  einem  als  richtig  zu  Gemüte 
führen  und  sucht  das  dadurch  zu  erreichen,  daß  man  sich 
stellt,  als  wisse  man  das  nicht,  was  man  weiß;  der  Angeredete 
soll  sich  selbst  befragen,  und  der  Fragende  erwartet  Zustim- 
mung zu  seiner  Ansicht.  Diese  Form  der  Versicherung,  die 
G.  V.  D.  Gabelentz  Die  Sprachwiss.  241  f.  passend  mit  allerlei 
sprachlichen  Ironisierungen  und  Euphemismen  vergleicht,  ist 
vielfach  so  konventionell  geworden,  daß  sie  gegenüber  dem 
gewöhnlichen  Aussagesatz  nur  als  eine  etwas  lebhaftere  Form 
der  Äußerung  erscheint. 

Auf  die  nahe  Berührung,  die  zwischen  den  rhetorischen 
Frao-en  mit  g'-^o-  und  den  Ausrufungssätzen  der  Verwunderung 
mit  5"o-  besteht,  ist  S.  38  hingewiesen  worden.  Wir  haben 
dort  aber  die  übliche  Herleitung  des  Ausrufsatzes  mit  q^- 
aus  der  rhetorischen  Frage  abgelehnt. 

In  den  rhetorischen  Satzfragen  wird  oft  'nicht'  ange- 
wandt, indem  der  Redende  die  Negation  eines  Gedankens  in 
Frage  stellt,  um  dadurch  die  Zuversicht  in  die  Richtigkeit 
des  Gedankens  anzudeuten,  z.  B.  hah  ich  nicht  recht?.  Zu  einer 
völligen  Mechanisierung  dieser  fragenden  Ausdrucksweise  hat 
dies  geführt  bei  griech.  ovx-ovv  und  ai.  nä-nu.  Die  mit 
ovxovv  ('nonne  igitur')  eingeleiteten  Fragesätze  waren  ur- 
sprünglich immer  Fragen  mit  Erwartung  bejahender  Antwort, 
wie  Xen.  An.  i,  6,  7  ndhv  6  KvQog  rjQara'  Ovxovv  v6t£Qov, 
ag  avtbg  6v  biioloyelg^  ovöiv  vTt  e^ov  ädixov^svog  . . .  xaxcbg 
kitoisig  ti]v  ifiriv  x^Qav?  'hast  du  also  nicht  später,  wie  du 
selbst  eingestehst,  obwohl  ich  dir  kein  Unrecht  zufügte,  mein 
Land  geschädigt?'.  Indem  nun  so  eingeleitete  Fragen  geradezu 
zu  Behauptungen  umgedeutet   wurden,   verblieb   dem   ovxovv 


78  Karl  Bkuomann:  [70,6 

nur  noch  die  Funktion  des  Folgernd.  Der  Fnigetou  verlor 
sich  dabei,  und  die  als  Einheit  empfundene  Partikel  ouxovv 
leitete  nunmehr  auch  beliebige  iiuderc  ISatzarten  ein,  z.  B.  So])h. 
Ant.  Qi  ovxof'i',  orav  öi)  ^1)  öOt'vco^  TteTtavOo^icct  'so  werde  icli 
denn,  wenn  ich  nicht  mehr  kaini,  davon  abstehen',  Plato 
Phaedr.  p.  278  b  ovxovv  {'lÖrj  Tcencdöi^co  ^isr^Ciog  ii^iv  ra  7tei)l 
Xöycjv  (KüHNEK  Geutii  a.  a.  0.  2,  163a'.).  In  ähnlicher  Weise 
wurde  ai.  nä-nu  zunächst,  in  vorklassiseher  Zeit,  nur  im  Sinn 
einer  Negation  augewendet,  wie  AB.  5,  14,  6  tq  pituhravln 
nanu  te  pHirahädn3r  iÜ  'zu  ihm  sprach  sein  Vater:  haben  .sie 
es  dir,  Sohn,  denn  nicht  gegeben?'.  Dann  aber  kommt  es 
auch,  ohne  Frageton,  in  Aufforderungen  vor,  z.  B.  nunUcyatüm 
'es  soll  doch  gesagt  werden'.  Vgl.  Bkugmann-Thumb  Gr. 
Gr.'*  63  2  f. 

Auf  eine  andre  Art  und  Weise  erscheint  die  Frageform 
in  der  Erzählung,  wenn  ich  z.  B.  sage:  ich  giruj  (jestern  in  die 
Stadt;  wer  begegnete  mir  da?,  mein  alter  freund  N.  N.  Man 
spricht  so,  als  ob  man  mit  Neugierde  des  Zuhörers  rechnete. 

5)  Im  Verlauf  der  Erzählung  von  Geschehnissen  geht 
man  von  einem  Tempus  der  Erzählung  zum  Impera- 
tiv über. 

Der  Erzählende  redet  eine  Person,  von  der  er  etwas  er- 
zählen will,  so  an,  als  wenn  sie  gegenwärtig  sei.  Besonders 
bekannt  ist  diese  'ßTrocjTpoqti/'  aus  dem  griechischen  Epos, 
wie  zJ  12"]  ovde  6t'&si>,  Mavskas^  9sol  fiäxaQeg  Xskd&ovro^ 
I  55  T^ov  d^  ä:iaiisißö^evos  TtQoöätprj^j  Ev^aie  avßüra.^)  Irgend- 
wie wird  diese  Darstellungsl'orm  bei  den  Griechen  an  echt 
Volkstümliches  sich  angeschlossen  haben.  ^) 


i)  Äußerliche,  kaum  zugleich  an  solches,  was  in  der  deutschen 
Erzählungsweiae  von  früher  her  üblich  war,  anknüpfende  Nachahmung 
ist  es,  wenn  Voss  in  der  Luise  sagt:  Drauf  antwortetest  du,  ehrivür- 
diger  Pfarrer  von  Grünau,  und  Goethe  in  Herrn,  u.  Doroth. :  Doch  du 
lächeltest  drauf,  verständiger  Pfarrer,  und  sagtest. 

2)  Di^  zuweilen,  z.  B.  bei  H.  Düntzeb  zu  z/  127,  legegnende  Auf- 
fassung, diese  Form  der  Anrede  sei  aus  metrischem  Bedürfnis  her- 
vorgegangen, ist  Bieter  verfehlt. 


70,6]         Veuscuiedenheitkn  der  Satzgestaltung  usw.  7Q 

Von  andrer  Art  ist  das  Folgende.  Wenn  der  Bericht- 
erstatter, zu  Ereignissen  übergehend,  bei  denen  es  lebhaft 
hergegangen  ist,  sich  selbst  besonders  lebhaft  in  den  Gang 
des  Geschehenen  versetzt,  kommt  er  dazu,  den  Handelnden, 
von  dem  er  erzählt,  aufzufordern,  das,  was  er  getan  hat,  zu 
tun.  So  in  Scheffel's  Trompeter:  Dort  hei  Prag  am  tveißen 
herge  \  wird  um  Böhmens  Jiron  gewürfelt.  \  Pfahgraf,  's  ivar 
kein  kurzer  winter,  |  pfalzgraf,  hast  die  Schlacht  verloren,  \  sporn 
den  gaul  und  such  das  weite.  Die  Aufforderung  hat  aber  oft 
weniger  den  Anstrich,  daß  sie  für  den  in  Rede  stehenden 
Einzelfall  erteilt  wird,  als  den  eines  für  derartige  Situationen 
allgemeingültigen  Ratschlags:  Heinrich  v.  Freiberg  1804  islicher 
von  dem  andern  sluoc  \  da  mangen  stehelinen  rinc.  \  nii  slaha 
slah,  nu  dlnga  ding,  in  dem  Gedicht  auf  den  Tod  Adolfs  von 
Nassau  V.  472  koninck  Adolf  voyr  den  sinen  nä:  |  stich,  slach, 
vaa  va\  Plaut.  Trin.  288 f.  qiiod  manu  non  queunt  tangere,  tan- 
tiim  fas  habent  quo  manus  apstineant:  \  cetera  rape,  trahe,  fuge, 
late:  lacrumas  hacc  mihi,  quom  video,  eliciunt,  russ.  izdali  uvidit 
lesca  da  i  chvat'  jego  zubami  'aus  der  Ferne  sieht  er  einen 
Brassen  und  nun  pack  ihn  (==  packt  er  ihn)  mit  den  Zäh- 
nen'. Derartige  Imperative  nehmen  leicht  die  Natur  einer 
interjektionalen  Partikel  an,  wie  nhd.  husch:  er  sprang  auf 
und  husch  in  den  wald  hinein,  russ.  davaj,  eigentlich  '^gib,  be- 
gib dich  an...',  dann  'vorwärts,  nun  los':  haha  hrosilas  v 
chvatku,  uvidela  cto  d'evocka  usla  i  davaj  hit'  kota  'die  Alte 
stürzte  in  die  Hütte,  sah,  daß  das  Mädchen  fort  war,  und  nun 
vorwärts  schlug  sie  auf  die  Katze  los'.  Am  verbreitetsten 
ist  dieser  Imperativ  für  das  erzählende  Präteritum  im  Sla- 
vischen.  S.  Delbrück  Vergl.  Synt.  2,  396 f.,  Verf.  Grundr.  2^, 
3,  826  f.,  VONDRAK  Vergl.  Slav.  Gramm.  2,  281. 

Zumteil  hat  man  wohl  den  slav.  'Infinitivus  historicus* 
hier  anzureihen,  nicht  mit  dem  Infinitivus  historicus  andrer 
Sprachen  (s.  unten  6)  auf  gleiche  Stufe  zu  stellen.  Nament- 
lich gilt  das  für  den  Fall,  daß  die  auffordernde  Partikel  nu 
(nutko)  hinzugefügt  ist,  wie  russ.  Märchen  guoje  vylezli  i  nu 
kumu  hit'  *zwci   schlüpften   heraus  und  nun  los   mit   Hieben 


8o  Kaul  Buuomann:  [7°.  <> 

auf  den   Gevatter'.     S.  üklhuück  Vfjrl.  Synt.  2,  4581,  Von- 
DKÄK  a.  a.  0.  2,  415. 

6)  Der  sogcuannte  'Infiuitivus  historicus'  begegnet 
im  Lateinischen  und  Baltisch-Slaviscben.  Z.  B.  Plaut.  Amph. 
1 107  post(jna})i  in  cunas  conditust,  devolant  angues  .  .  .  ego  cunas 
rece^sim  rursuin  vormm  tfalicrc  et  diicere,  Sali.  Cat.  60,  4  maxima 
vi  cerfatnr.  iiiterea  Catilina  cum  expcditis  acie  versari,  lahoran- 
tibus  süccurrere,  integros  pro  Saudis  arcessere,  omnia  providere, 
midhun  ipse  piignare,  saepe  hostem  ferirc.  Lit.  Märch.  pashil 
jisal  pasmulie:  „aJkim,  vm  mäno  hrölei,  vyJcim  Jcatrq  äsz  atsi- 
vedzau".  tai  je  visl  ß  vyt  'drauf  rief  er:  auf,  alle  meine  Brü- 
der, daß  wir  der,  die  ich  hergebracht  habe,  nachsetzen;  und 
sie  setzten  ihr  alle  nach',  lidlvis  parrj^s  tajaüs  i  visüs  hampüs 
jeszliöt  'als  der  Schmied  nach  Hause  kam,  suchte  er  sogleich 
in  allen  Ecken',  russ.  Märch.:  es  wird  erzählt,  daß  einer  seine 
Tochter  zur  Heirat  zwingen  will,  dann  folgt  Älenuka  plaJmt', 
nicego  ne  pomogajet  'AI.  weint,  es  hilft  nichts'. 

Wahrscheinlich  ist  hier  nicht  vom  Imperativischen  Ge- 
brauch des  Infinitivs  anzugehen,  wonach  diese  Erzählungs- 
form mit  5)  zu  verbinden  wäre,  sondern  mit  Kretsciimer 
Glotta  2,  2 70 ff.  davon,  daß  der  Infinitiv  oft  die  RoUe  eines 
als  Subjekt  oder  Objekt  fungierenden  Nomens  bekommen  hat. 
Wie  Schilderungen  mittels  freier,  absoluter  Substantiva  ge- 
schehen können  —  z.  B.  D.  v.  Liliencron  Flatternde  fahrten  | 
und  frohes  gedränge,  \  fliegende  kränze  \  und  siegesgesänge  — , 
so  können  Infinitive,  aus  Satzzusammenhängen  herausgelöst, 
zum  Zweck  des  Schilderns  für  sich  selbständig  angewandt 
werden.  Ehe  solche  Darstellungsart  habituell  wurde,  schwebte 
etwas  wie  'das  geschah',  'das  tat  er'  vor,  wonach  der  lufini- 
tivus  historicus  seiner  Entstehung  nach  zu  den  Sätzen  ge- 
hörte, die  ich  oben  Kurzsätze  genannt  habe.  Vgl.  Verf. 
Grundr.  2',  3,  944  ff. 

7)  Hat  man  etwas,  was  von  andern  oder  auch  von  einem 
selber  früher  gesagt  oder  gedacht  war,  zu  berichten,  so 
war  von  Haus  aus  Wiedergabe  in  der  originalen  Satz- 
gestaltung das  übliche:   er  sagte:  ich  bin  krank.     So  ist  es 


70, 6]         Verschieuenueiten  der  Satzgestaltung  usw.  8 1 

nicht  nur  im  Altindisclien  bis  in  die  historische  Periode  hin- 
ein geblieben,  sondern  hat  sich  vielfach  auch  bei  andern 
Völkern  in  der  lebendigen  Rede,  wenigstens  in  der  Sprache 
des  gemeinen  Mannes,  als  die  übliche  Art  der  Wiedergabe 
erhalten.  In  der  Regel  ging  nun  dieser  Reproduktion  etwas 
wie  'er  sagte',  'er  meinte'  voraus,  und  so  ergab  sich  das  Ge- 
fühl für  eine  'Abhängigkeit'  des  als  fremde  Rede  oder  Mei- 
nung Wiedergegebenen.  Dieses  Gefühl  für  'Oratio  obliqua' 
bat  auf  die  Satzgestaltung  in  mannigfacher  Weise  eingewirkt. 
Eine  von  den  dabei  vorgekommenen  Neuerungen  mag 
wegen  ihres  besonderen  Interesses  für  die  Satzgestaltung  hier 
genannt  sein.  Es  heißt  z.  B.  bei  Thuk.  2,  12,  3  toGovds  htccov, 
8xL  r]da  i]  rjfiSQa  rolg  "ElXriöi  ^syakav  xaxäv  ccq^si^  i,  137,  4 
idrjkov  ö'  i]  ygcccprj^  ön  ®eixi6toxXy}g  ijuco  TtccQcc  <?£,  vgl.  auch 
Plat.  Phaed.  p.  50c  löag  av  sinoisv^  ort  ;ti)  d'av^iaQB  tä  ksyö- 
fisvci-,  für  ort  auch  cog.  S.  Stahl  Krit.-hist.  Synt.  5 64 f.,  Brug- 
mann-Thumb  Griech.  Gramm.*  648.  Entsprechendes  im  Ai.: 
Lassen's  Anth.  Sanscr.^  38  he  sata  tvani  mamägra  iti  jalpasi 
ifat  tvq  vinä  mamänyä  vallabhä  nästi  'he  du  Lügner,  bei  mir 
redest   du    so:    außer    dir   habe    ich    kein    anderes   Liebchen' 

(BÖHTLINGK  Käl.  Sak.  S.  157 f.,  JoLLY  Ein  Kap.  vergleich.  Synt. 
110,  Speyer  Sanskr.  Synt.  382  f.).  Zur  Erklärung  dieses  'daß' 
darf  man  nicht  in  die  Zeiten  zurückgehen,  wo  die  Nebensatz- 
konjunktion noch  demonstrativen  Sinn  gehabt  hat,  wo  also 
z.  B.  er  sagt,  daß  es  regnet  noch  so  viel  als  er  sagt  das:  es 
regnet  war.  Vielmehr  hat,  nachdem  durch  eine  Verschiebung 
der  syntaktischen  Gliederung  ort  und  pat  längst  zu  Neben- 
satzkonjunktionen geworden  waren,  eine  neue  Gliederungs- 
verschiebimg in  entgegengesetzter  Richtung  stattgefunden:  die 
Konjunktion  wurde  in  der  Auffassung  der  Satzgestaltung 
wiederum  zum  Satz  mit  dem  Verbum  des  Sagens  geschlagen.  ^) 


i)  Dies  geschah  nicht,  wenn  das  Verbum  des  abhängigen  Satzes 

in  den  Modus  obliquus  (Optativ)  übergeführt  wurde.    Aber  auch  nicht, 

wenn   zwar   das  Verbum   in   dem   Modus   der   direkten  Rede   verblieb, 

aber  Personenverschiebung  eintrat,  wie  z.  B.  Lys.  24,  15  Xiysi,  mg  vßgi- 

Pha-hist.  Klaiae  1918.  Bd.  LXX.  5.  6 


82  Kari.  Huuomann:  I7O1  ^ 

Ähnliches  bei  old'  ort  ('sicherlich'),  öijXov  otl,  driXov6Ti  ('ofleu- 
bar'),  £<y#'  ÖT£  ('bisweileu'),  hit.  forsan  forsitnn  =  fors  sit  an, 
got.  fcait-ei  ('vielleicht,  etwa'),  nur  dali  in  diesen  Fällen  diese 
Entwicklung  bis  zur  völligen  Wortverschmelzung  vorge- 
schritten ist. 

Wenn  im  Litauischen  Märchen  im  lebendigen  Vortrag 
mit  lad  ('daß')  beginnen,  z.  B.  lad  hüro  hoäliHS  'e.s  war  (ein- 
mal) ein  König'  (Leskikn-Buugmann  Lit.  Volksl.u.  Märch.  160. 
326),  so  geschah  das  wohl  in  der  Absicht,  kundzutun,  daß 
man  von  andern  Gehörtes  vortrage.  Es  schwebte  also  etwas 
wie  säl-o,  lad  ...,  'man  erzählt,  daß  .  .  .'  vor,  wovon  dann  in 
der  Aussprache  nur  das  'daß'  übrig  geblieben  ist.  Wie  weit 
sich  dieses  einleitende  lad  in  den  Gegenden,  wo  es  begegnet, 
mechanisiert  hat,  ist  mir  unbekannt. 

8)  Kurzsatzformen  sind  hier  verhältnismäßig  selten. 
Am  seltensten  jedenfalls  in  der  Vorführung  vergangener  und 
künftiger  Geschehnisse,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  hier 
am  wenigsten  durch  Gebärden  und  Situationsbewußtsein  Worte 
ersetzt  werden  können. 

Die  meisten  'Ellipsen'  beruhen  hier  darauf,  daß  ein  an- 
deres Wort  oder  andere  Wörter  desselben  Satzes,  also  der 
Wortzusammenhang,  oder  auch  der  Zusammenhang  von 
Sätzen  die  richtige  Interpretation  des  Gesprochenen  an  die 
Hand  geben,  z.  B.  nhd.  er  auf  und  davon  (vgl.  die  Beispiele 
von  abgekürzten  Au.ssagesätzen  bei  Delbrück  Vergl.  Synt. 
5,  122  ff.). 

H. 

Satzbildung  im  Dienste  des  Fragens.*)  Der  sprach- 
liche Verkehr    bewegt   sicli   zu   einem    großen  Teil  in   Frage 


ffTTjs  sifxt  xal  ßiaioe,  wo  ein  Angeklagter  sich  über  einen  Vorwurf  des 
Gegners  beschwert  und  nun  rög  ei^i  in  erster  Person  von  seinem  eig- 
nen Standpunkt  aus  sagt,  den  Indikativ  aber  noch  aus  dem  Sinne  des 
Gegners  gebraucht,  über  dessen  Vorwurf  er  berichtet. 

i)  In  mancher  Hinsicht  grundlegend  für  die  wissenschaftliche  Be- 
handlung der  Fragesätze  ist  die  oben  wiederholt  genannte  Abhandlung 
von   Th.  luME   Die   Fragesätze  nach  psychologischen   Gesichtspunkten 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  SATZGESTALxuNa  usw.  83 

und  Antwort.  Beim  Fragen  muß  eine,  wenn  auch  sehr  un- 
vollständige, Kenntnis  von  der  Sache  schon  vorhanden  sein; 
wo  jedes  Wissen  fehlt,  ist  eine  Frage  unmöglich. 

Es  entsteht  im  Verlauf  der  Gedanken  eine  Stockung, 
die  als  Spannung  empfunden  wird.  Um  diese  zu  beseitigen, 
wendet  mau  sich  an  eine  anwesende  Person.  Nun  kann  das 
Fragen  in  der  Form  des  gewöhnlichen  Aussagesatzes  vor  sich 
gehen,  wenn  man  nämlich  die  Grundstimmung  selber  durch 
ein  besonderes  sie  bezeichnendes  Wort  kundgibt,  z.  B.  ich 
ivünsche  über  das  und  das  etwas  von  dir  zu  hören.  Auch  kann 
sich  die  Grundstimmung  in  die  Form  einer  Aufforderung 
kleiden:  sage  mir  dein  alter.  Gewöhnlich  aber  baut  sich  der 
Fragesatz  auf  dem  Grund  der  Mittel,  die  auch  für  anderes, 
namentlich  für  die  Aussage,  zu  Gebote  stehen,  in  der  Weise 
auf,  daß  nur  der  Frageton  die  Absicht  des  Fragens  erkennen 
läßt:  du  bist  gestern  abend  angeJcommen?. 

In  allen  idg.  Sprachen  unterscheidet  man  Ja-Nein-Fragen 
(alias:  Bestätigungsfragen,  Satzfragen,  Entscheidungsfragen, 
Totalfragen),  z.  B.  er  ist  geJcommen?,  ist  er  gcJcommen?,  und 
Pronominalfragen  (alias:  Ergänzungsfragen,  Bestimmungs- 
fragen, Wortfragen,  Partialfragen),  z.  B.  tver  ist  gekommen?. 
In  den  lebenden  Sprachen  steigt  bei  der  ersteren  Klasse  die 
Stimme  in  der  Regel  gegen  den  Schluß  hin  zu  größerer  Ton- 
höhe an  und  hat  sie  in  der  zweiten  Klasse  am  Schluß  eine 
steigend-fallende  Kadenz.  Vennutlich  ist  das  im  wesentlichen 
so  auch  in  den  älteren  Perioden  gewesen.  Bei  der  Ja-Nein- 
Frage  kommt  oft  noch  eine  —  die  Erwartung  des  Redenden 
bekundende  —  Yerlangsamung  des  Tempos  hinzu.    Diese  fand 

bei  den  ludern  in  Plutierung  ihre  Bezeichnung:  z,  B.  SB.  14, 
8,  2,  4  vy  äjnäsistäS  'habt  ihi-^s  verstanden?'  (Autwort  vy 
äjnäsisnm),  AB.  7,  28, 2  vettha  hralimana  tvq  tq  hhaJxsäSm  'kennst 
du,  0  B.,  diese  Speise?'   (Antwort  veda  hi),  TS.  6,  5,  9,  i   iq 

eingeteilt  nnd  erläutert,  2  Teile,  Cleve  1879.  1881.  Daneben  hebe  ich 
hervor  Delbrück  Der  Gebrauch  des  Conj.  u.  Optat.  im  Sanskr.  u.  Griech., 
Halle  1871,  S.  74ff.,  Vergl.  Synt.  3,  259 flF. 


84  Kaul  Buuumann:  [70.  (» 

VI/  äciliitsaj  jnliävänlr^  mä  hausiilm  iti  'mit  Jiozug  auf  den  über- 
len-te  er:  soll  ich  opforuV  soll  icli  nicht  oi)fc'rnV'. 

Eine  findere  Doppelheit,  die  iille  Spnu'hcn  kennen,  ist 
foloeude.  Entweder  bezieht  sich  der  Fra<;e8atz  auf  einen  Tat- 
bestand,  z.  B.  er  Icommt?,  Icomnit  er?,  wer  lammt?,  oder  aber 
man  will  wissen,  was  oder  ob  etwas  zu  tun  ist  (sogen.  Deli- 
berativus),  wofür  man  seit  uridg.  Zeit  den  Konjunktivus 
verwandt  hat,  z.  B.  lat.  quid  faciam?  (vgl.  unten  6). 

Daß  die  Wortstelhing  im  Fragesatz  in  uridg.  Zeit  eine  be- 
sondere Rolle  gespielt  habe,  eine  Avesentlich  andere  als  in  den 
übrigen  Satzarten,  ist  nicht  ersichtlich. 

Entspringt  eine  Frage  meist  nur  dem  reinen  Wissens- 
trieb,  so  drängen  sich  bei  ihr  doch  oft  diese  und  jene  Affekte 
dazwischen,  Unlustgefühle  des  Zweifels  und  der  Verlegenheit, 
Staunen,  Entrüstung,  Unwille  usw.  Das  gibt  sich  alles  in 
der  Satzbetonung  kund.  Am  häufigsten  grenzt  die  Frage  so 
au  den  Ausruf,  s.  §  7,  4  S.  35. 

Die  sogen,  rhetorischen  Fragen  sind  ihrem  Wesen 
nach  überhaupt  nicht  eigentliche  Fragen,  Erkundigungen, 
sondern  Versicherungen,  Behauptungen.  Sie  sind  demgemäß 
schon  in  §  13,  4  S.  yöff.  zur  Sprache  gebracht  worden.  In 
ähnlicher  Weise  läßt  oft  die  Absicht,  einen  zu  etwas  aufzu- 
fordern, die  Form  des  Fragesatzes  wählen,  worüber  §  9,  6  S.  6 1 . 

1)  Die  auf  einen  Tatbestand  gehenden  Ja-Nein- 
Fragen.  Beantwortung  wird  entweder  für  den  ganzen  Inhalt 
der  Frage  gewünscht,  z.  B.  regnet  es?,  oder,  indem  ein  Teil 
der  Fräse  von  vornherein  als  bereits  bekannte  Tatsache  au- 
gesehen  wird",  nur  für  den  übrigen  Teil,  z.  B.  er  ist  gestern 
gekommen?,  ist  er  gestern  gekommen?. 

Die  letztere  Klasse  steht  mit  den  Prouominalfragen  in- 
sofern auf  gleicher  Stufe,  als  auch  hier  die  zu  behebende 
Ungewißheit  sich  nur  auf  einen  einzelnen  Begriff  innerhalb 
der  GesamtvorsteUung  bezieht.  Wie  das  pronominale  Wort 
hier  seit  uridg.  Zeit  an  der  Spitze  des  Fragesatzes  steht  als 
das  wichtigste  Satzglied:  wer  Jiat  das  getan?,  wo  warst  du?, 
so  heißt  es,  dieser  Spitzenstellung  entsprechend,  im  Nhd.  z.  B. 


70,6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  85 

gestern  ist  er  geliommen?,  ihn  hast  du  getroffen?.  Vgl.  Erd- 
mann-Mensing  Gruudz.  i,  186. 

Die  Ja-Nein-Fragen  werden  meistens  gestellt,  weil  der 
Fragende  Bescheid  über  etwas  haben  will,  über  das  er  selbst 
noch  völlig  im  unklaren  ist,  z.  B.  Jcoynmt  er  morgen  zurück?. 
In  diesem  Fall  erscheint  in  unsern  idg.  Sprachen  oft  neben 
der  einfachen  Frage  die  disjunktive  Form,  z.  B.  liommst  du 
oder  kommst  du  nicht?,  kommt  er  schon  morgen  an  oder  erst 
ühermorgen?    Hierüber  unten  unter  8. 

Oft  aber  legt  man  in  den  Fragesatz  selbst  schon  hinein, 
ob  man  mit  der  Wahrscheinlichkeit  rechnet,  ein  Ja,  oder  mit 
der,  ein  Nein  als  Antwort  zu  bekommen. 

Erwartet  man  die  Antwort  Ja,  so  wird  dem  Verbum 
'nicht'  beigegeben:  indem  das  Nicht- sein  in  Frage  gestellt 
wird,  legt  man  den  Gedanken  an  das  Sein  nahe,  z.  B.  heißt  du 
nicht  Emil?,  got.  Luk.  4,  22  ni-u  sa  ist  sunus  Josefis?  'ov^ 
ovtög  Böxiv  6  vibg  'Iojdr](p?',  ai.  AB.  5,  14,  6  nanu  te  ■putrakä- 
düSr  iti  'haben  sie  es  dir  denn  nicht  gegeben?',  griech.  0  352 
ovicixi  väL  j  öXXv^Evav  /luvacov  y.sxuöri<36}isd^  vötdriov  tcsq? 
Verden  wir  uns  nicht,  wenn  auch  so  spät,  um  die  im  Unter- 
gang begriffenen  Danaer  kümmern?',  O  18  j)  ov  ^e^vr]?  'er- 
innerst du  dich  denn  nicht?',  lat.  Ter.  Eun.  334  eho,  nonne  hoc 
monsiri  similest?,  lit.  ar  tu  jj  ne-maici?  'hast  du  ihn  nicht 
gesehu?',  aksl.  Matth.  13,  55  ne  Sh  li  jestt  tektonovb  sijm,  ne 
mati  li  jego  naricajet^  s§  Marija?  'ov%  ovtög  iöxiv  6  rov  tbk- 
rovog  rto'g,  ovx''  i]  pjtt;o  avxov  Isystai  M(xqiu[.i?\ 

Dagegen  geht  die  Ausdrucksweise  in  den  idg.  Sprachen 
in  dem  Fall  ganz  auseinander,  daß  mau  Nein  als  Antwort 
,  erwartet.  Das  Hauptuuterscheidungsmittel  wird  ursprünglich 
die  Art  der  Satzbetonung  gewesen  sein.  Ai.  RV.  10,  146,  i 
nä  tvä  liliir  iva  vindatiSn  'dich  ergreift  doch  nicht  etwa  eine 
Art  Furcht?'.  Lat.  num  in  solchen  Fragen  (z.  B.  Plaut.  Trin. 
69  num  quis  hie  alius  praeter  nie  atque  te?)  war  ursprünglicli, 
auch  noch  im  Beginn  der  Überlieferung,  Fragepartikel  über- 
haupt (s.  3),  und  wie  man  dazu  kam,  ihren  Gebrauch  gerade 
nach   der  Seite   hin   einzuschränken,   daß   als    Antwort   Nein 


8ö  IC  \Ki.  [{iti'ci.M.vNN:  [70.  ö 

vorschwebt,  ist  uaklai-  (vgi.  Dkluhi'ck  Verf^l.  Syiit.  3,  264). 
Durchsichtig  sind  (higegou  griedi.  /oj  iiud  got.  ihai:  ihre  Au- 
wcudung  beruht,  da  sie  auch  sonst  als  'l'rohibitivj)artii{elu' 
fungieren,  auf  der  Abwclir  eines  vorschwebenden  Gedankens, 
z.  B.  i  405  7)  (u>^  Ttg  o'fu  iiiilcc  /i(>ürojr  atxomot;  iXcci)V£L'r'  'es 
treibt  doch  wohl  nicht  einer  von  den  Menschen  gegen  deinen 
Willen  dir  die  Herden  wegV',  Luk,  (),  39  ihai  ma<j  hlinds  hlin- 
(laud  UuIküi?  '^lyjri  dvvccTui,  rvcpXbg  rvcpXbv  b8i]yHv'f'\ 

2)  Die  auf  einen  Tatbestand  gehenden  pronomi- 
nalen Fragen,  z.  ß.  tver  hat  das  getauY.  ö.  38  sahen  wir,  daß 
der  Interrogativsiuu  der  Pronominalstämme  *g"o-,  *q'~i-^  '*q'-u- 
zwar  sicher  aus  der  Zeit  der  idg.  Urgemeinschaft  ererbt  war, 
daß  aber  der  andere,  ebenfalls  uridg.  Gebrauch  dieser  Prono- 
mina im  staunenden  Ausruf  wahrscheinlich  nicht  so,  wie  man 
meistens  glaubt,  eine  Weiterentwicklung  der  Anwendung  beim 
Fragen  gewesen  ist.  In  der  Pronominalfrage  werden  dem 
Gefragten  die  Elemente  des  Urteils  in  fertiger  Gestalt  ge- 
boten, und  es  ist  nur  eine  Lücke  auszufüllen:  es  fehlt  im 
Ganzen  nur  ein  Baustein,  auf  den  das  Pronomen  mit  einer 
man  könnte  sagen  iuterjektionalen  Kraft  hinweist,  und  den 
nun  der  Augeredete  herbeischaäen  soll.  Bei  diesem  Charakter 
des  Interrogativpronomens  ist  es  sofort  verständlich,  daß  es 
an  die  Spitze  des  Satzes  tritt  als  das  Element  der  Rede,  das 
in  der  Gesamtvorstellung  des  Satzes  sich  am  stärksten  her- 
andrängt. 

Eine  Art  von  Zwitterdiug  zwischen  Frage  und  Aussage 
ist  es,  wenn  das  Fragepvonomen  im  lauern  des  Satzes  bei 
einer  Wortfolge  erscheint,  wie  sie  dem  Aussagesatz  eigen  ist, 
z.  B.  Karl  der  große  ist  wann?  gehören. 

3)  In  keiner  Satzgattung  spielen  Partikeln  als  Charak- 
terisierung der  Satzart  eine  so  große  Rolle  wie  im  Fragesatz.        | 

Die  Ja-Nein-Fragen  waren  ursprünglich  nur  durch  die 
besondere  Art  der  Satzbetonung  gekennzeichnet.  So  auch 
vielfach  in  historischen  Sprachphaseu,  z.  B.  RV.  10,  34,  6 
prchämänö  jesydmiti  'iutlem  er  sich  fragt:  werde  ich  siegen?', 
A  2^1   Tovvsxd   Ol  ngo^iovöiv   övsCdsa  i.ivd"yjöKa&aL?   'stellen 


70,6]         Vehschikdexueiten  der  Satzgestaltung  usw.  87 

Bie  ihm  darum  frei,  Schmähimgen  auszurufen?',  Plaut.  Amph. 
962  aetatem  meam  scis?,  got.  Luk.  7,  44  gesaihis  ßo  qinon? 
'ßkijia?  ravzriv  xfjv  yvvaiw.?\  russ.  Tolstoj  Cem  Ijudi  zivy  6 
idti  mozeV?  'kannst  du  gehn?'. 

Hier,  zumteil  aber  auch  in  den  Pronominalfragen,  fanden 
sich  nun  schon  in  uridg.  Zeit  häufig  adverbiale  Wörter  ein, 
die  verschiedene,  durch  die  Fragesituation  nahe  gelegte  Begriffe 
zum  Ausdruck  brachten,  und  deren  Gebrauch  sich  dann  in 
dem  Grade  mechanisiert  hat,  daß  sie  im  Zusammenhang  des 
Satzes  schließlich  nur  noch  die  Fragestimmung  des  Sprechen- 
den mit  zu  charakterisieren  hatten. 

Am  weitesten  verbreitet  als  Fragepartikel  ist  *nü  'nun, 
jetzt':  ai.  mi  nu,  griech.  vv  vvv,  got.  nu  nu-h,  lat.  num.  Seine 
ursprüngliche  Bedeutung  war  der  Hinweis  auf  die  gegen- 
wärtige Lage,  deren  Betrachtung  den  Sprechenden  zu  seiner 
Fratre  veranlaßt.  Diese  zeitliche  Bedeutung  läßt  sich  oft  auch 
noch  in  der  historischen  Zeit  unterlegen:  z.  B.  SB.  14,  6,  i,  4 
sä  hainq  papracha  tvq  nii  khälu  nö  tjäjnavalkya  hrähmisthö 
'si3  iti  'er  fragte  ihn  (nachdem  Yäjnavalkya  sich  des  für  den 
Weisesten  ausgesetzten  Preises  bemächtigt  hatte):  bist  du  denn 
nun,  o  Y.,  der  weiseste  von  uns?'.^)  Im  lat.  num  ist  diese 
Funktion  in  der  historischen  Zeit  schon  erloschen  (in  der 
zeitlichen  Bedeutung  hatte  sich  die  Erweiterung  niin-c  an  die 
Stelle  von  num  geschoben),  und  num  ist  nur  als  Fragepar- 
tikel verblieben.  S.  Verf.  Grundr.  2  2,  3,  993  f. 

Andre  Fragepartikeln  sind  von  ähnlichen  VorsteUunofen 
ausgegangen,  z.  B.  griech.  äga  (in  ccqu  lesb.  dor.  ijQa  aus  rj 
äQCi)  und  lit.  af  (älter  auch  er)  davon,  daß  sich  die  Frage 
inhaltlich  an  die  dem  Sprechenden  vorliegende  Situation  an- 
schließt. In  mehreren  Sprachzweigen  zugleich  erscheinende 
Partikeln  dieser  Art  sind  noch  ai.  ha  lit.  -gi  -gu  slav.  2e, 
gthav.  -nä    lat.  -ne    (Glöckner    Wölfflin's  Arch.   11,  491  ff-, 


I)  Man  vergleiche  auch  die  Kurzsatzfrage  nhd.  nü?  oder  nun?, 
i.  B.  wenn  einer  lange  auf  sich  hat  warten  lassen  und  ich  rede  ihn 
bei  seinem  Eischeinen  an:  nu?  kommst  du  endlich?. 


88  Kaku  Brlomann:  |70,  6 

DKLHuiCK   Vorgl.  Synt.  3,  -'(>:,,  Verf.  Gniiulr.  2-,  ^,  995),  Ut 
a»  got.  au  (Vorf.  (iruudr.  2^,  3,  985). 

Im  iillgeitieiuon  vgl.  noch  Dklhuück  a.  11.  O.  Ö.  260 ff., 
Verl",  a.  a.  0.  S.  979  ff. 

4)  Verselbständigte  abhängige   Fiagcsätze. 

Im  Deutschon  bilden  sie  gewöhnlich  die  Aufnahme  und 
Wiederholung  einer  solion  getanen  Frage,  /,.  B.  ob  er  kommen 
uird'c'  nach:  wird  er  hommniY ,  oder  ivunn  crkommtY  nach:  wann 
kommt  er?.  Doch  erscheinen  sie  auch  ohne  das,  indem  dem 
Sprechenden  ein  'ich  weiß  nicht'  oder  dgl.  nur  vorschwebt: 
oh  er  noch  kommen  wird?.  S(j  schon  im  Mhd.  und  zwar  mit 
dem  Konjunktiv,  z.  B.  Wolfr.  Parz.  ^t^  22  wie  er  gemnieret  sl?, 
Walth.  25,  26  oh  ieman  spreche?  'ob  wohl  jemand  sagen  mag?'. 
S.  Ekdmann-Mensing  Gruudz.  i,  124. 

Aus  dem  Altindischen  sind  zu  nennen  die  mit  kuvid  'ob' 
eingeleiteten  Sätze,  die  sich  dadurch,  daß  das  Verbum  in  ihnen 
betont  ist,  formal  als  Nebensätze  bekunden.  Z.  B.  RV.  4,  5i;  4 
kuvit  sä  devlh  sandijo  näv'ö  vä  ydmö  hahhüydt  'ob  das  wohl,  o 
Göttinnen,  eurer  alter  oder  neuer  Waagen  sein  mag?',  8,  91,  4 
kuvic  chäkat  kuvit  kdrat  'ob  er  wohl  helfen,  ob  er  wohl  tun 
wird?'.  Die  Grundlage  waren  also  Perioden  wie  8,  26,  10  as- 
vinä  SV  fse  stuhi  kuvit  te  srävatd  hdvam  'die  Asvin,  o  Sänger, 
lobe,  ob  sie  etwa  den  Ruf  hören'.  S.  Delbrück  Altind.  Synt. 
315.  550,  Vergl.  Synt.  3,  261.  2731 

5)  Aus  Stimmungen  des  Unwillens,  der  Mißbilli- 
gung, Entrüstung  gehen  Fragesätze  hervor  mit  der  ihnen 
eignen,  auf  der  Mischung  des  interrogativen  mit  dem  exkla- 
mativen  Element  beruhenden  Tonart,  z.  B.  was?!  ich  ein 
lüfjner?!.  Sie  können  ebenso  gut  hier  als  auch  beim  Ausruf 
untergebracht  werden.    S.  §  7   S.  35  f. 

6)  Die  'deliberative'  ('dubitative')  Frage.  Tritt  bei 
der  Geltendmachung  eines  Willens  eine  Stockung  ein,  die  zu 
der  Frage  Anlaß  gibt,  was  oder  ob  etwas  geschehen  soll,  so 
war  in  diesem  Fall  seit  uridg.  Zeit  der  Konjunktiv  im  Ge- 
brauch.   Das  voluntative,  nicht  einfach  futurische  Piedeatungs- 


70,6]         Verschiedenheitek  der  Satzüestaltung  usw.-  8g 

element  des  Konjunktivs  in  diesem  Fall  erhellt  u.  a.  aus  der 
Negation  ^tj  im  Griech.,  wie  Xen.  Mem.  i,  2,  45  cioreQov  ßCau 
(p&^sv  r]  firj  (päiiev  eivai?.  Meistens  handelt  es  sich  um  i.  Per- 
sonen, wobei  man  sich  entweder  von  dem  Willen  eines  an- 
dern abhängig  zeigt  (vgl.  vis,  vocem  huc  ad  te?  Plaut.  Capt. 
360)  oder  von  der  eignen  Überlegung  (vgl.  nescio:  quid  di- 
cam?  Plaut.  Merc.  ^zt^). 

Maßgebend  für  die  Bestimmung  des  Ursinnes  des  Modus 
sind  auch  hier  das  Indische  und  das  Griechische,  da  diese 
Sprachen  den  Konjunktiv  rein  erhalten  haben. 

RV.  10,  95,  2  liini  etd  väca  krnavä  'was  soll  ich  mit  die- 
ser deiner  Rede  machen?',  SB.  i,  6,  i,  6  hvahq  bJiaväni  'wo 
soll  ich  bleiben?',  RV.  5,  41,  11  Jcatha  mähe  rudriijäya  hra- 
väma  'wie  sollen  wir  zu  der  gi-oßen  Marutschar  sprechen?', 
I,  65,  6  Jid  j  varät'e  'wer  soll  ihm  wehren?',  TS.  6,  5,  9,  i  tq 
vy  äciJcitsaj:  juhäväniS  ma  hausaSm  'inbezug  auf  den  überlegte 
er:  soll  ich  opfern,  soll  ich  nicht  opfern?'.  Griech.  o  509  n^ 
yccQ  sya,  (pCke  tsxvov,  l'cj,  rev  da^ad-'  ixb:>ncci?  'wohin  soll  ich, 
liebes  Kind,  gehen,  zu  wessen  Haus  mich  begeben?',  Eur.  Ion 
758  ei'Ttcj^sv  7]  6iyG)!.i£v?  'sollen  wir  reden  oder  schweigen?',^ 
Soph.  Ai.  404  TTot  rig  ovv  (pvyr]?   'wohin  soll  man  fliehen?'. 

Lat.  Enn.  tr.  231  quo  nunc  me  vortam?  quod  iter  inci- 
piam  ingredi?,  Plaut.  Capt.  208  quo  fugiamus?,  Ov.  Met.  3,  204 
quid  faciat?  repetatne  domum  et  regalia  teda  \  an  lateat  silvis ?. 
Daß  die  i.  Personen  bei  dieser  Grundstimmung  auch  im  'In- 
dikativ. Präs.'  erscheinen,  z.  B.  Plaut.  Most.  774  T.eow.^  vocohuc 
hoyninem?  S.  i,  voca,  beruht  wahrscheinlich  darauf,  daß  die 
I.  Sing,  formal  zugleich  Indik.  und  Konjunkt.  gewesen  ist, 
z.  B,  eo  =  ai.  Konj.  ayä  (Verf.  Grundr.  2-,  3,  52  8f.  849). 

Im  Gotischen  erscheint  bei  der  i.  Sing,  die  sogen.  Op- 
tativform auf  -au,  die  aber  tatsächlich  der  Konjunktiv  auf  •# 
mit  angehängter  Partikel  u  gewesen  ist  (Grundr.  2^,  3,  536): 
Joh.  12,  27  ha  qipau?  'xC  dna?'',  vgl.  Phil.  1,22  hapar  ivaljau, 
ni  Jcann  'was  von  bei  dem  ich  wählen  soll,  weiß  ich  nicht'. 
In  der   i.  Plur.  tritt   die  Injunktivform   auf:   Matth.  6,  31  ha 


go  Kaul  Huuomann:  l7u.  ö 

vuttjattt  ai/)/ an  Ira  dri(jham  (hJi/kih  he  wasjainia?  'tC  ipdycoiitv 
>]  TL  JTi'aufv  i]  xl  ;^fo//i«A(o«£»^a.''';  über  den  Uberj^aiig  /um 
Optativ   HUt.yniiHd  a.  S.  55. 

7)  K  ui/.sat'/foriii  ist  aiu'li  liioi-  nicht  selten.  Am  häu- 
liusten  erscheint  sie  in  der  Prononiinalfnigc,  wie  /viei^,  woher, 
nah  in':',  trohin  des  ueijs'^,  «^riech.  txol  dt)  xcd  :T6&ev?;  was 
weiter^,  Uit.  quid  prackrcaY. 

8)  Der  Zweifel,  der  zum  Fraj^eu  drängt,  ))ringt  es  mit 
sicli,  daß  der  Fragende  oft  niclit  nur  eine  Vorstellung,  die 
ihm  gekommen  ist,  ausspricht,  sondern  zwei  oder  auch  mehr 
Vorstellungen,  zwischen  denen  er  schwankt  und  bezüglich 
deren  er  eine  Entscheidung  anstrebt.  Es  sind  das  die  sogen, 
disjunktiven  Fragen.  Diese  Fragen  scheinen,  wie  die  ein- 
fachen, in  uridg.  Zeit  nur  erst  durch  die  Fragetonart  gekenn- 
zeichnet worden  zu  sein.  Diese  einfachste  Gestaltung  findet 
sich  am  häufigsten  noch  im  Altind.,  wo  entweder  in  jedem 
Glied  oder  wenigstens  in  einem  Plutierung  erscheint.  Z.  B. 
RV.  10,  129,5  cbdhäh  svid  äslSd  upäri  svid  äslSt  Var  es  unten, 
(oder)  war  es  oben?',  TS.  6,  5,  g,  i  tä  vy  äcikitsaj  juhäväniS 
nid  hausdSm  iti  'mit  Bezug  auf  den  (den  Soma)  überlegte  er 
hin  und  her:  soll  ich  ihn  opfern,  (oder)  soll  ich  ihn  nicht 
opfern'?',  TS.  i,  7,  2,  i  chinätti  sä  nä  chinattio  iti  liövaca  'er 
sagte:  schlägt  sie,  (oder)  schlägt  sie  nicht?'. 

Die  Alternative  als  solche  wurde  im  Av.  und  im  Griech. 
durch  die  Partikel  *uc  bezeichnet,  die  sowohl  einzelne  Satz- 
teile als  auch  ganze  Sätze  in  Gegensatz  zueinander  stellte 
(av.  va,  griech.  ii-fs  rj-Ss).  Y.  31,  17  Jcatärdm  asava  va  drDgva 
vä  V9r^nva'te  mazyö  'was  ist  das  Größere,  was  der  Anhänger 
des  Asa  oder  was  der  der  Drug  glaubt?',  N  2^1  ^i  ti  ßtßlTjai,, 
ßs^Bog  ÖE  6£  tSLQSL  axojxr'j,  j  rj£  rsv  ä'yyskCi]^  fisr  Sfi  ^Iv&sg? 
'bist  du  irgend  getroffen  und  quält  dich  des  Geschosses  Spitze, 
(jder  kamst  du  einer  Botschaft  wegen  zu  mir?'.  Vgl.  Del- 
brück Vergl.  Synt.  3,  268f.,  Verf.  Grundr.  2^^  3,  987  f.,  Brug- 
mann-Thumb  Griech.  Gramm.*  618.  624. 

Im  Av.  konnte  katärdtn,  im  nachhomer.  Griech.  tcötsqov 
oder  nötSQU,   im  Lat.   atrwn,    im   Aisl.    huärt   'welches    von 


70,  6]         Veuschibdenheiten  dek  Satzgestaltunö  usw.  9 1 

beiden?'  der  Doppelfrage  vorausgeschickt  werden  als  ein  zu- 
nächst für  sich  stehender  Satz.  Es  folgten  dann  im  Av.  vä 
.  .  .  vä,  im  Griech.  im  zweiten  Glied  ije,  im  Lat.  ebenda  an, 
im  Aisl.  ebenda  eda  'oder'.  Durch  Verschiebung  der  ursprüng- 
lichen Gliederung  wurde  aber  mit  der  Zeit  das  'welches  von 
beiden?'  nur  noch  als  eine  überhaupt  fragesatzeinleitende  Par- 
tikel empfunden.  Für  das  Av.  vgl.  außer  der  schon  genannten 
Stelle  Y.  31, 17  noch  N.  3  Jcatärom  ä&rava  ad^a"rundtn  vä  pa- 
rayat  gaed-anam  vä  aspar^m  avat  'soll  ein  Priester  auf  Prie- 
sterdienst (aus  dem  Haus)  ausgehn,  oder  soll  er  für  die  Un- 
versehrtheit seines  Hausstands  sorgen?'.  Herodot  i,  88  03  ßa~ 
öiksv^  xörsQOv  liySLv  tiqos  «?£,  tä  voecov  xvyyßivci^  ri  Giyäv 
hv  Tip  naQBÖvxL  %qyi?.  Plaut.  Pers.  341  utrmn  pro  ancilla  me 
hohes  an  pro  filia?.  Aisl.  Skirnism.  12,  1  Jiuart  estu  feigr  eda 
estu  framgengimi  '^  'bist  du  ein  Todgeweihter  oder  ein  Toter?'. 
Veränderung  des  ursprünglichen  Sinnes  von  'n6xtQov  und 
utrum  ergibt  sich  auch  daraus,  .daß  sie  vor  mehr  als  zwei- 
gliedrigen Fragen  auftreten:  uoxi^ov  .  .  .  ij  .  .  .  ^  .  .  .,  utrum 
. .  .  an  .  .  .  an. 

Im  Got.  erscheint  meist  im  ersten  Glied  die  Fragepartikel 
-M,  im  zweiten  Glied  ßau,  hinter  dem  -u  wiederholt  wird,  im 
Lit.  in  beiden  Gliedern  ar,  wie  in  der  einfachen  Frage,  oder 
vor  dem  zweiten  Glied  überdies  noch  arbä  'oder',  im  Slav. 
li  in  beiden  Gliedern,  dafür  auch  li  —  li,  ili  —  ili.  S.  Delbrück 
Vergl.  Synt.  3,  z-joL,  Stkeitberg  Got.  Element.^  221  f.,  Von- 
DRAK  Vergl.  Slav.  Synt.  2,  292 f. 

Nachtrag  zu  S.  23  Zeile  8flf. 

Eine  gewisse  Breite  des  Schwankens  der  Lautung  besteht 
natürlich  überall  von  jeher  auch  außerhalb  des  Gebietes  der 
interjektionalen  und  onomatopoietischen  Sprachäußerungen. 
Das  ist  von  der  idg.  Sprachforschung  immer  angenommen 
worden,  auch  seit  das  Axiom  von  der  sogen.  Ausnahmslosig- 
keit  der  Lautgesetze  oder  Regelmäßigkeit  (Konsequenz)  der 
mechanischen    Lautbewegung    auftauchte    und    Anerkennung 


92  Kahl  üuikjmann:  [70,6 

fand.  Ich  nuH'hte  das  hier  ausdriicklich  l'est.stclK'u  mit  Ifüi-k- 
sirht  auf  die  ueuerlicbt'n,  mir  während  des  Druckes  dieser 
Al)handUmg  /u  Gesicht  gekomnienoti  Hemerkuufrou  über  die 
Lauttijesetzfrane  von  Licn  SriTZKic  im  Literaturljhitt  für  pjerni. 
und  rom.  Phil.  191 8  S.  5 ff.  Was  dieser  wie  einen  <fruud- 
sätzlichen  Unterschied  im  Verfahren  der  jetzif^en  'Sprach- 
vergleicher' und  'Komanisten'  hinstellt,  halte  ich  für  un- 
iiuüjobracht.  Daß  man,  wie  SriTZKU  sagt,  um  Ordnung  in  die 
01)jekte  einer  Wissenschaft  zu  bringen,  zuerst  die  vereinheit- 
lichende, meist  grobschlächtig  verfahrende  Klassifikation  der 
Erscheinungen  vornehmen  und  dieser  dann  die  'Feiusortie- 
rung'  und  Individualisierung  folgen  lassen  müsse,  ist  sicher 
richtig.  Die  Indogermanistik  sei  aber,  fährt  Spitzer  fort, 
heute  noch  im  allgemeinen  bei  der  Anschauung  von  der 
'Gleichförmigkeit  der  Welt'  stehen  geblieben,  ihr  fehle  die 
differenzierende  Betrachtung,  wie  sie  bei  den  Romanisten 
heute  vorherrsche,  und  —  wie  man  nach  dem  Zusammenhang 
doch  Avohl  annehmen  mnß  —  fehle  auch  die  Einsicht  in  die 
Notwendigkeit  dieses  Verfahrens.  Ich  denke,  das  Verständnis 
dafür,  daß  von  jeher  überall  nicht  nur  zwischen  den  verschie- 
denen Angehörigen  derselben  Sprachgenossenschaft,  sondern 
auch  bei  demselben  Individuum  bei  aller  Gleichmäßigkeit 
auch  allerlei  Unregelmäßigkeiten  und  Schwankungen  in  der 
Lauthervorbringung  eines  Wortes  an  der  Tagesordnung  ge- 
wesen sind,  ist  in  beiden  Wissenschaftszweigen  gleichmäßig 
vorhanden.  Der  Romanist  hat  freilich  weit  mehr  Gelegenheit 
als  der  Indogermanist,  jene  feineren  Differenzen  zu  bemerken 
und  ihnen  nachgeben  zu  können,  und  das  macht  den  Unter- 
schied. Denn  der  Romanist  hat  es  in  weit  höherem  Maße 
mit  lebenden  Sprachen  oder  der  Gegenwart  näher  stehenden 
Sprachphasen  zu  tun,  und  wo  er  nur  auf  Grund  schriftlicher 
Überlieferung  aus  vergangeneu  Zeiten  arbeitet,  ist  die  älteste 
Handschrift,  in  der  Regel  wenigstens,  nicht  durch  die  Hände  so 
sehr  vieler  Abschreiber  gegangen.  Wo  zwischen  der  Urschrift 
und  der  ältesten  auf  uns  gekommenen  Fassung  eines  Literatur- 
werks  eine  längere  Reihe  von  Jahrhundf^rten   liegt,  sind  die 


70, 6]         Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  usw.  93 

ursprünglichen  Ungleichm'äßigkeiten  gewöhnlich  stark  zerstört, 
sei  es  durch  die  Untugenden  der  Abschreiber,  sei  es  durch 
nivellierendes  Eingreifen  schulmeisterlicher  Grammatiker,  sei 
es  durch  noch  andere  Umstände.  Daß  die  %Sprach vergleicher' auch 
für  das  Sinn  haben,  was  Spitzer  bei  ihnen  allzusehr  vermißt, 
zeigen  u.  a.  zahlreiche  Bemerkungen  über  die  Sprache  inschrift- 
licher Urkunden,  alter  Papyri,  Fluchtafeln  u.  dgl,  die  sich  in 
ihren  Arbeiten  finden.  Wo  sie  ins  Vorhistorische  hinein- 
steuern, mangelt  es  bei  ihnen  allerdings  an  der  Teinsortie- 
rung',  aber  doch  nur  aus  denselben  Gründen  wie  etwa  bei 
dem  Paläontologen,  der  mit  Tier-  und  Pflanzenresten  aus  ferner 
und  fernster  Vergangenheit  zu  tun  hat. 


1* 


SITZUNG  AM  2.  FEBRUAR  1918. 

Herr  Hkinze  spricht  über  die  Art  der  Erzählung  in  Ovids 
Fasten  und  ihre  Vorläufer  in  der  hfUenistischen  und  römischen 
Dichtung.   Wird  später  in  den  Berichten  erscheinen. 

Eine  von  Herrn  Dr.  Buchwali»  geplante  Sammlung  von  Leip- 
ziger Uuiversitütsredon  aus  dem  15.  Jahrhundert  wird  für  die  Ab- 
handlungen angenommen. 

Für  das  Arabische  Wörterbuch  des  Herrn  Fischer  werden 
6000  M.  bewilligt  füi-  deu  Fall,  daß  diese  Summe  nicht  vom  Kar- 
tell übernommen  wird.  Herrn  Kötzschke  werden  weitere  800  M. 
ausgeworfen  zur  Durchführung  seiner  Studien  auf  dem  Gebiete  des 
Agrar-  und  Siedlungswesens  in  Belgien. 

SITZUNG  AM  4-  MAI  1918. 

Herr  Bktre  spricht  über  Medeaprobiemo.  Gedioickt  in  den 
Berichten  Bd.  70,  Heft  i. 

Der  stellvertretende  Sekretär  Herr  Hkiszk  logt  eine  Abhand- 
lung von  Herrn  Koscher  über  den  Omphalosgodanken  vor  und  eine 
weitere  von  Herni  HiitzEL  hinterlassene  tmd  von  Hen-u  Goetz 
herauszugebende  über  den  Namen.  Erstere  ist  in  den  Berichten  als 
Bd.  70,  Heft  2  erschienen,  letztere  als  2.  Heft  des  36.  iJandes  der 
Abhandlungen. 

Für  das  Corpus  Inscriptionuiu  Etruscarum  werden  1500  M. 
bewilligt. 

An  Stelle  des  verstorbenen  Sekretärs  Heiru  Haück  wird  Herr 
SiEVERS  für  den  Rest  der  laufenden  Amtsperiode  als  Sekretär  gewählt. 

ÖFFENTLICHE  GESAMTSITZLNG  AM  29.  MAI  19 18 

zur  Feier  von  Königsgeburtstag 
s.  Berichte  der  mathematisch-physischen  Klasse. 

SITZUNG  AM  6.  JULI  1918. 

Herr  Stieda  trägt  vor  über  das  deutsche  Element  au  der 
früheren  Universität  Wilua.    Wird  in  den  Berichten  erscheinen. 

GESAMTSITZUNG  AM  15.  JULI  1918. 

Die  Herren  Murko  und  Körte  werden  zu  Mitgliedern  der 
philologisch-historischen  Klasse  gewählt. 

l'hil.-hLit.  Klasie   loifc.    F.d.  LXX.  -.  i 


j*  SrrziiNusnEKicuTK. 

(iESAMTSITZUNG  AM  21    OKTOBER  19.8. 

Frau  Dr.  AvKNARius-Hoidclbcrcj  h;it  tcstiiniontiiriscli  oino  Avo- 
tiarius-Stittung  zur  Fördorun^  wissenscliaftliclicr  Arbeiten  errichtet, 
welche  die  Theorie  und  Geschichte  des  menschlichen  Erkonneus  von 
psychologischen  Gosichtspuiikten  aus  behandeln,  und  hat  die  Süchsi- 
iiche  Gesollschaft  der  Wissenschaften  an  erster  Stelle  in  den  Genuß 
der  Stiftung  eingesetzt.    Die  Stiftung  wird  angenommen. 

In  der  an  die  Gesanitsitzuiig  angeschlossenen  Sitzung  der 
philologisch-historischen  Klasse  legt  Herr  Köstkh  Prolegoniona  zu 
einer  Ausgabe  der  Werke  Theodor  Storms  vor,  die  inzwischen  in 
den  Berichten  als  Bd.  70,  Heft  3  erschienen  sind,  und  Herr 
SciiMARSow  eine  Abhandlung  über  Kompositionsgesetze  frühgotischer 
Glasgeniälde,  die  sich  als  3.  Heft  des  36.  Uandes  der  Abhandlungen 
im  Druck  befindet. 

GESAMTSITZUNG  AM  14.  NOVEMBER  1918 
s.  die  Berichte  der  mathematisch-physischen  Klasse. 

Die  Gedächtnisreden  auf  die  in  diesem  Jahre  verstorbenen  Mit- 
glieder der  philologisch -historischen  Klasse,  die  Pferren  Hirzel 
und  Hauck,  werden  von  den  Herren  Kürte  und  Seelioer  gehalten. 
Gedruckt  S.  3*  ff- 

In  der  anschließenden  Klassensitzung  wird  das  Springerstipen- 
dium HeiTn  Dr.  J.  JAHN-Orlandshof  verliehen,  aus  dem  Ertrag  des 
Härteischen  Legats  die  Summe  Von  je  2000  M.  den  Herren  Dr. 
E.  F.  Weidneu- Perleberg  und  Dr.  Tu.  0.  H.  Achelis- Hadersleben. 

SITZUNG  AM  7.  DEZEMBER  191 8. 

Der  Sekretär  legt  eine  Untersuchung  des  Herrn  Brugmann  vor 
über  Verschiedenheiten  der  Satzgestaltung  nach  Maßgabe  der  seeli- 
schen Grundfuuktionen  in  den  indogermanischen  Sprachen.  Sie  ist 
in  den  Berichten  als  6.  Heft  von  Bd.  70  erschienen. 

Für  die  Jahre  19 19  und  1920  wird  Herr  Sieveks  als  Sekretilr, 
Herr  Heinze  als  stellvertretender  Sekretär  gewählt. 

Für  die  Muharaedanische  Enzyklopädie  wird  für  das  Jahr  1919 
eine  Unterstützung  von  500  M.  bewilligt. 


3* 


Worte  zum  Getlächtiiis  an  Rudolf  Hii'zel 

(1846 — 1917). 

Gesprochen  am   14.  November   1918 

von 
Alfred  Körte. 

Wenn  ich  es  auf  Wunsch  des  Herrn  Sekretärs  unter- 
nehme, das.  Leben  und  Scbaflen  des  am  30.  Dezember  1917 
verstorbenen  Rudolf  Hirzel  rückschauend  zu  würdigen,  so 
empfinde  ich  lebhaft,  wie  wenig  ich  für  diese  Aufgabe  befähigt 
bin.  Es  ist  mir  leider  nicht  vergönnt  gewesen,  Hirzel  per- 
sönlich kennen  zu  lernen,  auch  in  brieflichem  Verkehr  habe 
ich  nicht  mit  ihm  gestanden,  die  Fühlung  mit  dem  Menschen 
Hirzel  fehlt  mir  also  durchaus,  und  doch  wird  jeder,  der 
seine  Werke  liest,  die  lebhafte  Empfindung  haben,  daß  hinter 
ihnen  eine  reiche,  feine  Persönlichkeit  steht,  die  vielleicht  das 
Höchste  und  Eigenste  mehr  noch  in  persönlichem  Verkehr 
als  in  Büchern  zu  geben  vermochte.  Schwerer  wiegt  noch, 
daß  ich  mir  nur  über  einen  Teil  seiner  überaus  fruchtbaren 
wissenschaftlichen  Arbeit  ein  fachmännisches  Urteil  zutrauen 
darf.  Aber  mit  beiden  Schwierigkeiten  würden  auch  wohl 
die  anderen  Vertreter  der  klassischen  Altertumswissenschaft 
in  unserer  Gesellschaft  zu  kämpfen  haben.  Hirzel  war  eben 
eine  Persönlichkeit,  die  sich  nicht  leicht  und  nur  wenigen 
erschloß,  und  er  ging  in  der  Wissenschaft  so  sehr  seine  eige- 
nen Wege,  daß  die  Zahl  der  klassischen  Philologen,  die  ihm 
mühelos  überall  zu  folgen  vermögen,  nur  klein  ist.  — 

Hirzel  ist  ein  Sohn  unserer  Stadt  und  hat  die  größere 
Hälfte  seines  Lebens  in  ihr  zugebracht.  Sein  Vater  Salomon 
Hirzel,  aus  einer  alten  Züricher  Patrizierfamilie   stammend. 


l*  AbVKKu  Kökik:  [71^7 

war  der  Schwager  TuKonoi:   M0MM8l;N^,    der    Verlog^^r    und 
Freund  Hkinbich  v.  Tkkusimikkb  imd  (Justav  Krhytag^.    In 
den  Erinnerungoi'.   aus   Hoiuom  Leben   hut  Fklytao    iliiu    ein 
schöuos    Denkmal    g«sotzt. ')      Am     20.   Miiiz    1846    goboron, 
wucliJ»  RuDOiii"  HiHZKL  in  einem  Hause  auf,   in  dem  feinst*' 
Geisteskultur  eelbstverständliche  Lebensluft  war,  dm-ito  doch 
s«'in   Vater  für  eip.en    der    besten   Goothekenner    und    erfolg 
reichsten  (Toethesamniler  seiner  Zeit  geilten.     Der  Eintiuß  des 
Elteruhause«,  besonders  des  Vatert»  auf  Rudolf  Hikzkl  war, 
wie   mir  Freunde   bestätigen,   ein   sehr   t^tarker   und  nuchhnl 
tiger.    x\.uf  der  Th(»masbehule  erwarb  1  r  die  gediegene  hunia 
nistische  Bildung,  die  das  schöne  Erbe  der  alten  sächsischen 
Gelehrtenschuleu  ist;   von  seinen  Lehrern   gedenkt   er   in  der 
Vita  seiner  DiKsertatioii   mit   besonderer  Wjlrme  Ecksteins. 
Im  Frühjahr  1804  bezog  er  die  Universität  Heidelberg.  Über 
daf?   dort    verbnurlite  Jahr  berichtet   seine   v<.»n    der    üblichen 
Schablone    stark    abweichende    Vita    freimütig    „K(»echlvum, 
Zellerum,  Haeusserum,  He.ltzmaunum  ita   audivi,  ut   rogionis 
8ummae  amoenitati  siniul  vacarem".     Für  seine  wissenschaft- 
liche   Ausbildung    fruchtbarer    waren    zweifellos    die    vier   in 
Göttingen  verbrachttju  yemesLer,  wo  ihn   vor  allen  Hewmann 
Sauppk   fesselte,   dem   auch   zusammen   mit  dem  Vater  seine 
Dissertation  gewidmet  ist.    Aber  ihren  Ab.schluß  fanden  seine 
Studien  nicht  in  Göttiugen,  sondern  in  Berlin,  der  Stadt  „tjuae 
nunc  ut  futura  Germanorum  imperii  sedes  nemini  praetereunda 
est'*.     Hier  hat   vor  allem  Moritz   Haupt  auf  ihn  gewirkt. 
La  Berlin  wurde  er  am  29.  Juli  1868  auf  Grund  einer  Disser- 
tation De  bouis  in  fine  Philebi  euumeratis  zum  Doktor 
promoviert.     Auffallend   ist,   daß    er    während    .seiner   ganzen 
Studienzeit  der  Universität  .seiner  Vaterstadt  fern    blieb,   ob- 
wohl   doch    gerade    damals    hier    die    pliilolugischen    Studien 
unter  HiTSCHLs  Leitung  eine  vielgefeierte  Blüte  erleijten.   Der  • 
Gedanke  liegt  nahe,  daß  .schon  der  Student  [RZlC'>.     eine  innere 
Abneigung  gegen  die  UiTSCHLsche  Schule  verspürte,  die  seiner 

J-  Ges.  Wt-rke  I    iRf;  ff. 


70,  7]  Worte  zum  Gedächtnis  an  Rldolp  Hirzel.  5* 

späteren  [iichtung  diametral  entgegengesetzt  war;  ausschlag- 
gebend für  die  Wahl  der  Hochschulen  waren  aber  doeh  wohl 
die  Freundschaft,  die  sein  Elternhaus  mit  Koechly,  Sauppe 
und  Haupt  verband,  und  die  verwandtschaftlichen  Beziehungen 
zu  MoMMSEN.  Auf  das  Studium  folgte  das  Dienstjahr,  und 
bald  darauf  der  Krieg  1870.  Als  Unteroffizier  der  Reserve 
rückte  er  aus,  nahm  an  der  Schlacht  von  Sedan  teil,  lag  dann 
lange  vor  Paris  und  wurde,  inzwischen  zum  Leutnant  befor- 
dert, am  2.  Dezember  durch  einen  Arm-  und  Brustschuß  ver- 
wundet. Mit  dem  Eisernen  Kreuz  geschmückt  kehrte  er  als 
Verwundeter  in  die  Heimat  zurück.  Die  ohne  sein  Wissen 
als  Manuskript  gedruckten  Feldbriefe  ^)  gewähren  einen  fes- 
selnden Einblick  in  sein  Kriegsleben;  besonders  charakte- 
ristisch ist  der  Eifer,  mit  dem  er  sich  den  eintönigen  Vor- 
postendienst vor  Paris  durch  die  eifrige  Lektüre  französischer 
Klassiker,  Voltaire,?.  Montesqcieus,  Chateaubriamds,  ver- 
kürzte. Noch  im  Herbst  187 1  habilitierte  er  sich  mit  einer 
Schrift  „Über  das  Rhetorische  und  seine  Bedeutung  bei  Plato" 
in  Leipzig,  aber  der  Beginn  der  akademischen  Lehrtätigkeit 
wurde  durch  eine  lange  Studienreise  nach  Italien  und  Sizilien 
bis  zum  Herbst  1872  hinausgeschoben.  Die  folgenden  Leip- 
ziger Dozentenjahre  waren  reich  an  fruchtbarer  Arbeit,  aber 
nicht  reich  an  äußeren  Erfolgen.  Die  Art  seiner  Studien  stand 
dem  damaligen  philologischen  Betrieb  in  Leipzig  so  fern,  daß 
man  ihn  kaum  als  Philologen  gelten  ließ  und  ihm  die  üm- 
habilitierung  für  Philosophie  nahelegte.  Er  wurde  zwar  1877 
zum  außerordentlichen  Professor  ernannt,  übernahm  auch  1885 
zusammen  mit  Otto  Crusius  die  Leitung  der  Proseminar- 
übungen, aber  die  Berufung  auf  einen  selbständigen  Lehrstuhl 
ließ  bis  1886  auf  sich  warten,  und  die  Zahl  seiner  Hörer  war 
gering.  Einen  weiteren  Wirkungskreis  erschloß  ihm  erst  der 
Ruf  nach  Jena,  wo  er  zunächst  als  außerordentlicher,  vom 


i)  Briefe  von  R.  H.  währead  des  Feldzuges  1870,  vor  gänzlichem 
Vergilben  gerettet  und  zu  bleibender  Erinnerung  für  die  Familie  ohne 
Wissen  des  Verfassers  in  Druck  gegeben  durch  H.  H.  Leipzig,  Weih- 
nachten 1881. 


6*  Alfred  Körte:  [70, 7 

5.  Miii  1888  au  als  orclentlioher  l'rofcssor  gelehrt  liat.  Biilri 
nach  der  Jcueuser  herufiuij^  liolte  er  sich  aus  der  Vaterstadt 
die  Gattiu,  Dorothea  SruiNGKK,  Antox  Spkinokks  Tochter, 
die  ihm  bis  zum  Tode  als  treuestc,  verstäudnisvolisto  Gefährtin 
zur  Seite  stand.  Dor  Kindersegen  blieb  diesem  Bunde  ver- 
sagt. Der  schönen,  kleinen  '.IhüringeM-  Hochschule  treu  zu 
bleiben,  wurde  ihm  von  den  deutschen  Universitäten  uicht 
eben  schwer  ^eniaclit,  nur  einmal  (1897)  erhielt  er  einen  Ruf 
nach  (ließen,  den  er  ausschlug,  große  Universitäten  haben 
sich  nie  ernstlich  um  ihn  bemüht,  und  im  Grunde  hätte  wohl 
auch  das  Leben  an  einer  großen  Universität  mit  der  starken 
Belastung  durch  äußere  Berufsarbeiten  für  seine  stille,  feine 
Gelehrtennatur  wenig  Verlockendes  gehabt.  Daß  gleichwohl 
seine  Forschertätigkeit  in  immer  steigendem  Maße  im  Kreise 
der  Fachgenosseu  und  darüber  hinaus  Anerkennung  fand, 
lehren  die  Wahl  zum  Mitglied  unserer  Gesellschaft  (13.  i.  1896), 
zum  Mitglied  der  Kgl.  Bayerischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften (18.  II.  191 1)  und  die  Ernennung  zum  Ehrendoktor 
der  Leipziger  juristischen  Fakultät  (5.  2.  1913).  Von  äußeren 
Erlebnissen  seiner  späteren  Jahre  nenne  ich  nur  noch  zwei 
längere  Studienreisen  nach  Griechenland  und  Kleinasien,  1898 
und  1908,  deren  zweite  auch  seinem  Plutarchbuch  zugute 
kam.  Im  Herbst  191 2  befiel  ihn,  der  sich  bis  dahin  bei  den 
alljährlichen  Schweizerreisen  noch  große  Bergbesteigungen 
zumuten  durfte,  eine  schwere,  nicht  ganz  aufgeklärte  Krank- 
heit, die  ihn  19 14  zur  Einreichung  seines  Abschiedsgesuches 
veraulaßte.  Wider  sein  eigenes  Erwarten  besserte  sich  aber 
sein  Befinden  allmählich,  er  konnte  von  dem  vorbehalteuen 
Recht,  Vorlesungen  anzukündigen,  Gebrauch  machen,  aber  zu 
einer  wirklichen  Aufnahme  der  akademischen  Tätigkeit  ist  es 
dann  im  Kriege  nicht  mehr  gekommen.  Wohl  aber  gewann 
er  wieder  Kraft  und  Stimmung  zu  wissenschaftlicher  Tätig- 
keit, eine  größere  Arbeit  über  den  Namen,  die  demnächst  in 
den  Abhandlungen  unserer  Gesellschaft  erscheinen  wird,  war 
fast  abgeschlossen,  als  ihm  am  30.  Dezember  1917  der  Tod 
die  Augen  schloß. 


70,  7]  Worte  zum  Gedächtnis  an  Eudolk  Hirzel.  7* 

So  ist  sein  äußeres  Leben,  wenn  man  von  dem  heroischen 
Zwischenspiel  des  Krieges  1870  absieht,  in  stillen,  glatten 
Bahnen,  ohne  Stürme  und  fast  ohne  Klippen  verflossen,  eis 
typisches  deutsches  Gelehrtenleben.  Um  so  eigenartiger,  vom  Her- 
kömmlichen abweichender  ist  das  Bild  des  Forschers  Hirzel 
Es  hat  in  den  letzten  50  Jahren  wohl  kaum  einen  klassischen. 
Philologen  gegeben,  der  so  ganz  unbeirrt  von  herrschenden 
Strömungen  seinen  eigenen  Weg  gegangen  ist,  dessen  Lebens- 
arbeit so  ganz  ohne  äußere  Anstöße  und  fremde  Einflüsse 
aus  der  Tiefe  der  eigenen  Natur  organisch  herausgewachsen 
ist.  ,,Ich  habe  die  Probleme  nicht  gesucht,  sie  sind  mir  zu 
gewachsen,'"'  sagt  er  selbst  in  einem  Dankbrief  für  die  Glück 
wünsche  seiner  Fakultät  zum  70.  Geburtstag*),  das  trifft  den 
Nagel  auf  den  Kopf.  In  der  Zeit  seiner  Entwicklung  zum 
Forscher  galt  die  recensio,  die  Herstellung  und  Säuberung 
der  antiken  Texte,  durchaus  als  die  wichtigste,  manchem 
sogar  als  die  einzige  Aufgabe  der  klassischen  Philologie, 
HmzEL  aber  hat  niemals  einen  antiken  Text  herausgegeben, 
ja  er  hat  niemals  eine  Arbeit  veröffentlicht,  die  ganz  oder 
vorwiegend  der  Textkritik  gewidmet  war.  Schon  seine  Dis- 
sertation dient  der  anderen  philologischen  Hauptaufgabe,  der 
interpretatio,  und  dieser  Aufgabe  ist  er  sein  Leben  lang 
treu  geblieben;  den  Gedankeninhalt  der  antiken  Literatur  zu. 
verstehen  und  zu  erklären,  sein  Fortleben  durch  die  Jahr- 
hunderte bis  auf  unsere  Zeit  zu  verfolgen,  ist  stets  sein 
Hauptziel  gewesen.  Aber  auch  seine  Exegese  beschränkt  sich 
scheinbar  auf  ein  kleines  Gebiet.  Keine  seiner  Arbeiten  be- 
handelt die  antike  Poesie,  von  einem  mißglückten  Versuch, 
eine  hellenistische  Philosophenkomödie  zu  rekonstruieren*) 
und  einer  2  Seiten  langen  Miszelle  zu  Aristophanes'  Wolken^) 
abgesehen,  fast  niemals  hat  er  sich  zu  den  attischen  Rednern, 


i)  Die  Kenntnis   dieses   Schreibens  und  andere   wertvolle  Mittei- 
lungen verdanke  ich  Herrn  Geheimrat  Goetz  in  Jena. 

2)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  15. 

3)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  6. 


S*  Alpubd  Köktk:  1/0,7 

nur  einmal  zu  viurm  griechischen  Historiker^)  goäubcrt,  uio- 
mals  eine  grieihische  oiler  lateinische  Inschrift  erklärt.  Diese 
Kinseiti^jfkeit  ist  aber  nur  eine  schciiibim',  deun  seine  Werke 
eigen  immer  wieder.  <l;ilJ  er  mit  <ler  Ljriochischen  und  römi- 
schen Toesie  im  weitesten  ümlun^  innig  vertraut  war'-),  Ived- 
ner  und  Historiker  genau  k:innt»',  auch  Inschriften  für  seine 
Zwecke  sehr  wohl  zu  benutzen  wnßti .  Kr  fühlte  nur  nicht 
das  Bedürfnis,  sich  zu  diesen  Gebieten  in  besonderen  Arbeiten 
zu  iiubern,  du  ihn  die  Probleme  ganz  in  Anspruch  nahmen, 
die  ihm  von  innen  heraus  immer  neu  zullos.sen.  (yharakte- 
-istisch  ist  auch,  daß  er  niemals  eine  fremde  Arbeit  rezensiert 
Qat,  auch  das  schien  ihm  \vohI  eine  Ablenkung  von  den 
eigenen   Aufgaben. 

Bei  fast  allen  seinen  Arbeiten  sind  die  1^'äden  noch  deut- 
lieh zu  erkennen,  die  sie  ideell  mit  seiner  Dissertation  über 
die  Güterliste  am  Schluß  von  Piatons  Philebos  verbinden. 
Aul'  diese  Erstlingsschrift,  die  mit  jugendlichem  Wagemut 
<iine  sehi-  schwierige  Frage  der  Platonischen  Philosophie  auf- 
zuhellen suchte,  folgte  die  Habilitationsschrift  über  das  Rhe- 
torische  und  seine  Bedeutung  bei  Plato,  und  an  diese  schlössen 
sich  eine  ganze  Reihe  von  Aufsätzen  verschiedenen  Umfaugs 
an,  die  entweder  Einzelfragen  der  Platonischen  Lehre  behan- 
delten, ich  nenne  Über  den  Unterschied  der  ötxuioövvri  und 
der  6o3(pQo6vvri  in  der  Platonischen  Republik^)  und  Pytha- 
goreisclies  in  Piatons  Gorgias*),  oder  sich  mit  der  Philoso- 
phie von  Piatons  Vorgängern  und  Nachfolgern  beschäftigten; 
dahin  gehören  z.  B.  Demokrits  Schrift  ütegl  «v^v/itV/g^),  über 
den  Protreptikos  des  Aristoteles^),  über  Entelechie  und  En- 


i)  S   Schriftenverzeichnis  Nr.  24. 

2)  Für  das  Werk  seines  Freundes  Gardthalsen  über  Augustus  und 
seine  Zeit  hat  er  Übersetzungsproben  beigesteuert  (s.  Schriftenverzeich- 
nis Nr.  30). 

3)  S.  SchriftenTerzcichnis  Nr.  3. 

4)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  8. 

5)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  10. 

6)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  4 


yo,  7]  Worte  zum  Gedächtnis  an  Rudolf  Hirzbl.  9* 

delechie^),  de  logica  stoiconim.^)  Die  Hauptfrucht  der  Leip- 
ziger Jahre  aber  waren  die  umfassenden  Untersuchungen  zu 
Ciceros  philosophischen  Schriften,  die  Ton  1877 — 1883  in 
drei  Teilen  erschienen.^)  Ciceros  philosophische  Schriften 
sind  eine  unserer  Hauptquellen  für  die  Kenntnis  der  nach- 
aristotelischen griechischen  Philosophie,  und  die  Untersuchung 
ihrer  Quellen  daher  eine  für  die  Kenntnis  der  jüngeren  grie- 
chischen Philosophenschulen  außerordentlich  wichtige  Aufgabe. 

Wenn  sich  auch  natürlich  bei  weitem  nicht  aUe  seine  Ersreb- 

o 

nisse  dauernd  in  der  Wissenschaft  behauptet  haben,  so  haben 
doch  seine  Untersuchungen  die  weitere  Forschung  nachhal- 
tig angeregt,  und  seine  Grundanschauung,  daß  Cicero  in  der 
Regel  nur  eine  Quelle,  auch  diese  oft  nur  in  Auszügen  be- 
nutzt, ist  jetzt  wohl  die  herrschende.  Besonders  wichtig  aber 
ist  sein  Nachweis  der  Wandlungen,  die  im  Laufe  der  Zeit 
die  nacliaristotelischen  Schulen,  Tor  allem  die  Stoa,  dui'ch- 
m achten. 

HiRZELS  Antrittsrede  als  ordentlicher  Professor  in  Jena 
(5.  Mai  1888)  gab  ihm  Gelegenheit,  seine  Auffassung  vom 
Wesen  seiner  Wissenschaft  vor  einem  weiteren  Kreise  zu 
entw^ickeln.*)  Er  tritt  hier  in  verschiedenen  Punkten  einer 
berühmten  Kektoratsrede  Hermann  Useners,  Philologie  und 
Geschichtswissenschaft,  entgegen,  die  er  freilich  teilweise  miß- 
verstanden hat.'')  Hatte  Usener  der  Philologie  den  Rang 
einer  eigenen  Wissenschaft  abgesprochen  und  sie  für  eine 
Methode  der  Geschichtswissenschaft,  und  zwar  die  grund- 
legende, maßgebende  erklärt,  so  verficht  Hirzel  entschieden 
die  Ansicht,  daß  die  klassische  Philologie  eine  selbständige 
Wissenschaft  mit  eigenem  Leben  und  eigenen  Zielen  sei.    Ihr 


i)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  16. 

2)  S  Schriftenverzeichnis  Nr.  1 1 . 

3)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  9,  12  und   14. 

4)  S.  Schriftenverzeichnis  Nr.  20. 

5)  Es  ist  Ü8EKER  nicht  eingefallen,  die  Konjektnr  für  die  Blüte 
der  philologischen  Tätigkeit  zu  erklären,  „zu  der  alles  Übrige,  der 
£;aBze  ungeheure  Apparat,  sich  nur  wie  das  Mittel  zum  Zweck  verhält." 


lu*  Ai>KRKi>  Köktk:  [70,7 

Gedeihen  ist  ihm  von  dem  /ustrom   nouon  Materiuls,  iiuf  den 
er  nicht  mehr  holVt,  <]ronau  so  uniibhiingi}];  wie  z.  B.  das  der 
Mathematik,    denn  jede  Zeit   richtet   an   das  gleiche  Material 
neue  Fragen,  und  die  Wissenschaft  ist  so  lange  lebendig,  als 
sie  sich  neue  Probleme  stallt.     Wenn  er  am  Schluß  die  Sün- 
den  der   zeitgenössischen   Philologie   freimütig   zugCHteht  und 
sagt:  „Die  Zeit  hat  sich  von  den  Philologen  abgewandt,  weil 
die  Philologen  sich  von  der  Zeit  abgewandt  liaben.    Sie  stehen 
in   der  Kegel  nicht  auf  der  Höhe   der   modernen   Bildung  .  .  . 
sie  haben  vergessen,  daß  der  erste,  der  sich  einen  Philologen 
nannte,  Eratosthenes,  einer  der  universalsten  Geister  des  Alter- 
tums  war''  —   so   hatte   er  ein   besonderes  Kecht  zu  diesem 
V^orwurf,  denn  seine  eigene  Bildung  war  von  staunenswerter 
Weite  und  Tiefe.     Eine   bis   in  das  Alter  festgehaltene  pein- 
lich genaue  Zeiteinteilung  ermöglichte  es  ihm,  den  Weg  „des 
ewigen  Lernens  und  Lesens''  immer  weiter  zu  verfolgen,  den 
er  in  dem  erwähnten  Brief  an  die  Fakultät  als  den  ihm  ge- 
mäßen bezeichnet.    Weit  über  die  Grenzen  der  eigenen  Wis- 
senschaft hinaus  führte  ihn  der  unermüdliche  ßildungsdrang. 
Die   klassische   Literatur   aller   Kulturvölker,    vor    allem    die 
französische,  italienische,  spanische,  englische  von  der  Rcnais- 
sancezeit  bis   ins   19.  Jahrhundert   war  ihm   wohl   vertraut^); 
mit  besonderer  Vorliebe  versenkte  er  sich  in  die  Schriftwerke 
der  englischen  und  französischen  Aufklärungszeit. 

Der  lleichtum  seiner  Bildung  tritt  schon  eindrucksvoll 
zutage  in  dem  ersten  Hauptwerk  seiner  Jenenser  Zeit,  dem 
1895  in  zwei  Bänden  erschienenen  Dialog.  2)  Von  den  ersten 
Anfängen  an  wird  die  Kunstform  des  Dialogs  ausführlich 
durch  das  ganze  griechisch-römische  Altertum  und  dann  skiz- 
zenhaft durch  Mittelalter,  Renaissance,  Aufklärung,  Romantik 
bis  auf  Stkausz  und  Schopenhauer  verfolgt.  Eine  beson- 
ders günstige  Kunstforra  für  eine  so  weit  gespannte  Mono- 
graphie war  der  Dialog  im  Grunde  nicht.    Denn  wenn  Hirzel 

i)  Freilich  nicht  die  moderne  Forschung  über  die  Literatur,  was 
ihm  Vorwürfe  eingetragen  hat. 

2^  S   Schriftenverzeichnis  Nr.  25. 


70,  7]  Worte  zum  Gedächtnis  ax  Kudolf  Hikzkl.  i  i* 

im  Eingang  mit  Recht  betont,  Dialog  sei  nicht  Gespräch,  son- 
dern Erörterung,  so  zeigt  sich,  daß  der  echte  Dialog,  die  Er- 
örterung, die  in  gemeinsamem  Suchen  und  Forschen  neue 
wissenschaftliche  Ergebnisse  hervorbringt,  nur  in  einer  kurzen 
Spanne  Zeit  bei  den  Sokratikern  wirklich  lebendig  gewesen 
ist.  Schon  Aristoteles  setzt  den  lehrmäßigen  Vortrag  eines 
Hauptredners,  neben  dem  die  übrigen  Mitunterredner  keine 
gelbständige  Bedeutung  haben,  an  Stelle  der  gemeinsamen 
schöpferischen  Erörterung,  und  damit  ist  der  Dialog  im  Grunde 
getötet.  Weitaus  der  größte  Teil  von  Hirzels  Werk  be- 
schäftigt sich  also  mit  dem  künstlichen  Scheinleben  einer  in 
Wahrheit  abgestorbenen  Gattung.  Die  Wirkung  des  ebenso 
gelelirten  wie  gedankenreichen  Buchs  wurde  durch  gewisse 
schriftstellerische  Schwächen  beeinträchtigt,  die  Hikzel  nie 
ganz  überwunden  hat.  Es  wurde  ihm  schwer,  die  Haupt- 
linien einer  Entwicklung  klar  und  scharf  herauszuarbeiten, 
die  Darstellung  fließt  in  einer  stets  geschmackvollen,  von 
jeder  falschen  Rhetorik  freien,  aber  auch  der  fortreißenden 
Höhepunkte  entbehrenden  Sprache  dahin,  ungern  versagt  er 
sich,  auf  Nebendinge,  die  ihn  gerade  interessieren,  ausführlich 
einzugehen,  und  vor  allem  fröhnt  auch  er  der  alten  stilisti- 
schen Untugend  deutscher  Gelehrter,  zu  viel  Stoff  in  An- 
merkungen unterzubringen;  Seiten,  die  bis  auf  wenige  Zeilen 
ganz  von  Anmerkungen  gefüllt  sind,  finden  sich  nicht  selten. 
Um  die  Jahrhundertwende  begann  Hirzel  ein  neues, 
man  darf  sagen  sein  eigenstes  Gebiet  zu  pflegen,  die  philo- 
sophisch-historische Würdigung  der  antiken  Rechtsgedanken. 
Der ''AyQag)og  vo^og,  1900  in  den  Abhandlungen  unserer  Ge- 
sellschaft erschienen,  war  die  erste  Frucht  dieser  Studien^), 
die  im  letzten  Grunde  auch  wieder  mit  seinen  platonischen 
Forschungen  zusammenhängen;  es  folgten  der  Eid  (1902), 
Themis,  Dike  und  Verwandtes,  wohl  sein  tiefstes  Werk  (1907), 
der  Selbstmord  (1908),  die  Strafe  der  Steinigung  (1909),  die 
Talion  (191 1),  OvöCa  (1913),  die  Person  (1914).    Allen  diesen 


i)  S.  das  Nähere  im  Schriften  Verzeichnis. 


12*  Alvmikd  Köktk: 


'^  I 


Arbeitt'U  iuL  dio  Verltimlunij  voti  Philosophisrhom,  Juristischem, 
Volkskundlithfin  und  llolij^iöscm  ^fineiusain,  \\\9,<^  uueh  iliis 
Mi8cliuu«;-8v»>rliiUtuis  fliewer  Bestatidtrilr  in  den  einz«dno)i  Wer- 
ken sehr  wtichsoln.  Alle  /-eiiduK'ii  sirli  iius  (hirch  «'ine  er- 
staunlii'lie  Behevr.si-hung  des  hei  ^y^w  v.  rschicdeiiat«!!!  Völkern 
und  in  den  verschiedensten  Zeiten  ^•♦'Buniinelten  Muteriul«,  das 
seinen  Schwerpnnkt  stets  im  griechisch-rominchen  Altertum 
findet.  Weiter  ist  ihnen  allen  ein  ungemein  feines  (iefühl 
für  die  leisen  Sch.ittierungen  eigen,  di^;  in  den  verschiedeneu 
Bezeichnungen  für  ähnliche  lieehtsbegritVe  beschlossen  sind. 
Überall  fesseln  Uirzi:l  nicht  so  sehr  die  Bestimmungen  des 
formalen  Rechts  als  die  Gedanken,  die  in  den  Ke(;ht8nornien 
zum  Ausdruck  kommen,  und  die  in  den  LFntersuehungeu  der 
Philosophen  sogut  wie  im  Sprachgebrauch  tles  Volkes  nach 
Verkörperung  ringen. 

Die  umfassendste  und  am  tiefsten  schürfende  Unter- 
suchung der  (jirundgedanken  des  griechischen  Rechts  und 
ihres  Wandels  im  Laufe  des  Jahrhunderts  bietet  das  Werk 
'fbemis,  Dike  und  Verwandtes.  Scharf  geschieden  werden  zu- 
nächst die  Begriffe  Themis,  der  gute  Rat,  der  zum  Gegen- 
stand ein  Künftiges,  erst  zu  Verwirklichendes  hat,  und  Dike, 
die  richterliche  Entscheidung,  die  auf  ein  Vorhandenes  geht, 
das  nicht  verwirklicht,  sondern  nur  gefunden  zu  werden  braucht, 
die  Wahrheit.  Auch  wer  lliRZKLs  Etymologie  des  Wortes 
Dike  von  Ümüv  werfen  unvl  seine  Erklärung,  es  bezeichne 
ursprünglich  den  Schlag  des  Richterstabs,  der  zwischen  die 
Streitenden  fährt  imd  die  Entscheidung  fällt,  nicht  gutzu- 
heißen vermag^),  kann  ihm  darin  zustimmen,  daß  Dike  zu- 
nächst nur  die  richterliche  Entscheidung  ist,  die  von  den 
Parteien  angerufen  wird.  Aber  die  Macht  der  Dike,  die  ur- 
sprünglich nur  im  privatrechtlichen  Streit  um  Mein  und  Dein 
die  Wahrheit  findet,  wächst  weit  über  diese  begrenzte  Auf- 
gabe hinaus.    Der  Richterspruch  fordert  Vollziehung,  und  so 

i)  Ich  vermisse  durchaus  den  Nachweis,  daß  ein  solcher  Schlag 
oder  Wurf  des  Richterstabs  im  griechischen  Recht  je  eine  Rolle  ge- 
spielt hat. 


7o,  7]  WoüTt  ZUM  GkdächtiSI.s  an  Kuüolf  liiuzEL.  13* 

wird  Üike  zur  Vergeltung-,  die  das  uls  wahr  und  recht  Er- 
kannte im  Leben  des  Einzelnen  wie  des  Volkes  durchsetzt, 
zur  ernsten,  erhabenen  Göttin,  die  zu  ihrem  Werke  selbst  des 
Zornes  bedarf".  Die  von  ihr  abgeleiteten  Worte  dCy.caog  und 
dt,xcao6vv)i  verkörjiorn  in  einer  immer  stärker  von  Rechts- 
gedanken erfüllten  Zeit  die  Summe  alier  Pflichten,  die  der 
Mensch  gegenül^ec  der  Gesamtheit  hat,  dixccioövvvf  wird  der 
lubegriif  aller  bürgerlichen  Tugend.  AUe  Verhältnisse  des 
Staates  werden  der  Macht  der  Dikt;  unterworfen,  über  den 
Kreis  menschlichen  Lebens  hinaus  sieht  man  ihr  Wollten  so 
gut  im  Leben  der  Tiere  wie  in  der  Ordnung  des  Weltganzen. 
Einen  ähnlichen  Aufstieg  von  beschränkter  privatrechtlicher 
Geltung  zur  beherrschenden  Stellung  in  der  Weltauffassung 
zeigt  dann  Hirzel  in  dem  vo^og,  der  vom  Brauch  des  Ge- 
wohnheitsrechtes zum  unbedingt  Staat  und  Einzelmenschen 
bindenden  Gesetz  und  schließlich  zum  Begriff  des  Natur- 
gesetzes wird.  „Aus  wie  verschiedenen  Quellen  auch  Hecht 
und  Gesetz  bei  den  Hellenen  in  ihren  Haupterscheinuugen 
als  ^iuib'f  dCxij,  d^£6^6g  und  voiiog  geflossen  sind,  ihren  letzten 
und  einzigen  Ursprung  haben  sie  doch  alle  im  menschlichen 
Leben  und  seinen  Bedürfnissen"  ist  der  Schlußsatz  des  ge- 
dankenschweren Buchs. 

Jeder  Altertujusforscher  wird  ausHiKZKLs  rechtsgescbicht- 
lichen  Werken  eine  FüUe  von  Belehrung  schöpfen,  lange  noch 
werden  die  in  ihnen  ungeschlagen«.')!  Töne  in  der  Wissenschaft 
fortklingen.  An  Widerspruch  kann  und  darf  es  freilich  auch 
hier  nicht  fehlen,  denn  in  der  Behandlung  der  Einzelheiten 
ist  HiKZEL  oft  nicht  glücklich,  und  stärker  noch  als  im  Dia- 
log macht  sich  hier  vielfach  der  ihm  eigene  Mangel  an  tek- 
tonischem  Sinn  bemerkl^ar.  Wie  er  selbst  es  nicht  selten 
unterläßt,  das  Ergebnis  seiner  Forschungeu  in  knappen,  klaren 
Sätzen  zusammenzufassen,  .so  ist  es  auch  für  den  Leser  mit- 
unter schwer,  den  ilüuptinhalt  der  Arbeit  in  scharf  umrisse- 
nem  Bilde  bei  sich  festzuhalten. 

Eine  eigene  Stellung  nimmt  unter  Hikzels  Altersschriften 
dip  für  die  Sammlune-  das  Erbe  d^r  Alten  verfaßte  über  Plutarch 


I4'''  Ai.ruKn  Köuii;:  |7^w 

ein  (1912).  Eine  warme  Ziincigun«;-,  ja  mehr  noch,  oiiio  inn»*re 
Seelenverwandt si'haft,  verbindet  HiK/,i;ii  mit  dem  j^üwiü  nicht 
<;enialen,  aber  durch  und  durch  ^osundeu  und  ehren wcrt«^n 
Philosophen  von  (^haironeia,  auC  deswen  Leben  nnd  Schritten 
ein  letzter  Abglanz  der  strahlenden  »Sonne  l'lutons  liegt;  <leR- 
halb  war  er  in  besonderem  vSinne  geeignet,  die  P<,'rs(">nliciikeit 
l'lut^inhs  und  ihre  überraschend  starke  Nacliwirkuug  durch 
die  Jahrhunderte  hindurch  zu  schildern.  Was  Plutarch  für 
die  \N'eltliteratur  bedeutet,  uird  auch  vIcKmi  Philologen  erat 
durch  IIiRZKLs  Buch  klar  geworden  sein,  und  wenn  ihm  nicht 
mit  Unrecht  zum  Vorwurf  gemacht  worden  ist,  daß  er  die 
moderne  neuphilologische  Literatur  über  Plutarchs  Einfluß  auf 
die  Dichter  der  Kenaissancezeit  nicht  genügend  benutzt  hat^), 
so  wiegt  das  nicht  schwer  gegenüber  der  Tatsache,  daß  ihn 
seine  Avunderbare  Belesenheit  befähigte,  unmittelbar  die  tau- 
send Fäden  zu  überschauen,  die  Plutarch  mit  den  englischen, 
französischen,  deutschen  Schriftstellern  des  16.  bis  ig.  Jahr- 
hunderts verbinden. 

Ein  an  Arbeit  und  Gedanken  reiches  Forscherleben,  in 
sich  geschlossen  und  vollendet  wie  es  wenigen  Gelehrten  bo- 
schieden  ist,  war  Rudolf  Hirzel  zu  führen  vergönnt,  und 
der  Segen  dieses  Lebens  wird  unserer  Wissenschaft  unver- 
loren sein. 

Schriften  vou  Rudolf  Hirzel. 

i)  1868.  De   bonis  in   fine  Philebi  enumeratis,  Berliner  Dissertation, 
Leipzig  1868,  79  S. 

2)  1871.  Über  das  Rhetorische  und  seine  Bedeutung  bei  Plato,  Habi- 

litationsschrift, Leipzig,  75  S. 

3)  1874.  Über  den  Unterschied  der  dtHaioevvri  und  der  6(a(pQ06vvr\  in 

der  Platonischen  Republik,  Hermes  VIII,  379 — 41 1- 

4)  1876.  Über   den  Protreptikos  des  Arißtotelcs,  Hermes  X,  61  —  100. 

5)  —     Ein  Rbetor  Protarchos,  Hermes  X,  254—259. 

6)  —     Zu  Aristophanes'  Wolken,  Hermes  XI,   121 — 122. 

7)  —     Zur  Philosophie  des  Alkmaion,  Hermes  XI,  240—246. 

i)  S.  Max  Foepstkr,  Jahrb.  der  deutsch.  Shakespeare-Ges.  XXIX, 
1913,  254. 


70,  7]  Worte  zum  Gedächtnis  an  Rudolf  Hirzel.  i  5* 

8)  1877.  Pythagoreisches  in  Piatons  Gorgias,  Comm.  in  honorem  Momm- 

seni  II — 22. 

9)  —     Unlersuchungen  zu  Ciceros  philosophischen  Schriften  I.  Teil. 

De  natura  deornm,  Leipzig,  244  S. 

10)  1879.  Demokrits  Schrift  jrfpl  £v&v(itr}?,  Hermes  XIV,  354—407. 

11)  1880.  De  logica  etoicorum,   Satura  philol.   Herrn.   Sauppio  obtulit 

amic.  coli,  decas,  61 — 78. 

12)  1882.  Untersuchungen  zu  Ciceros  philos   Schriften  H.  Teil,  De  fini- 

bus,  de  officiis,  2  Abteil.,  Leipzig,  913  S. 

13)  —     Der  Demokriteer  Diotimos,  Hermes  XVII,  326 — 328. 

14)  1883.  Unterbuchnngen  zu   Ciceros   philos.  Schriften  III.  Teil,  Aca- 

demica  priora,  Tu.sculanae  disputationes,  Leipzig,  576  S. 

15)  —     Ein  unbeachtetes  Komikerfragment,  Hermes  XVIII,  i — 16. 
i6)  1884.  Über  Entelechie  un-i  Endelechie,Pthein.  Mus.  XXXIX,  169—208. 

17)  1885.  Über  Rundzahlen,  Her.  der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  I,  2  S.  1—74. 

18)  1886.  Zur  Bedeutung  von  über,  Rhein.  Mus.  XLI,  153—155. 

ig)  1887.  Polykrates'  Anklage  und  Lysias'  Verteidigung   des  Sokrates, 
Rhein.  Mus.  XLII,  239 — 250. 

20)  1888.  Über  die  Stellung  der  klassischen   Philologie  in   der  Gegen- 

wart, Akademische  Antrittsrede  in  Jena,  35  S. 

21)  —     Ein   Symposion  des   Asconius,  Rhein.  Mus.  XLUI,  314 — 317. 

22)  —     Die  Eupatriden,  Rhein.  Mus.  XLIII,  631—635. 

23)  1890.  Aristoxenos  und  Piatons  erster  Alkibiades,  Rhein.  Mus.  XLV, 

419—435- 

24)  1892.  Zur  Charakteristik  Theopomps,  Rhein.  Mus.  XLVII,  359—389. 

25)  1895.  Der  Dialog,  2  Bde,  Leipzig,  XIV  565  und  473  S. 

2b)  1896.  Die  Homonymie  der  griechischen  Götter  nach  der  Lehre  an- 
tiker Theologen,  Ber.  der  Sachs.  Ges.  der  Wiss.,  277 — 337. 

27)  — .     Rede  zur  Feier  der  Wiederaufrichtnng  des  Deutschen  Reiches. 

28)  1900.  "Aygafpos   vo^ios,   Abh.  der   Sachs.  Ges.  der  Wiss.  philol. -bist. 

KL  XX.  Bd,  100  S. 

29)  1902.  Der  Eid.     Ein   Beitrag  zu   seiner   Geschichte,  Leipzig    1902, 

225  S. 

30)  1904.  Philosophie    im    Zeitalter    des    Augustus,    bei    Gakdtiiaosen, 

Augastus  und  seine  Zeit  I,  3  S.  2256 — 1317.  (Im  selben  Werk 
sind  zahlreiche  metrische  Übersetzungen  von  Hirzel,  vgl.  I 
Vorrede  VIII.) 

31)  1905.  Was   war  die  Wahrheit  für  die   Griechen?     Rede,  gehalten 

zur  Feier  der  akad.  Preisverteilung  (24.  5.),  30  S. 

32)  1907.  Themiü,  Dike  und  Verwandtes.     Ein  Beitrag  zur  Geschichte 

des  Rechts  bei  den  Griechen,  Leipzig,  445  S. 

33)  1908.  Der  Selbstmord,  Arch.  f.  Religionswiss.  XI,  75  — 104,  243 — 284, 

417—476. 


lÖ*    AlvKKI»  KÖKTl.:  WoUTK.  7,.  (tUUACHTN.  an  UuOOUK  HlR/.KL.    [7u,  7 

34)  1909.  Die   Strafe   der  StoinipiinK,   Äbh.  <lor    "^Ichc.  «Jox.  cl««r  Wias. 

j)hilol.-hi8t.  Kl.  XXVII7,  44  S. 

35)  191 1.  Die  TalioD,  Piniol.  Snppl.  Ud.  .\1,  401-482. 

36)  1012.  l'lutarcb,  Dan  F>be  der  Alten,  Leipzig',  \'1II   .:ii   S. 

37)  1913.  OWiOi,  rinlol.  72  (N.  F.  26),  42—64. 

38)  19 J 4-  Die  PerBuii.     licpriff  und  Name  derselben    im  Altertum,  Her 

der  Hayr.   Akad.  der  WisH.  philod. -philo),   und   luHt.  Kl.  54  S. 
39}  191 8.  Der  Name.     Kiu   I>eitra{;  zu  seiner  (Jescbichto  im  Altertum 
und   bcHondera   bei   den   Griechen,   Abb.  der  Sich»,  («ea.  der 
Wias    philol.-bist.  Kl.  XXXVI.  2 


Dmckfertts}  #rkUrt  16. 11,  tofo." 


17* 


Albert  Hauck. 

Von 
Geehakd  Seeligek. 

Eine  erstaunliche  Jugendlichkeit  hatte  sich  Albekt  Hauck 
noch  in  hohen  Lebensjahren  bewahrt.  Wer  die  schlanke 
aufrechte  Gestalt  mit  raschen  elastischen  Schritten  voran- 
schreiten sah,  der  hätte  nicht  ahnen  dürfen,  daß  er  einen 
Zweiundsiebzigjährigen  vor  sich  habe.  Das  Haupthaar  hatte 
die  Farbe  und  die  Fülle  der  Jugend  bewahrt,  das  Gesicht  die 
gesunde  Frische  des  reifen  Mannes.  Nur  die  treue  Sorge  der 
Gattin  bemerkte  in  den  letzten  Monaten  die  ersten  Zeichen 
einer  Ermüdung,  die  Folge  von  leichten  Herzbeschwerden,  die 
der  Gatte  den  Seinen  liebevoll  verschwieg  und  nur  heimlich 
dem  Hausarzt  anvertraute.  Ein  liüchtiger  Ohnmachtsanfall  im 
Kolleg  Ende  Januar  schien  rasch  überwunden  zu  sein.  Aber 
am  29.  März  zwangen  ihn  asthmatische  Beschwerden,  das 
Krankenlager  aufzusuchen.  Noch  schien  Genesung  zu  winken. 
Am  Sonntag  den  7.  April  durfte  er  das  Bett  verlassen,  um 
es  indessen  bald  wieder  aufsuchen  zu  müssen.  Nach  kurzem 
Tode.skampf  verschied  er.  Auf  seinen  Wunsch  hin  fand  die 
Beerdigung  am  ii.Api-il  nur  in  Gegenwart  der  Familienmit- 
glieder und  des  Kollegen  statt,  der  das  geistliche  Geleit  gab. 
Erst  nach  der  Beisetzung  durfte  nach  dem  Willen  des  Ver- 
ewigten die  öffentliche  Anzeige  erscheinen. 

Hauck  hat  glücklich  gelebt,  er  ist  glücklich  gestorben. 
Der  Weltkrieg  hatte  ihn  tief  ergriffen  und  an  seiner  Lebens- 
kraft sjezehrt.  Den  Tod  eines  Sohnes  auf  dem  Schlachtfeld 
konnte  er  innerlicli  nicht  überwinden.  Er  sah  tief  traurig 
hinaus   in   die  Zukunft   unseres  Volkes.    „Uns  Alten   leuchtet 

V!ii1.-bi8t.  Klasse  ioi8.   Bd.  LXX    7.  2 


lg*  Geuhahi)  Rkemuek:  !70' 7 

das  Licht  am  Abend  nicht",  so  schrieb  or  schon  191 7  an 
einen  Freund.  Noch  hat  er  den  furchtl)!iren  Zusammenbruch 
nicht  erleben   müssen.    Er  ist  t;h"icklich  vm   preisen. 

Albert   Uauck    entstammi    einer   alten    Familie    von    Be- 
amten und  Juristen,  die  im  hohenzoUernschen  Kranken  wirk- 
ten   vornehmlich   in  Ansl)ach.    Er  hat  immer  diese  Stadt  als 
seine    eigentliche    Heimat    angesehen,    obschon    er    am   <).  De- 
zember 1845  in  Wassertrüdingen  ails  Sohn  eines  Rechtsanwalts 
geboren    war.     Früh    starb   der  Vater,    die   Familie   zog   nach 
Ansbach,   hier    wuchs   der  Knabe   im   Kreise   der  Geschwister 
htTan  unter  dem  bestimmenden  Einfluß  seiner  Mutter,  in  deren 
,,stillen,  sanften  Weise",   wie  Hauck  später  schrieb,   „ein   un- 
gewöhnlich   großes   Maß    von    Energie   und    Konsequenz,   von 
Bestimmtheit  des  Willens  und  Klarheit  des  Denkens  verbor- 
gen" war.    In  Ansbach   besuchte  er  bis   1864  das  von  stren- 
gem   protestantischem    Geist  geleitete   humanistische  Gymna- 
sium.   Dann  studierte  er   1804— 1868  in   Erlangen,  zwischen- 
durch in  Berlin.    Nach  Abschluß  der  Universitätsstudien  ward 
er   1868  Mitglied  des  Münchener  Predigerseminars,  fand  bald 
als  Vikar  Verwendung,   ward   1871    als  ständiger   Vikar  nach 
Feldkirchen  bei  München  versetzt  und  kam   1874  als  Pfarrer 
in  seine  geliebte  fränkische  Heimat  nach  Frankenheim.    Hier 
crründete   er   1876   eine   eigene  Familie,   die   ihm  Freude  und 
Licht  im   ernsten  arbeitsreichen  Leben  des  Pfarrers  und  des 
Universitätslehrers  war. 

Auch  die  hingebende  Tätigkeit  des  Seelsorgers  hat  ihn 
nicht  gehindert,  wissenschaftliche  Forschung  zu  pflegen.  Ihm 
selbst  galt  seit  seinen  Kinderjahreu  der  Beruf  des  Pfarrers 
als  Ziel  des  Strebeus,  er  hat  die  in  diesem  Beruf  liegende 
praktische  Tätigkeit,  den  sittlichen  Einfluß  und  zugleich  die 
allgemein  liebende  Fürsorge,  die  von  Mensch  zu  Menschen 
geht,  als  sein  höchstes  Ideal  angesehen,  er  hat  sein  ganzes 
Leben  lang'  die  Wirksamkeit  des  protestantischen  Pfarrers 
hoch  eingeschätzt  und  noch  in  späteren  Lebensjahren  seine 
stille  Sehnsucht  jenem  Streben  der  Jugend  zugewendet. 
Aber   er   war  doch  im   Grunde   stets   der  geborene  Forscher 


70,  7]  Alüert  Hauck.-  1 9* 


/ 


und  Mann  der  Wissenschaft.  Schon  beim  Studenten  in 
Erlangen  hatte  man  diesen  wahrsten  Beruf  in  der  Person- 
lichkeit  des  stillen  Jünglings  wahrgenommen  und  seine 
Habilitation  vergebens  gewünscht.  Nachdem  der  Pfarrer  des 
kleinen  Ortes  sein  erstes  wissenschaftliches  Werk  veröffent- 
licht hatte:  TertuUians  Leben  und  Schriften  (1877),  ward 
er  1878  als  a.  o.  Professor  nach  Erlangen  berufen  und  vier 
Jahre  später  mit  dem  Ordinariat  für  Kirchengeschichte  und 
Enzyklopädie  der  Theologie  ausgestattet.  188g  folgte  er  einem 
Ruf  nach  Leipzig.  Unserer  Leipziger  Universität  und  der 
theologischen  Fakultät  blieb  er  treu,  obschon  ihm  1902  der 
verlockende  Antrag  gemacht  wurde,  den  Lehrstuhl  Rankes  in 
der  philosophischen  Fakultät  der  Berliner  Universität  zu  über- 
nehmen. Wiederholt  verwaltete  er  das  Dekanat,  1898/99  lei- 
tete er  als  Rektor  magnificus  die  Geschäfte  der  gesamten 
Universität,  oft  hat  ihm  das  volle  Vertraueu  der  Kollegen  im 
Senat  und  in  Kommissionen  eine  besondere  Wirksamkeit  über- 
tragen. Sein  weiser  Rat,  seine  ruhige  Überlegenheit,  sein 
klares  Urteil,  das  sich  mit  entschlossener  Festigkeit  verband, 
machten  ihn  zu  einem  hochgeachteten  Mitglied  der  Universi- 
tät und  der  weiten  Kollegenschaft. 

Alle  Ehrungen,  die  dem  Gelehrten  großen  Stils  zuzukom- 
men pflegen,  hat  er  erfahren.  Er  wurde  Mitglied  aller  deut- 
schen wissenschaftlichen  Akademien:  unsere  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  wählte  ihn  am  23.  Januar  1891  zu  ihrem  ordent- 
lichen Mitgliede  in  der  historisch-philosophischen  Klasse,  die 
ihn  Ende  1914  zu  ihrem  ersten  Sekretär  bestimmte;  der  Ber- 
liner, Göttinger  und  Münchener  Akademie  der  Wissenschaften 
gehörte  er  als  korrespondierendes  Mitglied  an.  Den  Titel  eines 
Ehrendoktors  der  Theologie  erteilte  ihm  1882  Dorpat,  den  der 
Philosophie  1897  Leipzig,  der  Jurisprudenz  1902  Freiburg  i.  Br. 
Der  Preis,  für  den  alle  fünf  Jahre  eine  preußische  Kommis- 
sion von  neun  Historikern  das  beste  Geschichtswerk  über 
deutsche  Geschichte  vorzuschlagen  hat,  der  zur  Erinnerung 
an  den  Vertrag  von  Verdun  843  sogenannte  Verduupreis, 
wurde  ihm  verliehen. 


20*  (iBKU.VIU)    SKi;LHii;K:  1/*^',  7 

Seine  gewissenhafte  Tiitijjjkeit  im  Kolle«];  und  im  Seminar, 
seiuü  ijorgtaltii:^  ausgearbeiteten  Vorlesungen,  die  die  Icloiiiston 
Fortschritte  der  Forschung  berücksichtigten,  und  seine  (ibun- 
gen,  in  denen  er  mit  methodischer  Schärte  und  (hirch(hingen- 
der  Khirheit  l*robleme  der  Wissenschaft  bospracli,  haben  nicht 
so  ilcn  Anfänger  und  Liebhaber  v.u  fessebi  vermocht,  als  viel- 
mehr den  schon  Aorgebiidetc)!  und  mit  wahrem  wissenschaft- 
lichen Streben  Krfüllten  in  den  wissenschaftlichen  Hetri«^b 
ein/-udringeu  veranlalit. 

Nach  der  einen  Seite  besaß  Ilauck  oü'ejibar  ein  starkes 
Bedürfnis,  unmittelbar  und  rein  persönlich  zu  wirken,  er  hat 
als  Prediger  und  Seelsorger,  als  theologischer  und  historischei 
Lehrer  manch  tiefen  Einfluß  auszuüben  vermocht,  aber  nacli 
der  anderen  Seite  mußte  der  breite  sichtbare  Erfolg  auf  die- 
sem Gebiet  ausbleiben.  Denn  nicht  nur  das  dünne  Organ  stand 
dem  entgegen,  sondern  eine  Zurückhaltung  und  eine  heimliche 
Scheu,  sich  vor  den  andern  zu  erschließen  und  in  den  eigenen 
Quell  an  bedanken  und  Gefühlen  hineinblicken  zu  lassen. 
Eine  Persönlichkeit  von  Schlichtheit  und  Einfachheit,  festge- 
fügt in  ihrer  durchsichtigen  Lauterkeit  des  innersten  Wesens 
wohlwollend,  ja  gütig,  aber  trotzdem  nicht  leicht  zugänglich, 
für  den  Fremden  fast  unnahbar  —  so  zeigte  er  eine  eigen- 
tümliche Verschlossenheit,  die  nicht  auf  dem  Mangel  an  Liebe 
zum  Nächsten,  sondern  auf  einer  gewissen  Keuschheit  der 
Seele  beruht,  die  das  eigene  Innenleben  streng  verhüllt  und 
das  leichte  Geben  von  Person  zu  Person  verhindert.  Haucks 
wahres  Gebiet,  wo  sich  der  ganze  Reichtuöi  seines  Innern 
entfalten  konnte,  war  daher  die  Studierstube,  sein  eigentlich- 
stes Mittel,  mächtig  zu  wirken,  war  das  geschriebene  Wort. 
Hauck  war  durch  und  durch  Gelehrter.  Gewiß  nahm  er  leb- 
haften Anteil  an  dem  gewaltig  vorwärtsdriugenden,  überall 
Neues  suchenden  Leben  dej-  Gegenwart,  er  nahm  verständnis- 
voll Anteil  jJs  protestantischer  Theologe,  als  Mann  des  deut- 
schen Volkes  und  Staates.  Aber  in  die  Kampfarena  hinabzu- 
steigen, wünschte  er  nicht,  daran  hinderte  ihn  seine  scheue 
Gelehrtennatur.    Selbst  wenn  er  in  Woi-t  und  Schrift  sich  zu 


70, 7]  Albert  Haiick.  21* 

einer  die  Gegenwart  bewegenden  politischen  Frage  äußerte, 
wie  zur  Frage  der  Trennung  von  Staat  und  Kirche,  so  ge- 
schah das  von  einer  dem  Parteieifer  entrückten  hohen  Warte 
aus,  ganz  überlegen,  leidenschaftslos,  getragen  vom  Verständ- 
nis für  die  Notwendigkeit  einer  stets  fließenden  Entwicklung. 

Hauck  war  in  allererster  Linie  Historiker.  Wohl  hat  ihn 
innerste  Neigung  zur  Theologie  geführt,  und  wohl  fühlte  er 
sich  stets  als  Theologe.  Er  stand  auf  positivem  Boden.  Er 
wollte  als  echter  „Erlanger"  gelten,  er  hat  diese  Richtung  nie 
verleugnet,  er  hat  sie  als  Grundlage  seines  Lebens  festgehal- 
ten. Aber  obschon  er  ein  festes  Bekennen  und  eine  unerschüt- 
terliche Einordnung  in  das  Kirchentum,  eine  unwandelbare 
Unterordnung  unter  das  ein  für  allemal  feststehende  Dogma 
begehrte,  so  blieb  doch  bei  ihm  stets  der  in  den  reformato- 
rischen Ideen  schlummernde  Subjektivismus  und  der  Freiheits- 
gedanke wirksam.  Konnte  auch  ihm,  dem  dogmenfesten  Theo- 
logen, nicht  alles,  das  Dogmatische  und  Offenbarungsmäßige, 
als  historisch  Menschliches  gelten,  konnte  für  ihn  jene  Dul- 
dung nicht  walten,  die  vom  Menschlich-Beschränkten  und 
Relativen  aller,  auch  der  eigenen  religiösen  Wahrheiten  und 
Glaubenssachen  ausgeht,  so  stellte  er  gleichwohl  alle  histo- 
rischen Erscheinungen  ganz  unter  den  Gesichtspunkt  des 
Wandelbaren.  Sein  Geist  steht  so  vollständig  unter  dem  Bann 
der  Entwicklung,  daß  seine  Geschichtsauffassung  nie  oder 
fast  nie  eine  bestimmte  konfessionelle  Bindung  zeigt.  Er  war 
und  blieb  in  seiner  geschichtlichen  Forschung  frei. 

Zwei  Werke  bilden  sein  großes  wissenschaftliches  Ver- 
mächtnis: die  Enzyklopädie  und  die  Kirchengeschichte  D^eutsch- 
lands. 

Als  jungen  Erlanger  Professor  haben  ihn  Herzog  und 
Plitt  für  die  Mitherausgabe  der  2.  Auflage  des  Sammelwerkes 
„Realen zyklopädie  der  theologischen  Wissenschaften"  gewon- 
nen. Zuerst  wirkte  er  neben  den  beiden,  nach  deren  Tod,  seit 
1883,  als  alleiniger  Herausgeber.  Die  3.  Auflage,  deren  i.Band 
i8q6  und  deren  letzter,  der  24.,  191 3  erschien,  hat  er  allein 
besorgt  und  ihr  vielfach   ein  neues  Gepräge  verliehen.    Von 


22*  '        Gerhard  Skki.kjku:  [70.7 

ihm  selbst  rühren  »»twa  vierhundert  Heiträge  her:  unerwartet 
droheuile  Lückon  wurden  von  ihm  ;uiS}Tefüllt  und  unum- 
giinglich  neue  Bearbeituntjon  rasch  vorgenommen.  Während 
der  Beirründer  der  Enzyklopädie  IIkrzoo  d:ia  Ebenmiiß  des 
Ganzen  vornehmlich  in  der  Gleichartigkeit  des  theologischen 
Standpunktes  <l»*r  Verfasser  sah,  hat  Hauck  sich  von  diesem 
noch  in  der  2.  Auflage  wesentlich  herrschenden  Gesichtspunkt 
gelöst  und  von  Band  zu  Band  die  Einheit  ausschließlich  in 
dem  wissenschaftlichen  Wert  der  Einzelartikel  gesucht.  Er 
befürchtete  für  die  Kirche  von  der  freien  Forschung  keine 
Einbuße.  Er  glaubte  trotz  seines  eigenen  strengen  lutherischen 
Standpunktes  auf  dem  Gebiet  der  Wissenschaft  allen  die  Wahr- 
heit Suchenden  das  Tor  öffnen  zu  sollen.  Denn,  so  erklärte 
er,  „die  echte  Wissenschaft  zerstört  nicht,  sondern  sie  erbaut". 
In  der  Enzyklopädie  aber  ist  nicht  nur  das  theologische,  son- 
dern ein  reiches  historisches  Material  gesammelt,  sie  ist  ein 
grundlegendes,  wegweisendes  Nachschlagewerk  auch  für  die 
weite  historische  Forschung. 

Zur  vollen  Höhe  des  produktiven  Gelehrten,  zur  Meister- 
schaft als  Geschichtsforscher  und  Geschichtsdarsteller  ist 
Hauck  erst  emporgestiegen  durch  seine  Kirchengeschicbte 
DeutscUands.  Geplant  war  eine  Kirchengeschichte,  auf  weiter 
selbständiger  Forschung  aufgebaut,  eine  Kirchengeschichte, 
die  dem  tiefer  gebildeten  Nichtfachmann  Aufklärung  und  zu- 
gleich dem  gelehrten  Historiker  neue  Richtlinien  und  An- 
regungeu  bieten  sollte.  Das  tiefgründige  Werk  Rettbergs, 
das  Schätze  von  Gelehrsamkeit  und  Scharfsinn  barg,  aber 
durch  die  ausgedehnte  Einzelkritik  die  Geschlossenheit  und 
Übersicht  des  Ganzen  verloren  hatte  und  im  Material  erstickt 
war,  sollte  erneuert  und  fortgesetzt  werden.  Hauck  hat  von 
vornherein  mit  klarer  Bestimmtheit  die  festen  Richtlinien  ge- 
zogen und  sie  stets  streng  eingehalten.  So  schuf  er  ein  Werk, 
das  die  gesamte  Entwicklung  in  großen  Linien  führte,  das 
aber  zugleich  das  Charakteristische  der  Einzelerscheinung  be- 
achtete und  wirklich  geschichtliches  Leben  zeichnete,  ein 
Werk,  das  auf  sorgsamster  Einzelforschung  beruhte  und  dem 


/o,  7]  Albert  Hauck.  23* 

wißsenschaftlicheD  Historiker  die  quellenmäßige  Begründung 
darbot,  das  aber  dabei  die  Bildung  des  Ganzen  und  den  künst- 
lerischen Aufbau  der  Darstellung  niemals  vermissen  ließ. 

Der  Kirchengeschichte  Deutschlands  hat  Hauck  sein  arbeits- 
freudiges Leben  bis  ans  Ende  gewidmet.  Ihr  war  die  Erlanger 
Antrittsvorlesung  vorausgegangen:  Die  Bischofswahlen  unter 
den  Merowingern  (1883),  die  den  Übergang  von  der  engeren 
theologisch  gerichteten  Historie  zur  Kirchenofeschichte  mit 
ihren  weiten  Verbindungen  der  politischen  und  Kulturgeschichte 
eröffnete,  die  zugleich  den  ersten  Vorläufer  des  großen  Lebens- 
werkes bildete.  Mit  eisernem  Eifer  und  mit  einer  erstaunlichen, 
nie  erlahmenden  Zusammenfassung  aller  Kräfte  widmete  sich 
Hauck  der  einen  großen  Aufgabe.  Wohl  beschäftigte  ihn, 
den  weitschauenden  Geist,  auch  anderes.  Hatte  er  doch  von 
Jugend  auf  starke  künstlerische  Neigungen:  er  zeichnete  und 
malte,  er  übte  diese  Kunst  in  häuslichen  Mußestunden  aus. 
Er  hatte  tiefes  Kunstvei-ständnis  und  ausgebreitete  Kenntnisse 
auf  dem  Gebiet  der  älteren  kirchlichen  Kunstgeschichte.  Er 
las  über  diese  Gegenstände  und  führte  mit  besonderer  Liebe 
die  Studierenden  in  diese  Sonderdisziplinen  ein.  Die  kirchlich- 
archäologische Sammlung  der  Universität  hat  er  zu  einer 
eicrenartigen  Musteranstalt  erhoben,  die  nicht  nur  dem  Unter- 
rieht,  sondern  auch  der  Forschung  dient.  Und  er  selbst  hat 
das  Ergebnis  seiner  Studien  wohl  auch  in  verschiedenen 
Einzelabhandlungen  niedergelegt.  Aber  zu  einer  größeren 
zusammenfassenden  kunsthistorischen  Veröffentlichung  kam  er 
nicht.    Dazu  ließ  ihm  die  Kirchengeschichte  keine  Zeit. 

Unter  den  Monographien,  die  regelmäßig  einem  neuen 
Band  der  Kirchengeschichte  vorangingen,  haben  manche  ihren 
selbständigen  Wert  auch  nach  dem  Erscheinen  der  zusammen- 
fassenden Darstellung  bewahrt  und  werden  ihre  Wichtigkeit 
behalten.  Denn  alle  forderten  wesentlich  die  Forschung,  alle 
sind  ungemein  feinsinnig,  elegant  und  scharf  geführt,  im  Stile 
der  vollausgebildeten  kritischen  Geschichtsforschung.  Manche, 
wie  die  über  den  Gedanken  der  päpstlichen  Weltherrschaft 
bis  auf  Bonifaz  VIU.   oder  „Deutschland  und  die  päpstliche 


24*  »iKKiiAHii  Skkmgkk:  !7t>»7 

WeltherrschatL"   vt'rfulj;;eii    in    großen  Zus:imiiM'uli;in"j,oii   \v(Mte 
ideongesi'hiohtlich«'  und  politische  Entwicklungen,  iin<l(Te,  wie 
die  Aul'sätze    über  „Die   Rezeption  und   Umbildung  der  :dlge- 
rneiuen  Synode  im  Mittelalter"  oder  „Studien  zu  Johann  lluli" 
sind  mehr  kritisch  gerichtet.    In  der  einen  werden  die  allge- 
meinen Konzile  durch  die  dalirliunderte  verfolgt  und  das  Er- 
wachen jener  allgemeinen  Konzilsidee,  die  eine  Teilnahme  der 
Laien  fordert,  auf  die  Vertiefung  und  Verallgemeinerung  des 
Kirchenbe<'-riüs  im   i  2.  Jahrhundert  zurückgeführt.    Die  andere 
schließt  sich  LosERTliS   überraschendem  Ergebnis  an,  daß  die 
neue  tschechische  Kirchenlehre  in  allem  Wesentlichen  wörtlich 
den  Schriften  AViclifs  entnommen  ist,  sie  bietet  eine  ungemein 
feine  Analyse  von  Hussens  kirchlich-dogmatisclien  und  kirch- 
lich-politischen Ansichten  in  ihrer  merkwürdig  schwankenden 
Entwicklung,    sie    zeichnet    das   Bild   des   Gottesstreiters  und 
tschechischen  Volksmannes,  der  unerschrockenen  Mut  und  un- 
widerstehliche Kraft  besaß,  aber  bei  seinem  überstarken  Selbst 
«■efühl  und  einem  hervorstechenden,  agitatorischen,  alles  über- 
wuchernden  nationalen  Streben  nicht  zur  reinen  Größe  des  un- 
bestechlichen   Kämpfers    für  Wahrheit    und   Christentum    ge- 
lano-en  konnte.    Diese  Abhandlung  war  der  letzte  literarische 
Niederschlag  von  Haucks  emsiger  historischer  Forscherarbeit. 

Inzwischen  w^ar  die  Kircheugeschichte  fortgesetzt,  geför- 
dert und  dem  Abschluß  näher  gebracht  worden. 

1887  war  der  i.  Band  erschienen,  der  mit  dem  Tode 
Bonifaz'  schloß,  schon  1889  der  2.,  der  die  karolingische  Zeit 
umfaßt,  1893  und  96  die  beiden  Hälften  des  3.  Bandes  mit 
ihrer  Darstellung  des  Ottonischen  und  Salischen  Zeitalters, 
1902  und  1903  die  beiden  Hälften  des  4.  Bandes,  der  die 
Entwicklung  bis  zum  Tode  Friedrichs  IL  betrachtet  und  end- 
lich 191 1  die  erste  Hälfte  des  5.  Bandes,  die  das  spätere 
Mittelalter  zu  behandeln  beginnt  und  bis  1347  reicht.  Die 
zweite  Hälfte  des  Bandes  liegt  im  Manuskript  fast  völlig 
druckfertig  vor  und  wird  alsbald  von  pietätvoller  Hand  ver- 
öffentlicht werden.  Sie  wird  das  äußere  und  innere  Leben  der 
Kirche  bis  o-egen  Mitte  des   15.  Jahrhunderts  beleuchten,  bis 


70,7]  Albert  Hauck.  25* 

zu  dem  Punkt,  wo  die  alten  Grundlagen  des  Mittelalters  zu 
wanken,  wo  der  vordringende  Humanismus  und  die  neuen 
Volkswünsche  den  alten  Bau  des  katholischen  Kirchentums 
in  Deutschland  zu  erschüttern  und  eine  andere  kirchliche 
Grundlage  zu  fördern  beginnen  Ein  wirklicher  Abschluß  ist 
leider  nicht  gewonnen. 

So  ist  auch  dieses  monumentale  Werk  ein  Torso  o-e- 
blieben.  Wir  stehen  vor  einem  herrlichen  Bau,  an  dem  die 
vollendenden  Schlußgiebel  fehlen.  Und  niemand  vermöchte 
den  6.  Band,  der  die  Darstellung  bis  zur  Reformation  führen 
sollte,  an  Haucks  Stelle  zu  schreiben.  Denn  diese  Kirchen- 
geschichte trägt  ein  einzigartiges,  ihr  allein  eigentümliches 
Gepräge.  Sie  ist  einerseits  die  absolut  objektive  Arbeit  des 
mhig  abwägenden  Historikers,  sie  ist  anderseits  das  Subjek- 
tivste, das  man  sich  denken  kann.  Sie  ist  streng  objektiv, 
denn  die  gesamte  Forschung  beruht  auf  der  klaren,  scharf- 
sinnigen und  nüchternen  Verwertung  der  Quellen.  Hauck  ist 
frei  von  jeder  Tendenz,  er  forscht  und  schreibt  nie  als  Partei- 
mann, er  läßt  sich  von  keinem  bestimmten  konfessionellen 
oder  politischen  Gesichtspunkt  leiten,  er  ist  in  seiner  Forschung 
weder  Protestant  noch  deutsch-national,  er  ist  Historiker. 

Aber  der  Historiker  muß  über  das,  was  schlechthin  der 
Interpretation  der  Quellen  zu  entnehmen  ist,  weit  hinausgehen. 
Er  muß  das  Wachsen  und  Wogen  der  kämpfenden  Kräfte 
aus  den  Grundvoraussetzungen  der  geistigen  und  wirtschaft- 
lichen Mächte,  der  Personen  und  der  allgemeinen  Faktoren 
erklären,  charakterisieren,  bewerten.  Und  dabei  wird  natur- 
gemäß leicht  ein  persönliches  Moment  des  Verfassers  wirksam 
sein.  Auch  wenn  ein  bestimmter  nationaler  oder  kirchlicher 
und  politischer  Standpunkt  vermieden  bleibt.  Das  subjektive 
Moment  der  wissenschaftlichen  Persönlichkeit  waltet  immer. 
Gewiß  kennt  auch  hier  die  Wissenschaft  nur  ein  „richtio-" 
oder  „unrichtig".  Es  gibt  nur  ein  Ergebnis  der  Wahrheit. 
Diese  sucht  der  Historiker  zu  erringen  und  selbst  unter  dem 
ausdrücklichen  Verzicht  auf  Klarheit  und  Bestimmtheit  in 
manchen  Fällen  zu  gewinnen. 


26*  (iKUHAun  SiiKi.K.Ku:  |7<J.  7 

Schwii-rig  ist  bei  dieser  letzten  unci  ii(»i'li8toii  Arbeit  des 
Forschers  und  Darstellers  die  Überwindung"  des  eigenen  Indi- 
viduellen, das  den  Weg  zur  ^^  nhrheit  verlegen  kann.  ISie 
muß  versueht  werden.  (Jeradc  der  Historiker  aber,  der  die 
besten  geistigen  Voraussetzungen  l'ür  die  liöchsteu  Aufgaben 
besitzt,  wird  zugleich  den  größten  (Jeiahren  der  Wissenschaft 
liehen  Subjektivität  entgegengehen  —  nichl  im  Sinne  einer 
bestimmten  Tendenz,  sondern  in  dem  Sinn,  d;iß  er  das  Er- 
kennen uncli  da  für  siclier  liält,  wo  keine  Sicherheit  zu  ge- 
winnen ist.  ^^'ird  überall  volle  Klarheit  und  Restininitheit 
verlangt,  ist  zugleich  die  Fähigkeit  gegeben,  das  Lebensvoll- 
Wirkliche  der  Vergangenheit  voll  zu  erfassen  und  zu  zeich- 
nen, dann,  gerade  dann  tritt  diese  Gefahr  der  wissenschaft- 
lichen Subjektivität  auf  Das  war  bei  Hauck  der  Fall.  Besaß 
er  doch  eine  glänzende  Gabe,  entschwundene  Zeiten  und  füh- 
rende Persönlichkeiten  lebensvoll  zu  erkennen  und  darzustel- 
len, war  er  doch  von  einer  Schärfe  der  Auffassung,  die  sich 
nur  auf  Selbsterkauntes  stützte,  von  einer  Selbständigkeit 
des  Urteils,  das  sich  nie  an  Herkömmliches  anschmiegte,  wollte 
er  doch  eine  fest  umrissene  Charakteristik  von  Personen  und 
Zuständen  entwerfen,  die  nichts  Schwankendes  und  Nebel- 
haftt'S  duldete.  Nichts  aber  ist  verkehrter,  als  deshalb  die 
Zuverlässigkeit  seiner  Forschung  zu  bezweifeln.  Hauck,  dieser 
Mann  der  peinlichsten  Ordnung  im  Kleinsten,  dieser  gewissen- 
hafte Sucher  der  Wahrheit,  bleibt  immer  der  sorgsamste,  die 
Quellen  befragende  Historiker,  unbestechlich,  wahrhaftig,  im 
ganzen  Denken  echt  historisch.  Aber  sein  Bedürfnis  nach 
Klarheit  und  Geschlossenheit  und  dazu  die  Wirksamkeit  einer 
schöpferischen  Phantasie  ließen  ihn  manches  bestimmt  sagen, 
WtiS  anfechtliar  oder  zweifelhaft  i.st.  Die  starke  wissenschaft- 
liche Persönlichkeit  schuf  einen  starken,  über  das  Künstlerische 
der  Dai-stellung  hinausgehenden  Subjektivismus. 

Zwei  Vorzüge  der  Hauckschen  Darstellung  wurden  seit 
dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes  mit  Recht  als  bedeutsam 
empfunden:  die  Schilderungen  der  Persönlichkeiten  und  die 
Schilderungen    der  allgemeinen,   vielfach   das  Volk   selbst  er- 


70i  7]  Albert  Hauck.  27* 

greifenden  Zeitströmungen.  In  seiner  ungemein  sehlichten, 
äußeren  Glanz  und  Schwung  versehmähenden,  knappen,  rein 
sachlichen,  dabei  von  allgemeinen  Gedanken  durchleuchteten 
und  eigentümlich  sentenzreichen  Sprache  entwirft  Hauck  Cha- 
rakterbilder der  einzelnen  Persönlichkeiten,  besonders  der 
Kaiser  und  Päpste,  Charakterbilder  von  packender  Lebendig- 
keit, durchaus  eigenartig  und  immer  fesselnd,  obschon  in 
ihrer  mitunter  überraschenden  Neuheit  nicht  immer  schlecht- 
hin überzeugend.  Und  die  Bilder,  die  er  von  der  Entwick- 
lung der  Religiosität  und  Sittlichkeit,  von  kirchlichen  Ideen, 
von  der  theologischen  Gedankenwelt  bietet,  zeichnen  sich 
durch  eine  bisher  ungeahnte  Feinheit  und  Tiefe  aus,  sie  sind 
vielleicht  die  ersten  wissenschaftlich  begründeten  Darstellungen 
dieser  Art  auf  dem  Gebiet  des  Mittelalters  und  als  grund- 
legende Beiträge  zur  Entwicklung  der  deutschen  Volkspsyche 
anzusehen. 

Überall  greift  Hauck  weit  über  das  eigentlich  Kirchliche 
hinaus  und  berührt  nach  allen  Seiten  hin  die  Geschichte  der 
politischen  Entwicklung,  der  gesellschaftlichen  Organisation 
mannigfacher  Art,  der  materiellen  und  besonders  der  geistigen 
Kultur  überhaupt.  Wahrlich,  der  theologische  Verfasser  der 
Kirchengeschichte  hat  sich  als  ein  „Doctor  philosophiae"  und 
als  ein  „Doctor  juris  utriusque"  bewährt:  ihm  kamen  diese 
Ehrentitel  mit  vollem  Recht  zu. 

Haucks  Kirchengeschichte  ist  ein  Werk  von  bleibendem 
Wert.  Es  gehört  zu  den  klassischen  G es chichts werken  imserer 
Literatur.  Hauck  ist  nicht  Bahnbrecher,  er  ist  Wahrer  und 
Vollender.  Er  wiU  nicht  neue  Methoden  der  Forschung  an- 
wenden,  sondern  nur  die  bewährten  handhaben.  Er  blendete 
nicht,  er  verkündete  seine  Ansichten  nicht  als  erstaunliche 
Neuheit.  Aber  er  verbreitete  neues  Licht  und  neue  Wärme. 
Er  woUte  nur  die  Wege  Rankes  wandeln,  seines  Berliner 
Lehrers,  den  er  unbegrenzt  verehrte,  den  er  als  den  größten 
Mann  zu  bezeichnen  pflegte,  der  ihm  im  Leben  begegnet  sei. 
Sein  höchstes  Ziel  war,  ein  Werk  im  Sinne  Rankes  zu  schrei- 
ben: über  seiner  Kirchengeschichte  schwebt  in  der  Tat  Rankes 


:8*  <Jkuiiakd  8KEi>i(ii;it:       •  l7^«7 

ahgekliirtcr  historischer  <i(isl.  Aber  «t  ii;vhi  üht'v  IJanke 
hinaus. 

In  riiuMH  Zeitalter,  da  «lii-  (Jcsflnchtswissonscliuft  alto 
Kiehtuii^on  v.u  verwerfen  strebte,  da  Neuerer  auf  neuen  Bah- 
nen in  Unrast  einherjagten,  ihren  eigenen  Ruhm  virkündeten, 
das  Alte  vielfach  entstellten  und  sehmähten,  ging  Ilauck,  un- 
beküuunert  um  den  Lärm,  ruhig  seinen  Weg  weiter:  forschte 
und  schrieb.  Er  erhol)  nie  den  Anspruch,  ein  Neuerer  zu  sein, 
er  ging  überhaupt  nicht  darauf  aus.  Neues  zu  bieten,  aber  er 
entdeckte  auf  seinem  stillen  Forscherweg  viel,  sehr  viel  des 
Neuen.  Und  er  faßte  die  Aufgabe  der  Cieschichtschreibung  in 
einer  Weite  und  Tiefe,  die  das  Herkömmliche  hinter  sich  ließ. 
Er  nahm  nie  teil  an  den  stürmischen  Hufen  nach  einer  all- 
gemeinen Reform  der  Geschichtswissenschaft,  nach  eineiu 
Hinausgehen  über  Personen-  und  politische  Geschichte,  nach 
einem  Zusammenfassen  zur  allgemeinen  Kulturgeschichte,  er 
stand  scheinbar  ganz  abseits,  ein  Vertreter  des  Alten.  Und 
doch  hat  er  einen  entscheidenden  Schritt  nach  vorwärts  ge- 
tan. Er  hat  das  Widerspiel  individueller  und  kollektiver 
Kräfte  in  der  historischen  Entwicklung,  er  hat  die  Einheit 
und  den  Zusammenhang  der  mannigfachen  historischen  Bil- 
dungen zu  erfassen  cresucht,  er  hat  von  der  Geschichte  der 
Kirche  aus,  die  ja  im  Mittelalter  den  Mittelpunkt  des  ge- 
schichtlichen Lebens  überhaupt  bildete,  tiefsinnig  Kultur- 
geschichte im  wahren  Sinne  geschrieben  und  das  erfolgreich 
getan,  was  manche  bewußte  Reformer  nicht  zu  erreichen 
vermochten. 

Der  stille  Gelehrte,  der  nie  nach  dem  Erfolg  fragte,  hat 
Unvergängliches  geschaffen.  Ein  Mann  von  großer  Schlicht- 
heit und  zugleich  von  schlichter  Größe. 


( 


70,  7j  AliBERT   HaUCK.  2Q* 

Anhang. 
Hancks  Schriften. 

Tertallians  Leben  und  Schriften.    Srl&ngen  1877. 

Die  Entstehung  des  Christustypus  in  der  abendländischen  Kunst.  Heidel- 
berg i83o  (Sammlung  von  Vorträgen  III,  2). 
Real-Encyklopädie  für  protestantische  Theologie  und  Kirche,  in  zweiter 
durchgängig  verbesserter  und  vermehrter  Auflage  herausgegeben  von 
J.  J.  Hkrzog,   G.  L.  Plitt  und  A.  Hauck.    Bd.  8  ff .    Leipzig  1881  ff., 
von  Bd.  12,  1883,  an  bis  Bd.  18,  18S8,  allein  fortgeführt  von  A.  Hauck. 
Vittoria  Colonna.    Heidelb.  1882  (Sammlung  von  Vorträgen  VII,  2). 
Die  Bischofsvp^ahlen  unter  den  Merowingern.   Erlangen  1883. 
Prof.  Dr.  H.  Schmid,    Lehrbuch    cfer   Dogmengeschichte.    4.  Aufl.  neu- 
bearbeitet von  Hauck.    Nördlingen  1887. 
Zur  Missionsgeschichte  Oberfrankens  (Blätter  für  bayerische  Kirchen- 
geschichte 1888). 
Kirchengeschichte  Deutschlands.    Bd.  i — 5».     1—4.  Aufl.    Leipzig  1887 

bis  1910. 
Die  Entstehung  der  bischöflichen  Fürstenmacht  (Leipzigei  Universitäts- 
programm zur  Feier  des  Reformationsfestes)  1891. 
Die  Erklärung  von  Ekkehards    casus   S.  Galli    c.  87   (Festschrift  zum 

deutschen  Historikertage  in  Leipzig.    Ostern  1894). 
Real-Encyklopädie  für  protestantische  Theologie  und  Kirche.    3.  Aufl. 
herausgeg.  von  A.  Hauck.     22  Bände  und   2  Ergänzungsb.    Leipzig 
1896— 1913. 
Der  Kampf  um  die  Gewissensfreiheit.    (Hochschulvorträge  für  Jeder- 
mann.   Heft  6.)   Leipzig  1898. 
Friedrich  Barbarossa    als  Kirchenpolitiker.     (Leipziger  Rektoratsrede.) 

Leipzig  1898. 
Über  die  Exkommunikation   Philipps   v.  Schwaben   (Berichte  über  die 
Verhandlungen  der  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissenschaften  56/3).    Leip- 
zig 1904. 
Der   Gedanke    der   päpstlichen    Weltherrschaft   bis    auf  Bonifaz  VUI. 
(üniversitätsprogramm    zur   Feier  des  Reformationsfestes).     Leipzig 
1904. 
Worte  zum  Gedächtnis  an  Oskar  von  Gebhardt.   Gesprochen  am  14.  Nov. 
1906  (Berichte  der  Kgl.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  1906).    Leipzig. 
Die  Rezeption  und  Umbildung  der  allgemeinen  Synode  im  Mittelalter 

(Historische  Vierteljahrscbrift  Bd.  10).    Leipzig  1907. 
Die   angeblichen  Mainzer  Statuten  von  1261  und  die  Mainzer  Synoden 
des    12.   und    13.  Jahrhunderts.     (Theolog.  Studien,    Th.  Zahn    zum 
10.  Okt.  1908  dargebracht.)    Leipzig  1908. 


30*  (Jeuiiaui»  Skki.iuki::   Amikim'  IJauck.  l70,  7 

Die    EntHteliuni^'    der    ;;oisUichen   Territorit'ii   (Alihandluugeri    iler   Kgl. 

Sachs.  (Jpsellsch.  d.  WisspiiHch.  27).    Leii)/.ip   i90<). 
Deutschland   und  die  päpstliche   Wcltherrschart  (Universitütsprogramin 

zur  Feier  des  Reform iitionsl'estoa).    Leipzig   lyio. 
Kleinigkeiten  I:  Zu  Mechthild  von  Magdeburg  (Th.  Briegers  Zeitschrift 

für  Kirchengeschichte  32).    Leipzig  loii. 
Die  Trennung  von  Staat  und   Kirche.    Ein  Vortrag.    Leipzig   ifji2. 
Gedächtnisrede  am  Sarge  des  l^rofessor  DI)r.  Theodor  lirieger,  geh.  am 

II.  Juni   1015.  0.  0.  u.  .1.    (Leipzig   1915). 
Studien  zu  Johann  Huss  (Universitiltsprograinm  zuj  Feier  des  Reforma- 
tionsfestes).   Leipzig  1916. 
Evangelische    Miesion    und    deutsches    Christentum  (Flugschriften    der 

deutschen  evangelischen  Missionshilfe.    Heft  4).    Gütersloh   1916. 
Deutschland  und  England  in  ihren  kirchlichen  Beziehungen.   Acht  Vor- 
lesungen   im    Oktober    1916    an    der    Universität  Upsala    gehalten. 

Leipzig  19 17. 
Apologetik  der  alten  Kirche.    Leipzig  19 18. 
Die  Reformation   in   ihrer  Wirkung  auf  das  Leben.     Sechs  Volkshoch- 

schuivorträge.    Leipzig  191 8. 


9 

Drucki'enig  erklärt  i6.  IL  1919.] 


Ordentliche  einheimische  Mitglieder  der  philologisch- 
historischen Klasse. 

Geheimer  Hofrat  Eduard  Sievers  in  Leipzig;  Sekretär  der  philol.- 

histor.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres  1920. 
Geheimer    Hofrat    Richard    Heime    in    Leipzig,    stellvertretender 

Sekretär  der  philol.-histor.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres  1920. 
Geheimer  Hofi-at  Erich  BetJie  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Erich  Brandenhurf/  in  Leipzig. 
Geheimer  Eat  Friedrich  Kart  Bnigmann  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Karl  Bücher  in  Leipzig. 
Professor  Angtist  Gonrady  in  Leipzig. 
Professor  Berthold  DelhrücJc  in  Jena. 
Geheimer  Hofrat  August  Fischer  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Max  Förster  in  Leipzig. 
Geheimer  Rat  Georg  Göts  in  Jena. 
Geheimer  Hofrat  Alfred  Körte  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Albert  Köster  in  Leipzig. 
Professor  Paul  Koschaicer  in  Leipzig. 
Geheimer  Hof  rat  Johannes  Kromayer  in  Leipzig. 
Geheimer  Rat  Hermami  Lipsius  in  Leipzig. 
Geheimer  Rat  Ludwig   Mittds  in  Leipzig. 
Studienrat  Eugen  Mogk  in  Leipzig. 
Professor  Matthias  Murko  in  Leipzig. 
Geheimer  Regierungsrat  Joseph  Fartsch  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofi-at    Wilhelm  Boscher  in  Dresden.  ^ 

Geheimer  Hofrat  August  Schmarsow  in  Leipzig. 
Geheüncr  Hofrat  Richard  Schmidt  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Gerhard  Seeliger  in  Leipzig. 
Geheime)-  Rat  Wolde^nar  von  Seidlits  in  Dresden. 
Geheimer  Hofrat  Georg  Steindorff'  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofi'at   Wilhelm  SUeda  in  Leipzig. 
Geheimer  Rat  Frans  Studniczku  in  Leipzig. 
Professor  Uaris  Stumme  in  Leipzig. 

1919.  a 


]|  Mitoi.ikdkk-Vkmxkiciirin 

ricbeimor  Rat   Grotß  Tmi   in   nrt>>d('M. 

(lehoiiner  Hofrat  -Johannes    Volhdl  in    Leipzig. 

Oebeinior  Hut    K<irl   Wocrnunw  in  Dresden. 

•  teheimer  Hofrat  llrinriih   Znmt\nn   in   ljpii)'/.ig. 


Frühere  ordentliche  eiiiheiuuHclie,  gej^enwärtijj;  ttuswärtigt 
Mitgliedor  der  philoloj^iscli-historischen   Klasse. 

Gebeimer  Hofrat  Lnjo  Brentano  in  ^lüncben. 
Geheimer  Rej^ierungsrat  Friedriclt  Delifzseh   in   Bf^rlin. 
Gebeimer  Hofrat  Fruilrieh  Kluge  in  Preibiirg  i.  B. 
Gebeimer  Regierungsrat  Friedrich  Marx  in  Bonn. 
Gebeinior  Rat  Frieli  Mitrcls  in  München. 
Professor   Ulrich    ^V>lcken  in  Berlin. 


Ordentliche  einheimische  Mitglieder  der  mathematisch- 
physischen  Klasse. 

Geheimer  Hofrat   f)tto  IJölder   in  Leipzig,    Sekretär   der  mathem.- 

phys.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres   iQ^Q- 
Gebeimer  Regieningsrat  Fritz  JRinne  in  Leipzig,   stellvertretender 

Sekretär  der  matbem.-pbys.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres  IQIQ. 
Geheimer  Bers:ra,t  Richard  Beck  in  J'^reiberg  i.  Sa. 
Gebeimer  Hofrat    Wilhelm  Biedermann  in  Jena. 
Geheimer  Medizinalrat  Ihidolf  Böhm  in  Leipzig. 
Geheimer  Hofrat  Heinrich  Brxms  in  Leipzig. 
Gebeimer  Hofrat  Theodor  Des  Coudres  in  Leipzig. 
Gebeimer  Rat  Oslcar  Drude  in  Dresden. 
Gebeimer  Rat  Wilhelm  Ellenberger  in  Dresden. 
Gebeimer  Rat  Faul  Flechsig  in  Leipzig. 
Gebeimer  Hofrat  Fritz  Foersfer  in  Dresden. 
Profpssor  Siegfried  Garten  in  Leipzig. 
Gebeimer  Hofrat   Wilhelm  Hallwachs  in  Dresden 
Geheimer  Hofrat  Arthur  Hantzsch  in  Leipzig. 
Professor  Hrns  Held  in  Leipzig. 
Professor  Gustav  Herglotz  in  Leipzig. 
Gebeimer  Hofrat  Ludteig  Enorr  in  Jena. 
Geheimer  Bergrat  Franz  Kossmat  in  Leipzig. 


iVllTULlKUEI^-VRHZBICaHlS.  111 

Geheimer  Rat  Mariin  Krause  in  Dresden. 

Geheimer  Hofrat  Max  Le  Blanc  in  Leipzig. 

Professor  Eobert  Luther  in  Dresden. 

Geheimer  Rat  FeUx  Marcfnind  in  Leipzig. 

Professor  Johannes  Meisenhelmer  in  Leipzig. 

Geheimer  Rat  Carl  Neumann  in  Leipzig. 

Professor  Arthur  c.  Octiingen  in  Leipzig. 

Geheimer  Hofrat   Wilhelm  Ostivald  in  Groß-Bothen. 

Geheimer  Hofrat  Karl  Paal  in  Leipzig. 

Geheimer  Rat    Wilhelm  Pfeffer  in  Leipzig. 

Geheimer  Hoft-at  Karl  Hohn  in  Leipzig. 

Professor  Max  Siegfried  in  Leipzig. 

Professor  Ernst  Stahl  in  Jena. 

Geheimer  Rat  Johannes  Tlimnae  in  Jena. 

Geheimer  Hofrat  Otto   Wiener  in  Leipzig. 

Wii-klicher  Geheimer  Rat  Exzellenz    Wilhelm   Wundt  in  Leipzig. 


Außerordeutliche  Mitglieder  der  mathematisch-physiscibieB 

Klasse. 

Professor  Johamies  Felix  in  Leipzig. 
Professor  Hans  Stobhe  in  Leipzig. 


Frühere  ordentliche  einheimische,  gegenwärtig  auswärtige 
Mitglieder  der  mathematisch-physischen  Klasse. 

Geheimer  Hofrat  Ernst  Bechmann  in  Berlin. 
Geheimer  Hofrat  Vilhelm  Bjerknes  in  Christiania. 
Professor  Friedrich  E^igel  in  Gießen. 
Geheimer  Regiertmgsrat  FeUx  Klein  in   Göttingen. 


Archivar : 
Julius  Erich  Schröter  in  Leipzig. 


IV. 


^iroi<iKi>i';K-\  KRZKicum». 


Verstorbene  Mitglie<ler. 

Ehrenmitgliodor. 

Falk e)},<f ein y  Joho>iv   Pattl  von.   1882. 
Gnbcr,  Carl  Frioiruli  ro)}.    1891. 
Sei/drwiis,  Kurt  Damm  Paul  van.   U)io, 
Wiciersheim,  Karl  Atwusft    Wühdm  Kduard  ron, 


1803. 


l*hilologisch-his 

AJbrechi,  IJdvard.    1876. 
Anituon,  C}iri'ito2)h  Friedrkh  von, 

1850. 
Beck.er,   Wühelw  Adolf,   1846. 
Berger,  Htigo,  1904. 
BircJi-HirscJifeJd,  Adolf,  191 7. 
Böhtlxngli.  Otto.    1904. 
BrockJmus,  Hernumn,   1877. 
Bursian,  Conrad,   1883. 
Ourtius,  Georg.   1885. 
Droysen,  JoMnn  Gustav,    1884. 
Ebers,  Georg,   1898. 
Ebert,  Adolf,   1890. 
Flecl-eiseth  Alfred,   1899. 
Fleischer,  Heinr.  Lcberedd,  1888. 
FliigeJ,  Ghistav,   1870. 
Franke,  Friedridi,   187 1. 
Gabdenü,  Hans  Cono-n  von  der. 
1874. 

Gabdentg,    Hans    Georg    Corton 
von  der,   1893. 

Gebliardt,  Oscar  von,   1906. 

Gdne^-,  Hdnrich,   1906. 

Gersdorf,  Ernst  Gotthdf,    1874. 

Gattung,  Carl,   1869. 

Giitsdimid,  Hermann  Alfred  von, 
1887. 

Höwe?,  Gustav,   1878. 

Hand,  Ferdinand,   1851. 

Hartenstein,  Ghisfav,   1890. 


torisclie  Klasse. 

Ha^'sr,    Friedridi   Christian  Au- 
gust.   1848. 
Hauch,  Albert,  1918. 
Haupt,  Moritz,   1874. 
Hdnrici,  Gemg,   1915. 
Hcinse,  Max,    1909. 
Hermann,  Gottfried,    1848. 
Hirzd,  Budolf,  191 7. 
Hulfsch,  Friedrich,   1906. 
Jacobs,  Friedrich.    1847. 
JflJw.  Otto,    1869. 
Janitsdidx,  Hubei-t.   1893. 
Ä'ei/,  Bruno,  1916. 
Kohle)-,  Beinhold,   1892. 
Krdil,  Ludolf,    1901. 
Lampredit,  Karl,   19 15. 
Lange,  Ludwig.   1885. 
I/ßskien,  August,  191 6. 
Marquardt,  Carl  Joadivm,  1882. 
Blam'enbr edier,    Wilhelm.    1892. 
Meister,  Bichard,  191 2. 
Miasliowshi,   August  von,   1899. 
Mtdidsen,    Andreas    Ludtoig 

Jacob,   1881. 
Momwsen,  Theodor,   1903. 
Nipperdey,  Carl,   1875. 
Noorden,  Carl  von,   1883. 
Overbedc,  Johannes  Adolf.   1895. 
Pertsdi,   Wilhelm,   1899. 
Besdid.  Oscar  Ferdinamh    1875. 


MlTÖLIKDER  -  VeHZEICHNIS  . 


Peter ^  Hermann,  1914. 
Preller,  Ludici{/,   1861. 
Rätsel,  Friedrich,   1904. 
Bihhed-,  Otio,   1898. 
RifsdiL  Friedrich  Wilhelm,  1876. 
Rohde,  Erwin,   1898. 
Röscher,    Wilhelm,    1894. 
Bvge,  Sophus.    1903. 
Sauppe,  Hermann,   1893. 
Sclileichet\  August,   1868. 
Schrader,  Eberhard,  1908. 
Schreiher,  Theodor,  191 2. 
Seidltr,  August,   1851. 
Seyffarth,  Gustav,   1885. 
<Söm,  Albert,   1899. 


ÄoÄw,  Rudolph,,  191 7.  ' 

Springer,  Anton,   1891. 
-StorA;,  Cad  Bernhard,   1879. 
Stohhc,  Johann  Ernst  Otto,  1887. 
TwcZt,  Friedrich,   1867. 
I/Äer^  Friedrich  Augmf.   1851. 
F<%<,  Georg,   1891. 
F(%/,  Moritz,   1905. 
Wachsrrmth,  Curt,   1905. 
Wachsmuth,    Wilhelm,  1866. 
TTäc/ifer,  Cad  öcw^  vow,  1880. 
We5<erwiöww,  _4w^o»,   1869. 
Wiwt^wcÄ,  Ernst ^  191 8. 
TFM?Ä;er,  Richard  Paul,  1910. 
Zarnche,  Friedrich,  1891. 


Mathematisch-physische  Klasse 

^7j?>^,  A'ms/,   1905. 
Arrest,  Heinrich  d',   1875. 
ßaltzer,  Heinrich  Richard,  1887. 
Besold,  Ijudivig  Albert   Wilhelm 
von,   1868. 


HanJcel,   Wilhelm  Gottlieb,   1899. 
Hansen,  Peter  Andreas,   1874. 
HarnacJCj  Axel,  1888. 
Hempel,  Walter,,  1916. 
Hering,  Eivald,  1918. 


Braune,  Christian  Wilhelm,,  1892.   fi^is,  Wilhelm,   1904. 


BruJms,  Carl,   1881. 
Carus,  Carl  Gustav,   1869. 
Cartis,  Julius  Victor,  1903. 
C/mw,  iTaW,  191 4. 
Cohnhdm,  Julius,   1884. 
Credner,  Hermann,   191 2. 
Döbereiner.  Johann   Wolfgang, 


Hofmeister,    Wilhelm,   1877. 

HuschJce,  Etnil,   1858. 

Knop,   Johann   August   LudwiAj 

Wilhelm,   1891. 
iToZ&e,  Hermann,   1884. 
Krüger,  Adalbeii,   1896. 
Kunze,  Gustav,   1851. 
Lehmann,   Carl  Gotthelf,    1863. 


1849. 

DroUsch,  3Toritz  Wilhelm,  1896.  LeucJcart,  Rudolph,   1898. 

Erdmann,  Otto  Limid,   1869,  Ü6',  Sophus,  1899. 

Fechner,  Gustav  Theodor;   1887,  Lindenau,  Bernhard  August  von, 


Feddersen,  Wilhelm,  1918. 
Fischer,  Otto,  1916. 
Funice,  Otto,   1879. 
Gegenbaiir,  Carl,   1903. 
Geinitz,  Harns  Bruno,   1900. 


1854. 
LuduAg,  Carl,  1895. 
Marchand,  Richard  Fdix, 
Mayer,  Adolf  1908. 
Mettenius,  Georg,   i8ö6. 


1850. 


VI 


Mitoijkdkk-Vkkzkioinih 


Hföbius.  Ati;iHst  Ft'rdiHnml.  i8ö8. 
Müller,  Wühdm,   iqog. 
Xnunidnn,  Carl  Friedrich.   1873. 
Pöppig.  Ednord,   \  868. 
JRnbU  Knrly  191  7. 
Rnch,  Frrdinovd,    1882. 
Richihofni,  Firdimmd  r.,    1905. 
ScJicnrr.    Theodor,    1875. 
Schcibvcr,    \Vdhd)n,    1908. 
Schenk,  Aupnsf.    i8gi. 
Srhicidcn,  Matthias  Jacob.   1881. 
Schlöm ilch ,   0<icar .    i » )0 1 . 
Schmitt,  liudolf    Wilhehn.    1898. 
Sdiumann,  Victor,  19 12. 
SchwägricJicn.     Christian     Fried- 
rich.   1853. 


Secherk.    I/itdicifj   Friedrich    1177- 

hdm  August,    1849. 
Stein,    Säumet    Friedrich   Natha- 

nael  von,    1885. 
Stahmann,   Friedrich,    1897. 
Töpler,  Au/iu.st,  191 2. 
Volkuvinn.  Alfred  Wilhelm,  1877. 
Wcbtr.  Eduard  F'riedrich,  1871. 
Wß6«-.   7?r//>7  Heinrich,    1878. 
Wc&n-.    Wilhelm,    1891. 
W/c<?c>Hrt/m,  Gustav,    1899. 
ir/w/c^r,  Clemens,   1904. 
M%ü/rm?/s,  Johannes,   1902. 
Zeimer,  Gustav  Anton,    1907. 
Zirkel,  Ferdinand,  19 12. 
Zöllner,  Johann  Carl  Friedrich, 

1882. 


Leipzig,  am  31.  Dezember  1018. 


V![ 


VcrzeiclmiH 

d«r  bei  der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
im  Jahre  191 8  eingegangenen  Schriften. 


I.  Von  gelehrten  Gesellschaften,  Universitäten  und  öffentlichen 
Behörden  herausgegebene  und  periodische  Schriften. 

Deutschland, 

Abhandlungen  der  K.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin.  Philos.- 
histor.  Klasse.  1917,  Nr.  7.8  1918,  Nr.  i  — 14.  Eintse,  0,  Gedächt- 
nisrede auf  Gust.  V.  SchmoUer.  Physikal.-math.  Klasse.  1918, 
Nr.  1 — 4.  Waldeyer-Hartz,  W.  v.,  Gedächtnisrede  auf  Aug.  _Brauer 
Berlin. 

SiUungsberichte  der  K.  Preuß.  Akad.  der  Wissensch.  zu  Berlin.  191 7, 
Stück  39—53.    1918,  Stück  1—38.    ebd. 

Berichte  der  deutschen  chemischen  Gesellschaft  zu  Berlin.  Jahrg.  51, 
No.  I — 12.  14 — 16.  Nachtrag  zum  Mitgliederverzeichnis.  Januar 
1918.     ebd.  1918. 

Wissenschaft!.  Abhandlungen  der  Physikal.-techn.  Beichsanstalt.    Bd.  4, 
'  H.  3.    Berlin  19 18. 

Die  Tätigkeit  der  Physikal.-techn.   Reichsanstalt  i.  J.  1917.    (S.-Abdr. 

aus:  Zeitschrift  f.  Instrumentenkunde.  38.) 
Jahrbuch  der  K.  Preuß.  geolog.  Landesanstalt  und  Bergakademie.  Bd.  36, 

T.  2,  H.  I.  2.    Bd.  37,  T.  I,  H.  I.  2.    Berlin  1915— 17. 

Beiträge  zur  geolog.  Erforschung  der  Deutschen  Schutzgebiete.  H.  13. 
14.    Berlin  1916. 

Ergebnisse  von  Bohrungen.  Mitteilungen  aus  dem  Bohrarchiv  der  K. 
Geolog.  Landesanstalt.    H.  7.    Berlin  1915. 

Bericht  über  die  Tätigkeit  des  Zentral bureaus  der  internationalen  Erd- 
messung i.  J.  19 17.    Berlin  1918. 

Beiträge  zur  kommunalen  Kriegswirtschaft.  Bd.  2.  Nr.  11 — 39.  Bd.  3. 
Nr.  I — 6.    Berlin  0.  J. 

Politische  Correspondenz   Friedrichs  des  Großen.    Bd.  37.    Berlin  1918. 

Bonner  Jahrbücher.    Heft  124.    Bonn  1917. 

Berichte  über  die  Tätigkeit  der  Provinzialkommiseion  f.  d.  Denkmal- 
pflege i.  d.  Rheinprovinz  (zuvor:  Berichte  der  Provinzialkomm.  f. 
Denkmalpfl.  .  .  .  innerhalb  der  Rheinprov.).  i.  4.  1914 — 31.  3.  1916. 
—  Beilage  zu  Heft  124  der  Bonner  Jahrbücher. 


Vlll  VkRSKK  IIMS     KUH    KIK'UrriANOKNKN    ScHMiyTKN. 

Verhaiuiluiigou  der  tltutschou  physikaliBclion  (iüBcllHchalt  i.  .Jaliro  11)17. 
.I:ihr;r-  i9,  Nr.  21--24.    20,  >ir.  1  —  20.     HiaunBch weij^  1017. 

l>ie  Fortschritte  dur  Physik  im  Jahre  1916.  Jahrj».  72.  Dorj^estollt 
von  iler  ileutscben  ph\  sikalischtni  (leBcllschaft.  Abt.  1  —  3.  llrauii- 
schwi'io^   1917. 

B»mcht  des  wcstpre^ißisclioii  liotanisch-zoolo^isc.hon  Vereinn.  40.  Han- 
xig  i9ivS. 

Schriften  der  iiiiturlorsciieudeu  Ge«ellscliafL  iu  Dan/.ig.  N.  F.  Bd.  14, 
H.  4.    ebd.   rgiS. 

Statistisches  Jahrbuch  f.  d.  Köui^r.  Sa»;h8«'n.  Ilersg.  v.  K.  Silchs.  Statist. 
Landt'Bamte.    Aus}i;abo  43.    191O/17.    Dresden  [1918). 

Jabresbi'richt  der  K.  idFoutlichen  lUbliothek  zu,  Dresden  auf  »ta«  Jahr 
1917.    Nebst  einer  Beilage.    Dresden  1918. 

.Jahresbericht  der  GesellBchaft  für  Natur-  und  Heilkunde  in  Dresden 
1916/17.    München    1918. 

Sitzungsberichte  und  Abhanillungen  der  naturwisscuHchaftlichen  GeBcll- 
Bchaft  Isis  in  Dresden.   Jahrg.  1917.    Dresden  1918. 

Verzeichnis  der  Vorlesungen  und  Übungen  au  der  K.  Sachs.  Techni- 
schen Hochschule  f.  d.  Somtnersem.  1918.  Wintersem.  1918/19.  — 
l'ersonalverzeichuis.    Nr.  57.    Sominersem.  1918.    Dresden   1918. 

Zeitschrift  des  K.  Sachs.  Statist.  Landesamtes.  Jahrg.  62.  1916.  —  63. 
19 17.    Dresden. 

Mitteilungen  der  Pollichia,  eines  naturwissenschaftl.  Vereins  der  Rhein- 
pfalz zu  Bad  Dürkheim.  No.  30.  Jahrg.  71/72.  191 6/ 17.  Bad 
Dürkheim  1917. 

Düsseldorfer  Jahrbuch.  Beiträge  zur  Geschichte  des  Niederrheins.  19 17. 
Bd.  29.    Düsseldorf  1918. 

.Jahrbuch  f.  d.  Berg-  u.  Hüttenwesen  im  Königr.  Sachsen.  Jahrg.  1917. 
91.  Jahxg.    Freiberg  i.  S. 

Programm  der  K.  Sachs.  Bergakademie  zu  Freiberg  f.  d.  153.  Studien- 
jahr 1918/19.    Freiberg  1918. 

Verzeichnis  der  Vorlesungen  auf  der  Großherzogl.  Hessischen  Ludwigs- 
Univers.  zu  Gießen.  W.-S.  1917/18.  S.-S.  1918.  W.-S.  1918/19. 
Personenbestand.  W.-S.  1917/18.  S.-S.  1918.  —  Schian,  M.,  Volk, 
Religion,  Kirche.  Akad.  Rede  zur  Jahresfeier  ...  i.  7.  1917.  — 
Weihnachtsgruß  der  Univ.  Gießen.  1917.  —  i  Habilitationsachrift. 
—  42  Dissertationen  a.  d.  J.  1917/18. 

Abhandlungen  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen. 
Philologisch-historische  Klasse.    N.  F.    Bd.  16.  No.  6.    Berlin  1917- 

Nachrichten  von  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen. 
Math.-phys.  Kl.  1917,  H.  2.  3.  Beiheft.  —  Philol.-hist.  Kl.  1917. 
H.  3—5.    1918.    H.  I.  2.    Berlin  d.  J. 

Abhandlungen  der  Naturforschenden  Gesellsch.  zu  Halle  a.  S.  Neue 
Folge.    No.  1—6.    Halle  a.  S.  1912 — 18. 

Leopoldina.  Amtl.  Organ  d.  Kais.  Leopoldinisch-Carolinisch  deutschen 
Akad.  der  Naturforscher.  H.  54.    Halle  1918. 

Nova  Acta  Academiae  Caes.  Leopoldino-Garolinae  germanicae  naturae 
curiosorum.    Tom.  103.    ebd.  1918. 


VeHZKICHNIS    DEK    EINtiEGAKQKNKK    ScHHIFTEN.  IX 

Jahresbericht  der  Hamburger  Sternwarte  in  ßergedort"  f.  d,  J.  1917. 
Hamburg  1918. 

Abhandlungen  der  Heidelberger  Akad.  der  Wissensch.  Philos.-hiat.  Kl. 
Abh.  4.    Heidelberg  1917. 

Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie  der  Wisöenschaften. 
Mathem.-naturw.  Kl.  A.  Bd.  8.  Jahrg.  1917.  Abh.  i — 17.  B.  Bd.  8. 
Jahrg.  1917.  Abh.  4 — 7.  —  Philos.-histor.  Kl.  Bd.  8.  Jahrg.  1917. 
Abh.  2 — 13.  —  Jahreshett  1917.    ebd.  1917.  18. 

Neue  Heidelberger  Jahrbücher.    Bd.  20,  H.  2.    ebd.  1918. 

Verhandlungen  des  Naturhistorisch- Medizinischen  Vereins  zu  Heidelberg. 
N.  F.  Bd.  13.    H.  3.    ebd.  1917. 

Fridericiana.  Großherzogl.  Badische  Technische  Hochschule  zu  Karls- 
ruhe. Jahresbericht  über  das  Studienjahr  1916/17.  —  Vorlesungs- 
verzeichnis f.  d.  S.-S.  1918.  Studienj.  1918/19.  —  2  Dissertationen 
a.  d.  J.  1918/19. 

Verzeichnis  d.  Vorlesungen  a.  d.  Universität  zu  Kiel.  S.-S.  19 17.  W.-S, 
1917/18.  —  91  Dissertationen  a.  d.  J.  1917. 

Schriften  der  Physikalisch-ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg 
i.  Pr.    Jahrg.  54  (1913)  — 58  (1917).    Leipzig  u.  Berlin   1914— 18. 

Abhandlungen  für  die  Kunde  des  Morgenlandes.  Bd.  14.  15,  No.  i. 
Leipzig  1918. 

Jahresbericht  der  Fürstlich  Jablonowskischen  Gesellschaft.  Leipzig,  im 
Mai  19 18. 

Encyclopädie  der  Mathematischen  Wissenschaften.  Bd.  3,  i.  Heft  6. 
3,  2.  Heft  7.    6,  iB.  Heft  4.    Leipzig  1918. 

Mitteilungen  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde.   Heft  13.    Nr.  5 — 10.    Lübeck  1917  f. 

Zeitschrift  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde.   Bd.  19.  H.  2.     Lübeck  1918. 

Mainzer  Zeitschrift.  Zeitschrift  des  Römisch  -  Germ.  Central-Museums. 
Jahrg.  12/13,  1917-  18.    Mainz  1918. 

Jahresbericht  der  Fürsten-  u.  Landesschule  St.  Afra  in  Meißen.  1916/18. 
Meißen  19 18. 

Abhandlungen  der  K.  Bayer.  Aka^i.  d.  Wi.tis.  Mathem.-phys.  Kl.  Bd.  28, 
Abh.  9.  10.    München  1918. 

Abhandlungen   der  K.  Bayer.  Akademie   der  Wissenschaften.     Philos.- 

philolog.  u.  histor.  Klasse.    Bd.  30,  Abh.  i.    ebd.  191 8. 
Jahrbuch  der  K.  Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften.  1917.  ebd.  1917. 

Sitzungsberichte  der  mathem.-phys.  Kl.  der  K.  Bayer.  Akad.  der  Wiss. 
zu  München.    1917.  H.  3.    ebd. 

Sitzungsberichte  der  philos.-philol.  u.  der  histor.  Kl.  der  K.  Bayer.  Akad. 
d.  Wiss.  zu  München.    1917,  Abh.  5 — 10.    1918,  Abh.  i.    ebd. 

Mitgliederverzeichnis  April  1917  (für  beide  Klassen). 

Finsierwalder,  Sebastian,  Alte  u.  neue  Hilfsmittel  der  Landesvermessung. 
(Festrede  geh.  i.  d.  öffentl.  Sitzung  der  K.  Akad.  d.  Wiss.  München 
15.  II.  1916.)    ebd.  1917. 

Bericht  über  die  58.  Vollversammlung  der  historischen  Kommission  bei 
der  K.  Bayer.  Akad.  d.  Wiss.    ebd.  1918. 


X  VkKZWCHMS    l»KK    KINOKUANUKNKN    ScilHIKTKN 

1 

VerwaltunK»li«'richt  iiber  das   14.  «ioacliilitsjftlir   i<)i6  -1917  .  .  .  den  .  .  . 

Di'iitsclu'u  Musouiiiö     Mümhen   1917. 
Neue  Annalen  der  K.  Sl.-inwarte  in  Müiirlicii     Auf  KohIcu  livt  K.  Rayer. 

Akad.  der  Wiöseii>oli.  liers-      lUi    5,   Hfft   i.    i-l.d.  i<M7- 
Mittelalterliche    Hil.liotliekHkatalo^'O    Deutschlands    und     der    Schwei». 

IUI.  i.    München   1918. 
45.  Jabresberiiht   des  Westfälischen  Provinx-ial-Vcreins  für  WissenHchaft 

und    Kunst.      Münstor   1917. 
AnzeiRer  des  Germanischen  Nationahnuseunis.     .lahrj,'.   1917-     H.  1—4. 

Nürnberg  1917- 
Abhaudlunpen  der  N'aturhistorischen  iicsellHcbaft  /u  Nürnberg.  Bd.  21, 

H    2     Nürnberg  1917. 
.Jahresbericht  der  naturbistorischen  Gesellschaft  zu  Nürnberg  über  das 

Jahr   1917     Nürnberg. 
Mitteilungen  des  Vereins   für    vogtlilnd.  Geschichte   u.  Alti-rtumskunde 

zu  Plauen  i.  V.    28.  Jahresschrift  auf  d.  J.  1918.    Plauen  d.  .1. 
Historische  Monatsbliitter.  lU'ilage  zu  der  Zeitschr.  der  Histor.  Gesellsch. 

f  d.  Pjovinz   Posen   u.  der   Histor.  Gesellsch.  f.  den   Netzedistiikt. 

Jahrg.  17  (1916).    18  (1917)-    Posen  1916.  17. 
Veröffentlichung  des  K.  Preuß.  Geodätischen  Institutes.  /Totsdam  )  N.  F. 

No.  75.     Berlin  1918.  —  Meissner,   0.,   Tabellen   zur  isostatischen 

Reduktion  der  Schwerkraft.  Abdr.aus  den  Astron.  Nachr.  Nr.  4924— 25. 

(Bd.  20'j>.  —  Febr.  1918.)    Kiel  IQ18. 
Indogermanisches  Jahrbuch.    Im  Auftr.  der  Indogerm.  Gesellsch.  hersg. 

Bd.  5.    Jahrg.  1917.    Straßburg  1918. 
Schriften  der  wissenschaftlichen  Gesellschaft  in  Straßburg.    H.  32—36. 

Straßburg  191 8. 
Württembergische  Vierteljahrsschrift   für  Landesgeschichte.     Heraueg. 

von  der  Württembergischen  Kommission  f  Landesgeschichte.  N.  F. 

Jahrg.  36.  (1917).    H.  3  u.  4.    Stuttgart  1918. 
Tfaarander  forstliches  Jahrbuch.     Bd.  69  u.  Sonderheft.     Berlin  1918. 
Ulm.  Oberscliwaben.  Mitteilungen  des  Vereins  für  Kunst  u.  Altertum  in 

Ulm  u.  Oberschwaben.    H.  21.    Stuttgart  1918. 
Jahrbücher    des    Nassauischen    Vereins    für    Naturkunde.     Jahrg.  70. 

Wiesbaden  1918. 

Österreich -Ungarn. 

Rad   jugoslavenske    akademije   znanosti  i  umjetnosti.     Knjiga  216  = 

Razreda  bist  -filol.  94.  —  217  =  Mat.-prirodosl.  razred  62.  Zagreb 

(Agram)  19 17. 
Kjecnik  hrvatskoga  ili  si-pskoga  jezika.    Na  svijet  izdaje  jugoslav.  akad. 

znau.  i  umjetn.    Svezak  35.    Zagreb  (Agram)  19 18. 
Vjesnik  kr.  hrvatsko-slavonsko-dalmatinskog  zemaljskog  arkiva.    God. 

19.    Sveska  1/2.    Zagreb  (Agram)  1917. 
Zbornik   za  narodni   äivot  i   obicaje   juznih  slavena.    Na  svijet  izdaje 

jugoslav.  akad.  znan.  i  umjetn.  Kniga  22.  Zagreb  (, Agram)  19 17. 
Magyar  Tudomanyos  Akad^mia  Almanach.  1918-ra.  [Budapest]  1918. 
Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Steiermark.    Jahrg.  16.    Graz 

1918. 


Vehzeichnis  der  bingkIbangenen  Schsiptes.  XI 

Mitteilungen  des  naturwissenschaftlichen  Vereines  für  Steiermark.  Bd. 
53  (1916),    54  (1918).    ebd.  1917^- 

Carniolia.    Izvestja  Muzejskega  drustva  za  Kranjsko.   N.  F.  Letn.  9,  i.  2. 

V  Ljubljani  (Laibach)  1918. 

Kwartalnik  etnoffraficzny  Lud.  Organ  towarzystwa  ludoznawczego  zalo^ 
zony  przez    Antoniego   Kaling.     T.  20.    Zeszyt  i.  2.    We  Lwowie 

(Lemberg)  1918. 

Sitzungsbericht  der  K.  Böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Mathem.-naturw.  Kl.  Jahrg.  19 17.  —  Kl.  f.  Philos.,  Geschichte  u. 
Philol.    Jahrg.  1917.    Prag  1918. 

Jahresbericht  der  K.  Böhm.  Gesellschaft  der  Wissensch.  f.  d.  Jahr  191 7. 
ebd.  1918. 

Mitteilungen  des  Vereines  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen. 
Jahrg.  55  (1917).  56  (1918).    ebd.   1917.  18. 

Lotos.  Naturwiss.  Zeitschrift.  Hrg.  vom  deutschen  naturw.-mediz.  Verein 
für  Böhmen  „Lotos"  in  Prag.     Bd.  65.     ebd.  1917. 

Almaaach  Ceskd  Akademie  Cisafe  Frantiska  Josefa  pro  vedy  .  .  .  1914. 
Itocnik  24  — 1917.    Kocnik  27.    V  Praze  1914 — 17. 

Historicky  Archiv.  Vydävä  i.  Tfida  Cesk6  Ak.  Cis.  Frant.  Jos.  .  . .  191 5. 
Öislo  39.  40.  1916.    Lislo  41.  42.    V  Praze  1915.  16. 

Biblioteka  klassiku  feckych  a  fimskych,  vydävana  3.  Tfidou  Öesk^ 
Ak.  Cis.  Frant.  Jos.  .  .  .  Cislo  22 — 29.   V  Praze  1913— 17. 

Bulletin  international.  Rdsumes  des  travaux  presentes.  Classe  des 
Sciences  mathämat.,  natur.  et  de  la  medecine.  (Acad.  des  sc.  de 
l'emp.  FrauQ.  Jos.).  1913.  Ann^e  18  — 1916.  Annee  20.  Pragae 
1913  —  16. 

Novoceskä  Knihovna.    Cislo  i  (1917)  —  3  (1918).    V  Praze  1917.   18. 

Staroceskti  Knihovna.    Cislo  i  (1917).  2.  (1918).    V  Praze  1917.   18. 

ßozpravy  Oeske  Ak.  Cis.  Frant.  Jos.  .  .  .  Tfida  i.  1913.    Öislo  49.  50. — 

1916.    Cislo  55—58.  —  Tiida  2.  1913.     Rocnik  22  —  1916.    Rocnik 

25.  —   Tffda  3.  1913.     Cislo   37—1917.    öislo   44  —  46.     V  Praze 

1913—17- 
Sbirka  pramenüv  ku  poznäni  literärniho  zivota  v  cechäch  na  morave  a 

v  slezsku.    Skupina  i.   1913.    Öislo   10.  1914.    Cislo  10,  Kada  2.  — 

Skupina  2.  1913.    Öislo  18 — 1915.    Cislo  22.  V  Praze  1913 — 15. 
Sbornik  filologicky.  Vydävanä  3.  Tiida  Ceske  Ak.  Cis.  Frant.  Jos.  .  .  . 

1912.    Kocnik  3  —  1917.    Kocnik  6.    V  Praze  1912 — 17. 
toupis  rukopisü,  knihoven  a  archivü  zemi  ceskych,  jakoz  i  rukopisn^ch 

bohemik    mimocesk/ch,    vydävanä   i,  a  3,  Tiidou    Öeskö    Ak.  Cis. 

Frant.  Jos.  .  .  .  1910.    Öislo  2.    1915.    Öislo  3.    V  Praze  1910.  15. 

Vestnik  Ceske  Ak.  Cis.  Frant.  Jos.  .  .  .  1913.  Rocnik  22  — 1916.  Roc- 
nik 25.    V  Praze  1913  — 16. 

'Einzeldchriften  der  Böhmischen  Kaiser  Franz  Josef- Akademie  f.  Wissen- 
schaften, Literatur  u.  Kuust.J  —  Simäk,  J.  F.,  Die  Handschriften 
der  Graf  Nostitz'schen  Majoratsbibliothek  in  Prag.  Prag  19 10.  — ^ 
Sala" ,  Ant.,  Isis,  Sarapis  a  bozstva  sdruzenä.  ...  V  Praze  1915. — 
Kadlec,  Kar.,  Valasia  valasske  prävo  ...  V  Praze  19 16.  —  Wenig, 
Kar.,  Dejiny  fecnictvi  iecköho.  Dil.  i.  V  Praze  1916.  —  Randa, 
Ant.  Kytif,  Prävo  vlastnickö  die  rakouskeho  prava  . . .  Seste  vydani. 

V  Praze  1917.  —  Eisner,  L'ud.  V.,  ßibliogi-afie  pisemnictvi  slovens- 


yyr  VbK/KICHNIS    diu    KINUKOANnK.NKN    ScilUIKTKN . 

ki'lio.  ...  I,  1.  V  l'razo  n;«/.  -  lSii8la,  Jos.,  Dvö  knihy  cc«k^'cb 
de^jin.  Kuiha  prvm*.  V  Praze  1917.  —  TruhUif ,  Ant.,  Uukovit 
k  ]iiKomni(tvi  huiiiftiiirtiickriiMi,  •/vU'irite  In'iHtiickt'mii  v  ('schnell  a  na 
Moiavi>  VC  stoloti  K«.    l)il    1.    V  i'razt;   i<)i.S. 

Zur  Kunde  der  Balkanhalbinscl.  i.  Reläen  u.  Bt^obacbtun;,'tii.  Heft  i')- 
20.  —  2.  QiM>llen  u.  For8chniit»(Mi.   lieft  0.    Sarajevo  1917.   iH. 

Almanacli  der  Kais.  AkailtMiiif  der  WisscnHcliiii'lcn.     Jahrjf.  67.   Wien 

1917. 
Anzei)?er  der  Kais.  Akademie  d.  WisHenscb.    iVlatb.-phys.  Kl.  Jubrg.  54. 

ebd.  I9I7- 
DenkHchriftcn    der    Kais.    Aka<)eniie   d.    WiKHcnncb.      Matb.-natiirw.    Kl. 

Hd.  93.    -     rhilos.-biölor.    Kl.  Bd.  56,    Abb.  2.  3.     üo,  j\bb.    i.  3. 

02,  Abb.   i.    ebd.  1912.   17.   18. 

SitzuDgsbericbte  der  Kais.  Akad.  d.  WiBöenscb.  Matb.-nalurw.  Kl. 
1kl.  126  (1917)  I,  Heft  1—9.  II",  Heft  1—9.  H'',  Heft  i  — 10.  — 
Bd.  127  (1918)  Hb,  Heft  1/2.  —  Philos.-histor.  Kl.  Bd.  180,  Abh.  i. 
iSi,  Abh.  I.  5.  6.  182,  Abh.  i.  4  183,  Abb.  4.  184,  .\bh.  4.  5-  185, 
.Vbh.  3.  4.  5.    186,  Abh.    I.  2.  3.   187.  Abh.    i.   2.   18S,  Abh.   4.    ebd. 

Fotites  reram  anstriacarnm.  ÖHterreichische  GeschichtHqupllen.  (Kais. 
Ak.  der  Wiss.  in  Wien.  Philos.-hist.  Kl.  Histor.  KommiBsion).  2. 
Abt.    Diplomataria  et  acta.    Bd.  68.  III.  i.    ebd.   19 18. 

Mitteilungen  der  Erdbeben-Kommission  (Kai.s.  Ak.  der  Wims.  Math.- 
naturw.  Kl.).    N.  F.  Nr.  49.  50.    ebd.   1916.   17. 

Abhandlungen  der  k.  k.  zoologisch-botanischen  Gesellschaft  in  Wien. 
Bd.  9.     H.  4.    ebd.  1917. 

Verhandlungen  der  k.  k.  zoologisch-botanischen  Geöellschaft  in  Wien. 
Bd.  67,  H.  7—10.    68,  H.  1—5.   ebd.  1917.  18. 

Annalen  des  k.  k.  naturhistorischen  Hofmuseums.  Bd.  31.    ebd.  1917 

Jahrbuch  der  k.  k.  geologischen  Reichsanstalt.    Bd.  66  (1916),  H.  2.  3/4. 

67  (I9'7)j  H.  I.    ebd. 
Verhandlungen  der  k.k. geologischen  Keichsanötalt.  .Jahrg.  i9i7,Nr.9 — 18. 

ebd.  1917. 
Verhandlungen  der   Österreich.  Kommission  f.  d.  Internation.  Erdmes- 

sung.    Protokolle  über  die  Sitzungen   1916.   1917.    ebd.  1917.  18. 

Mitteilungen  der  Sektion  für  Naturkunde  des  Österreichischen  Touri- 
sten-Klub.   Jahrg.  29.    ebd.   1917- 

Berichte  des  Forschungsinstituts-  für  0.sten  u.  Orient  in  Wien.  Folge  i. 
März  — Juli  1916.    3.  Nov.  1916  — Dez.  1917.    ebd.  I9i6ff. 

Polen.  Wochenschrift  für  polnische  Interessen.  No.  157 — 208.   ebd.  1918. 

Dänemark. 

Det    Kong.  Danske  Videnskabernes   Selskabs   Skrifter.     Hist.  og  tilos. 

Afd.  7.  Pisekke.  Bd.  3.  No.  3.  —  Naturv.  og  math.  Afd.  7.  Raekke. 

Bd.  7,  No.  2.  —   8.  Rajkke  Bd.  2,  No.  6.    Bd.  3,  No.  i.    Kj0ben- 

havn   1917.  18. 
Oversigt  over  det  Kong.  Danske  Videnskabernes  Selskabs  Forhandlinger. 

Juni   1917  —  Maj  1918.    ebd.    1918. 


YEKZKICUinS    DKK    KINGEGAmiKNES    ScHKIFTKN.  XHI 

Det  Kong.  Danske  Videnskabemes  Selskab.  Bioloj^ske  Meddelelaer.  i, 
3.  4.  —  Historisk-filolosiske  Meddelelser.  i,  2.  3.  5—7.  2,  i.  2.  — 
Mathemat-fysiske  Meddelelser.  i.  3—8.    ebd. 

Conseil  permanent  international  pour  l'exploration  de  la  mer.  Publica- 
tions  de  circonstance.    No.  71.    Copenhague  1918. 

Holland. 

Verhandelingen  d.  Kon.  Akad.  v.  Wetenschappen.    Afdeel.  Letterkunde. 

Nieuwe  Reeks.   Deel  18.  No.  i.    Amsterdam  1917. 
ProgTamma   certaminis  poetici  ab  Acad.  Reg.  discipl.  Nederlandioa  ex 

legato  Hoeafftiano  indicti  in  annum  1919     Amstelodami  1918. 

Rev-ue  semestrielle  des  publications  matbematiques.  T.  25.  (Deux.  partie: 
1916,  Oct  — 1917,  Avril.)  —  26.  (Prem.  partie:  1917,  Avril  — Oct.) 
ebd.  1917.  18. 

Nieuw  Axcbief  vor  mskunde.  2.  R«eks.  l)eel  12,  St.  3.  —  Wiskundige 
opgaven  met  de  oplossingen.    Deel  12,  St.  5.    ebd.  1918. 

Archives  du  Mu&ee  Teyler.  (Fondation  de  P.  Teyler  van  der  Hülst.) 
.S^r.  3.  Vol.  3.    Haarlem   19 17. 

Archives  neerlandaises  des  sciences  exactes  et  naturelles,  publiees  par 
la  Societe  Hollandaise  des  sciences  ä  Harlem.  S6t.  IH.  A.  T.  4, 
Liv.  2.    5,  Liv.  I.    Harlem  1918. 

Nederlandsch  kruidkundig  Archief.  Verslagen  en  Mededeelingen  der 
Nederlandsche  Botanische  Vereeuiging  over  het  jaar  1917-  Gronin- 
gen 1917. 

Commnnications  from  the  Physical  Laboratory  of  the  University  of 
Leiden.  Vol.  13.  No.  140—144.  —  SuppL  No.  37.  —  Vol.  H-  ^o- 
145 — 151-  —  Suppl.  No.  38 — 40.    Leiden  1913 — i^S. 

Enzyklopaedie  des  Islam.  Geograph.,  ethnograph.  u.  biograph.  Wörter- 
buch der  muhammedan.  Völker.    Lief.  24.    Leiden  u.  Leipzig  191S. 

Handelingen  en  Mededeelingen  van  de  Maatschappij  der  Nederlandsche 
Letterkunde  te  Leiden  over  het  jaav  1916/17.    Leiden  1917. 

Mnemosyne.     Bibliotheca    philologica    Batava.     N.  S.    Vol.  46.     Lugd. 

Batav.  iyi8. 
Museum.      Maandblad    voor    Philologie    en    Geschiedenis.     Jaaig.  25, 

No.  4 — 12.    26,  No.  I.  2.    Leiden  1917.  18. 
R^coeil  des  Travaux  Botaniques  Neerlandais  p.  p.  la  Societe  Botanique 

Neerlandaise.    Vol.  14,   livr.  3/4.    Groningue  1917- 

Tijdschrift  voor  Nederlandsche  Taal-  en  Letterkunde.  Uitgeg.  vauwege 
de  Maatschappij  der  Nederl.  Lelterk.  te  Leiden.  Deal  36  (=  N.  R. 
Deel  2H).  Aflev.  i — 4.    Leiden  1917. 

ßijdragen  en  Mededeelingen  van  het  Historisch  Genootschap,  gevestigd 
te  Utrecht.    Deel  38.    Amsterdam  1917. 

Onderzoekingen  gedaan  in  het  Physiologisch  Laboratorium  der  ütrecht- 
sche  Hoogeschool.    5.  Reeks.  18.  19.    Utrecht  1918. 

Recherches  astronomiques  de  l'observatoire  d'ütrecht.   7.  ebd.  191 7. 

"Werken  uitgegeven  door  het  Historisch  Genootschap,  gevestigd  te  Ut- 
recht.  Ser.  Hl.    No.  38.    ebd.  1917. 


XIV  VkRZKU:UNI8    DKK    KUfGKni^NUKNRN    SciIHIFTEN 

Verelajj  van  de  alfjoniecne  vcrgaderiiip  dor  Icdcii  van  het  HiHtoiisch 
Genootsfhap,  gi'lionden  te  Utrecht  op  2'».  Mci  1917.  Ainsterdani 
1917- 

I  tuli«'n. 

Mittcilunpcn  dt>K  Kaiy.  Deutsch.  Anliacol.  Intitituts.  RömiBche  Abtei- 
lung;.   Bd.  32,   1917,   1—2.    Koni. 

Luxemburg 

luRtitut  Grand-Ducal  do  Luxouibourg.  Section  deH  ScienceB  naturelle», 
pbyöiques  et  ruathematiques.  Archives  trimeBtrielleB.  Nouv.  Ser, 
Annde  1912  ä  19 '7-    T   7.    Liixvnibourg  1917. 

Norwegen. 

Bergens  Museums  Aarbok.    Hi^tor.-antikvar.  Rsekke.    1916 — 1917.  H.  3 

—  Naturvidenskabol.    HajUke.    1916 — 1917.    U.  i.    Bergen  1917. 
Bergen!^  Museum.    Aarsberetning  for  1916 — 1917.  17 — 18.   ebd.  1917.  18. 

Sars,  G.  0.,  An  account  of  the  Crustacea  of  Norway.  Vol.  6,  13/14. 
ebd.   1918. 

Bergens  Museums  Skrifter.    Nv   riekke.     Bd.  3.  No.  i.    Kristiania  1917. 

Det  K.  Norske  Videnskabers  Selskabs  Aarsberetning  for  1910.  Trond- 
hjem   1917. 

Det  K.  Norske  Videnskabcr-;  Selskabs  Skrifter.  19 16.  Hefte  i.  Trond- 
hjcm  191}^.  —  Johan  Krust  Gunnerus.  1718  —  26.  Febr. —  1918.  Min- 
debladc  utgit  av   det  K.  Norske  Vidensk.    Selsk.    Trondhjem  191 8. 

Schweden. 

Eranos.    Acta  philologica  Suecana.  Vol.  16  (1916).    Gotoborgi   1917. 

Festskrift  tillegnad  Anders  Donner  pa  hans  sextioarsdag  den  5.  Nov. 
1914  af  forne  elever.    Helsingfors  19 15. 

Acta  mathematica.  Hsg.  v.  G.  Mittucf-  Leffler.  41,  3.  4.  Stockholm 
1918. 

ArTciv  för  Botanik.  Utgifvet  af  K.  Svenska  Vetenskapsakademien.  Bd. 
14.    Stockholm  1915 — 17. 

Arkiv  för  Kemi,  Mineralogi  och  Geologi.  Utg.  af  K.  Sv.  Vetenskapaak. 
Bd.  6.    Stockholm  1916.  17. 

Arkiv  for  Matematik,  Astronomi  och  Fjsik.  Utg.  af  K.  Sv.  Vetenkapsak. 
Bd.  II.   H.  4.    12.  H.  1/3.    Stockholm  19 16.  17. 

Arkiv  för  Zoologi.  ütg.  af  K.  Sv.  Vetenskapsak.  Bd.  10.  H.  4.  11. 
H.  1/2.    Stockholm  1916— 18. 

K.  Svenska  Vetenskapsakademiens  Arsbok  för  är  1917.  Stockholm, 
üppsala  19 17. 

K.  Svenska  Vetenskapsakademiens  Handlingar.  Ny  Följd.  Bd.  56. 
Stockholm  1916.   17. 

Colliander,  Elof,  K.  Svenska  Vetenskapsakademiens  Skrifter.  1826 — 
19 17    Register.    Stockh.,  Upps.   19 17. 

Astronomiska  lakttagelser  och  undersökningar  ä  Stockholms  Observa- 
torium.   Bd.   10.  Nr.  S-  6.    Stockholm  1917. 


VßKZKirHins    DKK     KINGK(MNGKNK.\    ScHKlKl'KN.  XV 

Meteorologieba  lakttagelser  i  Sverige.  ütg.  av  Meteorolog.  Central- 
aastalten.    Bei.  58  (Ser.  2.  Bd.  44).    1916.    Stockh.,  Upps.  1918. 

Entomologisk  Tidskrift.  ütg.  av  Entomologiska  Föreningen  i  Stockholm. 

Arg.  38  (1917).    üppsala  1917. 
Nordiska  Museet.  Fataburen.    Kulturhistorisk  Tidskrift.  1917.  H.  1—4. 

Stockholm  1918. 
Stockholmer  Rochsdmlschriften.    (Austausch  mit  Stockholms  Högskolas 

Bibliotek).    2  Dissertationen  aus  dem  Jahre  1918. 
Arbeten  utgifna  med  understöd   af  Vilhelm  Ekmans  Universitetefond, 

Üppsala.  20:  A  B.  21 — 22,.  üppsala  1917-  18. 
Zoologiska  Bidrag  fran  üppsala.    Bd.  5.  6.    üppsala  1916 — 18. 
Bulletin    mensuel    de    l'Observatoire    mete'orologique    de    l'üniversit^ 

d'üpsala.  Vol.  49  (amiee  1917).    üpsala  1917—18. 
üppsala  üniversitets  Matrikel.    Höstterminen  1916.    üppsala   IQ17. 

Schweiz. 

Helvetica  Chimica  Acta.  (Hersg.  v.  der  Schweizer.  Chemischen  Gesell- 
schaft.)  Vol.  r.  Fase,  i — 5.    Basileae  et  Genevae  1918. 

Jahresverzeichnis  der  Schweizeritschen  Hochschulschriften.  1916 — 1917. 
Basel  1918. 

V^erhandlungen  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel.  Bd.  28 
(=  Festschr.  z.  loojähr.  JubiL).    Basel  1917. 

Jahi-eabericht  der  naturforscheuden  Gesellscliaft  Graubündens.  K.  F. 
Bd.  58  (1917/18).    Chur  1918. 

Compte  rendu  des  seances  de  la-  Soci^te  de  physique  et  d'histoire  na- 
turelle de  Geneve.    34.  1917.    35.  1918.   Ko.  i.  2.    Geneve  1918. 

Anzeiger  für  Schweizerische  Altertumskunde.  Hrsg.  v.  d.  Direktion  des 
Schweizerischen  Landesmuseums  in  Zürich.  N.  F.  Bd.  19,  1917.  Heft 
4.    20,  1918.  Heft  I.  2.    Zürich  1918. 

Schweizerisches    Landesmuseum   in    Zürich.     26.    Jahresbericht    (1917). 

ebd.  1918. 
Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte.     Bd.  43.     ebd.  1918. 
Vierteljahrsschrift  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Zürich.  Jahrg.  62. 

1917.  Heft  3/4.  63.  1918.  Heft  1/2.    ebd.  1917.  18. 
Beiträge   zur   geologischen    Karte    der    Schweiz.     Text.     Neue   Folge. 

Lieferg.  20,  4  (50).  46,  3  (76).    Bern  1917. 


2.  Einzelne  Schriften. 

Bechhold,  H.,  Das  Institut  für  Kolloidforschung  der  „Neubürgerstiftung". 
S -A.  aus  der  Kolloid-Zeitschrift.    22.  1918,  Heft  i. 

Bericht  über  die  Sammlung  soldatischer  Volkskunde,  erstattet  vom  Ver- 
band deutscher  Vereine  f.  Volkskunde.    Freiburg  i.  Br.  19 18. 

Chelm  und  Podlachien.    Wien  191 8. 

Seinrici,  C.  F.,  Die  Hermes-Mystik  u.  das  Neue  Testament.  Hersg.  v. 
Ernst  V.  Dobschütz.  Leipzig  1918  (=  Arbeiten  zur  Religionsgeschichte 
des  Urchristentums,   i,  i). 


X\  I  VhKZKlCHNI^    UKU     KI^(iKaAHU>.NK^    ScilKIVTK'« . 

Jahresbericht  1017  der  Goworhoschult»  Zwickiiu.  M.  JU'ilape:  Dan  <;^erftde 
Zweiblatt  u.  seine   Hei^lcitor. 

Lern,  Max,  Für  die  Iliiiuburf^ischo  UniverpitsU.  Zuf;;l(;ich  eine  Kritik 
ihrer  Gej^ner.    Hftni)>urR   191S. 

Meissner,  O. ,  Tabellen  /.ur  isostatiacben  lieduktiou  der  fcfchworkral't. 
Abdr.  aus  den  Astron.  Nachr.  Nr.  4924 — 25.  (Bd.  200.  —  Febr.  1918). 
Kiel   1918. 

Meyrich,  (>.,  Bliituntorauchungen  au  Juf^endlichtn.  Leip/iff  191S.  =•  Ver- 
ötfentliclmnpen  des  Inst.  f.  experimentelle  Piidaj^.  u.  l\ychol.  des 
Lcipz.  Lehrervereins.    8,  i. 

Morävek,  G.,  Allgemeine  Beweise  der  Gültigkeit  des  letzten  Fermat'- 
schen  Satzes  über  die  unbestimmte  Gleichung  r"  =  .r"  -\-  y". 
l'rag  1917  f 

Ukrainische  Fhantasien.  Knltur- politische  Streil'iichter.  \\n\  einem 
österreichischen  Polen.    Wien  1918. 

I'asse,  Otto,  Die  Siegel  des  Adels  der  Wettiner  Lande  bis  zum  Jahre  1500. 
Bd.  5,    Dresden  19 17. 

ReininghauSy  Fritz,  Neue  Theorie  der  Biegungs-Sjiannungen.  Zürich 
[1918]. 

Stähly,  Albert,  Gemeindeutsche  Sprachpflege,  gemeindeutsche  Sprach- 
pflicht.   Brief  an  alle  deutschsprachigen  Volksstämme.    Basel  1917. 

Die  Ukraina.  Ein  Problem  oder  ein  PliantomV  Von  einem  österreichi- 
schen Polen.    Wien   1918. 

Walte,  Wilh.,  Eine  neue  Erklärung  der  osmotischen  u.  elektrischen  Er- 
scheinungen.   Hamburg   1916. 

Ders.,  Beiträge  zur  Energielehre.    Hamburg  1917. 

Zwiers,  H.J.,  Untersuchungen  über  die  Deklinationen  u.Eigeubewegungen 
V.  163  Sternen  .  .  .  (Veröffentlichung  der  Niederliind.  Geodät.  Kom- 
mission).   Delft  191 8. 


BERICHTE 


ÜBER  DIE 


VERHANDLUNGEN 

DER  SÄCHSISCHEN 

AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 
ZU  LEIPZIG 

PHILOLOGISCH-HISTORISCHE  KLASSE 

EINUNDSIEBZIGSTER  BAND 

iQig 


MIT  2  TAFELN  UND  3  FIGUREN  IM  TEXT 


LEIPZIG 
BEI  B.  G.  TEÜBNER 


INHALT. 

Heft  Seite 

I     E.  Bethe,  Die  Ichneutai  des  Sophokle3 i —  29 

n    J.  Partsch,  Die  Stromgabelungen  der  Argonautensage  .    .    .  i —  17 

III  A.  Schmarsow,   Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  und 

der  Freekenzyklus  in  Assisi i —  j8 

IV  M.  Förster,  Die  Beowulf-Handsclirift.     Mit  2  Tafeln.    .    .    .  1—89 
V     W.  H.  Röscher,  Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl 

und  ihr  Verhältnis  zum  Altpythagoreismua.  Mit  3  Figuren  i  — 114 

VI     A.  Körte,  Zu  neueren  Komödienfunden i —  40 

VII     R.  Heinze,  Ovids  elegische  Erzählung i  — 130 

Vin    B.  Keil,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags i — 100 

IX  J.  H.  Lipsius,     Lysias'  Rede  gegen  Hippotherses  und   das 

attische  Metoikenrecht i —  12 

X  Verzeichnis   der  Mitglieder   der    Sächsischen   Gesellschaft   der 

Wissenschaften.     Verzeichnis  der  eingegangenen  Schriften  I— XVI 

Sitzungaprotokolle i —     2 


Berichte  über  die  Verhandlungen 

der  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschafteii 

zn  Leipzig 

Philologisch-historisclie  Klasse 

71.  Band.     1919.     i.  Heft 


E.  Bethe 


Die  Ichneutai  des  Sophokles 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1919 


Vorgetraofen  für  die  Berichte  am  i.  Februar  1919. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  14.  Februar  19 19. 

Druckfertig  erklärt  am  30.  März  1919. 


I 


/ 


Die  Ichneutai  des  Sophokles  sind  nach  der  ersten  Aus- 
gabe nur  durch  Wilamowitz  N.  Jahrb.  XXIX  (1912)  453 
und  von  Robert  Hermes  XL VII  (1912)  536  von  verschie- 
denen Seiten  beleuchtet,  besonders  haben  sie  sich  bemüht,  das 
lustige  Stück  lebendig  zu  machen  und  zu  inszenieren.  Man- 
cher Widerspruch,  der  sich  sogleich  bei  mir  regte,  hat  sich, 
als  ich  nach  laugei-  Pause  wieder  an  sie  gins,  zu  festen  Er- 
gebnissen  verdichtet,  die  wesentlich  von  diesen  grundleo-en- 
den  Arbeiten  in  der  Auffassung  des  Ganzen  wie  einzelner 
Szenen,  der  Inszenierung  und  Datierung  abweichen.  Das 
einzigartige  Stück  verdient  und  lohnt  eindringende  Beschäf- 
tigung. Der  Krieg  hat  sie  wohl  verhindert.  Nur  Ergänzungs- 
versuche sind  mehrfach  noch  und  nicht  ohne  Glück  gemacht, 
obgleich  der  Rahm  natürlich  gleich  abgeschöpft  war.  H. 
ScHENKLs  hübsche  Entdeckung  (Hermes  XLVIII  (19 13)  154) 
des  von  Pollux  X  34  zitierten  Bruchstücks  in  Vers  309  des 
Papyros  wird  noch  evidenter  durch  die  Lesung  der  beiden 
einzigen  Handschriften  Falkenburgianus-Paris.  Bibl.  Nat.  2646 
und  Salmanticensis  I  2.  3,  die  diese  Stelle  überliefern:  Uu- 
(poxXijg  d' SV  'Ixvevralg  aatvQOig  £<py]'  'svVjXara  §vAa  ZQCyo}i(pu 
dLccroQogfiQstrca  de\  Das  einst  übergeschriebene  de  war  nur 
vom  Schreiber  der  gemeinsamen  Vorlage  falsch  gesetzt,  der 
Papyrus  hat  .  .  opog  i^SLÖsruL.  So  muß  der  Widerspruch  von 
LuDOViCA  KOETTGEX  (Dlss.  Boun  19 14.  68)  gegen  die  scharf- 
sinnige Einfügung  an  dieser  Stelle  verstummen. 

I.  Der  fehlende  Anfang. 

Der  Papyrus  beginnt  mit  der  Verkündung  eines  Preises 
auf  das  Ergreifen  eines  Diebes,  der  dem  Paion  (37)  seine 
Kuhherde  gestohlen  hat.  Vergeblich  hat  der  Bestohlene  die 
Länder  bis  zur  Kyllene  durchirrt.  Nun  ruft  er's  hier  aus 
ob  ihn  ein  Hirt,  Bauer,  Köhler  höre  oder  ribv  öq\6co3v  vv^jl- 
ffoyBvvii\[rov  yevovs  |  d-rjQäjv  ng,    was    man    nach  dem  Satyr- 


2  K.  ni'/iMF,:  |7',  > 

spii'lrest  ()x\  ili.  l*a|i.  108. i.  7  mit  Heclit  auf  Satyrn  deutet. 
Herzu  läuft  (431  der  alli'  Siloii,  erbiUi^  Mas  Diii^  /u  crja^^en' 
Die  foI«;(Muleii  Verse  sind  ar^  zcrstiirt.  I'.r  hat  noch  erwähnt 
47  Tccdda^  d  ffiovg  öööoiOi.  und  vom  I'hms  gesprochen  (48) 
F.iJC€()  ty.relag  ä'.Tfj)  Ityeig^  über  den  dann  in  kh'iner  Sticho- 
nivthie  von  q  Versen  Apoll  mit  ihm  verhandelt  (49  f.),  um 
ihm  schlielilieh  die  Freiheit  /.u  versjirecdien  57:  iki^v&titO:; 
6v  [:Täv  TS  ytvog  i'ßrca  Tty.v\(tn'.  Dann  ist  A{»ü11  verscliwuuden, 
bis  er  im  zweiten  zerstörten  Teil  des  Dramas  (Col.  XV 11^ 
auf  Ruf  des  Chores  wieder  erscheint.  Die  Satyrn  treten  58 
auf.  Trotz  der  Zerstörung  ist  sicher,  daß  sie  sogleich  wissen, 
es  handle  sich  um  einen  Diebstahl  (62  fj^ri^t  x}M:t  .  .  67 
xZfiujwaTa),  um  Gold  und  Freiheit,  die  der  Gott  als  Beloh- 
nung für  sie  und  Vater  Silen  versprochen  (6g  ttutqC  t'  ^- 
ksvd-£Qov  .  .  ^abg  o  <pCXog  ccvsrcy  TtovoDg  7tQ0(f)y\vag  aQCt,i]k« 
jfQvGov  uTaQadeiyfiaTu). 

Dieser  Anfang-  enthält  des  Verwunderlichen  viel.  Und 
doch  hat  sich  noch  niemand  so  recht  darüber  verwundert. 
Der  Chor  weiß  alles,  was  die  Zuschauer  eben  erfahren  haben. 
War  er  denn  schon  vorher  zugegen V  Aber  Silen  kam  doch 
allein  herbeigesprungeu  auf  Apolls  Ruf:  39  eztxkvoif^  42 
öot,  ^Giß"  "JitoXkov  7t(jo6(pLli]g  £vs\Qysri]g\  %tko^v  yeveö&ai 
Tcotö'  67ta66v^riv  dpo'/Ltrat,  äv  Ttag  tÖ  XQrj^a  rovro  60L  xvvrjftöco. 
Von  sich  allein  spricht  er  auch  weiter  45  /ioi  xfif.i£vov. 
Das  besagt  freilich  nicht  viel,  denn  auch  nachher  in  Gegen- 
wart des  Chors  betet  er  74  xmieIv  ^e  TiQccyovg  ov  Öqu^t^^' 
iTCsiysTat.  Die  ersten  Worte  des  Chores  aber  57  l^ ays 
verlangen  wenigstens  in  diesem  Zusammenhange  die  Deutung, 
daß  der  Chor  jetzt  erst  herbeikommt.  So  hat  die  für  48 
vorgeschlagene  Ergänzung  etwas  für  sich  Tcaldag  d'e^ovg 
0660L6L  .  .  .  I n^£jw;rot/x.]'  \ü\v.  Wenn  nun  der  Chor  65  mxtqixckv 
yriQ[vv  erwähnt,  so  ist  man  versucht,  dort  ein  'hören  zu 
erufänzen.  Aber  Silen  hat  nicht  gerufen.  Man  müßte  da 
schon  hinter  Apolls  Abgang  57  den  Au.sfall  einer  Parepigraphe 
annehmen,  etwa  <'^6vQi6fiay.  Aber  da  der  Chor  schon  vorher 
l'n;t#i  xX(x):i  .  .  vnövoaa  (mir  unverständlich  l  .  .  und  öiavvxcav  .  . 


71,  i]  Die  IcHNEUTAi  DES  Sophokles.  3 

gesungeü  hat  und  im  Verse  nach  %axQixäv  y^Qlvv  ein  neuer 
Satz  beginnt  Tt&g  Ttäi  xä  Xdd'Qia  .  .  yAe^uaru  tcocjöC^  so  liegt 
es  wohl  näher,  Öucvvrav  mit  "/t^Qw  verbunden  zu  denken. 
Doch  kommt  man  damit  in  neue  Schwierigkeiten;  denn  Silen 
hat  zu  den  Satyrn  noch  nichts  gesagt. 

So  bleibt  nur  die  Wahl  zwischen  zwei  Möglichkeiten': 
entweder  ist  zwischen  58  und  dem  Auftreten  des  Chors  ein 
größeres  Stück  ausgefallen,  oder  der  Chor  war  schon  wäh- 
rend des  Gesprächs,  ja  schon  während  der  Rede  Apolls,  die 
er  ja  auch  gehört  haben  muß,  also  Ton  Anfang  an  zugegen. 
Im  ersten  Falle  müßte  recht  viel  ergänzt  werden:  das  Herbei- 
rufen des  Chors  und  Darlegung;  des  Sachverhalts  durch  Silen. 
Dann  wäre  58  tO^'  äys  als  Aufforderung  zu  verstehen,  sogleich 
das  Suchen  der  Spur  aufzunehmen.  Und  noch  wär's  nicht 
genug.  Nach  aller  Analogie  würde  man,  wird  einmal  eine 
Lücke  hier  angesetzt,  eine  ordentliche  Parodos  annehmen 
müssen.  So  würde  man  auch  bei  srerino'er  Bemessunff  des 
ersten  Gresanges  auf  einige  Dutzend  Verse  kommen. 

Nur  an  Ausfall  könnte  man  denken.  Und  da  käme  nur 
Nachlässigkeit  oder  Versehen  in  Betracht.  Denn  solche  Be- 
schädigung des  Originals  hätte  doch  auch  die  ersten  58  Verse 
mitgerissen.  Ein  Regisseur  aber  hätte  das  Stück  nicht  zur 
Unverständb'chkeit  verschnitten  für  eine  spätere  Aufführung, 
die  Verkürzung  der  Chorpartien  forderte:  an  Euripides  He- 
rakliden  sehen  wir  solch   Verfahren.-^) 

Ein  derartig  großer  Ausfall  ist  nun  doch  recht  unwahr- 
scheinlich und  ohne  Beispiel.  Und  nähme  man  ihn  an,  so 
würde  man  den  Silen  ja  noch  einmal  erzählen  lassen  müssen, 
was  die  Zuschauer  schon  gehört:  das  Stück  würde  verschlechtert. 

So  bleibt  nur  das  andere:  der  Chor  war  von  Anfang 
an  da.  Aber  Apoll  spricht  nicht  zu  ihm,  sieht  überhaupt 
niem.anden,  wie  32  ff.  beweisen,  und  Silen,  der  von  seinen 
Satyrn  nicht  zu  trennen  ist,  kommt  ja  erst  herbeigesprungen 
(43  i7ts66vd-rjv  Öqöucol).     Da  gibt  es,  nur  eine  Lösung:  Silen 

I)  T.  WiLAMowiTz,  Hermes  XVII  (1882)  337. 


4  K.  Bktiik:  |7'-  ■ 

war  mit  den  Satyrn  schon  vor  Apolloii  aulgetreten  und  sie 
hatten  sich  l)ei  seinem  Nahen  /.urüekge/.ogcn,  versteckt.  He- 
greiflich sind  sie  doch  feige  niid  Apdil  kommt  im  Zorn  da- 
lier;  ihm  /n  hegegnen  könnte  getälirlich  werden.  DaL^  es 
Apoll  ist,  werden  sie  von  weitem  erkannt  nnd  ihn  den  Zu- 
sehanern  angekündigt  haben.  So  dürfte  er  mit  dem  ersten 
erhaltenen  Verse  aufgetreten  sein.  Im  Versteck  mtn  hören 
sie  alles  mit  an,  was  er  sagt,  nnd  kommen,  vom  Lohn  ge- 
lockt, hervor,  zuerst  Silen,  dann  die  Satyrn.')  Bei  dieser  An- 
nahme fallen  die  aufgezeigten  Unverständliclikeiten  fort.  Hat 
der  Zuschauer  sie  schon  um  üit  gesehen  und  gehört,  sieht 
er  sie  vielleicht  auch  wähi'end  Apolls  Rede  lauschend  und 
gestikulierend,  daiin  versteht  er,  daß  sie  alles  wissen,  Dieb- 
stahl der  Herde,  Goldlohn  und  Freiheit,  auch  daß  sie  sich 
sogleich  ans  Suchen  machen,  ohne  von  Silen  autgefordert 
und  angeleitet  zu  werden.  Der  Dichter  hätte  auf  solche 
Weise  geschickt  und  munter  seinen  Chor  eingeführt  und  die 
Exposition  ohne  lästige  Wiederholung  gegeben. 

Dieser  Schluß  ist,  meine  ich,  zwingend.  Noch  andere 
Erwägungen  führen  auf  dieselbe  Folgerung.  Silen  und  seine 
Satyrn  sind  Knechte.  Silen  hat  das  nicht  gesagt,  Apoll  auch 
nicht.  In  den  zerstörten  Versen  52 — 5  kann's  kaum  ge- 
standen haben.  Aber  57  stellt  Apoll  die  Freiheit  ihnen  in 
Aussicht,  der  Chor  nimmt  das  üq  auf,  er  redet,  als  wüßten 
wir  längst,  daß  sie  Sklaven  sind.  Und  als  Kyllene  215  sie 
schilt  und  ihren  Herrn  erwähnt,  nennt  auch  sie  ihn  nicht, 
aber  spricht,  als  wisse  jeder,  wer  es  ist: 

rCg  ^stciörccötg  tiovojv, 

ovg  :rQÖ69sv  elxsQ  di6:n'ny]i  ydgiv  (ptQov, 

vfitv  6g  kIsI  vaßQivijL  xad^r^u^svog 

doQKl    J(^SQOtv    Xe    d^VQÜOV    EVTlaMl    (fBQGiV 

OTttö&sv  evLci^ar'  äj-icfl  ruv  ^aov 

6vv  iyyovoig  vv^q)aL6t  xal  Ji^uiyöoji^  ö^Awt.^) 

i)  So  hat  Odysseus  im  Philoktet  prelauscht  und  tritt  974  plötz- 
lich hervor. 

2)  So  v.  WiLAMowiTz,  nrödüjv  Pap. 


71,  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  5 

Wir  raten  vergeblich.  Ob  die  Athener  die  Nuß  schnell 
geknackt  hätten,  darf  man  fragen.  Aber  was  sollte  hier  über- 
haupt ein  Rätsel?  Und  wie  kann  man  glauben,  daß  Sophokles 
erst  hier  von  ihrem  Herrn  und  gar  noch  dunkel  gesprochen, 
von  vornherein  aber  stillschweigend  vorausgesetzt  habe,  das 
Publikum  wisse  von  Knechtschaft  und  vom  Herrn  der  Sa- 
tyrn? Man  täusche  sich  doch  nicht  mit  der  ad  hoc  erfuu 
denen  Hypothese,  im  Satyrspiel  sei  die  Knechtschaft  üblich 
gewesen.  So  kecke  Erfindungen  das  Satyrspiel  liebte,  so  ist 
doch  für  manche  Titel  die  Annahme  einer  Knechtschaft  kaum 
denkbar,  z.  B.  Aischylos  Prometheus  (fg.  207).  Auch  im 
hübschen  Bruchstück  Oiyrhynchos  Pap.  1083  führt  nichts 
darauf  —  BccxxCov  vni]QtTai  sind  sie  auch  in  Freiheit.  Im 
einzigen  erhaltenen  Kyklops  sind  sie  freilich  Sklaven,  aber 
Euripides  hat  ihre  Sklaverei  breit  erklärt  und  sogleich  nennt 
er  ihren  Herrn  Polyphem  (25).  So  gehört  sich's.  Und  so 
muß  es  in  jedem  Stücke  gewesen  sein;  es  gibt  kein  Drama, 
das  sich  nicht  aus  sich  selbst  erklärt.  Wenn  Euripides  noch 
am  Ende  seiner  Laufbahn  —  denn  dahin  gehört  der  Kyklops, 
wie  R.  Marquart,  Leipzig.  Diss.  191 2  gezeigt  hat  —  die 
Knechtschaft  des  Satyrnchors  sorgfältig  motiviert,  dann  ist 
es  unwahrscheinlich,  daß  Sophokles  dies  Verhältnis  still- 
schweigend vorausgesetzt  haben  sollte.  Er  muß  es  erläutert 
und  muß  ihren  Herrn  genannt  haben.  Ln  erhaltenen  Stück 
ist  dafür  kein  Platz:  folglich  fehlt  der  Anfang. 

W^eiter.  Der  Papyrus  beginnt  mit  einer  Rede,  aber  man 
ahnt  nicht,  wer  i-edet.  Rinder  können  jedem  gestohlen  wer- 
den. Endlich  ,37  nennt  der  Sprecher  seinen  Namen:  toi' 
(pG)Qa  t&v  Ilaicjvog.  Das  ist  wieder  ohne  Beispiel.  Alk- 
Tragiker,  ob  sie  Chor,  Gott  oder  Mensch  beginnen  lassen, 
stets  stellen  sie  die  Person  sogleich  vor:  Athene  im  Aias 
sogut  wie  Hephaist  im  Prometheus,  wie  Aphrodite  im  Hippo- 
lyt,  obgleich  sie  doch  wohl,  sollte  man  meinen,  kenntlich 
hätten  gemacht  sein  können.  Ja  sogar  Silen  spricht  trotz 
seines  typischen  Kostüms,  das  jeden  Zweifel  ausschließt,  im 
Anfang  des  Kyklops  so,  daß  auch  der  Blinde  sofort  weiß,  das 


f)  E.  Hkhik:  f?',  ' 

ist  Sileii:  Co  Bqö^ii^,  öu\  öl  /ii'(U(M's'  i';^«  Jtoi^ots'  1  »'vv  xioz' 
tv  i'ißij  Toviioi'  tivifii'fi  dt^iXi;.  Es  ist  falsch,  Apoll  in  der 
Alkestis  als  HtMspiol  jm/iifiihnMi.  Er  ikmiiiI.  tVeilich  soiiion 
Namen  nicht,  aber  soviel  wie  ein  normaler  Tertianer  haben 
438  die  Athener  doch  auch  von  der  Mytholo«rie  gewußt,  daB 
sie  spätestens  nueh  dem  dritten  Verse  wußte»,  das  ist  Apoll: 
u)  döj^ar     'Iduyrei\  iv  olg  hX^jV  eyoj 

/,1-vs  yc(Q  xciTCiXTcci^  Tialda  rbv  tfibv  «iViotj 
yioxh/TCuw^  öTt'QVoiöiv  i^ißakiov  qjXoyu. 
Folglich  fehlt  der  Anfang  der  Spürhunde. 

Was  war  voran tgegangenV  Die  Parodos  und  wahrschein- 
lich auch  ein  Prolog  des  Silen,  ähnlich  wie  im  Kyklops.  Da 
war  erzählt,  daß  er  im  Waldgebirge  der  Kyllene  mit  seinen 
Kindern  haust  und  daß  sie  dort  einem  Dionysgenossen  (220) 
—  wir  ahnen  nicht  wem  —  zu  Dienst  verpHichtet  sind.  Und 
die  Satyrn  haben  sich  hereingetummelt  und  eine  rechte  Par- 
odos  mit  drolligen  Sprüngen  getanzt.  Denn  wo  gäb's  ein 
Drama  ohne  Parodos?  Und  was  wäre  ein  Satyr.spiel  ohne 
SatyrtanzV  Wir  besitzen  nur  den  ersten  Teil  der  Spürhunde. 
Das  Suchen  der  Spur  ist  dramatisch,  gestaltet  mit  spar- 
samer Verwendung  von  Gesang,  und  die  Unterhaltung  mit 
Kyllene  ist  auch  nur  durch  wenige  ganz  kurze  lyrische 
Stücke  belebt.  Wo  bleibt  der  Chorgesang  in  diesen  450 
Versen?  Das  Entscheidende  aber  ist:  die  Unmöglichkeit  ge- 
nügender Erklärung  erzwingt  die  Annahme,  daß  der  Anfang 
der  Spürhunde  verloren  ist. 

Die  Verszählung  in  unserem  Papyrus  i^eweist  dagegen 
nichts.  Freilich  stimmt  sie,  so  gut  und  schlecht  wie  das 
üblich  ist,  mit  den  erhaltenen  Versen  überein.  Wer  sie  an- 
brachte, hat  aber  nicht  mehr  gelesen  als  wir.  Der  Schreiber 
unseres  Papyrus  hat  sie  natürlich  mit  abgeschrieben.  Sie  geht 
zurück  auf  alexandrinische  Zeit.  Die  Bibliothekare  .stellten 
durch  sie  den  Umfang  ihrer  Texte  fest.  Die  Verszahl  einiger 
heroischer  Epen  hat  das  kleine  Bruchstück  einer  'Bilder- 
chronik' K  bei  Jahn-Michaelis    S.  77,  Tfl.  VI  erhalten   xai 


71,  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  7 

^davaidag  G(p'  BTCSiv  xal  xov  ..  ri]v  Olötxöösiav  rrjv  vno  Kivai- 
d^covog  xov  .  .  I  .  .  XE$  a:tSiV  ovöav  61'  v7Cod^rJ6o^sv  &rjßaiöa  .  . 
So^ar  in  den  Prosaschrillen  war  Zeileuzählung  durchgfeführt, 
wie  die  in  Photios  Bibliothek  cd.  176  p.  1 20  B  40  erhaltene 
Notiz  zeigt,  Theoponip  habe  nicht  weniger  als  20000  exr] 
epideiktischer  Reden  und  mehr  als  150000  sonstiges  ge- 
schrieben. 

In  die  alexandrinische  Bibliothek  sind  die  Ichneutai  nur 
in  einem  verstümmelten  Exemplar  gelangt.  Hesiods  Ge- 
dichte, die  Homerischen  Hymnen,  Aischylos  Sieben  mit  dem 
unechten  Schluß,  Euripides  Iphigenie  in  Aulis  mit  dem 
doppelten  Anfang,  seine  Herakliden  mit  den  verkürzten 
Chören,  der  Rhesos  mit  drei  Prologen  geben  Analoga,  wenn 
ich  auch  ein  am  Anfang  verstümmeltes  Stück  nicht  anführen 
kann. 

Satyrspiele  haben  sich  schlecht  erhalten.  Der  eine 
Kyklops  s^  Tragödien  gegenüber  steUt  ein  schlimmes  Ver- 
hältnis dar.  Der  Grund  ist  klar.  Die  Didaskalien  des 
IV.  Jahrhunderts  CIA  11  973  =  Wilhelm,  Urkunden  dram. 
Auff.  S.  40  zeigen,  daß  das  Interesse  für  das  Satyrspiel  im 
Erlöschen  war.  Auf  6,  ja  9  neue  Tragödien  und  eine 
klassische  fiel  ein  einziges  Satyrspiel  und  zwar  ein  neues. 
Daß  'alte'  Satyrspiele  wie  'alte'  Tragödien  damals  aufgeführt 
sind,  dafür  fehlt  jedes  Zeugnis.^)  So  ist  es  nur  zu  begreif- 
lich, daß  die  Texte  zugrunde  gingen,  man  las  sie  auch  nicht 
mehr.  Als  sich  die  Alexandriner  wieder  für  diese  Raritäten 
interessierten  (AP  VII  37,  707),  war  es  für  viele  zu  spät. 
Ov  6(p^£xca  steht  zum  Satyrspiel  in  der  Medeahypothesis. 
Auch  nur  in  Titeln,  <reschweio-e  denn  Bruchstücken  können 
wir  nicht  viele  mehr  nachweisen.  Sie  nahmen  natürlich  was 
sich  bot,  auch  wenn  es  unvollständig  war. 


i)  Meinen  Widerspruch  Prolegomena  245  f.  gegen  die  Ergänzung 
der  angeblich  rhodischen  vielmehr,  wie  Wilhklm  wahrscheinlich  machte, 
römischen  Inschrift  IG.  XII  i.  125  =  Wilhelm  S.  205  durch  Kaibel 
muß  ich  auch  gegen  Hili-eu  aufrecht  erhalten,  wie  auch  Wilhelm 
jsweifelt. 


8  K.  üktiik:  [71,  ' 

2.  Di«'  IitM<'i*kI;iii^e  und  das  Horaiistrommrlii. 

Apoll  verkündet  im  K vlleiie<i;el»irge  den  l)iel)stalil  seiner 
Kinder  und  verheißt  dem  iMiuler  reichen  liolin.  Silen  liüpfi 
herbei,  verspricht,  sie  zurück/uliel'ein  und  nuiclit  sich  sogleich 
;in  die  Arbeit  —  mit  einem  (lebet  an  Tvche  und  den  'Lenker'. 
]\Tan  verkennt  den  Spaß,  wenn  man  ihn  seinen  Aufruf  4iat's 
einer  gesehen  oder  gehört,  der  sag's'  (//),  an  die  Zuschauer 
richten  läßt.  Nein,  der  faule  Alte  will  sich  nicht  unnüt/ 
Mühe  machen.  Er  versucht  erst,  andere  vorzuspannen.  »So 
wiederholt  er,  was  el)en  Apoll  verkündet,  nur. ohne  J>eloh- 
nuug  in  Aussicht  zu  stellen.  Und  der  (Jhor  brüllt  nach. 
Das  wäre  ja  zwecklos,  hätte  er  sich  an  die  Zuschauer  ge- 
wandt, desto  mehr  Sinn  hat  das  Ausschreien  in  den  Berg- 
wald hinein.  In  der  Komödie,  die  zu  dieser  Auslegung  ver- 
führte, werden  die  Herren  Zuschauer  l)ei  solchen  Gelegen- 
heiten angeredet.  Hier  nichts  davon.  Die  Faulheit  und 
Dummverschraitztheit  wird  so  drollig  charakterisiert.  Erst 
als  sich  wirklich  niemand  meldet  —  es  sind  Pausen  des 
Lauscheus  und  Wartens  hinter  81  und  84  zu  denken  — 
macht  sich  der  Alte  selbst  an's  Werk  —  86  ist  hübsch  in 
diesem  Sinne  ergänzt  eoixev  rjörj  x\  ccl  JtQÖg  Igy  ÖQfiäv  (is  \  delv  \ 
—  und  stellt  nun  die  Satyrn  an. 

Sie  finden  rasch  die  Spuren  der  Rinder.  Nie  gehörte 
Klänge  von  der  Leier  des  verbororenen  Hermesbuben  er. 
schrecken  sie  so,  daß  sie  davon  ablassen  (125).  Die  Straf- 
predigt des  Silen  und  sein  energisches  Drängen  treibt  sie, 
die  Fährte  wieder  aufzunehmen.  Ein  zweiter  Klang  erregt 
sie  noch  mehr,  sie  vergessen  die  Rinder  und  drängen,  den 
geheimnisvollen  Ton  zu  enträtseln  (205  vgl.  252  fi".),  brüllen 
und  trampeln,  bis  Kylleue  erscheint  und  ihnen  das  Geheim- 
nis enthüllt.  Als  sie  gehört,  daß  Hermes  zur  Konstruktion 
seiner  Lvra  etwas  vom  Rinde  verwendet  habe,  kombinieren 
sie  schlau  (326;:  er  ist  der  Rinderdieb.  AjjoU  wird  herbei- 
gerufen (435)  —  da  bricht  der  Papyrus  ab.  Es  muß  dann 
Hermes    selbst    aufaetreten    sein.      Mit    seiner    Lyra    wird    er 


71,  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  9 

Apoll  so  entzückt  haben,  daß  er  wie  im  Homerischen  Hym- 
nus mit  ihm  zu  friedlichem  Ausgleich  kam. 

Man  sieht,  wie  geschickt  Sophokles  das  Rinder-  und 
Lyramotiv  ineinander  gesponnen  hat.  Auf  die  Wirkung  der 
Musik  hat  er  sein  Stück  angelegt.  Wie  gut  ihm  das  ge- 
lungen ist,  zeigt  die  schöne  -  Beobachtung,  daß  Euripides  in 
seiner  Autiope  das  nachgeahmt  hat.  Wie  dort  Amphion 
(Frg.  1023),  so  vrird  Hermes  im  zweiten  Teil  der  Ichneutai  zur 
Lyra  gesungen  haben.  Um  das  vorzubereiten,  hat  er  klug 
schon  in  der  ersten  erhaltenen  Hälfte  des  Stückes  die  Lyra 
ertönen  lassen,  in  drolliger  tlbertreibiing  ihren  Effekt  auf  die 
'Thiere'  vorgeführt,  daß  sie  Rinderspuren,  Lohn  und  Freiheit 
vergessen,  und  dann,  sobald  dies  Motiv  erschöpft  ist,  es  mit 
plötzlichem  Ruck   zur  Entdeckung   des  Rinderdiebes  benutzt. 

Nun  wollen  wir  prüfen,,  wie  Sophokles  das  hübsche 
Motiv  im  einzelnen  durchgeführt  hat.  Kaum  haben  sich  die 
Satyrn  an's  Schnüffeln  gemacht,  so  finden  sie  gruppenweise 
die  Rinderfährte  —  daß  sie  hier  schon  in  drei  Teile  aus- 
einandergehen, ist  eine  nicht  berechtigte  Vorwegnahme  der 
zweiten  Suche  168;  gerade  die  Abwechslung  ist  doch  er- 
wünscht — ,  prüfen  und  bestätigen  sie  (95 — 104).  Da  sagt 
emer  105  'komm  mal  einer  schnell  her,  ob  er  das  Gebrumm 
der  Kühe  höre'.  Ein  anderer  antwortet  108  'ich  höre  die 
Stimme  noch  nicht  deutlich,  aber  die  Fußtapfen  selbst  und 
der  Pfad  der  Kühe,  die  sind  deutlich,  das  kann  man  merken.' 
Und  weiter  geht  die  Prüfung  der  Fährten  bis  117,  ohne  daß 
von  einem  Ton  weiter  die  Rede  ist.  Da  plötzlich  ist  Silen 
wieder  da  118:  'Was  hast  du  da  für  eine  neue  Kunst  er- 
funden, so  an  die  Erde  geschmiegt  zu  jagen?  Du  liegst  ja 
hingefallen  wie  ein  Igel  im  Dickicht.  Ich  versteh  das  nicht.' 
Der  Chor  macht  nur  'Hu  hu'.  Und  wieder  fragt  Silen  126 
'wovor  fürchtest  du  dich?  Was  bist  du  außer  dir?'  Der 
Chor  verlangt  Schweigen  und  Horchen.  Silen  fragi  133 
xal  Tt&g  äy.ov6[o3  ay]dsv]bg  (pojvrjv  yiXv(üv\  und  wieder  mahnt 
der  Chor  'horch  nur  eine  Weile,  ein  nie  gehörter  Ton  hat 
uns  so  erschreckt'.    . 


lo  K.  Hktiik 


■I,  I 


Die  \Virkunj5  des  ersten  Leicrkhmi^os,  den  die  Welt  «ge- 
hört, ist  hiev  diiri^estellt  Der  wunderbiire  ^oiieiiiiiiisvoll  aus 
der  Einsamkeit  seluilloiide  Ton  hat  die  Satyrn  heftig  er- 
schreckt. Wann  ist  er  erkhint^enV  Vor  den  ersten  Fragen 
Silens  i  iS  'was  ist  (his  für  eine  neue  Manier,  was  liei^t  ihr 
daV  oder  naeii  ihnen  erst  124?  Für  dies  hat  sich  WlLA- 
MOwrrz  entschieden:  fr  denkt  sicli  die  Satyrn  mit  dei'  Nase 
eifrig  schniifl'elnd  auf  (Um-  wirren  Rindertahrte.  Das  verbietest 
aber  ilie  ganze  Sihi'urede.  Sie  zeigt  ja,  daß  die  Satyrn  gerade 
nicht  suchen,  daß  sie  das  Gegenteil  tun,  wie  könnte  er  sich 
sonst  über  diese  neue  Manier  wundern?  Wie  könnte  er, 
wenn  sie  hin  und  her  suchten  und  tappten,  sie  mit  einem 
Igel  im  Gebüsch  vergleichen?  Der  liegt  zusamraengekugelt, 
unbeweglich.  So  liegt  auch  der  Satyrnchor:  yMöat  xteäv 
(121).  Regungslos  liegt  der«  Chor.  Das  ist  die  'neue  Art 
zu  jagen',  das  ist's,  was  Silen  in  Erstaunen  setzt  und  auf- 
bringt. Haben  die  Satyrn  natürlich  wie  die  Hunde  auf  allen 
Vieren  die  Nase  voran  gefährtet,  so  waren  sie  doch  in  leb- 
haftester Bewegung  und  ganz  besonders  lebhaft  von  1 1 1  an, 
wo  sie  entdecken,  daß  die  Spuren  durch-  und  gegeneinander 
laufen.  Jeder  Hundefreund  sieht  doch  bei  dieser  Schilderung 
des  Sophokles  die  Jagdhunde  vor  sich  wie  sie  flie  gerade 
Fährte  aufnehmen,  verfolgvn  und  nun  plötzlich,  wo  der  Hase 
Haken  geschlagen  hat,  umkehren,  hin  und  wider  rennen.  Kein 
Gedanke  daran,  daß  sie  auch  nur  einen  Augenblick  verweilen, 
daß  sie  sich  lesfen.  Unmöglich,  sie  mit  dem  Igel  im  Busch 
zu  vergleichen.  Nein,  es  muß  plötzlich  etwas  Unerwartetes 
zwischen  die  Satyrn  gefahren  sein:  hingeschlagen  sind  sie 
und  liegen  reglos  da.  Kein  Zweifel:  der  erste  Leierklang 
hat  sie  umgeworfen.  Also  vor  Silens  Scheltrede  117/8  ist  er 
erklungen:  da  müßte  eine  Parepigraphe  stehen,  wie  Robert 
547  richtig  gesehen  hat.  Wie  hübsch  hat  Sophokles  den 
Eflekt  herausgearbeitet.  Die  Spur  wird  gesucht,  gefunden, 
geprüft.  Da  gehen  die  Gruppen  schnüffelnd  den  Fährten 
nach.  Nun  verwirren  sie  sich,  kehren  um.  Mit  ihnen  die 
Satyrn.    Lebhafter   springen    sie.    Es   gibt   ein  wildes  Durch- 


71,  ij  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  i  i 

einander.  Auf  einmal  klingt  der  helle  Leierton  —  und  wie  auf 
einen  Schlag  fällt  das  ganze  Rudel  auf  die  Nase,  rollt  sich 
jeder  wie  ein  Igel  zusammen  und  bleibt  regungslos  erstarrt.^) 
Nun  aber  wird  diese  wirkungsvolle  Steigerung  der  aller- 
liebsten Szene  unterbrochen  nach  dem  Papyrus  durch  einen 
Qoißdog.  Dies  Wort  gibt  er  in  besonderer  Zeile  mitten  in 
der  Verfolgung  der  Fährten  107.  Mau  nimmt  es  für  eine 
Parepigraphe.  QotßÖog  kann  nur  vom  Gebriill  von  Rindern 
verstanden  werden,  wie  denn  Robert  auch  tut.  Vers  107 
QoCßdrj^'  mv  xig  rav  [/3oöi'  d\i  ovg  .  .  stellt  das  sicher.^)  Aber 
unmöglich  kann  hier  ein  \'viuh'  ertönt  sein.  Es  hätte  ja 
elektrisierend  auf  die  Satyrn  wirken  müssen.  Man  stelle  sich 
das  doch  lebendig  vor.  Sie  suchen  eine  gestohlene  Rinder- 
herde^ finden  die  Spuren.  Da  hören  sie  sie  brüllen.  Was 
nun?  Selbstverständlich  Triumphgeschrei:  'hurrah,  da  sind 
sie!  hin  und  holt  sie!'  Aber  nichts  von  alledem.  Sie  suchen 
ruhig  die  Fährten  weiter  ab.  Das  soll  man  glauben?  So 
blöde  und  stumpf  sollen  die  eifrigen  Spürhunde,  die  lohn- 
gierigen Satyrn  sein,  dieselben,  die  325  wie  ein  schlauer 
Detektiv  sofort  kombinieren:  'der  Junge,  der  die  Lyra  erbaut 
hat,  ist  der  Rinderdieb' V  Er  sollte  nicht  nur  den  Effekt  des 
unerwartet  erschallenden  Tones  vorweg  nehmen  und  ab- 
stumpfen, und  dann  sollte  er  ihn  nicht  einmal  ausnutzen? 
Diese  Überlegung  schließt  auch  die  andere  Erklärung  aus: 
WiLAMOWiTZ  455.  2  meinte,  Qolßdog  sei  keine  echte  Parepi- 
graphe, stamme  nicht  vom  Dichter  selbst,  das  Wort  sei  falsch 
gewählt  und  solle  den  ersten,  aber  noch  undeutlichen  Leier- 
klang andeuten.  Es  wird  ja  im  schärfsten  Gegensatz  zur 
Wirkung  des  Tons  auf  die  Satyrn  1 1 8  ff.  in  den  auf  Qoißdog 
folgenden  Versen  108 — 117  überhaupt  nicht  von  einem  Ton 
mehr  gesprochen,  nachdem  in  größter  Ruhe  108  einer  gesagt 
hat  'ich  höre  noch  nichts'.    Vielmehr   wird,   als  wäre  nichts 

i)  Parallelen  für  die  Wirkung  plötzlicher  Töne  unten  S.   19. 

2)  Weiter  kann  ich  ihm  darin  nicht  folgen.  Nichts  im  Text 
führt  hier  auf  unterirdischen  Ton.  Richtig  hat  Wilamowitz  94  »sog 
als  Ruf  gedeutet  und  97  ccnoiKia  auf  die  suchenden  Satyrn. 


12  K.  Hktiik:  (71,  1 

Absoudtrliches  geschehen,  die  Prüfung'  ih^v  Fillirte  eifrig  fort- 
sjesetzt. 

Ohne  die  venneintliche  I'arepigraphe  oof/jdoj,'  hätte  nie- 
mand auf  den  Gediinkeu  kommen  können,  <laB  hier  sclion 
ein  Ton  erklungen  sei.  Sie  ist  falsch,  ist  keine  'eehte  Paro- 
pigraphe';  ist  sie  denn  ül)erhau|>t  eine?  Lassen  wir  diese 
irreführende,  unerklärliche  Notiz  bei  Seite  und  prüfen  die 
allein  zuverlässigen  Verse.  Ist  auch  105  unsicher  und  106 
ganz  zerstört,  so  ist  doch  107  genug:  ''Komm  einer  schnell 
her  und   .  .  ob  er  Gebrumm  der  |  liinderj  höre'. 

107  (wCßöiju'  eciv  Ttv?  Töv  [ßocöv  d\L   ovg  .... 
und  ganz  sicher  ist  die  Antwort 

108  ovx  siaaxovc)  Ttcj  [roQCöY\g  rov  (pd'tyuicroL;^ 
(UA'  avTcc  ai]V  i'iviq  te  x^  ßtt'ßog  rüde. 
Dafür  gibt  es  keine  andere  Erklärung  als  diese:  die  Fährte 
ist  gespürt  und  verfolgt,  nun  kommt  einer  angesichts  der 
fr-ischen  Tapfen  auf  die  naheliegende  Vermutung,  die  Rinder 
könnten  in  der  Nähe  sein  und  fragt,  ob  jemand  sie  brummen 
höre?  Man  spitzt  die  Ohren  —  Nichts,  'ich  höre  noch  nicht 
ihre  Stimme,  aber  dies  sind  hier  ihre  Spuren'.  Die  Ver- 
mutung ist  also  erledigt,  und  die  Satyrn  halten  sich  an  das, 
was  sie  sehen.  Mithin  ist  QotßÖog  in  jedem  Sinne  falsch. 
Es  ist  zu  streichen.  Es  ist  keine  Parepigraphe.  Ver- 
mutlich ist  es  nur  durch  Schreiberversehen  so  groß  in  eine 
Zeile  gemalt,  während  es  in  seiner  Vorlage  als  Variante  zu 
Qolßdrjaa  notiert  war,  das  ja  im  Text  wunderlich  verschrieben 
ist  Qotßd.st  und  erst  vom  Korrektor  die  Besserung  T]f.L  über 
der  Zeile  und  am  Rande  erhalten  hat. 

Zum  erstenmal  ertönt  also  ein  Klang  und  zwar  ein  heller 
Leierklang  mitten  im  lebhaften  Durcheinander  1 1 7  und  wirft 
die  Satyrn  in  Erstarrung.  Silen  hat  nichts  gehört.  Das  stellt 
Vers   133  sicher 

y.cd  Tciög  «/covö[co  if)^dev\oq  (pov^v  '/.lvoyv\ 
Die    Ergänzung    ist    doch    .sicher.     Folglich    muß    die     Her- 
stellung von   128 

ä[yyov  ng  f/;f£]i  xsQ^vog  .  ifi€iQ6i[g\  ficc&atv  Tr[tg  f/v; 


7',  i]  Die  Ichnkutai  des  Sophokles.  13 

oder  jedenfalls  die  Erklärung  von  Wilamowitz  458.  5,  der 
den  Lyraklano-  unter  xtg^vog  versteht,  unrichtig  sein.  Ist  doch 
y.SQXvog  =  Yi  xgaxvty^g  tilg  (paQvyyog,  6  ev  rtöi  %veviiovi  ipöcpog 
ein  Wort,  das  auf  jedes  andere  Geräusch  besser  paßt.  Robert 
dachte  deshalb  au  den  Habicht,  der  sonst  XEQxvy]  heißt.  Man 
Avird  es  besser,  wie  schon  Vollgraff  (Mnetuosyne  XLII  181) 
vorschlug,  als  Frage  nehmen:  'tönte  in  der  Nähe  ein  Krächzen?' 
oder  besser  'schrie  ein  Habicht  naheV  Da  Silen  nichts  sre- 
hört  hat,  liegt  es  nahe,  mit  Wilamowitz  456  anzunehmen, 
daß  Silen  nach  93  abgetreten  ist  und  erst  117  wieder  er- 
scheint.^) Das  findet  Bestätigung  163  ff.  Da  bittet  ihn  der 
Chor  nciQLov  i.i£  <3vaxo8riytT£i  und  das  gewährt  der  groß- 
schnauzige Silen  166  sya  nciQbv  avtog  68  ^iQoeßißä  und 
169  sya  d' ev  äQyoig  TtaQuivav  ö"  axsvd^vvu)  Bei  der  ersten 
Suche  g4  ff.  hatte  er  sich  also  zurückgezogen,  faul  wie  er  ist 
Bei  dev  zweiten  übernimmt  er  großsi^urig  die  Führung:  nun 
kann's  nicht  fehlen!  Sein  Abgang  93  ist  so  wenig  ange- 
deutet oder  motiviert  wie  der  Apolls  57.  Sein  Wiederauf- 
treten 1 1 7  wird  veranlaßt  durch  das  plötzliche  Verstummen 
und  Erstarren  der  Satyrn,  die  sich  eben  noch  so  lebhaft  ge- 
tummelt und  geschrien  hatten.  Da  will  er  sehen,  was  es  sibt. 
Nach  seiner  reuommistischen  Strafpredigt  hetzt  er  nun  die 
Spürhunde  wieder  an  und  beteiligt  sich  als  Kommandeur,  bis 
196  wieder  der  wunderbare  Ton  erklingt.  Auch  hier  fehlt  die 
Parepigraphe. 

Wieder  erstarrt  der  Chor  in  Entsetzen.  Nach  langer 
Pause  fragt  er  den  Silen  197  'V"atev  was  schweigst  du?  hörst 
du  oder  bist  du  taub?'  Dann  gibt  es  ein  kurzes  Hin  und 
Her.  Einer  will  weglaufen,  ein  andrer  widersetzt  sich.  End- 
lich ermannt  man  sich,  der  Sache  auf  den  Grund  zu  gehen, 
man  ruft,  man  trampelt.    Schließlich  erscheint  Kyllene. 

In  diesen  Versen  197 — 214  ist  die  Personenverteilung 
des  Papyi-us   von  den   Herausgebern  geändert,   von  Pearson, 

i)  Doch  hört  auch  Neoptolemos  201  nicht  den  ersten  Schmerzens- 
schrei  des  Philoktet,  den  der  Chor  vernimmt,  der  freilich  zur  Höhle 
hinaufgegangen  ist,  während  N.  unten  blieb  (145). 


14  i^.  -Uetiu;:  (71,1 

VOLLGKAFF,  A.  KoKUTK  (Aicliiv  1".  Papyrusfoisch.  V  (1913) 
560)  verteidigt.  Die  eii(l<^illti<i^e  Losung  «1er  Fru^e  ist  für 
die  Autlassunij;  des  Stückes  nnd  fiii-  weitere  F<)l<x<'riingen  von 
Wiehtiukeit. 

Kvlleiics  erste  Worte  sind  diese: 

215    i>7/of(j,  ri  tövÖs  iXofQov  vkäÖi^  Träyov 

f/•|^>/()()J'    lOQfUJifljTe    ai'V    TTOllfjL    ßofjL: 

Die  uiunittelbar  vorlierj^'clieude  AuHordcninuf  /uin  lleraus- 
tromnu'hi  der  üöttiu  <raben  die  Heraus<;eher  und  Erklärer 
eutgegeu  dem  Pajiyius  dem  Sileii.  Und  doch  hätte  schon 
Vers  216  davou  abhalten  sollen,  an  das  Trampeln  eines  ein- 
zelnen zu  denken:  Wie  könnte  er  wohl  mit  seinen  Beinen 
ein  stärkeres  Geräusch  als  die  Kehlen  des  Chors  hervor- 
bringen? An  einer  Holztür  kann  man  ja  wohl  mit  kräftigen 
Tritten,  besser  freilich  mit  Schlägen  ein  tüchtiges  Krachen 
hervorbringen,  aber  von  einer  Tür  will  man  nichts  wissen. 
Mit  Recht  lehnt  sie  ItonioiiT  ab:  sie  paßt  nicht  in  den  Borg- 
wald und  längst  hätte  der  Chor  sie  bemerkt  haben  müssen. 
In  der  einzigen  analogen  Szene,  in  Aristophanes  Vögeln  54 
wird  die  Auflorderung  des  Peithetairos  rä  ßxelsi  dtve  xi]v 
%ixQav  von  Euelpides  mit  dem  Vorschlag  beantwortet  6v  de 
xfi  xscpakij,  und  sie  schlagen  dann  als  praktische  Leute 
lieber  mit  einem  Stein  gegen  den  Fels  und  rufen  dazu. 

Kyileue  redet  eine  Vielheit  an  •i^i^Qtg,  wendet  sich 
also  nicht  au  Sileu.  Von  ihm  verlautet  überhaupt  nichts 
mehr  in  der  ganzen  folgenden  Szene,  und  auch  in  den  letzten 
erhaltenen  Versresten  433  ist  er  vor  dem  ersten  Ruf  nach 
Apollon  ohne  jede  Gewähr  ergänzt.  Also  kann  nicht  Silen 
allein  getrampelt  haben,  sondern  Kyllenes  Rede  muß  eine 
stürmische  Bewegung  des  ganzen  Chors  vorangegangen 
seiu.^)    Mithin    muß,  nachdem    206 — 210    vergeblich    gerufen 


i)  V.  WiLAMowiTz  459  läßt  dea  Chor  beim  Anblick  der  Kyllene 
entsetzt  auseinander  stieben'.  Auf  manchen  Vasenbildern  sehen  wir 
das  allerdings,  aber  im  Text  steht  nichts  davon.  Im  Gegenteil.  Kyllene 
schilt  sie  ja  wegen  ihrer  Frechheit,  mit  vollem  iiecht  nach  ihrer  Tram- 
pelei.    Und   wie   sollen   sie   sich   vor  Kyllene   entsetzen,    die  ihnen   so 


71,  ij  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  15 

war,    die    Aufforderung    211     zu    stärkerem    Lärmeu    an    den 

ganzen  Chor  gerichtet   sein.     Diese   notwendige  Auffassung 

darf  nicht  durch  den  Singular  der  Ankündigung  ins  Schwanken 

kommen  2 1 1 

akl'   sya  xäya 

ff\GiQ\5iv  xTVJtov  nidoQtov  a^avayxdöio 
nrjdrjiiaöLv  xQuinvolöt  y.ccl  laxtiöfiaöiv, 
äßr  SLöaxovöai  ad  kiccv  xcocpog  ttg  tjl. 
Das  aAA'  iyca  211  ist  nicht  als  Gegensatz  zu  dem  vergeb- 
lichen Rufen  zu  fassen,  sondern  zu  dem  negativen  Vers- 
anfang  6  d'  ov  (pavetxai  toiöiv:  dennoch  werd'  ich's  er- 
zwingen.' Der  Führer  setzt  sich  unwillkürlich  mit  seiner 
Gefolgschaft  gleich;  sie  bilden  zusammen  ein  Wesen.  'Ich 
greife  an'  meldet  der  Oberst  und  schickt  seine  ersten  Schützen- 
linien  vor.  'Ich  werde  ihn  heraustrommeln'  sagt  der  Chor- 
führer und  gibt  das  Zeichen  zum  Tanz.  Daß  der  Chor  im 
Singular  so  gut  wie  im  Plural  von  sich  singt  und  spricht, 
so  auch  zum  Chor  gesprochen  wird,  ist  aus  Tragödie  und 
Komödie  ganz  geläufig.  Dem  entspricht  die  ausgeschriebene 
Aufforderung  in  den  Spürhunden:  Nicht  ihr  Sprecher  allein, 
der  ganze  Chor  soll  nriöriiLaöL  xQamvolöi  xsl  Iccxti'öiiaöi, 
einen  Lärm  aufführen,  den  auch  ein  Stocktauber  hören  müßte. 
Also  folgte  nun  ein  toller  Chortanz  ohne  Gesang.^)  Das 
ist  mehr  als  Vermutung,  denn  die  Interpretation  erzwingt 
diese  Folgerung.  Aus  der  Komödie  kennen  wir  dergleichen. 
Am  Schluß  der  Wespen  rühmt  sich  Aristophanes,  zum  ersten- 
mal den  Abgang  mit  Tanz  geschmückt  zu  haben:  'da  war 
ein  Solotanz  von  ein  Paar  Knaben  eingelegt,  die  er  schon 
vorher  verwandt  hatte'  erläutert  v.  Wilamowitz,  Berl.  Akd. 
Sitz-Ber.  1903.  455.    So   kann   ein  stummer  Tanz  der  Satyrn 


wohl    bekannt   ist   (237)    wie    sie    ihr.     Sie    erwarteten   ja    doch,    daß 
schließlich  jemand  erscheine. 

i)  Die  Zahl  der  gesangloaen,  nur  von  der  Flöte  begleiteten  Tänze 
ist  nicht  klein  gewesen.  Piaton  teilt  in  den  Gesetzen  Vli  795  E  die 
Gymnastik  in  öoxricig  und  Ttdlri  ^°d  redet  dann  besonders  von  Pyrriche 
und  Emmeleia      Näheres  über  solche  bei  Lukian  nsgi  öp^uijCfco?  8  ff. 

Phü.-hiBt.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  i.  2 


i6  E.  Hkthk:  (7«,  > 

nicht,  befremden,  zuniül  er  eigentlich  ^ar  nicht  stumm  ist, 
sondern  einen  mächtigen  Lilrm  mit  wildem  Stampfen  uus- 
führte,  durch  den  Worte  doch  nicht  (iurchgedrun^'en  wären. 
Ob  man  ihn  Sikinnis  nennen  darf,  scheint  nicht  sicher,  da 
die  Parodos  im  Kyklops  nach  37  als  solche  «gelten  muß,  zu 
der  der  Chor  sang.  Aber  die  Hauptstelle  über  Sikinnis  bei 
Athenaios  XIV  630  C  lehrt,  daß  sie  ein  Tanz  im  schnellsten 
Tempo  war.  Nachdem  der  Name  von  einem  Kreter  Sikinnos 
abgeleitet  und  versichert  ist,  daß  die  Kreter  als  Jäger  die 
Schnelligkeit  der  Füße  besonders  ausgebildet  hätten,  fährt  er 
fort:  eiöl  de  rivig  ot  (paai  zrjv  gCxlvviv  TioLrjTcaäs  (bvofidad^at 
ccxb  ri]g  xivyjöscog^  rjv  xal  ol  öätvQot,  (iQiovvrui  ra^vratriv 
ovOav.  ov  yuQ  ixsi  ^j9-og  avrr]  rj  oqxV^^^  ^^^  ovde:  ßQaÖv- 
v£L.  6vve6trjxsv  de  xcd  öarvQixi}  %ä6a  TtoCrjöig  rö  TraXavhv  ix 
XOQäv  äg  xal  i]  rörs  rgayondia.  Im  Presto  Prestissimo 
kann  man  schlecht  zugleich  tanzen  und  singen.  Hier  hätten 
wir  zum  erstenmal  den  echtest  satyrmäßigen  Tanz  festge- 
stellt. Doch  wie  man  diese  tolle  Hopserei  auch  nennen  mag, 
die  Interpretation  der  Stelle  erzwingt  die  Annahme  eines 
solchen  Poltertanzes.  ^ 

Auch  für  den  Aufbau  des  Stückes  ist  diese  Feststellung 
von  Bedeutung.  Die  Sikinnis  trennte  hier  die  bewegte  Spür- 
szene wirkungsvoll  von  dem  ruhigen  Dialog  mit  KyUene. 
Die  im  Kyklops  und  in  den  Tragödien  vom  Chor  g  es  an  g 
ausgeübte  Funktion  übernahm  hier  der  gesanglose  Tanz 
des  Chors. 

Wenn  nun  einer  von  den  Satyrn  zur  Sikinnis  211  — 14 
autfordert,  so  ergibt  sich  die  im  Papyrus  überlieferte  Per- 
sonenverteilung nach  198  von  selbst.  Auch  204 — 6  muß  ein 
Choreut  sprechen:  Vir  wollen  jetzt  wissen,  was  dahinter 
steckt',  worauf  der  Chor  207 — 210  ruft.  Den  204  abgewehrten 
Fluchtversuch  machte  also  Silen,  dem  200 — 203  gehören  und 
vorher   199  das  eCya  und  ov  fieva. 


7\,   l]  Die  ICHNEUTAI  DER  SOPHOKLRS.  I7 

3.  Die  Inszenierung. 

Eids  kami  ganz  sicher  gesagt  werden:  vom  Auftauchen 
der  Kyllene  aus  der  Erde,  von  einem  unterirdischen  Gang 
oder  von  Hohlräumen  unter  dem  Schauplatz  kann  jedenfalls 
bei  den  Ichneutai  nicht  die  Rede  sein.  Die  Interpretation 
verbietet  das.  Trotzdem  hatte  Wilamowitz  so  gut  wie 
Robert  es  fast  als  selbstverständlich,  eines  Beweises  kaum 
bedürftig  hingestellt.  A.  Kcerte  (Archiv  f.  Papyrforsch.  V  563) 
LuDOviCA  KoETTGEN  (Diss.  Bonn  19 14.  78)  und  Vollgraff 
(Mnemosyne  XLII  (1914)  haben  widersprochen.  Robert  539 
läßt  Kyllene  in  der  Mitte  der  Orchestra  aus  dem  unterirdischen 
Gang  auftreten,  während  Wilamowitz  457.  i  das  für  eine 
"bare  Erfindung'  erklärt.  Dafür  kämpfe  ich  seit  mehr  als 
20  Jahren  und  hoffte  es  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1897  -715 
endgültig  und  überzeugend  dargelegt  zu  haben.  Hat  doch 
DÖRPFELD  festgestellt,  daß  es  im  Dionystheater  zu  Athen 
solchen  Gang  nicht  gibt:  folglich  kann  er  auch  in  allen  an- 
deren Theatern,  die  doch  sämtlich  Ableger  des  attischen  sind, 
kein  notwendiges  Inszenierungsmittel  gewesen  sein.  Wer 
den  einzigen  aufgedeckten  im  Theater  zu  Eretria  durch- 
schritten hat  und  aus  ihm  in  der  Orchestramitte  herausge- 
klettert ist,  der  weiß,  daß  nie  ein  Schauspieler  sich  aus  dieser 
Kajütenluckenenge  mit  einiger  Würde  herausdrängen  konnte. 
Wilamowitz  denkt  sich  die  Orchestra  mit  einem  nach  hinten 
zu  ansteigenden  Holzboden  überbaut  und  rügt,  daß  man  viel 
zu  wenig  damit  rechne,  daß  zu  jedem  Feste  besondere  Holz- 
bauten errichtet  wurden.  Das  wäre  aber  nicht  nur  für  jedes 
Fest,  sondern  für  jedes  einzelne  der  3x4  Stücke  nötig  ge- 
wesen, um  für  jedes,  wie  er  das  wünscht,  einen  individuellen 
Schauplatz  zu  schaffen.  Ich  fürchte  wie  Vollgraff,  er  hat 
sich  doch  nicht  recht  deutlich  gemacht,  was  dazu  an  Mate- 
rial, Zeit  und  Arbeit  gehört,  um  einen  Raum  von  fast  200  qm 
mit  ansteigendem  Holzboden  zu  überbauen,  und  wie  wider- 
wärtig die  Lauferei  und  Schlepperei  und  Hämmerei  die  Feier- 
lichkeit der  Spiele  und  die  Stimmung  stören  mußte.    Und  wie 


i8  E.  Hktiik:  [71.  » 

würde    solch    hölzerner    llolilniuin    unter    jedem    Schritt    und 
dem   Tanz    des  Chors    nun    gar    von  Satyrn   gedröhnt   habcm! 
Wozu  bereitet  man  denn  einen   wr-iten,  fbenen,  runden  Tunz- 
plat'z  mit  Mühe  und  Kosten   —  und   die  waren    im  attischen 
Dionystheater    nicht    gering    —    wenn    man    ihn    nicht    zum 
Tanzen  benutzte   sondern   überbaute?    Die  Thymelehypothese 
des  seligen  \N'iksklkk  steht  niutatis  mutandis  wieder  auf:  er 
überbaute   die   halbe  Orchestni   oder   mehr,   um    eine   Verbin- 
duiK*"  zwischen  dem   auf  ihr  agierenden  Chor  und  den  Schau- 
spielern  auf   der    hohen    hellenistischen    Bühne    zu    schaöeu. 
Jetzt  wird  sie  überbaut,  um  einen  Hohlraum  zu  schaffen  für 
Kyllene.    die  bei  Sophokles   sicher   nicht   aus   der   Tiefe   auf- 
tauchte.   Doch  auf  die  Entwicklung  des  dramatischen  Schau- 
platzes   muß    ich   noch   einmal   im  größeren  Zusammenhange 
zurückkommen    und    zu    den    in    letzten    Jahren    lebhaft    er- 
örterten Fragen  Stellung  nehmen.    Hier  beschränke  ich  mich 
auf  die  Ichneutai  und  befrage  ihren  Text,  ob  und  was  er  für 
ihre  Inszenierung  ausgibt.   Das  ist  das  Erste  und  Wichtigste, 
und  das  muß  bei  jedem  Drama  einzeln  geschehen.    Dabei  muß 
zunächst  das  Objekt  streng  isoliert   und  ohne  jede  Rücksicht 
auf  andere  Dramen  untersucht  werden    oder  gar    auf   allge- 
meine Vorstellungen,    mag.  man    sie    auch  noch   so    gut    be- 
gründen   zu    können    glauben.     Wilamowitz    456    geht    von 
einer  allgemeinen  Betrachtung  aus:   'Hinten  ist  nichts  einem 
Gebäude,   einem  Eingang   Ähnliches;   der  ganze  Spaß  beruht 
darauf,  daß  die  Anwesenheit  eines  Wesens,  das  Musik  macht, 
unbegreiflich  ist;  die  Höhle  ist  also  unterirdisch  und  aus  der 
Tiefe    erscheint     dann    Kyllene    ganz    überraschend'.     Über- 
raschend?   Doch  höchstens  insofern,  als  die  Satyrn  einen  an- 
dern als   die  Nymphe   erwartet  haben  könnten.    Wer  schreit 
und  trampelt,   um  über  einen  Ton  Auskunft  zu  erhalten,  der 
kann  doch  nicht  überrascht  werden,  wenn  sich  endlich  jemand 
zeigt.    Es  findet  sich  auch  davon  nicht   die  leiseste  Spur  im 
Text,   daß   der   Chor  beim   Anblick   der   Göttin    entsetzt  aus- 
einanderstiebe, wie  Wilamowitz  das  459  nach  Analogie  von 
bekannten  Vasenbildern  annimmt.    Daß  jemand  erscheint  und 


71,1]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  19 

zwar  gerade  da,  wo  sie  erscheint,  hat  der  Chor  erwartet,  wie 
215/6  beweist,  er  kann  also  unmöglich  überrascht  und  er- 
schreckt werden. 

Ich  kann  auch  nicht  zugeben,  der  ganze  Spaß  beruhe 
darauf,  daß  die  Anwesenheit  eines  Musikanten  unbegreiflich 
sei.  Der  erste  Leierklang  wirkt  auf  sie  so  überwältigend,  daß 
sie  in  Angst  erstarren  (115  ff.,  vgl.  oben  S.  11),  weil  er  nie 
gehört  wurde  (138)  und  seine  Entstehung  rätselhaft  ist.  Im 
„Unheimlichen  Gast"  schildert  der  Gespensterseher  Th.  Ama- 
deus  Hoffmann  die  lähmende  Wirkung  eines  unerhörten 
unbegreiflichen  Lautes  auf  ein  ganzes  Heer  in  einem  spani- 
schen Lager.  Mir  ist  unvergeßlich  der  überwältigende  Ein- 
druck einer  Streichmusik,  die  unversehens  hoch  über  uns 
durch  den  Bergwald  ertönte,  als  wir  vom  Vierwaldstättersee 
an  einem  Sommermorgen  den  steilen  Hang  zum  Bürglenstock 
hinauf  klommen:  wir  blieben  alle  wie  gebannt  stehen  und 
lauschten  atemlos  der  zunächst  uns  unerklärlichen  d-aöTiLg 
avdd.  Sie  kam  von  einem  Streichquartett  der  Kurhausterrasse. 
Daß  der  Ton  aus  dem  Waldgebirge,  dem  iloEQog  vX6dr,g 
Ttayog  (215)  komme,  das  ist  den  Satyrn  klar,  und  gewiß  haben 
sie  durch  Gebärden  Vater  Silen  dahin  gewiesen;  wie  könnte 
er  sich  ihnen  sonst  als  Beispiel  vorstellen,  der  -^ötpoiGL  rav 
ÖQatxQocpcßv  ßoT&v  niemals  erschrocken  sei?  Nein,  das  Un- 
heimliche ist  ihnen  die  Neuheit,  das  Überirdische  dieses 
Götterklanges,  der  zwischen  Fels  imd  Busch  nicht  paßt. 
Nach  dem  zweiten  Leierklange  gehen  sie  ihm  ja  tapfer  nach, 
heran  an  den  vXaörjg  Ttayog,  aus  dessen  Busch  heraus  er 
tönte.  Kyllenes  erste  Worte  machen  es  aber  ebenso  sicher, 
daß  dieser  dargestellt  war,  wie  daß  der  Chor  sich  unmittel- 
bar an  ihn  herangemacht  hatte: 

2 1 5  d^fiQsg  xC  rövds  x^oeqov  vXibdrj  ziäyov 
Svd^TjQOV   COQlll^&rjtE   6vv   iTToAAfjt   /3o^t ; 

Dies  ist  der  unverrückbar  feste  Punkt,  von  dem  die 
Untersuchung  über  die  Inszenierung  auszugehen  hat.  Darge- 
stellt war,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  ein  waldiger 
Hügel,  eine  Kuppe  des  övGßarov  Kvkkrivrig  x&qov   (31).    Da 


2  0  E.  Hr. IHK:  [71,1 

wohut  natürlich  die  Ortsnyiupbe  Kylleiie.  Da  hegt  sie  in 
Verbori^enhcit  das  Wunderkind  Hornies  (276  f.),  o^  evöov 
idrlv  iyxfxh]i^iEvo^  (30oV  Das  lietjt  in  der  Wiej^e  (269), 
trotz  seiner  sechs  Tajjfe  sclioii  ein  aus}jjewaclisener  Bengcl 
(274^  und  erfreut  sich  am  Sjiiel  seiner  sell)8t('rfundenen  Lyra 
(280,  3 IQ  K^vQ(ov  mit  BrriiKRKR).  Ihr  nocli  nie  gehörter  Ton 
ist's,  der  die  Satyrn  ersclireckt  zu<rleich  und  angezogen  hat. 
Seineu  Ursprung  zu  erfahren,  halten  sie  die  Kyllene  heraus- 
getrommelt. 

Für  den  \  orurteilslosen  ist  damit  die  Frage  entschieden: 
Kyllene  tritt  aus  dieser  Dekoration  des  vAcodr/j,' 
:ra7'o^'  heraus,  die  über  der  Orchestra  aufgeragt  haben 
muß.  Und  doch  soll  Hermes  unter  der  Erde  seine  Leier 
spieleu  und  aus  den  Tiefen  der  Erde  soll  Kyllene  auftauchen V 
Das  276  für  Hermes'  Aufenthaltsort  gebrauchte  Wort  xtr^öavQÖg 
führt  nicht  darauf:  den  %^y]0avQ6s  des  Rhampsinit  denkt  sich 
Herodot  H  121  als  ein  oixrj^u  U^ivov  über,  nicht  unter  der 
Erde  und  das  so  bezeichnete  mykenisclie  Kuppelgrab  liegt  in 
einem  anstehenden  Hügel  mit  seiner  Grundfläche  auf  der- 
selben Horizontale  wie  der  Boden  vor  dem  Hügel.  Das  ist 
genau  das,  was  die  Literpretation  des  Textes  für  den  &r,aav- 
QÖg  im  :td'yos  der  Kyllene  ergibt,  wo  Hermes  von  der 
Nymphe  gepflegt  in  der  Wiege  liegt. 

Alle  anderen  Stellen,  die  unterirdische  Höhle  beweisen 
sollen,  sind  ergänzt  und  so  ergänzt,  daß  die  eingesetzten 
Worte  entweder  schon  an  sich  nicht  befriedigen  oder  nur  dem 
gefallen  können,  dem  Kyllenens  Auftauchen  aus  der  Tiefe 
schon  Überzeugung  war.  Kyllene  schließt  ihre  Erzählung  von 
Hermes'  Erfindung 

282  roiövös  d-YjQog  ix  d-av6vtog  r^dovfig 
6li(ia6tov  (i[yyog  £vq£  zjal  xarad  .  .  . 
Ist  schon  ayyog  sehr  bedenklich,  so  ist  die  Ergänzung  des 
Schlusses  zu  xul  xdra  dovti  =  'er  spielt  sie  unten'  ent- 
schieden falsch.  Kann  doch  niemand  erwarten,  daß  der  Ort 
angegeben  wird,  wo  Hermes  sie  spielt,  und  wenn's  geschähe, 
würde    es    Sophokles    sicherlich    anders    ausgedrückt    haben. 


71,  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  21 

Aber  er  kann  es  hier  gav  nicht  gesagt  haben;  denn  er  hatte 
ja  Kyllene  schon  längst  erzählen  lassen,  daß  Hermes  im 
Berge  versteckt  in  der  Wiege  liegt: 

xadf^iu^Ja  y.al  Tioxiixa  xal  y.oifirjucra 

TfQog  öTtccQyccvoig  uevovGa  hTivltiv  rQO(pi]v 

270    i^£vd'£TL^C3    VVV.Xa    ZCcl    iCK^' ri^SQccv . 

So  hat  denn  auch  Kcerte  in  283  xaradlLxöv  für  das  un- 
mögliche y.arco  d[ovsi  vorgeschlagen.  Aber  die  Zugehörigkeit 
der  Versschlüsse  zu  diesen  Zeilen  ist  nach  Hunt  sogar 
zweifelhaft. 

Ganz  grundlos  ist  die  Ergänzung  des  Chorverses  243: 
'sag  uns 

SV  TÖTtocg  roi6\d£  xCg  vEQd^a  y&g  ad'  äya-] 
öTög  iyccQvöe  d'eöTitv  uvÖccv. 
Die  zerstörte  Antistrophe  gibt  keinen  Anhalt  zur  Bestimmung 
der  Zeilenlänge.  Da  aber  bis  auf  325^  der  4  Kretiker  hat, 
sonst  stets  nur  3  in  der  Zeile  stehen,  ist  an  sich  wahr- 
scheinlicher, auch  243  so  zu  ergänzen,  und  das  ergibt  sich 
sehr  leicht 

iv  röjioig  roiö^ds  rCg  (JijT    dya-^ 
GXGjg  iyaQvöe  d'iöTCiv  avdccv. 
Eine   Stelle   beweist  aber    sogar,    daß    der   Leierklang    sicher 
nicht  von  unten  kam.    Der  Chor  singt 

321    6Qd-o4>ccXaxx6g  rtg  6^<pri  xccxoi- 
Xvet  xo^ov. 
Soll   auch   nicht    das    'von    oben    her'    gepreßt  werden,    Von 
unten  herauf  kann  xccxoixvet  nimmermehr  heißen. 

Hermes  liegt  und  spielt  also  nicht  unter  der  Erde  und 
seine  Wärterin  taucht  nicht  aus  ihrer  Tiefe,  auch  nicht  über- 
raschend auf.  Dem  'göttlichen  Laute'  nachgehend  sind  die 
Satyrn  dicht  an  den  dargestellten  vXiodijg  Ttdyog  herange- 
kommen, und  haben  ihn  bestürmt  (^caQ^ijd^rj  xs  216):  Aus  ihm 
nur  kann  Kyllene  hervorgetreten  sein,  wie  man  das  von  der 
Bergnymphe  erwarten  muß. 

Nun  gibt  es  zwei  Möglichkeiten:  entweder  trat  Kyllene 
aus    der    senkrechten   Felswand    hervor,    die   hinter   ihr   hoch 


2  2  K.  Ükthk:  (71,  i 

anstiiud,  oder  sie  tauchte  oben  auf  der  Kv^lskuj)})!'  uuf,  so  daß 
ihre  Füße  auf  ihrer  hiichsten  Erh('bun<;  zu  stehen  kamen.  So 
hißt  Aischylos  das  Eidolon  des  Dareios  auf  der  llrdie  seines 
Grabmals  erscheini-n.  Datin  hätten  wii'  für  (he  Jchnoutai 
aischyleische  liühnenvorhältniese  auzunelimen,  sie  würden  also 
vor  458  au7Aisetzeu  sein,  was  zu  Wii.AMowrrz'  Ansicht  gut 
stimmen  würde,  daß  sie  ein  .lugend werk  des  8oj)hoklefi  seien. 
Leider  hält  sie  näherer  Prüfung  nicht  stand,  wie  sich  so- 
gleich zeigen  Avird.  Es  führen  aber  einige  Andeutungen  auf 
die  andere  Möglichkeit,  daß  Kyllene  aus  der  senkrechten  Fels- 
wand vorn  herausgetreten  ist.  In  der  Stichomythie  zwischen 
Kyllene  und  Chor,  der  den  Hermesbuben  des  Itinderdiebstahls 
bezichtigt,  heißt  es 

390     .y.  6  ctalg  bg  avöov  iörlv  eyxsxXrji^ävog. 

K.  Tov  :Jiidda  %av6ai  xov  dihg  [jcaxwg  keycjv. 

X.  Ttuvoi^av  £i  rag  ßovg  xig  k\i,£läv  d^tXoi. 

K.  i^dri  }ie  jcviyeig  xal  6v  xa\i  ßösg  ös^sv. 

X.  ...  XiLGSTCQ  .  .  .  V  .[^£]^sXat)v  .  . 
Die  Ergänzung  von  392  ergibt  sich  mit  Sicherheit  aus  dem 
überliefei-ten  e^sXavv  394.  Wie  können  die  Rinder  heraus- 
getrieben werden,  wenn  die  Felshöhle,  in  der  der  Dieb  sitzt, 
keinen  Eingang  hättet  Die  Rinderfährte  haben  die  Satyrn 
ja  bis  unmittelbar  an  die  Felswand  verfolgt  (216,  2^2).  Da 
erst  verwirrten  sie  sich,  kehrten  sich  um  und  wiesen  wieder 
zurück,  weil  der  Schlingel  die  Kühe  an  den  Schwänzen  in 
die  Höhle  gezogen  hatte.  Das  paßt  vortrefflich  zusammen 
und  stützt  sich  gegenseitig.  Dazu  kommt  der  Chorgesang, 
der  das  letzte  Spüren  begleitet:  da  heißt  es 

185    £VL    ßovg    £VL    TCOVO    .    . 

[iri  ftfd^ijf   ZQOxCccg  .  .  icptnov  .  . 
195  tTCL^i  Bnsx    alöid^i  Id^i .  . 
Und  wenn  die  Satyrn  unmittelbar  vor  dem  Felsen  stehend  mit 
Rufen,  Stampfen  und  Trampeln  Kyllene  herauszwingen,  so  liegt 
Hunts  Ergänzung  des  einleitenden  Verses  doch  sehr  nahe: 

XQiv  yccv  6a](pü)g 
206  sida^sv  öv[tlv]  £[vdov  ^d%£t  ßtsyr] 


71,  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  2^ 

und  entsprechend  die  des  Kylleneversee 

231  xai  tavx  acpelöa  6vv  Tiodäv  Xuxriöfiaöi 
aXrjdcov  ofiov  iidatpvQx  BysiTv[ia  ötsyt}. 
Da  könnte  man  freilich  ebenso  gut  Tistga  schreiben,  aber 
261,  wo  erzählt  wird,  daß  Zeus  heimlich  zur  Maia  gekommen 
sei,  die  ihm  dann  in  diesem  Verstecke  den  Hermes  geboren 
habe,  dieselbe  Höhle  also  gemeint  ist,  kann  kaum  ein  anderes 
Wort  als  6tiyr^  gefunden  werden. 

Zsvg  yccQ  XQV(p\aCax'  ig  ötsjyiiV  'AtkavtCdog  .  .  . 
So  heißt  J^hiloktets  Höhle  bald  ntxQu  16,  bald  ötiyri  286. 
Wir  kommen  nicht  herum:  der  dargestellte  vXtjör]s  ^(xyog 
hatte  einen  sichtbaren  Eingang  nach  der  Orchestra  hin. 
Die  Dekoration  war  also  in  den  Ichneutai  dieselbe,  was  schon 
VoLLGRAFF  und  KcERTE  befürworteten,  wie  im  Kyklops  und 
in  den  Vögeln.  Hatten  dann  nicht  aber  die  Satyrn  schon 
längst  auf  den  Verdacht  kommen  müssen,  die  gestohlenen 
Rinder  seien  da  hineingeti-ieben?  Nein,  die  Spuren  kehrten 
ja  vor  der  Höhle  um  (115).  Bei  der  letzten  Suche  nehmen 
sie  aber  auch  diesen  Verdacht  auf:  185  evl  ßovg  und  woUen 
eindringen   195  sm^t  Im^    sißid'i  i'd'i. 

Schluß:  wir  haben  für  die  Ichneutai  die  normale  Bühnen- 
einrichtung anzuerkennen.  Hinter  der  Orchestra  erhebt  sich 
die  Szene,  die  als  waldige  Felskuppe  dekoriert  war  und  vorn 
einen  Eingang  hatte,  aus  dem  die  Bergnymphe  und  später 
der  Hermesbube  selbst  heraustreten. 

4.  Die  Zeit. 

Dies  Ergebnis,  daß  die  Ichneutai  aufgeführt  sind  vor 
einer  Dekoration,  die  eine  waldige  Felskuppe  mit  einem 
Höhleneingang  darstellte,  verbietet  das  Stück  zu  den  ältesten 
des  Sophokles  zu  zählen.  Hat  doch  sicher  bis  467  die  Szene 
niemals  einen  Eingang  von  der  Orchestra  her  gehabt,  seit 
458  aber  gibt  es  kein  Stück,  das  nicht  Schauspieler  vor 
Augen  des  Zuschauers  in  Haus,  Höhle,  Wald  hinein-  oder 
aus  ihnen  heraustreten  läßt.  Wald,  Fels  und  Höhle  können 
wir  erst  in  den  Vögeln  von  415,   im    kaum   älteren  Kyklops 


24  1^-  i^  tuf:  [71,  I 

und  im  IMüloktet  von  409  uucliweisou,  mii'  der  /weite  Teil 
des  Aias  spielt  noch  in  einem  einsiimon  liuschigen  Tal.  80 
große  Vorsicht  beim  Mangel  an  Hramen  für  die  drei  De- 
zennien vor  dem  ))eloponnesscli('n  Kriege  geboten  ist,  so  darf 
man  docli  fragen,  <»b  10iui|)ides  431  schon  die  Mögliclikeit 
gehabt  habe,  eine  Höhle  darzustellen,  da  er  seinen  Philoktet 
vor  einer  Hütte  spielen  ließ. 

So  werde  ich  in  meinen  anfänglichen  Zweifeln  bestärkt, 
ob  wirklich  die  Ichneutai  ein  .lugendwerk  des  Dichters  seien. 
WiL.VMOWiTZ,  der  mit  dieser  Behauptung  wie  es  scheint  all- 
gemeinen Beifall  gefunden  hat,  begründet  sie  zunächst  mit 
der  Vermutung,  Sophokles  habe  selbst  den  Hermes  gespielt, 
könne  das  nur  in  früher  Jugend  gewagt  haben;  ernstlicher 
mit  Beobachtungen  über  die  dramatische  und  metrische  Tech- 
nik. Jene  Hypothese,  so  anmutig  sie  sich  gibt,  hat  doch 
kaum  Wahrscheinlichkeit.  Gewiß  hatte  Hermes  im  zweiten 
Teil  des  Stückes  eine  größere  Rolle,  wohl  die  Hauptrolle, 
um  sich  mit  Apoll  wegen  der  gestohlenen  Rinder  auseinander- 
zusetzen und  als  Erfinder  der  Lyra  bewundert  zu  werden: 
das  erhaltene  Stück  ist  ja  nur  die  Vorbereitung  darauf.  Die 
Hauptleistung  des  Hermes  aber  war  Leierspiel  und  Gesang: 
denn  Kyllenes  Erzählung  318,  daß  er  in  der  Wiege  zur  Lyra 
singe,  bereitet  darauf  vor,  und  wo  gäbe  es  damals  Lyraspiel 
ohne  Gesang?  Das  muß  nun  notwendig  eine  Soloarie  ge- 
wesen sein:  unmöglich  konnte  seine  göttliche  Musik  (244) 
von  den  tierischen  Lauten  des  Satyrnchores  begleitet  werden. 
Die  erste  Soloarie  aber,  die  wir  kennen,  ist  das  Klagelied  des 
Sohnes  um  Alkestis  438.  Da  hatte  Euripides  offenbar  einen 
guten  Sängerjungen,  wie  sie  die  Kyklischen  Knabenchöre  aus- 
bildeten, an  der  Hand  und  benutzte  ihn  zu  dem  was  er 
konnte:  zu  sprechen  hat  er  kein  Wort.^)  Da  ist  es  doch 
sehr  mißlich  eine  Schauspielerarie  früher  anzusetzen. 

Doch  auch  die  Technik  weist  die  Ichneutai  vielmehr 
aus  der  Frühzeit    heraus.    Freilich    ist    richtig,    daß  hier  nie- 


I)  Vgl.  N.  .Jahrb.  XIX  (1907)  87. 


71»  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  25 

mals  drei  Spieler  zugleich  das  Gespräch  führen.  Aber  wo 
soUen  drei  herkommen  in  dem  erhaltenen  Teil?  Zu  Apoll 
tritt  Silen.  zu  Silen  der  Chor,  zum  Chor  Kyllene.  Sollte 
etwa  der  Silen  in  Gegensatz  zum  Chor  treten?  Im  zweiten 
Teil  wäre  die  Möglichkeit  gegeben,  Kyllene,  x\poll  und  Chor 
(Silen)  und  nachher  Hermes  zugleich  auftreten  und  streiten 
zu  lassen,  aber  der  ist  verloren.  Dies  Argument  sresren 
spätere  Zeit  fällt  also  fort.  Zweifellose  Anzeichen  aber 
weisen  sie  dahin. 

Auffallend  häufig  sind  jambische  Monometer  und  Di- 
meter,  zwischen  die  Trimeter  des  Dialogs  in  den  Ichneutai 
gestreut  sind:  101,  103,  iii,  130,  132,  134,  lauter  kleine 
Sätze  wie  a^Q£i  acü.a^  öCya  u£v  ovv.  Unartikulierte  Ausrufe 
wie  V  V  V  V  125  sind  nicht  in  Betracht  gezogen.  Das  ist 
eine  Besonderheit  des  Sophokles.^)  Aber  auch  er  verwendet 
sie  keineswegs  gleichmäßig.  Sie  finden  sich  nur  in  Trach  (2) 
OR  (3),  El  (2),  Phil  (4),  OC  (2),  fehlen  aber  ganz  in  Anti- 
gene und  Aias.  Ihre  Häufigkeit  hängt  von  der  Erregtheit 
der  Handelnden  ab,  so  haben  Philoktet  und  das  Satjrspiel 
am  meisten.  Aber  Antigone  und  gar  Aias  haben  wahrlich 
nicht  weniger  lebhafte  Handlung  und  Bewegung  wie  Trachi- 
nieriunen  oder  Elektra.  So  weist  diese  Beobachtuns  die 
Ichneutai  in  die  späteren  Jahre  des  Sophokles. 

Denselben  Ansatz  erfordern  die  Brechungen  des  Tri- 
meters.    Die  Ichneutai  haben,  auf  200  Verse  zwei 

99  Tt;  TOiöt,  tavrr]  ctag  doxet;  —  doxst  Tcdvv. 

19g   öiya.  —  XL  £6ttv'^  —  ov  (isvä).  —  /xeV  ei   dvvac. 
So  ist  dieser  Vers  im  Papyrus   in   vier  Zeilen   abgesetzt   und 
diese  überlieferte  Teilung  habe  ich  oben  S.  13  gerechtfertigt. 
Wie  Aischylos  hat    auch  Sophokles   in  Antigone  noch  keine 
Antilabai.    Aias    bricht    einige  Trimeter    doch   nur    in    Halb- 


i)  V.  WrLAMowiTz,  Hermes  XVIII  (1883)  246.  Die  einzigen  zwei 
Stellen  bei  Aischylos  stehen  in  der  Kassandraszeue :  12 14  iov  iov  m  m 
xaxa  und  1315  ioi  ^svoi  sind  Ausrufe  und  der  erste  leitet  den  Wahn- 
sinnsanfall ein.  Sie  sind  jenen  sophokleischen  Stellen  nicht  durchaus 
\  ergleichbar 


20  E.  Bkthk:  [71,  1 

verse  nach  der  Penthemimen'S  (591 — 4,  g8i — 4),  einmal  q86 
nach  der  Hephtheniiniercs.  Die  beiden  Antilabai  der  Ichiicutai 
aber  scheiden  das  letzte  Metroii  ;il)  und  igg  den  ersten  Fuß. 
Beides  tindet  sich  erst  in  OR,  Trach,  Phil,  OC.  Dreiteihing 
des  Ljesprochenen  Tri  niete  rs  kinmen  wir  bei  ihm  nur  aus 
Elektra  1502,  Phil  810,  814  und  OC  832.  Eine  Vierteilung 
aber,  wie  sie  199  der  Ichueutai  zeigt,  gibt  es  nur  einnial 
noch  im  l^hil   753   vom  .lahre  40g. 

Die  Häufigkeit  der  Auflösungen  im  Trimeter  ist 
nicht  ohne  weiteres  für  den  Zeitansatz  zu  verwerten.  So  ge- 
wiß sie  im  allgemeinen  zunimmt,  so  ist  doch  bei  Sophokles 
wenigstens  mir  so  viel  sicher,  daß  sie  auch  vom  Ethos  der 
Reden  abhängt.  Das  springt  deutlich  in  die  Augen  in  der 
Szene  0  R  934  ff.,  wo  der  Bote  aus  Korinth  der  lokaste  und 
ihrem  Gemahl  den  Tod  des  Polybos  meldet  und  sie  erleich- 
tert aufjauchzen:  da  häufen  sich  934 — 942  und  955 — 967 
die  Auflösungen  im  starken  Gegensatz  zur  Anfangsszene, 
967  hat  sogar  drei  Auflösungen.  Noch  deutlicher  wird  die 
bewußte  Verwendung  von  Auflösungen  zur  Charakteristik 
aufgeregten  Sprechens  in  den  leidenschaftlichsten  Szenen 
zwischen  Neoptolemos  und  Philoktet  740  ff.,  914  ff'.,  13 14  ff., 
wo  sich  927,  1327  je  zwei,  932  drei  Auflösungen  in  dem- 
selben Verse  finden.  Für  die  herbe  Strenge  der  Elektra 
schien  das  dem  Dichter  nicht  passend:  dies  Stück  hat  von 
der  Antigone  abgesehen  am  wenigsten  Auflösungen.  Ihr  am 
nächsten,  wenn  auch  im  großen  Abstände,  steht  das  postume 
Werk  OC,  offenbar  auch,  weil  die  Unruhe  der  vielen  Kürzen 
der  würdevollen  Hoheit  nicht  angemessen  schien.  Trotzdem 
ist  anzuerkennen,  daß  Häufigkeit  der  Auflösungen  ein  Stück 
nicht  gerade  für  die  Frühzeit  empfiehlt,  angesichts  der  Tat- 
sache, daß  Aischylos  gegen  sie  strenger  ist  als  Sophokles  und 
dieser  strenger  als  Euripides,  und  daß  Antigone  sich  in  dieser 
Hinsicht  von  den  übrigen  sophokleischeu  Stücken  absondert. 
Da  nun  der  Kyklops  durch  verschiedenste  Anzeichen  ein- 
stimmig der  Altersperiode  zugewiesen  wird  und  auch  nach 
der  Zahl  der  Auflösungen    sich  zu  ihnen  stellt,    ohne  jedoch 


7ii  i]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  27 

dieselbe  Häufigkeit  wie  Orest.  Bakchen,  lA  zu  erreichen,  so 
ist  der  Schluß  berechtigt,  daß  auch  die  Ichneutai  zu  den 
späteren  Werken  des  Sophokles  gehören:  haben  sie  doch  ver- 
hältnismäßig die  größte  Zahl  von  Auflösungen.^) 

Für  die  Zeitbestimmung  verwendbar  scheint  mir  auch 
die  bisher  noch  nicht  beobachtete  Wiederholung  des- 
selben Wortes  in  derselben  Form  unmittelbar  hinter- 
einander. Aischylos  wendet  das  nur  in  den  äußersten  Stei- 
gerungen des  Schlußkommos  der  Perser  und  der  Ägypterszene 
der  Hiketiden  an.^)  Euripides  hat  dies  pathetische  Mittel 
aufgegriffen,  verwendet  es  in  den  Klagegesängen  schon  der 
Alkestis  reichlich  {222,  2^2,  259,  266,  27of.,  400,  872,  888), 
später  bringt  er  es  besonders  in  seinen  Soloarien  übertrieben 
und  nicht  immer  bloß  an  den  Stellen  höchsten  Effektes  an, 
so  daß  die  Wiederholung  oft  leer  erscheint  und  den  Spott 
des    Aristophanes    mit    Recht    erfahren    hat    (Frösche    1337, 

i)  Die  Ichneutai  haben  auf  etwa  200  Trimeter  16  überlieferte, 
9  mit  Sicherheit  ergänzte  Auflösungen,  dazu  eine  112  (val  ^cc  ^la)  mit 
Eigennamen,  die  ich  grundsätzlich  ausgeschlossen  habe,  das  macht  auf 
etwa  7—8  Trimeter  eine  Auflösung  oder  rund  13  %.  Nach  meiner 
Zählung  —  ich  habe  je  4—500  Verse  aus  den  verschiedenen  Teilen 
jeder  Tragödie  gezählt,  die  Eigennamen  fortgelassen,  Philoktet  ganz 
durchgezählt  —  ergibt  sich-  die  Reihe 

Antigone    mit  i  Auflösung  auf  je  33  Trimeter  =     3,5  *•/, 

Elektra 

OC 

Aias  „ 

OR 

Philoktet 

RuMPEL,  Philolg.  XXV  (1867)  54i  der  die  Eigennamen  mitrechnete,  er- 
hielt aus  der  Gesamtzählung  Elektra  (i  Auflösung  auf  21,5  Trimeter), 
Antigone  (20,9),  OC  (15),  OR  (14,2),  Aias  (13,5),  Trach.  (12),  Phil.  (8,4). 
2)  Für  Prometheus  688  ovTtox  o^Ttor  i\^iovv,  691  «^ftara:  Xv\iaxK 
äsi^atcc  (was  Wilamowitz  mit  S.  Hermann  tilgt},  694  ico  uoTqu  fioiQu, 
887  7j  6oq)6g  T]  6oq)bg,  894  jatjäots  (ii^nors  wüßte  ich  aus  Aischylos  wie 
für  manche  andere  Sonderbarkeit  keine  Parallele  zu  erbringen,  aus 
späteren  Tragödien,  besonders  des  Euripides  desto  mehr.  Meine  Über- 
zeugung, daß  Prometheus  nicht  in  echter  aischyleiächer  Form  vorliege, 
ist  nicht  erschüttert. 


^"O        -1 

"   ■ 

Ji/D     / 

17 

= 

6% 

15 

= 

6,5  7o 

11,5               M 

= 

80  Vo 

IG              „ 

= 

10% 

28  K.  Bkthk:  |7',  i 

1332  Ö'.).  Sophokles  ist  auch  hierin  /urnekhaltende)-.  Wendet 
«T  (livs  Mittel  in  der  Antigoiie  ül)erhiiuj)t  noch  iiielit  an,  im 
OK,  lOlektra,  Aias  spilrlich,  so  hat  er  davon  in  den  Traehi- 
Jiieriunen  und  noidi  mehr  im  IMiiloktet  und  <)C  auspriebig 
Gebrauch  gemacht.  Und  wieder  stellten  sich  die  Ichneutai 
zu  der  späten  (iruppe  mit  den  autVaHend  vielen  Wortwieder- 
h(dungen  im  Spiirliede  (174  elrilvifi-v,  tkijXviffv^  lyS  oi)Qi'a^ 
ovQi'ag^  183  öTpo'riOs'  ürgaTios^  log  ^(ptnov  ttps(pov^  dazu 
noch   177   6  ÖQäxi^  b  yQä:ns,  vgl.   185,  195). 

Berücksichtigt  man,  wie  ich  es  getan,  die  Eigenart  des 
Satvrspiels  und  billigt  mau  ihm  auch  größere  Freiheit  gegen- 
über der  Tragödie  zu,  so  kann  doch  das  alles  nicht  die  von 
verschiedenen  Seiten  her  gemachten  und  alle  auf  spätere  Zeit 
weisenden  Beobachtungen  aufheben:  die  Ichneutai  sind 
kein  Jugend  werk,  sie  werden  nicht  älter  sein,  als  die 
zwanziger  Jahre.  Dazu  stimmen  auch  die  winzigen  Chor- 
partien wie  im  Philoktet,  z.  T.  ohne  Respousion  wie  im 
Kyklops.  Die  Reden  Apolls  und  der  Kyllene,  die  einzigen 
langen  Reden  des  Bruchstücks,  geljen  den  Ichneutai  einen 
feierlicheren  (Charakter  als  dem  Kyklops,  aber  das  gehört 
sich  so  für  Götter.  Der  archaische  Eindruck,  den  es  leicht 
macht,  beruht  zum  großen  Teil  auf  der  fremdartigen  Steif- 
heit der  akatalektischen  jambischen  Tetrameter,  zum  anderen 
auf  der  als  unrichtig  erwiesenen  Vorstellung,  daß  keine  De- 
koration, wenigstens  kein  Eingang  vorhanden  gewesen  sei, 
und  schließlich  auf  der  starken  Beteiligung  des  Chors  an  der 
Handlung.  Aber  da  ist  doch  sehr  zu  betonen,  daß  sich  der 
Chor  dabei  nicht  als  solcher  mit  Tanz  und  Gesang  gibt,  son- 
dern mehr  in  Schauspielerart:  er  löst  sich  auf  und  die  ein- 
zelnen Choreuten  reden  in  Trimetern.  Im  zweiten  Teil  des 
Stückes  war  er  sicherlich  in  bescheidene  Holle  zurückge- 
drängt: da  brachte  Apoll  seine  Sache  mit  Hermes  ins  Reine,  da 
gab  es  Schauspielerszenen,  bei  denen  der  Chor  nicht  viel  mehr 
als  Zuschauer  gewesen  sein  kann.  Nur  seine  Belohnungen  zu 
erhalten,  wird  er  sich  gemeldet  und  weiter  seiner  Freude  über 
sie  wie  über  die  schöne  Musik  Ausdiuck  t^etjeben  haben. 


71,1]  Die  Ichneutai  des  Sophokles.  29 

Ich  fasse  zusammen:  Die  Ichneutai  sind  ein  Werk  aus 
Sophokles'  späterer  Zeit,  etwa  den  zwanziger  Jahren.  Sie 
waren  zu  Anfang  verstümmelt,  als  sie  in  philologische  Be- 
handlung kamen:  Prolog  und  Parodos  sind  verloren.  Die  Szene 
stellte  eine  waldige  Bergwand  dar,  in  der  sich  eine  Höhle 
öffnete.  In  ihrem  Busch  hatten  sich  Silen  und  Chor  bei 
Herannaheu  Apolls  versteckt,  aus  ihm  belauschen  sie  seine 
Ankündigung  und  hüpfen  alsbald  heraus.  Die  Suche  nach 
den  Rinderspuren  führen  sie  über  die  Orchestra  hin  in  ein- 
zelnen Haufen,  nachher  zu  drei  Teilen  (168)  aus.  Unterbrochen 
wurde  sie,  als  sie  sie  schon  dicht  an  die  Höhle  geführt, 
dann  aber  den  verkehrten  Spuren  folgend  wieder  abgedreht 
hatten,  durch  den  ersten  Leierklang,  der  die  Feigen  so  er- 
schreckt, daß  sie  wie  Igel  zusammengerollt  erstarren.  Silen, 
der  sich  faul  zurückgezogen  hatte,  hetzt  sie  wieder  an,  wird 
dann  aber,  als  sie  wieder  vor  der  Höhle  angelangt  sind, 
durch  neuen  Leierklang  am  meisten  erschreckt.  Nun  aber 
drängt  der  Chor  auf  Entscheidung,  und  trampelt  in  mächtig 
lärmendem  Tanz  die  Bergnymphe  heraus.  Sie  tritt  aus  der 
Höhle  hervor,  verrät  durch  ihre  harmlose  Erzählung  von  der 
Erfindung  der  Lyra  den  Rinderdieb.  Den  holt  der  herbei- 
gerufene Apoll  nun  selbst ,  heraus,  nach  frechen  Lügen  und 
Schelmenlisten  überwältigt  Hermes  mit  einem  Sololiede  zur 
Leier  den  erzürnten  Bruder  und  tauscht  die  Rinder  gegen 
das  köstliche  Musikinstrument  ein. 

Leipzig,  Januar   1919. 


il 


I 


Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-liistorische  Klasse 

71.  Band.     1919.     2.  Heft 


J.  Partsch 
Die 

Stromgabelungen  der  Argonautensage 

Ein  Blatt  aus  der  Entdeckungsgeschichte 
Mitteleuropas 


Leipzig 
Bei  B.  G.  Teubner 

1919 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  3.  Mai  ig  19 

Das  Mauuskript  eingeliefert  am   10.  Mai  1919. 

Drucktertig  erklärt  am  14.  Juli  1919. 


Hugo  Bekger  hinterließ  unvollendet  ein  feinsinniges'  ori- 
«yinelles  Werk,  das  kein  andrer  fortzusetzen  vermochte:  den 
Anfang  einer  mythischen  Kosmographie.  Darin  sind  auch 
erhebliche  Elemente  einer  mythischen  Geographie  enthalten. 
Schon  in  seinem  Hauptwerk  war  er  -—  wie  viele  vor  ihm  — 
dem  Gedanken  nachgegangen,  aus  der  noch  erkennbaren  Fortent- 
wicklung antiker  Mythen  Anhaltspunkte  zu  gewinnen  für  die 
ältesten  Stufen  der  Anschauungen  des  griechischen  Volkes 
über  die  Verteilung  von  Wasser  und  Land  an  den  fernsten 
Grenzen  geographischer  Kenntnis.  Dafür  ist  besonders  be- 
zeichnend die  allmähliche  Umgestaltung  der  Argonautensage, 
namentlich  der  Wechsel  der  Vorstellungen  von  der  Heimkehr 
der  Helden  aus  dem  Ponto«. 

Eine  Zeit,  die  von  der  Geschlossenheit  der  Landmassen 
um  dies  Becken  noch  keine  sichere  Vorstellung  besaß,  fand 
keine  Schwierigkeit,  die  Rückfahrt  der  Helden  an  den  Außen- 
rand der  Erdscheibe  zu  verlegen.^)  Pindar  erhielt  uns  die 
kyrenäische  Sagenform,  in  der  die  Argonauten  vom  südlichen 
Okeanos  aus  zwölf  Tagereisen  weit  ihr  Fahrzeug  ins  Syrten- 
meer  herübertrugen.-)  Aber  die  zu  seiner  Zeit  längst  gewon- 
nene Sicherheit  über  die  Festigkeit  des  Landrahmens,  der  den 
Pontos  umifab  und  ein  Entweichen  aus  ihm  ins  äußere  Meer 
unmöglich  machte,  bestimmte  Sophokles  und  Herodor  die 
Rückfahrt  der  Argonauten  in  die  Bahn  der  Ausfahrt,  in  die 
Meerengen  an  der  Propontis  zu  lenken.  Nur  vereinzelt  wird 
noch  später  für  die  Ausfahrt  in  den  Ozean  eine  Anknüpfung 
an  einen  pontischen  Strom  versucht,  nicht  mehr  an  den  Pha- 
sis,  wie  einst  bei  Hekataios,  sondern  an  den  Tanais,  von  des- 
sen Oberlauf  ein    Tragplatz    die  Verbindung   mit   dem  wenig 

I;  H.  Bekgkk,  Geschichte  der  wissensch.  Erdkuude  der  Griechen. 
2A.    1903,  44  0". 

2)  Piud.  Pyth.  IV. 

Phil.-liist.  KU<j8e  1919.  Bd.  liXXI.  2.  I 


2  J.  Partsch:  (71. 2 

entfernt  jjjedachten  ntirillichen  Ozean  vermitteln  mochte.') 
Erst  spät,  in  lichter  historischer  Zeit,  die  schon  erfolgreich 
nach  einem  klaren  Gesamtbild  des  antiken  Länderkreises  rang, 
kommt  eine  neue  Wendnng  der  Sage  anf,  die  den  Heimweg 
der  Argonauten  in  das  Binuenwassernet/  Eurojjas  verlegt  und 
die  Rückkehr  aus  den  Flüssen  des  Kontinents  ins  Mittelmeer 
durch  die  Annahme  großer  Stromteilungen,  weit  divergieren- 
der Bifurkationen  der  europäischen  Ströme  ermöglicht.  Bei 
diesen  uns  überaus  fremdartig  berührenden  Vorstellungen  et- 
was zu  verweilen,  em])fiehlt  ihre  Bedeutung  für  den  Entwick- 
lungsgang des  geographischen  Wissenshorizontes. 

Zuerst  tritt  die  Vorstellung  einer  großen  Stromteilung 
auf  bei  der  Donau  um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  v. 
Chr.  Skylax  kennt  auf  der  Halbinsel  im  Hintergründe  der 
Adria  die  Istrer  und  einen  Fluß  Istros,  anscheinend  in  einem 
der  tiefen  Küsteneinschnitte,  die  für  diese  Halbinsel  bezeich- 
nend sind.-)  Die  Namensübereinstimmung  rückte  das  Miß 
Verständnis,  es  sei  ein  abgeirrter  Arm  des  Douaustroms,  um 
so  näher,  wenn  man  —  wie  Theopom])  —  der  Balkanhalb- 
insel keinen  breiten  Zusammenhang  mit  der  europäischen  Fest- 
landsmasse zuschrieb,  sondern  statt  dessen  eine  isthmische  Ver- 
jüngung, die  sogar  von  einer  unterirdischen  Verbindung  zwi- 
schen Pontes  und  Adria  durchbohrt  sein  sollte.^)  Selbst  Ari- 
stoteles, der  im  allgemeinen  das  von  Herodot  entworfene 
einfache  Bild  eines  vom  pyrenäischen  Westen  lang  durch 
Europa  ostwärts  ziehenden  Donaulaufes  festhielt*),  hatte  sich 
mit  dem  Glauben  au  einen  die  Adria  erreichenden  Donau- 
arm befreundet  und  nahm  ihn  zu  Hilfe  bei  der  Deutung 
tiergeographischer  Beobachtungen.^)   Die  alexandrinische  Geo- 

1}  Diodor  IV  56,  3. 

2)  Skylax  20.  Zur  Erklärung  Plin.  n.  h.  III   127. 

3)  Theopomp  b.  Scymn.  371  'Aägiccvi]  ^äXarru  .  .  .  avvLoitiu^ov6a 
Ttgbg  tT}v  üovTtoiriv.  381.  Strabo  VII  p.  317. 

4)  Aristot»  Meteor.  I  13,  19.     Vgl.  Her.  IV  48-  49- 

5)  Äristot.  hißt.  anim.  VIII  13  p.  598b,  15.  , 


71,2]  Stromgabelungen  dek  Ahgonautensage.  3 

graphie,  selbst  EratosthenesM  und  sein  großer  Kritiker  Hip- 
parch^),  waren  von  der  Lehre  der  Bifurkation  des  Donau- 
stroms völlig  beherrscht,  die  erst  im  Lichte  der  Eroberungen 
Roms  dahinschwand.^) 

Kein  Wunder,    daß    der  alexandrinische  Epiker  der  Ar- 
gonautensage, Apollonios,  dem   seine   zweite  Heimat  den  Na- 
men des  Rhodiers  eintrug,  nach  dem  Beispiel  des  Timagetos^), 
aber  auch  seines  Lehrers  Kallimachos'')  auf  diesem  Wege  die 
Argonauten   von    der   pontischen   zur   adriatischen   Istermün- 
duug  führte.     Eine  nähere  Anschauung  dieses  Weges  vermö- 
gen  die  eingestreuten  Namen  einzelner  Ortlichkeiten  kaum  zu 
bieten.     In  der  Reihenfolge  der  Fahrt  werden  erwähnt 
IV   306 — 313  die  dreieckige  Insel  Peuke  des  Isterdeltas  zwi- 
schen zwei  divergierenden  Mündungen,  dem  nördlichen 
Kakbv   6x6^a   und    dem    0ro/ta    i\ap»/xog,   ganz    ent- 
sprechend  der   Schilderung    des  Eratosthenes  (Schol. 
lY  310). 
lY  313 — 314   das  Angurongebirge,    vielleicht  die   Berge  des 
Eisernen  Tores.     Der  Name    erinnert    allerdings    an 
den  Augrosäuß  Herodots  (IV  1 9),  der  aus  iUyrischem 
Gebiet  der  Ebene  der  Triballer  zustrebend  den  Bron- 
gos,  einen  Nebenfluß  der  Donau,  verstärkt.  Rich.  Kie- 
pert vermutet   mit  feinerem   Urteil  als  frühere  Er- 
klärer,  die   in   ihm    einen   der   obersten    Savezuflüsse 
sahen,  die  westliche  Moi-ava.     Weit  abseits  von  dem 
Angurongebirge  folgt  dann 

O  D  o  O 

IV  3 1 5  die  Gabelung  des  Ister,  auf  der  Scheitelhöhe  des  Quer- 
profils von  Meer  zu  Meer,  auf  dem  „Nacken  des  Laa- 

i)  Strabo  I  p.  57,  VII  p.  317.  Hlgu  Bekger,  der  1880  in  den 
Geogr.  Fragmenten  des  Eratosthenes  347—350  die  beste  kondensierte 
Darstellung  der  ganzen  Frage  gab,  konnte  sich  nicht  entschließen, 
Eratosthenes  den  Glauben  an  die  Bifurkation  des  Istros  zuzutrauen. 

2)  Strabo  I  p.  57. 

3)  Diod.  IV  56,  8.     Strabo  a.  a.  0.  Plin.  n.  h.  III  127. 

4)  Schol.  App.  Rhod.  p,  498,  26,  499,  29. 

5)  0.  ScHNEiDEi!,  Callimachea  II  p.  80—83. 


\ 


rles"  (IV  .^o;    v:iIq  avitva   ;'«U/s*),  'H'  *i»'i'  '»n'U/e  /.wi- 
scheu  Skytlu'M   und  Tlirakcni  (IV    288),  am  Südriiiui 
der  wpiteu  (Jetildc  (IV   -'83),  (luirli  die  der  mächtige 
Istor    weit   »us   Norden   vom   lvi|)iiengel)ir}re  (IV   28(). 
287)  lieranzieht.     Es  ist   dus  oiVcuhar  diestdbe  Steppe 
(^igr/ucdor    :rf(St'ot'   ueya),   welche  (IV   .^21.   ^^2h)  Laii- 
rion    (.Tfd/'oj-    n    ro    /lav(>iov)    «jjenaiiiit  wird.      Wenn 
der    Dieliter  ilort    die  Siiider    wohneu  läßt  (IV   .^12), 
so    möehte    ich    darin   nur  ein   Zeichen  sehen,  dali  er 
etwas    unvorsichtig    seine    ethnographischen    Bedarf 
nisse    aus    Herodot  (IV   28)    bestreitet,    ohne   zu   be- 
merken, daß  dessen  Sindike  (IV  8ö)  nicht  im  West+^n, 
sondern    im    Osten    der    skythischen    Völkerwelt    am 
asiatischen    Ufer    des    Kimmerischen    Bosporus   liegt. 
Daseo-en    hat   er  in   treöendem   Anschluß  an  Jlerodot 
die  Sigynuoi  [[\  ;,20),  ein  Steppenvolk    mit  kleinen, 
struppigen   Rossen   voi-   den   leichten  Wagen,    in    dies 
ungarische  Tiefland    versetzt,   wo    der   Vater  der  Ge- 
schichte ihre  Sitze  bis  nahe  an   den  Hintergrund  der 
Adria  reichen  läßt  (V  9).^)    Das  dritte  von  ihm  her 
ausgegriffene    Volk,    die    Graukenioi,    sind    nicht    be- 
kannt.    Stellt  man  sich  das  Kartenbild,  in   der  P]in- 
fachheit,   wie    es    dem   Dichter    vorschwebte,    voi-.  So 
wird  Juan   am  ehesten  geneigt  sein,  die  vermeintliche 
Bifurkatiou   an   die   Savemündung   zu  legen,   wo  der 
lange,   vom    Donauknic   bis   zur  Draumüudung   ohne 
Aufnahme   von   Nebentiüssen    (ei^  oiog  IV   286)  süd- 
wärts ziehende  Strom   übertritt  in  die  von  Save  und 
unterer   Donau    ge])ildete   östlich  gerichtete  Sammel- 
rinne der  Gewässer  des  ganzen  Nordens  der  Balkan- 
halbinsel.     Am    ehesten    war    in    dem    Sumpfgelände 


I)  Herodot  ist  als  Quelle  für  den  Dichter  hier  daran  sicher  erkenn- 
bar, daß  andere  Schriftsteller,  namentlich  Strabo  XI  ]>.  520,  mit  genau 
übereinstimmender  Charakteiistik,  aber  auch  Orph.  Argon.  756  die  Si- 
ginner  auf  den  kaukanischen  Isthmus  verlegen. 


71.  2]  Stromgabelungen  der  Argonautensage.  5 

der  unteren  Save  die  Gelegenheit  geboten,  das  ein- 
heitliche Gefälle  dieser  Rinne  für  die  Westhälfte  um- 
zukehren und  gegen  die  A.dria  geneigt  zu  denken. 
Leider  bleibt  uns  die  Möglichkeit  versagt,  eine  be- 
stätigende Probe  auf  diese  Erwägung  zu  machen. 

IV  323  verlegt  der  Dichter  die  Stromteilung  an  den  Felsen 
des  Kauliakos  (6x6:tskov  nagä  Kc(\)?.iaxoio).  Das 
müßte  eine  Höhe  bei  Belgrad  sein.  Dafür  fehlt  ein 
Beweis.  Vielmehr  wohnen  des  Hekataios  Kauliker 
am  Ionischen  Golf,  also  an  der  Adria;  Patsch  in 
seiner  schönen  Monographie:  Die  Lika  in  Römischer 
Zeit  (Wien  igoo,  2 ob)  möchte  sie  an  den  istrischen 
Meereseinschnitt  von  Fianona,  also  gerade  in  eine  ge- 
eignete Gegend  für  die  vermeintliche  adriatische 
Donaumündung  versetzen.  Aber  die  von  ihm  ver- 
suchte Gleichstellung  mit  den  Flamonienses  Culici 
des  Plinius  (III  130)  scheitert  nicht  nur  an  der  Un- 
sicherheit der  Lesart,  sondern  an  der  Zugehörio-keit 
des  „sinus  Flanaticus"  zu  Liburnien,  nicht  zur  reo-io 
X  Italiae,  auf  welche  die  Stelle  des  Plinius  sich  be- 
zieht. 

Eine  individuelle  Charakteristik  der  angenommenen 
adriatischen  Istermündung  versucht  der  Dichter  nicht. 
Wir  müssen  uns  begnügen  mit  der  Feststellung,  daß 
nach  dem  Zerrinnen  des  Phantasiebildes  vom  Aus- 
einanderstreben zweier  Unterläufe  der  Donau  nach 
Pontos  und  Adria  der  tatsächliche  Kern  dieses  geo- 
graphischen Mythos,  der  nun  durch  einen  Landtrans- 
port der  Argo  über  den  Isthmus  zwischen  Emona 
(Laibach)  und  dem  Timavus  umgestaltet  wurde,  in 
der  Einheit  des  Stromzuges  der  nicht  fern  von  der 
Adria  wurzelnden  Save  und  der  unteren  Donau  und 
in  dem  früh  mit  bescheidenen  Schiffsgefäßen  ausge- 
nutzten  Verkehrswert    beider    Flüsse    in    den    ersten 


0  -J.  rARTSCu:  |7>,- 

BesclireihuiigtMi  iIps  »Mitschleierteu  Stromsystems  klar 

zum  Ausdruck  kommt.') 
In  der  Adria  l)ewe<j;t  sich  die  Arj^olahrt  dann  au  wohl- 
bekannten Ufern  entlan«;,  von  denen  schon  Hekataios  keines- 
wegs ärmliche  Kunde  gehabt  und  die  dann  das  vom  älteren 
Dionvs  cnülncte  Zeitalter  der  Kolonisation  voller  geklärt  hatte. 
Vom  Keraunischen  Gebirge  warf  ein  Sturm  die  Melden  zurück 
ins  Nordbecken  der  Adria.  An  (Um-  Mündung  des  Po,  des 
Eridanos  der  Sage,  beginnt  eine  neue  abenteuerliche  Fahrt, 
bei  deren  Deutung  die  Scholien  eine  Strecke  weit  vcUlig  ver- 
sagen, der  Leser  auf  scharfe  eigene  Deutung  angewiesen  bleibt. 
Der  Dichter  vorweilt  erst  ])ei  der  Sage  vom  Untergang  des 
verwegen  auf  des  Vaters  Sonnenwagert  emporgefahrenen  Pha- 
ethon,  den  des  Zeus  Blitzstrahl  zur  Erde  niederschmetterte,  wo 
die  Schwestern,  in  Schwarzpappeln  verwandelt,  ihn  beweinen; 
ihre  Tränen  sind  das  kostbare  Harz  des  Bernsteins,  der  vom 
Norden  der  Adria  zu  den  Griechen  kam.  Hören  wir  den 
Dichter  selbst: 
IV  595   Vorwärts  stürmte  das  Schiff  mit  vollen  Segeln;  sie  liefen 

In  den  Eridanos  ein,  in  des  Stromes  geborgene  Mün- 
dung. 

Dort  fiel  Phaethon  einst,  vom  flammenden  Blitze  ge- 
troffen, 

Aus  dem  Sonneugefährt,  verkohlt  halb,  in  die  Lagune. 

Heut  noch  schwelt  über  ihr    des  Branddunsts   drük- 

kende  Luftschicht. 

Nimmer  vermag  ein  Aar,  die  leichten  Fittiche  spannend, 

Drüber  zu  schweben;   im  Fluge  verfällt  er  dem  sen- 

trenden  Gluthauch. 


i)  Strabo  VII  5,  2  p.  314.  Plin.  n.  h.  III  128.  .Justin.  32,  3,  14. 
Zosimos  V  29,  2,  dazu  L.  Mendelssohn  p.  252.  Sozomenos,  Eccles.  hiat. 
ed.  Rob.  Ilussey  I,  Oxonii  1860  p.  32.  33.  I  6,  4-  5-  Für  diese  späte- 
ren Stadien  der  Entwicklung  der  Argouautensage  ist  wichtig  E.  Pals, 
I  due  Istri  e  il  rnonte  Apeninno  delle  Alpe  Camiche  secondo  Strabone. 
Studi  Storici  I,  Pisa  1892,  314—344- 


71,  2]  Stromgab  EHINGEN  der  ÄRGONAUTENSAGy^.  7 

ilingsuni    weinen    verhärmt    die    trauernden    Helios- 
Töchter 
Im    Schwarzpappelgeäst;    in    Tropfen    schimmernder 

Bernstein 
Rinnt  von  den  Wimpern  herab;  im  Sande  dörrt  ihn 

die  Sonne. 
Wallt  im  rauschenden  Wind  das  Wasser  der  dunklen 

Lagune 
Über  den  Strand,  dann  rollt  die  Woge  unzählige  Perlen 
In  des  Eridanos  Bett.     öio. 
619  Die  Helden  aber  beschlich  hier 

Keine  Begier  nach  Speise  und  Trank;  nie  nahte  der 

Frohsinn. 
Tasrsüber  lähmte   die  Kraft  der  Druck  der  verderb- 

liehen  Dünste, 
Die   seit  Phaethous   Brand    den   Fluten  des   Stromes 

entsteigen. 
Nachts  aber  schlug  an  das  Ohr  der  Wehruf  der  He- 
lios-Töchter; 
Öl  orleich  schwammen  die  Tränen  der  Klagenden  auf 

dem  Gewässer. 
In  dieser  Beschreibung  ist  mit  der  Charakteristik  des  von 
Lagunen  durchwirkten  Schwemmlandes  des  Po  eine  davon 
bestimmt  zu  trennende  Naturerscheinung  zusammengeflossen: 
ein  Thermalvorkommen.  Die  Vorlage,  nach  der  der  Dichter 
arbeitete,  liegt  uns  in  dem  pseudoaristotelischen  Wunderbuch 
vor  Augen,  nach  Gefifcken  eine  Partie  aus  Timaios.^)  Der  S,ee 

i)  De  mirab.  ausc.  81.  You  den  'HXsktqiöss  vi]aoi,  dl  ■ksIvxui  iv 
Tcb  U.VXCO  Tov  'AÖQia,  heißt  es  hier,  sie  seien  eine  Aufschüttung  des  Eri- 
danos. ''Eexi  Sh  xal  li^vT],  ü>g  ^oixs,  TtXijoiov  tov  Tioza^iov,  vSag  'ixovau 
^■SQiiov.  oaui]  d'  an  ccvr^g  ßaQsicc  xat  j^a/.aaös  anoTrvsi,  xaJ  outs  Jröov 
oväkv  -xivst  i^  uvTfjg,  ovr  OQVsbv  bnegniittccTKi,  ccllu.  TTiTttsi  y.ui  o.no- 
Q-vqanEi.  "K'XEi  di  TOV  uhv  y,vv.Xov  araöiiov  diaxoeicav,  t6  d'  evQog  wg  dixa. 
uvd^svovai  ö'  Ol  iy^mgioi  ^uE^ovxa  ksquvvw&svtu  TtsGilv  ig  tavxi\v  xr\v 
iifii/Tj»',  slvoci  ö'  iv  avxfi  alyiiQovg  icolXdg,  i^  tov  ixTtiTtxsiv  xb  xcclör  xet- 
vov  ^IsKTpov.    Vgl.  Tzetzes  zu  Lykophron  704. 


8  .1.  PAKTsn«:  (71.2 

h'^ißen  Wassers,  dessen  Luft  drückend  empfunden  wird,  soll 
::oo  Stadien  (58  km)  Unifant;  hüben  und  10  Studien  (2  km) 
Breite.  Das  ist  nicht  gut  luöglich.  Es  kann  sich  nur  han- 
deln um  die  heißen  Quellen  (84°)  von  Abano  an  den  Euga- 
neischen  Bergen  hei  Padua,  die  das  Altertum  als  Aquae  Pa- 
tavinae  oder  als  fons  Aponi  kannte.')  Wie  heute  war  da- 
mals hier  ein  lieilkriiftiges  Bad  in  dem  ThermalwaBser,  das 
in  geräumigen  Becken  sich  abkühlte.  Die  anmutigen  Schilde- 
rungen Claudians  und  Cassiodors  geben  ein  unvergleichlich 
freundlicheres,  aber  doch  keineswegs  vjillig  unvereinbares 
Bild  des  heißen  Pfuhls,  den  eine  frühere  Zeit  mit  Scheu  be- 
trachten mochte. 

Das  war  eine  merkwürdige,  landschaftlich  gegensätzliche 
Beigabe  zu  dem  Strome  der  Adria,  auf  welchen  die  meisten 
Stimmen  des  Altertums  seit  Pherekydes  den  ursprünglich  un- 
sicher über  dem  Westen  der  griechichen  Welt  schwebenden 
Namen  des  Eridanos  bezogen.  K.  Müllenhoff  hat  die  Ge- 
schichte dieses  Begrijffs  besonders  eindringend  verfolgt^),  der 
—  wie  Strabo  deutlich  empfand^)  —  nirgends  eine  feste  Hei- 
mat hatte.  Herodot  (III  1 1 5)  wehrte  sich  gegen  eine  ältere 
Vorstellung,  die  den  Eridanos  an  eine  Bernstein  sendende 
ozeanische  Küste,  anscheinend  ins  Nordseegebiet  versetzte. 
Und  Aeschylus  sah  in  ihrn  den  Rhonestrom,  den  Rhodanos, 
den  schon  der  Gleichklang  des  Namens  als  Verkörperung  des 


1)  Luc.  VU  192.  Sil.  It.  XII  218.  Martial  VI  42.  4-  Anthol. 
lat.  36.  Auson.  XIX  161.  Claudian  c.  min.  26.  Cassiod.  Var.  II  39. 
Plin.  II  227.  XXXI  61.  NisBen  II  221.  Claudian  schildert  vortrefflich 
den  sanft  sich  aufwölbenden  Tuffhügel  der  Therme: 

Alto  colle  minor,  planis  erectior  arvie 

Conspicuo  clivus  moUiter  orbe  turnet, 
Ardentis  fecundus  aquae;  quacumque  cavernas 
Perforat,  offenso  truditur  igne  latex. 
Den    Quelltopf    beschreibt    anschaulich    Cassiodor:    Caeruleom   fontem 
vidimus  in  formam  dolii  concavis  hiatibus  aestuantem. 

2)  Deutsche  Altertumskunde  I  ißgo,  ;i7 — 222. 

3)  Strabo  V  p.  215  tcsqI  ritv  'HgiSavör.  rov  fir^Sit^ov  yijg  ovra. 


71,2]  Stromgabelungen  DER  Argonautensage.  9 

mythischen  Begriffs  Eridanos  empfahl.  Unverkennbar  lag  in 
(lieser  Dreispaltigkeit  der  Namensdeutung  eine  Verlockung, 
zu  einer  Dreieinigkeit  des  für  die  griechische  Welt  noch  ganz 
ungeklärten  Flußnetzes  des  Westens  von  Europa  zu  gelangen, 
zu  einer  Verknüpfung  der  Quelladern  weit  auseinandergehen- 
der Ströme.  Die  hat  der  Dichter  der  Argonautika  —  nicht 
ohne  Anregung  durch  ältere  Versuche^)  —  vollzogen,  in  na- 
ivster Einfachheit  für  die  beiden  Mittelmeerströme.  An  die 
bereits  mitgeteilten  Verse  schließen  sich  unmittelbar  die  fol- 
genden: 

627   Von  da  drang  das  Schiff  in  den  tiefen  Stromzug  der 

Rhone, 

Die  den  Eridanos  stärkt;  zusammen  treffen  die  Wasser 

Brausend.    Sie  aber  kommt  von  dem  innersten  Kerne 

des  Festlands, 

Wo  die  Tore  der  Nacht  und  ihre  Sitze  gelegen. 

Dorther  dringt  ein  Arm   des  Stroms   zu   des  Ozeans 

Küsten, 

In  das  Ionische  Meer  ein  andrer,  aber  ein  dritter 

Ins  Sardonische  Meer,  in  sieben  Adern  gespalten. 

Aus  der  Rhone  fuhren  sie  ein  in  stürmische  Seen, 

Die  unsäglich  weit  im  Keltischen  Lande  sich  auftun. 

Da  droht  ihnen  Gefahr.  Ein  Zweig  des  Wassers  ent- 
weicht dort 

Gegen   des  Ozeans  Bucht.     Dahin   schon  wollten   sie 

lenken. 


i)  Schol.  z.  Apoll.  Rhod.  IV  259  p.  493,  25  ed.  H.  Keil:  TVfiayrjTo? 
iv  a'  jtiQl  i.i(LEvcov  "lotQov  [liv  qpTjötv  (so  richtig  Frgm.  bist.  Gr.  IV  519, 
die  Handschrift  rbv  uhv  ^üolv)  xaracpiQSß&ai  ix  tS5v  Kslrixäv  ögäv, 
&  iOTi  rfjg  KsXrixfjg,  slra  ixSiSövai '  sig  KsXröiv  liuvr]v,  fistä  äh  Taüro: 
tlg  Svo  Cjjjifsöd'ai  tb  väojQ,  Hai  rov  (t,sv  tig  tov  E^^bivov  itövxov  sleßal- 
1.HV,  rbv  Sh  sig  rrjv  KsXrtxijv  d'dXaaeav,  öia  ds  tovxov  rov  avö^iatog  tcIev- 
Gai.  TOi's  AQyovavrag  xat  iX&slv  slg  TvQQTjviav.  xarccKoXovd'Et  äh  uvtä 
%al  knoXlöiviog.  Die  Stelle  ist  schlecht  überliefert.  Man  darf  zweifeln, 
ob  T.  wirklich  einen  Zusammenhang  von  Donau  und  Rhone  vertrat. 


lo  .1.  rAitrscH:  [71,  2 

Nicht  wohl  wäre  vou  dort  die  rettende  lleiinkehr  ge- 

Aber   Hera  erhob,  vom    lÜtninel  uiedei<:fes|)ninoeii, 
Laut   deu    waruendeu   lüii"   vou  der   Höh'  des  Herky- 

nischen   Felsens. 
Schrecken   erfaßte   die  Hehl»  11;  so  furclitbar  dröhnte 

das   Lul'tnuHT. 
Rückwärts  wendeten  sie,  der  Göttin  Winke  »gehorchend. 
Fanden  i^liicklich  den   Weg,  wo  Heimkehr  ihnen  ver- 

lieißeu. 
Endlich  kamen  sie  nun  zu  meerumbrandeten  Küsten, 
Ohne  Gefahr  der  Kelten  uud  Ligurer  Stämme  durch- 
fahrend ; 
Denu    um    sie    wob  Hera    am  Tag  den  Schleier  der 

Nebel. 
Aus    dem    mittelsten  Arm    der  Mündung  fuhren  hin- 
aus sie, 
Vou   Dioskuren   bewacht,   zum  Kranz  Stoechadischer 

Inseln. 
Mit  Überraschung  liest  man  die  glatte  Fahrt  aus  dem 
Eridanus-Po  in  die  Rhone.  Der  Dichter  ahnt  nichts  von  dem 
trennenden  Alpenwall.  Vielleicht  war  dem  Ägypter  der  Ge- 
danke an  ein  großes  Scheidegebirge  fern  gerückt  durch  die 
nationale  Feinheit  des  cisalpinen  und  transalpinen  Keltenlandes. 
Erst  wo  wir  den  Rhonestrom  erreichen,  beginnen  greif- 
bare Angaben,  hinter  denen  eine  positive  Kenntnis  sich  bergen 
kann.  Über  seine  Herkunft  erfahren  wir  allerdings  nichts 
Brauchbares,  nur  den  dunklen  Satz 

avTaQ  ö  yccCr]g 
ix  ^vxcct'r]g,  Iva  t'  siöl  %vXui  xal  Eded-?ua  Nvxtog. 
Das  würde  in  den  äußersten  Westen  oder  Norden  weisen. 
Beides  ist  nach  den  sogleich  folgenden  Vorstellungen  vou 
des  Stromes  Schicksalen  nicht  denkbar.  Aus  der  Rhone  treten 
wir  über  in  ein  großes  Seengebiet,  das  nach  mehreren  Seiten, 
zum  Teil  auch  nach  dem  Ozean  sich  entwässert.    Diesem  zu- 


71,2]  StrOMGABBLUNGEN   DEK   AuGONAUTENSAGE.  II 

zustreben,   davor  bewahrt   Heras  Eingreifen   die  Argonauten. 
Ihr  Wamungsruf  erschallt  vom  Herkynischen  Felsen. 

Was  ist  das?  Müllenhoff  (I  432,  II  240)  erklärt  mit  Be- 
stimmtheit, das  könne  nur  die  Bezeichnung  der  Alpen  sein. 
Auch  Braudis  in  dem  gehaltvollen  Artikel  Danuvius  in  Pauly- 
Wissowas  Realenzyklopädie  vertritt  diese  Ansicht.  Die  ver- 
mag ich  ebensowenig  zu  teilen  wie  R.  Much.^)  Es  gibt  al- 
lerdings  scheinbar  ein  Zeugnis  dafür  aus  der  späten  Lexiko- 
graphie^), aber  das  beruht  ausschließlich  auf  einer  voreiligen 
Auslegung  der  uns  beschäftigenden  Stelle  des  Apollonios  Rho- 
dios,  auf  der  hemmungslosen  Argofahrt  vom  Eridanos-Po  bis 
zum  Herkvnischen  Felsen,  die  für  die  Elementarbegriffe  dieser 
Zeit  aus  dem  Bergrahmen  Italiens  unmöglich  herausführen 
konnte.  Wollen  wir  den  Dichter  richtig  verstehen,  so  müssen 
wir  uns  in  seinen  geistigen  Horizont  versetzen.  In  ihm  hatte 
der  Herkynische  Wald  einen  klar  bestimmten  Platz,  die  Alpen 
aber  keinen  sicher  erkennbaren.  Ihr  Name  tritt  weder  bei  Ari- 
stoteles noch  in  den  erhaltenen  Bruchstücken  alexandrinischer 
Geographie  auf,  ein  unsicheres  Schattenbild  ihres  Wesens  nur 
in  „des  Nordens  Säule''  {ötißr]  ßÖQSLog)  des  Keltenlandes, 
das  den  Westen  der  WohuAvelt  des  Ephoros  einnahm.  Auf 
ihn  werden  wir  am  wahrscheinlichsten  diesen  Begriff  zurück- 
führen dürfen,  in  dem  die  Hochgebirge  Westeuropas  (Pyrenäen 
und  Alpen)  vom  Ozean  bis  zur  Adria  zusammenflössen.  Er 
paßt  in  seiner  Unbestimmtheit  recht  w^ohl  in  die  letzten  Jahre 
griechischer  Selbständigkeit,  war  aber  längst  überwunden,  als 
—  hauptsächlich  aus  Ephoros  schöpfend  —  ein  pädagogi- 
scher Verseschmied  Bithyiiiens  um  90  v.  Chr.  ihn  einfügte 
in  die  Merkverse  seiner  Länderkunde.^)     In  des  Eratosthenes 


i)  R.  MucH,  Hercynia,  Zeitschrift  für  Deutsches  Altertum  XXXII, 
Berlin  1888,  454 — 462. 

2)  Etym.  Magu. :  'EgKvvtog  dQvy.ög,  i>  ti"/?  ' IxaXiag  ivSotäx(a,  mg 
(priaiv 'A-JioXimvLog  iv  d'  'ÄQyovuvtixäv.  Stephan.  Byz.  227,  11 :  'Eqkvviov, 
OQog  'Irciliag,  aqp  ov  'Egxvvig  j]  xmQa. 

3)  Anonymi  (vulgo  Scymni  Chii)  orbi«  descriptio.  Geogr.  Gr.  min. 
ed.  C.  Müller  I  p.  202.  203   v.  1S8 — 195: 


I  j  .1.  l'AHrscii:  f7'-  -2 

Weltkarte  spüren  wir  nichts  von  den  Alpen.    Kür  den  Dichter 
der  Argonautikii  ex,istiereu  sie  nicht,         ein  charakteristisches 
Merkmal  seiner  zeitlichen  Stellung!    Sie  fällt  früher  als  Hanni- 
bals  Alpeuüberi^antj;,  der  wie  ein  Schein  werler  <;rcll  die  Wild- 
lieit  des  Bergriepels  zwisehoii  Rhone  und  Po  beleuchtete,  der 
nun  auch  für  die  ll()tliii<ife  der  Ptolemäerresiden/,  nicht  mehr  als 
bedeutungslos  verschwinden   konnte   in  der  ethnischen  Einheit 
tles    keltischen   Abendhmdes.     Polybios    hatte,    so    nnvoUkom- 
nieii    sein    Grundriß    der  Alpen  ausfiel,    ein   Recht,    auch   liier 
mit  Selbstgefühl    sich  als  Träger  eines   Fortschritts  der   I^Jrd- 
kunde  zu   betrachten.')     So  merkwürdig   dies  späte  Eintreten 
der   Alpen    in    den    Gesichtskreis   der  Gi-iechen    ist,    bleibt   es 
doch    erklärlich    durch    die    von   der    neueren    Forschung    ins 
volle  Licht  gestellte  Tatsache,  daß  das  Eindringen   der  grie- 
chischen Forschung  ins  Innere  des  Kontinents  nicht  über  die 
Alpenpässe  sich  vollzog,  sondern  mit  beiderseitiger  Umgehung 
der  Alpen    von  Massalia  und  den  pontischen  Kolonien  aus.^) 
Sauber  zu  trennen  von  dem  Wenigen,  was  vor  Hannibal 
über  die  Alpen  im  östlichen  Kulturkreis  des  Mittelmeers  be- 
kannt war,  nicht  unvorsichtig  damit  zusammenzukueten  ist  die 
Kunde  der  östlichen  Mittelmeerwelt  vom  Herkynischen  Ge- 
b  irt^e^).    Auszugehen  ist  zweifellos  von  der  ältesten  Erwähnung. 

Tovrav  (i.  e.   KsXrüv)  81  xsttui  Xf/ofiivri  rig  icxcltri 
6ri]Xr]  ßÖQHog'   iazi  S'  vxprjXr}  nävv 
dg  xv^arwdis  TtfXayoi  ävursivova'   äy.gav. 
OtxovCL  rfig  ori^Xrig  de  rovg  ^yyvg  rörtovg 
KsXtmv  ucoi   Xriyoveiv  uvtsg  ?(j;j;«ro( 
"KvEToi  Tf  y.al  tmv  tvtbg  slg  tuv  'Aöglav 
"lazQav  y.cc&riy.övrcov.  XiyovGi  8    avröd'BV 
zbv  "Igtqov  ag/JP'  Xafißdvsiv  rov  g^v^arog. 
Dazu  v.  773—784- 

1)  Polyb.  III  4«,  12. 

2)  F.  V.  DiHK,  Die  Benutzung  der  Alpenpässe  im  Altertum,  Neue 
Heidelberger  Jahrbücher,  II  1892,  60—64. 

3)  In  handlicher,  zeitlich  geordneter  Übereicht  zusammengedruckt 
sind  die  antiken  Quellen  in  Holdkrs  Alt-Celtiechem  Sprachschatz,  Ar- 
tikel Ercunion. 


71,-]  Stromgabpjmingbn  dkk  Akgonaiteksagk.  13 

Aristoteles  (Met.  I  13,  20)  fährt  nach  Aufführung  der  Tartessos 
und  des  Ister,  der  Europa  von  den  Pyrenäen  bis  zum  Pontos 
der  Länge  nach  durchfließen  soll,  fort:  „Von  den  anderen  Strömen 
[fließen]  die  meisten  nordwärts  aus  den  Arkynischen  Bergen. 
Diese  sind  nach  Höhe  und  Zahl  die  größten  jener  Gegend. 
Unter  dem  Bärengestirn  selbst  aber  liegen  jenseits  des  Skythen- 
landes die  sogen.  Ehipen,  über  deren  Größe  recht  fabelhafte 
Berichte  im  Umlauf  sind.  Von  ihnen  sollen  die  meisten  und 
nächst  der  Donau  größten  der  anderen  Flüsse  kommen/'  Der 
Fortschritt  der  Darstellung  von  Südwest  nach  Nordost  und  ihr 
logischer  Zusammenhang  läßt  keinen  Zweifel,  daß  die  Arkynien 
nördlich  der  Donau  liegen  als  Wasserscheide  zwischen  ihr  und 
nördlich  gerichteten  Strömen.  Daran  kann  auch  die  Bemerkung 
über  ihre  überragende  Höhe  und  Ausdehnung  den  Leser  nicht 
irre  machen. 

Im  Bereich  der  hellenistischen  Gelehrsamkeit,  im  Horizont 
des  Dichters  der  Argonautika,  fällt  auf  die  Lage  des  Herky- 
nischen  Gebirges  Licht  von  drei  Seiten  her: 

1.  aus  Nordwest,  Der  Historiker  Timaios  setzt  die  Briti- 
schen Inseln  vor  Galliens  ozeanische  Küste,  gegenüber  von  den 
Herkynischen  Wäldern^); 

2.  aus  Südost  von  der  Donau  her.  Deren  Ursprung  ver- 
legte Timaios  in  die  Herkynischen  Wälder.^)  Die  kannte  auch 
Eratosthenes  —  vielleicht  nicht  allein  aus  Aristoteles  und  Ti- 
maios — ,  und  er  muß  darunter  offenbar  dasselbe  verstanden 
haben  wie  unser  Gewährsmann  Caesar  (b.  Gall.  VI  24).  Das 
gleiche  dürfen  wir  annehmen  von  den  Quellen,  aus  denen  Suidas 
(s.  V.)  und  Eustathios  (zu  Dionys.  Perieg.  298)  die  Schiffbarkeit 
des  Stromes  bis  in  das  Quellgebiet  ersahen.^)  Wir  haben  keinen 

i)  Diod.  V  21,  I  (Geffcken,  Timaios'  Geographie  des  Westens. 
Berlin  1892.  159,  17.  18)  xar  &vrixQv  tön>  Kqkvvlcov  dvofia^ofiivojv 
dpt'ftdji',  iiFYioTovg  yuQ  VTtdo'^biv  jtaQtih'](pc<u,tv  rcai'  -/.ata  xi]v   EvQwnr^v. 

2)  Pseudo- Aristot.  tc^qI  Q-avuaeiiov  civ.oii6iji,äxmv  105  (Gepfckkn 
130,  33)- 

3)  Suidas  8.  V.  'Eg^ivio?  ÖQVfiog,  o&ev  n  "larQOg  vaveljtogog  iv. 
Ttriym'  at^stui.     Eustath.    zu    Dionys.   Perieg.  298   (Geogx.   Gr.  min.  II 


14  •'■  I'autscm:  [71, 2 

(Jruud,  danin  zu  7,\v«»ifelu,  dub  die  DonaiKjuolleu  im  wesentlichen 
richtig  bezeichiKn.  waren.  l;in<Te  bevor  Tibeiius  ihre  Lage  jjjenau 
feststeUte. ' ) 

3.  aber  ist  das  Hhonec;tl)iet  als  der  Wep;  zu  würdifren, 
auf  dem  der  Nanif  des  lierkvnischeii  WaldeK  zu  den  Griechen 
überhaupt  gedrungen  sein  dürfte.  Der  Name  ist,  keltisch,  von 
Mucn  ganz  überzeugend  gedeutet.  Die  im  Keltenlande  aufge- 
blühte Kok)nie  Masealia  wird  ihn  den  Griechen  überantwortet 
haben.  Wohl  wissen  wir  von  ihrer  Geschichte  nicht  allzuviel. ') 
Aber  wie  die  Forschung  der  Griechen  von  hier  hinnenwärts 
drang,  das  läßt  sich  noch  erkennen.  Aristoteles  kannte  die  FlutJ- 
schwinde  des  Rhodanos  (la  perte  du  Rhone). ^)  Der  nächste 
Schritt  durch  die  Engen  des  Jura  führte  die  Griechen  an  den 
(renfer  See.  Das  war  nur  der  erste  der  großen  Seen,  die  dem 
.lurarande  entlang  weiter  reichen  bis  zum  Bodeusee,  Auch  in 
dies  Gebiet  der  Schweizer  Hochebene  geleiten  uns  die  zahl- 
reichen Funde  massaliotischer  Münzen.^)  Hier  sind  wir  in  dem 
Lande  der  „unsagbar  weitgespannten  Seespiegel",  von  denen 
Apollonios  redet.    Und  Avenn  wir  uns  fragen,  welchen  Eindruck 


|).  269)  'loTQog  6  Tovg  Tluiovaig  kaija^sißoiv  iv.  rütv  ' Kq^wIojv  oqwv  vav- 
niTioQo?  i/.  ntjyfjg  uigszai  xal  ß-j^i^öfitvos  xy  (liv  i-lg  rbv  TIövxov  pjffi,  t?/ 
ds  stg  rbv  'Adgiccv.  Kicht  damit  zu  vermengen  sind  die  Quellen,  welche 
des  Isters  Ursprung  auf  die  Ostseite  der  Alpen  verlegen:  Skymnos  195. 
Strabo  IV  p.  207.  Aelian  n.  a.  XIV  23.  Die  bilden  ebenso  bestimmt 
eine  besondere  Gruppe  wie  diejenigen,  die  den  Ister  von  Norden  oder 
vom  äußersten  Westen  kommen  lassen. 

1)  Strabo  VII  p.  292. 

2)  Sonny,  De  Massiliensium  rebus  quaestiones.    Petropoli   1887. 

31  Aristot.  Met.  1  13,  30:  xal  mgl  rijv  Aiyv6zi-Kr]v  ov/.  ildzTcov 
Tof;  PoSavov  ■/.ccxuTtivtxai  rig  Äoraftög  v.cd  ndXiv  dvccäificoei  xux'  ccXXov 
xÖtcov.  6  8\  'Poöavog  noxa\ibg  vaventiQaxog  icxiv.  Merkwürdig  ist  wohl 
die  Fassung,  namentlich  das  Wörtchen  rt?,  das  sich  ausnimmt,  als  sei 
von  einem  anderen  Fluü  die  Rede.  Aber  es  kann  sich  füglich  nur  um 
den  großen  Strom  handeln. 

4)     F.  V.  DuHx  a.  a,  0.  63.  64.  85.  86. 


7'.  2]  Stromgabelungen  dek  Argonautensage.  15 

dies  Land  machen  mußte  zu  der  Zeit,  da  „man  vor  Wäldern 
nicht  sehen  konnte,  wie  schön  es  war"^),  so  wird  nichts  den 
ersten  Entdeckern  schwerer  geworden  sein  als  die  Entwirrung 
des  Zusammeahanges  der  Gewässer,  —  die  Aufteilung  unter 
die  sich  hier  berührenden  Wassergebiete,  Es  war  ein  Problem, 
wie  es  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  in  der  Erforschung  des 
zentralafrikanischen  Seensvstems  erlebte. 

Der  Punkt,  wo  klar  die  ozeanische  Richtung  eines  Wasser- 
laufs sich  geltend  machte,  war  die  Gegend  von  Waldshut  oder 
Basel.  Dort  war  es  Zeit  zu  dem  Warnungsruf  der  Hera,  der 
die  Argonauten  zurückscheuchte.  Der  Schwarzwald  ist  der  Teil 
des  Herkyuios  drymos,  auf  dem  die  Donau  entspringt.  Von 
seinem  Felsenrande  konnte  Hera  ihren  Ruf  erheben. 

Darf  man  so  in  dem  Seenland,  in  das  Apollonios  die  Wen- 
dung der  Argofahrt  verlegte,  das  Spiegelbild  einer  von  massa- 
liotischen  Händlern  erworbenen  Kunde  erblicken,  —  eine  Staffel 
griechischer  Erkundungen,  ehe  Roms  Griff  von  diesem  Gebiet 
den  Schleier  hob,  so  ist  es  vielleicht  erlaubt,  noch  einen  Schritt 
weiterzugehen,  darauf  hinzuweisen,  daß  die  merkwürdige  — 
wie  wir  heute  wissen  —  relativ  seltene  Erscheinung  einer  Fluß- 
bifurkation,  mit  der  Apollonios  so  verschwenderisch  operiert, 
hier  wirklich  zwischen  Genfer  und  Neuenburger  See  vorhanden 
ist.  Der  von  der  Dent  de  Vaulion  kommende  Nozon  teilt  sich 
in  zwei  Bäche,  von  denen  einer  die  zum  Genfer  See  gehende 
Venoge  verstärkt,  während  der  andere  durch  den  Talent  dem 
Neuenburger  See,  also  dem  Rheingebiete  zugeführt  wird.  Ob 
irgendeine    Kenntnis    solch    einer    kleinen    Flußgabelung    im 


i)  Eine  wirkungsvolle  Skizze  des  Landschaftsbildes,  das  die  Seen 
des  Schweizer  Alpenvorlands  darboten,  ehe  die  Kultur  ihre  Reize  ent- 
wickelte, ist  die  Schilderung  des  Bodensees  bei  Ammiaims  Marc.  XV 
4,  3  '■  (Rhenus)  absolutus  altaque  divortia  riparum  adradeus  lacum  in- 
vadit  rotundam  et  vastum,  quem  Brigantiam  accola  Raetus  appellat  .  .  . 
horrore  silvarum  squalentem^  inaccessum  —  nisi  qua  vetus  illa  Romana 
virtus  et  sobria  iter  conposuit  latum  — ,  barbaris  et  natura  locorum  et 
caeli  inclementia  refragante. 


l6  J.  Partsch:  l7'.  - 

Spiele    war    hei   des   Dichters  Unij^estaltimg  der  Sajjje  wer 

möclite  das  entscheiden V 

Sicher  war  diis  i^roße  Seeni^ebiet  des  JurarandHs  vom 
Genfer  liis  znni  Hodensee  der  {geeignete  Boden  für  ilius  Aus- 
spinneii  von  Phantasien  über  Stronizusaninienhiinge,  und  der 
in  den  Ozean  sieh  wendende,  bei  Apollonios  namenlose  Stroni- 
zweig  («,T<)y()iö£)  ist  die  erste  Andeutung  des  Kheins  in  der  un 
tiken  Literatur,  (lenanut  hat  diesen  Strom  von  de»  erhaltenen 
SchriftsteUeru  keiner  vor  Caesar. 

So  unl)edeutend  das  Ergebnis  der  Lektüre  des  Apollonios 
in  diesem  Falle  ist,  mag  doch  daraus  ein  Lichtstreif  fallen  auf 
eine  bemerkenswerte  Epoche  im  Entwicklungsgange  der  alten 
Geographie.  Man  hat  oft  die  gliicldiche  Lage  Alexandriens  als 
Herd  geogra})hischer  Wissenschaft  gepriesen.  Es  ist  nicht  über- 
flüssig, auch  der  Beschränkung  zu  gedenken,  die  der  dortige 
Horizont  den  Forschern  auferlegte.  Fragen  wir  uns:  welches 
sind  die  Bedingungen  einer  BifurkationV  so  können  wir  sie 
generell  für  ffe";eben  erachten,  wenn  einem  Fluße  in  mehr  als 
einer  Richtung  die  Möglichkeit  einer  Fortsetzung  seines  Laufes 
geboten  ist.  Das  kann  schon  auf  stark  geneigtem  Boden  zu- 
treffen. Auf  einem  Kegelmantel,  z.  B.  dem  Hange  eines  Schutt 
kegeis  oder  eines  Schwemmkegelsj  genügt  ein  kleiner  Anstoß, 
die  Richtung  eines  Baches  zu  ändern.  Mit  Leichtigkeit  leiten 
Dörfer  am  Fuße  der  Tatra  von  solch  einem  Schwemmkegel 
einen  ihnen  zu  fernen  Bach  zu  unmittelbarer  Dienstbarkeit  an 
ihre  Häuser  heran.  Aber  am  häufigsten  treten  Bifurkationen 
ein,  wenn  die  Neigung  der  Landoberfläche  minimal  wird. 
Dahin  gehört  schon  der  Fall  der  Seebildung.  Ein  Wasser- 
spiegel kann  wenigstens  zeitweise  nach  mehreren  Seiten  sich 
entwässern.  Von  Dauer  ist  indes  dieser  Zu-stand  nicht  leicht; 
denn  selten  werden  die  Bedingungen  für  das  Einschneiden  der 
austretenden  Bäche  genau  gleich  sein:  in  der  Regel  wird  einer 
rascher  erodieren,  seine  Abflußrinne  vertiefen,  den  Seespiegel 
tiefer  legen  und  damit  andere  Abzüge  außer  Wirksamkeit  setzen. 
Diese  Überlegung   stand    älteren  Zeiten   nicht  aus  weiter  Er- 


71,  3]  Stromgabelungen  der  Argonautensage.  17 

fahnmg  fertig  zu  Gebote.  Deshalb  waren  sie  leicht  geneigt, 
an  mehrseitige  Entwässerung  eines  Sees  zu  glauben.^)  Die  auf 
portugiesischen  Erkundigungen  beruhenden  Karten  Innerafrikas 
zeigen  solche  zentrale  Seen  mit  zentrifugaler  mehrseitiger  Ent- 
wässerung. Auch  das  Altertum  hat  diesen  Zustand  für  möglich 
gehalten.  Am  häufigsten  aber  sind  Stromteilungen  in  ebener 
Niederung.  Die  Deltabildungen  der  Ströme  bieten  unzählige 
Beispiele.  Sie  führen  uns  wirklich  zu  Fällen,  wo  —  wie  beim 
Hwangho  —  ganze  Provinzen  und  große  Gebirgsinseln  zwischen 
die  divergierenden  Mündungsarme  von  Strömen  zu  liegen 
kommen. 

Aber  kein  Strom  war  in  dieser  Beziehung  verführerischer 
als  der  Nil.  Eine  Verzweigung  seines  Flußsystems  nach  auf- 
wärts gegen  das  Quellgebiet  fehlte  in  Ägypten  und  Nubien 
völlio-.  Eine  Verzweigung  des  Stromes  fand  nur  nach  abwärts 
statt,  nicht  nur  im  Nildelta,  sondern  schon  in  Oberägypten 
bei  dem  Nilarm,  der  das  Fayum  tränkte.  Das  war  der  An- 
schauungskreis der  Alexandriner.  Kein  Wunder,  daß  sie  seine 
Erfahrungen  auf  die  übrige  Welt  rasch  zu  übertragen  geneigt 
waren.  So  erscheint  die  Verirrung,  die  Länder  mit  Flußbifur- 
kationen  verschwenderisch  auszustatten,  im  Grunde  nur  als  eine 
Erinnerung  an  die  Natur  des  Bodens,  auf  dem  die  wissenschaft- 
liche Blüte  der  antiken  Erdkunde  erwuchs.  Auch  Eratosthenes 
blieb  nicht  frei  von  dem  Banne  der  Natur,  die  ihn  umgab. 


i)  Eine  Zusammenstellung  der  vom  Altertum  angenommenen  Bi- 
furkationen  versuchte  H.  Berger,  Die  geographischen  Fragmente  des 
Eratosthenes  347. 


Phil.-hiät.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  2. 


Bericlite  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologisch-liistorisclie  Klasse 

71.  Band.    1919.     3.  Heft 


August  Schmarsow 

Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden 
und  der  Freskenzyklus  in  Assisi 


Leipzig 
Bei  B.  G.  Teubner 

1919 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  3.  Mai  191 9. 

Da-"  Manuskript  eingeliefert  am  3.  Mai  1919. 

Druckfertig  erklärt  um  15.  Juli  1919. 


•  Auf  Königsfelde  bei  Brugg  im  Aargau,  wo  Albrecht  I. 
von  Habsburg  am  i.  Mai  1308  durch  seinen  Bruderssohn  Jo- 
hannes ermordet  ward,  errichtete  1310  die  Königin witwe  Eli- 
sabeth von  Görz-Tirol  eine  Abtei,  in  der  Mönche  und  Nonnen 
des  Franziskanerordens  zusammen  angesiedelt  wurden  und  in 
gemeinsamer  Kirche  ihren  Gottesdienst  halten  sollten.  Im 
Chor  dieser  Klosterkirche  befinden  sich  noch  heute  die  be- 
rühmten Glasgemälde,  die  von  den  Angehörigen  des  Habs- 
burgischen Hauses  gestiftet  wurden,  und  unter  ihnen  ein  Fen- 
ster mit  der  Legende  des  hl.  Franz  von  Assisi  selbst  und  eins 
zu  Ehren  der  hl.  Clara.  Diese  Verherrlichungen  der  beiden 
Ordeusstifter  dürfen  wohl  den  Anspruch  erheben,  zu  den  selbst- 
verständlichen Hauptstücken  des  farbigen  Schmuckes  zu  ge- 
hören, die  neben  den  evangelischen  Darstellungen  aus  der 
Jugendgeschichte  Jesu,  aus  der  Passion  des  Erlösers  und  aus 
den  Erscheinungen  des  Auferstandenen  einen  ersten  Platz  an- 
gewiesen erhielten.  Nach  Hans  Lehmanns  genauen  Unter- 
suchungen zur  Chronologie  dieser  Glasmalereien  ist  anzuneh- 
men, daß  die  ganze  Reihenfolge  nach  einem  bestimmten  Plan 
angelegt  worden  und  bis  gegen  1340  vollendet  war.  ^)  Diese  Zeit- 
bestimmung gilt,  auch  wenn  die  drei  genannten  im  dreiseiti- 
gen Chorhaupt,  andrerseits  aber  auch,  wie  wir  annehmen,  die 
beiden  der  Ordensheiligen  zunächst  allein  feststanden.  Die  Ge- 
samtheit, wie  sie  noch  heute  dasteht  oder  aus  Überresten  nach- 
weisbar ist,   muß   seit    1310   in  Aussicht  genommen  und  all- 


1)  Zur  Geschichte  der  Glasmalerei  in  der  Schweiz  (in  den  Mit- 
teilungen der  Antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich,  Bd.  XXVI).  I.  Teil 
1906,  S.  192 — 203  Vgl.  dazu  noch  Th.  v.  Liebenau  und  W.  Lübke,  Die 
Denkmäler  des  Hauses  Habsburg  in  der  Schweiz.  III.  Kloster  Königs- 
felden.    Zürich  1867  mit  Bilderatlas. 


2  AuausT  ScjiMAiisow:  [7«.  3 

iniihlic'h  bis  1337  etwa  fertiggestellt  worden  sein.  Am  bostimm- 
testeu  läßt  sich  vorerst  das  Ciaren feuster  datieren,  weil  es 
unten  tue  Stifterbildnisso  des  Herzogs  Leopold,  der  die  Ver- 
waltung der  westlichen  Hälfte  der  habsburgischen  Läuder  über- 
nahm, und  seiner  Gemahlin  Katharina  von  Savojen  enthält, 
mit  der  Beischrift:  „Doniina  Katherina  Ducissa  Austrie"  und 
gegenüber  bei  der  knienden  Gestalt  des  Fürsten,  der  das  un- 
terste Medaillon  mit  beiden  Händen  erfaßt  und  so  als  Weih- 
geschenk erhebt:  „Pro  Leopolde  Duce",  d.  h.  also  nach  seinem 
1326  erfolgten  Tode,  in  Ausführung  seines  Willens  oder  be- 
reits erteilten  Auftrags,  so  daß  wir  kaum  noch  des  andern 
Termins  bedürfen,  der  im  Todesjahre  seiner  Witwe  1337  ge- 
geben wäre.  Zu  möglichst  früher  Ansetzung  nötigt  doch  auch 
die  altertümliche  Gesamtdisposition  dieses  Fensters,  das  die 
Legende  der  frommen  Jungfrau  von  Assisi  in  fünf  großen 
Kreisrunden  erzählt,  die  das  senkrecht  durch  zwei  Steinpfosten 
geteilte  Ganze,  auch  der  Gesamtbreite  nach,  erfüllen,  so  daß 
seitlich  nicht  einmal  für  die  Einfassung  der  Bilderreihe  durch 
eine  Kante  Platz  übrig  bleibt,  während  die  Zwickel  zwischen 
den  Runden  durch  Engelgestalten  gefüllt  sind.  Dazu  nötigt 
ferner  die  Zugehörigkeit  zu  dem  Franciscusfenster,  das  noch 
eine  breite  Zierleiste  aufweist. 

Dieses  wurde  anscheinend  von  dem  jüngeren  Bruder  Her- 
zog Otto  gestiftet,  der  1301  geboren,  seit  1324  mit  Elisabeth, 
Herzogin  von  Niederbayern,  vermählt  war  und  nach  deren 
Tode  1330  sich  erst  1334  mit  Anna  von  Böhmen  wieder  ver- 
heiratete, aber  schon  1339  starb.  Das  Bildnis  der  zugehöri- 
gen Gattin  ist  verloren  gegangen,  aber  es  war  kein  zweites 
vorhanden,  und  so  kommt  nur  die  Zeit  der  ersten  Ehe  1324 — 
1330  in  Betracht.  Die  Legende  des  Franz  steigt  in  fünf  früh- 
gotischen Vierpässen  auf,  in  denen  noch  das,  auch  als  liegend 
auffaßbare,  Quadrat  —  nicht  die  immer  stehende  Raute  —  die 
Grundform  bildet^),  deren  Seiten  sich  zu  Kreissegmenten  er- 

i)  Vgl.  Kompoaitionsgesetze  romanischer  Glasgemälde  in  frühgo- 
tischen Kirchen feij stein  von  A.  Schmaesow,  Abb.  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss. 
XXXni,  II  (1916)  S.  25ff. :  Das  Weihnachtsfenster  in  Chartres. 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  3 

weitern.  Je  zwei  solcher  Vierpässe  sind  durch  kleine  kreis- 
runde Ringe  miteinander  verkettet,  so  daß  die  ganze  Reihe 
der  Rahmen  von  oben  herab  zu  hangen  schiene,  wäre  nicht 
auch  in  den  Zwischenräumen  zwischen  den  Quadratecken  je 
ein  Paar  kleiner  Medaillons,  mit  einfachem  Paß  aus  vier  Kreis- 
teilen und  weißer  sechsblättriger  Sternblume  darin,  angebracht, 
das  so  die  Hauptrahmen  unterstützt  und  zusammenhält,  zu- 
gleich aber  deren  Breitenlage  nochmals  betont  und  durch 
solche  Wiederholung  der  Horizontale  verstärkt.  Die  zwischen 
der  Peripherie  dieser  Rosetten  und  den  seitlichen  Kreissegmen- 
ten der  gi-oßen  Vierpässe  übrigbleibenden  Zwickel  enthalten 
auf  himmelblauem  Grunde  das  Habsburgische  Wappentier, 
in  beträchtlicher  Größe,  einen  goldgelben  Löwen  in  aufrecht 
steigender  Haltung  mit  seitwärts  gedi-ehtem  Kopf,  von  hüben 
und  drüben  symmetrisch  nach  innen  gewandt. 

So  viel  entschiedener  gotisch  die  Gesamtdisposition  die- 
ses Fensters  angelegt  ist  als  die  des  vorgenannten,  so  gehören 
die  beiden  doch  nicht  nur  gegenständlich  nah  zusammen,  son- 
dern haben  auch  eine  künstlerische  Eigentümlichkeit  gemein- 
sam, die  hier  in  deutschen  Gauen  ganz  besonders  auffallen 
muß:  das  ist  die  Einfügung  einer  wagrechten  Fußbodenplatte, 
die  auf  einer  Konsolenreihe  ruht,  als  müßte  sie  von  solchen 
aus  der  Wand  vorspringenden  Baugliedern  getragen  wer- 
den. Und  diese  Basis  der  Figuren  wird  beidemal  in  schräger 
Richtung,  dem  von  links  nach  rechts  entlanggleitendeu  Blick 
des  Betrachters  entgegengekehrt,  in  perspektivischer  Ansicht 
gezeigt,  und  dazu  auch  zwischen  den  Konsolen  die  Unterseite 
der  Platte  wie  eine  kassettierte  Decke  in  Untersicht  gegeben. 
Deshalb  hat  schon  Joseph  Ludwig  Fischer  in  seinem  Hand- 
buch der  Glasmalerei  19 14,  S.  90,  ganz  richtig  gesehen,  wenn 
er  von  einem  „unüberbrückbaren  Gegensatz''  der  plastisch  ge- 
dachten Fenster  zu  den  übrigen  flächenhaft  gehaltenen  spricht, 
als  Kennzeichen  eines  Zusammenhangs  mit  der  „giottistischen 
Körper-  und  Kompositionslehre".  Aber  ein  solcher  allgemeiner 
Hinweis  auf  die  italienische  Trecentomalerei  ist  in  diesem 
Falle  noch  nicht  ausreichend.    Die  bezeichnete  Behandlungs- 


4  AuairsT  ScHMAKSow:  f7',  ^ 

weise    in    der    Art   der    Giottoschule    könnte    durcli    tirolische 
Künstler   über   die  Alpen    ^okoniinen   sein  und  etwa  von  Pa- 
dua    herstammen,   wie   so  viele  Denkmlller   der  Wandmalerei 
in   Südtirol   und    weiter   hinauf  un    der  Brenuerstraße   begeg- 
nen. Oder  es  wäre  noch  einfacher,  an  die  Vermittlung  durcli 
Miniaturen  7a\  denken.    Hier  aber  liegt  unzweifelhaft  sowohl 
in  ikonographischer  wie  in  stilistischer  Hinsicht  ein  unmittel- 
barer Zusammenhang  mit  Assisi  vor,  der  uns,  einzig  in  seiner 
Art,  bestimmt  und  scharf  auf  die  Heimat  der  beiden  Ordens- 
beiligen selbst  weist.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  beansprucht 
das  Franciscusfenster  ohne  Zweifel  den  Vortritt  vor  dem 
Angebinde  für  die  Ciarissen,  das  Herzog  Leopold  erst  um  sein 
Todesjahr    1326   dargebracht  haben   soll.    In   der   Oberkirclie 
von  Assisi    befinden    sich    unter  jedem    Gewölbejoch  je    drei 
Bilder  aus  der  Franzlegende  hüben  und  drüben  nebeneinander; 
sie  sind  unter  sich  durch  gemalte  Säulchen  mit  spiralisch  ge- 
wundenem Schaft  getrennt,  auf  deren  Kapitellen  eine  gemein- 
same   Deckplatte    ruht.    Über    dieser    Zusammenfassung    wie 
unter  der  Basis   der   Scheinarchitektur  laufen  Konsolenfriese 
hin,  die,   ebenfalls   nur  gemalt,  perspektivisch   so  gezeichnet 
sind,   daß    sie   von    der  Zentralliuie  des  Mittelbildes  aus  sich 
nach  links  dem  vorbeischreitenden  Beschauer  entgegenkehren, 
nach    rechts  hin  dagegen,   in   identischer  Richtung   mit  ihm, 
weiterweisen.    So  gibt  nur  das  Mittelstück  einer  solchen  drei- 
'gliedrigen   Bilderreihe   Gelegenheit    oder  Anreiz    zu  ruhigem 
Stillstand,   während   die  Flügelstücke,   von   welcher  Seite  der 
Besucher  grade  kommen   mag,  auch   dem   Auge  das  Hinein- 
gehen   unter   das    Gewölbejoch    und    andrerseits   das   Hinaus- 
schreiten  aus  dem  Bann  der  Zentralstelle  zu  Gefühl  bringen 
und  damit  die  Einheit  unter  dem  Schnittpunkt  der  Diagonal - 
rippeu  jedes  Kreuzgewölbes  vermitteln.    Damit  so  das  rhyth- 
mische Erlebnis  beim  Ablesen  der  Geschichten  von  links  nach 
rechts,  Avie  sie  einander  folgen,  noch  stärker  zum  Bewußtsein 
komme,   als   dies   etwa  vor  einem  Altartriptychon  von  gerin- 
gerer Breite  mit  seiner  Uberschaubarkeit  von  dem  festen  Stand- 
punkt vor  seiner  Mitte  zu  geschehen  pflegt,  ist  die  nämliche 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  5 

perspektivische   Divergenz   auch  an   der  Deckplatte  über  den 
einrahmenden  Säulen  durchgeführt,  die  dem  Blick  des  unten 
entlangwandelnden   Betrachters    in   entsprechender   Untersicht 
gezeigt  wird.    Diese   Deckplatte   unter   der   oberen  Konsolen- 
reihe trägt  an  ihrer  Stirnfläche  ein  feingemustertes  Cosmaten- 
mosaik   und  an   ihrer  Unterseite   eine  zweireihige  Kassetten- 
teilung, deren  Orthogonalen  die  nämliche  radiale  Ausstrahlung 
von  der  Zentralachse   her  wiederholen,   die  wir  an  den  Kon- 
solen so  unten  wie  oben  darüber  finden,   und   dem  Auge  da- 
durch eine  vertiefte  Raumschicht  vortäuschen,   schon  ehe  die 
Bühne    des    Einzelbildes    sich    etwa   einladend   auftun   mag.^) 
Diese  durchgehende  Eigeutümlichkeit  des  ganzen  Freskenzy- 
klus in   der  Basilika   zu  Assisi   konnte  man  nur  an  Ort  und 
Stelle  selbst  kennen  lernen,  und  eben  diese  finden  wir,  soweit 
es  überhaupt  möglich  war,  in  das  Glasfenster  zu  Ehren  des- 
selben Heiligen  in  Königsfelden  herübergenommen,   —  und 
zwar  in  sinnvoller  Auswahl,  im  Einklang  mit  der  französisch- 
gotischen Vorschrift  des  Ablesens  von  links  nach  rechts,  auch 
nur  für  diese  Ansicht,   nicht   aber   in   der  Frontalschau   der 
Mittelbilder  dort  mit  der  trennenden  Zentralachse   zwischen 
beiden   Hälften,    die    den   Standpunkt  des   Betrachters   schon 
fester    anzuweisen    vermöchte.     Die  wagrechte   Fußplatte    ist 
auch  nicht  sklavisch  kopiert,   so  daß  man  die  Wiederholung 
diesseits   der   Alpen   einfach   durch    gemalte   oder  gezeichnete 
Vorlagen  nach   den  inzwischen  zu  kanonischem  Ansehen  ge- 
langten Fresken  des  Wallfahrtsortes  vermittelt  denken  könnte. 
Das  Motiv  ist  als  Entlehnung  nach  dem  Urbild  in  Umbrien 
unverkennbar,    sein  Zusammenhang  mit  der  Ursprungsstätte, 
wo   es,  auf  Grund   der  alten  Tradition  perspektivischer  Zier- 
stücke, allein  erwachsen  konnte^),  ganz  unzweifelhaft.  Aber  es 

1)  Vgl.  ScHMAESow,  Kompositionsgesetze  der  Franzlegende  in  der 
Oberkirche  zu  Assisi  (Publikation  des  Forschungs-Instituts  für  Kunst- 
geschichte an  der  Universität  Leipzig).  191 8,  Kommissionsverlag  von 
Karl  W.  Hirsemann.   S.  7  f.  u.  Tafel. 

2)  Vgl.  Repertorium  für  Kunstwissenschaft  XXVIII  (1905)  S.  391 
meinen  Bericht  über  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


6  August  Scumaksow:  [7'i3 

ist  hier  in  die  Formonsprache  der  Gotik,  ja  der  veroinfiichen- 
Jeu  Soiulergotik  der  südwostdeutsehen  Gegenden  in  der  Nahe 
des  Oberrheins  und  der  burgundisi-hcn  Laude  jenseits  des 
Jura  übertragen.  Im  Franciscusfenster  wird  die  stark  vorsprin- 
gende Deckplatte  der  Figurenbasis  mit  ihrem  Fugenschnitt 
zwischen  den  einzelnen  Quadern,  statt  von  antiken  Marmor- 
konsolen mit  ihren  rcimischon  Ziergliedern,  von  schlichten 
Kragsteinen  getragen,  die  nichts  als  die  scharfkantige  Werk- 
form  des  Steinmetzen  zeigen.  Die  untere  Fläche,  gegen  die 
wir  hinaufblickeu,  ist  glatt  belassen,  nur  durch  den  dunkleren 
Farbton  als  beschattete  Decke  der  kleinen  Schalträume  ge- 
kennzeichnet, wie  die  sichtbare  rechte  Seite  der  tragenden 
Glieder  selbst,  im  Gegensatz  zu  der  quadratischen  Stirn  in 
hellstem  Weiß,  unter  welcher  der  Ablauf  wieder  beschattet 
erscheint  bis  zum  seitlich  von  links  her  beleuchteten  Fußpunkt, 
unter  dem  abermals  eine  wagrechte  Reihe  von  weißen  Hau- 
steinen hinläuft.  Zwischen  je  zweien  solcher  schlicht  behauenen 
Kragsteine  sehen  wir  durch  ausgetiefte  Rahmen  in  ganz  nie- 
drige, aber  die  verfügbare  Breite  ganz  ausnützende  Öffnungen 
hinein,  die  mit  der  schwarzen  Farbe  im  Ausschnitt  nur  dunkle 
Kellerluken  bedeuten  können,  durch  die  mehr'  Luft  als  Licht 
in  den  Linenraum  unter  dem  Fußboden  eingelassen  wird. 

Ganz  ähnlich  finden  wir  den  Schauplatz  für  die  Szenen 
des  Ciarenfensters;  nur  gleichen  die  Konsolen  noch  mehr 
hervorstehenden,  ganz  unprofiliert  belassenen  Balkenkopfen, 
sind  jedoch  an  der  Unterseite  mit  einem  krausgezackten  Blatte 
vorgerückter, Gotik  belegt.  Und  an  der  Unterseite  der  Deck- 
platte kehrt  die  schräg  von  rechts  nach  links  ausladende  Qua- 
drierung von  der  KapiteUzone  der  Säulchen  in  Assisi  wieder: 
nicht  genug  mit  den  zwei  Reihen  von  Kassetten,  sind  hier 
deren  vier  hintereinander  gezeichnet,  doch  nur  in  schemati- 
scher  Weise  durch  schwarze  Linien,  deren  Durchkreuzung  in- 
des ebenso,  ja  erstrecht  stark  in  die  Richtung  der  Steinbal- 
ken selbst  nach  links  hinausweist,  so  daß  unser  entlanggleiten- 
des Auge  nicht  umhin  kann,  die  ganze  Breitenausdehnung 
des  Bildes   an   der  Hand  dieser  auffallenden  Glieder  durchzu- 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  7 

taktieren  und  Abschnitt  für  Abschnitt  auf  grund  ihres  Wider- 
stands durchzukosten.^) 

Die  nämlichen  perspektivischen  Reizmittel  in  Untersich- 
bj  ten  jedweder  vorkragenden  Decke  begegnen  uns  dann  in  den 
Darstellungen  selbst,  ebenso  wie  in  den  Wandgemälden  der 
Franzlegende  zu  Assisi,  wo  sie  sich  bekanntlich  mit  charak- 
teristischen Elementen  der  Cosmatenarchitektur  des  Dugento 
verbinden.  Der  Hochsitz  des  Bischofs  auf  dem  ersten  Bilde, 
mit  der  Flucht  des  Jünglings  vor  dem  erzürnten  Vater,  ist 
ein  in  deutsche  Gotik  derbster  Art  übertragener  Aufbau  jenes 
mittelitalieuischen  Sonderstils  und  trägt  auf  seiner  Deckplatte 
die  gleich  vergnügliche  Übersetzung  einer  Pergola,  wie  sie 
dort  auf  dem  flachen  Dach  der  Paläste  vorkommen  oder  auf 
dem  Vorbau  des  Ritterschlosses,  das  dem  Franz  im  Traum 
von  Christus  selber  gezeigt  wird.  Sie  wird,  sogar  mit  aufge- 
klappter Fensterluke  am  Ausguck  zur  Seite  ausgestattet,  aber 
auch  mit  gotischer  Haustein-  oder  Holzprofilierung  an  Kopf- 
und  Fußstücken  der  gedrungenen  Säulenstämme,  dem  heimi- 
schen Schreinergeschmack  entsprechend,  eingedeutscht.  Am 
Thron  des  Papstes,  der  die  Ordensregel  bestätigt,  erscheint 
abermals  derselbe  Steinschnitt  an  plumpen  Konsolen  der  Sitz- 
platte, läßt  aber  vollends  an  der  Fußbank  mit  ihrem  per- 
spektivisch schräg  gesehenen  Rundbogenfries  keinen  Zweifel 
übrig,  daß  der  zweistufige  Schemel  vom  Urbild  der  nämlichen 
Szene  zu  Assisi  dabei  vorschwebt,  oder  daß  gar  die  flüchtige 
Skizze,  die  hier  dem  Glasmaler  vorgelegen  haben  könnte,  doch 
durch  Reminiszenzen  an  die  tonnen  gewölbten  Rundbogenni- 
schen der  schwerfälligen  Deckenträger  des  päpstlichen  Audi- 
enzsaales abgewandelt  wurde.  Und  endlich  ist  das  ganze  Fen- 
ster auf  beiden  Seiten  mit  einer  goldgelben  Kante  auf  schwar- 
zem Grunde  eingefaßt,  in  der  wieder  durch  den  Gegensatz 
stark  beleuchteter  Flächen  gegen  halb  beschattete  und  durch 
deren  Schi-ägstellung  gegeneinander  der  täuschende  Eindruck 

i)  Beachtenswert  ist  der  Unterschied  der  rein  frontalen  Stellung 
der  fünf  Konsolen  unter  der  Basis  der  Figuren  im  Vierpaß  auf  den 
Reliefs  der  Bronzetür  des  Andrea  Pisano  am  Baptisterium  zu  Florenz  1330- 


8  August  SciiMAusow:  (7'.  3 

erzielt  wird,  als  reihten  sieli  helle  Steinwiirfel  wie  eine  schmal 
aufsteigende  Treppe  aneinander,  die  unter  grellem  Licht  ühor- 
rascheud  aus  dem  dunklen  Grunde  hervorspringt,  —  ein  Kunst- 
stück, das  noch  an  illusionistische  liestrehungen  in  Kulihoden- 
mosaiken der  riunischen  Kaiserzeit  erinnert,  und  zwar  zu  stark 
und  unmittelhar,  um   nicht  die  Irische  Anleihe  beim   italieni- 
Bchen  Geschmack  römischer  Mosaikimiler  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts und  der  schon  genannten  Cosmatenkunst,  die  mit  ihrer 
eintTelecrten   Steinarheit   auch    in  Assisi  herrscht,  zu  verraten. 
Schon    angesichts   der   inneren    Kahmenformen,    die   sich   mit 
weißen  und  goldgelben  Händern  von  dem  himmelblauen  (»runde 
abheben,  kann  ja  kein  Zweifel  bestehen,  daß  hier  in  Königs- 
felden  sich  fremdher  zugetragene  Dekorationsraotive  dem  dies- 
seits der  Alpen  herrschenden  Stil  der  Gotik  einordnen  müssen, 
wenngleich   der  Horizontalismus,    mit  dem  sie  notwendig  zu- 
sammenhängen, der  bereits  erreichten  Entwicklungsstufe  dieses 
Baustiles  widerspricht. 

Ein  figürliches  Motiv  aber,  das  dem  perspektivischen  Kon- 
solengesims  unmittelbar  gesellt  ist,   offenbart   vollends  über- 
zeugend, wie  unbefangen  der  erfindende  Glasmaler  als  echter 
Gotiker  sich  in  seiner  Denkweise  gar  nicht  beirren  läßt.  Gerade 
da,  wo  das  italienische  Vorbild  rein  tektonisch  gemeint  ist,  und 
die  wagrechte  Grundlinie,  auf  der  die  Konsolen  fußen,  als  letzte 
befriedigende    Unterlage    des    weiteren    Aufbaues    anerkennt, 
empfindet  der  heimische  Meister  die  breitgelagerten  Steinformen 
als  zu  schwer  für  den  Gesamtaufstieg  seiner  Vierpaßrahmen, 
auch  nachdem  er  diesen  durch  die  Wahl  des  ruhenden  Qua- 
drates, statt  der  steigenden  Raute,  und  durch  die  Erweiterung 
der  Bühne  mittels  der  Kreissegmente  nach  beiden  Seiten  schon 
zugunsten  der  zweiten  Dimension  ein  starkes  Zugeständnis  ge- 
macht, ja  durch  die  symmetrische  Lage  der  liosenmedaillons 
zwischen  den  Vierpässen  sich  fast  für  die  ausschließliche  Vor- 
herrschaft   der  Breite   im    ganzen    Aufbau    entschieden    hat. 
Gerade  da  bringt  er  jedoch  auf  eigene  Hand  zur  Ausfüllung 
des  unteren  Kreissegments  eine  menschliche  Gestalt  hinein,  die 
weit  ausschreitend  von  links  nach  rechts,  beide  Füße  fest  auf 


71,3]         Das  Frakciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  9 

die  innere  Peripherie  setzt,  ja  den  linken  Arm  noch  als  dritte 
Stütze  verwendet,  indem  sie  die  Hand  gegen  Schienbein  und 
Knie  zur  Rechten  preßt,  um  so  die  Last  des  Fußbodens  auf 
tiefgebeugtem  Rücken  tragen  zu  können;  mit  der  rechten  Hand 
greift  sie  noch  an  die  Steinplatte  und  läßt  den  mühsam  empor- 
gewendeten Kopf  zur  Seite  drücken,  um  vorsorglich  mit  den 
Augen  das  Gleichgewicht  zu  kontrollieren  und  jeder  leisen 
Schwankung  mit  dem  eignen  Körper  Widerhalt  zu  leisten.  Das 
ist  eine  rechte  Steinmetzenerfindung  aus  der  gotischen  Bauhütte, 
diese  Menschengestalt,  die  das  Bewegungsraotiv  des  Lastträgers 
so  realistisch  wie  möglich  ausbeutet,  um  das  Grundprinzip  des 
Strebesystems  lebendig  ad  oculos  zu  demonstrieren.  Und  es 
ist  doch  eine  dekorative  Idealfigur,  die  unmöglich  im  Ernstfall 
fungieren  könnte,  wohl  aber  von  französischen  Bildhauern  mit 
Vorliebe  verwandt  wurde,  um,  unter  Kragsteinen  für  Stand- 
bilder oder  gar  hochsteigenden  Diensten  der  Gewölberippen 
angebracht,  die  staunende  Bewunderang  des  unten  wandelnden 
Laien  herauszufordern.  Daß  sie  sich  in  Profilstellung  von  links 
nach  rechts  entfaltet,  ist  nur  auf  die  cjewohnte  Blickrichtuns; 
beim  Ablesen  der  erzählenden  Bilder  berechnet,  entspricht  also 
auch  dem  Gebrauche  französischer  Glasgemälde,  in  denen  sich 
der  gotische  Stil  so  maßgebend  ausgebildet  hat.  Und  in  dem 
Umkreis  dieser  Kunstüberlieferung  nordfranzösischer  Kathe- 
dralen suchen  wir  auch  die  Gestaltenbildung  und  das  ausgrei- 
fende Motiv  im  Zusammenhang  mit  der  begrenzenden  Kreis- 
peripherie: es  genügt  ein  Hinweis  auf  die  ganz  verwandten  Er- 
findungen im  Skizzenbuch  des  Villard  de  Honnecourt,  der  ja 
selbst  auf  seinen  Reisen  bis  nach  Lausanne,  ja  weiter  ostwärts 
bis  nach  Ungarn  gelangte.^) 

Damit  haben  wir  aber  auch,  wenn  wir  diese  gewaltsam 
niedergedrückte  und  doch  so  elastisch  bewegliche  Trägerfigur, 
sei  es  auch  nur  in  Gedanken,  aufrichten  zu  ihrer  frei  aufragenden 
Haltung,  den  Normaltypus  für  die  Menschengestalt  vor  Augen, 
wie  er  hier  in  der  Legende  des  hl.  Franz  selber  auftritt.    Im 


i)  Lassus  et  Darcel,  Album  de  Villard  de  Honnecourt  1858. 


lo  AiioiiST  ScuMAKRow:  [71,3 

»selbstverständlichen  Gegensatz  gegen  den  vorherrschend  unter- 
set/ien  Hiui    des  italienischen  Bilderzykliis  schließt  er  sich  in 
Köniusfolden    dem    nordfniii/.ösischen    Stil    der    Frühgotik    an. 
Hier  sind  es  durchgehends  schlanke,  geschmeidige  Körper  mit 
schmalen  Schultern,   aber    großen  Köpfen,   voll  dramatischen 
Ausdrucks  in  lebendiger  Aktion  und  sprechender  Gebärde.   Be- 
sonders  der   seitlicli   gerichtete   Blick    verrät   überall   das   Be- 
streben, den  geistigen  Zusammenhang  des  Auftritts  auch   für 
den  Beschauer  sichtbar  herzustellen.    Demgemäß  werden  auch 
die    Kompositionen   des    italienischen   Originals    im  Sinne   der 
französischen  Glasmalerei  und  ihrer  Ausläufer  auf  deutschem 
Boden  uniorewandelt.    Aus  der  volkstümlichen  Erzählung  der 
Franzlesende  von  Assisi  wird  hier  ein  feierliches  Wesen,  für 
andächtige  Betrachter  im  Gottesdienst,  herausgeläutert  und  ver- 
klärt.  Das  ergibt  sich  zunächt  schon  dadurch,  daß  die  wenigen 
Momente,  die  hier  im  Fenster  Platz  finden  konnten,  aus  dem 
zusammenhängenden  Verlauf  herausgehoben  und,  jeden  für  sich 
isolierend,  verselbständigt  wurden.  Wo  die  überleitenden  Glieder 
fehlen,  muß  der  Eiuzelauftritt  bleibendere  Bedeutung  gewinnen, 
wie  dies  schon  bei  Giotto  in  der  FranzkapeUe  von  S**  Croce 
zu  Florenz  geschah,  weil  die  verfügbare  Wandbreite  nur  ein 
Bild  aufnimmt,  so  daß  kein  Weiterlesen  in  der  Horizontalrichtung 
stattfindet,  und  weil  die  Reihenfolge  dort  von  oben  nach  unten 
in  drei  Stockwerken  so  herabsteigt,   daß  je  zwei  zeitlich  zu- 
sammengehörige Darstellungen  einander  im  Kapellenraume  auf 
gleicher  Höhe  gegenüberstehen,  also  völlige  Abkehr  vom  ersten 
verlausen,   sowie   der  Betrachter  sich  dem  zweiten  zuwendet. 
Ähnliche  und  doch   wieder  andersartige  Bedingungen  walten 
hier,  wo  in   einem  Fenster    die  Reihenfolge   der  Szenen  von 
unten  nach  oben  aufsteigt,  und  jedesmal  der  Vollzug  der  Ein- 
stellung des  Augenpaares  auf  das  höhere  Niveau  fühlbarer,  weil 
mühsamer  erreichbar  wird,  oder  gar  Erweiterung  des  Abstandes 
erheischt.    Das  alles  wirkt  mit  der  Absicht  auf  kirchliche  An- 
dacht zusammen  und  erklärt  die  vorliegende  Metamorphose  als 
notwendiges  Erfordernis. 

So  schon  die  besonders  auffallende  Umstellung  der  Haupt- 


71,3]         Das  Franciscusfenster  IN  KöNiGSFELDEN  usw.  II 

person  in  dem  untersten  Bilde,  der  Lossagung  vom  Vater. 
In  der  Glaswand,  die  durch  zwei  Steinpfosten  in  drei  Ab- 
schnitte  geteilt  ist,  wird  die  Komposition  vollständig  symme- 
trisch zu  einem  dreigliedrigen  Aufbau  mit  überhöhter  Mitte 
umgewandelt.  Unter  dem  oberen  Kreissegment  des  Vier- 
passes  erhebt  sich  der  Kirchenstuhl  des  Bischofs  von  Assisi, 
von  dessen  Bekrönung  mit  einer  Pergola,  die  hier  als  reines 
Schaustück  fast  nur  wie  eine  Puppenstube  wirken  kann,  schon 
vorhin  gesprochen  worden  ist.  Wie  beim  Hochamt  im  Chor 
des  Domes  thront  der  geistliche  Oberhirte  in  der  Mitra  und 
empfangt  den  nackten  Jüngling,  der  ihm  flehend  von  links- 
her  naht;  schleunigst  bedeckt  er  mit  seinem  blauen  Mantel 
die  Blöße  des  Flüchtlings,  der  seine  Kleider  abgeworfen  hat, 
um  auf  alles  irdische  Gut  zu  verzichten.  Hinter  dem  Be- 
kenner  freiwilliger  Armut  erscheint  der  erzürnte  Vater,  der 
mit  geballter  Faust  zum  Schlage  ausholen  will,  und  wird  von 
einem  Mitbürger  genau  ebenso  am  rechten  Arm  gepackt  wie 
auf  dem  Fresko  in  Assisi.  Aber  aus  den  glattrasierten  Ita- 
lienern sind  bärtige  Nordländer  geworden,  doch  sind  sie  nach 
der  Zeitmode  sorgsam  gelockt  unter  dem  vorgeschriebenen 
Haarschnitt  um  die  Stirn.  Das  Motiv  der  habgierig  aufge- 
packten Kleider  im  Arm  ist  verschmäht;  aber  um  den  hef- 
tigen Alten  vom  Ziel  zurückzureißen,  bedarf  es  auch  der 
Linken  des  Gefährten,  die  von  hinten  vorgreifend  gerade  noch 
die  vordringliche  Bewegung  abfängt,  dabei  aber  auch  eine 
Vorbeugung  des  eigenen  Oberkörpers  veranlaßt,  die  beide 
Köpfe  einander  näher  bringt.  So  entsteht  die  paarige  Gruppe, 
die  sich  im  Rahmenausschnitt  links  zur  einheitlichen  Kurve 
zusammenschließt,  durchaus  nach  den  Regeln  des  französischen 
Stils.^)  Ihr  entspricht  gegenüber,  auf  der  anderen  Seite  rechts, 
ein  Paar  von  Geistlichen,  wie  sie  auch  in  Assisi  das  Gefolge 
des  Bischofs  bilden,  der  auf  der  Straße  gerade  daherkam. 
Aber  der  erste  wird  hier,  als  Träger  des  Krummstabes  mit 
seinem    reichen    hochgotischen    Blattwerk    droben    und    des 

i)  Vgl.  „Kompositionsgesetze  frühgotischer  Glasgemälde"  in   den 
Abhandlungen  der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.    XXXVI,  III.  (19 19). 


12  Ai;uusT  SiiiMAKsow:  |7'.3 

Sakminontars  in  der  linken  Hand,  nucl»  im  kirchlichen  Or- 
nat, Chormantel  und  Mitra,  gezoigt,  und  der  jüngere  Kleriker 
folgt  ihm,  in  gomessoiier  Zurückhaltung,  doch  durch  die  Neu- 
gier zum  Spähen  nach  dem  unerwarteten  Zwischenfall  ge- 
trieben und  so  fast  wider  Willen  angenähert.  Dazu  sind 
dann  die  jiroßen  Überschriften  hinzugetreten.  Über  den  beiden 
Laien  links,  die  nun  wie  Eindringlinge  ins  Heiligtum  erschei- 
nen, steht  l'(ate)K-  FRAN  •  ClSCl.  —  über  dem  nackten 
Knaben  mit  seinem  Nimbus  ums  blondlockige  Haupt:  S.  FKAN- 
CISCUS  im  Aufschwung  eines  schwarzen  Streifens  bis  zum 
tlacheu  Dach  des  Thrones  hinauf.  Aber  trotz  allen  Abwei- 
chungen bleibt  die  unmittelbare  Herkunft  von  dem  bestimm- 
ten Urbild  in  Assisi  ebenso  zweifellos  klar  wie  die  Freiheit 
der  Umgestaltung  und  deren  Abhängigkeit  von  Stil  und  Ton- 
art frühgotischer  Kirchenfenster  in  Frankreich. 

Die  Obedienzleistung  vor  dem  Papst  läßt  uns  im 
Vergleich  mit  der  Vorlage  des  Freskenzyklus  die  Ursachen 
der  Veränderung  besonders  deutlich  in  den  Erfordernissen 
der  Glasmalerei  erkennen.  Die  paarige  Mittelgruppe  mit  dem 
knieenden  Franz  vor  dem  thronenden  Oberhirten  der  Kirche 
wird  dadurch  der  vorigen  fast  zu  ähnlich:  Zwischen  den  bei- 
den Steinpfosten  und  der  ersten  Querstange  der  Armatur  ein- 
gespannt, sind  die  beiden  Personen  einander  ganz  nahe  gerückt, 
wenn  auch  der  niedrige  Steinsitz,  mit  seinem  Schemelunter- 
satz von  einer  Stufe,  frontal  ganz  nach  vorn  genommen,  noch 
immer  hinreichend  dafür  sorgt,  daß  der  sitzende  Bischof  von 
Kom  mit  purpurroter  Mitra  auf  dem  Haupt,  mit  goldgelbem 
Chormantel  um  die  abfallenden  Schultern  und  über  den  fast  nur 
einseitig  angedeuteten  Knien,  den  demütigen  Empfänger  der 
Ordensregel  gebührend  überragt.  Diese  ist  hier,  aus  einem 
entrollten  Pergamentstreifen  im  Orginal,  ein  gebundenes  Buch 
geworden,  das  in  dem  Augenblick,  wo  beide  Beteiligten  es 
am  selben  Außenrand  unten  berühren,  geöffnet  in  der  Luft 
steht,  da  die  Linke  des  Ordensstifters  fast  ebenso  untätig  gegen 
den  Rücken  des  Einbands  gestellt  wird.  Mit  hingebender 
Devotion  aufblickend,  ist  der  fromme  Mönch  hier  vollends  nur 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfeldek  usw.  13 

Gehorsam,  wie  er  mit  beiden  Knien  am  Boden  liegt  und 
sonst  überhaupt  mit  keinem  Gliede  weiter  in  das  Bild  hinein- 
ragt. Desto  augenfälliger  steht  sein  Name  auf  geschwunge- 
nem Schriftband  über  Heiligenschein  und  Codex,  wie  auch 
die  große  leergebliebene  Fläche  des  Bogenfeldes  über  dem 
Windeisen  in  drei  Zeilen  verkündet,  welcher  gewaltige  Herr 
diese  Bestätigung  gegeben:  INNOCENCIV  •  PAPA  •  TER- 
CIUS  •  —  Auch  hier  begleitet  den  Kirchenfürsten  sein  Weih- 
bischof mit  dem  hochragenden  Pedum,  dessen  Übereinstim- 
mung mit  dem  des  ersten  Bildes  wohl  vermuten  läßt,  daß 
in  beiden  das  gotische  Original  der  Abtei  Königsfelden  selber 
konterfeit  worden  ist,  um  noch  eine  köstliche  Gabe  der  Habs- 
burger zu  zeigen:  es  kommt  auch  im  Clarenfeuster  noch 
einmal  vor.  Und  neben  dem  Krummstabträger  in  weißer 
Mitra  erscheint  ein  barhäuptiger  Priester  ebenfalls  im  Plu- 
viale,  sogar  von  der  gelben  Farbe  wie  des  Papstes,  in  Profil- 
ansicht; er  bereichert  das  konventionelle  Motiv  geistlicher 
Statisten,  ein  schweres  Gebetbuch  zu  tragen,  durch  ein 
wundervoll  groß  und  scharf  geschnittenes  Antlitz  und  so 
durchdringenden  Blick  der  weitgeöfifneten  dunklen  Augen, 
daß  Joseph  Ludwig  Fischer  meint:  „Einen  so  lebenswahren 
Charakterkopf  konnte  nur  ein  Künstler  entwerfen,  der  sich 
im  Treiben  italienischer  Prälaten  genau  umgesehen  hatte". 
Wir  mögen  gern  annehmen,  daß  schon  die  reiche  Auswahl 
so  sprechender  Persönlichkeiten  auf  den  Wandgemälden  der 
Oberkirche  von  Assisi  das  Ihrige  dazu  beigetragen  habe, 
sehen  aber  trotzdem  kein  Bildnis  nach  Art  des  italienischen 
Meisters  darin,  sondern  gerade  hier  auch  unverkennbar  die 
verklärende  Idealität,  die  im  durchscheinenden  Glasfenster 
der  Gotik  zu  walten  pÜegt.  Daß  aber  auch  diese  Gesinnung, 
wenigstens  in  Toskana,  nicht  fehlte,  mag  durch  den  Hinweis 
auf  die  marmorne  Priestergestalt  bekräftigt  werden,  die  Gio- 
vanni  Pisano  am  Eckpfosten  seiner  Kanzel  in  St.  Andrea  zu 
Pistoja  gerade  um  die  Wende  ins  Trecento  angebracht  hatte. 
Sie  ist  auch  im  Schnitt  des  Pxofils  diesem  Kopf  hier  ver- 
wandt, so  weit  sonst  die  tektonische  Begrenzung  des  Körpers 


14  AlIOUST    SCMMAKSdW:  f7',3 

von  der  fortgesclirittenni  Bowegliolikeit  des  Gotikers  im  Nor- 
den noch  abweicht,  denn  sie  sollte  j:i  an  ihrer  Stelle  j^eson- 
dert  für  sich  bestehen  und  jedem  (leistlicl)en,  der  zur  Tiedigt 
hinaufstieg,  als  Vorbild  seines  Amtes  vor  Augen  treten,  liier 
fügt  sich  der  Kardinal  in  die  Reihe  dienend  ein,  so  lebhaft 
er  auch  hervorblickt,  und  die  letzte,  vom  Rahmen  fast  völlig 
überschnitteue  Figur  des  Akohithen  ist  gewiß  nur  deshalb 
noch  hineingenommen,  weil  das  Fresko  eine  dichtgedrängte 
Aufstellung  von  Kurialen  zeigte,  die  der  Majestät  des  Papstes 
in  der  geschlossenen  Ecke  des  Gemachs  erst  den  imposanten 
Rückhalt  gaben,  auf  die  es  eben  im  Wandgemälde  bei  solcher 
Einordnung  der  Hauptperson  in  ihre  zugehörige  Umgebung 
notwendig  ankam.  Für  den  Glasmaler  gilt  dagegen  die  Ver- 
einzelung der  Gestalten  auch  innerhalb  einer  Mehrzahl  als 
technische  Regel.  Aus  ihr  ergab  sich  die  Aufreihung  im 
Übereinander  an  der  linken  Seite,  wo  die  Genossen  des  Franz 
hinter  ihm  eingetreten  sind  und  niederknien.  Drei  Brüder 
in  verschiedenfarbiger  Kutte  beten  vorn  dicht  nebeneinander, 
zwei  in  Dreiviertelsicht  des  Kopfes,  der  letzte  nur  in  scharfem 
Profil;  drei  andere  überragen  die  Glatzen  dieser  vorderen, 
hier  auch  zwei  bärtige  dazwischen  und  der  letzte  wieder  mit 
so  energisch  geschnittenen  Formen,  so  mandelförmig  ge- 
schlitzten großen  Augen,  so  schwarzer  Iris-  und  Bartfarbe, 
daß  man  seinen  südländischen  Typus  nicht  verkennen  kann. 
Alle  diese  ausgeprägten  Erscheinungen  fallen  um  so  mehr 
auf,  als  der  weichbewegte  Papst,  der  den  mächtigen  Innocenz 
darstellen  soll,  so  jugendliches,  fast  jünglingshaftes  Antlitz 
trägt,  als  gehörte  er  zum  Hause  der  Luxemburger,  wie  sie 
uns  im  Balduineum  zu  Koblenz  gezeigt  werden.  Auch  hier 
tritt  wohl  ein  Kennzeichen  des  milder  werdenden  Zeitge- 
.  schmacks  hervor,  der  die  französische  Gotik  selber  abgewandelt 
hat  und  bei  ihrer  Verbreitung  in  deutschen  Gauen  vollends 
zu  knabenhafter  Weltfremdheit  oder  jüngferlicher  Blüten- 
frische  werden  läßt. 

An    mittelrheinische   Gefühligkeit    und   minnigliche  Ver- 
zückung,   wie    diese    Märchenabenteuer,    die    den    Römerzug 


71,3]         I)as  Franclscusfenstkr  in  Königsfelden  usw.  15 

Heinrichs  VII.  verherrlichen  sollen,  streift  auch,  freilich  mit 
besserem  Rechte,  die  Vogelpredigt  des  heiligen  Lyrikers 
von  Assisi.  Schon  die  Tatsache,  daß  unter  fünf  Hauptstücken 
aus  seiner  Laufbahn,  die  hier  ausgewählt  werden  durften,  ge- 
rade diese  liebenswürdige  Anekdote  mit  auftreten  darf,  ist 
bezeichnend.  Aber  auch  sie  bestätigt  nur  die  Abhängigkeit 
von  den  Eindrücken  der  Wandgemälde  in  Assisi,  wo  das  un- 
kirchliche Thema,  so  recht  für  das  Laienpublikum,  dicht  an 
den  Ausgang  der  Basilika  mit  dem  Blick  ins  Freie  verlegt 
worden  war.  Wie  es  dort  an  der  Portalwand  des  Langhauses 
populär  geworden,  mit  seinem  poetischen  Reiz  und  seiner 
Beziehung  zum  blauen  Himmel  draußen,  so  hat  auch  in  deut- 
schen Landen  wohl  immer  das  menschliche  Verhältnis  zur  land- 
schaftlichen Natur  und  zur  Tierwelt  unter  den  Bäumen  die  Her- 
zen gewonnen  und  die  Innigkeit  des  Gemütes  hineinzusehen 
verlockt.  Die  Gestalt  des  freundlichen  Predigers  ist  auf 
dem  Glasgemälde  nichts  anderes  als  eine  folgerichtige  Über- 
tragung des  untersetzten  umbrischen  Urbildes  in  die  gestreck- 
ten Proportionen,  die  schlanken  Glieder  und  das  rhythmisch 
bewegte  Gebaren  der  französischen  Gotik,  in  der  auch  dieser 
deutsche  Meister  geschult  war.  Aber  es  ist  auch  bewußte  Ab- 
wandlung sonst  im  Spiel:  bei  dem  Italiener  sitzen  die  Vögel 
versammelt  auf  dem  Erdboden  zu  Füßen  ihres  Freundes,  wie 
die  andächtige  Schar  menschlicher  Hörer  ihm  voll  Hinge- 
bung und  Verständnis  zu  lauschen  pflegte,  und  demgemäß 
beugt  sich  der  Prediger  zu  ihnen  gerichtet,  nach  abwärts 
blickend  und  gestikulierend,  wie  von  der  Kanzel  herab.  Da- 
durch wird  sozusagen  der  kirchliche  Charakter  der  Seelsorge, 
der  Erbauung  bewahrt.  Hier  in  Königsfelden  sitzt  die  Mehr- 
zahl der  Vögel  auf  den  Zweigen,  ja  auf  den  kugeligen  Baum- 
kronen über  seinem  Haupte;  so  bleibt  sein  Antlitz  in  auf- 
rechter Haltung  geradeaus  in  mittlerer  Höhe,  nach  rechts 
gewandt,  wie  seine  seitlich  blickenden  Augen.  Seine  Hörer 
kommen  ihm  näher,  ja  er  scheint  fast  in  persönlicher  Wen- 
dung sich  soeben  mit  dem  Haushahn  zu  beschäftigen,  der 
ganz  goldgelb  auch  dem  Betrachter  besonders  ins  Auge  fallen 

Phil.-hiflt.  Klasae  1919.    Bd.  LXXI.  3.  2 


iti  AuQUKT  S(UiM.viis()\v:  |7>.3 

imiiJ,  weun  ;uich  unten  der  Storch  iiut'  der  Wiese,  oder  die 
Gans  sich  neu<;ierig  vorgedrängt  lial)en,  oder  wenn  selbst  das 
Kiluzchen  sieh  heriiuswagt  ins  Tageslicht  und  auf  nie(h-igeni 
Stiimnu'lien,  aber  wie  federleicht,  hoch  oben  auf  der  Spitzte 
eines  Hlätterbüschels  hockt.  Kommt  doch  ein  dicker  großer 
Schmetterling  als  Luftbewohuer  herang«^tiogen,  und  gesellt 
sich  zu  allem  Getiügel  des  Waldes  sogar  das  Eichhörnchen, 
das  seinen  Nageeifer  unterbricht,  um,  mit  der  Nuß  /wischen 
den  Pfotchen,  zu  erspähen,  was  es  gibt,  ohne  dort  droben  in 
sicherem  Abstände  die  Flucht  zu  ergreifen.  Ein  großer  liaum 
teilt  mit  dem  Heiligen  das  Mittelfeld  des  Vierpaßrahmens, 
wächst  ihm  in  zwei  geteilten  Kronen  über  den  Kopf,  ins 
Bogenfeld  hinauf;  aber  wie  anders  ist  er  durchstilisiert  als 
das  mächtige  Prachtexemplar,  das  im  Wandgemälde  die  rechte 
Seite  füllt!  Auch  dort  ist  freilich  die  mittelalterliche  Scha- 
blone, bei  allem  Zuwachs  an  Naturbeobachtung  und  Körper- 
fülle, noch  unverkennbar  zugrundegelegt:  das  beweist  schon 
die  kleine  Abzweigung  vom  Stamme  rechts  unten  mit  der 
Kugelform  der  Laubmasse  daran.  Doch  welche  Wucht  des 
Gesamteindrucks  ist  bereits  gewollt  und  erreicht,  fast  als 
gälte  es  eine  Veranschaulichuug  des  Gleichnisses  vom  Samen- 
korn, das  zum  Baum  erwachsen  die  Vögel  des  Himmels  unter 
seinen  Zweigen  beherbergt  und  mit  seinem  breiten  Schirm- 
dach den  Boden  ringsum  überschattet.  Hier  dagegen,  im  go- 
tischen Glasgemälde,  bleibt  das  Hauptexemplar  nicht  allein, 
es  wird  auch  das  rechte  Drittel  im  Rahmen  noch  drei  klei- 
neren eingeräumt,  die  ebenso  vereinzelt  in  Reih  und  Glied 
aufmarschieren  dürfen,  aber  an  Größe  sich  abstufen  müssen, 
wie  das  umschließende  Kreissegment  es  fordert.  Sie  wieder- 
holen das  nämliche,  aus  der  romanischen  Kunst  ererbte 
Schema,  ja  sogar  die  Variante  in  voller  Aufsicht  auf  den 
kreisförmigen  Wipfel,  mit  seiner  Rosette  in  der  Mitte  und 
seinem  Kranz  von  abstehenden  Blättern,  die  ihn  dem  Kelch 
der  Sonnenblume  vergleichbar  machen,  obwohl  er  in  einheit- 
lichem Grün  auf  Schwarzlotzeichnung  verhairt.  Ein  ver- 
wandtes junges  Frühlingsbäumchen    streckt  auch   links  seine 


71, 3j         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  17 

beiden  Blätterbüschel,  gerade  aufwärts  und  wagrecht  zur  Seite 
hin  über  die  Köpfe  der  beiden  sitzenden  Klosterbrüder.  Zwei 
Zeugen  des  Erlebnisses  sind  an  die  Stelle  des  einen  stehen- 
den, doch  desto  wuchtiger  gebauten  Beschützers  im  Bilde 
von  Assisi  getreten.  Indes  auch  so  bleibt  der  äußerste,  in 
violetter  Kapuze,  durch  eben  diese  Hülle  noch  als  Abkömm- 
ling des  bildnismäßigen  Einzelexemplars  kenntlich.  Und  hat 
sich  das  Individuelle  verflüchtigt,  so  ist  doch  der  Ausdruck 
gespannten  Lauschens  im  Antlitz  und  in  der  mimetischen 
Geste  der  Hand  als  wertvoller  Ersatz  im  Sinne  der  nordischen 
Kunst  hinzugetreten.  Der  weißgekleidete  Frate  vorn,  der 
barhaupt  seine  Wange  in  die  Hand  des  aufgestützten  Armes 
schmiegt  und  die  herabhangende  Rechte  im  Ärmel  verbirgt, 
iindet  sein  Musterstück  auf  beiden  Predigten,  wenig  Schritte 
weiter  an  der  Nachbarwand,  erst  vor  dem  Papst  in  Rom,  dann 
bei  der  des  Antonius  von  Padua  zu  Arles;  nur  muß  ja  daran 
erinnert  werden,  daß  diese  „geschlossene  Haltung'*',  wie  ich 
sie  im  Gegensatz  zur  „offenen"  Entfaltung  der  Extremitäten 
bezeichne,  aus  der  Beschreibung  bei  Walter  von  der  Vogelweide 
wohl  bekannt,  auch  der  französischen  Gotik  schon  im  XIII.  Jahr- 
hundert geläufig  war,  also  schon  ohne  die  Anregung  eines 
packenden  Eindrucks  in  Assisi,  aus  eigenem  Erbteil  des  Glas- 
malers hätte  erwachsen  können.  Durchaus  verschieden  von  dem 
Fresko  dort,  mit  seinem  leeren  blauen  Luftraum  über  Menschen 
und  Tierwelt,  wirkt  hingegen  das  Glasbild  hier  als  Ganzes:  wie 
die  Grundfläche  im  Vierpaßrahmen  durchgehends  mit  dem  Vier- 
blattmuster bedeckt  ist  und  durch  seine  rote  Farbe  sich  über 
jeden  Anspruch  an  dreidimensionale  Raumwirklichkeit  hinaus 
hebt,  so  ist  doch  die  volLrunde  Körperlichkeit  der  Bäume,  der 
Vögel  und  des  sonstigen  Getiers  außer  den  Menschen  ebenso- 
weniö-  verleuffnet,  wie  die  plastische  Gestaltung  durch  das  ita- 
lienische  Beispiel  gesteigert  ward.  Die  Hauptsache  bleibt  in- 
des immer  die  Durchgliederung  des  umschlossenen  Ausschnittes 
aus  der  Glaswand  und  die  rhythmische  Bewegung  nach  ihren 
beiden  Dimensionen  vermittels  der  durchleuchteten  Erschei- 
nungen, die  kraft  der  Einstrahlung  des  Sonnenlichts  aus  dem 


i8  August  SoHMAHSow:  l7'i  3 

Teppichii^ninde  hervortteten  und  vor  ilou  Augon  des  Betriu-hters 
in  den  Inuenmuiu  des  Kirchenchores  leise  hcreiusch weben:  In 
regehniißi<;er  Koihuug  und  wechselndem  Auf  und  Ah  der  Grup- 
pierung vollführen  sie  alle  wie  in  einem  einheitlichen  Idealreich 
diesseits  der  wirklichen  Haumgrenze  ihr  ausdrucksvolles  Ge- 
baren, wie  in  einem  pantomimischen  Spiel  die  stumme  und 
doch  so  beredte  Sprache  der  Innenwelt. 

Hal)en  sie  so  einmal  bei  voller  Einstrahlung  vom  ent- 
wölkten Himmel  die  ätherische  Leichtigkeit  gewonnen,  die  sie 
den  Wirkungen  farbiger  Graphik  nähert,  so  befremdet  es  wohl, 
darüber  nun  doch  w^ieder  den  Erdboden  mit  seinem  Aufbau 
des  Gesteins,  ja  die  Konsolonreihe  als  Träger  eines  solchen 
Schauplatzes  zu  gewahren,  wie  die  Stigmatisation  ihn  er- 
fordert hat,  über  der  sodann  noch  ein  fünfter  Vierpaß  folgen 
soll.  Wer  mit  dem  Gedanken  an  das  W^andgemälde  von  Assisi 
hinaufschaut,  findet  zunächst  eine  vollständige  Verwandlung 
vor.  Das  Fresko  mußte  bei  der  Breitenausdehnung  seiner  ge- 
gebenen Maße  auf  den  Eindruck  luftiger  Weite  droben  am  Ge- 
biro-e  des  Apennin  angelegt  werden.  In  langhin  verlaufender 
Woge  senkt  sich  die  eine  Diagonale  vom  Felsen  links  oben 
nach  rechts  unten,  wo  das  Kirchlein  wieder  aufspringend  ab- 
schließt, imd  trennt  die  irdische  Stätte  des  Wunders  von  dem 
freien  Ätherblau  der  Höhe  zur  Rechten.  Hier  am  Himmel  ist 
der  Erscheinung  des  apokalyptischen  Flügelwesens  eine  weithin 
sichtbare  Stelle  eingeräumt,  begreiflicherweise  im  gleichen 
Maßstab  mit  dem  Menschen,  mit  dessen  Extremitäten  die 
Strahlenwirkung  es  verbinden  soU.  In  diagonaler  Richtung, 
von  rechts  oben  nach  links  unten,  wo  der  Heilige  vor  dem 
Felshaug  kniet,  vollzieht  sich  die  Übertragung  der  Wundmale, 
so  daß  sie  jene  erste  Anlage  der  gegebenen  Ortlichkeit  durch- 
kreuzt. Nur  so  kann  der  von  links  nach  rechts  entlang  schrei- 
tende Betrachter  im  Langhaus  der  Kirche  den  Vollzug  des  Er- 
eignisses, gleichsam  am  eigenen  Leibe,  miterleben.  Ganz  anders 
muß  der  Glasmaler  verfahren,  dessen  Vierpaß  sich  in  der  Höhe 
über  uns  erhebt  und  selbst  noch  wieder  durch  die  Fensterpfosten 
geteilt  ist.    In  dem  engen  Ausschnitt  unter  dem  oberen  Bogen- 


71,3]         Das  Franciscuspenster  in  Königsfelden  usw.  19 

feld  der  Mitte  müsseu  der  knieende  Franz  und  der  geflügelte 
Crucifixus  zusammengebracht  werden,  und  nur  die  Höhendi- 
mension bleibt  als  Richtuugsachse  der  Wirksamkeit  übrig,  wie 
es  ohnehin  dem  Vertikalismus  des  gotischen  Stiles  und  zugleich 
dem  innern  Aufschwung  in  der  Seele  des  Heiligen  entsprach. 
Doch  ist  auch  so  die  Herkunft  der  Komposition  von  jener  in 
Assisi  selber  deutlich  und  erklärbar  geblieben.  Die  Gestalt  des 
Heilioeu  am  Boden  mußte  schmäler  zusammengenommen 
werden;  aber  sie  hebt  sich  auch  hier  noch  von  dem  Felsblock 
ab,  von  dem  dunkleren  Grund  seiner  Höhlung  umschlossen,  und 
die  Struktur  des  kahlen  Gesteins  wie  die  Besetzung  mit  ein- 
zelnen Bäumchen  verharrt  durchaus  bei  dem  italienischen 
Schema:  es  ist  die  Pappkulisse  der  Treeentisten,  deren  Her- 
stellung noch  Cennino  Cennini  überliefert.  Statt  des  nackten 
Erlösers  aber  mit  seinen  sechs  Flügeln,  deren  unteres  Paar  die 
Schenkel  bedeckt,  deren  obere  das  freie  Schweben  in  der  Luft 
wie  auf  Adlerfittichen  erlauben,  ist  nun  das  hölzerne  Kreuz 
selber  getreten,  mit  dem  Sühnopfer  daran,  auf  der  Felsplatte, 
wie  einst  auf  Golgatha,  aufgerichtet,  und  trotzdem  die  Flügel 
nach  der  Vision  auf  dem  Fresko  in  Assisi  beibehalten.  Selt- 
samer Widerspruch  —  aus  Unverstand,  könnte  man  sagen.  Der 
Deutsche  denkt  aber,  wie  es  zunächst  scheint,  realistischer,  ja 
verstaudesmäßiger  als  der  Italiener,  obwohl  dieser,  der  Philippus 
Ruxuti  hieß,  vielleicht  gar  aus  Apulien  oder  Kalabrien  stammte 
und  aus  Neapel  nach  Rom  gekommen  war.  Aber  es  muß  wohl 
daran  o-innert  werden,  daß  auch  in  der  umbrischen  Heiligen- 
legende schon  die  Zwiesprach  mit  dem  Kruzifix  in  der  ver- 
fallenen KapeUe  vorangeht,  d.  h.  mit  einem  holzgeschnitzten 
Salvator  Mundi  am  Kreuzesstamm,  oder  einem  auf  Holz  ge- 
malten, genug  noch  in  der  Passion  gedachten  Gottessohn.  Auch 
die  Büßerandacht  des  hl.  Hieronymus  vollzieht  sich  immer  vor 
dem  aufgerichteten  Kruzifix,  so  daß  die  V^orstellung  der  Künstler 
wie  der  Gläubigen,  im  Abendlande  wenigstens,  mehr  daran  ge- 
wöhnt war,  als  au  die  himmlische  Erscheinung  des  Erlösers 
im  ewigen  Opfertode,  noch  dazu  in  Verkleidung  der  Seraphim 
nach  byzantinischem  Vorbild.    Was  in  Assisi  noch  um  1300 


20  August  Scmmaksow:  |7«,.? 

durch  die  {griechisch -orieutalischt»  Kuusttraditioii  oder  die  er- 
neuerte Kraft  aus  ( araabues  Sch<"»|)t'un»;en  lobendige  Vorstelluuu; 
f^eblieben.  ja  zum  anschaulichen  Erbteil  des  Franzinkauerheilig- 
tunis  geworden  war,  diis  blieb  dem  fremden  l'ilger  von  der 
anderen  Seite  der  Alpen  vielleicht  ein  seltsames  Rätsel,  das  er 
getiit«sentlich  wiederzugeben  meint  und  doch  nicht  in  seinem 
eigentlichen  Sinn  für  die  Erklärung  des  geheimnisvollen  Wunders 
erfaßt  hat.  So  steht  hier  der  geflügelte  Crucilixus  auf  dem 
Felsgestein  von  Alvernia,  wie  in  der  Legende  des  .lägers  Eu- 
stachius  oder  Hubertus  auf  dem  Schädel  des  Damliirsches 
'/wischen  dem  Geweih.^)  —  In  den  Ausschnitt  des  Vierpasses 
zur  Linken  des  Betrachters  ist  der  obligate  Zeuge  gebracht,  von 
rechts  herübergenommen,  mehr  aufgerichtet  hingesetzt,  aber 
ebenso  eifrig  und  ungestört  mit  seinem  Gebetbuch  beschäftigt 
v^^ie  dort.  Die  Zelle  dieses  gleichgültigen  Gefährten  neben  der 
Verzückung  in  mystischer  Vision,  erhebt  sich  noch  auf  der 
nämlichen  Seite  rechts  wie  auf  dem  Fresko,  erwächst  hier  je- 
doch zur  Höhe  eines  dreischiffigen  Kirchenbaues,  dessen  Dach- 
reiter, mit  schuppenförmigen  Holzschiudehi  bekleidet,  seinen 
spitzen  Helm  bis  zum  obersten  Rande  des  Rahmens  empor- 
steigen läßt.  Und  dieses  Gotteshaus,  in  dem  J.  L.  Fisch  kr 
irrigerweise  die  Basilica  di  San  Francesco  vertreten  sehen 
will,  wie  etwa  bei  ^Holbein  in  Augsburg  die  Hauptkirchen 
Roms,  könnte  höchstens  das  Kirchlein  delle  Stimmate  bei  Al- 
vernia bedeuten;  aber  es  ist  ja  kein  Werk  italienischer,  sondern 
deutscher  Sondergotik,  wie  wir  sie  im  Anschluß  an  die  soeben 
erbaute  Klosterkirche  von  Königsfelden  oder  im  Umkreis  der 
Glasmalerwerkstatt,  die  das  Fenster  geliefert  hat,  erwarten 
dürfen,  also  zweifellos  ein  Zeugnis  für  die  Entstehungszeit,  so- 
weit die  Abbreviatur  dies  zulassen  kann.  Nur  eine  Eigentüm- 
lichkeit, die  vorn  ins  Auge  fällt,  weist  wieder  auf  italienischen 
Ursprung  zurück:  die  großen  Schwibbogen  der  Strebepfeiler, 
am  geschichteten  Quaderwerk  der  Außenseite  rechts,  können 
wohl  nichts  anderes  sein    als  eine  Wiedergabe  des  unüberseh- 

i)  Vgl.    das  Eustachiusfenster    der  Kathedrale  von  Chartres   bei 
Laasus-Duraad. 


71,3]         Das  Pranciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  2 1 

baren  Merkmals  der  Klosterkirche  S**  Chiara  zu  Assisi,  wenn 
schon  in  die  gewohnte  Formensprache  süddeutscher  Gotik  über- 
tragen; je  sinnloser  und  struktiv  unverständlich  sie  hier  auf- 
treten, desto  sicherer  schließen  wir  auf  persönliche  Reminiszenz, 
sei  es  des  erfindenden  Zeichners  der  Komposition,  sei  es  für 
die  Ciarissen  des  Klosters,  deren  erste  Schar  noch  13 12,  ein 
Jahr  vor  dem  Tode  der  Königinwitwe  Elisabeth,  in  Königs- 
felden eingezogen  war.  Hier  im  Chorfenster  der  Minoritenabtei, 
unter  dem  Schutz  der  Habsburger  im  Aargau,  will  der  hoch- 
strebende Bau  doch  wohl  am  ehesten  die  Verherrlichung  des 
wachsenden  und  gedeihenden  Ordens  bedeuten,  selbst  wenn  er 
das  hohe  breite  Hauptfenster  der  Westfassade,  ein  wohlbekanntes 
Motiv  der  wirklichen  Bauwerke  dieser  Gauen,  getreulich  wieder- 
gibt, oder  gar  dazu  noch  den  Dachreiter,  mit  Schindelbeklei- 
dung und  durchbrochenem  Stockwerk  unter  der  Helmspitze. 
Im  obersten  Vierpaß  schließen  sich  die  Exequien  des 
Franz  wieder  genauer  an  die  Wandgemälde  von  Assisi  an, 
wenngleich  die  Aufnahme  einer  dichtgedrängten  Versamm- 
lung in  die  Komposition  eines  Glasbildes  von  vornherein  un- 
möglich war.  Auch  hier  mußte,  wie  schon  bei  Giotto  in 
S**  Croce  zu  Florenz,  die  Zusammenziehung  der  beiden  im 
Original  getrennt  geschilderten  Vorgänge  vorgenommen  wer- 
den, weil  nur  ein  Platz  dafür  zur  Verfügung  stand;  denn 
man  wollte  weder  auf  den  Aufstieg  der  Seele,  über  dem 
Sterbelager,  noch  auf  die  Bestätigung  der  Seitenwunde  durch 
den  zweifelnden  Hieronymus,  bei  Gelegenheit  der  Totenfeier 
in  der  Kirche,  verzichten.  Aber  die  Redaktion  dieser  neuen 
Einheit  ist  nicht  etwa  eine  Wiederholung  derjenigen  Giottos 
in  Florenz,  sondern  eine  eigene,  die  unmittelbar  aus  den  Fres- 
ken von  Assisi  geschöpft  ward.  Der  Glasmaler  mußte  sich 
auf  die  vorderste  Reihe  der  Nächstbeteiligten  beschränken. 
Zum  Kennzeichen,  daß  es  sich  um  die  Aussegnung  der  Leiche 
handelt,  die  von  da  zu  Grabe  getragen  werden  soll,  erscheint 
im  ersten  Abschnitt  links  das  große  Vortragekreuz,  hier  zu 
Häupten,  wie  bei  Giotto  zu  Füßen,  des  Toten  also.  Dem  Trä- 
ger erzählt  jedoch  flüsternd  soeben  ein  bärtiger  Klosterbruder 


2  2  Au<JUST   SCHMAKSOW:  |7'»3 

in   woißor   Kutte,    der  zum   Iliiniiiol   wt'isl,    vom   Entschweben 
der  Seele,  die  wir  in  einem   hellen  Stern   unter  dem   breit  «ge- 
drückten l^>gen  dos  Mittelfddi's  erbliekcn.  Die  Leichcj  seihst  ist 
hier  nicht  feierlieh  au%ebiihrt,  auf  teppich behängtem  Katafalk, 
wie  bei  den  Exequien  in  Assisi,  sondern  auf  der  geflochtenen 
Strohmatte   belassen,    die   dem    Lebenden    in    seiner   Zelle   als 
Lager    diente,    und    damit    erhalten    wir    eine    authentischere 
Darstellung,   die    mit   den    überlieferten  Nachrichten    überein- 
stimmt,  bei  dem  heutigen  Zustand  der  Wandgemälde  jedoch 
nicht    mehr    erkennbar  geblieben  oder  mißverständlich  durch 
eine  hölzerne  Pritsche  ersetzt  worden  ist.    Hier  im  Glasbilde 
wird   nicht  einmal   ein    Gestell    untergeschoben,    auf   dem  die 
Strohmatte  so  weit  über  dem  Boden  erhoben  stehen  hönnte, 
wie  sie  erscheint.    Der  entseelte  Körper  liegt  in  seinem  Mönchs- 
srewand  da.  wie  er  entschlafen  war,  und  nicht  einmal  die  nack- 
ten  Füße  sind  zugedeckt,  weil  auch  an  ihnen  die  Wundmale 
leuchten.    Am  Kopfende  kniet  ganz  vorn,  aber  in  ganz  kind- 
lich kleinem  Maßstab,  der  neugierige  Hieronymus,  so  beschei- 
den, wie  sonst  wohl  Stifterbildnisse  sich   unter  ihre  Schutz- 
patrone  schmiegen,  und  tastet,  wie  der   ungläubige  Thoraas 
nach  der  Seitenwuude  des  Herrn,  hier  mit  den  Fingern  nach 
dem  Wahrzeichen    der  Stigmatisation.    Dabei  wendet  er  sich 
nicht,  wie  im  Urbild  und  auch  bei  Giotto  zu  Florenz  noch,  in 
der  Mitte   des   Vordergrundes    gegen    das  Antlitz   des   Toten 
hinauf,  sondern  in  Profil  nach  rechts,  als  sei  er  wirklich  nur 
dazu  bestimmt,   dem   frommen    Betrachter   unten  auch   diese 
Bestätigung  zu  vermitteln.    Jenseits  des  Lagers  steht,  zu  Häup- 
ten    des   geliebten  Meisters,    ein    weinender  Bruder,    aus   der 
Sterbeszene   herübergenommen;   dann   folgt   der  Offiziant  mit 
dem  Formelbuch  der  Kirche  und  der  Stola  über  dem  schlichten 
Kleid,    auch    er    noch   ergriffen   vom   Weh,    und    neben    ihm 
sein  Helfer  mit  Weihkes.sel   und  Sprengwedel;   alle  drei  auf- 
gereiht neben  einander,  die  weißgekleidete  Hauptperson  in  der 
Mitte,   und   allesamt  in  jugendlichem   Alter  und  eben  damit 
in  typische   Ausdrucksträger   verwandelt,   bei   denen  das  In- 
teresse an  dem  Individuum  noch   durchaus  fern  bleibt.    Und 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  2^ 

selbst  die  beiden  Kerzenträger  am  Fußende  sind  nicbt  als 
teilnahmlose  Statisten  belassen,  sondern  können  nicht  umhin, 
ihren  kirchlichen  Dienst  auch  mit  schmerzvollem  Blick,  hier 
auf  den  Toten,  dort  auf  die  entfliehende  Seele  droben,  zu  be- 
begleiten. Die  durchcrehende  Tonart  ist  eben  wieder  die  wei- 
eher  Lyrik,  die  das  kindliche  Gemüt  vor  allem  bevorzugende 
der  Deutschen,  gleichwie  in  den  Handschriften  der  Minne- 
sänger oder  im  Balduineum  der  Luxemburger;  —  aber  die 
Formensprache  stammt  aus  der  sicheren  Schulung  nordfrau- 
zösischer  Glasmalerei,  ebenso  wie  die  Regel  der  Komposition. 
In  strenger  Symmetrie  der  paarigen  Glieder  um  die  dreifi- 
gurige  Mitte,  die  sich  unter  dem  Höhepunkt  des  neuen  Sterns 
am  Himmel  zur  Gruppe  zusammenfaßt,  also  in  wohlabge- 
wogener Korresponsion  der  Flügel  des  Triptychons,  aber  noch 
in  durchgehendem  Vollzug  der  rhythmischen  Bewegung  von 
links  nach  rechts,  —  so  schließt  der  aufsteigende  Zyklus  der 
fünf  Vierpaßbilder  des  Franciscusfensters  ab. 

Angesichts  eines  solchen  Breitbildes  in  der  Höhe  gewinnt 
der  Eindruck  wieder  die  Oberhand,  den  wir  bei  der  Gesamt- 
disposition bereits  ausgesprochen:  es  könnte  vom  endgültigen 
Sieg  der  Horizontale  und  damit  von  einem  entscheidenden 
Erfolg  des  italienischen  Geschmacks  die  Rede  sein.  Indessen^^ 
das  Schlußglied  der  Erzählung  ist  ja  noch  nicht  die  letzte 
Instanz  des  ganzen  Fensters.  Der  niedrige  sogenannte  Esels- 
rücken in  der  Mitte  bleibt  freilich  auch  an  Höhe  hinter  den 
beiden  seitlichen  zurück;  aber  er  wird  überstiegen  durch  einen 
Wimperg,  in  dessen  Spitzbogenfeld  eine  aufgerichtete  Drei- 
blattscheibe sitzt,  mit  weißen  fünfblättrigen  Zweigen  auf  gi-ü- 
nem  Grunde,  die  so  hell  durchscheinend  weiter  nach  oben 
weist.  Gegen  die  Ränder  dieses  Mittelgiebels,  der  das  schwere 
Maßwerk  einschließt,  legen  sich  links  und  rechts  zwei  mäch- 
tige, wieder  durch  farbige  Scheiben  durchbrochene  Kreise, 
und  über  ihnen  erst  erhebt  sich,  als  letzte  Füllung  des  Spitz- 
bogenfeldes, ein  in  Kreuzform  aufrechtstehender  Vierblatt- 
rahmen mit  großer  blauer  Blume  in  seiner  Mitte,  so  daß 
auch  hier,  mögen  die  Profile  der  Steinmetzarbeit  auch  schon 


24  AuouST  8('iiMAKS()V%  :  [7'i.5 

recht  weich  verlaufon,  der  letzte  Triumph   »lern  Vcrtikalisiniis 
gehört. 

Bei  der  Überschau  des  Ganzen  re^  sich  indessen  ein 
anderes  Befremden:  auf  der  letzten  Darstellunj^  zu  oberst,  den 
Exequien  des  lleilif^en,  j^reift  die  st»Miu'rne  Umrahmung  durch 
das  Maßwerk  des  Fensters  in  die  Kigurenkomposition  etwas 
bedrückend  hinein,  besonders  in  der  Mitte,  wo  allerdings  der 
Stern,  mit  der  Halbtigur  als  Symbol  der  Seele,  außerordent- 
lich geschickt  und  wie  abgepaßt  genau  in  die  Bogensj)itze 
gebracht  ist.  Der  obere  Teil  des  Vierpaßrahmens  ist  aber 
doch  verloren  gegangen,  —  und  das  war  ein  Entschluß,  der 
für  den  Gotiker,  der  seine  Kompositionen  für  diese  Kahmen- 
form  zu  schaffen  pflegte,  der  sie  dem  inneren  Bildungsgesetz 
dieser  spezifisch  gotischen  Erfindung  gemäß  erdachte,  ein 
schweres  Opfer  bedeutet.  Genug,  es  gibt  zu  denken,  daß  die 
Bilderreihe  von  fünf  solchen  Vierpässen,  die  innerhalb  der 
gegebenen  Fensteröffnung  bequem  Platz  finden  konnte  und 
ihn  offenbar  ganz  ausfüllen  sollte,  bis  ans  Bogenfeld,  nun  so 
hoch  hinauf  geschoben  worden  ist,  daß  ein  Teil  des  letzten 
Rahmens  oben  wegfallen  mußte.  Wir  fragen  uns:  wie  mag 
das  zuffecjangen  sein?  Und  wenn  wir  beachten,  daß  auch  das 
jClarenfenster  ähnliches  Befremden  auslöst,  so  kommen  wir 
auf  eine  gemeinsame  Antwort  zu,  die  wohl  noch  weitergrei- 
fen könnte.  Unter  den  großen  Rundmedaillons  der  Legende 
für  die  Ciarissen  ist  die  goldgelbe  Fassung  der  Peripherie 
gleichsam  wie  ein  Bandstreifen,  der  gerade  in  der  Mitte  des 
untersten  Kreises  sich  ablöst  und  senkrecht  auf  den  Boden 
niederrollt,  eine  seltsame  Zutat.  Tektonisch  hat  dies  Motiv 
gar  keinen  Sinn:  die  aufrechte  Leiste  kann  unmöglich  als 
Trägerin  gedacht  sein,  noch  als  aufsteigender  Stamm  eines 
fabelhaften  Gewächses,  wie  etwa  bei  der  Wurzel  Jesse,  ge- 
deutet werden;  sie  ist  nur  ein  recht  äußerliches  Auskunfts- 
mittel, wenigstens  einen  Schein  von  Statik  zu  erzeugen,  und 
dies  geschieht  nicht  den  beiden  musizierenden  Engeln  zuliebe, 
die  allzu  klein  schon,  mit  ihren  Instrumenten  zu  beiden  Seiten 
daneben   hocken,    sondern   zugunsten    der  Stifterbildnisse,    die 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  25 

von  links  und  rechts  her  einander  zugewendet  am  Boden  knien 
und  über  sich  eines  beruhigenden  Haltes  bedurften,  damit  die 
großen  Kreise,  mit  ihren  Bildern  und  Konsoleubänken  darin, 
nicht  allzu  bedrückend,  wohl  gar  der  eigenen  Schwere  fol- 
gend, zu  sinken  scheinen,  den  Betern  auf  den  Kopf.  Der  ge- 
musterte blaue  Teppichgrund,  der  diesen  Figuren  gegeben  ist, 
trägt  das  Seinige  dazu  bei,  solche  störenden  Gedanken  an 
die  Schwere  der  Kreismedaillons  fernzuhalten;  aber  das  ist 
eine  nachträgliche  Maßregel,  gleichwie  die  Einfügung  des  ab- 
rollenden Bandstreifens  selbst,  und  die  Struktur  des  Bildrau- 
mes in  den  Runden  steht  mit  solcher  Besorgnis  im  Wider- 
spruch: sie  war  ohne  Zweifel  vorhanden,  ehe  der  Einfall  hin- 
zutrat, unter  ihnen  noch  Stifterbildnisse  anzubringen.  Und 
sollte  das  nicht  ebenso,  wie  bei  Herzog  Leopold,  der  das 
Ciarenfenster  darbringt  und  für  den  nach  seinem  Tode  1326 
dann  seine  Gemahlin  Katharina  von  Savoyen  eintrat,  auch 
etwa  bei  Herzog  Otto,  dem  jüngeren  Bruder,  der  Fall  ge- 
wesen sein,  der  mit  seiner  ersten  Gemahlin,  der  Prinzessin 
von  Niederbayern,  unter  dem  Franciscusfenster  erschien,  des- 
sen Bildnis  uns  aber  allein,  ohne  die  Verbindung  mit  der 
gegenüber  knieenden  Gestalt  erhalten  ist?  Auch  hier  liegt 
eine  nachträgliche  Veränderung  vor:  der  unterste  Vierpaß  ist 
beschnitten  und  der  oberste  zu  weit  hinaufgeschoben,  so  daß 
er  durch  das  Maßwerk  den  eigenen  Abschluß  verlor.  Geschah 
dies,  um  für  die  Bildnisse  Platz  zu  schaffen,  so  wären  wir 
nicht  an  die  sonst  so  selbstverständliche  Annahme  gebunden, 
daß  der  Stifter  auch  der  Besteller  der  Franzlegende  gewesen, 
und  könnten  diesen  Auftrag,  der  mit  der  Gründung  einer 
Franziskanerabtei  beinahe  notwendig  schon  gefordert  war,  so- 
wie es  sich  um  Glasgemälde  zum  Schmuck  des  Kirchenchors 
handelte,  auch  demgemäß  zurückdatieren,  wie  den  für  das 
ebenso  von  vornherein  erforderte  Ciarenfenster,  die  uns  beide 
schon  aus  stilistischen  Gründen  sie  voranzustellen  veranlaßt 
haben.  Das  heißt:  die  Entstehungszeit  wäre  nicht  einerseits 
an  die  Eheschließung  Ottos  1324  (oder  gar  ans  Todesjahr 
seiner  ersten   Frau    1330)  geknüpft,  noch  andrerseits  an  das 


^6  Au(;usT  SniMAKsow:  |7'i3 

Sterbejahr  des  Herzogs  Leopold  I3-f^  der  die  Verwaltunj^ 
dieser  westlichen  Länder  des  Gesunithaiises  Habsbur^  führte, 
während  Friedrich  dem  Schtincii  als  dem  damals  ältesten  Sohne 
die  der  östlichen  Hälfte  mit  dem  ller/o}rtum  Osterreich  selbst 
/m'efallcii  war.  Heide  zeugen  für  den  Rund  der  Habsburger 
mit  dem   Minoritenorden. 

Vergleichen  wir  unter  diesem  Gesichtspunkt  noch  einmal 
die  Figurenkompositiunen  des  (^larenfensters,   so  erweist  sich 
auch  in  ihnen  einiges  als  zugehörig  zu  den  Bodenplatten  mit 
den  schräff  gestellten  Konsolenreihen   und  den  perspektivisch 
behandelten  Kassetteudecken  in  Untersicht.  In  dem  linken  Aus- 
schnitt erscheint  wiederholt  ein  würfelförmiger  Altartisch,  mit 
rundbogiger  Aedicula  dahinter,  unter  deren  flachem  Dach  wir, 
von    außen    hineinschauend,    ebenfalls    solche   perspektivische 
Zeichnung  der  Kassettenreihen  zu  sehen  bekommen.    Auf  den 
italienischen   Ursprung   weisen   auch    andere  Einzelheiten    zu- 
rück;  aber,   wo   es   gilt,   das   auf  Claras  Fürbitte   von  einge- 
drungenen  Sarazenen   befreite   Assisi   zu  zeigen,   da  erscheint 
hinter  Mauern  mit  Zinnenkranz  und  gotischem  Torbogen  ein 
Stadtbild,  das   aus   deutschen   Bauwerken   der   Zeit  und  Um- 
gebung  des   Glasmalers   zusammengeschoben   ist,   nur   wieder 
mit    dem    ausgesprochenen  Bestreben,    es  freilich   mehr   von 
oben  gesehen,   doch   einer   perspektivischen   Regel  zu  unter- 
werfen.    Solche    Einzelheiten    fortgeschrittener  Raumbildung 
und  südländischer  Kirchenaustattung,  wie  sie  auch  durch  Mi- 
niaturmalereien  nach    Norden    gelangten,    können    uns    nicht 
darüber  täuschen,   daß   die  Gestaltenbildung   im  wesentlichen 
dem   gotischen   Stil  angehört,   der   von  Nordfrankreich   nach 
dem    Elsaß    wie    nach    den   mittelrheinischen    Gegenden    und 
nach  Köln  gelangt  war,   wenn  auch  nicht  mehr  der  gleichen 
Hand  wie  das  Franciscusfenster  beizumessen.    So  gut  wie  die 
neuesten  Architekturmotive  beim  Neubau  von  St.  Denis  nach 
Straßburg  gebracht  waren,  oder  die  Durchbrechung  der  Fen- 
sterregion nach  dem  Vorbild  der  Kapellen  in  der  Champagne 
weiter  vordrang,  so  geschah  es  auch  mit  den  schlanken  Pro- 
portionen und  der  geschmeidigen  Bewegung  der  Figuren,  den 


71,3]         I)a8  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  27 

Gewandmotiven  oder  dem  Kleiders chnitt  französischer  Mode. 
Nur  gibt  es  für  die  Malerei,  wie  uns  Georg  Vitztiium  an 
der  Hand  der  Miniaturen  nachgewiesen  hat,  noch  einen  an- 
deren Weg  der  Verbreitung,  auf  dem  die  nordfranzösisch-bel- 
gische  Kunst  von  der  Maas  her  gegen  den  Rhein  und  die 
Mosel  vordrang  und  neben  ihrem  eigenen  Stil  nicht  unbe- 
trächtliche Elemente  der  englischen  Kunst  bis  weit  rheinauf- 
wärts  mit  sich  brachte.^)  Die  zarten  Jungfräulein  der  Claren- 
legende  streifen  mit  manchen  ihrer  Eigenschaften  an  die  Er- 
scheinungen der  lothringischen  Buchmalerei  zwischen  den  Zen- 
tren Metz  und  Mainz,  und  das  wäre  bei  den  verwandtschaftlichen 
Beziehunj?en  der  Habsburger  zum  Fürstenhause  von  Lothrin- 
gen  gar  nicht  zu  verwundern:  eine  Tochter  Albrechts,  Eli- 
sabeth, war  seit  1304  mit  Ferry  IV.,  Herzog  von  Lothringen, 
vermählt,  und  deren  junger  Sohn  erscheint  (nach  dem  Tode 
seines  Vaters  1328)  auch  als  Donator  eines  Glasfensters  in 
Königsfelden.  Die  Komposition  dieser  Clarenlegende  beschränkt 
sich  fast  immer  auf  schlichte  Gegeneinanderführung  der  Reihen 
vereinzelter  Gestalten,  selbst  wo  zu  einer  Gruppenbildung  An- 
laß war,  d.  h.  nicht  nur  bei  der  Überreichung  des  Abzeichens 
geheiligter  Jungfräulichkeit  durch  den  Bischof  an  die  schon 
bräutlich  gekrönte  Heilige  mit  ihren  Gesinnungsgenossinnen, 
sondern  auch  bei  der  Ergreifung  der  eingekleideten  Kloster- 
frau durch  den  Vater,  an  der  Schwelle  des  Altars  selber. 
Die  Abschneidung  der  prachtvollen  blonden  Zöpfe  durch  die 
Schere  des  Franz  wird  zur  feierlichen  Zeremonie,  ja  zur  sym- 
bolischen Andeutung  und  bleibt  bei  dem  „So-Tun,  Als-Ob", 
so  lehrhaft  auch  das  Gespräch  der  beiden  Mönche  auf  der  einen 
Seite,  so  geschwätzig  das  der  beiden  Gevatterinnen  rechts  ge- 
geben wird.  Die  Erregung  ist  zur  verhaltenen  Gebärdensprache 
gemildert,  selbst  die  Inbrunst  des  Gebetes  der  kranken  Äbtis- 
sin   mit  ihren  Begleiterinnen,    wo   es   sich  um   höchste  Not 

i)  Georg  Graf  Vitzthcm,  Die  Pariser  Miniaturmalerei  von  der 
Zeit  des  hl.  Ludwig  bis  zu  Philipp  von  Valois,  4.  Kapitel:  Die  rheini- 
sche Malerei  zu  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  ynd  ihr  Verhältnis  zu 
Paris  und  zu  England-Belgien.    Leipzig  1907. 


28  AUÜI'ST    ScHMAUSOW:  [7',i 

lumdolt,  um  Errottun<^  der  Stadt  aus  der  Gewalt  schon  ein- 
«^edrungeuer  Harbaren.  Und  doch  tritt  üborall  die  Friiude  an 
der  ausdrucksvollen  Be\vt'<;ung  noch  in  lein  eniijl'undener 
Mäßif^uni^  zutage,  das  VcrständniB  „für  ieichtgeneigte  Kt'ipfe, 
gebeugte  Leiber,  leise  gehobene  oder  schlaff  niederhäugende 
Hände,  mit  gesuchter  Ditlerenzierung  des  Fingerspiele"  an  den 
länglichen,  schmalgeschnitteuen  Extremitäten.  Das  ist  etwas 
gänzlich  aiuleres  als  die  drastisclie  und  pathetisch  ausgreifende 
Gebärdung  des  Meisters  der  Frauziegende  von  Assisi.  Ja,  noch 
eine  Maßregel  ist  bezeichnend:  nicht  allein  die  Halbfigur  des 
tragenden  Engels  mit  symmetrisch  ausgespanntem  Flügelpaar, 
im  abgeschnittenem  Kreissegment  unten,  betont  in  solcher 
Frontalansicht  die  Mittelachse,  deren  Aufstieg  durch  das  Ganze 
geht,  sondern  auch  im  Bilde  selbst  kommt  noch  ein  Engel 
mit  großer  Krone  in  beiden  Händen  herabgeschwebt  und  legt 
so  die  haltgebieteude  Teilungslinie  mitten  in  den  Vollzug  der 
rhythmischen  Reihung  hinein. 

Fragen  wir  nach  dieser  Anerkennung  der  Verschieden- 
heiten neben  dem  gemeinsamen  Italienischen  in  den  Fenstern  zu 
Ehren  der  beiden  Ordensheiligen,  die  hier  zunächst  in  Betracht 
kamen,  nun  weiter  nach  dem  Verhältnis  zu  den  übrigen  Be- 
standteilen des  Chorschmuckes,  so  verdient  freilich  Lehmanns 
Hinweis  auf  die  Erkennbarkeit  einer  vorbestimmten  Verteilung 
volle  Rücksichtnahme,  soweit  sich  seine  Gründe  mit  den 
unsrigen  irgend  vertragen.  „Schon  äußerlich  gibt  sie  sich  in 
dem  Farbenwechsel  von  roten  und  blauen  Hintergründen  und 
der  verwandten  Komposition  von  zwei  gegenüberliegenden 
Fenstern  kund,  mehr  aber  noch  in  der  Gruppierung  des  Li- 
halts."  Wie  weit  reichen  diese  Übereinstimmungen,  und  wie 
weit  doch  nicht?  „Im  Mittelfenster  des  dreiseitigen  Chorschlus- 
ses tritt  uns  die  Darstellung  der  Passion  entgegen",  obgleich 
eine  Verordnung  der  Franziskaner  vom  Jahre  1260  dies  nicht 
als  notwendig  aufrechterhielt  (vgl.  S.  43).  „Daran  reiht  sich 
beidseitig  je  ein  Fenster  mit  den  Ereignissen  aus  dem  Leben 
Christi",  von  der  Verkündigung  bis  zur  Taufe  in  dem  einen, 
von  der  Auferstehung  bis  zur  Herabsendung  des  hl.  Geistes 


71,3]         Das  Franciscusfenstek  in  Königsfelden  usw.  29 

in  dem  andern.  „Dann  folgen  in  dem  einen  Fenster  je  zwei 
Episoden  aus  dem  Leben  der  hl.  Katharina  und  des  hl.  Jo- 
hannes d.  T.  in  Verbindung  mit  dem  Bilde  der  hl.  Elisabeth 
von  Thüringen  zwischen  einem  betenden  Fürstenpaare",  nämlich 
der  Johanna  von  Pfirt,  seit  1320  vermählt  mit  Albrecht  von 
Habsburg  (geb.  1289).  Und  dieses  Stifterpaar  erklärt  nur  die 
Wahl  des  einen  Namensheiligen,  Johannes  des  Täufers,  aber 
nicht  die  Katharinens  von  Alexandrien,  bei  der  wir  jedoch 
an  eine  Beteiligung  der  Schwester  des  Herzogs  Albrecht, 
Katharina,  denken  dürfen,  die  1297  geboren,  seit  13 13  mit 
Karl  von  Kalabrien  vermählt,  aber  seit  1324  verwitwet  war. 
„Im  gegenüberliegenden  Fenster  sind  Ereignisse  aus  dem 
Leben  des  Apostels  Paulus  mit  solchen  aus  dem  späteren 
Leben  der  Maria  ausgewählt  worden";  aber  es  fehlt  ebenso 
an  einer  sachlichen  Erklärung  für  so  befremdliche  Zusammen- 
stellung, so  daß  bei  diesem  Fensterpaar  eben  nur  die  deko- 
rative Korresponsion  übrig  bleibt,  die  auf  gleichzeitige  Ent- 
stehung zurückzuschließen  erlaubt.  „Das  anschließende  Fenster- 
paar enthielt  je  sechs  monumentale  Apostelgestalten",  bei 
denen  die  erhaltenen  Reste  doch  einen  ganz  andersartigen 
Zuschnitt  aufweisen  als  die  übrigen  Fenster,  und  zwar  durch 
ihre  Aufreihuug  statuarischer  Einzelgestalten,  die  durch  Me- 
daillons, mit  Halbfiguren  von  Propheten  darin,  unterbrochen 
werden.  „Der  jugendliche  Stifter  wird  uns  auf  einem  Spruch- 
bande als  Heinricus  Dux  Austrie  (geb.  1299)  bezeichnet,  der 
seit  13 14  mit  Elisabeth  von  Firneburg  vermählt  war,  doch 
schon  1327  starb",  —  so  daß  sich  die  Zeit  der  Entstehung 
auf  das  Jahrzehnt  zwischen  diesen  Daten  beschränken  läßt. 

„Für  die  vier  noch  übrigbleibenden  Fenster  wählte  man 
Darstellungen  in  Medaillons",  wie  sie  auch  das  Passionsfenster 
zeigt.  Aber  das  nächstfolgende  Franciscusfenster  enthält  ja 
Vierpaßrahmen,  das  Clarenfeuster  Kreisrunde.  Das  Gegenstück 
des  ersteren,  fast  gänzlich  zerstört,  gab  „vermutlich  einst  Dar- 
stellungen aus  dem  Leben  des  hl.  Antonius  Eremita",  mit  dem 
knabenhaften  Stifterbildnis  des  Rudolf  von  Lothringen,  der 
wohl  mit  seiner  1328  verwitweten  Mutter  Elisabeth  von  Habs- 


30  Au(JUST  ScHMAKMOw:  [71,3 

bürg  nls  Douatrix  erschien,  gleichwie  gegenüber  unter  der 
Franzlegende  ihr  Bruder  Otto  mit  seiner  ersten  Gemahlin  Elisa- 
beth, Herzogin  von  Haj'eru  (gest.  i.i^o).  Das  ChinMifenster 
führt  uns,  wie  gesagt,  den  älteren  Hruder  Leopold  (gest.  1326) 
mit  seiner  Gemaliliu  Katliarina  von  Savoyen  vor,  mit  der  er 
seit  131 5  vermählt  war,  so  daß  die  Bestellung  in  die  Zeit  ihrer 
Ehe  zurückreichen  würde,  wäre  nicht  hier  eine  nachträgliche 
Einfügung  der  Bildnisse  unter  den  Bilderzyklus  el)enso  Avahr- 
scheinlich,  wie  es  angesichts  der  Stileigenschaften  des  Franciscus 
fensters  behauptet  werden  darf.  Das  Gegenstück  der  Ciaren- 
legende mit  den  Geschichten  der  heiligen  Anna  „enthielt  in 
seiner  untersten  Partie  von  jeher  an  Stelle  der  Stifter  den 
Stammvater  Jesse  zwischen  zwei  kleinen  Darstellungen  mit  der 
Erschafiung  der  Eva  und  dem  betrunkenen  Noah  mit  seinen 
beiden  Söhnen".  Das  aber  ist  doch  ein  starker  Beleg  für  die 
ursprüngliche  Abwesenheit  aller  Stifterbildnisse,  besonders  bei 
den  Fenstern,  deren  Inhalt  schon  ursprünglich  als  DarsteUungs- 
stoff  für  solche  Marienkirche  eines  Franziskaner-  und  Clarissen- 
klosters  gegeben  war.  „Es  gehörte  demnach  entw^eder  als  Doppel- 
stiftung zu  dem  Clarafenster  (schließt  Lehmann),  oder  war 
vielleicht  von  Agnes  geschenkt  worden  als  Erinnerung  an  ihre 
1326  verstorbene  Schwester  Anna".  Indessen,  es  liegt  ja  gar 
kein  Grund  vor,  nicht  an  eine  Stiftung  der  Anna  von  Habsburg 
selbst  zu  denken,  die  seit  13 10  in  zweiter  Ehe  mit  Heinrich, 
Herzog  von  Breslau,  verheiratet  war,  also  hier  von  Anfang  an 
beteiligt  sein  konnte,  nur  etwa  noch  vor  der  Zeit,  wo  die  welt- 
lichere Gesinnung  der  heranwachsenden  Generation  dazu  über- 
ging, das  Werk  der  frommen  Sühne  des  Königsmords  in  eine 
wiUkommeue  Gelegenheit  zur  Verherrlichung  ihrer  eigenen 
Personen  zu  verwandeln.  Die  Herzogin  Anna,  der  wir  in  erster 
Linie  die  Stiftung  des  Anuenfeusters  beimessen  dürfen,  w^ar  die 
Erstgeborene  der  kinderreichen  Gründerin  des  Klosters,  kam 
also  vor  allen  Söhnen  in  Betracht,  unter  denen  wir  Friedrich, 
seit  1 3 1 4  römischer  König,  ebenfalls  nicht  im  Bildnis  vertreten 
sehen,  während  der  älteste,  Rudolf  VI.,  schon  1307  dem  Vater 
im  Tode  vorangegangen  war.    Erst  drei  Jahre  nach  ihrem  Hin- 


71,3]         Das  Fr.vnciscusfenster  in  Königsfeloen  usw.  31 

scheiden  (gest.  28.  Okt.  13 13)  fand  die  Witwe  Albrechts,  dessen 
Brustbild  droben  am  Schlußstein  über  dem  Hochaltar  angebracht 
war,  ihre  letzte  Ruhestätte  in  der  Kirche,  eine  Tatsache,  die 
doch  wohl  für  die  bis  dahin  verzögerte  Fertigstellung  des  Chores 
selbst  in  Ansatz  gebracht  werden  muß.  „Inzwischen  hatte  ihre 
Tochter  Agnes,  die  (seit  1301)  verwitwete  Gemahlin  des  Königs 
Andreas  III.  von  Ungarn,  das  Werk  weitergeführt,  und  der 
Taufname  des  letzteren  nach  dem  eines  Apostels,  gibt  wohl 
einen  Wink,  wem  der  Gedanke,  hier  Äpostelfenster  anzubringen, 
am  nächsten  lag.  Auch  das  Bildnis  ihres  Gatten  hat  sich  wie 
das  ihres  Bruders  Rudolf,  Königs  von  Böhmen,  erhalten.  Nun 
aber  erleidet  Lehmanns  Annahme  einer  einheitlichen  Voraus- 
bestimmtheit der  ganzen  Fensterreihe  für  den  Chor  doch  eine 
wichtige  Einschränkung:  sie  erstreckt  sich  außer  auf  die  paarige 
Zusammengehörigheit  der  Grundfarben  schon  nicht  durchgehends 
auf  die  formalen  Eigenschaften,  weder  der  Gesamtdisposition 
je  zweier  einander  gegenüberstehender  Glaswände,  noch  auf  die 
Rahmenbildung  der  Darstellungen.  Die  beiden  Apostelfenster 
räumen  der  Bekrönung  mit  durchbrochenen  Turmhelmen  und 
Fialenrisen  eine  ungleiche  Höhe  ein;  sie  bezeugen  damit  die 
fortschreitende  Steigerung  dieser  Liebhaberei  für  gotische 
Architekturphantasie,  die  schon  die  Einteilung  der  beiden 
Evangelienfenster  zu  den  Seiten  der  Passion,  mehrmals  im 
Widerspruch  mit  dem  erzählenden  Inhalt  einschlägt,  dessen 
geringe  Figurenzahl  die  drei  Tabernakel  nebeneinander  nicht 
erfüllen  konnte.  Sichtlich  aber  ist  das  Annenfenster  mit  der 
Wahl  großer  Rundmedaillons,  gleich  dem  Mittelstück  hinter 
dem  Altar,  dem  Ciarenfenster  angepaßt  worden,  dem  gegenüber 
es  Platz  finden  soUte,  während  es  dqch  zu  unterst  noch  keine 
Stifterbildnisse  enthält,  wie  dieses,  mit  seinen  offenbar  älteren 
Legendenbilderu.  Dem  Franciscusfenster,  das  sachlich  mit  dem 
zu  Ehren  Claras  zusammengehörte,  wurde  ein  Antoniusfenster 
als  Gegenstück  gegeben,  und  zwar  nicht  für  den  Franziskaner- 
heiligen von  Padua,  sondern  für  den  Eremiten  Antonius  Abbas, 
dessen  Aufnahme  hier  wohl  mit  Rücksichten  auf  ein  vorhan- 
denes Heiligtum  in  der  ländlichen  Waldumgebung  des  neuen 

Phil.-hist.  Klasse  1919.   Bd.  LXXI.  3.  3 


32.  AuousT  ScHMAKsow:  [7 '.3 

Klosters  zuBiiniiiKMihin«^.  Doch  ist  es  zerstört,  also  kein  Urteil, 
wie  weit  die  Übereinstimmung  ging,  mehr  möglich,  (ienug, 
gerade  an  der  Stelle,  wo  sich  die  Sockelhihler  des  Annatensters 
mit  der  ErschiifVung  Evas  und  Noali  den  Stiftcrbildiiissen  des 
(Uareufeusters  gegenüberstellten,  liegt  ein  Pjinschnitt,  der  die 
nachträgliche  Anjiassung  zur  Korresponsion  anheimgibt.  Und 
diese  Stelle  ist  auch  für  die  Chronologie  der  Arbeiten  von  auf- 
klärender Bedeutung. 

Wenn  also  Lkhmann  auf  die  systematische  Einordnung 
des  Passionsfensters  im  Chorhau])t  hinter  dem  Altar  die  An- 
nahme begründet,  auch  seine  Entstehungszeit  müsse  kurz  vor 
oder  kurz  nach  dem  Tode  der  ersten  Gründerin  (131.^)  an- 
f^esetzt  werden,  so  dürfen  wir  uns  nicht  mit  der  Kombination 
historischer  Daten  und  daraus  abgeleiteter  Vermutungen  zu- 
frieden geben,  es  sei  denn,  daß  auch  die  andre  Aussage  sich 
bewährt:  „In  diese  Zeit  paßt  auch  sein  Stil".  Und  dazu  hat 
schon  Josef  Ludwio  Fischer  mit  Recht  bemerkt,  daß  die 
Darstellung  des  Grabes  im  obersten  Rund  des  Fensters  mit 
der  plastisch  perspektivischen  Wiedergabe  dreidimensionaler 
Körper  zusammenhängt,  die  wir  in  einem  Teil  dieser  Chor- 
fenster noch  vollständiger  vertreten  sehen.  Auf  der  andern  Seite 
zwingt  die  Einschaltung  des  Bodenstreifens  für  die  Figuren 
in  Form  eines  flächenhaft  behandelten  Sockels  mit  gotischen 
Vierpässen  in  kleinen  Kreisrunden  dazu,  das  Passionsfenster 
mit  dem  zu  Ehren  der  heiligen  Anna  zusammenzunehmen. 

Meinte  Fischer  deshalb,  von  dem  historisch  sicher  da- 
tierbaren Fenster  mit  Leopold  und  seiner  Witwe  müßte  bei 
der  stilistischen  Zeitbestimmung  ausgegangen  werden,  indem 
auch  er  sich  gleich  Lehmann  noch  an  das  Todesjahr  dieses 
Stifters  1326  gebunden  hielt,  so  haben  wir  mit  dem  Hinweis 
auf  den  Freskenzyklus  von  Assisi,  der  zum  großen  Jubiläums- 
jahr 1300,  das  Bonifaz  VIU.  in  Rom  feierte,  vollendet  gewesen 
sein  muß^),  einen  ganz  neuen  Anhalt  für  die  Chronologie  der 

I)  Die  ausführliche  Begründung  für  dies  gleiche  Datum  ist  in 
der  oben  angeführten  Schrift  über  die  „Kompositionsgesetze  der  Franz- 
legende in   der  Oberkirche  zu  Assisi"  (Leipzig  191 8)  gegeben  worden. 


71,3]         Das  Franciscusfenhter  in  Königspelden  uhw.  ^^ 

italienischen  Stilbestandteile  gewonnen  und  deshalb  das  Fran- 
ciscusfenster,  mit  der  Clarenlegende  daneben,  vorangestellt. 
Folgen  wir  diesem  Wegweiser  unbeirrt  weiter,  so  kommen 
wir  zunächst  zu  dem  Fenster  mit  je  zwei  Bildern  aus  dem 
Leben  des  Täufers  und  der  Katharina  von  Alexandrien,  dessen 
Einstelluner  in  die  kirchlich  vorher  bestimmte  Reihe  der 
übrigen  nur  durch  die  Beziehung  zu  Johanna  von  Pfirt  als 
Stifterin,  gegenüber  ihrem  Gemahl,  Albrecht  VII.  (nach  1320) 
erklärt  wird.  Auch  hier  treten  im  Altartabernakel  bei  der 
Verkündigung  an  Zacharias  und  bei  der  Enthauptung  des 
Johannes  als  Kerkertür  solche  Architekturstücke  in  körper- 
licher Rundung  und  perspektivisch  gezeichneter  Schrägansicht 
auf;  aber  sie  sind  bereits  augenfällig  genug  aus  dem  Cos- 
matenstil  von  Assisi  und  Rom  in  die  rohere  Auffassung 
deutschen  Steinmetzengeschmacks  übertragen,  gleich  gut,  ob 
wir  es  mit  Sondergotik  im  Altargehäuse  des  Tempels  oder 
mit  italienischem  Palastbau,  mit  luftigem  Obergeschoß  und 
Säulenloggia  über  dem  Tor,  mit  flachem  Dach  darüber  zu 
tun  haben.  Dort  Spitzbogen  und  Rippengewölbe,  hier  zu- 
gespitzte Fensterhöhlen  und  ausgetiefte  Dachluken  oder  drei- 
eckige Ausschnitte  mit  zusammenfliehenden  Seiten  der  Lei- 
bung, beidemal  der  Angabe  des  Materials  zuliebe  auch  plumpe 
Schwerfälligkeit  des  leibhaftigen  Bauwerks,  statt  der  Leich- 
tigkeit einer  Kulisse,  die  solche  Abbreviatur  im  durchsichtigen 
Fenster  nur  sein  kann,  während  ihr  DarsteUungsprinzip  von 
der  monumentalen  Wandmalerei  auf  breiten  Kirchenwänden 
Italiens  entlehnt  war.  So  auffallend  und  unverkennbar  die 
Mache  solcher  auf  die  Bühne  gestellten  Versatzstücke  noch 
mit  den  Architekturen  der  Franzlegende  von  Assisi  über- 
einstimmt, so  braucht  hier  doch  keine  ebenso  unmittelbare 
Herübernahme  gerade  von  dorther  vorzuliegen,  wie  auf  dem 
Franciscusfenster  hier  in  Königsfelden.  Italienische  Miniatur- 
maler oder  norditalienische  bzw.  südtirolische  Dekorations- 
maler könnten  die  Vermittler  gewesen  sein,  je  nachdem  man 
den  Grad  der  Derbheit  beim  Empfänger  auf  deutschem  Boden 
bemessen   mag.    Dahin   gehört   auch   das   Rad    der  Katharina 


3* 


34  AiuiusT  ScuMAusow:  [7ii3 

und  die  lliindhabung  des  Seh  wertes  bei  den  Hcnkeru  in  bei- 
den Eutliuuj)tuiigen.  Dahin  gehört  ebenso  die  Abwundlung 
der  Fußleiste  mit  perspektivischen  Vorsprüngen  und  einge- 
tieften Kassetten  in  Weiß,  Gelb  und  Grün,  nach  den  Ab- 
stufungen der  Helligkeit.  Sie  unterscheidet  sich  hier  j)rinzipiell 
von  der  KonsoUnireihe  des  Frauzfonsters  wie  der  Claren- 
legende  dadurch,  daß  sie  frontal,  nicht  mehr  seitwärts  von 
rechts  gesehen  wird,  und  statt  von  unten  hinauf  vielinelir  von 
oben  nach  abwärts  gerichtet,  d.  b.  zum  sicheren  Kennzeichen 
der  unverstandenen  Perspektive,  ja  des  optischen  Maßstabes 
für  Glasgemälde  in  der  Höhe  gotischer  Fenster.  Die  Rahmen- 
forni,  die  für  die  beiden  Paare  von  Darstellungen  gewählt 
ward,  bezeugt  dagegen  einen  zeitlichen  Fortschritt;  es  ist 
nicht  mehr  das  zum  Vierpaß  erweiterte  Quadrat  des  Franz- 
fensters, sondern  die  stehende  Raute,  in  deren  Achsensystem 
die  eingelegte  Horizontale  des  Fußbodens  einen  viel  stär- 
keren Gegensatz  gegen  das  innere  Bildungsgesetz  bedeutet. 
Dies  Verfahren  finden  wir  jedoch  ebenso  in  Verbindung  mit 
der  Frontalansicht,  wie  es  der  Höhepunkt  in  der  Mitte  oben 
und  die  Spitze  unter  dem  Querstrich  anheimgeben,  sowohl  in 
Frankreich,  z.  B.  an  den  Chorfenstern  von  Saint- Urbain  de 
Trojes,  die  wohl  nicht  schon  i  295  (mit  Viollet-le-Duc,  IX,  430), 
sondern  erst  in  dem  ersten  Jahrzehnt  des  XIV.  Jahrhunderts 
entstanden  sind,  als  auch  in  Italien,  an  den  Bronzereliefs  des 
Andrea  Pisano,  für  die  Tür  des  Baptisteriums  zu  Florenz,  die 
mit  1330  bezeichnet  sind. 

Mit  diesem  Stadium  der  Verarbeitung  italienischer  Vor- 
bilder stimmt  aber  auch  das  Annenfenster  noch  so  weit  überein, 
daß  wir  ihm  etwa  den  Einblick  in  den  nächsten  Schritt  abge- 
winnen können.  Darin  kommen  noch  italienische  Bauwerke, 
sogar  mit  Untersicht  der  quadrierten  Decken  vor,  als  Haus  des 
Joachim  in  der  Verkündigung,  als  Treppenaufgang  zum  Tempel 
für  die  kleine  Maria,  hier  schon  mit  gotischen  Bogen-  und  Paß- 
formen untermischt,  —  während  die  goldene  Pforte,  unter  der 
sich  Joachim  und  Anna  wiederfinden,  —  mit  Antonius  von 
Padua  und  Ludwig  von  Toulouse  als  Zeugen,  —  ebenso  der 


71, 3j         Das  Fhanciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  35 

Baldachin  über  dem  Bett  der  Wöchnerin,  zu  der  die  hl.  Verena 
mit  Kamm  und  Kessel  zu  Besuch  kommt,  und  endlieh  der 
Thronaufbau,  unter  dem  S.  Anna  selbdritt  verherrlicht  wird,  — 
zwischen  Laurentius  und  Christophorus  zu  den  Seiten,  —  durch- 
aus in  nordische  Gotik  übersetzt  sind,  auch  wenn  sie  allesamt 
das  flache  Dach  und  die  perspektivische  Wiedergabe  ihrer 
Polygouseiten  mit  der  Plattengliederung  an  der  Decke  drinnen 
bewahren.  Schon  die  Wahl  der  großen  Kreisrunde  haben  diese 
Bilder  mit  dem  Ciarenfenster,  die  schwarzgelbe  Kante  aus  ab- 
getreppten Würfelstufen  oder  gegeneinander  gestellten  Karten- 
blättern andererseits  mit  dem  Pranciscusfenster  gemein,  wie 
die  Halbfiguren  der  Engel  unterhalb  und  droben  in  der  Höhe 
sie  wieder  mit  dem  ersteren  verbinden,  dessen  begleitenden 
Engeln  in  den  Zwickeln  auch  die  Einzelfiguren  von  weiblichen 
Heiligen  verwandt  bleiben,  die  hier  auf  Konsolen,  wie  Statuetten 
am  Pfeiler,  aufgestellt  sind.  Den  Friesstreifen  aus  neun  kleinen 
aneinandergereihten  Kreisöffinungen,  die  mit  Vierpaßnasen  aus- 
gelegt sind,  teilt  das  Fenster  zu  Ehren  der  hl,  Anna,  wie  ge- 
sagt, mit  dem  Passionsfenster  im  Chorhaupt. 

In  diesem  vorwiegend  für  die  franziskanischen  Andachts- 
übungen geschaffenen  Hauptstück  kehrt  nicht  allein  am  Fuß 
der  Martersäule  bei  der  Geißelung  die  perspektivische  Zeich- 
nung der  vertieften  Ausschnitte  oder  Offnungen  des  polygonen 
Sockels  wieder,  wie  in  jenen  gröberen  Arbeiten  aus  der  Jugend- 
geschichte Christi  (Krippe,  Thronsitz  bei  der  Anbetung,  Stuhl 
Josephs)  oder  der  Enthauptung  des  Täufers,  sondern  es  kommt 
hoch  oben  in  der  Grablegung  noch  einmal  ein  auffallendes  Be- 
legstück für  die  Fortwirkung  der  italienischen  Beispiele  vor: 
statt  des  Sarkophags  wird  ein  Altaruntersatz  oder  ein  hohler 
Sockel,  wie  für  ein  freistehendes  Stiftermonument  in  Kirchen- 
chören,  aufgebaut,  dessen  Vorderseite  sich  in  drei  tiefen  Rund- 
bogennischen öffnet,  und  ebenso  ist  wohl  die  Schrägansicht  der 
Schmalseite  zu  Häupten  gemeint,  die  alle  die  gleiche  perspek- 
tivische Wiedergabe  von  links  nach  rechts  anstreben.  Über 
diese  Tumba  nach  Art  des  romanischen  Stils,  in  Oberitalien 
etwa,  sind  sechs  ebenso  schrägverlaufende  Holzbalken  gelegt, 


36  August  ScHMAKSOw:  [7'.3 

iils  sollton  sie  einen  Holilranni   iil)erbii"u'ken,  und  darauf  erst 
ruht  die  gemeißelte  Steinplatte,  die  wir  als  Mensa  ansj)rechen 
dürften,  auf  die  der  starre  lieichnam  soeben  hingestreckt  wurde, 
um   ihn   nun  als  „Corpus  Domini'*  der  letzten  Liebkosung  der 
Mutter  und  der  schnier/.vollon  Klage  des  Liel)lingsjüngers  und 
der  liebenden  Magdalena  zu  überantworten.  Als  Sinnbild  solcher 
Andacht  schwebt  auch  ein  Engel  im  Bogenfeld  daher;  die  sym- 
bolische Bedeutung  der  Zeremonie  hat  also  auch  liier  noch  die 
Vorherrschaft  über  das  realistische  Geschehnis  behauptet,  zu 
dem   mit  den  schräggestellten  Leitern   für  die  Kreuzabnahme 
bereits  ein  Anlauf  genommen  war,  während  der  gewählte  Augen- 
blick am  Fuß  des  Stammes  doch  bei  der  Klage,  um  die  Mater 
dolorosa  mit  dem  Leichnam  des  Sohnes  auf  ihren  Knien,  be- 
harrt.   Diese  Schrägansicht  des  heiligen  Grabes,  an  dem  noch 
einmal  die  vorspringenden  Balkenköpfe  wiederkehren,  wie  an 
der  Fußbodenplatte  des  Ciarenfensters  und  der  sicher  vorange- 
gangenen Konsolenreihe  der  Franzlegende,  die  beide  den  unab- 
weislichen  Zusammenhang   mit  dem  Freskenzyklus   in   Assisi 
bezeugen,  kann  nicht  wohl  ein  früheres,  sondern  nur  ein  spä- 
teres Beispiel  des  hier  eingedrungenen  italienischen  Geschmacks, 
auf  grund  antiker  Kuustüberlieferung  sein;  denn  es  ist  plumper 
und  schw^erfälliger,  gleichwie  die  gotischen  Nachbildungen  der 
Architektur  auf  dem  Annenfeuster,   oder   in  den  Kautenvier- 
pässen  mit  Geschichten  des  Täufers,  es  beruht  nicht  mehr  auf 
wohlverstandener  Autopsie  der  authentischen  Vorbilder,  es  ent- 
spricht nicht  dem  Urbild,  das  wir  in  solchem  Fall  erwarten 
müßten,  einem  Cosmatengrabmal,  wie  es  in  S.  Francesco  zu 
Assisi,   in   der  Fronleichnamskapelle   etwa  zu  sehen  gewesen. 
Es  ist  bereits  eingedeutschte  Arbeit,  deren  nord italienische  Be- 
standteile durch  Miniaturen  vermittelt  sein  könnten,  bis  auf  das 
eine  Motiv,  der  schrägverlaufeuden  Balkenreihe,  das  auf  die  be- 
sonderen Gegebenheiten  des  rhythmischen  Verlaufs  im  Fresken- 
zyklus  der  Oberkirche  zu  Assisi  selbst  zurückweisen   würde, 
wäre  es  hier  in  Königsfelden  eben  nicht  schon  durch  die  Glas- 
gemälde des  Franciscus-  und  des  Ciarenfensters  vorbereitet  ge- 
wesen, die  es  durch  verständnisvollere  Sicherheit  übertreffen 


71,3]         Das  Franciscusfenster  in  Königsfelden  usw.  37 

Wer  mit  Hans  Lehmann,  unter  Berufung  auf  verwandte 
Leistungen  in  der  Schweiz,  das  Passionsfenster  von  Königsfelden 
um  1315  entstanden  glaubt,  der  müßte  nun  einen  zweiten  An- 
fang von  der  anderen  Seite  des  Chores  her  zugeben,  wo  unter 
direktem  Einfluß  italienischer  Wandgemälde  im  Hauptheilig- 
tum der  Franziskaner  das  Ciaren-  und  das  Franciseusfenster 
entstanden,  und  müßte  den  Auftrag  für  die  Verherrlichung  der 
beiden  Ordensheiligen  der  hier  angesiedelten  Minoriten  bis  auf 
das  Gründungsjahr  der  Abtei  oder  bis  zum  Eintreffen  der  ersten 
Insassen  des  Klosters,  um  1 3 1 2  zurückdatieren.  Da  die  Neigung 
des  XIV.  Jahrhunderts  zu  systematischer  Gleichstellung  korre- 
spondierender Teile  während  der  ersten  Jahrzehnte  noch  nicht 
so  stark  war,  könnten  die  Fenster  für  Franciscus  und  Clara  ur- 
sprünglich als  Gegenstücke  bestimmt  gewesen  sein  —  am  Ein- 
gang des  Chores  zu  stehen.  Und  dennoch  würde  die  Durch- 
dringung beider  Richtungen,  die  sich  in  der  Grablegung  des 
Altarfensters  offenbart,  noch  allzufrüh  erreicht  scheinen,  und 
im  Widerspruch  zu  der  Vermittlung  stehen  bleiben,  von  der 
uns  doch  die  Annenlegende,  die  Verkündigung  au  Zacharias 
und  die  Enthauptung  des  Johannes  so  bestimmtes  Zeugnis 
geben,  ja  selbst  die  Geburt  Christi,  die  Anbetung  der  Könige 
und  die  Darbringung  im  Tempel  auf  der  einen  Seite,  die  Auf- 
erstehung aus  dem  Grabe  mit  schräggesehenen  Konsolen  und 
perspektivisch  gezeichneter  Steinplatte,  über  die  der  Besieger 
des  Todes  hinwegsteigt,  auf  der  anderen  Seite  des  zugehörigen 
Mittelstücks.  Kann  die  Stiftung  des  Herzogs  Albrecht  und  sei- 
ner Gemahlin  Johanna  von  Pfirt,  wie  wir  nach  den  entwickel- 
ten Vierpaßrahmen  schon  sicher  annehmen  müssen,  nur  nach 
1320  entstanden  sein,  und  die  Stiftung  Heinrichs  nur  zwischen 
dem  Jahr  seiner  Verheiratung  13 14  und  seinem  Tode  1327,  so 
haben  wir  bestimmte  Fingerzeige  genug  über  den  Zeitraum,  in 
dem  sich  die  Annäherung  und  Verquickung  beider  Schulen  oder 
beider  Meisterateliers  auf  deutschem  Boden  vollzogen  haben  muß. 

Den  Meister  des  Franciscusfensters  können  wir  bestimmter 
charakterisieren;  denn  die  persönlich  aus  Assisi  mitgebrachten 
Kunsteindrücke  und  perspektivischen  Kenntnisse,  die  man  da- 


38    A.  ScHMARSow:  Das  FitANriscrsK.  in  Konkjskki.dkn  ikw.  [71,3 

miils  in  solcher  Verbiiulunjr  nur  an  Ort  und  Stelle  cmpfangtMi 
konnte,  gesellt  er  dem  besten  Erbteil  der  nordfrauzösischen 
Ghismalerei,  deren  Gestaltonbildun^  und  Fi^j^urenkomposition 
er  mit  voller  Sicherheit  handhabt,  als  wäre  er  aus  der  Schule 
der  Kathedrale  von  Chartres  oder  einer  ihrer  glücklichsten 
l^flanzstätten  hervorgegangen.  Überlegen  wir  uns  noch  einmal, 
wie  er  die  Errungenschaften  aus  S.  Francesco  zu  Assisi  sich  an 
geeignet,  wie  er  sie  im  Zusaninienliang  mit  der  Rhythmik  der 
dorticreu  Oberkirche  verstanden  und  als  fruchtbare  Motive  doch 
in  freiem  Schaffen  nach  seiner  Art  unter  ganz  anderen  Erfor- 
dernissen verwertet,  so  bleibt  kaum  eine  andere  Annahme  übrig, 
als  daß  er  selbst,  eben  als  Glasmaler,  in  der  Basilica  tätig  ge- 
wesen, oder  daß  er  zu  den  kunstgeübten  Franziskanern  gehörte, 
der  im  Mutterkloster  am  Monte  Subasio  einen  Teil  seiner  Aus- 
bildung empfangen  hatte,  und  dann  etwa  mit  den  ersten  Send- 
lingen  von  dort  nach  Königsfelden  gelangt  sei.  Das  ist  für  die 
Geschichte  der  Beziehungen  der  deutschen  Kunst  zu  dem  ita- 
lienischen Trecento  jedenfalls  ein  beachtenswerter  Beitrag,  der 
deshalb  so  entscheidend  auf  die  Forschung  wirken  muß,  weil 
er  sich  so  exakt  beweisen  läßt,  und  weil  er  so  vorurteilsfrei, 
über  alle  Anwandlungen  nationaler  Eifersucht  hinweg,  dargetan, 
sich  auch  unabweisbar  behaupten  wird. 

Leipzig,  29.  April  1919.  Schmaksow. 


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Assisi 


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Assisi 


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Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissensctiaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-liistorisclie  Klasse 

71.  Band.     1919.     4.  Heft 


Max  Förster 


Die  Beowulf- Handschrift 


Mit  2  Tafeln 


Leipzig 

Bei  B.  ö.  Teubner 

1919 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  3.  Mai  1919. 
Das  Manuskript  eingeliefert  am  8.  Juli  19 19. 
Druckfertig  erklärt  am  19.  September  1919- 


-v^. 


Meinem  lieben  Freunde 

Joseph  Schick 

zum 

seclizigsten  Geburtstage 


§  I.  Foliierung.  —  §  2.  Bogensignaturen  und  Lagenverteilung.  — 
§  3.  Die  Schreiberhände.  —  §  4.  Das  Alter  der  Schreiberhände.  — 
§  5.  Die  Herkunft  der  Handschriftenteile.  —  §  6.  Die  Geschichte  des 
Kodex.    —  §  7.  Der  Inhalt  des  Kodex. 

Die  Handschrift,  welche  uns  in  dem  Beowulf-Epos  den 
kostbarsten  Schatz  altenglischer  und  altgermanischer  Poesie 
erhalten  hat,  befindet  sich  heutzutage  im  Besitz  des  Britischen 
Museums  zu  London  unter  der  Signatur  Cotton  Vitellius 
A.  XV.  So  oft  diese  Handschrift  verwertet  worden  ist  und 
so  zahlreich  Inhaltsangaben')  derselben  vorliegen,  so  fehlt  es 
doch  immer  noch  an  einer  irgendwie  eingehenderen  Be- 
schreibung und  paläographischen  Untersuchung^)  dieses  Kodex, 
so  daß  die  folgenden  Angaben,  die  einen  Anfang  damit  machen 
wollen,   manchem  nicht  unwillkommen  sein  dürften.^)    Wenn 


i)  Siehe  weiter  unten  §  7. 

2)  E.  KöLBiNG,  Zur  Beovulf-Handschrift  (Archiv  für  neuere  Spra- 
chen 56  l'^7^]  S.  91  — 118)  bietet  nur  eine  Kollation  des  Beowulf- 
Textes. 

3)  Auch  sonst  haben  altenglische  Handschriften  meines  Wissens 
keine  ausführlicheren  Untersuchungen  erfahren,  mit  Ausnahme  des  'Tex- 
tus  RofFensis'  in  der  Kathedralbibliothek;  zu  Rochester,  den  F.  Lieber- 
mann in  der  Archaeologia  Cantiana  1898  behandelt  hat,  und  des  Ver- 
celli- Kodex  CXVII,  den  ich  selbst  beschrieben  habe  ('Der  Vercelli-Codex 
CXVII  nebst  Abdruck  einiger  altenglischer  Homilien  der  Handschrift', 
Halle  1913,  sowie  '11  Codice  Vercellese  con  omelie  e  poesie  in  lingua 
Anglosassone  la  prima  volta  interamente  riprodotto  in  fototipia  a  cura 
della  Biblioteca  Vaticana  con  introduzione  del  prof.  dott.  M.  Foerstee'^ 
Roma  191 3).  Eine  ausführliche  Inhaltsangabe  von  Cotton  Tiberius 
A.  III.  bot  ich  im  'Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen'  121 

PMl.-hist.  Klasse  1919    Bd.  LXXI.  4.  I 


2  Max  Förster:  [7«,  4 

es    Befreuuleii    erregen    sollte,  daß    diose  Aufgabe    nicht    dem 
Palliograplien  überlasseu  bleibt,  dem  sie  von  Rechts  wegen  zu- 


(190S),  30 — 46;  dazu  Fkiik-i  Ergilnzmig  cboiida  129,  2igt'.  Das  Cotton 
MS.  Vespasiauus  D.  XIV  werde  ich  geuauer  beöchreiben  in  meiner  Aub- 
gabe  der 'jElfric sehen  Homilien  aus  Vespasianus  D.  XIV.  —  Für  die 
s.  g.  Cajdmon-Hs.,  Junius  IX,  hat  einige  der  her<^eiiörigeu  Fragen  (FAn- 
band,  LagonverU-ilung,  FittrutMnteilung)  behandelt  F.  H.  Stoddarh,  The 
Ctedmou  Poems  in  MS.  Junius  XI  (Anglia  10,  157 — 167).  Doch  be- 
dürfen seine  Ausführungen  stark  der  Nachprüfung  (Einiges  schon  bei 
Lawrence,  On  Codex  Junius  XI  in  'Anglia'  12,  598 — 600).  Vor  allem 
leiden  sie  unter  der  irrigen  Voraussetzung,  daß  überall,  wo  sich  ein 
Falz  zeigt,  ein  Blatt  herausgeschnitten  sein  müsse,  so  daß  ganz  falsche 
Angaben  über  die  Lücken  in  der  Handschrift  herauskommen,  die  leider 
auch  von  Wülkek  übernommen  sind.  Bei  dem  sehr  großen  Format  der 
Handschrift  war  der  Schreiber  offenbar  häufig  genötigt,  sich  mit  einem 
kleineren  Pergamentblatte  zu  begnügen  und  dieses  mittels  eines  Falzes 
der  Lage  einzufügen.  Daher  liegt  ein  zwingender  Grund  zur  Annahme 
eines  Blattverlustes  nur  da  vor,  wo  sich  eine  Lücke  im  Texte  am  Blatt- 
schlusse  zeigt.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  würden  9  von  den  17 
Lagen  der  Caedmon-Handschrift  ohne  nachweisbaren  Blätterverlust  uns 
erhalten  sein:  nämlich  die  aus  je  4  Bogen  bestehenden  Lagen  IV  (=  fol. 
14 -21),  V  (=fol.  22—29),  VI  (=fol.  30-37)  und  XVI  (=  fol.  99  — 106), 
die  aus  4  Bogen  und  2  Falzblättern  (fol.  iio.  113)  bestehende  Lage 
XVII  (=  fol.  107 — 116),  die  aus  4  Bogen  und  einem  Falzblatt  (fol.  45) 
bestehende  Lage  VII  (=  fol.  38 — 46),  die  aus  je  3  Bogen  und  je  einem 
Falzblatt  (fol.  51.  93)  bestehenden  Lagen  VIII  (=  fol.  47—53)  und  XV 
(=  fol.  92 — 98)  sowie  die  aus  einem  Bogen  und  3  Falzblättern  (fol.  3. 
4.  5)  bestehende  Lage  I  (=  fol.  i — 5);  —  die  für  paläographische  Zwecke 
unbrauchbare,  erst  mit  fol.  2a  einsetzende  Seiteuzählung  der  Hand- 
schrift ist  bei  diesen  Angaben  durch  eine  Zählung  aller  vorhan- 
denen Blätter  ersetzt.  Dagegen  werden  wir  doch  wohl  den  Verlust 
eines  Blattes  annehmen  müssen,  wo  das  Auftreten  eines  Falzes  mit 
einer  Textlücke  zusammenfällt.  Aber  auch  hier  wird  nicht  immer  sicher 
zu  entscheiden  sein,  ob  das  fehlende  Blatt  von  dem  sichtbaren  Falze 
abgeschnitten  worden  ist,  oder  ob  ein  ursprünglich  für  sich  eingefalzter 
besonderer  Halbbogen  verloren  gegangen  ist.  Ein  einziges  Blatt  fehlt 
in  der  Lage  XI  (eventuell  zum  Falz  von  fol.  69  gehörend),  in  der 
Lage  XIV  (zu  fol.  87?)  und,  wenn  wirklich  nach  Exodus  445  eine  Text- 
lücke vorliegt,  was  keineswegs  ganz  sicher  ist,  in  der  Lage  XIII  (zu  fol. 
81'?).  Zwei  Einzelblätter  fehlen  in  Lage  IX  (eventuell  zu  fol.  56  und 
57  gehörend)  und  in  Lage  X  (zu  fol.  62  und  65 '?).    In  Lage  III  treffen 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  3 

falle,  so  sei  darauf  verwiesen,  daß  Paläographen  nur  in  den 
seltensten  Fällen  die  hiezu  nötige  Kenntnis  des  Altenglischen 
besitzen  und  daß  für  die  Beurteilung  volkssprachlicher  Hand- 
schriften auch  spezifisch  philologisches,  nämlich  lautgeschicht- 
liches Wissen  erforderlich  ist.  Und  zudem  sind  es  gerade  die 
Philologen,  die  die  Lösung  der  hier  aufgeworfenen  Fragen 
für  ihre  sprachlichen  und  literarhistorischen  Zwecke  inter- 
essiert. 

Leider  ist  die  Beschäftigung  mit  den  Handschriften  unter 
der  jüngeren  Generation  der  deutschen  Anglisten  eine  Selten- 
heit geworden  und  wird  es  bei  der  traurigen  internationalen 


an  der  Textlücke  nach  fol.  12  zwei  Falze  (von  fol.  9  und  10)  zusammen, 
aber  es  kann  nicht  mit  Sicherheit  gesagt  werden,  ob  hier  ein  oder 
zwei  Einzelblätter  fortgefallen  sind.  Ein  ganzer  Bogen,  und  zwar  der 
mittelste  der  Lage,  fehlt  in  Lage  XII  (=  fol.  73 — 78);  die  zwei  (oder 
drei)  äußersten  Bogen  fehlen  in  Lage  II,  dessen  beide  einzig  erhaltenen 
Blätter  zwei  Einfalzblätter  (fol.  6  und  7)  sind.  Im  ganzen  dürften  also 
nur  13 — 15  Blätter  verloren  gegangen  sein,  nicht,  wie  Stoddard  meint, 
27.  —  Auch  was  Stoddard  über  die  Bedeutung  des  mehrfach  vor- 
kommenden X  oder  xh  vermutet,  ist  unhaltbar.  Jenes  "«&"  findet  sich 
z.  B.  auch  im  Vercelli- Kodex  (fol.  119%  121%  123»,  126*),  sowie  im 
Barlow  MS.,  in  Digby  63  und  Caius  Coli.  Cambr.  144  (nach  Napieb, 
Academy  23.  März  1889,  I  205).  Es  bedeutet  offenbar  so  etwas  wie 
Christe,  benedie  (Lindsay)  oder  Christus  benedictus  (Neubauer,  Academy 
16.  März  1889,  I  186).  Es  entspricht  der  von  den  frommen  irischen 
Mönchen  übernommenen  Sitte,  die  Tagesarbeit  des  Schreibens  mit 
einer  kurzen  Gebetsformel  am  oberen  Seitenrande  zu  beginnen.  Als 
solche  Gebetsformeln  finden  wir  z.  B.  auch  Xgri  ßwrj&riaov,  adiuva  nos, 
Christe  (Reichenauer  Hs.  25.  D  86;  Ztschr.  f.  celt.  Phil.  6,  546),  Christe, 
fave  votis  (Paris, B.N.  io837fol.  21);  oder  die  höchst  interessanten  Schrei- 
berbemerkungen im  Sangallensis  904  (Thesaurus  Palaeohibernicus  II 
S.  XX ff.),  wie  z.  B.  faue,  Brigita;  sancta  Brigita  intercedat  pro  nie; 
Christe,  faue;  Patricie,  adiuua;  Pätricie,  öenedic;  faue,  Patricie;  sancta 
Brigita  oret  pro  nobis;  sanct«  Brigita,  adiuua  scriptoreni  istius  artis; 
faue,  Jesu;  in  nomine  almi  Patricia;  sanctus  Diormitius  oret  pro  nobis; 
faue,  Christe;  adiuua,  Christe  und  die  irische  Notiz  (nach  Stokes 
Übersetzung)"  •.::.  of  Patricie  and  Brigit  on  Mael  Brigte,  that  he  may 
not  be  angry  ivith  nie  for  the  writing  that  has  been  toritten  this  time". 
S.  W.  M.  Lindsay,  Early  Irish  Minuscule  Script  (Oxford  1910)  S.  47. 


4  Max  Föustku:  [71,4 

Lafre  und  <lem  durch  wahnsinnijjjcn  Sicgcrübernnit  verewigten 
Völkerliiiß  in  Zukunft  noch  mehr  werden.  Aber  wozu  die 
Nichtbeachtung  einer  so  elementaren  Sache,  wie  die  Fest- 
legung der  oberen  Zeitgrenze  für  die  Al)fassung  eines  Lite- 
raturdenkmales durch  das  Datum  seiner  handschrii'tlichen 
Aufzeichnung  führt,  lehrt  der  kürzlich  gemachte  Versuch, 
die  gut  als  „Klage  eines  Vertriebenen"  zu  bezeichnende  Elegie 
des  Exeterbuches  „ins  S})ätere  10.  Jahrhundert",  d.  h.  doch 
wohl  das  Ende  oder  die  zweite  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts, 
zu  versetzen*),  während  doch  die  Niederschrift  des  uns  vor- 
liegenden Textes,  der  bei  seiner  starken  Verderbtheit  schon 
durch  mehrere  Hände  gegangen  sein  muß,  von  einer  Autori- 
tät wie  E.  M.  Thompson^)  „um  950"  angesetzt  ist  und  sicher- 
lich nicht  später  als  das  dritte  Viertel  des  10.  Jahrhunderts 
entstanden  ist.  Ein  anderes  Beispiel  dafür,  wie  stark  die 
literarhistorische  Einreihung  eines  Werkes  von  der  Datie- 
rung seiner  handschriftlichen  Überlieferung  abhängt,  werde 
ich  im  folgenden  (§  4)  in  Bezug  auf  die  altenglischen  Ver- 
sionen des  Alexanderbriefes  an  Aristoteles  und  der  s.  g. 
Wunder  des  Ostens  erbringen. 


§  I.    Foliiernng. 

Der  umfangreiche  Sammelband  Vitellius  A.  XV  der 
Cottonischen  Sammlung  des  Britischen  Museums,  welcher 
gegenwärtig  aus  2  1 1  Blättern  (ca.  igx  12  cm)  —  darunter  209 
alten  Pergamentblättern  —  besteht,  weist  heutzutage  drei  ver- 
schiedene Foliierungssysteme  auf:  eine  alte  Blätterzählung, 
weiche  wohl  aus  dem  Ende  des  16.  oder  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts stammt,  und  zwei  moderne,  welche  erst  gegen  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  eingetragen  sind. 


i)  L.  L.  ScHccKiNo,  Kleines  angelsächaisches  Dichterbuch  (Cöthen 
1919)  S.  22. 

2)  Thompson,  An  Introduction  to  Greek  and  Latin  Palaeography 
(Oxford  19 12)  S.  394 f.  Vgl.  auch  W.  Keller,  Angelsächsische  Palaeo- 
graphie  (^BerUn  1906)  S.  3  3  f.  und  40  f. 


71,4]  DiK  Bkowulf-Handschru't.  5 

(a)  Die  alte  Paginierung  erscheint  in  dreifacher  Weise 
anffeo"eben.  Die  ältesten  Blattzahlen,  welche  eine  verhältnis- 
jiiäßicr  altertümliche  Hand  aufweisen  und  noch  aus  dem  Ende 
des  i6.  oder  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  herrühren  werden, 
sind  nur  noch  auf  wenigen  Blättern  in  der  oberen  rechten 
Ecke  erlialten,  da  die  Handschrift  bekanntlich  durch  den 
Brand  der  Cottonianischen  Bibliothek  am  2^.  Oktober  des 
Jahres  1731  stark  gelitten  hat,  so  daß  schließlich  im  19.  Jahr- 
hundert die  einzelnen  Blätter  in  einen  modernen  Papierrahmen 
mittels  durchsichtigen  Glaspapieres  eingesetzt  werden  mußten. 
Erhalten  sind  diese  ältesten  Zahlen  nur  noch  in  folgenden 
Fällen:  eine  3  auf  der  heutigen  fol.  6,  ebenso  eine  6  (auf  9), 
7  (10),  8  (11),  12  (15),  13  (16),  14  (17),  15  (18),  23  (26), 
24  (27),  26  (29),  27  (30),  28  {si\  29  (32),  31  (34),  32  (35), 
33  (36),  37  (40)»  38  (41),  39  (42),  40  (43),  41  (44),  47  (50), 
50  (53).  5[2]  (55),  54  (57),  56  (59),  67  (71),  73  (76)  und 
77  (81).  Nach  fol.  81  scheint^)  kein  Rest  der  ältesten  Zah- 
len mehr  erhalten  zu  sein.  Wenn  man  in  Betracht  zieht, 
daß,  wie  wir  später  sehen  werden,  mit  fol.  96  ein  ursprüng- 
lich selbständiger  Kodex  beginnt,  so  könnte  man  die  Ver- 
mutung hegen,  daß  diese  zweite  Handschrift  überhaupt  keine 
alte  Blattzählung  gehabt  habe.  Indes  zeigt  sich,  daß  auch 
die  letzten  15  Blätter  der  ersten  Handschrift  keine  Spur 
der  alten  Zahlen  bewahrt  haben.  Und  so  mag  sich  das 
Fehlen  von  alten  Zahlen  in  der  zweiten  Hälfte  des  Kodex 
daraus  erklären,  daß  die  Blätter  von  fol.  82  ab  stärker 
beschädigt  und  in  Sonderheit  die  Blattecken  sämtlich  ab- 
gebröckelt sind. 

Man  könnte  die  Vermutung   aufstellen,   daß    diese   Foli- 
ierung   von   Richard  James ^)   (1592  — 1638)   herrührte,   der 


i)  Allerdings  scheint  aut  fol.  100'  noch  so  etwas  wie  eine  9  sicht- 
bar zu  sein,  so  daß  also  9[6]  die  alte  Blattzahl  gewesen  sein  könnte. 
Indessen  ist  diese  Spur  doch  höchst  zweifelhaft. 

2)  Näheres  über  diesen  gelehrten  Bibliothekar,  der  auch  wegen 
seines  handschriftlichen  Dictionarius  Anglo-Saxonicus  (Bodl.  MS.  James 
41)  und  Dictionarius  Saxonico-Latinus  (Bodl.  MS.  James  42)  einen  Platz 


6  Max  Förster:  [71.4 

seit  etwa  1625  als  Bibliothekar  Sir  Roukkt  Cottons  (1571 
bis  1Ö31)  fungierte  und  dessen  Hand  uns  aus  den  43  Hand- 
schriften seines  dichterischen  und  wissenschaftlichen  Nach- 
lasses auf  der  Bodleiana  und  mehreren  Inhaltsangaben  zu  den 
Cottonischen  Manuskripten  gut  bekannt  ist.  Indessen  stim- 
men die  Formen  der  ZifiFern  kaum  zu  den  sicher  von  Jamks 
geschriebenen  Zahlen  auf  fol.  2  a  (vgl.  darüber  weiter  unten 
§  7).  Und  überdies  muß  James  jene  alte  Foliierung  schon 
vorgefunden  haben,  da  er  sich  in  seiner  Inhaltsangabe,  die 
er  dem  Gesamtkodex  voraufgeschickt  hat  (jetzt  fol.  2),  mit 
„pag.  56"  nachweislich  auf  jene  älteste  Blätterzählung  bezieht. 

Überall  da,  wo  diese  Zahlen  mit  dem  Blattrande  infolge 
des  Brandschadens  abgebröckelt  sind,  ist  diese  selbe  Zählung 
noch  im  18.  Jahrhundert,  wohl  bald  nach  dem  Brande  von 
1731,  dadurch  erneuert  worden,  daß  die  zerstörten  Zahlen 
auf  dem  stehengebliebenen  Teile  der  Blattecke  mit  Tinte 
wiederholt  sind.  Oft  konnte  das  nur  in  der  Weise  geschehen, 
daß  die  Zahlen  in  den  altenglischen  Text,  und  zwar  zwischen 
die  I.  und  2.  oder  auch  2.  und  3.  Zeile,  hineingeschrieben 
wurden.  Auch  diese  Zahlen  sind  infolge  der  fortschreitenden 
Zerstörung  der  Blattecken  heutzutage  nicht  mehr  alle  vor- 
handen. 

Wichtig  ist,  daß  diese  Zählung  des  18.  Jahrhunderts  den 
ganzen  Sammelband,  einschließlich  der  Epen  von  Beowulf  und 
Judith,  umfaßt  und  uns  also  angibt,  in  welchem  Zustande,  was 
Lücken  und  Reihenfolge  der  Blätter  angeht,  sich  der  Kodex 
seit  seinem  Zusammenbinden  zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts 
bis  zu  seinem  Neubinden  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
befand. 

Endlich  ist  diese  alte  Zählung  noch  ein  drittes  Mal  mit 
Bleistift  in  die  äußersten  rechten  Ecken  des  modernen  Papier- 
rahmens, in  den  alle  Blätter  nach  dem  Brande  eingesetzt 
sind,  wiederholt  worden.    Diese  Bleistiftfoliierung  wird  wohl 


in  der  Geschichte  der  englischen  Philologie  verdient,  bietet  C.  L.  Kinos- 
FORD  im  /Dictionary  of  National  Biography'  *X,  655—657. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  7 

gleichzeitig  mit  dem  Einsetzen  in  den  Papierrahmen  gemacht 
sein,  was  erst  im  dritten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts  — 
zwischen   1861   und   1871   (siehe  §  2)  —  erfolgt  ist. 

Nach  dieser  ältesten  Blätterzählung  werden  bisher  in 
den  Ausgaben  zumeist  die  Zitate  geboten.  Auch  das  Zupitza- 
sche  Faksimile  des  Beowulf  (1882)  sowie  die  Beowulf- Aus- 
gabe HoLTHAUSENs  (4.A.  1914)  und  die  der  Judith  von  Cook 
(2.  A.  1904)  u.  a.  m.  kennen  nur  diese  älteste  Zählung- 

Diese  Paginierung  zählt  im  ganzen  206  Blätter. 

Was  lehrt  uns  nun  diese  älteste  Blätterzählung  über  den 
Zustand  des  Kodex  zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts,  als  er 
in  die  Bibliothek  Sir  Robeet  Cottons  gelangte  und  dort  — 
wohl  unter  James'  Leitung^),  also  zwischen  1625 — 1638  — 
die  heutige  Zusammenstellung  erhielt?  Zimächst  zeigt  uns 
die  alte  Paginierung,  daß  all  die  Blätter,  welche  heutzutage 
fehlen,  bereits  um  1625  nicht  mehr  vorhanden  waren.  Dies 
gilt  sowohl  von  dem  Blatt,  welches  zu  Anfang  des  Nicodemus 
nach  fol.  56^  (ältester  Zählung)  vermißt  wird,  wie  von  der 
fehlenden  Lage  der  Quintinus-Legende  nach  fol.  90^  und  den 
drei  Lagen  zu  Beginn  der  Judith  vor  fol.  199*. 

Weiter  lehrt  uns  die  alte  Foliierung,  daß  an  vier  Orten 
des  Manuskriptes  ein  oder  mehrere  Blätter  sich  an  falscher 
Stelle  befanden,  die  erst  bei  dem  Neueinbinden  im  19.  Jahr- 
hundert in  die  richtige  Reihenfolge  gebracht  sind.  Es  handelt 
sich  zunächst  um  die  Blätter  96—105  (=fol.  91  — 100  der 
ältesten  Zählung),  die  ursprünglich  so  angeordnet  waren,  daß 
fol.  98  — 99  (=fol.  91  — 92  ältester  Zählung)  sich  vor  fol. 
g6  —  97  (=  93  —  94)  befanden  und  ebenso  fol.  104—105 
(==  g5 — g6)  vor  fol.  100 — 103  (=  97 — 100).  So  kommt  es, 
daß  die  alte  Foliierung  heutzutage  nach  der  Richtigstellung 
der  Anordnung  in  folgender  Reihenfolge  erscheint:  93.  94  | 
91.  92  j  97.  98.  99.  100  I  95.  96.  Diese  falsche  Blätterzählung 


1)  Weil  Richard  James  dem  Bande  ein  Inhaltsverzeichnis  (fol.  2») 
vorsetzte,  welches  den  ganzen  Kodex  in  seiner  heutigen  Gestalt  um- 
faßt (vgl.  §  7). 


8  Max  Fökstkk:  [?».  4 

orklürt  sich  am  eintaclistoii  so,  wenn  wir  annehmen,  daß  die 
ebengenannten  lo  Bliitter  (=£01.96—105  neuester  Zählung) 
eine  Lage  zu  5  Bogen  l)ildeten,  deren  4  erste  Bogen  zur  Zeit 
der  Renaissance- Paginierung  in  falscher  Ucihenfolgo  lagen, 
nämlich  als  c.  d.  a.  h.,  und  deren  ,S-  Bogen  e,  statt  in  der 
Mitte,  zwischen  die   b.'iden   letzten    Blätter  der    Lage  geraten 

war.  M 

Ferner  standen  nach  Ausweis  der  alten  Koliierung  die 
Blätter  112  —  i  u)  {=  115  122  ältester  Zählung)  hinter 
(statt  vor)  den  Blättern  120—127  (=107—114  ältester  Zäh- 
lung); und  diese  Anordnung  fand  noch  1861  T.  0.  (_  ockaynk-) 
bei  der  Herstellung  seiner  Ausgabe  des  altenglischcn  Alexander- 
briefes so  vor,  während  A.  Holder  im  September  1876,  als 
er  CocKAYNEs  Text  mit  der  Handsclirift  kollationierte^),  die 
heuticre  richtitje  Anordnung  vor  sich  hatte.  Da  sowohl  die 
Blätter  112— 119  wie  120—127  genau  8  Blätter,  also  je  eine 
Latye  zu  4  Bogen,  ausmachen,  erklärt  sich  die  alte,  falsche 
Foliierung  ganz  einfach  daraus,  daß  der  Renaissance- Buch- 
binder die  beiden  Lagen  miteinander  vertauscht  hat  oder  ver- 
tauscht vorfand. 

Endlich  standen  noch  zwei  Blätter  des  Beowulf  an 
falscher  Stelle:  fol.  194  (=  197  ältester  Zählung)  befand  sich 

i)  Eine  andere  Erklärungsmöglichkeit  wäre,  zu  vermuten,  daß 
nur  die  8  Blätter  fül.  98—105  (neuester  Zählung)  eine  Lage  bildeten 
und  die  Blätter  96—97  einen  davorstehenden  selbständigen  Bogen  aus- 
machten. Dann  wäre  aber  zur  Erklärung  der  falschen  Renaiasance- 
Zählung  ein  noch  stärkeres  Durcheinanderwerfen  der  Bogen  anzu- 
nehmen: die  Bogen  c  und  d  (=  fol.  100  —  103)  müßten  aus  ihrer  Lage 
herausgenommen  und  als  besondere  Lage  für  sich  dahinter  gestellt 
sein,  und  an  ihrer  Stelle  müßte   der   davorstehende  Sonderbogen  fol. 

96 97  in  die  Mitte  der  Lage  hineingelegt  sein.  Und  zudem  müßte  der 

Schreiber  der  Handschrift  einen  einzelnen  Bogen  als  besondere  Lage 
verwendet  haben,  was  meines  Wissens,  außer  am  Ende  einer  Hand- 
schrift, nicht  vorkommt.  Also  werden  wir  an  der  oben  im  Text  ge- 
äußerten Vermutung  festhalten  dürfen. 

2)  Narratiunculsü  Anglice  conscriptae,  ed.  Cockayne  (London  1861) 

s.  sff. 

3)  Anglia  I  (1877),  507—512 


71,4]  Die  Beowulf-Handschkift  9 

hinter  fol.  202  (==  ig6  ältester  Zählung);  und  fol.  151  (=  131 
ältester  Zählung)  war  schon  vor  fol.  136  (=  132  ältester 
Zählung)  gesetzt.^)  Ich  vermag  mir  dies,  wie  in  §  2  ausgeführt 
werden  wird,  nicht  anders  zu  erklären,  als  daß  es  sich  hier 
um  einzelne  Falzblätter  (nicht  Bogen)  handelt,  die  an  falscher 
Steile  ein<?efügt  waren. 

(b)  Eine  zweite  Blätterzählung  ist  ebenfalls  rechts  oben 
in  die  Ecken  des  Papierrahmens  unter  die  erstere  mit  Blei- 
stift gesetzt.  Sie  weicht  von  der  ältesten  Zählung  darin  ab, 
daß  sie  nicht  erst  mit  dem  altenglischen  Texte  beginnt,  son- 
dern auch  die  erst  beim  Einbinden  zu  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts vorgesetzten  drei  Pergamentblätter  mitrechnet.  Sie 
eilt  dadurch  der  ersteren  stets  um  3  Blätter  voraus  und  zählt 
dementsprechend  im  ganzen  20g  Blätter.  Außerdem  zählt  sie 
an  den  vier  Stellen,  wo  Blätter  versetzt  waren,  dieselben  in 
der  richtigen  Reihenfolge,  so  daß  hier  beide  Zählungen  in 
anderem  Zahlenverhältnis  zueinander  stehen.  Diese  zweite 
Paginierung  ist  erst  im  19.  Jahrhundert  vorgenommen.  Man 
könnte  glauben,  daß  dies  im  "Juni  1884"  geschehen  sei,  weil 
unter  diesem  Datum  G,  Fr.  WarnEr  auf  dem  nicht  mitge- 
zählten hinteren  Schutzblatte  die  Zahl  der  Blätter  des  Manu- 
skriptes mit  "209  Fols."  angibt.  Indes  wissen  wir,  daß  schon 
im  "September  1876",  als  A.  Holder  die  'Wunder  des  Ostens' 
und  den  'Alexanderbrief'  unserer  Handschrift  mit  Cockaynes 
Ausgabe  kollationierte  (s.  Anglia  1,  331 — 337;  507  —  512),  er 
nicht  nur  die  umgestellten  Blätter  "jetzt  in  richtiger  Ordnung" 


i)  Die  falsche  Stellung  dieses  Blattes  150  (=  Vers  740 — 782, 
Grendels  Auftreten)  war  es,  was  Shaeon  Turner  bei  seiner  Inhalts- 
angabe des  Beowulf  in  seiner  'History  of  England'  (1805)  zu  der  irri- 
gen Darstellung  verleitete,  daß  Beowulf  als  Kind  des  Hro9gar  auftrete. 
Die  richtige  Anordnung  dieses  Blattes  (sowie  von  fol.  194)  gab  zuerst 
der  Isländer  Thokkklin  {1815),  so  daß  Turner  in  der  3.  Auflage  (1820) 
seiner  Geschichte  diesen  Fehler  verbessern  konnte.  —  Vermutlich  gehört 
hierher  ein  Aufsatz  von  Chambers,  The  "Shifted  Leaf"  in  Beowulf,  der 
in  dem  mir  unzugänglichen  X.  Bande  (1915)  der  Modern  Language 
Review  stehen  soll. 


lO  Max  FöusTiiu:  [71,4 

vorfand,  sondern  biToits  auch  nach  der  "neuen  Foliieruu^" 
oder  "neuen  Zählung"'  zitieren  konnte.  Also  wird  diese  zweite 
Blütterzälilung  anläßlich  des  Neueiubindens')  zwischen  1861 
und   1871   gemacht  sein. 

Diese  zweite  Zählung  berücksichtigt  nur  die  Pergament- 
blätter, nicht  die  vorn  und  hinten  sowie  an  zwei  Stellen  des 
Inneren  nach  ibl.  59  und  94  (neuester  Zählung)  eingefügten 
leeren   P^pierblätter. 

(c)  Eine  dritte  Blätterzählung,  die  auf  der  unteren 
rechten  Ecke  des  Papierrahmens  angebracht  ist,  wurde  erst 
naoh  1884  eingeführt.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  zweiten 
nur  dadurch,  daß  sie  jene  beiden  eben  erwähnten  leeren 
Papierblätter  (==  fol.  60  und  95),  die  eingefügt  sind,  um 
fehlende  Blätter  zu  markieren,  mitrechnet.  Demzufolge  ditFe- 
riert  sie  von  fol.  61  an  um  4,  von  fol.  96  an  um  5  Ziö'ern  von 
der  ältesten  Zählung. 

Nach  dieser  Zählung  enthält  die  Handschrift  im  ganzen 
211  Blätter. 

Im  folgenden  ist  diese  dritte  Zählung  stets  an  erster 
Stelle  angegeben.  Wo  nur  eine  Zahl  steht,  ist  stets  diese 
Foliierung  gemeint. 

§  2.   Bogensignatnren  und  Lagenverteilung. 

Wie  die  Bogen  zu  Lagen  zusammengelegt  waren,  läßt 
sich  heute  direkt  nicht  mehr  ersehen,  weil  die  Handschrift 
jetzt  nur  noch  aus  lauter  Einzelblättern  besteht,  die  ringsum 
mittels  Glaspapier  in  einen  Papierrahmen  eingeklebt  sind. 
Wann  letzteres  geschehen  ist,  scheint  sich  nicht  mehr  genau 
bestimmen  zu  lassen,  falls  nicht  die  Akten  der  Handschriften- 
verwaltung des  Britischen  Museums  darüber  Auskunft  er- 
geben. Jedenfalls  war  1871,  als  E.  Sievers  die  Handschrift 
kollationierte,  der  Papierrahmen  bereits  vorhanden^)  und  „die 
ganze  Handschrift  jüngst  durch  neuen   sorgfältigen  Einband 

1)  S.  §  2. 

2)  Nach  freundlicher  Mitteilung  von  E.  Sikvees. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  ii 

vor  allen  weitern  Beschädigungen  geschützt".^)  Wir  gehen 
wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  daß  das  Einsetzen  in 
die  Papierrahmen  anläßlich  des  eben  erwähnten  Neueinbandes 
erfolgt  ist,  welcher  in  dem  Jahrzehnt  von  1860  —  70  vorge- 
nommen ist.^)  Denn  wir  wissen,  daß  eine  gründliche  Repara- 
tur der  durch  den  Brand  von  1731  beschädigten  Handschriften 
erst  von  dem  Bibliothekar  Sir  Fkederic  Madden  in  die 
Wege  geleitet  ist,  welcher  1837 — 1873  die  Handschriften- 
abteilung des  Britischen  Museums  unter  sich  hatte. 

Da  der  Rücken  des  ViteUius- Kodex  von  dem  Brande 
von  1731  nicht  berührt  worden  ist,  werden  vermutlich  also 
die  Bogen  und  Lagen  der  Handschrift  bis  in  die  60  er  Jahre 
des  19.  Jahrhunderts  in  dem  ursprünglichen  Zusammenhange, 
in  dem  sie  in  die  Cottonsche  Bibliothek  gelangt  waren,  er- 
halten geblieben  sein. 

Bei  der  heutigen  Auflösung  des  Kodex  in  Einzelblätter 
ist  die  ursprüngliche  Bogen-  und  Lagenverteilung  nicht  mehr 
direkt  zu  ersehen.  Wir  können  sie  aber  mit  einiger  Sicher- 
heit auf  indirektem  Wege  erschließen. 

Für  den  ersten  Teil  des  Kodex  ist  dies  möglich  mit 
Hilfe  der  alten  Bogensignaturen,  welche  ein  Teil  der  Blätter 
noch  heute  aufweist.  Auf  den  Blättern  12 — 94  ist  nämlich 
auf  der  ersten  Seite  jedes  einzelnen  Bogens,  und  zwar  auf 
dem  unteren  Seitenrande  links,  angegeben,  zu  welcher  Lage 
jedes  Doppelblatt  gehörte  und  welchen  Platz  innerhalb  der 
Lage  es  einnahm.    Die  Nummer  der  Lage  ist  dabei  mit  ara- 


i)  So  in  Zeitschr.  für  deutsches  Altertum  15  (1872),  457. 

2)  Daß  der  Neueinband  nach  1860  erfolgte,  schließe  ich  aus  der 
Tatsache,  daß  Cockayne,  als  er  den  Alexanderbrief  und  die  Wunder 
des  Orients  für  seine  Narratiunculse  Anglice  Conscriptse  (Vorrede  vom 
Aug.  1861)  abschrieb,  die  beiden  oben  S.  8  erwähnten  verstellten 
Lagen  noch  in  der  falschen  Reihenfolge  vorfand,  während  sie  1876  bei 
HoLDERS  Kollation  richtig  gestellt  waren.  Die  Umstellung  der  Lagen 
ist  doch  sicherlich  anläßl'ch  des  von  Sievers  erwähnten  und  vor  1871 
anzusetzenden  Neueinbandes  erfolgt.  Danach  ist  R.  W.  Chambers'  An- 
gabe in  seinem  'Beüwulf'  (1914)  S.  X  A.  2  zu  berichtigen. 


12  Max  FöusTKit:  [7 ',4 

bischen  Ziffern  }in<;e<^el)on.  Die  Keiheuf()l<ife  der  H()<;en  inner- 
halb der  Lage  ist  durch  die  Huchstaben  a,  h,  c,  d  bezeichnest, 
welche  links  vor  die  La<]fenzill'('i-  j^estellf,  sind.  Um  ein  Bei- 
spiel zu  Jüchen,  tra<ren  die  Boocn  der  Luge  II  also  die  Signa- 
turen: a^,  b2,  c2  und  d:2.  Wir  h.ihen  hier  eine  ähnliche  Art 
der  Bogensignatur,  wie  wir  sie  bei  den  Drucken  des  i6.  Jahr- 
hunderts finden,  nur  daß  dort,  weni-^steus  in  Eu^-liiiid,  um- 
gekehrt  die  Druckbogen  mit  Kapitalbuchstaben,  die  Reihen- 
folge der  Dof)j)elblätter  innerhalb  des  Bogens  mit  arabischen 
ZiflFern  bezeichnet  werden.  Leider  sind  diese  Boirensi<rnaturen 
in  unserer  Handschrift  mit  so  wässeriger  Tinte  geschrieben, 
daß  sie  vielfacli  aucli  da,  wo  der  Seitenrand  nicht  abgebröckelt 
ist,  jetzt  völlig  verblaßt  sind. 

Neben  der  eben  geschilderten  Methode  der  Bogensignie- 
rung,  die  nicht  von  den  ursprünglichen  Schreibern  des  Textes 
herrührt  (s.  weiter  unten  S.  19),  finden  sich  noch  Spuren 
einer  älteren,  einfacheren  Lagensignierung,  die  möglicherweise 
zugleich  mit  der  Textkopie  gemacht  war.  Nach  älterer  Weise 
versah  man  nur  den  ersten  Bogen  jeder  Lage  mit  einer  römi- 
schen Zahl,  welche  die  Reihenfolge  der  Lage  innerhalb  der 
Handschrift  angab. ^)  Spuren  dieser  römischen  Zahlen  finden 
wir  in  unserm  Manuskripte  nur  noch,  auf  dem  untern  Rande 
von  fol.  20%  welches  richtig  eine  III  trägt,  auf  fol.  28*  {IUI) 
fol.  52*  {VII)  und  fol.  61»  {VIII).  Diese  römischen  Zahlen 
waren,  wie  namentlich  die  VIII  auf  fol.  61*,  noch  deutlich 
lehrt,  ziemlich  tief  auf  den  unteren  Seitenrand  und  zwar  in 
die  Mitte  desselben  gesetzt.    Daher  sind  sie  zumeist  mit  der 


i)  Bei  dem  Textus  Roffensis  sind  die  (römischen)  Bogenzahlen 
jedesmal  auf  den  unteren  Rand  der  letzten  Seite  jeder  L>jge  ge- 
setzt. Vgl.  F.  LiEBEHMANx,  Notes  on  the  Textus  Roffensis  [lieprinted 
from  'Archaeologia  Cantiana'  1898]  S.  11.  —  Eine  dritte  Ait  der  Lagen- 
signierung finden  wir  in  dem  Vercelli-Kodex  CXVII:  dort  sind  die  Lagen 
so  gezählt,  daß  an  den  Kopf  der  ersten  Seite  einer  jeden  Lage  ein© 
römische  Zahl  und  dann  wieder  auf  dem  Fuß  der  Schlußseite  jeder 
Lage  ein  Kapitalbuchstabe  des  lateinischen  Alphabetes  gesetzt  ist;  vgl. 
FöRSTEB,  Vercelli-Codex  S.  23  und  II  codice  Vercellese  S.  9. 


71,4]  Die  Beowulf-H.vndschrift.  13 

Zerstörung  des  Seitearandes  geschwunden.  Die  alte  und  die 
jüno-ere  Methode  zusammen  finden  wir  nur  noch  bei  der 
sechsten  und  achten  Lage  erhalten:  denn  auf  fol.  61*  haben 
wir  zunächst  tief  unten  in  dor  Mitte  eine  römische  VIII  und 
darüber  mehr  nach  links  oben  ein  oS;  ebenso  auf  fol.  44* 
tief  unten  eine  römische  VI  und  links  darüber  nochmals  ein 
a  6.  Bei  der  4.  Lage  bat  der  jüngere  Signierer  die  ältere  sich 
zunutze  gemacht,  indem  er  auf  fol.  28*  seinen  Bogenbuch- 
staben  a  neben  die  alte  Bogensignatur  IUI  setzte,  die  ver- 
hältnismäßig hoch  geraten  war. 

Aus  welcher  Zeit  diese  Bogensignaturen  stammen,  läßt 
sich  aus  der  Form  der  verwendeten  arabischen  Ziffern  ent- 
nehmen. Ziehen  wir  die  Ziffernformen  zum  Vergleich  heran, 
welche  Adriano  Cappelli,  Dizionario  di  abbreviature  latine 
ed  italiane  (Milano  i8gq)  S.  380 — 385  und  vor  allem  G.  F. 
Hill,  On  the  Early  Use  of  Arabic  Numerais  in  Europe 
(Archseologia  LXII,  19 10,  S.  137 — igo)  bieten^),  so  ergibt 
sich,  daß  unsere  Bogensignaturen  die  charakteristischen  For- 
men der  arabischen  Ziiiern  des  12.  Jahrhunderts  aufweisen. 
Bisher  unbekannt  scheint  allerdings  die  hier  auf  fol.  36  =*  ver- 
wendete Form  der  5,  ebenso  die  sehr  sonderbare  Form  für  11, 
faUs   das   Zeichen  -||    auf  fol.  87  *"  wirklich   eine  Ziffer  meint. 

Die  jüngeren  Bogensignaturen  sind  völlig  intakt  erhalten 
in  dem  zweiten  Bogen  (=  fol.  12—19).  Denn  wir  finden 
hier  unten  links  auf  fol.  12"  ein  a^,  —  die  Ziffer  2  in  der 
auch  sonst  im  12.  Jahrhundert  nachweisbaren  Form,  die  der 
heutigen  Ziffer  7  sehr  ähnelt;  weiter  auf  fol.  13*  ein  b2,  auf 
fol.  14*  ein  c^,  auf  fol.  15*  ein  d2.  Auf  dem  folgenden  Blatt 
16"  scheint  dann  noch  ein  e  erkennbar,  doch  ohne  hinzu- 
gefügte Zahl.  Man  könnte  daraus  folgern,  daß  die  Lage  aus 
a — e,  also  5  Bogen  bestand.  Das  ist  indes  unmöglich,  weil 
fol.  20*  die  Signatur  des  3.  Bogens  aufweist  und  also  für  die 


i)  L.  Joedan,  Materialien  zur  Geschichte  der  arabischen  Zahl- 
zeichen in  Frankreich  (Archiv  für  Kulturgeschichte  3  [1905],  155 — 195) 
bietet  nichts  für  unseren  Zweck. 


1^  Max   Korbtkk:  [7',  4 

2.  Lage  nur  die  Uliitter  12—19,  il- !»•  4  Bogen,  zur  Verfü«rim<,' 
staiulon.    Also  muß  jenes  e  irrtümlich  vom  Signierer  auf  die 

3.  Seite  des  innersten  (4.)  Bogens  gesetzt  sein. 

Aus  den  Bogensigmituren  der  zweiten  Lage  ist  weiter 
zu  foliTern.  daß  die  vorherstellenden  Blätter  4 — 11,  bei  denen 
Boceusi^^naturen  nicht  mehr  zu  erkennen  sind,  die  erste  Lage 
zu  4  Bügen  bildeten.  Die  Blätter  1—3  gehörten  ursprüng- 
lich nicht  zur  Handschrift,  sondern  sind  erst  von  Cottons 
Bibliothekar  11.  James  beim  Einbindenlassen  hinzugefügt  (s. 
weiter  unten  §  7). 

Die  Lage  III  bildeten  die  Blätter  20—27,  da  fol.  20" 
eine  777  (in  römischer  Ziffer,  aber  ohne  Bogenbuchstaben  — 
also  die  alte  Signierung)  und  fol.  21  *,  22»,  23*  nacheinander 
die  Signaturen  hS,  c3  und  d3  aufweisen.  Die  hierbei  ver- 
wendete arabische  3  zeigt  jene  alte  Form  mit  weit  herunter- 
gezogenem Haken. 

Die  Lage  IV  bestand  aus  Blatt  28—35,  da  fol.  28"  ein 
allll,  fol.  29*  ein  h  (ohne  erkennbare  Zahl)  und  fol.  30"  und 
31'  ein  c4  bzw.  d4  aufweisen;  —  die  arabische  Ziffer  4 
beidemal  iu  jener  bekannten  eckigen  mittelalterlichen  Form 
5^,  wie  sie  bis  ans  Ende  des  15.  Jahrhunderts  üblich  ge- 
blieben ist. 

Blatt  36 "  trägt  links  unten  ein  merkwürdiges  Zeichen 
^,  das  aber  nichts  anderes  als  eine  arabische  5  sein  kann. 
Die  folgenden  Blätter  37*  und  38*  enthalten  nur  noch  die 
Bogenbuchstaben,  h  und  c.  Dagegen  weist  fol.  39'  rechts  von 
seinem  Bogenbuchstaben  d  noch  Spuren  eines  abgerissenen 
Zeichens,  wohl  einer  5,  auf.  Die  Lage  V  hat  also  aus  den  vier 
Blättern  36 — 43  bestanden. 

Auf  der  ersten  Seite  der  6.  Lage  (fol.  44— 5  0  bilden  wir,  wie 
oben  erwähnt,  die  Doppelsignatur  a  6  und  rechts  darunter  die 
römische  VI.  Wie  zu  erwarten,  tragen  fol.  45%  4^^  und  47* 
die  Signaturen  h6,  c6  und  dO.  Die  arabische  Ziffer  6  zeigt 
hier  jedesmal  jene  sigmaförmige  Form  mit  langausgezogenem 
Haken,  wie  sie  Hills  Tafel  U  Nr.  1—4  und  Tafel  III  Nr. 
I  — 14  auch  sonst  fürs   12.  und  13.  Jahrhundert  belegen. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  15 

Die  7.  Lage  bestand  aus  Blatt  52 — 5g,  da  fol.  52*  ganz 
unten  eine  römische  VII  und  außerdem  höher,  dicht  am 
rechten  Rande,  ein  a  (vielleicht  mit  dahinter  abgerissener 
arabischer  Ziffer  7)  aufweist.  Auf  fol.  53*  sind  noch  undeut- 
liche Spuren  eines  abgerissenen  Bogenbuchstabens  (sicherlich 
b)  vorhanden;  aber  auf  fol.  54  ist  der  ganze  untere  Rand 
und  damit  jede  Spur  einer  Bogensignatur  abgeschnitten.  Aber 
fol.  55*  zeigt  deutlich  den  Bogenbuchstaben  d. 

Übergehen  wir  zunächst  das  eingefügte  moderne  Papier- 
blatt 60,  so  haben  wir  auf  fol.  6 1  *  ganz  unten  in  der  Mitte 
die  römische  Zahl  F///;  also  muß  Blatt  61  die  8.  Lage  der 
Handschrift  beginnen.  Dies  ist  wichtig,  weil  mit  Blatt  61 
eine  neue  Schreiberhand  einsetzt  und  man  daher  annehmen 
könnte,  daß  die  vorhergehenden  Blätter  4 — 59,  die  von  einer 
Hand  geschrieben  sind  und  aus  7  Lagen  zu  je  4  Bogen  be- 
stehen, ursprünglich  eine  Handschrift  für  sich  gebildet  hätten 
und  daß  die  mit  fol.  61  beginnenden  Lagen  erst  später  mit 
den  vorhergehenden  vereinigt  worden  seien.  Die  Bogensigna- 
tur VIII  lehrt,  daß  der  alte  Signierer,  der  bis  fol.  94  die 
Lagen  fortlaufend  zählt,  die  Blätter  4 — 94  trotz  der  zwei 
Schreiberhände  schon  zu  einem  Kodex  verbunden  vorfand. 
Nun  treffen  sich  die  beiden  Striche  der  V  in  der  oben- 
genannten römischen  VIII  auf  fol.  61*  zwar  nicht  genau  in 
einem  Punkte,  sondern  schneiden  sich  unten,  so  daß  mau 
meinen  könnte,  hier  vielmehr  eine  X  vor  sich  zu  haben,  so 
daß  die  ganze  Zahl  eine  XIII  bedeutete.  Dem  widersprechen 
aber  die  arabischen  Ziffern  auf  demselben  Blatte  weiter  links 
oben  sowie  auf  den  folgenden  fol.  62*,  63*  und  64%  die  trotz 
ihrer  nicht  ganz  üblichen  Formen  nur  eine  arabische  8  sein 
können.  Auf  fol.  61*  und  62^  ist  nämlich  eine  mir  sonst  un- 
bekannte Form  der  arabischen  8  gebraucht,  die  so  aussieht, 
als  ob  eine  6  und  eine  9  übereinandergestellt  wären  oder 
vielleicht  noch  richtiger  ein  regelrechtes  griechisches  6  über 
ein  auf  den  Kopf  gestelltes  zweites  9.  Diese  Form  der  8  ist 
jedenfalls  so  entstanden,  daß  man  das  obere  und  das  untere 
Rund    der    Zahl    für    sich    getrennt   herstellte    und    die    aus- 


lö  Max  Föustku:  l7'.4 

laufeiukMi  Striche  etwas  /u  weit  nach  rcclitö  uinl  Jinks  aus- 
'/o<r.  wo/M  sich  Ansätze  in  einer  Form  <ier  aiahisclieii  N  auf 
Hills  Tafel  I  Nr.  6  fürs  i  i.  .lalirhundert  liiulen.  Auf  fol.  t)^* 
und  64"  kommt  die  Zahl  .S  der  modernen  Form  iiiiher,  ist 
jedoch  mit  anderem  Duktus  Muso;el'ülirt,  demselhen,  der  auch 
in  einer  Form  des  frühen  i  2.  .lahrhuuderts  auf  Hills  Tafel 
11  Nr.  I  erscheint,  wenn  die  Zahl  seihst  auch  liier  anders  ge 
formt  ist.  Bei  keiner  andern  Lage  ist  die  Signierung  so  gut 
erhalten  wie  hier;  denn  wir  hahen  sowt)hl  aul'  fol.  61"  die 
ältere  Lagenbezeichnung  mit  der  römischen  VJIJ  unten  auf 
der  Mitte  des  Randes  wie  die  wohl  jüngere  Bezeicimung  mit 
a8,  1)8,  c8  nnd  d8  auf  den  Blättern  61*,  62%  63*  und  64*. 
Danach  umfaßt  die  Lage  VIII  die  Blätter  61 — 68.  Davor 
ist,  wie  eben  erwähnt,  als  fol.  60  ein  modernes  Papierblatt  ein- 
sefüst  worden,  weil  der  Text  der  Nicodemus- Version  auf  fol. 
6i*  oben  mitten  im  Satz  beginnt  und  nach  Ausweis  der 
älteren  Cambridger  Handschrift  der  etwa  zwei  Manuskript- 
seiten füllende  Anfang  des  Textes  verloren  gegangen  ist.  Es 
würde  sich  also  die  Frage  ergeben,  wie  das  verlorene  Einzel- 
blatt sich  zu  der  Lagenverteilung  verhält.  Die  eben  bespro- 
chenen Bogensignierungen  bei  der  7.  und  bei  der  8.  Lage 
lehren,  daß  es  sich  nicht  um  einen  verlorenen  ganzen  Bogen 
handeln  kann,  sondern  nur  um  ein  einzelnes  aiigefalztes  Blatt, 
wie  solche  oft  in  den  altenglischen  Handschriften  begegnen.^) 
Ob  es  an  den  vorhergebenden  7.  oder  den  folgenden  8.  Bogen  an- 
gefalzt gewesen  ist,  dafür  lassen  sich  Anhaltspunkte  nicht  finden. 
In  der  nun  folgenden  9.  Lage  ist  von  den  Bogensigna- 
turen  nichts  mehr  zu  erkennen.  Da  die  nächste  Lage  erst  mit 
fol.  79  beginnt,  stehen  für  die  9-  Lage  10  Blätter  zur  Ver- 
fügung. Ausnahmsweise  muß  also  die  9.  Lage  (=^  fol.  69 — 78) 
aus  5  Bogen  bestanden  haben,  während  alle  anderen  Lagen 
nur  4  Bogen  aufweisen. 

i)  Solche  eingefalzte  Einzelblätter  finden  sich  z.  B.  im  Vercelli- 
Kodex  CXVII  fol.  35,  38,  45,  50,  53  n.  a.  m.;  in  Vespasianus  D.  XIV 
fol.  6,  15,  86,  103  (vgl.  demnächst  meine  Ausgabe  der  'jElfric sehen 
Homilien  aus  VeBpasianus  D.  XIV). 


7f,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  17 

Die  folgende  Lage  (=  fol.  79—86;  weist  auf  ihrem 
ersten  Bogen  keinerlei  Reste  der  Bogensignatur  mehr  auf. 
Doch  haben  die  Blätter  80%  81*  und  82*  der  Reihe  nach 
ihre  Bogeubuchstaben  6,  c,  d  sowie  dahinter  ein  Zifferzeichen, 
das  ich  als  durchstrichene  arabische  ü  auffassen  möchte. 
Solche  durchstrichene  Ö-Zeichen  stehen  aber  im  10. — 16. 
Jahrhundert  für  die  Ziffer  10  (vgl.  bes.  Hills  Tafel  II  Nr.  i, 
auch  I  Nr.  2  und  13),  so  daß  also  zwar  nicht  für  den  äußer- 
sten, aber  für  die  inneren  Bogen  2 — 4  die  regelrechten  Signa- 
turen &  10,  clO,  d  10  vorliegen. 

Schwierig  liegt  die  Sache  für  die  nächsten  8  Blätter 
(=  fol.  87—94),  die  nur  auf  dem  ersten  Blatt  (fol.  87^)  eine 
Bogensignatur  aufweisen:  nämlich  den  Bogeubuchstaben  a 
und  dahinter  ein  sonderbares  Zeichen  -j|,  das  ich  als  eine 
arabische  11  deuten  möchte.  Andere  Beispiele  für  eine  solche 
Form  der  Ziffer  11  vermag  ich  allerdings  nicht  nachzuweisen, 
da  Hill  überhaupt  nur  die  Ziffern  bis  10  behandelt  und 
Oappelli  keinen  Beleg  fürs   12.  Jahrhundert  beibringt. 

Hinter  Blatt  94  muß  etwas  fortgefallen  sein,  weil  die 
Schlußseite  der  Lage  mitten  im  Satz  mit  der  Übersetzung 
der  Tassio  Quintini'  abbricht  und  das  näch.ste  alte  Perga- 
ment mit  einem  ganz  anderen  Texte,  einer  Tassio  S.  C'hristo- 
phori',  und  noch  dazu  in  ganz  anderer  Schreiberhand,  einsetzt. 
Man  hat  deshalb  gegen  Ende  des  ig.  Jahrhunderts  ein  mo- 
dernes leeres  Papierblatt  als  fol.  95  eingefügt.  Wenn  man 
aber  die  lateinische  QueUe  herbeizieht,  worüber  bei  der  In- 
haltsangabe (§  7)  näher  gehandelt  werden  wird,  so  ergibt 
sich,  daß  ein  einzelnes  Blatt  nicht  ausgereicht  hätte,  um  die 
Quintinus- Legende  mit  der  gleichen  Stilbreite  des  Anfanges 
zu  Ende  zu  erzählen.  Dazu  wären  wohl  noch  mindestens  8 
Handschriftenblätter  erforderlich  gewesen.  Also  wird  eine 
ganze  Lage  hier  verloren  gegangen  sein.  Da,  wie  in  §  3  ge- 
zeigt werden  wird,  mit  fol.  96  eine  ursprünglich  selbständige, 
fast  150  Jahre  ältere  Handschrift  beginnt,  so  ist  also  der 
«rsteren  Handschrift  (fol.  4—94)  außer  dem  eingefalzten  Halb- 
bogen fol.  60  die  ganze  letzte  Lage   von  wohl    4  Bogen  ver- 

Fhil.-hist.  Klasse  1919.  Bd.  LXXI.  ^.  2 


i8  Max  Förstek:  [7>,4 

loron  gegangen.  Diese  Schlußla<:;o  war  um  1600  schon  nicht 
mehr  vorhandeu,  da  die  älteste  Renaiasance-Foliierung  diesen 
Verlust  nicht  berücksichtigt.  Wer  freilich  jetzt  die  Hand- 
schrift daraufhin  auscliaut,  findet,  daß  die  alte  Paffinierun'»" 
gerade  an  der  Stelle  der  Lücke  von  'fol.  go'  (=  fol.  94)  auf 
fol.  93  (=  fol.  96)  überspringt.  Aber  dies  erklärt  sich,  wie 
wir  oben  in  §  i  sahen,  daraus,  daß  zur  Zeit  der  Henaissance- 
Foliierung  die  Bogen  der  Lagen  in  der  falschen  Reihenfolge 
lagen  und  später  richtig  geordnet  sind,  so  daß  die  scheinbar 
übersprungenen  Blätter  91  und  92  ältester  Zählung  heute 
hinter  der  alten  fol.  94  stehen.  Es  bleibt  also  dabei,  daß 
der  Renaissance -Paginierer  die  obige  Lücke  nicht  beachtet 
hat  und  den  Lagenverlust  mithin  nicht  erkannt  haben  kann. 

Mit  fol.  y6  beginnt  ein  ganz  neuer  Kodex,  der  nirgendwo 
Spuren  von  Bogensignaturen  aufweist  und  wahrscheinlich  auch 
nie  solche  gehabt  hat. 

Die  Lagenverteilung  in  der  ersten  Handschrift  läßt  sich 
zusammenfassend  folgendermaßen  darstellen: 

Lage  I  =  fol.  4 — 1 1   (4  Bogen) 


„       II—    „    12- 

-19  „ 

» 

„     III  —    „    20- 

-27  „ 

» 

„  IV  -  „  28- 

-35    „ 

» 

„    V  _  „  36- 

-43    „ 

V 

.   VI  -  „  44- 

-51    „ 

» 

„VII=„  52- 

-59    V 

}) 

„vm=  „  61- 

—68  (4  Bogen,  mit  verlorenem  an- 

gefalzten  Blatt  60) 

„  IX  -  „  69- 

-78  (5 

Bogen) 

„    X  —  „  79- 

-86  (4 

Bogen) 

„  XI  -  „  87- 

-94  (4  Bogen;  dahinter  eine  Lage 

ausgefallen) 

Wir  haben  dann  eine  Handschrift  vor  uns,  aus  1 1  Lagen 
bestehend  zu  je  4  (einmal  5)  Bogen,  der  die  Schlußlage  so- 
wie ein  angefalztes  Blatt  verloren  gegangen  ist.  Nach  der 
ursprünglichen    Zählung    würde    das    Manuskript    dann    etwa 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  19 

Q9  Pergamentblätter  enthalten  haben,  von  denen  go  noch  vor- 
handen sind. 

Über  das  Alter  der  Bogensignaturen  läßt  sich  folgendes 
sagen.  Wie  im  vorhergehenden  betont,  zeigen  die  anbei  ver- 
wendeten arabischen  Ziffern  die  charakteristischen  Formen 
des  12.  Jahrhunderts:  dies  gilt  namentlich  von  der  2,  6,  8 
und  10.  Auf  die  gleiche  Zeit  verweist  die  Form  der  zur 
Bogenzählung  verwendeten  Buchstaben:  auch  sie  gehören  in 
das  12.  Jahrhundert.  Vergleicht  man  die  Bogenbuchstaben 
mit  der  Schrift  im  Text  selbst,  so  ergibt  sich,  daß  alle  Bogen- 
buchstaben von  ein  und  derselben  Schreiberhand  herrühren, 
daß  diese  aber  kaum  identisch  ist  mit  einer  der  zwei  Hände, 
die  den  Text  von  fol.  4 — 94  geschrieben  haben.  Die  Bogen- 
buchstaben machen  eher  einen  etwas  jüngeren  Eindruck  und 
mögen  erst  im  dritten  Viertel  des  12.  Jahrhunderts  eingetragen 
sein,  während  die  Textschrift  selbst  in  das  zweite  Viertel  des 
Jahrhunderts  gehört  (§  4).  Dagegen  ist  es  natürlich  möglich 
und  sogar  wahrscheinlich,  daß  die  älteren  Bogensignaturen 
mit  römischen  Ziffern,  von  denen  nur  noch  ein  paar  Reste 
vorhanden  sind,  von  den  ursprünglichen  Schreibern  des  Textes 
angebracht  waren. 

Wichtig  ist  aber,  daß  die  Bogenbuchstaben  in  fol.  4 — 94 
alle  von  ein  und  demselben  Schreiber  eingetragen  sind.  Denn 
dadurch  erhalten  wir  den  Beweis,  daß  die  genannten  90  Blät- 
ter, obschon  sie  von  zwei  verschiedenen  Schreibern  geschrie- 
ben sind,  die  gerade  mit  dem  Schluß  der  7.  Lage  wechseln, 
schon  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  zu  einem  Kodex 
vereinigt  waren.  Sollte  die  Annahme  zutreffen,  daß  die  römi- 
schen Bogenzahlen  auf  Bl.  20%  28*,  44*,  52''  und  6i*  von 
den  ursprünglichen  Schreibern  des  Textes  herrührten,  so  würde 
vollends  von  Anfang  an  von  einem  Manuskript  zu  sprechen 
sein.  Wir  dürfen  daher  jedenfalls  die  genannten  Blätter  4 — 94 
zu  einer  Handschrift  gehörend  betrachten,  der  gegenüber  die 
ganzen  übrigen  Blätter  (fol.  95 — 211)  des  Sammelbandes  wie- 
der ihrerseits  eine  zweite,  ursprünglich  selbständige  Hand- 
schrift darstellen. 


20  Max   I"'(>k.stkk:  [7',  4 

Die  zweite  Huiulschrii't  weist,  wie  schon  oben  bemerkt, 
keinerlei  Spuren  von  lio^eusignaturen  auf,  und  so  kann  mim 
bei  dem  gegenwärtigen,  in  Eiuzelbliitter  aufgelösten  Zustande 
der  Handschrift  etwas  Siclieres  über  ihre  Lagen verteiluno; 
nicht  mehr  aussagen.  Indes  hissen  sich  darüber  doch  Ver- 
mutungen aufstelU-n,  die  einen  hohen  Grad  von  Wahrschein- 
lichkeit in  Anspruch  nehmen  kchinen.  Zunächst  ist  es  näm- 
lich möglich,  mit  einiger  Sicherheit  den  Umfang  der  letzten 
Lage  festzustellen  durch  Ausbeutung  der  Textlücke,  welche 
sich  zwischen  fol.  203^  und  fol.  204*  findet.  Das  letzte  Ge- 
dicht der  Handschrift,  ein  Epos  über  die  althebräische  Judith, 
welches  jetzt  die  Blätter  204*- — 211''  umfaßt,  ist  am  Anfang 
verstümmelt.  Dies  ergibt  sich  nicht  nur  aus  dem  Inhalt, 
welcher  mit  der  Situation  unmittelbar  vor  der  Tötung  des 
Olofernes,  also  mit  dem  13.  Kapitel  des  biblischen  Buches 
einsetzt,  sondern  auch  aus  der  Fitten-Einteilung  des  alteng- 
lischen Gedichtes,  welche  mit  dem  Schluß  der  9.  Kitte  an- 
hebt. Die  fortgefallenen  o  Fitten  lassen  sich  aber^  wie  weiter 
unten  (§  7  Nr.  13)  gezeigt  werden  soll,  auf  drei  achtblättrige 
Lagen  berechnen.  Sind  aber  vor  fol.  204  drei  Lagen  verloren 
gegangen,  so  spricht  die  allergrößte  Wahrscheinlichkeit  da- 
für, daß  mit  fol.  204  eine  neue  Lage  begann.  Daß  dieses 
wirklich  der  Fall,  wird  bestätigt  durch  die  Tatsache,  daß  die 
verbleibenden  Blätter  der  Handschrift,  nämlich  fol.  204 — 211, 
genau  16  Seiten,  also  eine  Lage  zu  vier  Bogen  ausmachen, 
so  daß  wir  auch  hier  die  Normalzahl  der  gewöhnlich  zu  einer 
Lage  zusammengelegten  Bogen  hätten.  In  diesem  Zusammen- 
treffen liegt  gewiß  eine  hohe  Wahrscheinlichkeit  für  die 
Richtigkeit  unserer  Vermutung. 

Zweitens  läßt  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  Lagen- 
Verteilung  der  ersten  4  Lagen  (=  fol.  96 — 127)  feststellen. 
Wie  schon  oben  bemerkt  (S.  8),  standen  nach  Ausweis  der 
ältesten  Foliierung  die  8  Blätter  120 — 127  hinter  den  8 
Blättern  112 — 119,  was  sich  am  einfachsten  erklärt,  wenn 
beide  Blättergruppen  in  sich  je  eine  Lage  bildeten  und  die 
banden  Lagen  —  es  handelt  sich,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  21 

am  die  III.  und  IV.  Lage  —  miteinander  vertauscht  waren. 
Damit  wäre  der  Umfang  zweier  Lagen  der  Handschrift  fest- 
gestellt. Wenn  mit  fol.  1 1 2  eine  neue  Lage  begann,  müssen 
die  vorhersteheuden  Blätter  96 — 1 1 1  ebenfalls  eine  oder  zwei 
Lagen  gebildet  haben:  da  diese  Blätter  ^2  Seiten  =  8  Bogen 
umfassen,  werden  sie  kaum  zu  einer  einzigen  Lage  ineinander 
gelegt  sein,  sondern  zwei  Lagen  zu  je  4  Bogen,  wie  es  dem 
häufigsten  Gebrauch  entspricht,  gebildet  haben.  Sonach  hätten 
wir  dann  vier  Lagen  mit^  dem  Normalumfang  voti  4  Bogen: 
Lage  1=  fol.  96 — 103,  Lage  II  =  fol.  104  — 11 1,  Lage  III 
=  fol.  112  — 119  und  Lage  IV  =  fol.  120 — 127.  Dazu  die 
Schlußlage  (==  fol.  204 — 211)  mit  ebenfalls  4  Bogen. 

Die  dazwischenliegenden  76  Blätter  (=  fol.  128 — 203) 
wäre  man  naturgemäß  versucht,  ebenfalls  in  Lagen  zu  je  4 
Bogen  zu  verteilen:  76  Blätter  =38  Bogen  würden  aber  9 
Lagen  zu  je  4  Bogen  und  zwei  übrig  bleibende  Bogen  er- 
geben. Diese  letzteren  könnte  man  füglich  so  unterbringen, 
daß  man  entweder  zwei  von  den  Lagen  zu  je  5  Bogen  nähme 
oder  auch  einen  Bogen  in  zwei  Einfalzblätter  auflöste.  Daß 
letzteres  wenigstens  in  zwei  Fällen  zutraf,  läßt  sich  durch 
folgende  Erwägungen  wahrscheinlich  machen.  Wie  oben  er- 
wähnt, war  fol.  151  (=  131  ältester  Zählung)  zur  Zeit 
Robert  Cottons  vor  fol.  136  (=  132  ältester  Zählung)  ver- 
stellt, also  um  15  Blätter  vorgerückt.  Bei  dieser  ungeraden 
ßlätterzahl  läßt  sich  nun  aber  keinerlei  Bogenkombination 
herstellen,  ohne  daß  nicht  irgendwie  ein  Einzelblatt  übrig- 
bliebe. Und  da  ist  es,  sofern  man  nicht  mit  der  kaum 
bei  Pergament  vorkommenden  Lagenstärke  von  7  Bogen 
rechnen  will,  am  einfachsten,  das  verschobene  Blatt  151 
selbst  sich  als  Einfalzblatt  zu  denken,  das  aus  seiner  Lage 
(=  fol.  146 — 154  oder  144 — 152)  herausgerutscht  und  vor 
die  voraufgehende  Lage  (=  fol.  136 — 145  oder  136 — 143) 
geraten  war. 

Da  wir  oben  die  Lage  IV  mit  fol.  127  endigen  sahen 
und  also  mit  fol.  128  eine  neue  Lage  beginnen  muß,  wäre 
dadurch  auch  die  V.  Lage  festgelegt,  die   die   4  Bogen   von 


22  Max  Förstkr:  [71,4 

fol.  128 — 135  umfassen  wird.^)  Lage  VI  wäre  dann  fol.  136 
— 143  (4  Bogen)  oder,  da  irgendwo  eine  Lage  mit  5  Bogen 
untergebracht  werden  muß,  fol.  136 — 145;  Lage  VII  =  fol. 
144—152  (4V3  Bogen)  oder  146  —  154  {^y^  Bogen);  Lage  VIII 
=  fol.  153  —  160  (4  Bogen)  oder  155  — 162  (4  Bogen)  oder 
153—162  (5  Bogen). 

Wenn  es  richtig  ist,  daß  die  Lage  VII  ein  angefalztes 
Einzelbhitt  enthielt,  so  folgt  schon  allein  hieraus,  daß,  um 
die  Paarzahl  von  76  Blättern  unterzubringen,  noch  an  irgend- 
einer anderen  Stelle  des  Manuskriptes  ein  eingefalzter  Halb- 
bogen anzunehmen  ist.  Erinnern  wir  uns,  daß  wir  gegen  den 
Schluß  des  Manuskripts  noch  ein  zweites  verstelltes  Einzel- 
blatt fanden,  nämlich  fol.  194,  das  hinter  fol.  202  geraten  war, 
so  ist  es  das  natürlichste,  in  fol.  194  dieses  zweite  angefalzte 
Einzelblatt  zu  vermuten,  welches  von  seiner  richtigen  Stelle 
zwischen  den  beiden  letzten  Blättern  der  Lage  XII  (=  fol. 
187 — 195)  zwischen  die  beiden  letzten  Blätter  der  nächsten 
Lage  XIII  (=  fol.  196 — 203),  beide  zu  je  4  Bogen  gerechnet, 
geraten  war. 

Wie  wir  in  §  7  Nr.  10  sehen  werden,  ist  aus  inhalt- 
lichen Gründen  vor  Blatt  96,  also  zu  Anfang  unseres  Manu- 
skriptes, noch  eine  Lage  zu  5  Bogen  fortgefallen. 

Danach  würde  es  möglich  sein,  wenn  wir  von  allen 
denkbaren  Kombinationen  uns  jedesmal  die  natürlichsten  und 
einfachsten  heraussuchen,  folgendes  Schema  der  Lagen  Ver- 
teilung für  das  II.  Manuskript  (fol.  96 — 211)  anzunehmen: 

Lage    I  =  fol.  96 — 103  (4  Bogen;  davor  eine  Lage 

zu  5   Bogen  ausgefallen) 
„      11=  „   104— III  (4  Bogen) 
„     III  =  „   112— 119  „       „ 
„    IV  =  „   120—127  „       „ 

i)  Man  beachte,  daß,  wenn  man  nicht  mit  der  abnormen  Zahl 
von  Lagen  zu  nur  3  Bogren  rechnen  will,  das  Ende  des  Alexanderbriefes 
(fol.  133 '')  und  der  Anfang  des  Beowulf  (fol.  134')  in  das  Innere  einer 
Lage  fallen,  so  daß  schwerlich  irgendein  Stück  des  einen  oder  des 
anderen  Textes  hier  verloren  gegangen  sein  kann. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  2;^ 

Lage  V=  „   128—135  „       „ 

„    VI=  „   136—143  „       „ 

„  VII  =  „  144 — 152  (4  Bogen  mit  angefalztem 

Bl.  150) 
„Vm=  „   153-162(5  Bogen^)) 
„    IX  =  „   163— 170(4  Bogen) 
„      X=  „  171  —  178  „      „ 
„    XI  =  „  179—186  „      „ 
„  XII  =  „   187  — 195  (4  Bogen  mit  angefalztem 

Bl.  194) 
„XIII  =  „   196—203  (4  Bogen) 
„XIV  =  „  204 — 211  (4  Bogen-  davor  3  Lagen 

ausgefallen). 

Wir  würden  also  zusammenfassend  sagen  dürfen:  die  II. 
Handschrift  bestand  vermutlich  aus  18  Lagen  zu  meist  4 
Bocren:  zwei  Lagen  wiesen  ein  9.  eingefalztes  Blatt  auf:  zwei 
Lagen  bestanden  aus  5  Bogen.  Vier  Lagen  sind  heutzutage 
verloren  gegangen:  eine  am  Anfange  und  drei  vor  der  letz- 
ten Lage. 

§  3.    Die  Schreiberhände. 

Beim  Durchblättern  des  ganzen  Kodex  fällt  sofort  ins 
Auge,  daß  mit  Blatt  96  eine  neue,  mindestens  100  Jahre 
ältere  Handschrift  einsetzt.  Bei  diesem  zeitlichen  Verhältnis 
des  hinteren  zum  vorderen  Teile  des  Bandes  ist  es  natürlich 
unmöglich,  daß  der  ganze  Kodex  ursprünglich  eine  Hand- 
schrift gebildet  hat.  Vielmehr  muß  der  ältere  zweite  Teil  von 
Blatt  96  ab  ein  Manuskript  für  sich  gewesen  sein,  das  erst 
von  dem  späteren  Renaissance- Sammler,  nämlich  Sir  Robert 
CoTTON,    mit   der  jüugeren    Handschrift    zusammengebunden 


1)  Statt  der  Lage  YIII  einen  5.  Bogen  beizulegen,  könnte  dies 
auch  bei  Lage  V,  VI,  IX,  X  oder  XI  geschehen,  wobei  sich  jedesmal 
die  Blätterzahlen  entsprechend  verschieben  würden.  Bei  Lage  V  ist  ea 
mir  nicht  sehr  wahrscheinlich,  weil  das  aus  Lage  VII  herausgerutschte 
Einfalzblatt  151  wohl  leichter  vor  eine  Lage,  als  in  eine  solche 
hineingeraten  sein  möchte. 


24  Max  F()ustkr:  [71.4 

ist  Danach  zerfällt  also  der  uns  heute  vorliegende  Band  in 
zwei  völlig  verschiedene,  enst  im  17.  Jahrlinndert  (ca.  1620 
l)is  1Ö38)  vereinigte  Handschriften:  die  spätaltenglisclie 
llandsi'lirift  I,  welche  die  Blätter  4 — 94  umfaßt,  und  die 
ältere  Handschrift  II,  welche  aus  den  Blättern  96 — 21 1  besteht. 
Moderne  Zutaten  sind  die  Blätter  i — 3,  die  vom  Renaissance- 
Binbinder  hinzugefügt  sind,  und  die  beiden  moderniui  Papier- 
blätter 60  und  95,  welche  xur  Andeutung  von  Lücken  erst 
im    10.  Jahrhundert  eingesetzt  sind. 

a)  Schreiber  der  Handschrift  I  (fol.  4 — 94). 

Betrachten  wir  das  I.  Manuskript,  so  macht  dieses,  trotz 
einiger  Schwankungen  in  der  Engigkeit  der  Schrift,  einen  so 
einheitlichen  Eindruck    im    Schriftduktus   und   in   den   Buch- 
stabenformen, daß   man  zunächst  nur   einen   Schreiber  an- 
nehmen möchte.     Bei  näherem   Zusehen  ergibt    sich   jedoch, 
daß  der  Anfang,  und  zwar  die  ersten  56  Blätter  (=  fol.  4* — 
59^)   doch   sicher    von   einem   anderen    Kopisten    geschrieben 
sind  als  der  Schluß  (=foI.  61* — 94^).    Wir  wollen   die  bei- 
den  Schreiber  als  J    und   B  unterscheiden.     Die    Form    der 
Buchstaben  ist  allerdings  so  stark  übereinstimmend,  daß  beide 
wohl  aus  derselben  Schreiberschule  stammen   müssen.     Deut- 
lich verschieden  ist  eigentlich  nur  die  Form  des  insularen  r, 
welches  bei  B  noch  die  ausgesprochen  jp-ähnliche  Form  hat, 
bei  Ä  aber  den  rechten   Schenkel  schon  stark   verkürzt  auf- 
weist,  so   daß   es   sich   der  fränkischen  Form    nähert.     Auch 
läßt  A  die  fränkischen   Formen   für  s  und  f  manchmal  auf 
der  Zeile  aufsitzen,  wenn  daneben  auch  die  weiter  herunter- 
gezogenen Formen  vorkommen,  während  bei  B  ausschließlich 
die  letzteren  erscheinen.     Weiter  ist  die   Federhaltung  etwas 
verschieden:  Ä  hält  die  Feder  etwas  schräger  als  B,   so  daß 
die  Druckstellen  etwas   anders  verteilt  sind  und  die   langen 
Buchstaben    spitzer    auslaufen,    während    sie    bei    B   stumpf 
endio-en.     Endlich    zeigt   B    einen    etwas    runderen    Schrift- 
Charakter  als  A.  Auf  der  Spitzheit  und  Schmalheit  der  Buch- 
staben beruht  es  wohl  hauptsächlich,  daß  die  Schrift  von  A 


71.4]  Die  Bbowulf-Handschuift.  25. 

einen  etwas  älteren  Eindruck  macht  als  die  von  B,  oborleich 
die  beiden  Kopisten  ungefähr  zur  selben  Zeit  geschrieben 
haben  werden.  Es  erklärt  sich  dies  am  einfachsten  wohl  so, 
daß  A  ein  älterer  Mann  war,  der  in  manchem  noch  früheren 
Schreibergewohnheiten  folgte.  Hierzu  stimmt  auch  die  Be- 
obachtung, daß  die  Schrift  von  A  gleichmäßiger  und  einheit- 
licher ist,  wie  das  bei  einem  geübten  Kopisten  zu  erwarten 
-teht,  während  der  jüngere  Schreiber  B  mehrfach  seine  Buch- 
stabenformen variiert,  weil  sie  ihm  noch  nicht  so  fest  in  der 
Feder  sitzen.  Gelegentlich  hat  es  sogar  den  Anschein,  be- 
sonders bei  Eigennamen,  als  ob  B  die  Buchstaben  seiner 
Vorlage  nachmalte  und  dadurch  Formen  verwendete,  die  ihm 
8onst  nicht  geläufig  sind. 

Mit  dieser  Verschiedenheit  des  Lebensalters  steht  schein- 
bar in  Widerspruch  die  von  A.  Schmitt^)  betonte  Tatsache, 
daß  die  Sprache  von  A,  den  wir  doch  an  Lebensjahren  für 
den  älteren  hielten,  manche  jüngere  Züge  aufweist  als  der 
an  Lebensjahren  jüngere  Schreiber  B.  So  hat  A  schon  ein 
paarmal  das  verdumpfte  me.  q  für  ae.  ä  (Hülme  S.  48  f.), 
nämlich  in  ^elöcnian  'heilen'  48^,  w'oh  'Wand'  45^,  wöt  'weiß' 
(26X,  s.  Hargroves  Glossar)  und  wost  'du  weißt'  (lox), 
während  B  ausschließlich  ä  aufweist.  Das  ae.  o'  ist  bei  A 
.schon  ein  paarmal  gesenkt  zu  me.  a,  so  in  ^estadßines  'Be- 
ständigkeit' 22^%  after  'nach'  251",  48^,  hivat  'was'  25^,  ßat 
'das'  {33X,  HuLME  S.  14),  (Jas  'des'  24^'  25^,  ög**,  um  von  . 
anderen  Fällen,  wo  analogische  Einwirkung  möglich  ist,  zu 
schweigen  —  eine  Erscheinung,  die  allerdings  einmal  auch 
beim  Schi-eiber  B  {ma-^endrim  Nicodemus  ed.  Hulme  497^) 
vorkommt.  Die  Diphthongentwicklung  vor  Palatalen  ist  bereits 
graphisch  zum  Ausdruck  gebracht  in  weii^  'Weg'  (8x;  s. 
Hargroves  Glossar),  sei^e  'sage'  (Imp.)  14^^,  he^ra  'beider' 
25^^  smeiian  'erforschen'  53^°,  meihte  'mochte'  1^,  i'  und 
gereihte  'erklärt'  66^1  Der  stimmhafte  labiodentale  Reibelaut 
ist  schon  zweimal  nach  mittelenglischer  Art  mit  u  (statt  mit 

i)   August  Schmitt,  Die   Sprache  der  altenglischen   Bearbeitung 
des  Evangeliums  Nicodemi    Münchener  Diss.   1905)  S.  127  f. 


20  Max  Förster:  [71,4 

ae.  f)  geschrieben:  in  liiue  'Liebe'  7''  nnd  süuum  "^selbst' 
^2*^^  60^'.  Alle  diese  Schreibweisen  repräsentieren  fortsehritt- 
liche  Liiuttornien,  die  sicherlich  in  (U>r  damaligon  Sprech- 
ßpracho  schon  üblich  waren,  aber  in  der  gleichzeitigen  Ortho- 
graphie, die  noch  ganz  in  den  Banden  der  altenglischen 
Schultradition  lag,  nur  selten  zum  Ausdruck  gelangten.  Wenn 
daher  der  Schreiber  A  sich  gelegentlich  solch  fortschrittliche 
phonetische  Schreibungen  gestattete,  so  beweist  das  nur,  daß 
er  als  geübter  Kopist  nicht  sklavisch  an  seiner  Vorlage  haftete. 
Umgekehrt  beweist  für  den  Schreiber  B  das  Meiden  solch 
fortschrittlicher  Orthographien,  obschon  sie  sicherlich  auch 
seiner  Lautgebung  entsprachen,  nur,  daß  er  als  jüngerer,  un- 
geübterer Kopist  sich  enger  an  die  Vorlage  hielt  und  ängst- 
licher Wort  für  Wort  in  der  für  ihn  stark  archaischen 
Schreibung  nachmalte.  Wir  dürfen  daher  nicht  mit  Hulme 
und  Schmitt  (S.  i26ff.)  aus  der  etwas  altertümlicheren  Ortho- 
graphie von  B  folgern  wollen,  daß  B  etwa  ein  bis  zwei 
Menschen  alter  vor  Ä  geschrieben  habe,  was  ja  auch  nur  mög- 
lich wäre,  wenn  die  in  Frage  kommenden  Teile  der  Hand- 
schrift ursprünglich  selbständig  gewesen  wären  —  eine  An- 
nahme, die,  wie  wir  oben  sahen  (§  2),  durch  die  alten,  viel- 
leicht von  den  Kopisten  selbst  herrührenden  Bogensignaturen 
widerlegt  wird. 

Die  genannten  sprachlichen  und  orthographischen  Unter- 
schiede sind  nicht  die  einzigen,  die  beide  Schreiber  deutlich 
voneinander  trennen.  B  hält  sich  strenger  ans  Westsächsi- 
sche, während  A  z.  B.  ein  paar  Fälle  von  ostsächsisch- 
kentischem  e  als  »-Umlaut  von  u  aufweist  (^ehera)  'es  gebührt' 
46",  meniie  'beabsichtigt'  i®,  smelte  'ruhig'  30^,  lest  'ge- 
lüstet' 37^).  Doppelschreibungen  zur  Bezeichnung  von  Vokal 
länge,  wie  sie  A  liebt  (pod  'gut'  36X,  fuul  44^)  fehlen  bei 
B  gänzlich. 

Endlich  zeigt  sich  auch  ein  Unterschied  in  der  Tinte: 
A  bediente  sich  einer  wesentlich  blasseren  Tinte  als  J5; 
wenigstens  sind  bei  B  mehrfach  die  Seiten,  sowohl  im  Per- 
gament wie  in  der  Schrift,  jetzt  stark  gedunkelt. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  2^ 

Wir  dürfen  also  zusammenfassend  sagen,  daß  sich  die 
beiden  Schreiberhäude  A  (=  fol.  4''— SQ"")  und  B  (fol.  61»— 
94^)  trotz  aller  Ähnlichkeit  und  Gleichzeitigkeit  deutlich  von- 
einander abheben  sowohl  in  paläographischer  wie  sprach- 
licher und  orthographischer  Beziehung  und  durch  die  ver- 
wendete Tinte.  Der  erstere  hat  nur  die  altenglische  Soli- 
loquien-Version  geschrieben;  dem  zweiten  gehören  die  drei 
alteno-lischen  Texte  über  'Nicodemus',  'Salomon  und  Saturn' 
und  'Quintinus'  an. 

Beiden  Schreibern  sind  die  alten  insularen  Formen  von 
s  und  f  nicht  mehr  geläufig;  und  ebenso  kennen  sie  nicht 
mehr  den  Unterschied  in  der  Druckverteilung  bei  dem  Bauche 
von  ^  und  insularem  w.  Hieraus  erklärt  sich,  daß  ihnen  zahl- 
reiche Buchstabenvertauschungen  passieren.^)  Daß  der  Schrei- 
ber A  darum  ein  Franzose  gewesen  sein  müsse  und  nach 
Diktat-)  geschrieben  habe,  wie  H.  L.  Hargrove^)  behauptet, 
entbehrt  jeglichen  Beweises,  ja  auch  nur  der  geringsten  Wahr- 
scheinlichkeit. Vielmehr  läßt  sich  gerade  aus  seinen  Schreib- 
fehlern nachweisen,  daß  er  nach  einer  schriftlichen  Vorlage 
gearbeitet  hat.  Und  was  für  die  französische  Nationalität  des 
Schreibers  von  Hargrove  vorgebracht  wird,  findet  sich  auch 

i)  Für  den  Schreiber  A  vergleiche  die  Zusammenstellungen  sol- 
cher Buchstabenverwechslungen  bei  W.  H.  Hulme,  Die  Sprache  der  alt- 
englischen Bearbeitung  der  Soliloquien  Augustins  (Freiburger  Diss. 
1894)  S.  7 f.;  für  den  Schreiber  B  bei  A.  Schmitt,  Die  Sprache  der 
altengliscben  Bearbeitung  des  Evangeliums  Nicodemi  (Münchener  Diss. 

1905)  S.  4f. 

2)  Nach  Diktat  wird  überhaupt  nur  geschrieben  sein,  wo  es 
sich  um  die  Massenherstellung  eines  Textes  handelte.  Daß  dies  bei 
Texten  in  der  altenglischen  Volkssprache  je  vorgekommen  sei,  möchte 
ich  stark  bezweifeln.  Aus  dem  gleichen  Grunde  ist  es  auch  abzulehnen, 
wenn  B.  Thoepe  in  seiner  Beowulf- Ausgabe  S.  XI  für  die  11.  Hand- 
schrift das  Schreiben  nach  Diktat  annimmt,  um  die  zahlreichen  Fehler 
des  Schreibers  zu  erklären.  Vgl.  auch  W.  Wattenbach,  Das  Schrift- 
weeen  des  Mittelalters  ('1896)  S.  437. 

3)  King  Aifred's  Old  English  Version  of  St.  Augustine's  Soli- 
loquies,  edited,  with  introduction,  notes,  and  glossary,  by  Henkt  Leb 
Hahgeove.  [Yale  Studies  in  English  XIII.]  New  York  1902.  S.  XXflF. 


j8  Max  Förstku:  [7M- 

htM  oncrlischeii  Kopisten.  Vor  allem  aber  ist  zu  fragen,  wie 
ein  Franzose  mn  1120  dazu  kommen  sollte,  eine  in  der 
Sprache  der  Besiegten  abgefaßte,  alte  theologische  Schrift, 
die  kein  aktuelles  Interesse  bot  und  iiiclits  von  dem  neuen 
Zeitgeiste  spüren  ließ,  al)zuschr('ibcn  oder,  richtiger  gesagt, 
zum  Teil  in  die  jüngere  Sprachform  des  12.  Jahrhunderts  um- 
zuschreiben? Auch  würde  ein  Franzose  in  französischer  Kanz- 
leischrift,  nicht  aber  in  stark  insularer  Hand  geschrieben 
haben  (vgl.  §  4).  Endlich  hätte  ein  nach  Diktat  .schreibender 
Franzose  sicherlich  eine  viel  phonetischere  Schreibweise  au- 
gewandt  —  etwa  eine  so  fortschrittliche  Orthographie  wie 
die  der  englischen  Orts-  und  Personennamen  in  dem  sicher 
von  Franzosen  um  1086  geschriebenen  'Domesday  Hook', 
die  wir  in  M.  Stolzes  Dissertation  'Zur  Lautlehre  der  alt- 
englischen Ortsnamen  im  Domesday  Book'  (Berlin  1902)  gut 
über.-^chauen  können.^)  Für  den  Schreiber  B  ist  die  Frage 
der  französischen  Nationalität  von  August  Schmitt^)  auf- 
o-ewoi-fen  worden,  aber  zugleich  von  ihm  mit  guten  Gründen 
verneint. 

Bis  Blatt  24*  hat  ein  Rubrikator  die  Anfänge  der  Sätze 
und  Satzteile  rot  markiert.  Von  hier  au  eine  neue  Schreiber- 
hand einsetzen  zu  lassen,  wie  Hülme^)  befürwortet,  finde  ich 
keinerlei  Anlaß.  Auch  W.  de  Gray  birch  widerspricht  dieser 
Ansicht,  indem  er  (bei  Hulme  a.  a.  0.)  schreibt:  "Nor  can  1 
dearly  determine  if  there  Is  any  change  of  hand.  I  rather 
thinJc  not."  Wer  sich  selbst  ein  Urteil  über  diese  Frage  bil- 
den will,  vergleiche  sorgfältig  die  beiden  Proben  von  der 
Hand  des  Schreibers  A,  welche  Hargrove  seiner  Ausgabe 
der  altenglischen  Soliloquien  beigegeben  hat:  dort  sind  fol.  4* 


i)  Vgl.  auch  R.  E.  Zachhisson,  A  Contribution  to  the  Study  of 
Anglo-Norman  Influence  on  English  Place-Names  (Lund  1909)  und  Two 
Tnstances  of  French  Influence  on  English  Place-Names  (Lund  1914)- 

2)  A.  Schmitt,  Die  Sprache  der  ae.  Bearbeitung  des  Evangeliums 
Nicodemi  (1905)  S.  128  f. 

3)  W.  HüLME,  Die  Sprache  der  ae.  Bearbeitung  der  Soliloquieu 
Augustine    1894')  S.  2. 


i 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  29 

und  fol.  2g*  in  leider  verkleinertem')  und  technisch  wenig 
gut  geratenem  Faksimile  einander  gegenübergestellt.  Von 
der  Hand   B  ist  ein  Faksimile  noch  nicht  veröäentlicht. 

b)  Schreiber  der  Handschrift  II  (fol.  96— -M  i). 

Beim  Durchblättern  der  II.  Handschrift  ergibt  sich  als- 
bald, daß  auch  hier  wenigstens  zwei  verschiedene  Hände  zu 
unterscheiden  sind,  die  auf  Blatt  177^  (=  fol.  172^  der 
ältesten  Zählung)  mit  dem  Schluß  der  dritten  Zeile,  also 
mitten  im  Texte  des  Beowulf  (v.  1939),  wechseln.  Hiervon 
kann  sich  jeder  überzeugen  durch  Betrachten  des  photogra- 
jjhischen  Faksimiles,  welches  Julius  Zupitza  1882  von  dem 
den  Beowulf-Text  enthaltenden  Teile,  d.  h.  von  zwei  Dritteln 
der  Handschrift  (fol.  134* — 203^)  geliefert  hat.  Noch  deut- 
licher kommt  der  Unterschied  der  beiden  Schreiber  heraus 
durch  die  GegenübersteUuug  der  beiden  Seiten  fol.  134^  und 
200%  welche  Ferd.  Holthausen  seiner  Ausgabe  des  Beo- 
wulf-Epos  am  Schlüsse  des  ersten  Bandes  in  allerdings  ver- 
kleinerter Reproduktion  seit  der  2.  Auflage  (1908)  bei- 
gegeben hat. 

Der  Gesamtcharakter  der  Schrift  ist  bei  beiden  deutlich 
verschieden,  obschon  beide  mit  gleich  senkrechter  Haltung 
der  Feder  schreiben  und  daher  die  Tiefstriche  stumpf  ab- 
setzen. Der  erste  Schreiber  —  nennen  wir  ihn  mit  Rücksiebt 
auf  die  angebundene  Handschrift  IC—  weist  eine  verhält- 
nismäßig  schmale,  dünne,  aber  sorgfaltige,  wenn  auch  leicht 
variierende  Schrift  auf;  der  zweite  Schreiber  dagegen  —  er 
soll  D  heißen  —  eine  recht  breite,  runde  Schrift  von  weniger 
sorgfältigem,  aber  ausgeschriebenem,  gleichmäßigem  und  kräf- 
tigem Duktus.  Sie  unterscheiden  sich  aber  auch  deutlich  in 
der  Form  einzelner  Buchstaben,  namentlich  des  insularen  y. 


i)  Für  paläographische  Zwecke  sind  verkleinerte  Faksimiles  nur 
mit  großer  Vorsicht  zu  verwerten.  Man  tue  es  nicht,  ohne  die  Buch- 
staben mit  Hilfe  einer  Lupe  auf  die  Originalgröße  gebracht  zu  haben. 
Darum  müßte  aber  bei  jedem  verkleinerten  Faksimile  der  Maßstab  der 
Verkleinerung  möglichst  genau  angegeben  werden. 


30  Max  Föustku:  [r'i4 

der  Schreiber  (^  hat  stets  die  urspriinplirli  nieroische  Form 
dos  j  mit  kleiner  otlener  Bü«ifeiisclileifH,  der  Schreiher  J)  da- 
gegen die  in  VVestsuehseii  üldiche  Form  mit  großem  ge- 
schlossenen Bogen.  Vor  allem  neigt  J)  dazu,  ältere  Buchstahen- 
forraeu  zu  bevor/ugen,  die  C  überhaupt  nicht  mehr  kennt 
oder  nur  gelegentlich  verwendet.  So  ist  z.  B.  das  aus  der 
Unziale  stammende  runde  s  bei  D  außerordentlich  viel  hiiu- 
üger  als  bei  C,  wo  es  indes  auch  nicht  ganz  fehlt. ^)  Das 
hohe  e  mit  über  die  Zeile  hinausragender  Ose,  das  um  die 
Wende  des  lo.  Jahrhunderts  ganz  verschwindet,  erscheint  fast 
noch  auf  jeder  Seite  bei  D,  während  es  bei  C  nicht  mehr 
anzutreffen  ist.  Gelegentlich  erscheint  bei  D  die  alte  Form 
des  y  mit  nach  außen  gebogenen  Schenkeln  und  kurzem,  ge- 
krümmtem Abstrich,  die  bei  C  gänzlich  fehlt.  Am  auffällig- 
sten aber  ist  der  Unterschied  beim  a:  bei  D  herrscht  fast 
ausschließlich  die  aus  drei  Strichen  bestehe.ude  und  darum 
oft  geradezu  quadratisch  aussehende  Form,  welche  besonders 
für  die  erste  Hälfte  des  lo.  Jahrhunderts  charakteristisch  ist, 
während  bei  C  nur  noch  die  jüngere,  fast  pyramidenförmige 
Gestalt  erscheint,  wie  sie  erst  gegen  den  Schluß  des  lo.  Jahr- 
hunderts in  England  aufkommt.  Es  wird  sich  dieser  Unter- 
schied, wie  schon  Wolfgang  Keller^)  bemerkt  hat,  so  er- 
klären lassen,  daß  D  in  einer  älteren  Schule  gelernt  hatte. 
Wir  haben  hier  also  wieder  dieselbe  Erscheinung  wie  bei 
d'^m  I.  Manuskript  (s.  unter  a),  daß  nämlich  ein  in  älterer 
Schreibtradition  aufgewachsener  Kopist  einen  Schreiber  mit 
modernerer  Hand  innerhalb  desselben  Manuskriptes  ablöst.^) 
Zu  den  paläographischen  gesellen  sich  beträchtliche 
sprachliche  Unterschiede  zwischen  beiden  Schreibern,  die  der 
gründlichen  Darstellung  noch  harren.  Einiges  findet  sich  bei 


i)  Er  hat  es  z.  B.  in  syddan  Beow.  6,  se  102,  sid  202,  sec^  208, 
seiest  256,  secean  268,  swa  273  u^w. 

2)  W.  Keller,    Angelsächsische   Paläographie  (Berlin  1906)  S.  36. 

3)  Ein  weiteres  Beispiel  hierfür  nennt  0  Homburoef,  Die  Anfänge 
der  Malschule  von  Winchester  im  10.  Jahrhundert  (Halle  191 2)  S.  56. 
Vgl.  auch  M.  FöKSTKK,  Vercelli-Codex  (Halle  1913)  S.  27  f. 


7 1,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  31 

Ch.  Davidson,  The  DifiPerences  between  the  Scribes  of  the 
Beowulf  (in  'Modern  Language  Notes'  5  [1890],  Sp.  85 — 89), 
The  Phonology  of  the  Stressed  Vowels  in  Beowulf  (in  'Pub- 
lications  of  the  Modern  Language  Association  of  America' 
7  [1892],  106  — 133)  und  bei  P.  G.  Thomas,  Notes  on  the 
Language  of  Beowulf  (in  'Modern  Language  Review'  i  [igo6], 
202 — 207).  Hauptsächlich  handelt  es  sich,  soweit  der  Beo- 
wulf in  Frage  kommt,  darum,  daß  der  zweite  Schreiber  io 
(statt  eo)  bevorzugt  und  nicht-westsächsische  Formen,  über 
deren  Ausdeutung  hier  nichts  gesagt  sein  soll,  noch  zahl- 
reicher bietet  als  der  erste  Schreiber. 

.  Es  erhebt  sich  nun  die  weitere  Frage,  ob  die  beiden 
Schreiber  G  und  D  sich  in  die  ganze  zweite  Handschrift  za 
teilen  haben,  oder  ob  noch  andere  Hände  neben  ihnen  ge- 
arbeitet haben.  Letzteres  ist  meiner  Ansicht  nach  zu  ver- 
neinen. Schon  Eduard  Sievers  wies  1872  in  der 'Zeitschrift 
für  deutsches  Altertum'  15,  457  darauf  hin,  daß  der  zweite 
Schreiber  des  Beowulf  auch  die  darauffolgende  Judith-Dich- 
tung, d.  h.  bis  zu  Ende  des  Manuskriptes  geschrieben  habe. 
Seitdem  wird  allgemein,  soweit  mau  solchen  Dingen  über- 
haupt Beachtung  schenkt,  der  ganze  Schlußteil  der  Hand- 
schrift, näml.  fol.  177^  Zeile  4  bis  fol.  211^,  dem  Schreiber  i> 
beigelegt.^)  Und  daran  wird  auch  meiner  Ansicht  nach  nicht 
zu  zweifeln  sein.  Wer  sich  von  der  Richtigkeit  dieser  Auf- 
stellung überzeugen  will,  mag  die  gut  gelungenen  Probeseiten 
aus  der  'Judith'  vergleichen,  welche  Albert  Cook  seinen 
beiden  Ausgaben  dieses  Gedichtes  beigegeben  hat  (Boston 
1888  und  1904):  in  der  früheren  von  1888  reproduzierte  er 
fol,  205**  (^  Vers  55 — 69),  in  der  späteren  von  1904  fol.  209^ 
(=  Vers  222 — 247). 

Die  Tatsache,  daß  der  Schreiber  D  auch  das  Judith- 
Gedicht  geschrieben  hat,  ist  von  Bedeutung  für  die  oben  be- 
rührte Frage,  wie  die  sprachlichen  Besonderheiten  der  beiden 

I)  Wanley  (1705)  nahm  allerdings  noch  einen  besonderen  Schrei- 
ber für  die  Judith  an.  Wenigstens  gibt  er  für  den  Artikel  Judith  die 
Sonderdatierung:  ante  conquaestum  scriptum  (Catalogus  S.  219). 


32  Max  Föitsrint:  [7".  4 

Hände  dos  Beownlf  zu  deutm  sind.  Im  licouiilf  fällt  es  mi', 
daß  der  erste  Schreiber  nur  i  i  io  gegenüber  786  eo  hat, 
während  der  /.weite  117  mal  io  und  nur  482  mal  et»  gebraucht. 
Man  könnte  daraus  folgern,  wie  es  HoknhuiU!,  Die  Kompo- 
sition des  Beowulf  (Metz  1877)  S.  30  wirklich  getan  hat,  daß 
jene  ?o-Lautuugen  den  Spruchgewohnheiteu  de?j  Kopisten  ent- 
sprungen sind.  Wenn  mau  dann  aber  sieht,  daß  derselbe 
Schreiber  in  den  350  Versen  der  Judith  kein  einziges  M.il 
io  gebraucht  gegenüber  79  eo,  während  er  vorher  in  den  1243 
Versen  seines  Beowulf- Anteiles  in  jedem  fünften  Beispiel  ein 
io  bringt,  so  wird  man  diese  Folgerung  ai)lehnen  müssen.  1 
Jene  zahlreichen  io  im  Schlußdrittel  des  Beowulf  können 
nicht  vom  Kopisten  herrühren,  sondern  müssen  schon  iu 
seiner  Vorlage  gestanden  haben.  Wenn  sie  weniger  zahlreich 
bei  dem  Schreiber  C  sich  finden ,  so  hat  sich  dieser  weniger 
eng  an  die  Vorlage  gehalten  als  D. 

Die  Vorliebe  für  nicht-westsächsische  Lautformen,  welche 
wir  gleichfalls  beim  zweiten  Schreiber  im  Beowulf  finden, 
bewährt  sich  auch  in  der  Judith:  in  dem  kurzen  Fragment 
zeigen  sich  29  nicht  streng  westsächsische  Lautformen ^),  so 
daß  in  diesem  Punkte  Lautneigungen  des  Schreibers  zum 
Durchbruch  gekommen  sein  könnten,  ohne  daß  seine 
Schreibvorlage  Anlaß  zu  solchen  Formen  gab.  Die  Ausdeu- 
tung dieser  Formen  begegnet  neuerdings  ungeahnten  Schwierig- 
keiten, seit  SiEVEES'  schallanalytische  Untersuchungen  die 
früheren  Auffassungen  von  den  lautlichen  Besonderheiten  der 
altenglischen  Mundarten  gänzlich  erschüttert  haben.  Jene 
«0- Formen,  die  man  früher  als  Lauteigentümlichkeiten  des 
Kentischen  auffaßte,  haben  sich  Sievers  jetzt  als  melodisch 

I)  Es  handelt  sich  dabei  um  Formen ,  wie  leion  'sie   berührten' 
10,  sterced-  55.  227,  -feorme  271,  hehsta  4-  94,  nehsta  73,  hehd  'Zeichen' 

174,  necsan   63,   eowdon  240,  ^eme  112.  279,  headu-  179-  212,  beadu 

175.  213,  swtotol  177.  136,  f'erh  41,  wald  'Wald'  206,  waldend  5-  (»i- 
alwalda  «4,  aldor  120.  348  (neben  euldor  2x),  haldor  9.  32.  49.  339, 
die  allerdings  im  10.  Jahrhundert  auch  in  Westsächsischen  vereinzelt 
TOrkomnien. 


71,4]  Die  Beowulf- Handschrift.  33 

bedingte  Parallelformen  neben  i  und  eo  auch  für  das  West- 
sächsische ergeben.^)  Und  jene  Formen  mit  scheinbar  fehlen- 
der Brechung,  wie  iraJdend,  erweisen  sich  jetzt  als  auch  für 
das  Süd  englische  mögliche  Doppelformen  nach  UmlageruDg  des 
Druckes  auf  das  zweite  Glied  des  alten  ea.^)  Bevor  man  den 
sprachlichen  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Schreiber  näher- 
tritt, wird  also  eine  schallanalytische  Festlegung  der  ursprüng- 
lichen Lautformen  für  die  in  Frage  kommenden  Texte  los- 
gelöst von  ihrer  zufälligen  Schreib  Überlieferung  geliefert  wer- 
den müssen. 

Wenn  der  zweite  Beowulf  Schreiber  bis  zum  Schluß  des 
Manuskriptes  gearbeitet  hat,  so  ergibt  sich  die  weitere  Frage, 
wieviel  der  erste  geschrieben  hat.  Dieser  Frage  ist  noch  nie- 
mand naheo-etreten.  Vielmehr  herrscht  in  der  Wissenschaft 
bisher  die  Annahme,  daß  er  nur  für  die  ersten  1939  Verse 
des  Beowulf  verantwortlich  sei  und  daß  alles,  was  in  dem 
jetzigen  Sammelbande  Vitellius  A.  XV  vorher  stehe,  von  an- 
deren Schreibern  herrühre,  ja  überhaupt  erst  durch  Zusammen- 
binden mit  dem  Beowulf-Judith-Teile  im  17.  Jahrhundert  ver- 
eini<Tt  sei.  So  sagt  eine  solche  Autorität  wie  H.  L.  D.  Ward 
in  seinem  'Catalogue  of  Romances  in  the  British  Museum' 
Bd.  2  (1893)  S.  i:  These  two  articles  [d.  i,  Beowulf  und  Judith] 
have  hcen  hound  up  (since  the  time  of  Sir  Robert  Cotton)  with 
other  Anglo-Saxon  ivorks,  copied  in  the  IV^  and  12^^  centuries. 
Und  noch  deutlicher  drückt  dies  iqo8  Aloys  Brandl  in 
seiner  'Geschichte  der  Altenglischen  Literatur'  (Pauls  Grund- 
riß der  germanischen  Philologie  ^11  946  §  4)  so  aus:  "Erst 
im    17.  Jahrh.    wurden    sieben^)    spätags.  Werke    damit    zu- 


i)  Nach  freundlicher  mündlicher  Mitteilung  von  E.  Sievers.  Da- 
mit entfällt  auch,  vras  ten  Brink,  Beowulf  (Straßburg  1888)  S.  240  über 
die  kentische  Vorlage  unserer  Cotton-Handschrift  vermutet  hat. 

2)  E.  SiEVKRs,  Metrische  Studien  IT  (Abhandl.  d.  Sachs.  Gee.  d. 
Wiss.  XXXV,  19 18)  S.  103. 

3)  Die  Zahl  'sieben'  kommt  nur  heraus,  wenn  man  alle  vor  dem 
Beowulf  stehenden  Werke  des  ganzen  Sammelbandes  zählt.  —  Auch 
Fr.  Knappe  sagt  in   seiner  Au<?gabe   der  'Wunder   des   Ostens'  (Berlin 

Phü.-higt.  Klasse  igig.    Bd.  LXXI.  4.  3 


34  Max  K('»ksti;u:  l7Ji4 

sinumengobuiiden."  Aber  dennoch  ist  diese  Auftassnnpf  vollief 
unhaltbar.  Wer  die  Schriftzüge  der  Bhittor  von  fol.  gö*  ab 
sor<j:tTiltig  betrachtet  und  vergleicht,  <'rl<ennt  alsbald,  daß  sie 
iu  nichts  verschieden  sind  von  der  Hand  des  ersten  Beowulf- 
Kopisten,  d.  h.,  anders  ausgedrückt,  dali  derselbe  Schreiber  C, 
welcher  die  ersten  zwei  Drittel  des  Beowull"  ko[)iert  hat,  auch 
alle  voraufgehenden  aitenglischen  Prosatexte  der  Handschrift 
II,  also  die  riiristophorns- Legende,  die  Paradoxographa  und 
den  Alexanderbrief  an  Aristoteles  mitabgeschrieben  hat.  Niclit 
nur  der  allgemeine  Eindruck  der  Schrift  ist  derselbe;  sondern 
es  finden  sich  in  den  genannten  Prosastücken  auch  bei  den 
Einzelbuchstaben  alle  die  Eigentümlichkeiten,  welche  wir  als 
charakteristisch  für  den  ersten  Beowulf- Schreiber  bezeichnen 
dürfen:  so  vor  allem  die  eigentümliche  Form  des  insularen 
j,  der  ausschließliche  Gebrauch  des  niedrigen  e  (Kellkr, 
Angelsächs.  Paläographie,  Berlin  igo6,  S.  37)  und  des  spitzen 
zweistrichigen  a  (Keller  S.  35)  sowie  das  Vorherrschen  des 
langen  fränkischen  s  (Keller  S.  3^)  neben  seltenem  runden 
unzialen  s  und  gänzlichem  Fehlen  des  insularen  s.  Dabei  muß 
zugestanden  werden,  daß  die  Schrift  hie  und  da,  wie  z.  B. 
auf  fol.  100''  und  loi*,  etwas  fetter  und  kräftiger  erscheint. 
Aber  ein  solches  leises  Schwanken  im  Stärkegrad  der  Grund- 
striche passiert  dem  Schreiber  auch  innerhalb  des  Beowulf- 
Epos  —  man  vergleiche  nur  die  beiden  ersten  Seiten  des 
Beowulf  (fol.  134*  und  134^)  miteinander  —  und  ist  jeden- 
falls bei  Gleichheit  der  Buchstabenformen  kein  Beweis  gegen 
die  Identität  des  Schreibers,  da  die  Schlankheit  der  Schrift 
stark  von  dem  Zustand  des  Schreibmaterials  (Rauheit  des 
Pergaments  und  Stumpfheit  der  Feder)  beeinflußt  wird. 

Da  es  auffallen  muß,  daß  die  Einheit  der  Schrift  iu  den 
ersten  zwei  Dritteln  der  Handschrift  II,  also  auf  den  Blättern 
fol.  94* — i??**,    den    vielen    bisherigen   Benutzern    entgangen 


1906)  S.  5  ausdrücklich  von  seinem  in  Wirklichkeit  zur  Handschrift  11 
gehörenden  Text,  er  sei  "hier  mit  anderer  spätags.  Prosa  an  die  Beo- 


wulfhs.  angeheftet". 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  35 

sein  sollte^),  habe  ich  Photographien  von  6  Seiten  aus  allen 
drei  Prosatexten  unserer  Handschrift  dem  erfahrenen  Urteil 
der  Kollegen  Felix  Liebermann  und  Wolfgang  Keller 
unterbreitet:  beide  haben  sich  —  ersterer  in  längeren  Aus- 
führungen —  für  die  Einheit  des  Schreibers  ausgesprochen. 
Und  damit  der  Leser  selbst  urteilen  kann,  habe  ich  dieser 
Abhandlung  photographische  Faksiraileproben  von  zwei  Seiten 
dieser  Texte  beigegeben^),  nämlich  von  fol.  96 "^  aus  dem  Chri- 
stophorus  und  von  fol.  iio*  aus  der  Epistula  Alexandri,  die 
ich  mit  dem  ZuPiTZAschen  Faksimile  des  Beowulf  zu  ver- 
gleichen bitte.  Wenn  meine  Nachbildungen  technisch  nicht 
ganz  auf  der  Höhe  stehen,  muß  es  der  Leser  mit  den  Kriegs- 
verhältnissen entschuldigen,  die  den  Zutritt  zur  Originalhand- 
schrift unmöglich  machten  und  mich  zur  Nachbildung  der 
seit  19 13  in  meinem  Besitz  befindlichen,  leider  überlichteten 
Rotographien  der  Firma  D.  Macbeth  nötigten.  Unbrauchbar 
für  unsere  Frage  ist  die  schlechte  lithographische  Nach- 
zeichnung; einer  Seite  unserer  Handschrift  aus  dem  Paradoxe- 
graphen,  welche  sich  in  Wülkers  Geschichte  der  Englischen 
Literatur  (Leipzig  ^1906")  I,  72  findet. 

Wir  werden  im  folgenden  sehen,  daß  diese  Gleichheit 
der  Schreiberhand  auch  für  die  Datierung  und  damit  für  die 
literarhistorische  Einreihung  des  Paradoxographen  und  des 
Alexanderbriefes  von  weittragender  Bedeutung  ist. 

In  dem  Gesamtkodex  lassen  sich  also,  wenn  wir  von  den 
späten  Zutaten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  auf  fol.  2*  und 
3*  absehen,  vier  Schreiberhände  unterscheiden,  von  denen  je 


1)  E.  Sievers  teilt  mir  mit,  daß  er  schon  1871  sich  die  Einheit 
des  Schreibers  für  die  genannten  vier  Texte  notiert  hat. 

2)  Da  es  für  unsere  Zwecke  auf  die  genaue  Beibehaltung  der 
Buchstabengröße  ankam  und  aus  Sparsamkeitsrücksichten  das  Format 
unserer  Berichte  nicht  überschritten  werden  sollte,  mußten  die  beiden 
von  uns  reproduzierten  Handschrittenseiten  an  allen  Rändern  etwas  be- 
schnitten werden.  Vom  Schriftspiegel  fehlen  daher  auf  meinen  Faksimiles 
auf  fol.  96''  die  beiden  untersten  Zeilen  und  am  linken  (äußeren)  Seiten- 
rande II  mm,  auf  fol.  iio*  die  unterste  Zeile  sowie  auf  dem  rechten 
(äußeren)  Rande  6  mm. 

3* 


36  Max  FöiiSTEu:  f7i,4 

zwei  auf  jede  der  beiiltMi  ursprüntflich  sclljsiiiudi^cn  llund- 
schiiften  des  Sanimelkodex  koninioii.  Dem  ersten  Schreiber 
A,  welclioi-  nur  die  altenglischo  Soliloquien  Version  geschrieben 
hat,  gehören  die  lililtter  4* — 59^  an;  dem  zweiten  Schreiber 
1>,  der  die  drei  folgenden  Texte  (Nicodemus,  Salomon  und 
Saturn,  Quintinus)  geschrieben  hat,  die  Blätter  61* — 94''.  In 
der  zweiten  Handschrift  hat  der  Schreiber  C  von  fol.  96** — 177*", 
Zeile  3  eiuscliließlieh,  geschrieben,  d.  li.  die  drei  Texte  Chri- 
stophorus,  Paradoxographen,  Alexanderbrief  sowie  die  ersten 
193g  Verse  des  Beowulf.  Dem  Schreiber  D  gehören  fol.  177'', 
Zeile  4,  bis  fol.  211^,  d.  h.  die  letzten  1243  Verse  des  Beo- 
wulf sowie  das  ganze  Fragment  der  Judith-Dichtung. 

§  4.  Das  Alter  der  Schreiberhände. 

Wie  schon  oben  bemerkt,  lassen  sich  in  dem  Saramel- 
kodex  vier  verschiedene  Schreiberhände  unterscheiden,  von 
denen  die  ersten  beiden,  Ä  und  B,  der  Handschrift  I,  die  letz- 
ten beiden,  G  und  D,  der  Handschrift  H  angehören.  Die  Hände 
Ä  und  B  einerseits  und  die  Hände  C  und  D  andererseits  sind 
ungefähr  gleichzeitig. 

Irgendwelche  äußere  Anhaltspunkte  zur  Datierung  der  bei- 
den Handschriften  stehen  uns,  ebenso  wie  beim  Exeterbuch, 
dem  Vercelli-Kodex  und  dem  Caedmon-Manuskript,  leider  nicht 
zur  Verfügung.  Es  sei  denn,  daß  man  darauf  hinweisen  will, 
daß  das  Interesse  für  einen  so  spezifisch  nordfranzösischen 
Heiligen,  wie  den  Quintinus  —  dessen  Passio  die  erste  Hand- 
schrift ja  bietet  —  in  England  kaum  vorhanden  gewesen  sein 
kann,  bevor  nicht  das  Einströmen  französischer  Geistlicher  mit 
dem  beginnenden  11.  Jahrhundert  einen  regen  Austausch  von 
Kulturbeziehungen  mit  Frankreich  angebahnt  hatte. ^)  Aber 
dieser  terminus  post  quem  bietet  doch  nur  einen  geringen  An- 


i)  Tatsächlich,  erscheint  das  Fest  des  hl.  Quintinus  (31.  Oktober), 
von  dem  iElfric  noch  nichts  weiß,  erst  um  1050  in  den  Kaiendarien 
der  Angelsachsen.  Vgl.  F.  Piper,  Die  Kaiendarien  und  Martyrologien 
der  Angelsachsen  (Berlin   1862)  S.  8r. 


71,4]  Die  Beowulf- Handschrift,  37 

haltspunkt  für  die  Datierung  der  ofFensiclitlich  über  hundert 
Jahre  jüngeren  Soliloquien- Handschrift  (I). 

Wir  sind  daher  für  die  Datierung  der  beiden  Handschriften 
ledio-lich  auf  den  Eindruck  angewiesen,  den  uns  das  Alter  der 
verschiedenen  Schreiberhände  macht.  Aber  da  bewegen  wir 
uns  auf  einem  sehr  glatten  Boden,  da  die  Erforschung  der 
angelsächsischen  Nationalschrift  in  der  für  uns  in  Betracht 
kommenden  Zeit')  trotz  der  überaus  dankenswerten  Arbeiten 
von  E.  M.  Thompson^),  Ludwig  Traube^)  und  Wolfgang 
Kelx,er*)  weit  davon  entfernt  ist,  ein  sicheres  Urteil  über  die 
feineren  zeitlichen  und  lokalen  Unterschiede  zu  ermöglichen. 
Nur  eine  mehr  oder  weniger  grobe  Einreihung  in  die  großen 
Etappen  der  Schriftentwicklung  ist  uns  möglich;  diese  ver- 
mögen wir  aber  doch  jetzt  ziemlich  klar  zu  erkennen. 

In  Irland  hatte  sich  seit  dem  7.  Jahrhundert  auf  Grund 
der  römischen  Unziale  eine  spitze  Geschäftsschrift  herausge- 
bildet, welche  durch  die  Vermittlung  der  nordenglischen  Mis- 
sion zu  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  von  den  Angelsachsen 
übernommen  wurde  und  'die  eigentliche  irisch-angelsächsische 
Nationalschrift,  jetzt  meist  'Insulare'  genannt,  geworden  ist. 
Die  angelsächsische  Spitzschrift  erfuhr  um  die  Mitte  des  10.  Jahr- 
hunderts eine  Umbildung,  dadurch  daß  sie  unter  den  Einfluß 


i)  Dadurch,  daß  man  seit  ca.  950  in  lateinischen  Texten  die  frän- 
kische Minuskel  verwendet,  ist  das  Vergleichsmaterial  für  die  heimische 
Insulare  in  der  Zeit  von  950 — 11 50  leider  sehr  beschränkt. 

2)  Außer  früheren  Arbeiten  jetzt  vor  allem  die  prächtig  mit  Fak- 
similes ausgestattete  Introduction  to  Greek  and  Latin  Palaeography 
(Oxford  19 12). 

3)  Vor  allem:  Perrona  Scottorum  (Sitz.-Ber.  bayr.  Akad.  d.  Wiss. 
1900,  Heft  IV). 

4)  Angelsächsische  Paläographie  (mit  13  Tafeln),  Berlin  1906,  und 
in  kurzer,  aber  reiferer  Übersicht  in  Hoops'  Reallexikon  der  Germa- 
nischen Altertumskunde  (Straßburg  191 1)  I,  98 — 103.  —  Für  die  ältere 
Zeit  sind  auch  wichtig  die  in  Deutschland  leider  schwer  zugänglichen 
Arbeiten  von  W.  M.  Lindsay,  Early  Irish  Minuscle  Script  (Oxford  1910) 
und  Early  Welsh  Script  (Oxford  191 2),  beide  in  den  St.  Andrews  Uni- 
vereity  Publications  Nr.  VI  und  X. 


38  Max  Fökstbk:  [7',  4 

dor  breiteren,  stumpferen  und  steileren  karolingischen  Minus- 
kel*) geriet,  welche  mit  der  Cluniazenser  Klosterreform  nach 
England  kam  und  im  Lauf  des  10.  Jalirliunderts  in  den  latei- 
nischen  Texten  die  Alleinherrschaft  gewann.  Die  von  der  frän- 
kischen Minuskel  beeiiillußto,  s.  g.  'reformierte'  Insulare  hielt 
sich  aber  in  den  Werken  der  Volkssprache  bis  um  die  Mitte 
des  12.  Jahrhunderts.  Nur  erfuhr  sie  um  die  Mitte  des  1 1.  Jahr- 
hunderts abermals  eine  leichte  Umbildung  durch  den  Einfluß 
der  mehr  quadratischen,  aus  der  römischen  Kursive  entstan- 
denen französischen  Kandeischrift,  welche  mit  dem  Vordringen 
normannischer  Kultureinflüsse  nach  England  herüberkam  und 
um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  die  heimische  Insulare  end- 
gültig verdrängt  hat. 

Versuchen  wir  nun  unsere  beiden  Handschriften  in  diese 
Entwicklung  einzureihen,  so  ergibt  sieb  auf  den  ersten  Blick, 
daß  beide  die  reformierte  Insulare,  wenn  auch  in  verschiedenen 
Entwicklungsstadien,  aufweisen,  und  zwar,  daß  die  erste  Hand- 
schrift ganz  wesentlich  jünger  sein  muß  als  die  zweite.  Be- 
ginnen wir  also  mit  der  letzteren. 

Die  beiden  Schreiber  der  IL  Handschrift  {C  und  D)  be- 
nutzen nicht  mehr  jenen  alten  spitzen  und  schmalen  Typus 

i)  Die  fränkische  Minuskel  selbst  ist  in  England  zwar  vom  heimi- 
schen Brauche  beeinflußt,  hat  aber  dort  keine  organische  Weiterentwick- 
limg  erfahren.  Mit  Recht  erklärt  dies  W.  Keller  (S.  29)  aus  der  „Eigen- 
tümlichkeit jeder  kolonialen  Kultur:  einer  gewissen  Konstanz".  Wir 
haben  hier  dieselbe  Stillstandserscheinung  vor  uns,  die  wir  auch  in  dem 
archaischen  Charakter  des  Englischen  und  Spanischen  in  Amerika,  des 
Niederländischen  in  der  Kapkolouie  und  des  Vulgärlateinischen  in  den 
römischen  Provinzen  beobachten  können.  Ebenso  gehört  hierher  die 
interessante,  von  G.Wissowa  (im  Archiv  für  Religionswissenschaft  19,  28) 
hervorgezogene  Tatsache,  daß  Züge  altrömischen  Glaubens  in  den  Denk- 
mälern der  Provinzen  noch  hervortreten,  als  sie  in  der  lateinischen  Lite- 
ratur und  der  Staatsreligion  bereits  verschwunden  waren.  Auch  daran 
wird  man  in  diesem  Zusammenhange  erinnern  dürfen,  daß  die  franzö- 
sischen Lehnworte  in  England  eine  viel  altertümlichere  Aussprache  be- 
wahrt haben  als  auf  dem  heimischen  französischen  Boden:  man  denke 
nur  an  ne.  faith,  chief,  joy,  fierce  (nfrz.  /i'er),  case,  haste,  eourse,  ort, 
language,  Fitz  usw. 


71,4]  Die  Beovvulf-Handschrift.  39 

der  Nationalschrift,  wie  er  bis  gegen  950  üblich  war,  sondern 
eine  etwas  breitere  und  straffere  Form  mit  steilerer  Federhal- 
tung, wie  sie  unter  dem  Einfluß  der  Benediktinerreform  Mode 
wurde.  Anderseits  weisen  sie  noch  keinerlei  Einflüsse  der  fran- 
zösischen Kanzleischrift  auf,  die  schon  vor  der  normannischen 
Eroberung  in  England  sich  fühlbar  machte.  Mithin  sind  sie 
mit  Sicherheit  in  die  Zeit  zwischen  950  und  1050  zu  setzen. 
Wenn  wir  innerhalb  dieses  Zeitraumes  die  Kriterien  auf  un- 
sere Handschrift  anwenden  dürfen,  welche  W.  Keller  wesent- 
lich auf  Grund  von  südenglischen  Urkunden^)  gewonnen  hat, 
so  läßt  sich  etwa  folgendes  sagen.  Der  allgemeine  Eindruck 
der  Schrift  der  beiden  Schreiber  C  und  D  zeigt  weder  jene 
Korrektheit  und  Regelmäßigkeit  noch  jene  feierliche  Wucht,  wie 
sie  im  1 1 .  Jahrhundert  üblich  werden.  Vielmehr  haben  wir  hier 
eine  verhältnismäßig  nachlässige  und  kunstlose  Schrift  vor  uns 
ohne  jede  kalligraphische  Ornamentik  und  von  jenem  un- 
ruhigen, zerfahrenen  Charakter,  wie  er  namentlich  in  der  Süd- 
hälfte Englands  im  9.  und  10.  Jahrhundert  herrschte.  Die 
Schäfte  der  Buchstaben  sind  meist  schon  verhältnismäßig  lang, 
wie  dies  namentlich  für  das  11.  Jahrhundert  charakteristisch 
ist.  Was  die  Form  der  einzelnen  Buchstaben  angeht,  so  wer- 
den g,  ff  p,  r,  w  von  beiden  Schrei bei'n  nur  in  der  alten  insu- 
laren Form  angewandt.  Ein  insulares  s  dagegen  begegnet  nur 
noch  beim  zweiten  Schreiber,  nicht  mehr  beim  ersten;  in  der 


i)  Der  Unterschied  zwischen  Urkundenschrift  und  Buchschrift,  wie 
er  auf  dem  Kontinent  herrscht,  ist  in  England  bis  ins  13.  Jh.  nicht  vor- 
handen. Man  wird  daher,  wie  es  W.  Keller  tut,  die  an  den  Urkunden 
gemachten  Beobachtungen  im  großen  und  ganzen  auf  die  literarischen 
Manuskripte  übertragen  dürfen.  Indes  ist  es  doch  nicht  ohne  weiteres 
sicher,  daß  Urkunden-  und  Buchschrift,  namentlich  in  der  zeitlichen  Ent- 
wicklung, völlig  parallel  gegangen  sind.  Es  ist  sehr  wohl  denkbar,  daß 
die  feierlichere  Urkundenschrift  konservativer  war  als  die  private  Form 
der  Geschäftsschrift,  wie  sie  für  volkssprachliche  Aufzeichnungen  verwen- 
det wurde.  —  Soweit  ganze  Handschriften  herangezogen  sind,  hat  Keller 
sie  meist  nur  in  Faksimiles  einzelner  Seiten  benutzen  können.  Seine 
Angaben  über  das  Vorkommen  und  Fehlen  einzelner  Buchstabenformen 
in  solchen  Manuskripten  sind  daher  nur  mit  größter  Vorsicht  aufzunehmen. 


40  Max  Fökstkr:  [7 '.4 

Ilej^el  »ijebrnucheu  beide  schon  die  hinge  trünkische  Form,  doch 
mit  tiefer  heruntergezogenem  Grundstrich.  Daneben  vrrwenciou 
beide,  der  zweite  liäut'iger  iils  der  erste'),  noch  das  alte,  aus 
der  Unziale  übernomnioue  runde  s,  dis  besonders  charakte- 
ristisch für  die  zweiU'  Hälfte  des  lo.  Jalirliunderts  zu  sein 
scheint.  Beim  d  ist  der  schiefe  Balken  meist  kürzer  als  beim 
(),  außerdem  beim  zweiten  Schreiber  noch  schärfer  zurückge- 
boüren;  nicht  selten  sind  aber  bei  beiden  Schreibern  d  und  <), 
abgesehen  voll  dem  Querstrich,  völlig  gleick  geformt,  was  nach 
Keller  (S.  34)  „besonders  am  Schluß  dea  10.  und  am  An- 
fansr  des  1 1.  Jahrhunderts"  vorkommt.  Das  alte  Ilunenzeicheu 
ß  findet  sich  bei  beiden  Schreibern  auch  noch  im  Inlaut  ver- 
wendet, wo  es  seit  Mitte  des  1 1.  Jahrhunderts  immermehr  von 
()  verdrän.gt  wird.')  Mehrere  um  960  absterbende  Buchstaben- 
formen, wie  das  t  mit  Punkt  am  Bogenende,  das  }>  mit  kurzem 
Abstrich  am  Eude  der  Schleife  und  das  i^-förmige  y,  finden 
sich  überhaupt  nicht  mehr  in  der  Handschrift.  Die  ältere  Fo)m 
des  y  mit  stark  nach  auswärts  gebogenen  oberen  Schenkeln 
und  kurzem,  nach  links  gekrümmtem  Schaft,  wie  es  „bis  ca. 
970  [?]  sehr  häufig"  ist  und  dann  abstirbt,  begegnet  noch  ge- 
legentlich beim  zweiten  Schreiber,  nicht  mehr  bei  C.  In  der 
Regel  verwenden  beide  schon  das  jüngere,  geradlinige  y  der 
fränkischen  Minuskel,  das  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts 
der  herrschende  Typ  wird.  Beide  Formen  des  y  erscheinen 
in  unserer  Handschrift  stets  mit  Punkt,  wie  es  seit  ca.  950 
zumeist  und  im  11.  Jahrhundert  allein  üblich  ist.  Für  den 
Vokal  a  kennt  die  Hand  C  ausschließlich  die  typisch  insulare, 
aus  zwei  Zügen  bestehende,  dreieckähnliche  Gestalt,  wie  sie 
schon  in  der  älteren  irischen  Spitzschrift  herrschte,  die  Hand 


i)  Kellkks  Angabe  auf  S.  33  könnte  so  gedeutet  werden,  als  ob  daa 
runde  s  sich  nur  beim  zweiten  Schreiber  finde.  Dies  ist  aber  keines- 
wegs der  Fall.    Siehe  oben  S.  30  Anm.  i. 

2)  Es  ist  wohl  zuviel  gesagt,  wenn  Keller  in  Hoopa'  Reallexikon  I, 
103  schreibt:  „Das  p  wird  nach  960  nicht  mehr  im  Inlaut  gesehrieben". 
Die  richtigere  Darstellung  findet  eich  in  seiner  'Angelsächsichen  Paläo- 
graphie'  S.  44. 


71,4]  Die  Beowulf-ETandschkift.  41 

D  dagegen  ausschließlich  die  jüngere,  in  drei  Zügen  geschrie- 
bene, fast  quadratische  Form  mit  gebrochenem  Bogen,  die  nach 
Keller  (S.  36)  von  900 — 960  beliebt  war.  Bei  beiden  Formen 
des  a  zeigt  sich  in  unserer  Handschrift  gelegentlich  die  an- 
scheinend erst  seit  dem  Ende  des  10.  Jahrhunderts  zu  be- 
obachtende Neigung,  den  senkrechten  Stützbalken  nicht  in 
einem  scharfen  Winkel,  sondern  in  leichter  Rundung  mit  dem 
Bogen  zu  verbinden,  eine  Tendenz,  die  wohl  unter  dem  Ein- 
fluß der  fränkischen  Minuskel  entstanden  ist,  wo  allerdings 
der  Stützbalken  beträchtlich  über  die  Schleife  hinausgeführt 
wird,  was  in  englischen  Texten  erst  seit  dem  Eindringen  der 
frauzösischen  Kanzleischrift  üblich  wird.M  Von  besonderer  Be- 
deutung für  die  Datierung  scheint  endlich  eine  eigenartige 
Form  des  e  zu  sein,  welche  sich  allerdings  nur  bei  dem  zwei- 
ten Schreiber  D,  nicht  bei  C,  findet,  nämlich  ein  e,  dessen 
Schleife  über  die  anderen  Buchstaben  emporragt.  Ein  solches 
hohes  c  ist  vom  9.  bis  zum  Ende  des  10.  Jahrhunderts  sehr 
beliebt;  kein  einziges  Beispiel  findet  sich  aber  in  den  Ur- 
kunden von  1000 — 1049,  wenn  auch  in  Buchhandschriften 
des  beginnenden  11.  Jahrhunderts  vereinzelte  hohe  e  noch  er- 
scheinen. 

Überschauen  wir  diese  paläographischen  Eigentümlich- 
keiten in  ihrer  Gesamtheit,  so  ergibt  sich  kein  ganz  klares 
Bild:  Altes  und  Neues,  Fortschrittliches  und  Archaisches  scheint 
sich  in  eigentümlicher  Weise  zu  mischen,  so  daß  wir  den  treff- 
lichen Wanley  (S.  218)  verstehen,  der  nur  die  vorsichtige 
Datierung  „vor  der  Eroberung  geschrieben''  wagen  mochte. 
Bei  diesem  Nebeneinander  von  alten  und  jungen  Zügen  werden 
wir  wohl  am  besten  tun,  an  eine  mittlere  Periode  innerhalb 
unseres  Zeitraums  zu  denken,  nämlich  an  das  Ende  des  10. 
oder  auch  den  Anfang  des  1 1 .  Jahrhunderts.  Keller  freilich 
will  auf  Grund   des  hohen  e,   das  er  in   den  Urkunden   von 

i)  Eine  abweichende  Darstellung  über  die  Formen  des  a  im  Beo- 
wulf  bietet  W.  Kkller,  Angelsächsische  Paläographie  S.  36.  Ich  bin 
aber  nicht  sicher,  ob  ich  seine  überknappe  Ausdrucksweise  hier  wie  an 
anderen  Orten  richtig  verstehe. 


42  Max  FöKSTEu:  |7',4 

looo — 1049  nicht  iiielir  fiiiul,  die  Jliiiulschiit't  iu  die  „letzten 
Dezennien  des  10.  Jabrliunderts"  verleben.  Dies  mag  sehr  wohl 
da8  nichtige  trefl'eii.  Da  aber  Buchhandschriften  des  11.  Jahr- 
hunderts, wie  Cleo})ntra  C.  Vlll  und  das  Swi'Jun  Fragment 
aus  Gloucester,  und  auch  Urkunden  von  104g  und  1050  ge- 
legentlich das  hohe  c  aufweisen,  seheint  mir  dies  Kriterium 
doch  nicht  so  ganz  zwingend.  Auch  die  anderen  Eigentüm- 
lichkeiten scheinen  mir  die  ersten  Jahre  des  11.  Jahrhunderts 
für  die  Beowulf-Handschrift  nicht  gänzlich  auszuschließen.  Bei 
dieser  Sachlage  möchte  ich  davor  warnen,  wie  es  gewöhnlich 
geschieht^),  die  Handschrift  schlecliihin  „in  das  ic.  Jahrhun- 
dert" zu  versetzen,  schon  weil  eine  so  allgemeine  Angabe  leicht 
einer  Überschätzung  des  Alters  Vorschub  leistet.  Auch  die 
Datierung  „aus  der  zweiten  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts",  wie 
sie  zuerst  1888  TEN  Brink^)  vertrat,  scheint  mir  nicht  eigent- 
lich den  Kern  zu  treffen.  Dagegen  ließe  sich  nicht  allzuviel 
einwenden,  wenn  man  mit  Keller^)  von  den  „letzten  Dezen- 


i)  So  z.  B.  von  Sh.  Tukner,  Hi.«torj  of  the  Anglo-Saxons  (1805) 
III 169;  H.  Möller,  Altenglisches  Volksepos  (Kiel  1883)  S.  127;  Th.  Abnolü, 
Notes  on  Beowulf  (London  1Ö98)  S.  3;  Hevne-Socin-Scuücking,  Beowulf 
(Paderborn  ^1898— "1918)  y.  82  bzw.  loi;  Holthausen,  Beowulf  (Heidel- 
berg '1905— '1913)  II  S.  VII;  A.  Cook,  Judith  (Boston  1904)  S.  VUI; 
P.  Vogt,  Beowulf  (Halle  1905)  S.  16;  Chadwick  in  'Cambridge  History 
of  English  Literature'  (1907)  I  22.  Sicherlich  falsch  i.st  die  Datierung 
aus  dem  Anfang  des  10.  Jahrhunderts,  wie  sie  unter  Berufung  auf  den 
bekannten  Paläographen  und  Archivar  Thomas  Astle  (1735 — 1803)  sich 
findet  bei  Thorkelin,  De  Danorum  P^ebus  gestis  secul.  UI  &  IV.  Poema 
Danicum  dialecto  Anglosaxonico  (Kopenhagen  18 15)  S.  XVII  und  Cony- 
BEARE,  Illustrations  of  Anglo-Saxon  Poetry  (London  1826)  S.  32,  auch 
bei  WüLKER,  Angelsächsische  Litteratur  (Leipzig  1885)  S.  307.  Merk- 
würdigerweise sagen  manche  Beowulf-Herausgeber  oder  -Forscher,  wie 
Eehble,  Gründtvig,  Leo,  Kölbing,  Holder,  Zupitza,  Wyatt,  Child  und 
Tbautmann,  überhaupt  nichts  über  das  Alter  der  Handschrift. 

2)  TEN  Brink,  Beowulf  (Straßburg  1888)  S.  238.  Ihm  folgten  L.  Si- 
mons, Beowulf  (Gent  1S96)  S.  92  und  H.  Gering,  Beowulf  (Heidelberg 
1906)  S.  V.  Ward,  Catalogue  of  ßomancea  (1883)  sagt  I  134:  „Late  X"* 
Century", 

3)  Keller,  Angelsächsische  Paläographie  (1906)  S.  37. 


71,4]  Die  Beo^vulf-Handsohrift.  43 

nieii  des  10.  Jahrhunderts"  oder  mit  Brandl^)  von  der  „Zeit 
gegen  das  Jahr  1000''  spricht.  Am  nächsten  käme  aber  viel- 
leicht der  Wahrheit,  und  dies  möchte  ich  darum  empfehlen, 
wenn  man  mit  Ward^)  die  Handschrift  rund  um  das  Jahr  1000 
entstanden  sein  ließe,  wobei  natürlich  etwa  je  zwei  Dezennien 
vor-  und  nachher  mit  einzurechnen  wären. 

Einen  Einwurf  gilt  ts  noch  zu  entkräften.  Die  Hand 
des  zweiten  Beowulf-Schreibers  zeigt  im  ganzen  Habitus  eine 
auffallende  Ähnlichkeit  mit  dem  ersten  Schreiber  der  Blick- 
ling-Homilien^),  so  daß  beide  wohl  annähernd  in  dieselbe  Zeit 
gehören  müssen.  Diese  Blickling-Handschrift  pflegt  man*)  seit 
dem  ersten  Herausgeber  RiCH.  Morris  (S.  III  und  VIII)  in  das 
Jahr  971  zu  versetzen,  weil  im  Text  der  9.  Predigt  (pag.  141 
=  Morris  S.  117)  folgendes  Datum  vorkommt:  J)es  middan- 
geard  nede  on  das  eldo  endian  sceal,  ])e  nu  andweard  is;  forßon 
pfe  ßara  syndoti  agangen  on  pisse  eldo.  ponne  sceal  ßes  niiddan- 
gcard  endiati,  ~J  ßisse  is  ponne  se  m(üsta  dcel  agangen,  efne  nigon 
Jiund  wintra  7  •  LXXI-  on  ßys  geare.  Indes  kann  dieses  Datum 
mechanisch  vom  Schreiber  aus  der  Vorlage  kopiert  sein;  und 
es  beweist  die  Stelle  meines  Erachtens  nur,  daß  die  Blickling- 
Handschrift  nicht  vor  dem  Jahre  971  entstanden  sein  kann, 
ohne  ein  wesentlich  späteres  Datum  auszuschließen.  Denn  der 
vorhergehende  Hinweis  auf  das  Ende  der  Vv'elt  braucht  sich 
nicht  auf  das  Jahr  1000  zu  beziehen,  sondern  das  eldo  meint, 


1)  Bbandl,  Geschichte  der  alteuglischeu  Literatur  (Strassburg  1908) 
S.  990. 

2)  Ward,  Catalogue  of  Romances  (1893)  II  i:  „abont  Ä.  D.  1000''. 
[Vorher  (1883)  in  Bd.  I  S.  134  hatte  Ward  als  Datum  gegeben:  „Laie 
X**"  Century".]  Die  Datierung  „about  A.  D.  1000'-'  ist  wiederholt  in  dem 
offiziellen  'Guide  to  the  Exhibited  Manuscripts'  Part  II  S.  40  von  H.  J.Bell 
(1912),  bei  H.  C.  Shelley,  The  British  Museum  (London  191 1)  S.  152 
und  in  R.  W.  Chambers'  Neubearbeitung  von  Wyatt's  Beowulf-Ausgabe 
(Cambridge  1914)  S.  IX.  Beachtenswert  ist,  daß  der  handschriftener- 
fahrene Benj.  Thokpe  (Beowulf,  Oxford  1850,  S.  XI)  sogar  die  allerdings 
etwas  reichlich  späte  Datierung  „the  first  half  of  the  eleventh  Century"'  wagte. 

3)  The  Bückling  Homilies,  ed.  R.  Morris  (London  1874 — 80). 

4)  So  auch  Keller,  Angelsächsische  Paläographie  (1906)  S.  38,  42. 


44  ^' '^^  FöiisTKii:  l7',4 

wie  diia  t'ulgeiulo  „von  iloneii  lünt' [Zeiialit'rJ  vür>^uiigeii  sind"*) 
beweist,  das  <jfe«;enwiirtige  lot/to  der  bekannten  seclis  niittel- 
iiltevliehen  Weltzeitalter,  in  die  nnui  seit  l'rüliclirisLliclier''')  Zeit 
den  Weltverlauf  von  Adam  bis  zum  Jüngslen  Gerichte  einzu- 
teilen pHegte:  Sexta  quac  nunc  agitur  aetas  nulla  grnerolionnm 
uel  temponim  serie  cerfa  cd,  sed  ut  netas  decrepita  ipsa  totius 
saeciili  morte.  comtummanda  est  (Bkda,  Temj).  rat.,  cap.  66  u.  ö.) 
oder,  wie  es  Abt  iElfric')  faßt:  Sco  sixte  yld  stcnt  na  frani  Cri- 
stes  accnnednysse  mid  ungewisre  geeudunge  astreht  od  Antccrides 
to-cyme  (Horailies  ed.  Thorpe  II  58).  Mitbin  brauchte  selbst  ein 
nachdenklicher,  nach  1000  schreibender  Kopist  an  der  obigen 
Bückling  Stelle  keinen  Anstoß  genommen  zu  haben;  und  somit 
entfällt  jede  Gewißheit,  daß  die  Blickling-Homilien  wirklich 
noch  im  10.  Jahrhundert  geschrieben  sind,  wenn  auch  eine 
gewisse  Wahrscheinlichkeit  dafür  spricht. 

Die  Datierung  der  Beowulf-Handschrift  um  das  Jahr  1000 
oder  das  i^^nde  des  10.  Jahrhunderts  zieht  nun  auch  beträcht- 
liche literarhistorische  Konsequenzen  nach  sich,  wenn  wir  be- 
denken, daß  zu  derselben  Handschrift,  wie  wir  oben  S.  34  ge- 
zeigt, auch  noch  die  drei  vor  dem  Beowulf  stehenden  Texte, 
die  Christophorus-Passion,  der  Brief  Alexanders  an  Aristoteles 
und  die  s.  g.  „Wunder  des  Ostens"  (richtiger  eine  Paradoxo- 
graphen-Version),  gehören.  Bisher  nämlich  pflegte  man  diese 
Texte  oder  wenigstens  die  beiden  letzten,  den  Alexanderbrief 
und   die  Paradoxa,   an   das  Ende   der  altenglischen  Literatur- 


i)  Danach  ist  also  Morris'  falsche  Erklärung:  „/ive  of  the  [fore- 
tokens]  have  come  to  pass'''  zu  bessern. 

2)  Vgl.  M.  Förster  in  Shakespearo-Jahrbuch  50,   180. 

3)  Die  Lehre  von  den  sechs  Weltzeitaltern  finflen  wir  in  der  alt- 
englischen  Literatur  in  drei  verschiedenen  Fassungen,  je  nach  dem  zu 
Grunde  liegt  a)  die  Augustin  Bedasche  Vulgata-Reihe  (altenglisch  bei 
iElfric,  Uom.  II  58,  bei  Wulfstan,  ed.  Napier  S.  311  und  bei  ByrhtferS, 
Anglia  VIII,  335);  b)  die  Reihe  des  Nennius  (altenglisch  in  Angl.  XI,  6f, 
und  XI,  105 f.);  c,  die  Reihe  des  Chronisten  ^]j3elweard  (altenglisch  in 
Angl.XI,4undi74;  Thorpe,  Analecta  S.  112;  Hyde-Reg.  S.81 ;  Angl.  XI,  9). 
Ich  werde  hierüber  des  Nähern  handeln  in  meinen  „Spätaltenglischea 
Texten  aus  Vesp.  D.  XIV". 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  45 

periode  zu  setzen.  Man  nannte  sie  „the  last  books,  save  the 
'Worcester  Annais',  which  were  written  in  the  literary  lan- 
guage  of  Wessex''^),  sah  in  ihnen  „die  fortschrittlichste  Er- 
scheinung in  der  ganzen  spätangelsächsischen  Prosa"*)  und 
witterte  darin  bei-eits  jene  „weltliche  Romantik  des  Morgen- 
landes""), die  dann  mit  der  französischen  Hofkultur  in  vollen 
Zügen  nach  England  einströmte.  Man  fand  es  natürlich,  daß 
unter  der  Dänenherrschaft  keine  „neue  Literatur"  in  England 
produziert  wurde  und  daß  erst  das  Vordringen  normannischer 
Kleriker  nach  der  Insel  unter  König  Edward  dem  Bekenner 
frische  Literaturimpulse  herüberbrachte,  zu  denen  die  Latein- 
texte gehörten,  welche  die  Grundlage  für  unsere  beiden  alteng- 
lischen  Fassungen  abgaben.^)  So  schön  sich  all  diese  histori- 
schen Konstruktionen  anhören,  so  unhaltbar  sind  sie  angesichts 
der  chronologischen  Tatsachen.  Sie  waren  überhaupt  nur  mög- 
lich unter  der  stillschweigenden  Annahme,  daß  die  Blätter 
96 — 133,  die  jene  drei  Texte  enthalten,  eine  selbständige  Hand- 
schrift bildeten,  die  mit  dem  Beowulf  keinerlei  Verbindung 
gehabt  hatte,  bis  sie  Sir  Robert  Cotton  damit  zusammen 
einbinden  ließ,  und  die  man  deswegen  auch  beliebig  spät  ins 
1 1.  Jahrhundert^)  datieren  durfte.  Diese  Annahme  verbietet 
sich  aber  ebenso  durch  die  Verteilung  der  Bogenlagen  —  erst 
mit  Blatt  136  setzt  eine  neue  Lage  ein  —  wie  durch  die  oben 
S.  34  betonte  Tatsache,  daß  auf  den  in  Frage  kommenden  Seiten 
(Bl.  göa — 133  b)    ein   und   dieselbe  Schreiberhand   wie  in  der 


i)  Stopford  A.  Brooke,  English  Literature  from  the  Beginning  to 
the  Norman  Conquest  (London  1898)  S.  293. 

2)  Brandt.,   Geschichte  der  altenglischen  Literatur  (1908)  S.  1132. 

3)  So  St.  Bkooke  in  der  Neubearbeitung  von  Chambers'  Cyclopsedia 
of  English  Literature,  new  edition  by  David  Patrick  (London  1903)  I  29. 

4)  Diese  Datierung  des  Handschriftenteiles  bieten  Wclker,  Ge- 
schichte der  englischen  Literatur  (Leipzig  1896)  I  73  und  Knappe,  Das 
ags.  Prosastück  'Die  Wunder  des  Ostens'  (Greifswalder  Diss.  1906) 
S.  8.  —  Die  Entstehung  der  Texte  verlegen  in  die  „Mitte  des  11.  Jahr- 
hunderts" WttLKEK,  Grundriß  der  ags.  Litteratur  (1885)  S.  505,  und  ähn- 
lich Bbooke,  Chambers'  Cyclopsedia  I  29  („the  last  fine  English  of  the 
times  before  the  Conquest"). 


4f>  ÄIax  F<iusTKR:  f7i,4 

orsten  HiUt'te  des  Beowull"  7,11  erkennen  ist.  Wie  dieses  Kpos 
muß  also  auch  der  Christopliorus,  der  Alexanderhrief  und  der 
Paradoxogniph  in  den  letzten  Dezennien  des  10.  J.ihrliuuderta 
oder  um  das  Jahr  1000  herum  auf<^e/eichnet  sein.  Die  Ent- 
steliunf^szeit  dieser  Texte  kann  mithin  nicht  üher  das  Jahr  975 
hinan fgerückt  werden.  Ja,  wenn  man  die  gerade  bei  dem  Par.i- 
doxo!2;rajiheu  durch  das  Vorliegen  der  Lateinquelle  und  einer 
zweiten  liandschriftlielien  Überlieferung  leicht  zu  kontrollie- 
rende Fehlerhaftigkeit  der  Überlieferung  in  Betraciit  zieht,  wird 
man  geneigt  sein,  eher  noch  etwas  Weiter  zurückzugehen  und 
die  Entstehung  der  altenglis(;hen  Version  in  das  dritte  Viertel 
oder  die  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  zu  verlegen.  Den  „Hauch 
einer  neuen  Zeit,  neue  Gedanken,  eine  neue  Lebensweise,  eine 
neue  Phantasiewelt" H,  den  diese  Texte  atmen,  haben  wir  also 
schon  dem  Einfluß  der  Cluniazensischen  Kloster-  und  Bildungs- 
reform zuzuschreiben,  die  das  Auge  der  englischen  Mönche 
auf  diese  spätgriechischen  Stoffe  in  lateinischem  Gewände  lenkte. 
Und  hierin  möchte  ich  das  Hauptergebnis  meiner  Beschäfti- 
gung mit  dem  Beowulf- Kodex  sehen.  Denn  es  verdient  be- 
sonders unterstrichen  zu  werden,  daß  die  englische  Literatur, 
die  fast  zu  allen  Zeiten  einen  stärkeren  Einfluß  der  Antike 
zeigt  als  die  deutsche,  so  früh  schon  Niederschläge  spätgrie- 
chischer Fabelei  aufzuweisen  vermach. 

Und  nun  zur  Datierung  der  ersten  Handschrift  (Fol.  4 — 94), 
die  die  altenglische  Soliloquien- Version,  den  Nicodemus,  das 
Gespräch  zwischen  Salomon  und  Saturn  und  die  Qiiintinus- 
Passion  enthält.  Dieselbe  ist  gleichfalls,  wie  wir  gesehen  haben, 
von  zwei  Händen  geschrieben,  deren  erste  (Ä)  die  Soliloquien 
(fol.  4a — 59b)  kopierte,  während  der  Rest  vom  zweiten  Schrei- 
ber (B)  herrührte.  Wie  wir  schon  oben  S.  24  sahen,  sind  beide 
in  der  Federhaltung  und  auch  in  einzelnen  ßuchstabenformen 
deutlich  voneinander  verschieden,  aber  dennoch  so  ähnlich, 
daß  sie  aus  derselben  Schreiberschule     -  vielleicht  des  Chor- 


i)  St.  Beooke,  English  Literature  (1898)  S.  293. 


71,4]  Die  Beowülf-Handschrift.  47 

herrnstiftes  St.  Mary  in  Southwick  (vgl.  S.  54)  —  stammen  wer- 
den und  jedenfalls  in  derselben  Zeit  geschrieben  haben  müssen. 
Suchen  wir  ihren  Schriftcharakter  in  die  oben  S.  3  7  f.  ge- 
gebene Skizze  der  altenglischen  Schrift  einzureihen,  so  ist  ganz 
klar,  daß  sie  in  die  Entwicklung  nach  der  normannischen  Er- 
oberung gehören.  Sie  weisen  aber  nicht  etwa,  wie  es  ja  auch 
vorkommt  —  z.  B.  bei  dem  wohl  gleichaltrigen  Cotton  Ms. 
Vespasianus  D.  XIV  — ,  die  breite,  runde,  regelmäßige  fran- 
zösische Kanzleischrift  auf,  sondern  gehören  noch  zu  dem  Ty- 
pus der  schmaleren,  spitzeren  angelsächsischen  Nationalschrift, 
nur  daß  sie  einen  starken  Einfluß  der  karolingischen  Minuskel 
und  auch  eine  gewisse  Einwirkung  der  französischen  Kanzlei- 
schrift verraten.  Letztere  sehe  ich  darin,  daß  die  Schäfte  nicht 
mehr  jene  übermäßige  Länge  haben,  wie  sie  charakteristisch 
ist  für  das  11.  Jahrhundert,  sondern  stark  verkürzt  erscheinen, 
was  der  Schrift  bei  aller  Neigung  zur  seitlichen  Zusammeu- 
pressung  eine  gewisse  Gedrungenheit  verleiht,  die  sich  wesent- 
lich abhebt  von  der  Schmalheit  der  Nationalschrift  des  9.  und 
10.  Jahrhunderts.  Der  Einfluß  der  fränkischen  Minuskel  tut 
sich  kund  in  der  fast  ganz  senkrechten  Federhaltung^),  die 
die  Grundstriche  fett  geraten  läßt,  sowie  in  der  regelmäßigen^) 
Verwendung  der  karolingischen  Minuskelformen  für  /",  s,  a,  e 
und  st.  Bei  r  erscheint  nur  gelegentlich  die  fränkische  Form;  in 
der  Regel  wird  noch  das  insulare  r,  allerdings  mit  oft  recht  kur- 


i)  Und  zwar  hält  der  Schreiber  von  B  die  Feder  noch  senkrechter 
als  Ä.  Vgl.  S.  24.  ^ 

2)  Jedoch  verwendet  der  Schreiber  A  nach  Hulme  S.  84  das  insulare 
Zeichen  für  f  noch  in  pf  i^  (Hargroves  Soliloquien),  hceß  7®,-  arfcest 
11",  alyfad  I6'^  hlaford  25'**,  ^eZy/"  63"•^^  sowie  das  insulare  s  noch 
vereinzelt  in  J5«s  I^  swa  14^  und  Celsus  41^-  Diese  insularen  Formen 
sind  indes  wahrscheinlich  der  Vorlage  nachgemalt.  Denn  daß  beiden 
Schreibern  A  und  B  die  insularen  Buchstaben  nicht  mehr  sehr  geläufig 
waren,  zeigen  ihre  gelegentlichen  Verwechslungen  von  s  und  f,  r  und  n, 
r  und  w;,  w  und  p,  w  und  /",  wofür  Hulme  und  A.  Schmitt  in  ihren 
Dissertationen  S.  7  f.  bzw.  S.  4  die  Belege  bieten.  Zudem  ist  Holmes 
Angabe  für  lif  falsch,  wie  Hargroves  Faksimile  lehrt;  man  wird  also 
auch  die  übrigen  Beispiele  an  der  Handschrift  nachprüfen  müssen. 


48  Max  Förster:  [7 ',4 

zem  Schaft  und  sehr  zusanimengoschrunijif'tem  Haken  gebraucht. 
Ebenso  findet  sich  nur  gelegentlich')  fränkisches ^/nobendcr insu- 
laren Form,  die  stets  die  geschlossene  Schleife  der  westsächsischeii 
Schulsclirift  hat.  Dagegen  ist  die  alte  insulare  Form  noch  über- 
ul!  vorwendet  für  w,  ß  und  y.  Bei  ?/  haben  wir  sogar  merkwür- 
digerweise noch  die  alte,  im  9.  um!  10.  Jahrhundert  übliche 
Form  mit  nach  außen  gebogenen  Schenkeln  und  kurzem,  leicht 
nach  links  gekrümmtem  Abstrich,  und  zwar  scheint  beim  Schrei- 
ber A  ausschließlich  diese  Form  vorzukommen.  Beim  insularen 
p  fällt  auf,  daß  der  obere  Schaft  oft  bereits  stark  verkürzt 
ist,  so  daß  der  Buchstabe  sehr  der  w-Rune  ähnelt.  Auch  haben 
beide  Schreiber  im  Gesamtduktus  noch  das  Unruhige  und 
Unregelmäßige,  wie  es  die  ältere  nationale  Schrift  namentlich 
im  Süden  aufweist. 

Nach  dem  Gesagten  kommt  für  die  Datieiung  der  Schrift 
nur  der  Zeitraum  von  1050 — 1150  in  Betracht.  Eine  engere 
Begrenzung  der  Eutstehungszeit  ist  nicht  ganz  leicht.  Und  in 
der  Tat  finden  wir  recht  schwankoule  Antjaben  bei  den  mo- 
dernen  Herausgebern.  Wanley  (S.  218),  wie  immer  vorsichtig, 
sagt  nur  ganz  aUgemein:  „litteris  Normanno-Saxonicis,  post  con- 
qucestum  scriptum.  Aber  Walter  de  Gray  Birch^)  versetzt  sie 
merkwürdigerweise  ins  10.  Jahrhundert,  indem  er  an  Hulme 
schreibt:  „7  canH  see  any  reason  for  placing  tJie  MS.  in  the  12^'' 
Cent.  I  shoiild  he  inclined  to  date  the  writing  at  l(ß^  cmt.  — 
n-d  far  from  uElfrecTs  Urne,  say  930 — 950".^)  Hulme  selbst  ver- 


•  i)  Nämlich  beim  Schreiber  Ä  (nach  Hulme  S.  90)  in  fetige  i*°,  ger- 
aum i^\  murge  i  ^^  jvfsge  i ",  car/an  2*,  hytlinge  2',  gerestan  2'",  ge  2^*, 
ongytan  2**,  cEagan  45',  god  63^',  gelifan  66^^  Die  Tatsache,  daß  die 
Fälle  für  fränk'isches  g  fast  alle  auf  dem  ersten  Blatte  vorkf  mmen, 
ließe  sich  so  deuten,  daß  das  fränkische  g  ihm  das  geläufigere  Zeichen 
■war,  daß  er  aber  bald  auf  die  insulare  Form  seiner  Vorlage  aufmerksam 
wurde  und  nun  stets  dieses  Zeichen  zu  schreiben  sich  bemühte. 

2)  Bei  W.  H.  Hulme,  Die  Sprache  der  ae.  Bearbeitung  der  Solilo- 
quien  Augustins  (Freiburger  Diss.  1894)  S.  3. 

3)  Diese  Datierung  ist  für  einen  ürkundenherausgeber,  wie  de 
Gray  Bihch,  so  erstaunlich  falsch,  daß  ich  annehmen  möchte,  daß  sie 
sich  nicht  auf  unseren  Teil  des  Kodex  bezog,   sondern  auf  die  Hand- 


7^,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  49 

setzt  die  Handschrift  als  er  von  der  Nicoderaus- Version  spricht^), 
ins  II.  Jahrhundert:  „a  fine,  large,  clear  hand  of  thc  eleventh 
Century",  anläßlich  seiner  Arbeit  über  die  Sprache  der  Solilo- 
quien  aber  „in  den  Anfang  des  12.  oder  höchstens  in  das  Ende 
des  II.  Jahrhunderts"^).  Das  12.  Jahrhundert  ohne  nähere  Be- 
grenzung geben  als  Entstehungszeit  an  Pauli ^),  Wülker*), 
Napier^),  Morley^)  und  auch  Schröer^). 

Stehen  uns  nun  Mittel  zur  Verfügung,  die  Frage  zu  ent- 
scheiden? Ich  glaube:  ja.  Zunächst  können  wir  uns  nach  zeit- 
lich genauer  fixierbaren  Handschriften  umsehen,  die  denselben 
Schriftcharakter  aufweisen.  Urkunden  können  dafür  leider  nicht 
in  Betracht  kommen,  weil  diese  damals  ausschließlich  in  frän- 
kischer Minuskel,  und  zwar  in  deren  Fortentwicklunsr,  der  fran- 
zösischen  Kaiizleischrift,  geschrieben  wurden.  Aber  es  gibt  zwei 
datierbare  Manuskripte,  die  die  größte  Ähnlichkeit  mit  unseren 
beiden  Schreibern  Ä  und  B  aufweisen:  das  ist  einmal  der  s.  sr. 
Textus  Roffensis  und  zum  andern  die  s.  g.  Peterborough-Chro- 
nik.  Der  erstere  Kodex,  in  dem  zwei  Gesetzessammlungen  und 
ein  Chartular  von  Rochester  zusammengebunden  sind,  ist  in 
seinen  ältesten  Teilen  von  einem  Manne  geschrieben,  der  die 
Arbeit  schon  vor  1 1 24  begann  —  weil  sein  Bischof  Ernulf 
(1115 — 1124)  nicht  wie  sein  Vorvorgänger  Gundulf  (f  1108) 
als  verstorben  bezeichnet  wird  — ,  andererseits  aber  noch  eine 
Urkunde  vom  Jahre  11 46  eintrug,  mithin  von  ca.  11 20 — 1150 


Bchrift  II,  für  die  sie  allerdings  auch  noch  zu  früh  wäre.  Wenn 
BiRCH  a.  a.  0.  auch  noch  Ward  als  Gewährsmann  fürs  10.  Jahrhundert 
zitiert,  so  übersieht  er,  daß  Ward  nur  vom  Beowulf  und  dem  Alexander- 
Brief,  also  Teilen  der  Handschrift  II,  spricht,  für  die  das  Datum  ja  zutrifft. 
i)  HuLME,  The  Old  English  Version  of  the  Gospel  of  Nicodemus 
(Publ.  Alod.  Lang.  Assoc.  of  America,  1898,  XIII  467). 

2)  HuLME,  Sprache  der  ae.    Bearbeitung  der  Soliloquien  (1894)  S.  3. 

3)  R.  Pauli,  König  Aelfred  (Berlin  1851)  S.  239  u.  318  Anm.  2. 

4)  R.  WüLKER,  Grundriß  zur  Geschichte  der  angelsächs.  Litteratur- 
(Leipzig  1885)  S.  416. 

5)  A  Nafier,  Academy,  Bd.  37,  Sp.  134. 

6)  H.  MoRLEY,  English  Writers  (London   1888)  II  291. 

7)  A.  ScHRÖER  in  HüLMEs  Dissert.  S.  3. 

Phil.-hiBt.  Klasse  191 9.   B<i.  LXXI.  4.  4 


50  Max  Föustkr:  [7^,4 

geschrieben  haben  mnß.  Eine  Probe  dieser  Schrift,  nämlich 
ein  Falcsimile  von  fol.  44  a,  haben  wir  betiueni  zngänglich  in 
der  Piihi'ocrraphical  Society  II  (1894)  Tafel  73  und  daraus 
wiederholt  in  der  'Arcliieolonria  ('antiana'  1898  sowie  (beschnit- 
ten) in  Thompsons  Introduction  to  Greek  and  Latin  Palaeo- 
graphy  (Oxford  iqi2  .  S.  473.  Und  dieses  lehrt  uns,  daß  die 
Schreiber  A  und  B  unseres  Vitellius-Kodex,  trotz  mancher 
Abweichung  im  einzelnen,  durchaus  den  Charakter  dieser  süd- 
englischen Schrift  von    11 20 — 11 50  aufweisen. 

Diesem  Ergebnis  widerspricht  nicht,  was  wir  den  Peter- 
borougher  Anualen  (Ms.  Land  Mise.  636)  entnehmen  können. 
Die  erste  Hand  (fol.  la— 8ib)  dieses  Kodex,  welche  die  Er- 
eignisse bis  zum  Jahre  1121  (einschließlich)  eingetragen  und 
sicherlich  um  diese  Zeit  gearbeitet  hat'),  sowie  die  mit  den 
Ereignissen  wohl  gleichzeitigen  Fortsetzer^)  von  1126 — 1131 
stehen  dem  Schrifttypus  der  beiden  Vitellius-Schreiber  sehr 
nahe,  haben  jedoch  im  Gesamtduktus  und  in  den  Buchstaben- 
formen stärker  den  alten  insularen  Charakter  bewahrt.  Da- 
gegen hebt  sich  der  Annalist^),  welcher  die  Ereignisse  von 
II 32 — 1154  eingetragen  hat,  und  zwar  erst  nach  Heinrichs  H. 
Thronbesteigung  (1154),  durch  seine  ausgeprägt  französische 
Kanzleischrift  so  stark  von  unseren  Vitellius-Kopisten  ab,  daß 
wir  letztere  früher  anzusetzen  bestrebt  sein  werden.^) 

Einen  zweiten  Anhaltspunkt  für  die  Datierung  könnte 
vielleicht  der  Sprachstand  abgeben,  den  wir  aus  den  Disser- 
tationen von  W.  H.  HuLME,  Die  Sprache  der  altenglischen 
Bearbeitung  der  Soliloquien  Augustins  (Freiburg  1894)  und 
Aug.  Schmitt,  Die  Sprache  der  altenglischen  Bearbeitung  des 


i)  Siehe  das  lithographierte  Faksimile  von  fol.  la  bei  Thobpe, 
The  Anglo-Saxon  Chronicle  (London  1861)  I,  Tafel  V. 

2)  Vgl.  bei  W.  Keller,  Angelsächsische  Paläographie  (Berlin  1906) 
Tafel  XII  das  treffliche  Faksimile  von  fol.  88  b,  wo  die  beiden  letzten 
Schreiber  miteinander  wechseln. 

3)  Da  sie  nicht  französische  Kanzleischrift  schreiben,  können  Ä 
und  B  aach  keine  Normannen  gewesen  sein,  wie  man  etwa  mit  Rück- 
sicht auf  ihre  zahlreichen  Schreibfehler  vermuten  könnte. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  51 

Evangeliums  Nicodemi  (München  1905)  tiberschauen  können. 
Aus  diesen  Materialsammlungen  ergibt  sich,  daß  der  Schreiber 
Ä  und  um  vieles  mehr  noch  der  Schreiber  B  eine  verhält- 
nismäßig archaische  Sprachform  aufweisen,  verglichen  mit  dem, 
was  wir  sonst  über  das  Englische  der  ersten  Hälfte  des  1 2.  Jahr- 
hunderts wissen,  z.  B.  aus  den  Peterborougher  Annalen^)  und 
selbst  den  konservativeren  Texten"'')  von  Vespasianus  D.  XIV. 
Aber  dieser  altertümliche  Zustand  der  Sprache^)  erklärt  sich 
sehr  einfach  daraus,  daß  beide  Schreiber  Vorlagen  des  1 1 .  Jahr- 
hunderts kopierten  und  diese  im  allgemeinen  genau  wieder- 
zugeben bemüht  waren.  Aber  dennoch  bricht  bei  beiden  hier 
und  da  die  fortgeschrittene  Lautung  ihrer  eigenen  Aussprache 
hindurch.  Namentlich  ist  das  bei  dem  ersten  Schreiber  der 
Fall,  der  schon  die  im  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  in  Süd- 
england beginnende  Verdumpfung  von  ae.  ä  zu  me.  0  graphisch 
zum  Ausdruck  bringt  und  bereits  mehrmals  me.  a  für  ae.  ce 
hat  (s.  die  Beispiele  oben  S.  25).  Das  mittelenglische  Ver- 
stummen des  flexivischen  -n  haben  wir  bei  Ä  in  den  Infini- 
tiven lufia  iQ^**,  forlete  13^  und  in  den  Partizipien  ^esewe  'ge- 


i)  Vgl.  0.  Behm,  The  Language  of  the  Later  Part  of  the  Peter- 
borough  Chronicle  (Gotenbnrg  1884)  und  Heink.  Meyer,  Zur  Sprache 
der  jüngeren  Teile  der  Chronik  von  Peterborough  (Jena  1889). 

2)  Vgl.  K.  Glaeser,  Lautlehre  der  iElfi-icschen  Homilien  in  der 
Handschrift  Cotton  Vespasianus  D.  XIV  (Leipzig  19 16);  Straub,  Laut- 
lehre der  jungen  Nicodemns- Version  in  Vesp.  D.  XIV  (Würzburg  1908); 
Vance,  Der  spätangelsächsiscbe  Sermo  in  Pestis  S.  Mariae  (Jena  1894); 
M.  Förster,  Two  Notes  on  Old  English  Dialogue  Literature  (im  Furni- 
vall  Miscellany,  Oxford  1901,  S.  93  —  loi);  J.  Nehab,  Der  altenglische  Cato 
(Berlin  1879)  S.  32 — 41.  —  Man  vergleiche  auch  die  wenig  jüngeren 
Abschriften  in  Harleian  6258  (Peri  didaxeon  ed.  Löwenkck,  Erlangen 
1896;  Herbarium  Apuleii  ed.  Berberich,  Heidelberg  1902,  und  dazu 
M.  Förster,  Ltbl.  13,  285 — 29 1;  Medicina  de  Quadrupedibus  ed.  J.  Dkl- 
coüRT,  Heidelberg  1914)  sowie  die  englische  Glosse  des  Canterbury- 
Psaltera  (vgl.  Hein,  Die  Sprache  der  altenglischen  Glosse  zu  Eadwine'a 
Canterbury  Psalter,  Würzburg  1903). 

3)  Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  dem  zwischen  1120 — 1150 
geschriebenen  Textus  Roffensis ;  vgl.  W.  Göbnemann,  Zur  Sprache  des 
Textus  Roffensis  (Berlin  1901). 

4* 


52  Max  Föhstbu:  [71, 4 

■eben'  44'*,  hejyte  ^erlangt'  2^''  und  lesceape  'geschaffen'  63*^; 
beim  Schreiber  7>*  in  den  Infinitiven  hydda  489"  und  speca 
481*^,  den  n-Pluralen  -y^oda  483*,  Jicofclica  [so!]  505",  wyte-^a 
481^'  und  schwachen  Singuhirformen  eorl)a  (D.)  473®,  lychama 
{A)  493^',  nama  (D.)  487^-,  onhani^ena  (D.)  487**,  sylfa  (D.) 
513*^,  deuua  (A.)  473^  ßstra  (D.)  497",  wiöerwinna  {A) 
501^^  und  in  den  Präterital-Pluralen  andswarode  (3x),  cüöe 
475*,  eof/e  495^'■*^  iefaieno-^,de  [so!]  491**,  wy.sYe  485"^  sceolde 
499'*,  sollte  483^,  7<oWc  483'-^^.  Und  daß  der  Schreiber  B  auch 
da  das  End  -n  nicht  sprach,  wo  er  es  schrieb,  beweisen  seine 
falschen  singuLarischen  Präterital- Formen^)  auf  -on  für  rich- 
tiges -e:  ähen^on  (2.  s.  g.  opt.  praet.)  Mu  erhängtest'  507^*,  lia- 
fodon  'er  hatte'  489^,  495^-^®,  sceoldon  'er  sollte'  499^,  sceolden 
'ich  sollte'  515^^,  specon  'du  sprachst'  503^°,  weron  'er  wäre' 
475^^,  489^',  leto-^on  für  ^etu-^e  50  r'',  sowie  die  schwachen  Sin- 
gular-Nominative auf  falsches  -an  statt  -a,  wie  hereto^an  499'*, 
natnan  481^*,  yldestan  4872''  und  heofonlican  507 '^  Die  volleren 
Schwachton- Vokale  sind  wohl  durchweg  bei  beiden  Schreibern 
schon  zu  -e-  reduziert,  wenn  daneben  auch  ebenso  oft  noch 
die  alten  -a  und  -0-  in  der  Schrift  beibehalten  sind:  Reduk- 
tion zeigen  bei  A  die  as- Plurale  deorlin^es  65^^,  hläfordes  61^^ 
und  läötewes  [so!]  45'*  sowie  die  Infinitive  forläten  2^^,  je- 
healden  4^,  ^ehäten  ^2^^,  ^etecen  2^^,  reden  50^,  secjen  49^°;  bei 
B  die  Plural-Dative  preosten  483^°,  öissen  'diesen'  481^^  und 
die  indikativischen  Präterital- Plurale^)  ahen-^en  487^,  cUöen 
477^^,  dypoden  497^^  i^eheolden  509*,  nolden  501^^,  s^rfm  479*^ 
sceolden  497^^,  505^  T^esomnoden  485^  wolden  513^*,  weolden 
'wollten'  495^^  Umgekehrt^)  hat  £  falsches  -ow  oder  -«w, 
-aw  und  selbst  -aw  für  -en  in  den  Partizipien  leboronne 
477^^5  fundon  491^",  T,especon  495^^,  ä^ojow  499^,  öurhfaron 
491^,  lewordon  (7X',  Schmitt  S.  116)  und  -^eweordun  'gewor- 
den' 487^^   Die  Diphthong-Entwicklung  vor  Palatalen  bringt 

i)  Solche  Formen  scheinen  bei  A  nicht  vorzukommen. 

2)  485 *^  wo  HüLME  mosten  druckt,  liest  die  Handschrift  aber  moston. 

3)  Auch   diese  umgekehrten  Schreibungen   scheinen  bei  A   nicht 
vorzukommen. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  53 

der  Schreiber  Ä  bereits  graphisch  zum  Ausdruck  in  seije  'sage' 
(Imp.)  14^^  bei;^ra  'beider'  25^^,  smei^an  'erforschen'  53^°,  wei^ 
'Weg'  (8x),  meihte  'mochte'  i^-'  und  gereihte  'erklärt'  66^1  Alles 
dies  sind  fortschrittliche  Lauterscheinungen,  die,  wenn  sie  ver- 
einzelt auch  schon  etwas  früher  vorkommen  mögen,  in  ihrer 
Gesamtheit  und  Häufigkeit  doch  klar  aufs  12.  Jahrhundert 
verweisen.  Auch  vom  sprachlichen  Standpunkte  läßt  sich  also 
nichts  einwenden  gegen  unsere  paläographische  Datierung  der 
Handschrift  I  auf  das  zweite  Viertel  des   12.  Jahrhunderts. 

Nach  dem  Vorstehenden  kann  weder  vom  chronologischen 
noch  von  sprachlichen  Gesichtspunkten  Einspruch  erhoben 
werden  gegen  die  Annahme,  daß  unser  Manuskript  I  in  dem 
1133  gegründeten  Chorherrnstift  St.  Mary  zu  South  wick  in  Hamp- 
shire geschrieben  ist,  wo  es  sich  nachweislich  um  1300  befand. 

§  5.   Herkunft  der  Haudschriftenteile. 

Über  die  Herkunft  des  Kodex  ist  wenig  zu  sagen.  Die 
Handschrift  I  trägt  eine  Notiz,  die  uns  den  Aufenthaltsort 
derselben  um  1300  verrät.  Auf  dem  unteren  Seitenrand  von 
fol.  5*  hat  nämlich  ein  Schreiber  des  beginnenden  14.  Jahr- 
hunderts folgenden  Eigentumsvermerk ^)  gesetzt: 


1)  Vgl.  den  ähnlichen  Eigentumsvermerk  mit  Warnung  in  einem 
Amalarius- Kodex  des  11.  .Jahrhunderts  im  Trinity  College,  Cambridge: 
Hunc  librum  dat  Leofricus  episcopus  ecclesie  sancti  Petri  apostoli  in 
Ex(^onia  ad  se}dem  suam  episcopalem  pro  remedio  anime  sue  ad  utili- 
tntem  successorum  su<^orum;  si  quisy  autem  illum  inde  abstulerit,  per- 
petue  maledictioni  subiaceat.  Fiat.  —  £)as  boc  gif{^dy  Leofric  b.  into 
Kce  Petres  minstre  on  Exanceastre,  pcer  his  biscopstöl  is,  his  afterfilgen- 
dum  to  nitweord^nysse;  and  gif  hig  hwa  ut-eetbrede,  hcebbe  he  ece  geni&e- 
runge  mid  eallum  deoflum.  Amen  (M.  R.  James,  The  Western  Manuscripts 
in  the  Library  of  Trinity  College,  Cambridge,  I  Nr.  241);  oder  in  einer 
Handschrift  der  Ancren  Riwle  (C.  C.  C.  Cambr.  S.  15)  bei  Wanley  S.  14Q: 
Liber  ecclesice  sancti  lacobi  de  Wigemore,  cpiem  Johannes  Purcel  dedit 
eidem  ecclesitB  ad  instanciam  fratris  Walteri  de  Lodelle  senioris  tunc 
precentoris.  Si  quis  dictum  librum  alienaverit  a  prcedicta  ecclesia  uel 
titulum  hunc  malitiose  deleuerit,  anathema  Sit.  Amen.  Fiat,  fiat,  fiat. 
Amen;  oder  in  einem  Oxforder  Kodex  (Wamley  S.  152):  Liber  s.  Marie 


54  Max  Förstkk:  [71, 4 

Hie  liber  est  Eccle»ie  beate  Marie  de  Suwika.  Quem  qui  ab  eadein 
abstulerit,  vel  iitulum  istum  dolose  delruorit,  nie/  eidem  Ecchaiecotid::::^) 
satisfcccrit,  sit  Anathema,  Maravatha,  fiat,  fiat.  Amen,  Amen. 

Das  obige  Suwika  ist  offenbar  eine  latinisierte  anglo- 
normaunischo    Nebenform^)    für    ae.    Siidw'ic,    ne.    Southwick. 


de  Ponte  Boberti;  qui  eutn  abstulerit  aut  vendiderit  vel  quoUbet  modo 
ab  hac  dotno  alienavcrit  vel  quamlibet  eiu.t  partem  abfciderit ,  sit  Ana- 
tliema,  Maranatha.  Amen.  Englische  Schulknabon  pflegen  noch  heut- 
zutage solche  im  Internats-Milieu  nicht  unnützlichen  Vermerke  in  ihre 
Bücher  einzutragen,  wie  z.B.  "Note  carefuVy:  Black  is  the  crow,  blacker 
is  the  rook,  But  blackest  is  the  boy  who  bags  tJiis  book;  For  when  I  am 
dead,  my  ghost  tvill  say,  Where  is  that  book  you  took  aivay."  Vgl.  die 
ähnlichen  Warnungen  bei  Wattenbach,   Schriftwesen  des   Mittelalters 

(» 1896)  s.  527-534. 

i)  Der  zweite  Teil  des  Wortes  ist  mit  Glaspapier  überklebt.  Die 
Handschrift  las  vermutlich  condigne  Vollwertig'.  Cockayne,  der  obigen 
Eigentumsvermerk  in  seinem  'Shrine'  (1864 — 69)  S.  164  abgedruckt  hat, 
läßt  merkwürdigerweise  das  Wort  ganz  weg,  wie  er  auch  fälschlich 
Euertoika  statt  Smvika  druckt.  —  Da  das  einzige  in  einer  öfiFentlichen 
deutschen  Bibliothek  vorhandene  Exemplar  des  sehr  seltenen  '^Shrine' 
sich  in  Straßburg  befindet  und  nun  vielleicht  in  französische  Hände 
übergehen  wird,  will  ich  bemerken,  daß  Wülkers  Exemplar  sich  in 
meinem  Besitz  befindet. 

2)  Das  ae.  ]>,  ff  ist  häutig  in  anglo-normannischem  Munde  ver- 
stummt (R.  E.  Zachrisson,  A  Cohtribution  to  the  Study  of  Anglo-Norman 
Influence  on  English  Place-Names,  Lund  1909,  S.  82 — 114).  So  erscheint 
unser  obiges  Southwick  in  Hampshire  in  Urkunden  des  12.  uud  13.  Jhs. 
als  Suwice,  Sutvick  (Zachrisson  S.  84).  Ein  davon  verschiedenes  South- 
wick [sprich  sa-dfik]  in  Sussex  wird  in  der  Testa  de  Neville'  (E.  13. 
Jh.)  mehrmals  als  Suwyk  geschrieben  (R.  G.  Robert.s  ,  Place-Names  of 
Sussex,  Cambridge  1914,  S.  147).  Ebenso  haben  wir  für  Southwark  in 
Urkunden  des  12.  und  13.  Jhs.  des  öfteren  Suwerk  (Zachrisson  S.  84), 
für  Southwell  in  Urkunden  des  13.  und  14.  Jhs.  Suivell  (Zachrisson 
S.  84;  H.  Mutschmann,  Place-Names  of  Nottinghamshire,  Cambridge 
1913,  S.  126),  für  Southampton  um  1175  die  Form  Suliantune  (J.  B. 
Johnston,  The  Place-Names  of  England  and  Wales,  London  19 15,  S. 
451),  für  Southoe  im  'Red  Book  of  the  Exchequer'  die  Form  Suho 
(W.  Skkat,  Place-Names  of  Huntingdonshire  in  'Proceedings  of  the 
Cambridge  Antiquarian  Society'  I904,"X  329).  Ähnlich  fehlt  das  th  in 
anglo-normannischen  Nebenformen  für  Namen  mit  ae.  »wm^,  hyp,  hdep, 
rip,  wrcep,  wippe  u.  a.  m.    Mutschmann   S.  126  hat  den  Verlust  des  th 


71,4]  Die  Beowulf-Handscilript.  55 

Gemeint  ist  jedenfalls  damit,  wie  schon  Cockayne  S.  204  er- 
kannte, das  Augustiner- Chorherrnstift  St.  Mary  zu  Southwick 
in  Hampshire,  welches  11 33  von  dem  nahen,  ebenfalls  zur  Diö- 
zese Winchester  gehörenden  Porchester  hierher  transferiert 
war.  Aus  demselben  Kloster  stammt  eine  andere  Cottonische 
.Handschrift,  das  leider  fast  ganz  verbrannte  Ms.  Otho  B. 
XI,  welches  u.  a.  die  altenglischen  Annalen  und  die  Gesetze 
iELFREDs  und  Ines  enthielt  und  um  1025  geschrieben  sein 
mochte.  Dies  macht  es  wahrscheinlich,  daß  beide  Hand- 
schriften zusammen  direkt  aus  dem  Kloster  bald  nach  seiner 
Säkularisation  in  die  Sammlung  Sir  Robert  Cottons  ge- 
kommen sind. 

Aus  dem  obigen  Eigentumsvermerk  ergibt  sich  also,  daß 
die  Soliloquien- Handschrift  um  die  Wende  des  13.  Jahr- 
hunderts in  dem  Hampshire-Kloster  Southwick  gewesen  ist 
Ob  sie  dort  auch  entstanden  ist,  läßt  sich  nicht  mit  Sicher- 
heit sagen.  Eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  spricht  immer- 
hin dafür,  daß  damals  bei  dem  geringeren  Verkehrsaustausch 
eine  Handschrift  150  Jahre  nach  ihrer  Entstehung  noch  an 
dem  Ort  ihres  Ursprungs  geblieben  ist.  Jedenfalls  stehen 
weder  chronologische  noch  sprachliche  Schwierigkeiten  dem 
entgegen,  daß  wirklich  die  Handschrift  I,  welche  also  die 
Soliloquien,  den  Nicodemus,  Salomon  und  Saturn  sowie  das 
Quintinus- Fragment  enthält,  etwa  um  1133  — 1150  in  dem 
Augustiner-Kanonikat  zu  Southwick^)  geschrieben  ist. 


als  lautgesetzlichen  Vorgang  vor  w  gedeutet  und  mit  dem  gelegent- 
lichen sou'-wester  (NED)  in  Parallele  gesetzt.  Aber  einmal  tritt  der 
Ausfall  von  p  auch  vor  anderen  Konsonanten  (Hörn  §  201 ;  Jesperskn, 
Gr.  I  227)  auf;  und  vor  allem  scheint  Zachrissons  überreiches  Orts- 
namen-Material doch  zu  beweisen,  daß  es  sich  bei  Suivik  um  eine  anglo- 
normannische  Aussprache  handelt.  Wie  Zacheisson  gut  auseinander- 
setzt,, besaß  das  Normannische  eine  Spirans  J5,  df  für  lat.  t,  d;  und  als 
diese  seit  ca.  iioo  in  romanischen  Wörtern  verstummte,  wurde  diese 
Aussprache  von  den  Anglo  -  Normannen  vielfach  auch  aufs  Englische 
übertragen. 

1)  Vergleiche  über  diese  Priorei  W.  Dugdalb,  Monasticon  Angli- 
canum  (i 846)  VI  S.  243  ff. ;  Th.  Tannek,  Notitia  Monastica  (Oxford  1695)  S.  79. 


5<J  Max  Föusteii:  [7',  4 

Über  die  II.  Handschrift,  die  außer  anderen  den  Beowulf  und 
die  Judith  euthiilt,  läßt  sich  nur  sagen,  daß  sie  in  Sliakespeares 
Kindertagen  sich  im  Besitz  des  rühmliclist  bekannten  Anti- 
quars und  angelsächsischen  Philologen  Lawuknce  Nowkll*) 
(ca.  1520  —  157t))  befunden  hat.  Denn  sie  enthält  auf  dem 
oberen  Rande  der  ersten  Seite,  der  heutigen  fol.  96 •,  den  in 
einer  Hand  des  16.  Jahrlmnderts  gemachten  Vermerk:  "Lau- 
rencc  NoucM  a.  1563"^),  der  wahrscheinlich  vom  P]igentümer 
selbst  herrührt.  Die  Jahreszahl  bezeichnet  vermutlich  das 
Datum,  wann  die  Handschrift  in  Nowells  Besitz  gelangte. 
Damals  war  NowELL,  der  in  Whalley  in  Lancashire  geboren 
und  an  der  Lateinschule  von  Sutton  Coldfield  in  Warwick 
(seit  1546)  Lehrer  gewesen  war,  Archidiakon  von  Derby  (seit 
1558)  und  zugleich  Dechant  von  Lichfield  (seit  1563).  Sein 
Interesse  für  das  Altenglische  zeigt  sich  nicht  nur  darin,  daß 
er  das  erste  angelsächsische  Wörterbuch^)  verfaßte  und  mehr- 
fach angelsächsische  Texte  kopierte^),  sondern  auch  darin, 
daß  er  seinen  Schüler  und  Freund  William  Lambarde 
(1536 — 1601)  zu  einer  Ausgabe  der  angelsächsischen  Gesetze 
anregte,  die  1568  in  London  erschien.  Bald  nach  seinem  Tode 
(1576)  ist  das  meiste  von  seinem  handschriftlichen  Nachlaßt) 
und  damit  wohl  auch  das  Beowulf-Manuskript  in  die  Samm- 
lung Sir  Robert  CottoiJs  gelangt.  Es  ist  sonach  nicht  das 
kleinste  von  Nowells  Verdiensten  um  die  altenglischen 
Studien,   daß  wir  seinem  antiquarischen  Eifer  die  Erhaltung 


i)  Vgl.  über  ihn  William  Hunt  im  Dictionary  of  National  Bio- 
graphy  »XIV,  69  5  f. 

2)  Heute  ist  die  letzte  Zahl  3  mit  Glaspapier  überklebt,  jedoch 
ist  das  ganze  Datum  daneben  auf  den  Papierrahmen  von  Waenkrs 
Hand  mit  Bleistift  als  "1563"  wiederholt. 

3)  Aus  Will.  Lambakdes  (f  1601),  Somners  (f  1669)  und  J.  Seldens 
(f  1654)  Besitz  gelangte  dasselbe  in  die  Bodleiana,  wo  es  die  Signa- 
tur 'Seiden  supra  63'  (Wanlev  S.  102)  trägt.  Ebendort  findet  sich  auch 
Fr.  JuNius'  Abschrift  daraus  (Jüniüs  Ms.  26). 

4)  Vgl.  seine  Abschriften  oder  Notizen  in  den  Cotton  Mss.  Vesp. 
A.  V,  Vitell.  D.  VII  und  Domit.  A.  XVIII. 

5)  S.  die  vorhergehende  Anmerkung. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  57 

der  kostbarsten  Handschrift  und  des  wertvollsten  Denkmales 
der  altenglischen  Literatur  zu  verdanken  haben. 

Woher  Nowell  die  Handschrift  erhalten  hat,  läßt  sich 
nicht  sagen.  Wenn  wir  den  wahrscheinlichsten  Fall  andeuten 
sollen,  so  wäre  es  wohl  der,  daß  er  die  Handschrift  aus 
irgendeinem  der  kurz  vorher  aufgelösten  Klöster  seiner  näheren 
Umgebung,  also  sagen  wir  etwa  der  Diözee  Lichfield  erhalten 
hat,  die  damals  einen  beträchtlichen  Teil  des  ehemaligen 
Mercien  umschloß.  Da  aber  Nowell  mit  Will.  Lambarde 
eng  befreundet  war,  der  aus  Kent  stammte,  dort  begütert 
war  und  später  Archivar  am  Tower  wurde,  mag  die  Hand- 
schrift auch  aus  Südengland  stammen. 

Aus  dem  sprachlichen  Charakter  der  Beowulf-Handschrift, 
der  im  wesentlichen  die  jüngere  westsächsische  Schulortho- 
graphie mit  einigen  anscheinend  dialektischen  Beimischungen 
aufweist  —  also  dieselbe  uneinheitliche  Sprachform  ^) ,  die 
wir  auch  im  Vercelli- Kodex  sowie  in  den  im  Marienkloster 
zu  Worcester  geschriebenen  Handschriften  finden  — ,  wird 
man  bei  dem  jetzigen  .Zustande  der  altenglischen  Dialekt- 
forschung^) wenig  für  die  Herkunftsfrage  folgern  können,  zu- 
mal man  nicht  weiß,  wie  weit  nach  Norden  um  1000  die 
westsächsische  Schulorthographie  vorgedrungen  war.  Erst 
eine  gründliche  Schallanaljse  der  Texte  wird  uns  Licht  über 
diese  Fragen  bringen  und  dann  wahrscheinlich  doch  auch  die 
Entstehung  der  Handschrift  H  nach  Südengland  verlegen. 

§  6.   Die  Geschichte  des  Kodex. 

Wie  wir  im  vorigen  Paragraphen  sahen,  besteht  der 
Vitellius- Kodex  aus  zwei   Handschriften,  deren  erste,   gegen 

i)  Vgl.  M.  Förster,  Vercelli  -  Codex  (1913)  S.  32ff.;  H.  Ddnkhase, 
Die  Sprache  der  Wulfstanschen  Homilien  in  Wulfgeats  Handschriften 
(Jena  1906);  J.  Weightman,  The  Language  and  Dialect  of  the  later 
Old  English  Poetry  (Liverpool  1907).  Zur  Fra^e  der  epischen  Dialekt- 
mischung  vgl.  A.  Leskien,  Über  Dialektmischung  in  der  serbischen 
Volkspoesie  (Sitz.-Her.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  62,  129—160,  Leipzig  1910). 

2)  Vgl.  oben  S.  32  f. 


5^  Max  Föksteu:  [7I.4 

die  Mitte  des  i^.  -lalirhuiiderts  geschrieben,  aus  einem  süd- 
euglischeii  Kloster,  wahrscheinlich  St.  Mary  in  Sonthwick 
(Hampshire),  stannnt,  während  die  zweite,  in  den  letzten  De- 
zennien des  lo.  Jahrhunderts  geschrieben,  aus  dem  Besitze 
des  Lichfielder  Geistlichen  und  Gelehrten  Lawrence  Noweli. 
(t  157^)  herrührte. 

Im  zweiten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  finden  wir  beide 
Handschriften  zu  einem  Bande  vereinigt  in  der  Bibliothek 
des  berühmten  Altertumssammlers  Sir  Uohert  Cotton  (1571 
bis  1631),  der  seit  1588  Material  für  eine  Geschichte  Eng- 
lands gesammelt  und  mit  Hilfe  seines  Lehrers  William 
Camden  (f  1623)  und  Henry  Spelmans  (f  1641)  an  die  looo 
Handschriften  und  Urkunden  zusammengebracht  hatte.  Wann 
und  auf  welchem  Wege  die  beiden  Handschriften  in  den  Jie- 
sitz  Sir  Robert  Cottons  gekommen  sind,  ist  uicht  mehr 
auszumachen. 

Einmal  in  die  Bibliothek  Sir  Robert  Cottons  gelangt, 
hat  der  Kodex  die  Schicksale  der  Cottonischen  Büchersamm- 
lung bis  auf  den  heutigen  Tag  geteilt.  Von  Ende  des  16. 
oder  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre  17 12  be- 
fand er  sich  in  Sir  Roberts  Stadthaus  an  der  Themse  in 
Westminster  —  da,  wo  heute  das  Parlamentsgebäude  steht. 
Dort  in  dem  Bücherschrank  untergebracht,  auf  dem  die  Büste 
des  römischen  Kaisers  Vitellius  stand,  erhielt  er  seine  noch 
heute  gültige  Bibliotheksbezeichnung  Vitellius  A.  XV,  die 
angibt,  daß  er  in  der  obersten  Reihe  des  Vitellius- Schranks 
an  15.  Stelle  steht.  Der  Ruhm  der  Privat-Bibliothek  im  Cot- 
ton House,  die  von  Sir  Robert  an  seinen  Sohn  und  seinen 
Enkel,  Sir  Thomas  Cotton  (f  1662)  und  Sir  John  Cotton 
(j  1702),  überging,  verbreitete  sich  so  schnell,  daß  bald  hei- 
mische und  auswärtige  Gelehrte  um  die  Benutzung  derselben 
nachsuchten.  So  hat  auch  der  bekannte  Philologe  Franciscus 
JuNlUS  (1589  — 1677)  während  seines  Aufenthaltes  in  Eng- 
land (1621  — 1651)   imseren  Kodex   dort  benutzt')   und  zwei 

i)  Nicht  dafür  in  Betracht  kommen  die  Jahre  1629  bis  ca.  1632, 
während  welcher  Zeit   die  Bibliothek   aus  politischen  Gründen  seibat 


71,4)  Die  Beowulf-Handschhift.  59 

Texte,  die  Soliloquien-Version  (jetzt  in  Oxford  als  Ms,  Juu. 
70)  sowie  das  Judith-Epos  (jetzt  Jun.  105),  daraus  abge- 
schrieben und  einen  dritten,  das  Nicodemus-Evangelium,  mit 
seiner  Abschrift  der  älteren  Cambridger  Handschrift  kolla- 
tioniert. Durch  JuNius'  Kopien  gelangte  das  erste  Denkmal 
aus  unserem  Kodex  an  die  ÖflFentlichkeit,  nämlich  die  damals 
für  Prosa  gehaltene  Judith,  welche  Thwaites  1698  in  seinem 
*Heptateuchus'  abdi-uckte.')  Zwei  Jahre  vorher  war  die  Welt 
über  den  Inhalt  der  Cottonischen  Handschriften  durch  den 
ersten  gedruckten  Katalog  derselben  von  Thomas  Smith  (1696), 
wenn  auch  nur  oberflächlich,  orientiert  worden.  Über  den 
angelsächsischen  Bestandteil  der  Sammlung,  89  Handschriften 
und  42  Urkunden,  erhielt  man  bald  darauf  wesentlich  ausführ- 
lichere Kunde  durch  Wanleys  bekannten  Catalogus  (1705)- 
Hier  erfuhr  man  zuerst,  daß  unser  Vitellius-Kodex  auch  zwei 
Dichtungen  enthielt,  nämlich  die  beiden  Epen  über  Beowulf 
und  Judith.  Damit  war  die  Existenz  des  größten  altgerma- 
nischen Volksepos  entdeckt,  wenn  es  auch  noch  über  100 
Jahre  dauern  sollte,  bis  die  gelehrte  Welt  den  Text  selbst 
vorgelegt  erhielt. 

Inzwischen  hatte  im  Jahre    1700  der  dritte  Besitzer  der 
Bibliothek,  Sir  John   Cotton,   den   Schritt  getan,    der    die 

dem  Eigentümer  gegenüber  von  Staats  wegen  versiegelt  war.  Es  muß 
allerdings  auch  damit  gerechnet  werden,  daß  Juniüs  erst  während 
seines  zweiten  englischen  Aufenthaltes  (1674 — 77),  also  kurz  vor  seinem 
Tode,  jene  Abschriften  und  Kollationen  hergestellt  hat.  Auch  wann 
JüKius  die  Cotton-Handschrift  des  Heliand  abgeschrieben  hat,  läßt  sich 
nicht  genau  sagen.  Dagegen  hat  er  sicher  die  s.  g.  Csedmon-Dichtungen 
während  seines  ersten  englischen  Aufenthaltes  abgeschrieben,  da  seine 
Ausgabe  derselben  schon  1655  im  Druck  erschien.  —  Vgl.  über  Jumua 
W.  Wboth  in  Dictionary  of  National  Biography  *X  iiisf« 

i)  Edward  Thwaites  druckte  das  Gedicht  wie  Prosa  im  Anhang 
zu  seinem  'Heptateuchus,  Liber  Job,  et  Evangelium  Nicodemi;  Anglo- 
Saxonice.  Historise  Judith  Fragmentum;  Dano-Saxonice'  (Oxford  1698), 
App.  S.  21 — 26.  Über  seine  Vorlage  bemerkt  Thwaites  App.  S.  32: 
...  magnum  illud  linguae  Änglo-Saxonicae  oraculum  Franciscus  Junius. 
Cuius  etiam  cura  et  labore  illud  fragmentum  historiae  Judith  ex  Biblio- 
theca  Cottoniana  descriptum  fuit. 


6o  Max  Vöustkii:  [7^4 

Cottonische  Privatbibliothck  7,11111  Natinnaleigontnin  machte. 
Freilich  währte  es  noch  ein  hall)es  .hihrhnndert,  bis  die 
Bibliothek  tatsächlich  eine  öifentlich  /,U}^ängliehe  wurde,  /u- 
näehst  beließ  man  die  Rücher  im  ('otton  Mouee,  obschon 
dieses  dafür  schon  170O  für  ungeeignet  erklärt  war  und  1707 
(hirch  Parlanientsbeschluß  ein  Neubau  (hifür  geplant  wurde. 
SchlieBlieh  sah  man  sich  dureh  die  Raufillligkeit  des  Cotton- 
schen  Hauses  genötigt,  die  Bibliothek  im  Essex  Houee  im 
Strand,  unterzubringen,  wo  sie  von  1712— 1730  verblieb. 
Von  hier  gelangte  sie  1730  zusammen  mit  der  Königlichen 
Bibliothek  in  das  für  diesen  Zweck  erworbene  Ashburnham 
House  in  Little  Dean's  Yard  in  Westminster.  Hier  erlebte 
sie  in  der  Nacht  zum  2^.  Oktober  1731  jene  furchtbare 
Feuersbrunst,  welche  1 14  von  den  958  Handschriften  völlig 
zerstörte  und  q8  mehr  oder  weniger  stark  beschädigte^),  wie 
in  einem  eigenen  Parlamentsberichte  ^)  dem  englischen  Volke 
dargelegt  wurde.  Unser  Vitellius- Kodex  gehörte  glücklicher- 
weise zu  den  geretteten:  er  wurde  nicht  vom  Feuer  direkt 
ergrifiFen,  jedoch  wurden  die  Ränder  der  Blätter,  wohl  infolge 
der  Brandhitze,  stark  versengt,  so  daß  sie  brüchig  wurden  und 
tatsächlich,  namentlich  in  der  zweiten  Hälfte  des  Kodex,  bis 
hart  an  den  Schriftspiegel  und  manchmal  in  diesen  hinein 
völlig  abgebröckelt  sind. 

Was    dem    Feuer    entging,    wurde    in    der   nahen  West- 
minster-Schule    untergebracht,    wo    die    Bibliothek    27   Jahre 


i)  Zu  den  teilweise  verbrannten  altenglischen  Handschriften  ge- 
hören z.  B.  JClfreds  Cura  Pastoralis  in  Tib.  B.  XI,  ^I^lfreds  ßoethius  in 
Otho  A.  VI,  die  Homiliensammlung  mit  dem  Runenlied  in  Otho  ß.  X, 
die  Beda -Version  und  die  ae.  Annalen  in  Otho  B.  XI,  das  ws.  Ponti- 
fikal  Vit.  A.  VII,  die  ürkundensammlung  Vit.  E.  Y  und  die  ae.  Gebete 
in  Galba  A.  XIV.  Gänzlich  verbrannt  sind  Otho  A.  X  (ae.  Gesetze), 
Otho  A.  XVI  (Tripartita),  Otho  A.  XII  (ByrhtnoS)  und  Galba  A.  XIX 
(^Ifred's  Sprüche). 

2)  Report  to  the  House  of  Commons  by  a  Committee  appointed  to 
enquire  into  the  losa,  which  the  Cottonian  Library  sustained  through 
the  fire  at  Westminster  on  the  23"*  of  October,  1731  (Folio)  [in  Deutsch- 
land unzugänglich]. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  6i 

lang  verblieb.  Erst  1759,  nachdem  die  Gründung  eines  öffent- 
lichen Museums  durch  Parlamentsakte  von  1753  beschlossen 
war  fand  sie  Unterkunft  in  dem  dafür  ausersehenen  Montagu 
House  in  Bloomsbury,  welches  in  den  Jahren  1823 — 1855 
durch  die  jetzigen  Gebäude  des  Britischen  Museums  er- 
setzt ist. 

Die  durch  den  Brand  von  1731  beschädigten  Hand- 
schriften wurden  sofort,  wesentlich  auf  Betreiben^)  des  be- 
kannten Parlamentariers  Arthur  Onslow  (1691 — 1768),  einer 
fürsorglichen  Ausbesserung  unterzogen.  Etwas  Nachhaltiges 
in  dieser  Hinsicht  wurde  aber  erst  in  den  40  er,  50  er  und 
60er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  unter  der  Leitung  des 
trefflichen  Paläographen  Sir  Frederic  Madden  (1801  — 1873) 
getan,  dem  die  Handschriftenabteilung  des  Britischen  Museums 
seit  1837  unterstand.  Damals  —  wohl  zwischen  1860  und 
1870  (vgl.  oben  S.  11)  —  ist  auch  unser  Beowulf-Kodex  end- 
gültig vor  weiterer  Zerstörung  geschützt  worden,  dadurch, 
daß  die  einzelnen  Blätter  in  einen  Papierrahmen  mittels 
Glaspapier  eingesetzt  wurden.  Gleichzeitig  ist  eine  Umord- 
nung  der  falsch  stehenden  Blätter  und  Lagen  vorgenommen 
und  der  ganze  Kodex  in  einen  neuen  Einband  gesetzt.^) 

Die  Benutzung  der  Handschrift  setzte,  wie  schon  be- 
merkt (S.  58),  im  zweiten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  mit 
Franciscus  Junius  ein,  dessen  Abschriften  daraus  1698  von 
Thwaites  verwertet  wurden.  Das  damals  für  das  Angelsäch- 
sische erregte  Interesse  führte  noch  zur  Veröffentlichung 
einer  Inhaltsangabe  des  Kodex  in  Wanleys  Katalog  (1705). 
Dann  ruhte   die   Handschrift  fast  ein  Jahrhundert  lang   un- 


i)  So  nach  H.  C.  Shelley,  The  British  Museum  (London  191 1) 
S.  49  f.  Über  Onslow  vergleiche  G.  F.  R.  Bakker  im  Dict.  of  Nat.  Bio- 
graphy  *XIV  11 10  ff. 

2)  Als  E.  Sievers  1871  die  Handschrift  kollationierte,  war  das 
Einsetzen  der  Pergamentblätter  in  den  Papierrahmen  schon  vorge- 
nommen. R.  W.  Chambers  (Beowulf,  19 14,  S.  X  Anm.  2)  sagt  darüber: 
More  than  thirty  [richtiger  fourty']  years  ago,  further  destruction  was 
prevented  by  the  31S.  being  rebotmd,  and  the  parchment  inset. 


62  Max  F(>iistkk:  f7i,4 

beai'litet,  du  die  fniiizöselnde   Ilofkultur  der    Aufkläiun<^s7,('it 
keinen  Autoil   an   der  lieimischen   V^er^an^eiiheit  niilini.     Dies 
wurde   erst   anders    mit   den    immer   stärker   werdenden    Htrö- 
munjreu  der  Romuntik,  die  aber  j^enide  in  Eii<;land,  im  Unter- 
schied  zu    Deutschland    uml    Skandinavien,   nicht   all/u    stark 
den    Blick    auf    das    Mittelalter    lenkte.     Dalier    war    es    auch 
nicht  ein   en«;li8cher,   sondern   ein    skandinavischer   Gelehrter, 
der  Isländer  (ikim  .Iohnson  Thokkklin  (f  iH2q),  der  zuerst 
wieder   die    Handschrift   in   die    Hand    nahm:    während  seines 
Aufenthaltes  in    England   ließ   er   1787    das   von   ihm  für  ein 
dänisches    Denkmal    gehaltene     Beowulf-Epos    in    Faksimile 
nachzeichnen   und  nahm  selbst  eine  Abschrift  des  Textes,  um 
dessen  Herausgabe  vorzubereiten.*)    Die  bereits  fertiggestellte 
Ausgabe    wurde   aber    1807    bei    der    ruchlosen   Beschießung 
Kopenhagens   durch   die   Engländer  ein   liaub   der   Flammen, 
so  daß  Thorkelin  erst    181 5   mit  seiner  abermals  neu  aus- 
gearbeiteten Ausgabe  an  die  Öffentlichkeit  treten  konnte.  Be- 
vor diese  erste  Beowulf- Ausgabe  erschien,  hatte  bereits   1805 
der  englische   Historiker   Sharon  Turner   in  seiner  History 
of  the  Änglo-  Saxons  (Bd.  IH)   eine   kurze   Inhaltsangabe   des 
Gedichtes  geboten,  und  zwar  auf  Grund  eigener  Einsichtnahme 
in  das  Manuskript,  die  er  181 8  zum  Zwecke  verbesserter  und 
vermehrter  Mitteilungen  in  der  3.  Auf  läge  seines  Werkes  wieder- 
holte.^) So  gebührt  Turner  das  Verdienst,  der  erste  gewesen 

i)  Von  beiden  Abschriften  findet  sich  je  eine  Seite  in  verkleiner- 
tem Faksimile  bei  Wyatt-Chambebs  ,  Beowulf  (Cambridge  191 4)  als  S. 
XV  und  XVin  mitgeteilt. 

2)  TuRKKR  selbst  sagt  darüber  (III  173,  Anm.  i,  Ausg.  1840):  "The 
poem  had  remained  untnuched  and  unnoticed  hoth  here  and  abroad  un- 
til  I  observed  its  curious  contents,  and  in  1805  announced  it  to  the  pub- 
lic. I  could  then  give  it  only  a  hasty  perusal,  and  from  the  MS.  hav- 
ing  a  leaf  interposed  near  its  comviencement ,  which  belonged  to  a  sub- 
sequent  pari,  and  from  the  peculiar  obscurity  which  sometimes  attends 
the  Saxon  poetry,  1  did  not  at  that  time  sufficienüy  comprehend  it,  and 
had  not  leisure  to  apply  a  closer  attention.  But  in  the  year  1818  I  took 
it  up  again,  as  I  was  prepairing  my  third  edition,  and  then  made  that 
more  correct  anaJysis  uhich  Jcas  inserted  in  that  and  tfic  suhsequent  edi- 
tions,  and  which  is  also  exhibited  in  the  present." 


71, 4l  Die  Bkowulf-Handschrift.  63 

zu  sein,  der  nähere  Kunde  über  den  Inhalt  des  Beowulf  ver- 
öffentlichte und  auch  Versproben  daraus  in  neuenglischer 
Übersetzung  mitgeteilt  hat. 

An  Thoekelins  Ausgabe  knüpfte  lange  Zeit  die  weitere 
Verwertung  des  Vitellius-Kodex  an:  ihr  Text  wurde  mit  der 
Handschrift  kollationiert  zunächst  von  dem  Oxforder  Pro- 
fessor John  Conybeare  (f  1824),  dessen  Ergebnis  erst  nach 
seinem  Tode  in  dem  vom  Bruder  herausgegebenen  Sammel- 
bande Illustrations  of  Anglo-Saxon  Poetry  (1826)  S.  137— ^55 
mitgeteilt  wurde.  Dann  folgten  1829  der  dänische  Geistliche 
und  Dichter  N.  F.  S.Grundtvig^)  (1783— 1872)  und  1830  der 
englische  Philologe  Benjamin  Thorpe^)  (1782 — 1870),  welche 
beide  ihre  Kollationen  zu  neuen  Sonderausgaben  verwandten, 
die  allerdings  erst  1855  (Thorpe)  und  1861  (Grundtvig) 
erschienen.  Thorpe,  der  sofort  nach  seiner  Rückkehr  aus 
Kopenhagen,  wo  er  unter  R.  C.  Rask  Germanistik  studiert 
hatte,  sich  an  den  Beowulf  gemacht  hatte,  wird  wohl  damals 


i)  Siehe  Gkundtvig,  Eeowulfes  Beorh  (Kopenhagen  1861)  S.  XVII, 
wo  angegeben  ist,  daß  Grundtvig  die  Beowulfhandschrift  "zuerst  1829 
in  den  Händen  hatte".  Während  seiner  drei  Englandreisen  (1829—31) 
hat  Gbdndtvig  dann  aber  "zu  wiederholten  Malen  Gelegenheit  gehabt, 
die  alte  Pergamenthandschrift  einzusehen"  (ebenda  S.  XXII).  Von  diesen 
Reisen  brachte  er  auch  Abschriften  mit  von  iELFRics  Abgarbrief  aus 
Julius  E.  VII,  von  der  ae.  Veronica-Legende  aus  Cambr.  ü.  L.  li.  2.  11, 
Ton  einer  Fastenhomilie  aus  Faustina  A.  IX  und  von  den  ae.  Cato- 
sprüchen  nach  allen  drei  Handschriften.  Diese  Abschriften  übergab  er 
seinem  Schüler,  dem  Geistlichen  Lüdw.  Christian  Müller  (1806 — 51), 
der  sie  1835  in  seiner  angelsächsischen  Chrestomathie  Collectanea  Anglo- 
Saxonica  (Kopenhagen  1835)  zum  Abdruck  brachte  (s.  dort  S.  IV ff.).  — 
Vgl.  über  Grundtvig  Herzogs  Protestantische  Realenzyklopädie  ^VIH, 
206—217  und  Fr.  Nielsen  in  Dansk  Biografisk  Lexikon  (Kopenhagen 
1891)  V,  231—247. 

2)  B.  Thorpe,  Beowulf  (1855)  S.  VII:  immediately  on  my  arrival 
in  England  in  1830,  I  carefully  collated  the  text  of  Thorkelin's  edition 
with  the  Cottonian  manuscript.  Wenn  Wülkeb  (Grundriß  S.  255)  und 
wohl  im  Anschluß  an  ihn  R.  W.  Chambers  (Beowulf,  19 14,  S.  XI)  von 
einer  "Abschrift"  des  Beowulf  durch  Thoepe  sprechen,  so  weiß  ich  nicht» 
worauf  sich  diese  Angabe  gründet. 


64  ^'ax  F(")kstkk:  (71,4 

tiiu'h  dtui  Text  (los  (liirauftoli^iMultMi  .Imlitli  -  I']j)os  *)  mit 
Thwaitks'  Ausgabe  kollutioniert  und  jenes  l'rosngospräch ') 
zwischen  Salonion  und  Saturn  abj^esoliriebeu  haben,  das  er 
zuerst  1834  iu  seiner  an;^elsü('lisise,hen  Anthologie  heraus- 
gegeben hat.  Wenig  später,  wahrscheinlich  1832,  wird  der 
junge  John  M.  Kkmhle  (1807  —  57),  der  in  Deutschland  unter 
Massmann,  Schmkllku  und  Jakoh  Guimm  seine  pliilologiache 
Schulung  erhalten,  das  Manuskript  für  seine  lieowulf  Ausgabe 
benutzt  haben,  die  als  erste  englische  1833  im  üruck  er- 
schien. Ob  er  den  Text  neu  kopiert  oder  nur  kollationiert 
hat,  erfahren  wir  nicht,  wie  ja  überhaupt  bei  fast  allen  Edi- 
tionen Kkjibles  über  den  Abhängigkeitsverhältnissen  ein  ge- 
heimnisvolles Dunkel  schwebt,  sofern  wir  nicht  nachweisen 
können,  daß  Kemule,  wie  öfters  der  Fall,  einfach  den  Text 
seiner  Vorgänger  übernommen  hat.') 

Der  romantische  Eifer  der  20er  und  30er  Jahre  ver- 
blaßte, und  so  durfte  unser  Kodex  wieder  ein  Menschenalter 
unbehelligt  ruhen.  Erst  um  1860  trat  der  Londoner  Philo- 
loge Thomas  Osw.  Cockayne  (1807— 1873)  wieder  an  die 
Handschrift  heran  und  veröffentlichte  daraus  die  bis  dahin 
unbekannten  Wunder  des  Ostens  sowie  den  Alexanderbrief 
(1861)  und  die   altenglische   Soliloquien-Version  (1868—69) 

Mit  den  70er  Jahren  setzte  eine  starke  WeUe  positi- 
vistischen Verlangens  nach  genauester  Tatsachenkenntnis  in 
der  deutscheu  Wissenschaft  ein;  und  so  erfolgten  in  diesem 
Jahrzehnt  eine  ganze  Reihe  von  Kollationen  der  Textabdrücke 


i)  Beide  Texte  gedruckt  in  Thorpes  Analecta  Anglo-Saxonica 
(London  1834).    Über  die  Judith-Kollation  vgl.  dort  S.  VIII. 

2)  So  beruht  z.  B.  Kembles  Andreas  (1843)  ganz  und  gar  auf 
Gbimms  Text  (1840);  8.  Andreas  ed.  Kkapp  S.  XIX  Anm.  2.  Auch 
Kembles  Abdruck  des  Prosagespräches  zwischen  Salouion  und  Saturn 
(1848)  ist  trotz  aller  stillschweigenden  sin-achlichen  Änderungen  aus 
Thorpes  Analecta  (1834)  übernommen.  —  Der  Beowulf-Text  der  Aus- 
gaben von  ScHAi.DEMosE  (1847),  Grein  (1857)  uud  Heyne  (1863)  beruhte 
ganz  auf  Kkmble  (2.  Ausg.  1835),  wenn  Heyne  auch  von  der  4.  Auflage 
(1879)  ab  die  KöLsiNGSche  Kollation  heranzog. 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  65 

aus  unserer  Handschrift  durch  deutsche  Philologen:  der  Beo- 
wulf  wurde  187  i  von  E.  Sievers ^),   1875  von  E.  Kölbing^), 
noch  vor    1875    von   Zupitza^)    und    Wülker^J,    1876    von 
A.  Holder*)  und  endlich   1878  zum  zweiten  Male  vonWüL- 
ker')  verglichen.    Gleichzeitig  wurden  von  Sievers ^)  (1871) 
und   Wülker^)   das  Judith-Epos,  von   Holder   (1876)    der 
Alexanderbrief    und    die   Wunder    des    Ostens^)    sowie    von 
Wülker  (1878?)  ebenfalls  der  Alexanderbrief '')  kollationiert. 
Bei    der    literargeschich fliehen   Bedeutung  des    Beowulf- 
Epos  und  den  Abweichungen  der  verschiedenen  Herausgeber 
über  die  handschriftlichen  Lesungen  machte  sich  immer  mehr 
das  Bedürfnis    geltend,    eine   mechanische  Reproduktion    des 
handschriftlichen  Textes  zu  besitzen;  und  so  leitete  der  Vor- 
stand   der   Early  English  Text  Society   noch  am  Ende    der 
70  er    Jahre    auf  W.  Skeats   Anregung   eine    solche    in    die 
Wege:    1879  wurde   der  Beowulf-Teil  des  Manuskriptes   von 
der  Londoner  Firma  C.  PraetoriüS   photographiert;  August 
und  September  1880  verglich   der  als  Herausgeber  gewählte 
Berliner  Professor  Julius  Zupitza  die  Lichtdrucktafeln  und 
im   September    1882    seine   dem   Faksimile  beigegebene   Um- 
schrift mit   dem   Manuskript;   und   so   konnte   das   Ganze  im 
Herbst    1882    als    77.   Band    der    Original    Series    der    Early 
English  Text  Society  erscheinen.    Damit  war  ein  für  allemal 
die  Grundlage  für  das  handschriftliche  Studium  des  Beowulf- 
Textes  geschaffen. 


i)  Laut  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  (1872)  XV,  461.  Die 
Ergebnisse  dieser  Beowulf-Kollation  sind  nicht  veröffentlicht. 

2)  Mitgeteilt  im  Archiv  für  neuere  Sprachen  (1876)  LVI,  91  — 118. 

3)  So  nach  Kölbing,  Archiv  für  neuere  Sprachen  LVI,  118  und 
WüLKEK,  Angelsächsische  Literatur  (1883)  S.  256  A.  5.  —  Wülkee  ver- 
wendete seine  Kollationen  bei  der  Neuherausgabe  der  Bibliothek  der 
angelsächsischen  Poesie  in  Bd.  I*  (1881)  und  Bd.  11''  (1894). 

4)  Danach  Holders  Handschriffcenabdruck  1882. 

5)  Mitgeteilt  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Altert.  (1872)  XV,  461  f. 

6)  Mitgeteilt  in  Anglia  I  (1872)  S.  507—512  und  331—337- 

7)  Verwertet  von  W.  M.  Baskervill  bei  seinem  Textabdruck  in 
Anglia  IV  (1881)  S.  139—167. 

PhiL-hist  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  4.  5 


Oö  Mat   Foustfr:  l7'i4 

Seitdem  konnte  sicli  tlns  luterrsBo  an  dor  llancl8<'hiift 
nur  auf  <li»'  lieigalten  erstrei'ken.' i  Das  Judith- EpoH,  das 
leider  nicht  in  das  Faksimih'  niitaut'genominen  war,  lioß  sieh 
in  dou  8oer  Jahren  der  amerikanische  Prote.ssor  AiiiucuT 
Cook  für  seine  Sonderausgabe  (1888)  ])hot()grai)hioren.  IJio 
bisher  unbeachteten  l''iagniente  über  Quintinus  und  über 
ChristophoruB  kopierte  im  Mai  1888  der  Berliner  l^rivat- 
gelehrte  Hkkzfkld  zur  Veröffentlichung  in  den  fc^nglischen 
Studien  1^X111,  145  ff).  Im  Jahre  1893  kollationierte  VI.  P]inknkkl 
auf  meine  Anregung  den  HKKZFELDschen  Abdruck  des  Chri- 
stophorus^)  und  der  Amerikaner  W.  U.  Hulmk  den  ('ockaynk- 
schen  Text  der  Soliloquien^),  den  er  auch  später  noch,  zu- 
letzt 1901,  mehrmals  mit  der  Handschrift  verglich.  In  den 
()oer  Jahren  schrieb  derselbe  Hulme  die  Nicodemus-Fassung 
unseres  Kodex  ab  und  bot  1898  einen  recht  fehlerreichen 
Abdruck  danach  in  den  Publications  of  the  Modern  Language 
Association  of  America,  Bd.  XIII,  473  —  515.  Ein  junger  Ber- 
liner Doktorand,  Fritz  Knappe,  kollationierte  im  Sommer 
1904  noch  einmal  die  Wunder  des.  Ostens,  die  er  danach  in 
seiner  Greifswalder  Dissertation  1906  druckte.  Ich  selbst 
habe  191 3  den  Nicodemus  mit  Hulmes  Text  verglichen  und 
an  der  Handschrift  das  Material  zu  vorstehenden  Ausfüh- 
rungen gesammelt. 

5?  7.   Der  luhalt  des  Kodex. 

Der  Inhalt  der  Gesamthandschrift  ist  schon  früh  im  17. 
Jahrhundert  von  dem  Bibliothekar  Sir  Robert  Cottons,  dem 
gelehrten  Richard  James  (1592— 1638),  aufgezeichnet  wor- 

i)  Doch  haben  seitdem  den  Beowulf-Teil  noch  W.  J.  Sedokfield 
(Manchester  1910,  *i9i3)  und  R.  W.  Chambkbs  (Cambridge  1914,  S. 
XXXV)  für  ihre  Beownlf-Ausgaben  verglichen. 

2)  Er  druckte  danach  den  Text  neu  in  Anglia  XVII  (1895)  §• 
112  —  122. 

3)  Hulme  druckte  danach  die  Soliloquien  in  den  Engl.  Stud.  XVIII 
(1893)  3^2—356.  Habgkoves  Neuauegabe  (1902)  beruht  auf  den  späteren 
Kollationen  Hui>MEfi. 


71,4]  Die  Beowülf-Handschrift.  67 

den  und  noch  heute  auf  fol.  2*  der  Handschrift  zu  lesen. 
Daß  es  sich  hier  wirklich  um  die  Sclu'ift  des  Richard  Jamks 
handelt,  erhellt  aus  einem  Vergleich  mit  den  von  Jame8 
hinterlassenen  eigenhändigen  Briefen,  wie  sich  solche  z.  B. 
im  Harleian  Ms.  7002  fol.  118*— 126*  (5  Briefe)  und  Julius 
C.  in.  fol.  212* — 219*  (5  Briefe)  vorfinden.  Da  James  die 
Bibliothekarstelle  bei  den  Cottons  um  1625  antrat,  muß 
diese  früheste  Inhaltsangabe  etwa  in  die  Jahre  1625 — 1638 
faUen.    Sie  lautet  folgendermaßen  (fol.  2*): 

Elenchus  contentorum  in  hoc  codice. 

1.  Flores  soliloqaiorum  Augustini  Saxonicö  .-Elfredo  interprete  vt  ap- 
paret  ex  pag.  56. ') 

2.  Summa  expensarun;  et  militum  quibus  vsus  est  Edwardus  3  in  ex- 
pugnatione  Caleti  .  in  secundä  facie  primae  pag. 

3.  Fragmeutum  Saxonicum  quod  forte  continet  aliquam  partem  hieto- 
riae  sive  legend»  Thomae  Aposfoli.  pag.  prima,  habitur  ibi  mentio 
de  bocland.  et  cotagijs.  *) 

4.  Dialogi  de  Chr/.sto  et  chr/sdanitate  vbi  interloquntur  Pilatus  et  alij 
sicut  melius  ?isum  est  Legendario.    Sax. 

5.  Dialogus  inter  Saturnnm  et  Salomonem.    Saxon. 

[eine  spätere  Hand  fügt  hinzu:  cum  Legendis  Soncti  Chnstoferi.] 

6.  Defloratio  siue  translatio  Epistolarum  Alexandra  ad  Aristotelem  cum 
picturia  prodigiosorum.  Saxonicö. 

[Hier  sind  vier  Zeilen  freigelassen.'] 
8.  Fragmentum  Saxon.  de  luditha  et  Holofemo. 

Diese  Inhaltsaugabe  beweist  uns,  daß  die  beiden  ur- 
sprünglich getrennten  Handschriften  schoii  im  zweiten  oder 
dritten  Jahrzehnt  des  17.  Jahrhunderts,  und  zwar  in  derselben 
Reihenfolge  wie  heute,  zu  einem  Kodex  vereinigt  waren. 

Beachtenswert  an  dieser  Inhaltsangabe  ist,  daß  für  das 
an  7.  Stelle  zu  erwähnende  Beowulf-Epos  der  Bibliothekar 
vier  Zeilen  freigelassen,  aber  nichts  eingetragen  hat:  offenbar 

i)  Bezieht  sich  auf  den  Schlußsatz  der  Soliloquien  {Heer  endiad 
ßa  cicidas,  ße  uElfred  kininy  alces  of  ßcere  bec,  ße  we  hatad  on  ::::::::), 
welcher  tatsächlich  auf  fol.  56  (ältester  Zählung)  steht.  Mithin  hat 
Jamhs  diese  älteste  Foliierung  bereits  vorgefunden. 

2)  Worauf  eich  dieser  Eintrag  Nr.  3  beziehen  soll,  ist  mir  uner- 
findlich.   Es  dürfte  ein  Versehen  James'  vorliegen. 

5* 


68  Max  F<>K8rKK:  f/'.  • 

wußte  er  mit  diesem  Werke  nielits  iii)'/,\ifaugeii  und  stand 
ilim  völlig  ratlos  gegenüber.  Im  iil)rigen  ist  die  Inhaltsimgaho 
nicht  schlecht,  wenn  auch  das  ganz  kurze  Quiutiiius-Fnig- 
nient  übersehen  ist  und  die  l'aradoxographeii -Version  ("Wua- 
derdes  Orients")  offenbar  mit  (Umu  ähnliche  Dinge  behan- 
delnden Alexander -Brief  zusammengeworfen  ist. 

Die  nächste  Inhaltsangabe  linden  wir  in  dem  ersten  ge- 
druckten Katalog  (i6q6)  der  Cottonischen  Handschriften- 
Bammlung  von  dem  gelehrten  Oxforder  Theologen  Thomas 
Smith')  (1Ö38 — 17 10),  der  nach  seiner  Eidverweigerung 
gegenüber  dem  neuen  oranischen  Königtum  im  Hause  des 
Sir  John  Cotton,  des  Enkels  des  großen  Sammlers,  Unter- 
schlupf fand  und  dort  für  etwa  1 2  Jahre  die  Verwaltung  der 
Cottonischen  Bibliothek  innehatte.  Da  dieser  Gelehrte  als 
Orientalist  kein  Angelsächsisch  verstand,  blieb  ihm  für  die 
altenglischen  Handschriften  nichts  anderes  übrig,  als  die 
jAMESschen  Inhaltsangaben  mit  einigen  stilistischen  Ände- 
rungen und  Kürzungen  abzuschreiben.  Seine  Inhaltsangabe 
unserer  Handschrift  bedeutet  daher,  zumal  die  Auslassung 
des  Beowulf-Epos  in  keiner  Weise  angedeutet  ist,  gegenüber 
James  einen  Rückschritt.  Wir  lesen  nämlich  im  "Catalogus 
Librorum  Manuscriptorum  Bibliothecai  Cottonianse  . . .  scriptore 
Thoma  Smitho,  ecclesisB  Anglicanae  presbytero"  (Oxonii,  e 
Theatro  Sheldoniano  MDCXCVI)   auf  S.  83   folgendermaßen: 

1.  Flores    Soliloquiotum    S.  Augustini:    Saxonice,    ex   versione    Regi« 
^Ifredi. 

2.  Fragmentum    Saxonicum ,     continens    partem    historia'    S.    Thorate 
Apostoli. 

3.  Dialogi  de  Christo  «t  ejus  religione  inter  Pilatum,   Gamalielem,  Jo- 
sephum,  Judaeosque,  Saxonice. 

4.  Dialogus  inter  Satumum  &  Salomonen!,  Saxonice. 

5.  Translatio  epistolarum   Alexandri    ad  Aristotelem,   cum   pictnris   de 

monstrosis  animalibus  Indise,  Saxonice. 

6.  Fragmentum  de  Juditha  &  Holopherne,  Saxonice. 

Praemittitur  annotatio  brevis  de  expugnatione  Caleti  per  K.  Edwardum. 


i)  Vgl.  über  ihn  Thomas  Seccombe  im  'Dictionary  of  National  Bio- 
graphy'   -XVIII  539—541- 


71.4]  Die  BfiowuLF-HANDSCHRiPT.  69 

Das  reiche  Emporblühen  des  angelsächsischen  Studiums 
am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  führte  dazu,  daß  um  die 
Wende  des  Jahrhunderts  der  damalige  Bibliotheksassistent 
der  Bodleiana,  Humphrey  Wanley^)  (1672 — 1726),  einen 
Katalog  aller  ihm  erreichbaren  Handschriften  in  altenglischer 
Sprache  zusammenbrachte,  der  endlich  1705  im  Druck  er- 
schien. Dies  ist  jener  'Antiquae  Literaturae  Septentrionalis 
Liber  alter  seu  Humphredi  Wanleii  Librorum  Vett.  Septen- 
trionalium,  qui  in  Anglias  Bibliothecis  exstant,  nee  non  mul- 
torum  vett.  codd.  Septentrionalium  alibi  extantium  Catalogus 
historico-criticus"  (Oxoniae,  e  Theatro  Sheldoniano,  An.  Dom. 
MDCCV),  welcher  bis  heute  der  vollständigste  und  beste 
Katalog  der  altenglischen  Handschriften  geblieben  ist,  so  sehr 
er  auch  der  Erneuerung^)  bedürfte.  Daß  er  auch  in  der  Ge- 
schichte der  Paläographie  eine  Epoche  bezeichnet,  ist  wohl 
noch  kaum  genügend  erkannt.  Denn  das  Verdienst,  welches 
man  bisher^)  dem  Baron  de  Montfaucon  (1655 — 1741)  mit 
seinem  Katalog  der  Coislinschen  Bibliothek  (17 15)  zuweist, 
'das  erste  Vorbild  eines  wissenschaftlichen  Handschriften - 
kataloges'  geliefert  zu  haben,  gebührt  vielmehr  unserem 
Wanley,  der  schon  10  Jahre  vor  Montfaucon,  um  nur  auf 
einige  Punkte  hinzuweisen,  das  berufsmäßige  Datieren  der 
Handschriften  durchgeführt  und  nach  Kräften  Schreiberhände 
unterschieden  und  Herkunfts vermerke  angegeben  hat.  Welchen 
Vorsprung  in  der  Handschriftenbeschreibung  er  vor  seinen 
Landsleuten  gewonnen  hatte,  sieht  man  am  besten,  wenn  man 
die  eben  angeführte,  dürftige  Inhaltsangabe  der  Beowulf-Hand- 
schrift  durch  Thomas  Smith  mit  folgendem  Eintrag  bei 
Wanley  (S.  2i8f.)  vergleicht: 


i)  Vgl.  über  ihn  W.  P.  Courtney  im  'Dictionary  of  National  Bio- 
graphy'  *  XX  744—6. 

2)  Napikrs  Exemplar  sowie  das  meinige  dürften  durch  reichliche 
handschriftliche  Eintragungen  dabei  von  Nutzen  sein. 

3)  So  noch   L.  Traube,  Geschichte    der    Paläographie    (in   'Vor- 
lesungen und  Abhandlungen'  I  1910  S.  38). 


•jo  Max   1'(")hvtj.i{:  l7','« 

VitoUids.  A  XV.  ("od.  »irmhrau  er  diverslfi  ftitnul  compactKs  coti- 
»tans,  I»  qtu)  coniitutur 

I.  Nota  de  numero  Ptirochinntm ,  rillarum .  /rodoiviii  d  Mihtutn 
Vi  Anglia,  <f  de  e.rjtuyndtiitne  Caleti  per  Kihcnrdxun   111. 

II.  fol.  I.  Flores  e,r  libro  SoHloquioruw  D.  Augustint  }lipponen,s. 
Episc.  Selecti  d  Saxonice  irrtti  per  ^'Klfredum  Regem.  Tractatun  uste 
quondatn  fuit  Ecclesiir  />.  Maria-  de  Snwik<i ,  ut  patel  ex  foL  'i.  lüteris 
Xormniino-Snronici^t,  pnst  ('ovqufrstum  scriptu,<i. 

III.  t'ol.  f;7.  Pseudo-KraugeUum  Nicodemi,  capite  mutilnm:  ci4Jv,'i 
exetnplaris  rariantes  Lectionf.<i  apographo  nuo  ex  Cod.  Cantahrigiensi 
d^cripto,  atte.vuit  cl.  Junius,  ut  videre  est,  pag.  96.  V 

IV.  fol.  83*^.  Her  kiÖ.  hu  Saturnue  and  Saloman  aettode  ymbe 
beora  wisdom. 

ludp.  fa  cwffit  Saturnua  to  Salomane.  Sa^a  ino  hwer  (4od  sete 
]m  he  ^eworhte  heofonas  7  eonTan.  Ic  8e  sec^e  he  sa-tt  ofer  winda 
fa'perutn. 

Expl.  On  XII.  mobum  J)u  scealt  syllan  {)inon  ]jeowan  men  .VIT. 
bund  hlafa.  ~  .XX.  hlafa.  buton  mor^e  metten.  7  nonmettom. 

V.  fol.  90''.  Fragmcntuni  de  SS.  Jesu  Christi  martyrihus,  Saxonic^ 
Utteris  Normanno-Saxomcis  descriptum,  aque  ac  Pseudo  -  Evang.  Nico- 
demi, d-  Dialogi  inter  Saturnum  rf-  Salomonem. 

VI.  fol.  92.  Legetida  de  S.  ChriKtophoro  Martyrc  capite  miäila,  sie 
autein 

Expl.  £>j8es-)  eac  bted  ee  halja  Oiistoforuß  on  jjjere  nihstan  tide. 
ter  he  hie  jaste*)  ou-eende.  and*)  cwjeS.  Drihten  min  God.  syle  ^ode 
mede  ])am  |)e  mine  ]3iowunja  awrite.  and  *)  J)a  ecean  edlean  ])am  ]ie 
hi©  mid  tearum  rede."^) 

VII.  fol.  98''.  Bescriptio  fahulosa  Orientis,  d  wovstrorum  qutf  ibi 
tiascuntur,  cum  figuris  maU  dehneatift  calce  mutHa,  haud  diversa  ah 
illa  (Latinis  exceptit^  qua;  in  hoc  cod.  desunt)  quam  exhibet  Cod.  qui  in- 
scribitur  Tib.  B.  ö  in  fol.  78''. 

Incip.    Seo  Landbuend  on  fruman   from   Antimolime  ])sem  lande. 

VIII.  Her  is  Seo  Gesegenis')  Alexandres  epistolee  ])se8  miclan 
Kyninjes.  J  Öaes  ^)  maeran  Macedoniscan.  {)one  he  wrat  ~  sende  to 
Aristotile  bis  MajiBtre.   be  ^esetenisse  Indie  Jjsere  miclan  Sende. *j  7  ^^■ 


1)  Gemeint  ist  das  Bodleian  Ms.  Janius  74  (Wani.ey  S.  96). 

2)  Um  eine  Vorstellung  von  dem  Zuverlässigkeitsgrade  derWASLET- 
achen  Textproben  zu  geben,  verzeichne  ich  hier  seine  Ab-weichungen 
von  der  Handschrift.    Statt  Dyses  liest  die  Hs.  pyses. 

3)  last  Hs.  4)  7  Hs-  5)  'r(^de  Hs. 

6>  Gesetenis  Hs.  7)  ß^s  Ha.  8)  ßeode  Hs. 


71,4]  Die  Bbowulf-Handschrift.  71 

])8ere    widjalnisse   his    si{)fato ')    and    hie    fora.    pe    he    ^eond   middaa 
jeard  ferde. 

Incip.  Cwa?|)  he  ])U3  sona  serest  in  frnman  8ses  *)  epistoles.  Sinile 
ic  beo  ^emindij. 

Expl.  7  min  weorSmynd  maran  wseron.  |)onne  ealra  opra  kyninju 
])e  in  middan  jearde  sefre  waeron.  finit. 

Hcec  fabulom  Älexandri  ad  Aristotelem  de  situ  Indice,  ac.  Epistola, 
Latine  primitus,  uti  credo,  fuit  conscripta,  deinde  in  linguam  Sax&yii- 
cam  versa,  paucis  quibusdam,  ad  calcem,  prcetermissis.  Hoc  autem  exem- 
plar  cum  3  super ioribtts,  veter i  manu  scriptum,  fuit  peenlium  doctiss. 
viri  Laurentii  NowelU.  a.  d.  1563. 

IX.  fol.  130.  Tractatus  ndbilissimm  Poetice  scriptus.  Prcefationis 
hoc  est  initium, 

Hwiet  we  iarde  na.  in  ^ear  dajum.  |)eod  cyninja  ])rym  ^efrumon») 
hu  9a  .Elielinjas  eilen  fremedon.  Oft  Scyld  Scefin^  scea])ena  Örea- 
tum*)  mone^um  mse^Ömn")  meodo  setla  ofteah  e^sode  eorl  syScJau 
serest  wearS  feasceaft  fanden,  he  wses*^)  frofre  ^ebad  weox  under 
wolcnum  weorÖmyndum  |)ah.  ob  ^cet  him  te^hwylc  ])ara  ymb  sittendra 
ofer  hron  rade  kyran  scolde  pmban  jyldan  '^at  wteB  jod  Cynin^,  Sseni 
eafera  waes  »fter  cenned  jeon|;  in  ^eardum  ])one  God  sende  folce  to 
frofre.  fyren  Searfe  on  ^^eat  ])<Ei  bie  ser  dru^on  aldor  .  .  .  ase.  lan^e 
hwilc')  him  waäs  lif  frea  wuldres  wealdend  worold  are  for^eaf.  Beo- 
wulf  waes  breme  Blsed  wide  sprang  Scyldeß  eafera  scede  landum  in. 
Initium  autem  primi  Capitis  sie  se  habet, 

Da,  wses  on  bur^m.  Beowulf  Scyldinp  leof  leod  Cynin^  ion^e 
5rage^  foleum  ^efrae^e  fteder  ellor  hwearf  aldor  of  earde  o|)  ])«*  him 
eft  on  woc  heah  healf  Dene  heold  'pen  den  lifde  ^amol  7  jubreouw 
jltede  Scyldinjas  c5«m  feower  bearn  forÖ  jerimed  in  worold  wocun 
weoroda  rieswa  Heoro^ar.  and  »)  HrotS^ar  7  Haljatil  hyrde  ic  ])«t  helan  »<*) 
cwen.  heaöo  Scilfin^^aa  heals  ^ebedda  ])a  wajs  HroSjare  here  sped  ^fen 
wijes  weoiÖmynd  |)ß;t  him  his  wine  majas  ^eome  hyrdon  oS9  ^icet  seo 
?eoro<5  ^eweox  majo  driht  micel  him  on  mod  bearn  Ixet  heal  seced^') 
hatan  wolde.  medo  tern  micel  man  ^ewyrcean  ])one  yldo  bearn  aefre 
gefrumon.**)  7  |)aer  on  innan  eall  ^edselan  ^eon^um"  ealdum  swylc  him 
God  sealde  buton  fole  scare  7  feorum  ^mena. 

I)  sißfata  ?  Hs.  2)  pces  Hs.  3)  lefnmon  Hb. 

4)  Preatum  Hs.  5)  mce^pum  Hs.  6)  pies  Hü. 

7)  hwile  Hs.  8)  pra^e. 

9)  Die  Hs.  bietet  das  Abkürzungszeichen. 

10)  elan  Hs.;   doch   ist  die   Stelle  verderbt.     Wamley   fügte  daa  h 
offenbar  hinzu,  um  Allitteration  zu  erhalten. 

11)  reced  Hs.  12)  lefrimon  Hs. 


y2  Max   Fr.Ksrin;:  (7'.  4 

In  hoc  lihro.  qiii  J'of^eos  Atuflo-Saxonico-  egreffium  ist  rjrmplum, 
diticriptit  riikntur  Mla  qua-  licnuulfus  <juidn7>i  Danus,  c:r  Uniio  Scyl- 
ditigonim  stirpc  (yrtus,  (frssit  contra  Sttecif    iiVf/iWrw. 

X.  fol.  i<)9.  Fnujni'ntum  I'orticmn  Hist.  .hulitha-  ti  Jfolofnnis, 
Saxonicr  ante  Conqumt.  stTiptuin.  V"'"'  tlrKcripait  cl.  Junivs,  <->  tM.;«* 
Apographo  illud  ti/pis  edidit  Edirardus  Thuaitesius,  iv  hbro  t>i(0  supia^) 
hiudaio. 

Dio  Bedeutung  der  WANLKYschon  InliallHunfj^ahe  liegt 
vor  allem  darin,  daß  hier  zum  ersten  Male  auf  das  Beowulf- 
Epos,  wenn  auch  in  unvollkominener  Form,  hingewiesen  war. 
Aus  Wanlkv  8chüi)fteu  späterhin  ihre  Bemerkungen  über 
den  Beowulf  nordische  Gelehrte,  wie  der  Däne  .1.  Langebkk, 
der  zweimal  in  seinen  'Scriptores  Herum  Danicarum  Medii 
^vi'  (Kopenhagen  i773),  Bd.  I  S.  9  Aum.  II  und  S.  44  Anin. 
E,  auf  das  Beowulf- Epos  zu  sprechen  kommt.  Und  durch 
Langebeks  Hinweis  mag  endlich  der  Isländer  Thoukelin  an- 
trerefft  sein,  die  erste  Ausgabe  des  Beowulf-Textes  (18 15) 
zu  liefern. 

Die  nun  folgende  Beschreibung  des  Inhaltes  in  dem 
"Catalo<i-ue  of  the  Manuscripts  in  the  Cottonian  Library  de- 
posited  in  the  British  Museum"  (London  1802),  welcher  zum 
größten  Teile  von  dem  damaligen  Direktor  des  Britischen 
Museums  Joseph  Planta^)  (1744— 1827)  verfaßt  war,  ist 
nahezu  wörtlich  aus  Wanley  abgeschrieben:  sogar  das  nicht 
auf  die  Handschrift,  sondern  auf  Wanleys  Katalog  bezüg- 
liche ut  videre  est  pag.  96  ist  mechanisch  mit  herübergenom- 
men. Neu  ist  nur  die  Angabe  über  die  Gesamtzahl  der  Per- 
gamentblätter (206)  sowie  die  allerdings  irrige  Behauptung, 
daß  die  Christophorus- Legende  am  Ende  und  die  'Wunder 
des  Ostens'  am  Anfang  verstümmelt  seien. 

Endlich  erhielten  wir  eine  kurze  Beschreibung  von  dem 
langjährigen  Assistenten  an  der  Handschriftenabteilung  des 
Britischen  Museums  Harry  L.  D.  Ward  (1825  —  1906)  in 
seinem  "Catalogue  of  Romances  in  the  Department  of  Manu- 

i)  Nämlich  auf  S.  97  des  Catalogus. 

2)  Vgl.  über  ihn  W.  Wkoth  im  'Dictionarv  of  National  Biogra- 
phy'   «XV,  1283  f. 


7^,4]  Die  Beowulf-Handschuift.  73 

Scripts  in  the  British  Museum"  Bd.  I  (1883)  S.  134  und  Bd. 
II  (1893)  S.  I  f.,  wo  aber  die  Texte  nur  ganz  kurz  bezeichnet 
sind.  Die  Nachwirkung  Wanlets  äußert  sich  auch  bei  ihm 
noch  darin,  daß  das  Fragment  der  Passio  Quintini  unbestimmt 
als  ^^ Fragment  mi  Christian  Martyrs"  bezeichnet  wurde, 
welches  erst  von  mir  (1901)  in  seiner  wahren  Natur  er- 
kannt ist. 

In  der  nun  folgenden  Inhaltsangabe  bin  ich  bestrebt  ge- 
wesen, auch  die  in  den  vorstehenden  Paragraphen  erarbeiteten 
Resultate  miteinzubeziehen. 

Vitellius  A.  XV. 

( 1 )  fol.  I :  Enthielt  bis  Anfang  1 9 1 3  ein  Pergamentblatt 
aus  einem  lateinischen  Psalter  des  14.  Jahrhunderts,  der 
mehrfach  in  den  Cottonischen  Handschriften,  z.  B.  auch  bei 
Tib.  A.  III,  Vespas.  D.  XII  und  Vesp.  D.  XIV,  zu  Schutz- 
blättern verwendet  ist.  Im  Januar  1913  sind  diese  Schutz- 
blätter sämtlich  wieder  herausgenommen  und  zu  einer  neuen 
selbständigen  Handschrift  mit  der  Signatur  Reg.  13.  D.  I* 
vereinis^t  worden.  Es  orientiert  uns  hierüber  eine  Bleistift- 
notiz  des  jetzigen  Handschriftendirektors  J.  P.  Gilson,  die 
auf  dem  leeren  modernen  Ersatzblatte  sich  findet:  "a  fly  leaf 
(f.  1)  taJcen  out  to  he  hound  in  the  Royal  MS.  13.  D.  I*,  the 
psalter  to  whicli  it  originally  hdonged.  Jan  1913.  J.  P.  G." 
Unser  Psalterfragment  bildet  in  der  neuen  Handschrift  jetzt 
fol.  37- 

(2)  fol.  2^:  Inhaltsangabe  von  der  Hand  des  Cottonischen 
Bibliothekars  Richard  James;  zwischen  ca.  1625 — 1638  ge- 
schrieben.   Abgedruckt  oben  S.  67. 

fol.  2^  ist  gänzlich  leer. 

(3)  fol.  3*:  zeigt  auf  dem  unteren  Seiten  viertel  ein  paar 
Schriftzeichen  (Federproben)  des  14.  (?)  Jahrhunderts  —  auf 
dem  Kopfe  stehend. 


7-1 


M\x   riiitj^TKi«:  l7',-l 


(4)  fol.  3**  [=  Wanlky  Nr.  Ij:  Kui/r  Notizen  von  einer 
kleinen  Mand  des  16.  .Inhihnndeits  in  englischt-r  und  fnin 
7,r)8iseher  Spirtche.  statisiisehen  und  historischen  Inhalts. 
Erstere  (engl.)  behandeln  die  Zahl  der  Genieindekircheu,  der 
ZoUerhehungsstellen  und  der  Kitterleheji  in  Knirland;  let/,tere 
(tVanz.^  die  Eroberung  Calais"  durch  Eduard  111.  (1383)  u.a.m. 

I.  Erste  Haudachrift  (=  fol.  4-  -94). 
Geschrieben  von  zwei  Schreibern   in  dem  zweiten  Viertel 
des  IJ.  .lahrhunderts,  vielleicht  in  dem  AuguHtiner-Chorherrn- 
stift  zu  Southwick  in  Hampshire  (vgl.  oben  S.  53  tt".),  wo  sich 
die  Handschrift  um    1300  befand. 

Hand  A  (fol.  4''— 59^1: 

(5)  fol.  4*  — SQ*"  (=   1»— 56^),   W/NLEVB   Nr.  11: 

Die  von  König  yElfred  herrührende  oder  wenigstens  von 
iiini  angeregte  altenglische  Bearbeitung  der  "Soliloquia"  des 
Augustinus.  Nach  den  Drucken  von  (.'ockayne  (1869)  und 
HuLME  (1893)  vorläufig  beste,  wenn  auch  recht  unzuläng- 
liche Ausgabe  von  H.  L.  H.MiOROVE,  King  Alfred's  Old  P]ng- 
lish  Version  of  St.  Augustine's  Soliloquies  (Tale  Studios  in 
English  Xlll,  New  York  1902);  dazu  meine  Besprechung  in 
DLZ  1903  Sp.  214—217.  Weitere  Literaturangaben  bei 
A.  Brandl,  Geschichte  der  altenglischen  Literatur  (Straßburg 
igoS)  S.  1067.  Den  schwierigen  Anfang  interpretierten  Luick 
und  Meringer,  Idg.  Forsch.  17  (1905),  1330'.  —  Am  Schlüsse 
fehlen  einige  Wörter.  Daß  auch  der  Anfang  verstümmelt  sei, 
wie  CoCKAYNE  und  Hulmk  behaupten,  ist  ein  Irrtum. 

Hand  B  (fol.  61" -94"): 

(6)  fol.  60  ist  ein  modernes  leeres  Papierblatt,  welches 
andeuten  soll,  daß  hier  ein  Pergamentblatt  mit  dem  Anfang 
des  folgenden  Werkes  ausgefallen  ist. 

(7)  fol.  61»— 87^  (==  57'— 84»'=  60*— 86^),  Wanley.s 
Nr.  ni: 

Die  altenglische  Übersetzung  des  apokryphen  Nicodemus- 
Evangeliums,   die    sich    in   etwas    älterer   und  roUständigerer 


71,4]  DiK  Beowulf-Handschrift.  75 

Form  in  der  Handschrift  li.  2.  11  (S.  344 — 383^))  der  Cam- 
bridger Universitätsbibliothek  sowie  in  einer  stark  kürzenden 
und  modernisierenden  Abschrift  im  Cotton  Ms.  Vespas.  D. 
XIV  fol.  87^—100*  befindet.  Nach  den  beiden  älteren  Hand- 
schriften ist  der  Text  in  Paralleldruck  veröffentlicht  von 
W.  H.  HuLME;  The  Old  English  Version  of  the  Gospel  of 
Nicodemus  (Publications  of  the  Modern  Language  Association 
of  America  Bd.  XHI,  457 — 542,  Baltimore  1898).  Nach  der 
jüngsten  Handschrift  ist  er  von  demselben  Hulme  gedruckt 
in  der  amerikanischen  Zeitschrift  'Modem  Philology'  I  ( 1 904), 
591 — 610.  Einen  kritischen  Text  nach  allen  drei  Hand- 
schriften werden  enthalten  meine  "Spätaltenglischen  Texte 
aus  Vesp.  D.  XIV."  Weitere  Literatur  bei  Brandl  S.  1118. 
Dazu  Aug.  Schmitt,  Die  Sprache  der  ae.  Bearbeitung  des 
Evangeliums  Nicodemi  (Münchener  Diss.  1905),  und  Fr.  Straub, 
Lautlehre  der  jungen  Nicodemus -Version  in  Vesp.  D.  XIV 
(Würzb.  Diss.   1908). 

Unsere  Handschrift  setzt  auf  fol.  6 1  *  mitten  im  Satz  ein, 
so  daß  davor  etwas  fortgefallen  sein  muß.  Die  ältere  Cam- 
bridger Handschrift  lehrt,  daß  der  Anfang  fehlt,  der  gerade 
zwei  Seiten  füllen  würde.  Mithin  ist  vor  fol.  61  ein  Blatt, 
und  zwar  ein  angefalztes  Blatt  der  8.  Lage,  ausgefallen. 

(8)  foL  87^-94^  (=  84*'— 90"=  86^—93*'),  Wanleys 
Nr.  IV: 

Ein  altenglisches,  oflPenbar  durch  lateinische  Vermittlung 
auf  byzantinische  Vorlage  zurückgehendes  biblisches  Frage- 
büchlein, das  in  die  Form  eines  Prosagespräches  zwischen 
Salomon  und  Satui-n  eingekleidet  ist  Gedruckt  bei  B.  Thorpe, 
Analecta  Anglo-Saxonica  (London  1834)  S.  95 — 100  (3.  A., 
1868,  S.  1 10 — 1 15)  und  unter  Regulierung  der  späten  Sprache 
bei  J.  Kemble,  The  Dialogue  of  Salomon  and  Satumus,  Part.  II 
(London  1847)  S.  178 — 193.  Über  die  ganze  Gattung  ist  die 
von  mir  in  der  'Anglia'  42  (191 9),  209 — •217  zusammengestellte 
Literatur  zu  vergleichen. 

i)  HüLUB  gibt  in  seinem  Abdruck  imgerweise   "P.  i  —  P.  40"  an. 


I 


-f>  M  \\   K<)KsrKu:  [7't4 

(q)  fol.  o^''  [=  90*^  =  93''!,  Wanlkys  Nr.  V: 
l"rii<i;nuMit  einer  !iltcn<^lischon  Üborsetzung  dor  l'assio 
Quintiiii,  und  /war  in  der  dritten  Fas8un<^  der  Acta  Saneto- 
rum  Holl.  31.  Oct.  Bd.  XllI,  794.  Nnr  der  Anfang  ist  er- 
halten, der  mitten  im  zweiten  Satze  mit  dem  Schlnß  der 
Seite,  und  zwar  mit  der  letzten  Seite  der  elften  l^ago,  ab- 
bricht. Es  muß  dahinter  also  etwas  ausgefallen')  sein:  es 
wird  sieh  um  den  Verlust  der  ganzen  letzten  Lage  handeln, 
die  für  die  ganze  Passio  hinreichenden  Kaum  bot.  Veröffent- 
licht ist  dns  Fragment  von  G.  Hkkzfkld,  Engl.  Stud.  XUI 
(1885)  145  sowie  von  Max  Föusteu,  Zur  alteuglischen 
Quintinus- Legende,  im  Archiv  für  neuere  Sprachen  CVI 
(1901)  258f. 

fol.  95  ist  ein  leeres  modernes  Papierblatt,  das  die  eben 
erwälinte  Lücke  markieren  soll. 

II.  Zweite  Handschrift  (=  fol.  96—211). 

Geschrieben  von  zwei  Schreibern  gegen  Ende  des  10. 
Jahrhunderts.  Im  16.  Jahrhundert  im  Besitz  des  Lichfielder 
Dekans  Lawrence  Nowell  (f  1576). 

Hand  C  ffol.  96*— 177^  7.eile  3)  und 
Hand  D  (fol.  I77^  Zeile  4  — foh2iib: 

(10)  fol.  96* — 100*  (=  91" — 95^*=  94^—98"),  Wanleys 
Nr.  VI: 

Fragment  einer  altenglischen  Übersetzung  der  Passio  S. 
Christophori  (Acta  Sanctorum  BolL,  25.  Juli,  Bd.  XXXIII 
148  ff.).  Da  die  Seite  96*  mitten  im  Satze  einsetzt,  muß  da- 
vor etwas  ausgefallen  sein.  Wieviel  ausgefallen  ist,  läßt  sich 
unschwer  berechnen:  die  lateinische  Legende  umfaßt,  wenn 
wir  den  Druck  der  AA.  SS.  zugrunde  legen,  im  ganzen  349 


i)  Daß  man  dies  an  der  ältesten  Foliierung  sehen  könne ,  die 
hier  von  fol.  90  auf  fol.  93  überspringt,  ist  irrig,  da  die  Blätter  91  und 
92  keineswegs  fehlen,  sondern  im  19.  Jahrhundert  hinter  fol.  94  ge- 
stellt sind,  wohin  sie  nach  Ausweis  des  Inhaltes  gehören  (S.  7). 


71,4]  DiE  Beowulf-Handschrift.  77 

Zeilen;  davon  sind  die  letzten  128,  also  fast  genau  ein  Drit- 
tel, in  dem  vorliegenden  altenglischen  Fragment  von  5  Blät- 
tern übersetzt;  mithin  müssen  zwei  Drittel,  d.  h.  2x5  =  10 
Blätter  fortgefallen  sein,  was  genau  einer  Lage- zu  5  Bogen 
entsprechen  würde. 

Gedruckt  ist  der  Text  von  Herzfeld,  Bruchstück  einer 
ae.  Legende  (1889)  in  Engl.  Stud.  XIII,  142—145  sowie  von 
E.EiNENKEL  in  der  Anglia  XVII  (1895),  112—122.  Vollständig 
war  der  gleiche  Christophorus-Text  überliefert  in  dem  1731 
größtenteils  verbrannten  Predigtkodex  Otho  B.  X,  welcher 
nach  Wanley  S.  191  Nr.  X  auf  fol.  69*— 76*»  eine  Christo- 
phorus-Homilie  aufwies,  deren  Schluß  wörtlich  zu  unserem 
ViteUius-Text  stimmt  und  deren  Anfang  dieselbe  Passio  S. 
Christophori  übersetzt.  Da  man  dies  bisher  noch  nicht  er- 
kannt hat,  lasse  ich  den  Anfang  und  Schluß  dieser  Otho- 
Kopie,  wie  sie  Wanley  uns  erhalten  hat,  hier  folgen  unter 
Regelung  der  Interpunktion  und  Beifügung  der  lateinischen 
Vorlage: 

De  SCO.  Christophore  mar.  Passio  S.  Christophori  S.  146: 

Men  |)a  leofestan,   on  Itaere  tide        In  tempore  illo  regnante  Dagno 

WIES  geworden,  ])e  Da^us  se  cync  in    civitate   Samo    homo    venit    de 

rixode  on  Samon  ])aere  ceastre,  pset  insula,  genereCanineonim;  etosten- 

sum  man  com   on  ])a   ceastre,    se  sum  est  ei  a  domino,  ut  baptizare- 

wses  healf-hundisces ')  manncynnes.  tur  baptismo   sancto,   quem  osten- 

Ac  he  ne  cuSe   nan   Xiinjc  to  ])am  dit  dominus    lesus   Christus  in   se- 

lyfiendan  ^ode,  ne   bis    naman  ne  culo  suo. 
cijde,    ]5e   waes    him   setywed  fram 
urum  drihtne,  ~pcet  he  sceolde  ful- 
luhte  onfon. 


i)  Ein  Adjektiv  healf-hundisc  'halbhündisch',  das  seine  späte,  ge- 
lehrte Bildung  durch  das  Fehlen  des  t- Umlautes  erweist,  ist  sonst 
nicht  belegt,  aber  auf  Grund  obiger  Stelle  dem  Wörterbuch  einzuver- 
leiben. Es  übersetzt  hier  den  römischen  Gentilnamen  Camneus,  der 
wohl  vom  Angelsachsen  fälschlich  mit  dem  fabelhaften  Völkemamen 
Cynocephali  zusammengebracht  war,  welcher  in  der  altenglischen  Mira- 
bilien- Version  mit  dem  gleichfalls  gelehrten  healf-huncUnyas  (ed.  Knappe 
§  8)  wiedergegeben  ist. 


i 


78  Max   [''ürntkr:  17',  4 

Kxpl. :  Küi])am  "1  ]ji<  Juit  nu  *)  blüwuö  ""  jj^rowaÄ  hiH  ^a  bal^an 
jjebedu;  aiid'^  \)ivt*)  is  «hihtnes  heruii^*)  luid  oallre  »ibbo  7  jofean'*); 
aud  psor  is  ^obletsod  Crist,  J)U^b")  lilieiidan*)  jfod*'«  sunu,  se  rixaS  mid 
tivder  "■  mid  emnu  ')  ""  mid  ]iam   liali^nn  jaHte  a  hutan  ende  on  ecnjKHe. 

AMEN.") 

Unsere  Vitollius- Kopie  bietet  in  (llKTeinstiinimmf^  mit 
der  lateinia('h(Mi  Vorlage  dahinter  noch  6  woitiu'o  Zeilen, 
welche  ein  dem  ("hristophorus  zugeschriebenes  Schreil)ergehet 
enthalten.*)  Da  dasselbe  für  den  Zweck  einer  Predigt  ent- 
behrlich war,  ist  es  otienbar  vom  Otho-Kopisten  fortgelassen. 

(1  1)  fol.  loo*»— io8^(=  95»»— 103*  =  yS»' — 106''),  Wan- 
LKYs  Nr.  VII: 

Die  altenslisehe  Übcröetzuug  eines  lateinischen  Paradoxe- 
graphen,  welcher  in  einer  zweiten  Handschrift,  Tiberius  B.  V 
(fol.  78'' — öö**),  zugleich  mit  dem  altenglischen  Texte  über- 
liefert ist.  Dieser  lateinische  Mirabilien-Text  steht  einem 
anderen,  im  7.  bis  8.  Jahrhundert  wohl  in  Frankreich  ent- 
standenen Libcr  monstrorum  de  diversis  (jenerihus  *°)  nahe,  welcher 
von  J.  Beroer  de  Xivrey,  Traditions  teratologiques  (Paris 
1836)  S.  I — 330  und  von  M.Haupt,  Index  lectionum  (Berlin 
1863  =  Opuscula,  II,   221  —  252)  veröffentlicht  ist.     Über  die 


i)  forJ)on  V. 

2)  nu  fehlt  in  V,  weil  der  Blattrand  abgebröckelt  ist.  .^ 

3)  7  ß^*"  abgebröckelt  in  V.  4)  hyrnes  V. 

5)  7  i«  abgbröckelt  in  V. 

6)  ßcES  lyfiiendes  hinter  sunu  in  V;  doch  ist  hier  -u  ßecs  ab- 
gebröckelt. 

7)  suna  V.  8)  on  ecnysse.  Amen  fehlt  V. 

9)  Dahinter  steht  ein  Schlußzeichen,  welches  Hkrzfelu  fälachlich 
für  7  (d.  i.  and)  gelesen  hat.  So  konnte  die  irrige  Meinung  entstehen, 
daß  der  Text  am  Ende  unvollständig  sei.  Daß  dies  nicht  der  Fall  ist, 
lehrt  ebensowohl  der  Sinn  wie  die  Otho- Handschrift  und  die  latei- 
nische Quelle.  —  Es  handelt  sich  hier  um  dasselbe  Schlußzeichen, 
welches  regelmäßig  am  Ende  eines  jeden  Textes  in  dem  Exeterbuch 
erscheint. 

10)  Es  ist  dies  derselbe  Paradoxograph,  welcher  auch  den  Gauten- 
könig  Hugilaik  als  ein  Monstrum  mirae  magnitudinis  nennt,  qwvi 
(quiis  a  duodecimo  aetatis  anno  portare  non  potuit  (I  cap.  3). 


71,4]  Die  Bkowulf-Handschrift.  79 

ganze  aus  Griechenland  stammende  Gattung  ethnographisch- 
naturgeschichtlicher  Fabeleien  vergleiche  M.  Förster,  Zur 
altenglischen  Mirabilien- Version,  im  Archiv  für  neuere  Spra- 
chen 117,  367 — 370:  speziell  über  den  lat.  Liber  monstro- 
rum^)  s.  M.  Manitius,  Geschichte  der  lateinischen  Literatur 
des  Mittelalters  (München  191 1)  S.  114 — 118.  Unser  alteng- 
lischer Text  ist  gedruckt  von  0.  Cockayne,  Narratiünculae 
Anglice  conscriptas  (1861)  S.  33 — 39  und,  vom  altenglischen 
getrennt,  der  lateinische  Text  S.  62 — 66  (dazu  Holders  Kol- 
lation Anglia  1,331  ff.)  und  besser,  wenn  auch  nicht  ganz  fehler- 
frei von  Fritz  Knappe,  Das  angelsächsische  Prosastück  Die 
Wunder  des  Ostens  (Greifswalder  Diss.  1906)  S.  43 — 64.  So- 
wohl CocKAYNE  wie  Knappe  haben  ihren  Text  auf  das  da- 
mals für  älter  geltende  Tiberius-Manuskript  gestützt;  da,  wie 
wir  oben  sahen  (S.  34),  die  Vitellius-Kopie  aber  noch  in  das 
Ende  des  10.  Jahrhunderts  gehört,  ist  das  Verhältnis  umzu- 
kehren, obschon  die  Lesarten  vonVitellius  oft  stark  verderbt 
sind.  Am  Ende  des  Textes  hat  unser  Kopist  die  drei  letzten 
Abschnitte  fortgelassen,  wie  auch  im  Inneren  §  5  fehlt; 
Blätter  sind  hier  aber  nicht  ausgefallen.^) 


i)  Benutzt  ist  das  Werk  auch  von  Thomas  Castipratanus ,  vgL 
A.  HiLKA,  Liber  de  monstruosis  hominibus  Orientis  aus  Thomas  von. 
Cautimprä  De  Natura  Deorum  (Breslau  191 0. 

2)  Der  Text  enthält  manche  selten  oder  nur  hier  belegte  Wörter, 
die  kaiun  schon  genügend  gebucht  sind.  Ich  verweise  auf  el-reordig 
'fremdsprachig'  §  19  (2xV);  frehtere  (V)  neb«n  frihtere  (T)  'Wahr- 
sager' §21;  ga-st-lipende  §  30  (Tib.  verderbt  in  east-ti^ende)  für  lat 
'hospitalis',  eigtl.  'gastlindernd',  zu  ae.  Upian  'lindem'  (mit  anglischer 
Partizipialbildung  wie  bei  wundrende  V  §  31  zu  ivundrian);  glces-gegot 
'Glasguß'  (V)  §  24;  Jiunticge  (V)  'Jägerin'  neben  huntigystre  (T)  §  27; 
leoue  'Meile'  wie  §  i,  2,  7,  18,  19,  20,  24  statt  des  Herausgebers  fal- 
schem leone  zu  lesen  ist;  manu  'Mähne'  §  8  {harses  mana  =  lat.  iubas^ 
equorum;  Tib.  inanan),  das  bisher  nur  aus  dem  Erfurter  Glossar  be- 
kannt ist;  marmor-stän  'Marmorstein'  §  28  (auch  Engl.  Stud.  VIII,  477 
belegt);  of-ä-cennan  'daraus  erzeugen'' §  32  (V),  gebildet  wie  oßcea- 
pian,  ofäceorfan,  ofabeatan,  ofadön,  ofädnfan,  oßdrincan,  ofädrygan, 
"fäheawan,  ofäsceacan,  ofäsctran,  ofäslean  [Arch.  f.  n.  Spr.  134,  277  A. 
7],  ofätcon;  saro-gimm  'kostbarer  Edelstein'  §  25  u.  26;  sce-östre  'See- 


So  -"^'ax   Fökstkk:  l7'.4 

Der  Text  wurde  von  Cockaynk  (1861)  betitelt  'De  rebus 
in    Oriente    mirubilibus'    und    läuft    seitdem    in    der    liiteratur 
geschic'hte  unter  doin  Namen 'Wunder  des  Ostens'  ^VVI'^lkkk, 
liiiANUL  usw.)    oder    The   Wondors  of   the    East'  (StoPKOKD 
Bkookk,  Caiiibridgc   Hist.  of  Tiit.   usw.). 

Ein  leii'ht  verkleinertes,  schlechtes  Faksimile  riuer  Seite 
findet  sich  in  WüLKKKs  Geschichte  der  eiigliBchen  Literatur 
(Leipzig  -1Q06)  1  S.  73. 

Beide  Handschriften  bieten  tlücbtig  ausgeführte  Wasser- 
farbenbilder zu  dem  Text:  Tiberius  38,  Vitellius  2g  an  der 
Zahl  (s.  die  I'robe  bei  WClker),  Interessant  ist,  daß  diese 
Bilder  noch  antiken  Eintiuß  zu  verraten  scheinen. 

(m  fol.  109»— 133"  (=  104»— 128^=  107=*  -131''), 
Wanlkys  Nr.  VIII: 

Eine  wörtliche  altenglische  Übersetzung  der  auf  ein  ver- 
lorenes griechisches  Original  zurückgehenden  lateinischen 
Epistula  Alexnndri  ad  Aristotelem,  d.  h.  eines  apokryphen 
Briefes  des  Mazedonierkönigs  Alexander  an  seinen  Lehrer 
Aristoteles  über  die  Wunder  Indiens.  Der  Angelsachse  be- 
diente sich  der  älteren  von  den  zwei  erhaltenen  lateinischen 
Textrezensionen,  wie  sie  in  zahlreichen  Handschriften  seit 
dem  9.  Jahrhundert  und  vielen  alten  Drucken  uns  vorliegt. 
Gedruckt  ist  diese  ältere  Fassung  nach  Nero  D.  VIII  von 
COCKAYNE,  Narratiunculai  (London  1861  1  S.  51 — 62,  nach 
acht  anderen  Handschriften  von  B.  Kühler  im  Anhang  zu 
seiner  Ausgabe  der  lateinischen  Übersetzung  des  griechischen 
Alexanderromanes  (Julii  Valerii  res  gestae  Alexandri  Mace- 
donis  ed.  Kühler,  Leipzig  1888),  nach  9  Handschriften  von 
H.  SuCHiER,  Denkmäler  der  provenzalischen  Literatur  (Halle 
1883)   I,  473 — 480,   und   nach    einer   Handschrift   in    Mout- 

ttUBter'  §  24  (V);  töhuntian  'erjagen'  §  27  (V);  twi-men  §  9  (V)  nel;^n 
iwylice  (T)  für  lat.  'homodubii' ;  ungefrSgellc  'unerhört'  (V)  neben 
unfrelic  (T)  §  3 f.;  unvmstmberendUc  'unfruchtbar'  §  7;  utdu  'Weite'  (T; 
neben  mdness  (V)  §  19;  wtel-cyrging  'Walküre'  §  10  für  lat.  'Gor- 
goneus'. 


71, 4j  DiK  Beowulf-Handschiuft.  8i 

pellier  von  A.  Hilka,  Zur  Alexandersage  (Progr.  Breslau 
1909).  Die  neuste  Literaturzusammenstellung^)  über  diesen 
Text  bietet  Fr.  Pfister,  Kleine  Texte  zum  Alexanderroman 
(Heidelberg   19 10)  S.  IXf. 

Die  altenglische  Version  ist  abgedruckt  von  Cockayne, 
Narratiuuculse  (London  1861)  S.  i — 33  (dazu  Holders  Kol- 
lation, Anglia  I,  507 — 517)  und  von  W.  M.  Baskervill 
(Leipziger  Diss.  1881  =  Anglia  IV,  139  — 167).  Textbesse- 
rungen bieten  Fr.  Klaeber,  Modern  Language  Notes  18, 
246,  A.  Napier,  Contributions  to  Old  English  Lexicography 
(London  1906)  S.  78  Anm.  2,  und  Ad.  Braun,  Lautlehre  der 
angelsächsischen  Version  der  ^Epistola  Alexandri  ad  Aristo- 
telem'  (Leipzig   191 1)  S.  2  —  4. 

(12)  fol.  134* — 203''  (==  129^—198''=  132* — 201''), 
Wanleys  Nr.  IX: 

Das  altenglische  Beowulf  Epos,  das  im  Faksimile  repro- 
duziert ist  von  J.  Zupitza,  Beowulf,  Autotypes  of  the  Unique 
Cotton  MS.  Vitellius  A.  XV  in  the  British  Museum,  with  a 
Transliteration  and  Notes  (E.  E.  T.  S.  77),  London  1882.  Beste 
Ausgaben  von  A.  Holthausen  (Heidelberg  1905,  4.  Aufl. 
1914),  von  Heyne-Socin-Schücking  (Paderborn,  i.  Aufl.  1863, 
II.  Aufl.  1918)  und  Wyatt- Chambers  (Cambridge  1914). 
Die  zahlreichen  anderen  Ausgaben  sowie  die  reiche  Literatur 
über  das  Gedicht  verzeichnen  Holthausen,  2.  Teil  (^1913) 
S.  VIII — XX  und  A.  Brandl,  Geschichte  der  ae.  Literatur 
(1908)  S.  1015 — 1025.  Die  Literatur  der  letzten  Jahre  siehe 
im  Jahresbericht  für  germanische  Philologie  (1913 — 191 6). 
Dazu  wichtigere  neuere  Arbeiten,  wie  Schücking,  Wann  ent- 
stand der  Beowulf?  (Paul  u.  Braunes  Beiträge  zur  Gesch. 
d.  deutschen  Sprache  u.  Lit.  XLII  [19 17]  347 — 410)5  E.Björk- 


i)  Der  Brief  ist  von  verschiedenen  altfranzösischen  und  deutschen 
Dichtern  benutzt  und  auch  ins  Altisländische  (als  Anhang  zur 'Alexander- 
sage' ed.  Unger  S.  164  ff. ;  damit  ist  Mogks  Frage  nach  der  Quelle, 
Pauls  Grdr.  *II,  i,  876  A.  4,  beantwortet)  übersetzt.  Vgl.  auch  den  per- 
sischen Bundehes  ed.  Jüsti  S.  21. 

Phil.-hist.  Klaase  1919.  Bd.  LXXI.  4.  6 


82  M  A X  F«> itsTKii :  1 7 ' .  4 

MAN,  Beowult"  och  Sveriges  historia  (N(trilisk  tidskrift  191 7, 
it>i  — 179),  SköUliingiiiittens  mytisku  stamfüder  (Nordisk  tid- 
skrift 1918,  163  — 182)  und  Beowuli'-l'orHkning  och  niytoloj^i 
(Finsk  tidskrift  LXXXIV  [1918],  151— 271),  E.  Mogk,  Alt- 
germanische  Spuki^eschichten  (Noue  .lalirbüchor  f.  d.  klass. 
Altertum  XLlll  [1919J    103 — 117),  u.  a.  m. 

Zwei  Al)schriften  des  Beowulf-Tcxtes,  die  Von  bzw.  für 
den  Isländer  Guim  Thoukklin  im  Jahre  1787  angefertigt 
wurden,  zu  einer  Zeit,  wo  die  Zerstörung  der  Handschrift- 
kanteu  noch  nicht  ganz  so  weit  vorgeschritten  war  wie  heute, 
befinden  sich  auf  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Kopenhagen 
und  bilden  heute  eine  wichtige  Quelle  für  den  ehemaligen 
Zustand  der  Handschrift. 

Der  Schluß  des  Beowulf-Epus,  wie  es  uns  vorliegt,  mutet 
inhaltlich  und  melodisch  etwas  abrupt  an.  Da  der  uns  über- 
lieferte Text  mit  der  letzten  Zeile  von  fol.  203^  aufhört  und 
dahinter  nachweislich  (s.  S.  88)  drei  ganze  Lagen  ausgefallen 
sind,  mögen  auch  noch  eine  Anzahl  Verse  vom  Beowulf  mit- 
verlorengegangen  sein. 

Das  Gedicht  ist  ebenso  wie  das  folgende  Judith-P]po3  in 
der  Handschrift  fortlaufend  wie  Prosa  geschrieben.  Dies  ist, 
soweit  ich  sehe,  bei  allen  altenglischen  Dichtungen  der  Fall. 
Aber  einige  Handschriften,  wie  das  Caedmon-Manuskript^),  die 
Cambridger  Handschrift  Nr.  201  des  Corpus  Christi  College*), 
die  Parker-Chronik ^),  die  Cottoniani  Tiberius  B.  l*),  Tiberius 


i)  Siehe  das  Faksimile  von  fol.  73  a  (Originalgröße)  bei  W.  Skkat, 
Twelve  Facsimiles  of  Old  English  Manuscripts  (Oxford  1892)  Taf.  2,  und 
von  fol.  2  a  (verkleinert)  in  Holthauskns  Ausgabe  der  altenglischen  'Ge- 
nesis' (Heidelberg  1914).  Eine  photographische  Reproduktion  des  ganzen 
Kodex  in  der  Originalgröße  war  schon  191 3  von  Gollancz  für  die  Bri- 
tische Akademie  hergestellt  und  dürfte  inzwischen  wohl  veröflfentlicht  sein. 

2)  Siehe  die  fünf  Gedichte  daraus  bei  J.  R.  Lumby,  Be  Domes  D«ge 
(London  1876). 

3)  Siehe  die  Gedichte  zu  den  Jahren  937,  941,  973  und  975  bei 
Thokpe,  Anglo-Saxon  Chronicle  (London  1861),  und  Plummer,  Two  of  the 
Saxon  Chronicles  Parallel  (Oxford  1892). 

4)  S.  den  Abdruck  der  Denksprüche  und   des  Heiligenkalenders 


71,4]  Die  Beowulp-Handschrift.  83 

B.  IV  ^),  Tiberius  A.  VP),  Domitianus  A.  VIII  ä)  sowie  die  Peter- 
borough-Annalen*)  verwenden  regelmäßig,  wenn  auch  mit  eini- 
gen Entgleisungen,  über  der  Zeile  stehende  Punkte,  um  die  ein- 
zelnen Halbverse  abzuteilen^).  Dieses  Verfahren  kennen  die  bei- 
den Beowulf-Schreiber  nicht;  jedoch  gebrauchen  sie  nach  der  all- 
gemein auch  in  Prosa  üblichen  Weise  ®)  solche  Punkte,  um  größere 
oder  kleinere  Sprechpausen  zu  bezeichnen,  die  naturgemäß  mehi- 
fach  mit  den  metrischen  Einschnitten  zusammenfallen'').  Man 


daraus  bei  Plummer,  Saxon  Chronicles  (1892)  I,  273—282;  die  Chronik- 
gedichte zu  den  Jahren  937,  942,  974,  97S^  ^o"  und  1065  bei  Thorpe 
und  Plummer. 

i)  S.  die  Chronikgedichte  zu  937,  942,  959,  975,  loii  und  1065 
bei  Thobpe. 

2)  S.  die  Chronikgedichte  zu  937,  942,  974  und  975  bei  Thorpe. 

3)  S.  das  Chronikgedicht  zu  958  bei  Thorpe. 

4)  B.  die  Chronikgedichte  zu  959,  975  und  loii  bei  Thorpe. 

5)  Vgl.  J.  Lawrence,  Chapters  on  Alliterative  Verse  (London  1893) 
g.  1—37:  Chap.  I.  'The  Metrical  Pointing  in  Codex  Junius  XL'  Daß 
die  metrischen  Punkte,  wie  Lawrence  meint,  nur  in  Junius  XI  vorkämen, 
ist  ein  Irrtum.  Daß  dieser  Brauch  auch  in  mittelenglischer  Zeit  bis 
an  die  Schwelle  des  15.  Jahrhunderts  beibehalten  wird,  lehrt  K.  Luick, 
Beiblatt  zur  Anglia  23  (19 12),  227  f.  —  Wir  finden  dieselbe  Schreib- 
weise —  Prosa  mit  Abteilung  der  Halbzeilen  durch  Punkte  —  auch 
regelmäßig  bei  der  mhd.  Nibelungen-Handschrift  C  (Donaueschingen) 
aus  dem  13.  Jh.,  sowie  bei  der  lateinischen  Eulalia-Sequenz  zu  Valen- 
ciennes  (Faks.  bei  Suchier  S.  104).  Das  ahd.  Ludwigslied  wie  die  in 
derselben  Handschrift  (um  900)  unmittelbar  voraufgehende  altfranzö- 
sische Eulalia-Sequenz  gebrauchen  ebenfalls  regelmäßig  metrische 
Punkte,  teilen  aber  außerdem  noch  Langzeilen  und  Halbzeilen  wie  beim 
modernen  Drucke  räumlich  ab. 

6)  W.  Keller,  Angelsächsische  Paläographie  (Berlin  1906)  S.  5of; 
LuicK,  Beibl.  zur  Anglia  28,  228—232. 

7)  Eine  Axt  Mittelstellung  nimmt  das  Andreas-Epos  des  Vercelli- 
Kodex  ein,  da  hier  der  Schreiber  etwa  in  der  Hälfte  der  Fälle  den 
metrischen  Punkt  ausläßt,  aber  zweifellos  metrische,  nicht  bloß  satz- 
rhythmische Punkte  verwendet.  Die  übrigen  fünf  Gedichte  des  Vercelli- 
Kodex,  vor  allem  auch  die  'Elene',  weisen  keinerlei  metrische  Punkte 
auf  und  auch  nur  eine  höchst  spärliche  Verwendung  des  syntaktischen 
Punktes.  Dies  lehrt,  daß  die  metrischen  Punkte  im  Andreas  nicht  vom 
Vercelli-Kopisten  herrühren,  sondern  aus  seiner  Vorlage  stammen.   Weil 

6* 


i 


84  Max  F((kstkr:  .7'.  4 

darf   in    Ictztcrom    Falk'    alxT   iiiclit    von    inetrisehen   I'unktoii 
sprecluMi.  wie  F.  A.  Bi-ackhhkn*)  es  tut. 

Wi'iterhin  ist  das  Beowuli'-Fpos,  wie  das  Judith-Gedicht, 
(hirch  röniisclu'  ZitlVrii  in  Kapitel  (Mii^otcilt,  die  nicht  immer 
mit  Sinneinschuitten  zusamnicnlallou,  sondern  wie  hei  Kapitel 
XXXI,  XXXV  und  X LI  eine  Hede  zerschneiden  oder  wie  hei  XX  V 
(vor  Vers  1740)  und  XXX  (vor  Vers  2039)  sogar  mitten  in 
den  Satz  hineinphitzen.*)  Diese  Kapitelzahlen  nehmen  hei  dem 
ersten  Beowulf-Sehreiber  (I — XXVll)  stets  eine  ganze~Zeile 
für  sich  in  Anspruch,  während  sie  vom  zweiten,  mit  Ausnahme 
von  Kap.  XXXIV,  stets  an  das  Ende  der  vorher<(eheuden,  leer 
gebliebenen    Zeile    gesetzt    sind.*)    Der   technische   Name   für 

ihm  das  Setzeu  von  metrischen  Punkten  nicht  sonderlich  geläufig  war, 
hat  er  sie  offenbar  so  häutig  bei  seiner  Abschril't  des  'Andreas'  ver- 
gessen. Danach  ist  Bj.ackbu k.vs  zu  allgemein  gehalfone  Behauptung  über 
den  Vercelli-Kodex  zu  korrigieren.  —  Auch  das  Exeterbuch  kennt  die 
metrischen  Punkte  nicht,  was  be.sonder8  zu  betonen  ist,  weil  Thobpk 
bei  seinem  Abdrucke  (Codex  Exoniensis  1842)  regelmäßig  solche  gesetzt 
hat.  Vgl.  das  Faksimile  daraus  von  der  unteren  Hälfte  von  fol.  19  b 
(;=  Crist  V.  808 — 822)  bei  Thompson,  An  Introduction  to  Greek  and  Latin 
Palaeography  (Oxford  1912)  S.  395,  sowie,  um  die  Hälfte  verkleinert, 
von  fol.  105  a,  109  b,  122  b,  124  b— 130b  (=  Rätsel  Nr.  14—17;  34—36; 
58;  60—93  bei  TuAüTMANN,  Die  altenglischen  Rätsel,  Heidelberg  191 5). 
i)  Exodus   and   Daniel  ed.  Blackburn  (Boston  1907)   S.  XV  Anm. 

2)  Dieselbe  Klage  gilt  für  den  Cottonianus  des  altsächsischen  He- 
iland :  hier  fallen  die  Fittenzahlen  Vll,  IX,  XV,  XXVI,  XXIX  und  LXI 
mitten  in  den  Satz,  wo  sie  nicht  hingehören  können.  Das  gleiche  gilt 
von  den  Fittenzahlen  XVIII,  XXH,  XXVH,  XXXCI,  XXXIV,  XXXVI, 
XXX VIII,  XXXIX,  LV,  LVin  und  LXIX,  wo  indes  die  neue  Fitte  mit 
dem  2.  Halbverse  der  Langzeile  beginnt,  vor  dessen  erster  Hälfte  sie 
stehen.  Es  scheint  fast,  als  ob  der  Cotton-Schreiber  eine  Vorlage  be- 
nutzte, die  die  Langzeilen  richtig  absetzte  und  die  Fittenzahlen,  wo 
sie  eigentlich  in  die  Zäsur  fielen,  auf  den  Rand  stellte.  Erst  dadurch, 
daß  der  Cottonische  Kopist  die  Verse  wie  Prosa  schrieb,  wären  dann 
die  Zahlen  an  die  falsche  Stelle  ins  Satzinnere  geraten.  Gegen  diese 
Annahme  spricht  nicht,  daß  der  Schreiber  zweimal  (bei  Fitte  XL  und 
XLIV)  die  Zahlen  richtig  in  die  Zäsur  gesetzt  hat. 

3)  Auch  bei  der  'Elene'  nehmen  die  meisten  Fittenzahlen  eine 
ganze  Zeile  ein;  nur  zweimal  sind  sie  auf  das  freie  Zeilenende  gesetzt 
(Nr.  IV  u.  IX). 


71,4]  Die  Beowulf-Handschrift.  85 

solche  Kapitelabschnitte  war  bei  den  Westgermanen  offenbar 
„Fitte",  wgm.*fiUjö^),  welches  uns  für  das  Altsächsische  (fittea) 
wie  für  das  Altenglische  (fitt)  in  dieser  Verwendung  genügend 
bezeugt  ist.^) 


i)  Vgl.  MüLLENHOFF,  Zcitschr.  f.  d.  Altert.  16,  141  — 143;  A.  Torp, 
Wortschatz  der  Germanischen  Spracheinheit  (Göttingen  1909)  S.  226 
unter  urgm.  *fetl,  *fetjö. 

2)  Vgl.  fürs  Altsächsische  die  bekannte  Stelle  der  Heliand-Präfatio : 
iuxta  morem  uero  illins  poematis  omne  opus  per  uitteas  distinxit,  quas 
nos  letiones  uel  sententias  possumus  appellare  (Sievers  S.  4).  Im  Alt- 
englischen tritt  die  Bedeutung  'Leseabschnitt'  als  Teil  eines  Ganzen  nur 
in  der  Erfurter  Glosse  amputatio,  iina  lectio  'fiif  [lies  fitt,  vgl.  Anglia 
XIV,  292]  hervor.  In  den  übrigen  vier  Belegen  haben  wir  die  allgemei- 
nere Bedeutung  'Lied,  Gedicht' :  Ic  sceal  giet  sprecan,  fon  on  fitte  folc- 
cüdne  rced,  licaledum  seegean  (Beet.  Metr.  Einl.  9);  Nu  ic  fitte  gen  ymb 
fisca  cynn  wille  woffcrcefte  wordum  cyßan  Walf.  i ;  Her  mceg  findan  fore- 
pances  gleaw,  se-&e  hine  lysted  leo&giddunga,  Mca  ßas  fitte  fegde  Fata 
Apostel.  98;  Da  se  Wisdom  ßa  ßas  fitte  asiingen  hcefdc  ,Elfred  Beet. 
30,  I.  Dagegen  hat  das  Mittelenglische  noch  reichliche  Belege  für  die 
Bedeutung  'Abschnitt  eines  [epischen  oder  didaktischen]  Gedichtes' : 
z.  B.  Loo,  lordes  myne,  heere  is  a  fit  Chaucer  C.  T.  B  2078,  wo  die  beiden 
Teile  von  'Sir  Thopas'  mit  The  first  fit  und  The  second  fit  überschrieben 
sind;  Of  Ipomydon  here  is  a  fytte  Ipom  1524;  Here  endyth  ße  fürst  fit. 
Hotve  saye  ye?  Will  ye  any  more  of  hit?  Degrev.  368;  Thys  ys  the  thrydd 
fytt  of  owre  geste  Eglam.  nach  876  in  F  (ähnlich  343,  630);  New  fynes 
here  a  fitt  <&  folows  a  nothire  Alexand.  5626 ;  Of  curtasie  here  endis  ße 
secunde  fyt  Boke  of  Curtasye  349  (vorher  Here  endithe  ße  first  boke); 
Anoßer  fytt  ßenne  most  I  spelle  ib.  806;  Here  is  a  fytte;  have  hit  in 
uiynde  thette  the  best  bowrd  is  behynde  Huntyng  of  the  Hare  118.  Be- 
sonders lange  hält  sich  der  Ausdruck  in  der  Balladendichtung  und  ist 
aus  dieser,  namentlich  durch  Percy,  auch  in  die  neuenglische  Dichter- 
sprache gedrungen:  z.  B.  sind  in  der  'Gest  of  Robyn  Hode'  alle  acht 
Kapitel  so  überschrieben  {The  seconde  fytte,  The  thirde  fytte  usw.) ;  na- 
mentlich hat  gewirkt  die  Chevy-Chace-Ballade  mit  ihrem  the  first  fit 
here  I  fynde  ['beende']  24,  2;  danach  noch  Byron,  Childe  Harold  I,  xciii: 
Here  is  one  fytte  of  Harold's  pilgrimage,  und  andere  (s.  NED).  Das 
Mittelenglische  kennt  daneben  auch  die  allgemeine  Bedeutung  'Ge- 
dicht' oder  'Lied':  z.  B.  Cumseß  ßer  a  fitte  Langland  A.  i,  139;  As 
god  of  heuen  has  gyffyn  me  tvit,  shall  I  nmo  syng  you  a  fytt  icith  my 
mynstrelsy  Towneley  Play  VII,  104.  Daraus  hat  sich  die  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  geläufigste  Bedeutung  für  ein  'Musikstück'  entwickelt: 


86  Max  Fökstkr:  [7'i4 

Im  Beowulf  Bind  43  solcher  Fitten  ubgcteilt;  jedoch  hat 
der  Schreiber  die  Kinleitung  uiclit  miti^eziihlt,  dafür  aber  beim 
Numerieren  die  Ziilil  XX VI II  übcrsj)rungon,  indem  er  von 
XXVII  gleich  auf  „XXVIIII"  überjrjn^r^  welches  allerdings 
nachträglich  durch  Ausradioren  des  letzten  Grundstriches  auf 
„XXVIIP'  reduziert  ist. 

Die  Einteilung    in   Fitten    finden    wir   bei   allen  längeren 
altonglischen  Dichtungen,  selbst  bei  einem  relativ  so  kurzem 
Werke  wie  dem 'Azarias',  dessen  191  Verse  iu  zwei  Abschnitte 
zerlegt  sind.    Indes  sind  die  Fitten  nicht  immer,  wie  im  Beo- 
wulf,  in  der  'Judith'  und  der  'Elene'  mit  römischen  Zahlen 
gezählt,    sondern    viel    häufiger   nur   durch    eine   freigelassene 
Zeile  mit  folgender  Initiale  bezeichnet.    Letzteres  ist  z.  B.  der 
Fall  bei  dem  'Andreas'  des  Vercelli-Kodex  und  bei  allen  Texten 
des  Exeterbuchs,  wie  dem  Crist,  dem  Guthlac,  der  Juliane  und 
anderen.  Eine  Art  Zwischenstellung  nimmt  das  Ca;dmon-Manu- 
skript^)  ein,  bei  dem  iu  15  Fällen  eine  Zahl  eingesetzt  ist,  die 
Mehrheit  der  Fitten   aber  nur  durch  Absatz  und  Initiale  ge- 
kennzeichnet ist.    Dajß  aber  auch  diese  nicht  besonders  nume- 
rierten  Abschnitte   als   vollzählige   Fitten   betrachtet  wurden, 
geht   daraus   hervor,   daß   sie   bei   der   fortlaufenden   Zählung 
miteingerechnet  sind.^)    In  ähnlicher  Weise  sind  auch  in  der 
Elene  drei  Fitten  (I,  XI,  XII)  ohne  Nummern  geblieben,  aber 
doch  mitgezählt.    Und  im  Beowulf  ist  dies  in  zwei  Fällen  der 
FaU:  bei  Fitte  XXX,  die  nur  durch  die  Initiale  in  OöOM  am 


z.  B.  Goe  call  my  musitians  .  .  .,  hefore  my  siceete  hearts  dore  we  will 
haue  a  fit  üdall's  Roister  Doister  III,  3,  144;  andere  Belege  im  NED. 
Vgl.  die  ähnliche  Bedeutungsentwicklung  von  ahd.  liod  'Liedabschnitt' 
zu  'Lied'. 

i)  Merkwürdig  ist  bei  dieser  Handschrift  auch,  daß  die  drei  ersten 
Gedichte  Genesis,  Exodus  und  Daniel  die  Fitten  durchzählen,  als  ob 
alle  drei  ein  einziges  Werk  bildeten.  Man  sieht  daraus,  daß  die  Durch- 
zählung der  Fitten  für  die  Frage  der  Einheitlichkeit  altenglischer  Dich- 
tungen nichts  bedeutet. 

2)  Beachtenswert  nach  dieser  Richtung  ist  auch  die  Tatsache,  daß 
von  den  beiden  Handschriften  des  altsächsischen  Heliand  nur  eine,  der 
Cottonianus,  eine  Numerierung  der  Fitten  aufweist. 


71, 4J  Die  Beowulf-Handschkift.  87 

Zeilenanfange  angedeutet  ist,  und  bei  Fitte  XXXIX  (öa),  wo 
wenigstens  heute  keine  Zahl  mehr  zu  lesen  ist,  wenn  auch 
Thorkelins  Abschrift  eine  „XXXVIIP'  dort  bietet,  die  mit  an- 
derer  Tinte  nachgetragen  scheint. 

Der  Umfang  der  einzelnen  Fitten  schwankt  zwischen  43 
(Fitte  VII)  und  142  Versen  (Fitte  XXXV);  im  Durchschnitt 
sind  es  jedoch  74  Verse.*)  So  ziemlich  dasselbe  Bild  bieten 
die  anderen  altenglischen  Dichtungen^),  wenn  sich  auch  'Crist 
und  Satan'  durch  besonders  kurze  Fitten  (durchschnittlich 
55  Verse)  und  Juliane  (105  Vv.),  Judith  (112  Vv.),  Andreas 
(115  Vv.)  und  Daniel  (127  Vv.)  durch  besonders  lange  Fitten 
auszeichnen.  Diese  merkwürdige  Gleichheit  des  Umfanges  der 
Fitten  bei  so  verschiedenartigen  Werken  lehrt,  daß  die  Fitten- 
einteilung  nicht  auf  einer  künstlerisch- organischen  Gliederung 
des  Inhaltes  beruht,  sondern  lediglich  den  praktischen  Zweck 
hat,  bequeme  Leseabschnitte  abzuteilen.  Hat  doch  W.  P.  Ker^) 
mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  das  ßeowulf-Manuskript 
nicht  etwa,  wie  der  Oxforder  Roland,  das  Gebrauchsexemplar 
eines  fahrenden  Sängers  gewesen  sein  kann,  sondern,  wie  übri- 
gens auch  das  Caedmon-Manuskript,  das  Exeterbuch  und  der 
Vercelli-Kodex,  seinem  ganzen  Umfange  und  seiner  Aufmachung 
nach  als  Lesebuch  in  die  Bibliothek  eines  Klosters  oder  eines 
großen  Hauses  gehört  hat,  also  aus  einer  Welt  der  Buchgelehr- 
Bamkeit  stammt. 

1)  Die  Verszahlen  für  die  einzelnen  Beowulf-Fitten  sind:  52  (Einl.), 
62  (I),  74  (11),  69  (HI),  62  (IV),  51  (V),  85  (VI),  43  (VII),  60  (VIII),  103  (IX), 
48  (X),  81  (Xl;,  46  (XII),  88  (XIII),  66  (XIV),  59  (XV),  75  (XVI),  67  (XVII), 
59  (XVni),  70  (XIX),  62  (XX),  90  (XXI),  84  (XXII),  94  (XXIII),  89(XXIV), 
77  (XXV),  71  (XXVI),  75  (XXVII),  76  (XXVJII),  105  (XXX),  ii  (XXXI), 
91  (XXXII),  79(XXX1II),69(XXXIV),  I42(XXXV),92  (XXXVI),  5 8  (XXXVII), 
69  (XXXVIII),  71  (XXIX),  54  (XL),  112  (XLI),  79  (XLII),  46  (XLII  un- 
vollst.?). —  Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  dem  altsächsischen  He- 
liand,  wo,  wenn  wir  von  der  letzten,  unvollständigen  Fitte  LXXI  ab- 
sehen, die  einzelnen  Fitten  zwischen  48  (Nr.  XXX VUI)  und  166  Versen 
(Nr.  XXX)  schwanken  und  im  Durchschnitt  84  Verse  haben. 

2)  Die  Durchschnittszahlen  sind  bei  der  Genesis  72  Verse,  Exodus 
74  Vv.,  Azarias  85  Vv.,  Elene  88  Vv.,  Guthlac  90  Vv.  und  Crist  98  Verse. 

3)  W.  P.  Kkr,  The  Dark  Ages  (London  1904)  S.  2 50  f. 


88  Max  Fürstkr:  [7»,  4 

(13)  toi.  204a — 21  ib  (=-  199a — 2obh  =  202a — 2ogb), 
Wanleys  Nr.  X: 

Fragment  (350  Verse)  einer  freien  poetischen  Paraphrast' 
des  apokryphen  (auf  oin  verlorenes  hebräisches  Orij^inal  zu- 
rückgehenden) griechischen  .Iiiditli-Buches,  welches  dem  angel- 
sächsischen Dichter  natürlich  in  der  kürzenden  lateinisdieii 
Übersetzung  des  Hieronymus  vorgelegen  hat. 

Das  (jledicht  ist  in  der  Handschrift  fortlaufend  als  Prosa 
geschrieben  und  durch  mitten  in  den  Text  eingesetzte  römische 
ZiÖern  (X,  XI,  XII)  in  Fitten*)  eingeteilt.  Beste  Ausgabe  von 
Albert  Cook,  Judith,  an  Old  English  Epic  Fragment  (Boston 
1904),  woselbst  sich  auch  ein  gutes  verkleinertes  Faksimile  von 
fol.  209b  sowie  ein  sorgfältiges  Literaturverzeichnis  (S.37 — 40) 
rindet.  Dazu  Brandl,  Geschichte  der  angelsächsischen  Literatur 
S.  1091.  Eine  vollständige  Photographie  des  ganzen  Gedichtes 
befindet  sich  im  Besitz  von  Prof.  A  Cook  an  der  Yale-Universität. 

Da  der  altenglische  Text  mitten  im  Satz  und  im  Vers 
einsetzt,  muß  der  Anfang  fehlen.  Wieviel  fortgefallen  ist,  läßt 
sich  auf  zwei  Weisen  berechnen,  die  beide  zu  dem  gleichen 
Ergebnis  führen,  nämlich  mit  Hilfe  der  lateinischen  Quelle  und 
mit  Hilfe  der  in  den  Text  eingetragenen  Fitteneinteilung.  Ein 
Vergleich  mit  der  Quelle  lehrt,  daß  der  uns  erhaltene  Text 
mit  dem  12.  Kapitel  der  lateinischen  Version  einsetzt,  daß  das 
verloren  gegangene  Anfangsstück  also  die  ersten  1 1  von  den 
16  Kapiteln  des  Judith-Buches  umfaßt  haben  muß.  Danach 
wäre  also  etwas  weniger  als  drei  Viertel,  d.  h.  ca.  950  bis 
1000  Verse,  fortgefallen,  so  daß  das  ganze  Gedicht  ungefähr 
den  gleichen  Umfang  wie  Cynewulfs  Elene  (1320  Verse)  ge- 
habt hätte.  Da  die  erhaltenen  350  Verse  genau  16  Manuskript- 
seiten, also  eine  achtblättrige  Lage  füllen,  würden  mithin 
3  X  16  ==  48  Seiten,  d.  h.  drei-)  ebensolche  Bogenlagen  aus- 


1)  Vgl.  darüber  oben  S.  840'. 

2)  Drei  achtblättrige  Lagen  würden  Raum  für  1050  Verse  gewähren, 
während  wir  den  Verlust  nur  auf  950 — 1000  Verse  berechnet  haben. 
Den  sonach  übrig  bleibenden  Raum  mag  der  verlorene  Schluß  des  Beo- 
wulfs  (vgl.  8.  82)  ausgefüllt  haben. 


71,4]  DiK  Bkowi  LP-Handschrift.  89 

gefallen  sein,  —  was,  wie  wir  oben  S.  20  sahen,  gut  zu  der 
Lagenverteilung  der  Handschrift  paßt.  Die  andere  Berechnungs- 
weise,  aus  den  erhaltenen  Fittenzahlen,  gibt  das  gleiche  Bild.  Das 
erhaltene  Fragment  setzt  mit  den  letzten  1 4  Versen  der  IX.  Fitte 
ein  und  verteilt  sich  auf  drei  weitere  Fitten.  Sonach  hat  das 
Gedicht  aus  12  Fitten  bestanden,  von  denen  etwas  mehr  als 
3  erhalten  sind.  Auch  nach  dieser  Berechnung  müssen  fast 
drei  Viertel  des  Ganzen  verloren  gegangen  sein.  Voraussetzung 
ist  dabei,  daß  die  verlorenen  Fitten  ziemlich  dieselbe  Länge 
gehabt  haben  wie  die  erhaltenen  (X  :  107  Verse;  XI  :  114  V; 
XII:  115  V.),  also,  wie  das  altenglische  Daniel-Epos,  verhält- 
nismäßig umfangreich  gewesen  sind. 

Daß  auch  der  Schluß  des  Gedichtes  fehle,  wie  H.  L.  D.  Ward, 
Catalogue  of  Romances  (1883)  I,  134  meint,  dafür  läßt  sich 
keinerlei  Anhaltspunkt  gewinnen,  wenn  auch  der  Schlußhym- 
nus der  Judith  (==  Kap.  XVI,  2—21  der  Quelle)  zu  9  Versen 
zusammengefaßt  verhältnismäßig  kurz  vom  Angelsachsen  be- 
handelt erscheint  und  die  weiteren  Lebensschicksale  der  Ju- 
dith (XVI,  2^ — 31)  gänzlich  übergangen  sind.  Ein  gleiches 
ist  aber  auch  in  Abt  iElfrics  Judith-Homilie^)  geschehen,  die 
als  urprosaisches  Gegenstück  eines  nüchtern-lehrhaften  Homi- 
leten mit  der  hochpoetischen  Schilderung  des  angelsächsischen 
Dichters  verglichen  werden  mag.  Wer  das  altenglische  Ge- 
dicht unbeeinflußt  durch  die  QueUe  liest,  wird  meines  Er- 
achtens  den  uns'  vorliegenden  letzten  Satz  als  einen  richtigen 
Abschluß  des  Ganzen  empfinden. 


i)  Ed.  Br.  Assmanm,  Angelsächsische  Homilien  und  Heiligenlegen- 
den (Kassel  1889)  S.  102—114. 


fb 


H/ecijAe-  ^o^Yurcn^  be:>jt}iztie 

'  -ö^efiai^^  onmi^^"  to^pv'Tief  nj^aii^o 
^li^um  hon)  Wp^  fbui^enie^  "jhe^T^ 


l  Vitellius    A.  XV.    Fol.  96b:    Christophorus 

Hl  links  und   unten  die  Sein  fi    beschnitten 


Tafel  II      ^ 


fft^r^c  lea)  urt^  l^Cöw  rl^^ 
^  IfetC  fvlpiCOMfe  ^ige-c^ni  ^mm(m<xhf% 

r Pt^  Hf^  y^^'S'  ^^^'^^^  f|itlu mutier 

],on       ain^e^  Sftec^  ^i^V<^ -jinwjr:  ^c 

vm  •vvjio^e  pi^l^ü?)  onTej;um  j^mrw 
Ktne  hon  Y'^cvjcf  nan  nch  iXil^n^  V V^'^  ^ 

Viteüius    A.  XV.    Fol.   110a:    Alexander-Brief 

rechts  und   unten  die  Schrift  beschnitten 


Berichte  über  die  Verliandluiig-eii 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologisch-liistorisclie  Klasse 

71.  Band.     1919.     5.  Heft 


Wilh.  H.  Röscher 

Die  hippokratische  Schrift 

von  der  Siebenzahl  und  ihr  Verhältnis 

zum  Altpythagoreismus 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  ältesten 
Philosophie  und  Geographie 

Mit  3  Figuren  im  Text 


Leipzig 
Bei  B.  G.  Teubner 

191g 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  5.  Tuli  1919- 

Dae  Manuskript  eingeliefert  am  8.  Juli  i9'9- 

Druckfertig  erklärt  am  4.  November  1919- 


Vorwort. 

Die  eigentliche  Hauptaufgabe  der  nachstehenden  Unter- 
suchung besteht  zwar  in  dem  ausführlichen  Beweis  des  vor- 
pythagoreischen Ursprungs  der  merkwürdigen  Schrift 
üisqI  ißSofiddojv,  aber  sie  ist  damit  noch  keineswegs  völlig 
erschöpft.  Denn  bei  der  eingehenden,  bisher  noch  nicht  unter- 
nommenen Vergleichung  sAler  wesentlichen  Grundgedanken 
einerseits  des  hebdomadischen  Kosmologen,  anderseits  des 
Pythagoras  und  seiner  älteren  Schüler  ergibt  sich  nicht  bloß 
das  höhere  Alter  und  die  völlige  Unabhängigkeit  des  ersteren, 
sondern  auch  eine  ungeahnte  Fülle  wertvoller  Einzelerkennt- 
nisse, die  dem  Verständnis  beider  philosophischen  Richtungen 
zugute  kommen  müssen. 

Auf  welche  Hauptpunkte  sich  diese  unsere  Vergleichung 
erstreckt,  möge  aus  folgender  summarischen  Inhaltsangabe 
der  einzelnen  Kaj)itel  erhellen: 

Kap.  I:  Geographisches: 

a)  Die   Weltkarte   und   Erdkunde   des   Hebdomadikers:    S.   i  — 16. 

b)  Die  Weltkarte  und  Erdkunde  der  Altpythagoreer:  S.  16 — 29. 
Kap.  II:  Arithmetisches: 

a)  Die    primitive    (einseitige)    Zahlenlehre    des    Hebdomadikers: 
S.  30—42. 

b)  Die  vielseitige  (fortgeschrittene)  Zahlenlehre  der  Altpythagoreer: 
S.  43-63. 

'Kap.  III:  Astronomisches: 

a)  Die  Gestirnlehre  des  Hebdomadikers:  S.  63 — 74. 

b)  Die  Gestirn-  und  Sphärenlehre  der  Altpythagoreer:    S.  74 — 79. 
Kap.  IV:  Psychologisches: 

a)  Die  Psychologie  des  Hebdomadikers:  S.  79 — 81. 

b)  Die    Psychologie    des    'Pythagoras'    und    der    Altpythagoreer: 
S.  82—83. 


[V  VOKWOKT  (71.5 

Kap.   V:   Musikalischoä  utul   A"k  ust  ischo.i:   S.  8.5— 84 

Dio  völliv^o  Ignorierung  der  zuerRt  von  Tythagora«'  entdeckten 
musikaliachi'n  und  akustisclion  Hebdomaden  (Theorie  der  7  Töne 
des  Hoptacliords  und  iler  Sphilronharmoniei  eeiteus  des  Hebdo- 
niadikers  beweist  dessen  völlige  Unul)h;ingigkeit  von  der  Lelire 
des  'PytbagorasV 

Kap.  VI:  fTjer  E.  Pfkikkkrs  Versuch,  die  Abhängigkeit  des  Hebdoma- 
dikera  von  'P} tliagoras'  zu  erweisen:  S.  84—88. 

Anhang  I:    Aphorismen   zum  Problem    der  Schrift  von   der  Siebenzahl: 
vS.  89—94. 

Anhang  II:    Briefliche  Äußerungen    hervorragender  Forscher  zum  Pro- 
blem der  Schrift  n.  fßf).:  S.  95—101. 

Anhang  III.:    Über    die    geographische    Bedeutung    von  "EUtj,-    novro^i 
(KlXi^artovTog'^)  in  Kap.  XI:  S.  101  —  104. 

Anhang  IV:  Tythagora.^'  als  Geograph:  S.  104  —  103. 

Nachträge:  S.  105  ff. 

Alphabetisclies  Inhaltsverzeichnis:  S.  108  tt 

Stellenregister:  S.  114 


I.  Geographisches. 

a)  Die  Erdkunde  und  Weltkarte  des  Hebdomadikers. 
Für  den  vorpythagoreischen  Ursprung  der  hebdoma- 
dischen  Kosmologie  in  der  Schrift  von  der  Siebenzahl  gibt 
es  kein  beweiskräftigeres  Argument  als  den  Hinweis  auf  die 
sogenannte  'Weltkarte'  des  hippokratischen  Hebdomadikers, 
wie  ich  schon  verschiedene  Male  energisch  betont  habe,  ohne 
jedoch  die  bestimmt  erwartete  allgemeine  Zustimmung  zu 
finden.^)  Vielleicht  liegt  das  zum  Teil  an  dem  Umstände, 
daß  meine  Beweisgi'ünde  deshalb  nicht  gehörig  wirken  konn- 
ten, weil  sie  nicht  einheitlich  entwickelt  waren,  sondern  erst 
nach  und  nach  in  verschiedenen  Schriften  erschienen  sind, 
deren  vollständio-e  Kenntnisnahme  wohl  manchem  Beurteiler 
nicht  ohne  weiteres  zugemutet  werden  konnte.^)  Ich  sehe  mich 

i)  Ihre  Zustimmung  zu  meinen  Annahmen  haben  öffentlich 
erklärt:  E.  Drerup  (Literar.  Zentralbl.  191 1  Sp.  1310  — 1314  und  1913 
Sp.  I444f),  Pagel  (Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  191 1  Nr.  42  Sp.  ii37f- 
u.  Janus  XVI  [191 1]  S.  5 12 f.),  Sal.  Reinach  (Revue  Archeologique  19" 
II  p.  390),  R.  Fritzsche  ( Viert eljahrschr.  f.  wiss.  Philosophie  u.  Sozio- 
logie 1912  S.  119 — 124),  My  (=  Mohdry  Beaudouix  de  Toulouse:  Revue 
Critique  1914  Nr.  16  S.  301—303),  W.  Nestle  ("Wochenschr.  f.  klass. 
Philol.  1914  Nr.  24  Sp.  648  ff.  u.  Württemb.  Korrespondenzbl.  f.  d.  höh. 
Schulen  1914  S.  452),  0.  Braun  (Monatsschr.  f.  höh.  Schulen  1915  S.  348); 
brieflich  (s.  Anhang  11):  ü.  v.  Wilamowitz,  Windelband  u.  a.;  ab- 
lehnend haben  sich  geäußert:  H.  Diels  (D.  Literaturzeitung  XXXII 
[191 1]  Sp.  1861  — 1866),  LoRTziNG  (Berl.  Philolog.  Wochenschr.  1912  Nr. 
44),  E.  Pfeiffer  (Studien  z.  antiken  Sternglauben  =  Boll,  Ztoixsla 
[i9i6]il  S.  3off.  und  Berl.  Philolog.  Wochenschr.  1914  Nr.  45  Sp.  I4i3ff.), 
Fr.  Boll  (Lebensalter  S.  49  ff.  ==  Neue  Jahrbb.  f.  d.  klass.  Altert,  usw. 

XXXI  [1913]  S.  i37ff.)- 

2)  Vgl.RoscHER, Hebdomadenlehren, Leipz.  1906,  S.  44ff.  (=  Abb.  I). 
Derselbe,  Über  Alter,  Ursprung  u.  Bedeutung  d.  hippokrat.  Schrift  von 
d.  Siebenzahl,   Leipz.    191 1    (=  Abb.  II).    Derselbe,    Die  neuentdeckte 

Phil.-hist.  Klasse  1919.   Bd.  LXXI.  5.  I 


k 


2  Wii.n.  H.  RoscHKu:  l7'.5 

• 

deshalb  jetzt  fjjenöli^t ,  die  ^aiv/.e  Frage  noch  einmal  mö^- 
lich.st  gründlich  und  /.nsununcnfassend  /um  Teil  mit  lliU'ü 
neuer  Beweisgründe  zu  hehandoln,  \ind  gehe  zu  diesem  Zwecke 
von  dem  teils  in  lateinischer,  teils  in  aral)i8cher  Sprache 
überlieferten  Wortlaut  des  ii.  Kapitels  aus  (vgl.  meine  Aus- 
gabe der  Schrift  :r.  ißd.  S.  15 f.).  Die  beiden  maligebeuden 
Handschriften  bieten  folgenden  Text: 

Ambros.  lat.  G  108:  Parisin.  lat.  7027: 
Terra  autem  omuia    septeru  par-  Terra  autem  oninis   Bepteni  par- 
tes habet:  tes  habet: 

[I]  Caput  et  faciem,  P<^e>lopon-  caput  et  faciem  Pelopontium ,  ma- 
<'De8")um  [lls:  Pylopontiura],  gnarutn  animarum  habitationum. 
magnarum   animarum    habitatio- 

nem; 

[II]  Secunchim:  I<8th)raus  [Hs:  Secundum:  Immo:  medullam  cer- 
Idymus]:  medulla  cervix  ')  vix. 

[IUI  Tertia  pars  inter  viscera  <mc-  Tertia  pars   inter  viscera  <^media> 

dia?>  e<fs>t  [Hs:   et]  ^)  praecor-  e<^8>t  [Hs:  et]  praecordia:  Tome, 
dia:  I<(o)nia  [Ha:  luniae]. 

[IV]  Quarta,  crura:  Hell<e>spontus.  Quarta,  crura:  <H>ellidpontum. 

[V]  Quinta,  pedes:    Bosporus  trän-    Quinta,  pedes:  Vosporus   transitus 
Situs    Trachias    et  [Ho]c[h]imer-        Trachius  et  onchyme  mertus. 
<i>n8. 


Schrift  eines  altmilesischen  Naturphilosophen  u.  ihre  Beurteilung  durch 
H.  DiELS  in  der  D,  Literaturzeitung  191 1  Nr.  30,  Sonderabdruck  aus 
Memnon  Bd.  V  3/4,  Stuttg.  191 2  (=  Abh.  111).  Derselbe,  Das  Alter  d. 
Weltkarte  in  'Hippokrates'  tt.  tßS.  u.  die  Reichskarte  des  Darius  Hys- 
taspis  im  Philologus  LXX  (19 12)  S.  529—538  (=  Abh.  IV).  Ders.  in 
Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  1917  Sp  850!".  Ders.,  Die  hippokrat.  Schrift 
T.  d.  Siebenzahl  in  ihrer  vierfachen  Überlieferung,  Paderborn  19 13,  S. 
117  ff.  u.  150  ff.  (=  Abh.  V). 

3)  Was  bedeutet  hier  medulla?  Kap.  37  a.  A.  heißt  es:  Oportet 
....  et  caput  relevare,  respirationem  dante  in  eo  medulla  et  cere- 
liro,  conexi  sunt  enim  sibi.  Hier  scheint  also  medulla  im  Sinne  von 
Rückenmark  gebraucht  zu  sein. 

4)  Für  meine  Vermutung,  daß  das  unverständliche  et  hier  in  est 
zu  emend  eren  sei,  spricht  die  Tatsache,  daß  mehrfach  in  den  betreffen- 
den Hss.  est  und  et  verwechselt  worden  sind.  Vgl.  z.  B.  meine  Ausgabe 
S.  II  §  2  Zeile  3,  S.  21  Z.  43,  S.  26  Z.  23,  S.  29  Z.  24,  S.  30  Z.  27, 
S.  64  Z.  3. 


71  j  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  3 

[VI]  Sexta,    venter    <8uperior)>^):    Sextum  cum  ventur  inferior  et  lon- 
Aegyptus  et  pelagus  Aegyptium.        gao  intestinus  exumus  pontus  et 

palus  meothis. 

[VII]  Septima,    venter    inferior  et 
longa<^b^o,     intestinum     majuä:      ' 
<(E>uxinus  Pontus  et  Palus  Meo- 
t[h]i8. 

Hierzu  kommt  noch  der  ins  Arabische  übersetzte  Kom- 
mentar des  Ps.-Galenus  bei  Röscher  a.  a.  0.  S.  142  f.  u, 
Bergsträsser,  Pseudogaleni  in  Hippocr.  de  septimanis  com- 
ment.  ab  Hunaino  Q.  F.  arabice  versus  ==  Corp.  Medicor. 
Graecor.  XI,  2,  i  S.  iisfif.  Die  Bergsträsser  verdankte 
möglichst  wörtliche  Übersetzung  ins  Deutsche  lautet: 

Hippokr. :  Die  Erde  wird  in  sieben  Teile  geteilt. 

Die  Erde  hat  einen  Kopf  und  ein  Gesicht,  das  TleXonowriaog  ge- 
nannt wird. 

I.  Ps. -Galen :  Es  ist  richtig  und  zutreffend,  wenn  Hippokrates  mit 
dem  Kopf  beginnt,  denn  der  Kopf  ist  das  Oberste  des  Körpers  und 
das  edelste  aller  Glieder,  und  in  ihm  ist  der  Verstand  '^),  und  von  ihm 
aus  verbreiten  sich  [wachsen?]  die  Sinne.  Darüber  hat  ein  Dichter  von 
den  Dichtern  gesagt:  Der  Name  des  Landes  Uslonöwriaog  ist:  es  ist 
ein  Wohnort  der  göttlichen  [?]  Seelen.  Hippokrates  nun  stimmt  darin 
mit  ihm  überein,  und  er  meint  mit  den  göttlichen  [?]  Seelen  die  Wei- 
sen und  gelehrten  Menschen  und  macht  dieses  Land  zum  ersten  der 
Teile  der  Erde 

IL  Dann  spricht  er  von  dem  zweiten  Teil  und  sagt:  der  zweite 
Teil  ist  die  Stelle,  die  ' le^iios  genannt  wird,  und  diese  Stelle  ist  in 
der  Nähe  der  Stellen,  von  denen  wir  oben  gesprochen  haben. 


5)  Daß  hier  superior  zu  ergänzen  ist,  folgt  nicht  bloß  aus  dem 
ganzen  Zusammenhang,  sondern  auch  aus  dem  venter  inferior  im  Ab- 
schnitt VIT. 

6)  D.  h.  nach  Ansicht  des  Hippokrates,  Alkmaion  (Diels,  Vorsokr.  I, 
101,  25.  34.  102,  17),  Tythagoras'  ^Plut.  Plac.  4,  5,  10),  Piaton  usw. 
(vgl.  Diels,  Vorsokr.  I,  369,  46  u.  Windisch,  Sachs.  Ber.  XLIII  (1891) 
S.  lögf),  während  unser  Hebdomadiker  offenbar  nach  altionischer  (mile- 
sischer)  Anschauung  den  Sitz  des  Verstandes  vielmehr  ins  Zwerchfell 
(qppei'fs)  verlegt.  Vgl.  auch  n.  kßd.  Kap.  52:  "Ogog  Sh  d-avdrov  iuv  xb 
tfjg  tpvxfjg  d^sQubv  inavild-rj  vTtsg  xov  öficpuXov  [in  der  Mitte  des  Lei- 
bes, in  der  Gegend  des  Zwerchfells]    ilg  tov  avca  x&v  cpqevütv  xonov 

X.    T.    X. 


4  Wu-ii.  H.  RosoHKu:  [71,5 

III.  naun  sjiricht  er  von  tlrni  dritton  Teil  und  sagt:  der  dritte 
Teil  von  der  Krdo  sind  die  Stelion,  die  'Ifavia  f^cMiannt 
werden,  und  die  Bevölkerung  »mmI  die  Howohner  dieser 
Ge>jend  sinii  stark  "\  verständig,  einsichtig  und  weine, 
llippokratfs  mehrt  ihr  Lob  und  ihren  l'reis,  und  manche 
von  den  Erklürem')  sagen.-  er  preist  die  Bevölkerung  dieser 
Gegend,  -weil  er  von  ihnen  ist;  al)er  wir  sagen  ein  Wort  der  Wahr- 
heit, nämlich  daß  Hipiiokrates  das  nicht  im  Sinne  gehabt  und  nicht 
berücksichtigt  hat,  sondern  (daß)  .jene  dem  entsprechen,  wovon  er 
spricht,  von  der  (_iereclitigkeit  und  dem  Verstand  und  der  Weisheit. 
Und  wenn  die  Leute  jener  Gegend  dem  nicht  entsprächen,  wovon  Hip- 
pokrates  spricht  .  .  .  .,  so  wiirde  diese  Gegend  das  Lob  verdienen  wegen 
dieses  trefflichen  Mannes,  weil  sie  einen  Mann  hervorge1)racht  hat,  auf 
den  wir  stolz  sind  und  den  wir  loben  und  über  die  Menschen  ins- 
gesamt in  seiner  Zeit  erheben 

IV.  Hippokrates  teilt  die  Erde  in  den  vierten  Teil  und  sagt:  der 
vierte  Teil  ist  der,  6.Q1' EXXi]6novTog^)  genannt  wird,  und  diese  Gegend 
ist  lang  ausgestreckt  und  geht  nach  der  Richtung  unseres  Meeres,  und 
sie  ist  schmal. 

V.  Dann    teilt  er   die   Erde   in   einen   fünften   Teil    und   sagt:    der 
fünfte  Teil  ist  die  Stelle,  die  BöonoQos  genannt  wird  oder  ©ßaxjog  oder 


7)  Der  arabische  Ausdruck  für  'stark'  bedeutet  entweder  körper- 
liche oder  politische  Stärke.  Im  ersten  Falle  (vgl.  37'"  a":  die  Be- 
wohner des  thrakischen  Bosporus  sind  kräftig,  stark,  kriegerisch 
und  37'' b:  die  Leute  an  der  Maiotis  haben  keinen  Mut,  sondern  sind 
schwach  und  unkriegerisch)  sei  erinnert  an  Zenob.  V,  80:  Udlui 
noz  f^aav  aixiftoi  MiXriGioi  (Orakel  aus  der  Zeit  des  Dareios  und 
Anakreon)  und  ebenda  57:  ot'xoi  ra.  MiXriöm^  sowie  an  den  Gegensatz 
der  Peloponnesier  und  lonier  bei  Thukydides  (Röscher,  Über  Alter 
usw.  S.  30  A.  49  und  Herod.  i,  143;  vgL  meine  Ausgabe  S.  157).  Im 
letzteren  Falle  ist  ebenfalls  nur  an  die  Zeit  vor  der  Eroberung  Lydiens 
und  loniens  durch  Kyros,  also  an  die  Zeit  des  Thaies  und  Anaximan- 
dros  zu  denken,  dagegen  die  Zeit  von  450 — 350  (so  Boli.  und  Diels) 
absolut  ansgeschlossen.  —  Auch  einer  dritten  Möglichkeit  sei  hier  noch 
gedacht,  daß  nämlich  der  betreffende  arabische  Ausdruck  hier  soviel 
als  liäXiGra  bedeute  (s.  Bergsträssek  in  meiner  Ausgabe  von  n.  ißS. 
S.  142  Anm.  195).  In  allen  drei  Fällen  würde  also  auf  die  Zeit  vor 
den  Perserkriegen  hingewiesen  werden  (a.  a.  0.  Anm.  196"). 

8)  Auch  noch  an  anderen  Stellen  des  von  Bergsträsskr  über- 
setzten arabischen  Kommentars  wird  auf  andere  Erklärer  hingewiesen, 
z.  B.  S.  95  (30'a).  S.  49  (is'-c  und  i5^a),  S.  39  (la'-a),  S.  27  (S-'f). 

9)  Siehe  den  Anhang  III. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  5 

KififieQixög  genannt  wird.  So  wißt,  daß  die  Bevölkerung  und  Bewohner 
dieser  Gegend  kräftig,  stark,  Krieger  und  Leute  von  Mut  und  Tapfer- 
keit sind  und  niemand  sie  zurückhalten  kann. 

VI.  Dann  teilt  er  die  Erde  auch  in  [s]  einen  sechsten  Teil  und 
sagt:  der  sechste  Teil  ist  Ägypten,  und  es  ist  ein  fruchtbares  Land, 
voll  Körner,  Früchte  und  Obst. 

VII.  Dann  teilt  er  die  Erde  in  einen  siebenten  Teil  und  sagt: 
der  siebente  Teil  von  der  Erde  ist  die  Gegend,  die  E^^sivog  Ilovros 
genannt  wird,  und  die  Insel  [?],  die  Maiwtig  genannt  wird,  und  dies 
ist  eine  große  Insel  von  den  Inseln  des  Meeres,  die  die  Abfälle  der 
Erde  aufnimmt,  und  unter  ihnen  ist  eine  Insel,  die  die  Abfälle  der 
Wasser  des  Meeres  aufnimmt;  in  ihrem  Volk  aber  und  ihren  Bewohnern 
ist  kein  Mut,  sondern  sie  sind  schwach  und  dienstfertig  und  können 
den  Kampf  und  Krieg  nicht  ertragen. 

Das  Wichtigste,  was  wir  aus  einem  Vergleiche  des  ara- 
bischen Kommentars  des  Ps.-Galenos  mit  der  lateinischen 
Übersetzung  von  tc.  ißd.  Kap.    11   lernen,  ist  kurz  folgendes: 

i)  die  Tatsache,  daß  der  ursprüngliche  Text  der  hebdo- 
madischen  Kosmologie  im  Laufe  der  Zeit  verschiedene  Kür- 
zungen und  Änderungen  erfahren  hat,  worauf  ich  schon  früher 
aufmerksam  gemacht  habe.^'')    Aus  dem  arabischen  Kommen- 


10)  Vgl.  Abh.  II  S.  52f.  Anm.  93  ff-  Abb.  V  S.  155  Anm.  213.  Eine 
weitere  Lücke  hat  kürzlich  E.  Pfeiffer  (Berl.  Philol.  Wochenschr.  19 14 
Nr.  45  Sp.  1416)  nachgewiesen.  Favonius  Eulogius  nämlich  zitiert  in 
dem  Abschnitt  über  die  Lebensalter  Hippokrates.  Der  entsprechende 
griechische  Text  findet  sich  aber  nicht  in  jt.  sßS.  Kap.  5 ,  sondern  bei 
Diokles  v.  Karystos  (=  Theol.  arithm.  ed.  Ast  p.  49): 

Diokles :  Hippocr.  7t.  sßS.  b.  Favonius : 

T^  8h  TEtccQtT]  [tßSo(iäSi]  xr]v\  quatuor  autem  annorum  heb- 
inl  Ttlätog  (sc.  ccvi,r\6i,v)  rsistoörat  domadibus  evolutis  staturae  cre- 
xul  ovSsfiia  allr\  uvrotg  anoX^iTtetat,  scentis  terminum  fieri  nee  ultra 
emfiatog  inidoGig'  relsiog  yccg  o  kt}'.    proceritatem  posse  procedere. 

Die  negative  Wendung  fehlt  nämlich  in  Hipp.  tt.  sßd.  Kap.  5  S.  9  ed. 
R.  Pfeiffer  schließt  daraus  mit  Recht:  ''Wir  haben  demnach  an  den 
Anfang  einen  erweiterten  Hippokrates  sr.  ißd.  zu  stellen,  aus  dem 
Diokles  v.  Karystos  und  Ärzte,  deren  Schriften  im  Hippokratescorpus 
Btehen(z.  B.  die  Verf.  d.  Aphorismen,  der  Coac.  praen.,  ä.  jtpict'ficov)  geschöpft 
haben,  und  aus  dem  das  uns  vorliegende  Buch  n.  tßS.  einen  Auszug 
darstellt'  ...  —   Auch  das  von  Littke  (VIII,  627)  aus   Origenis  Philo- 


6  Willi.  Tl.  Rosourr:  [71.5 

tar    gebt    näiulich    mit    größter    Sicherheit   hervor,    daß   einst 
Punkt  3   der  'Weltkarte'  gehuitet  hiit: 

'Dritter  Teil:  in   der  Mitte  zwischen  den  Eingeweiden 
das  Zwerchfell:  lonien;  und  die  Bewohner  dieser  Gegeml 
sind   (politisch  oder  wirtschaftlich  oder  körperlich,   s.  oh. 
Anm.  7)  stark,  verständig,  einsichtig  und   weise', 
ein  überaus  bedeutsamer  Zusatz,   der   ziigk^ich  eine  deutliche 
Parallele   zu    der   lobiuden    Charakteristik    der  Peloponnesior, 
sowie  zu  der  Hervorhebung  der   kriegerischen    Eigenschaften 
der   Thraker    und    Kimmericr    und    zu    dt^r   schon   durch   den 
drastischen  Vergleich  mit  dem   longabo   angedeuteten  Gering- 
schätzung der  Anwohner  der  Maiotis  bildet,  wo  ebenfalls,  wie 
es   scheint,   die   lateinische    Übersetzung    wesentlich    gekürzt 
worden  ist  (vgl.  Abb.  V  S.  156  Anm.  213). 

2)  geht  aus  diesem  Zusatz  klar  hervor,  daß  der  Verfasser 
unserer  Weltkarte  noch  vor  der  Vernichtung  loniens  durch 
die  Perser  gelebt  haben  muß,  als  die  lonier  noch  als  (poli- 
tisch) starke  sowie  als  besonders  intelligente  und  kulturell 
hochstehende  Nation  gepriesen  werden  konnten.  Vgl.  Herod. 
1,  170:  avrr]  ^lev  BCavtog  rov  nQii]vbog  yväiir]  inl  dtscpd'aQ- 
[isvoL6i"Ic3öt  yevofitvr],  iQriöxi]  de  xul  tiqIv  7}  öcacpd-aQrjvaL 
'Jcovirjv  COciksco  avö^bg  Mikrialov  sytveTO  .  .  .  und  über  die 
Ärmlichkeit  Milets  im  5.  Jahrb.  Rehm  bei  Kawerau-Rehm, 
Das  Delphinion  in  Milet  S.  157:  'Mag  das  übrige  Karien 
persisch  geblieben  sein  bis  466  (Diod.  XI,  60,  4):  Milet  bat 
geographisch  und  ethnographisch  mit  seinem  Hinterlande  so 
geringen  Zusammenhang,  daß  die  Perser  nach  der  Schlacht 
an  der  Mykale  die  Stätte  —  eine  Stadt  war's  ja  wohl  nicht 
mehr  —  schwerlich  werden  gehalten  haben.'  Und  was  von 
dem    Milet    des    5.  Jahrhunderts   gilt,    das    gilt    natürlich    (s. 


sophumena  .  .  ,  e  cod.  Paris.  ...  ed.  E.  Miller,  Oxon.  1851  p.  loi 
angeführte  Hippokratesfragment:  tTtrce  it&v  natg  Ttatgog  tjulcv  (näm- 
lich an  Gewicht!),  was  Litte^  weder  in  jt.  ißS.  noch  in  den  übrigen 
Schriften  des  Hippokrates  hat  auffinden  können,  gehört  wohl  ursprüng- 
lich dem  Buch  von  der  Siebenzahl  an,  in  das  es  dem  Sinne  nach  treff- 
lich hineinpaßt. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  7 

Herodots  eben  angeführtes  Zeugnis!)  mehr  oder  weniger  auch 
von  dem  übrigen  lonien,  so  daß  die  obige  Charakteristik 
seiner  Macht,  Bildung  und  Kultur  im  Munde  eines  ionischen 
(milesischen)  Kosmologen  des  5.  u.  4.  Jahrh.  so  gut  wie  un- 
denkbar erscheint. 

Setzen  wir  nunmehr  die  soeben  aus  dem  arabischen 
Kommentar  des  Ps.-Galenos  erschlossenen  Ergänzungen  in 
den  Text  der  lateinischen  Übersetzungen  ein,  so  erhalten  wir 
folgende  Beschreibung  der  siebenteiligen  Weltkarte: 

O  O  CJ 

I:  Dem  Kopf  und  Gesicht  der  Erde  entspricht  der 
Peloponnes,  der  Wohnsitz  hochgemuter  Seelen; 

II:  Dem  Mark  [?]  und  Hals  entspricht  der  Isthmos  von 
Korinth^'); 

III:  Dem  Zwerchfell  in  der  Mitte  der  Eingeweide  ent- 
spricht lonien,  und  dessen  Bewohner  sind  ausgezeichnet 
durch  Stärke,  Verstand,  Einsicht  und  Weisheit; 

IV:  Die  Schenkel  entsprechen  dem  Hellespont; 

V:  Die  Füße  dem  Thrakischen  und  Kimmerischen 
Bosporos,  deren  Anwohner  sich  durch  körperliche  Kraft 
und  kriegerische  Tüchtigkeit  auszeichnen; 

VI:  Dem  Oberleib  entspricht  Ägypten  und  das  ägyp- 
tische Meer; 

VII:  Dem  Unterleib  und  Mastdarm  entsprechen  der 
Pontos  Euxeinos  und  die  Maiotis,  deren  Anwohner  körper- 
lich schwach  und  unkriegerisch  sind. 

So  bleibt  uns  schließlich  nur  noch  übrig,  die  ursprüng- 
lich jedenfalls  von  unserem  Kosmologen  beabsichtigte,  aber 
im  Laufe  der  Zeit  durch  unbekannte  Einflüsse  zerstörte 
strenge  Ordnung  der  Glieder  von  oben  nach  unten  her- 
zustellen,   die  in   den   meisten  analogen   Beispielen  von  Auf- 


II)  Vgl.  Herod.  6,  37:  avxijv  rTJ?  XsQaovriGov.  —  Plin.  n.  h.  4,  8: 
oppidum  Pagae,  unde  Peloponnesi  prosilit  cervix,  —  16,  lO:  an- 
gusta  cervice  Peloponnesum  continet  Hellas.  —  Philostr.  v.  Ap. 
Ty.  4,  24  (vom  Isthmos):  ovrog  6  a-vx^v  rfig  yfjg  Tsr\irj6sxul.  —  Ach. 
Tat.  2,  14:  avxr}v  [=  rgccxrilog]  T^g  vi^aov  (Tyros).  — 


8  Wii, 11.  II   Koscher:  |7',5 

zälilun<^en  dor  \vi(*hti<^sttMi  Körperteile*')  und  aiich  von 
unserem  Kosmologen  selbst  in  Kiip.  7  beobachtet  worden 
ist.'^)  Denn  hier  werdtri  die  sieben  Teile  des  menschlichen 
Körpers  in  dieser  lieihenlblge  nacheinander  aufge/iliilt: 

1.  Kopf  (caput), 

2.  lliliulo  (inann8\ 

3.  Zwerchfell  (^interiora  viscora  et  praocordiorum  doliuitio)  '*), 

4.  üriuorgan  (veretri  una  pars:  urinae  profusio), 

5.  Samenorgan  (alia  piirs:  Beminis  ministratura), 

6.  Mastdarm  (longabo  :=:  iutestinum  majus), 

7.  Schenkel  (crura). 

Demnach  müssen  wir  als  ursprüngliche  Liste  der  7  Weltteile 
diese  Reihenfolge  annehmen: 

1.  Kopf  und  Gesicht:  Peloponues, 

2.  Hals:  Isthmus, 

3.  Oberleib  (Brost):  Ägypten  und  das  ägyptische  Meer, 

4.  Zwerchfell  :  lonien. 

5.  Unterleib  und  Mastdarm:  Poutus  Euxinus  u.  Palus  Maeotis, 

6.  Schenkel:  Hellespont, 

7.  Füße:  die  beiden  Bospori. 

Zu  dieser  siebenfachen  Teilung  der  Erde  gibt  es  eine  ziem- 
lich ffroße  Anzahl  mehr  oder  weniger  übereinstimmender 
Analogien.  Ich  erinnere  zunächst  an  die  7  dvipa  der  Inder*"), 


12)  Vgl.  meine  Abb.  III  S.  33!  und  V  S.  i07f.,  wo  noch  hinzuzu- 
fügen sind:  Straton  u.  Diokles  b.  Nikom.  ed.  Ast  (Tlieol.  ar.)  p.  47 
(i:  y.scpalTj,  2:  avxrjv,  3:  &mQa^,  4,  5,  6,  7:  xwXu),  Midrasch  Tadsche  6 
bei  WüsscHK,  Aus  Israels  Lehrhallen  V,  2  S.  96 f.  (i:  Kopf,  2:  Kehle, 
3:  Bauch,  4,  5:  Hände,  6,  7:  Füße).  —  S.  auch  Ilberq  in  der  Fest- 
schrift für  H.  Lipsius  S.  34  f  u.  38,  nach  dem  das  Schema  a  capite 
ad  calcem  wohl  auch  sonst  üblich  war,  namentlich,  wie  es  scheint,  in 
der  knidischen  Ärzteschule. 

13)  Ähnlich  auch  in  der  Aufzählung  der  7  Sphären  (Kap.  i): 
I:  Äther,  2:  Sterne,  3:  Sonne,  4:  Mond  =  Sitz  des  Verstandes,  d.  i. 
der  denkenden  Weltseele,  5:  Luft,  6:  Wasser,  7:  Erde. 

14)  Hier  liegt  offenbar  eine  auf  arger  Verkürzung  beruhende  Ver- 
derbnis des  ursprünglichen  Textes  vor,  insofern  der  durch  das  Zwerch- 
fell und  den  Nabel  in  zwei  Hälften  geteilte,  hier  gar  nicht  zu  missende 
^cbpal  {öTSQva,  pectus)  weggelassen  ist. 

15)  Lasskn,  Ind.  Altertumskunde  4  S.  59.  Roschek,  D.  Omphalos- 
gedanke  S.  2  ff. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  9 

die  Weltkarte  der  Babylonier  mit  ihren  7  nagu  sowie  an 
deren  7  tubukati^^),  die  Siebenteilung  der  Erde  im  4.  Buche 
Esra  6,  42,  an  die  7  keshvars  der  Parsen,  die  7  akälim  der 
Araber,  die  7  xlC^ara  des  Ptolemaeus^''),  endlich  an  die  7 
Teile  der  Oikumene  des  Rabbi  David  Kimchi  (Comment.  in 
Psalm.  87)  im  13.  Jahrb.,  als  deren  mittelster  Palästina  mit 
dem  Zentrum  (Ompbalos)  Jerusalem  erscheint  (Roscher, 
Omphalos  S.  24.^.-  Marinelli,  Die  Erdkunde  b.  d.  Kirchen- 
vätern, deutsch  von  Neumann  S,  76  Anm.  44). 

Die  allergrößte  Ähnlichkeit  mit  der  Erdkarte  des  heb- 
domadischen  Kosmologeu  verrät  aber  die  ägyptische  Welt- 
karte, welche  uns  in  dem  hermetischen  Traktat  KÖQr]  xöö^ov 
bei  Stob.  Ecl.  I,  49  (=  J,  411,  3S.  Wachsm.  =  I  p.  302 
Mein.)  überliefert  ist,  wie  m.  W.  zuerst  Boll  (Lebensalter 
S.  50 f.)  gesehen  hat.  Auf  die  Frage  ihres  Sohnes  Horos, 
warum  die  außerhalb  des  heiligen  Ägyptens  wohnenden 
Menschen  nicht  so  begabt  seien  wie  die  Ägypter,  antwortet 
seine  Mutter  Isis.  Die  [nach  ägyptischer  Anschauung]  als 
männliches  Wesen  vortjesteUte  Gottheit  der  Erde  liecrt  im 
Mittelpunkt  des  Alls  wie  ein  Mensch,  der  zum  Himmel  em- 
porschaut, und  ist  in  ebenso  viele  Teile  geteilt,  als 
der  Mensch  Glieder  hat,  nämlich  sieben.  Ihr  Haupt 
liegt  gegen  Süden  (I),  ihre  rechte  Schulter  gegen  Osten 
(II),  ihre  linke  gegen  Westen  (III) ^^);  unter  dem  Bären, 
d.  h.  im   Norden,    die   Füße,    und   zwar  der   rechte    unter 


16)  A.  Jeremias,  Die  Bibel  im  Lichte  d.  alt.  Or.  ^  S.  16.  Zimmern 
h.  ScHRADER,  D.  Keilinschriften  *  S.  616,  2.  Hehn  b.  Roscher,  D.  Om- 
phalosgedanke  S.  10  f. 

17)  R0.SCHER,  Abh.  I  S.  10  Anm.  9. 

18)  Derselbe  Gegensatz  von  rechts  (=  östlich)  und  links  (=  west- 
lich) kommt  auch  vor  in  der  Lehre  der  Pythagoreer;  vgl.  Diels,  Vor- 
sokratiker  I  S.  276,  44f.  277,  3  f.  u.  6f.  Simplic.  z.  Aristot.  a.  a.  0. 
p.  391,  3off.  Heiberg.  S.  Heidel  in  Class.  Philology  X  (1915),  S.  227, 
der  mit  Recht  annimmt,  daß  auch  die  Pythagoreer  'had  in  mind  a 
person  lying  on  his  base,  with  his  head  to  the  south,  his  feet  to  the 
north,  and  his  right  and  left  hands  extending  respectively  east 
and  west'. 


lo  Wii.ii.  11.  KosciiKii:  [7',  5 

dem  Schwanz  (IV),  der  link(>  unter  dem  Kopf  des  Bären 
(V),  lue  Schenkel  in  dem  Teil,  der  nuch  dem  Bären  (d.  h. 
von  ihm  liegen  Süden  yai)  kommt  (VI),  die  Mitte  (VJI  xagdia, 
d.  h.  Aij^Ypten)  in  der  Mitte  (rd  öh  ^isöa  iv  rolg  jucöott;).'") 
Daraus  werden  dann,  ähnlich  wie  im  i  i.  Kapitel  von  jr. 
eßdouädcov,  die  Eigen scliat'teu  der  einzelnen  Völker  der 
Erde  ahgeleitet:  i)  Die  Südvölker  (ot  vorintoi),  die  auf  dem 
Haupte  der  Erde  wohnen*^),  sind  £vx6gv(pot,  xal  xaXHrQL- 
Ifg.  —  2)  Die  (rechtsarniigen)  Ostvölker  (ol  axi]hioxiy.oi) 
werden  charakterisiert  als  jr^jog  fidxv^'  ^Q^X^^V^''  ^'^'''  To^ixot. 
—  3)  Die  (linksarmigen)  Südwestvölker  {ol  iv  rä  hßi)  sind 
ccö(faX£ig  xal  ag  txl  to  oiXei6xov  dQtareQÖfiax^''  '^"^  ööov 
aXkoi  tio  Öe^iä  iibqei-  ivfQyovötv  avTol  rä  evcot'vna)  TCQoön- 
d-t'n6V0L.  Hierzu  bemerkt  H.  Philipp  auf  Grund  von  Mit- 
teilungen Sieglins,  daß  hier  ofienbar  eine  recht  alte  ägyp- 
tische Vorstellnnff  vorliegt.  Die  im  Osten  vorhandenen  Völ- 
ker  sind  tüchtige  Kämpfer  und  treffliche  Bogenschützen:  der 
Grund  dafür  ist  die  Übung  der  rechten  Hand;  die  Südvvest- 
bewohner  sind  day-eoren  vorsichtig  und  fechten  meist  mit  der 

OD  O 

Linken  (vgl.  Müller,  Asien  und  Europa  S.  374:  Schild  in 
der  Rechten,  Schwert  in  der  Linken).  Schon  Philipp 
(Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  191 3  Nr.  24  Sp.  666f.)  hat  daraus 

19)  Eine  ähnliche  Siebenteilunp  der  menschlichen  Gestalt  (Adams) 
nach  geographischen  und  ethnographischen  Gesichtspunkten  findet  sich 
bei  Fäbricils,  Cod.  Pseudepigr.  Vet.  Test.  Hamburg  1722  vol.  11  p.  41 : 
Eaf  Oschaia  refert  ex  ore  Raf,  Adami  primi  corpus  [=  Q-oaga^]  iuisse 
desumtum  e  Babel  (I),  caput  (II)  e  fundo  Israelitico.,  membra 
sive  manus  (III  u.  IV)  et  pedes  (V  n.  VI)  e  regionibus  reliquis, 
denique  nates  (VII)  ex  Acra  Agmae  secundum  sententiam  R.  Achae. 
Vgl.  dazu  RoscHER,  Der  Omphalosgedanke  bei  verschied.  Völkern,  be- 
Bond.  d.  semitischen  S.  46  Anm.  80.  —  Wahrscheinlich  beruht  obige 
Legende  auf  der  Tendenz,  die  Ansprüche  der  verschiedenen  Länder 
auf  den  Besitz  Adams  miteinander  auszugleichen. 

20)  'Wie  das  Haupt  des  Erdkörpers  nach  Süden  gewendet  ge- 
dacht wird,  so  ist  überhaupt  Süden  die  Himmelsgegend,  welcher  der 
Ägypter  das  Gesicht  zuwendet;  von  Süden  nach  Norden,  von  Osten 
nach  Westen  geht  für  ihn  die  Aufzählung  der  Himmelsgegenden'  usw. 
PiETscHMANN  b.  Paulj-Wissowa  I  Sp.  985  f. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  i  i 

geschlossen,  daß  wir  es  unbedingt  mit  einer  recht  alten  ägyp- 
tischen Vorstellung  zu  tun  haben,  die  vielleicht  auf  dea  Ver- 
fasser des  Buches  von  der  Siebenzahl  eingewirkt  habe.  — 
4)  Die  Nordvölker  (ot  vjtb  tyiv  aQxtov)  werden  geschildert 
als  TtQCJTSvovTsg  rovg  7t 6 dag  aal  uXXag  svKvrj^oi.  —  5)  und 
6)  Die  darauf  folgenden,  zu  denen  die  Italiker  und  Hellenen 
gehören  (ro  vvv  iraXtxbv  xlina  xat  t6  aXXaÖL'adv),  welche 
auf  den  Schenkeln  {inqQoC)  der  Erde  wohnen,  sind  xaXX^urjQoi 
xccl  ev%ox(ov£6t£QOL^  cÖGxs  rfj  rov  TcdXXovg  tav  ^sqüv  rovtcov 
VTtSQßoXfj  rovg  svravd'cc  dv&QaTtovg  xataßaLvsiv  TCQog  rijv  xcbv 
ccQQBvav  ofiiXCav.^^)  —  7)  Das  Volk  der  Mitte  endlich  sind 
die  Ägypter,  die  im  übrigen  allen  vorhergenannten  Völkern 
ebenbürtig,  aber  ihnen  allen  überlegen  sind  durch  Verstand 
und  Vernunft^^),  weil  sie  die  Gegend  des  Herzens  (ev 
tf}  xccQÖCa,  TCO  ^i'^Tjg  OQfirjTrjQCa)  bewohnen ^^)-,  das  Herz  aber 
in  der  Mitte  des  Körpers  ist  nach  altägyptischer  Anschauung 
der  Sitz  der  Seele  und  des  Verstandes  (vgl.  dazu  Kroll,  Die 
Lehren  des  Hermes  Trismegistos,  Münster  1914,  S.  159,  166 f. 
ROSCHER,  Der  Omphalosgedanke  S.  84  A.  133). 

Illustriert  wird  diese  überaus  merkwürdige  echtägyptische 
Welt-  und  Völkerkarte  durch  mehrere  schon  längst  von  mir 
zur  Erklärung  unseres  Hebdoraadikers  herangezogene  und  ab- 
gebildete altägyptische  Gemälde,  die  den  am  Boden  liegenden 
Erdgott  Geh  in  eigentümlicher  Verrenkung  darstellen,  über 
den    sich,    ebenfalls    eigentümlich    verrenkt,    eine    oder    zwei 


21)  Diese  für  die  Griechen  und  Italiker  nicht  gerade  erfreuliche 
Charakteristik  au9  älterer  [?]  ägyptischer  Zeit  erheischt  wohl  eine  ge- 
nauere Untersuchung. 

22)  Daß  die  Ägypter  sich  auch  sonst  für  besonders  intelligent  und 
gebildet  hielten,  beweist  durch  eine  Reihe  von  Zitaten  Pietschmann  im 
Art.  Ägypten  bei  Pauly-Wissowa  I,  993  unten. 

23)  iitsidi]  ds  iv  rm  ft^cco  Trjg  yfjg  kütcci  tj  t&v  Ttgoyövcüv  rjy.iv 
itQüizarri  ^obpa  ro  öf-  iisGov  rov  ccv&Qconivov  Gwfiarog  ^lovris  rfjg  Kagd Lag 
ioTi  criKog,  ttjs  Ss  ^>vxiig  ÖQurjrriQiov  iaxi  -nagSia^  naga  ravTrjv  rrjv 
aixiav  ...  Ol  ivrav&a  avQ'Qion oi  to:  [ikv  aXXcc  i%ov6iv  ovx  rjrrov  oßa  ycccl 
•navxsg,  i^aiQsrov  dk  xcbv  nävxcov  vosqioxsqoL  siot  yial  GaxpgovBg,  ag 
ccv  inl  na Q 3 lag  yevväniBvoi,  xal  XQacpivxBg. 


Wii,ii.  II.  Koscher: 


[71,5 


Himniels^öttinuen  (Nut)  hinüborbeugen.-*)  Bereits  in  Ahli.  1 
S.  12  A.  15  hiibo  ii'h  t^iin/  bestiiiuut  die  Vermutung  uusge- 
sproohen,  daß  die  ebenfalls  oiiu'  wundorlicli  verrenkte  Mcn- 
schongestalt  voraussetzende  Weltkarte  unseres  Ilebdoniadikers 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  der  eigentümlich  verrenkten 
Gestalt  des  ägyptischen  Erdgottes  gehabt  haben  müsse,  eine 

Annahme,  die  zu 
meiner  Freude 
BOLL  (Lebensal- 
ter S.  51)  dahin 
erweitert  hat,  daß 
er  geradezu  er- 
klärt, mit  mir 
an  eine  Anregung 
des  Hippokrateers 
durch  eine  ägyp- 
tische Vorstellung 
zu  glauben. 

Diese  Annahme 
hat    in    der    Tat 
außerordentlich 

viel  für  sich;  denn  in  nicht  weniger  als  5  VergleichungSr 
jiunkten  stimmt  die  Weltkarte  unseres  Hebdomadikers  mit 
derjenigen  der  KÖQt]  y.öö^ov  überein.    Diese  sind  folgende: 

i)  In  beiden  Fällen  wird  die  Erde  mit  einer  (liegenden) 
Menschengestalt  verglichen. 

2)  Diese  ist  hier  wie  dort  siebenfach  gegliedert. 

3)  Jedem    einzelnen    Gliede    entspricht    ein    bestimmtes 
Land  und  Volk  mit  seinen  besonderen  Eigenschaften. 


Fig.  I.   Zwei  HimmeUgöttinneii    und  Erdgottheit  der  Ägyp- 
ter.    Nach   BBU'iSCH.    Religion    und   Mythologie    der    alten 
Ägypter.   S.  2n.    Mehr  unt.  S.  94. 


24)  Die  auffallende  Erschein iing,  daß  die  drei  eigentümlich  ver- 
renkten Gestalten  genau  in  der  Mitte,  also  der  Nabelgegend,  den 
Höhepunkt  über  dem  Boden  erreichen,  erklärt  sich  wohl  am  einfach- 
sten und  besten  aus  der  von  Wensinck  erwiesenen  Tatsache,  daß  nach 
allgemeiner  Annahme  des  Altertums  dem  6ii(palög  yfig  überall  eine 
Höchstlage  zugeschrieben  wurde,  so  daß  er  auch  von  der  Sintflut 
verschont  blieb  (Roschek,  D.  Omphalosgedanke  S.  39 f.    S.  52  u.  59). 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl. 


13 


4)  Das  durch  Intelligenz  und  Bildung  ausgezeichnetste 
Volk  bewohnt  die  Mitte,  als  welche  von  den  Ägyptern  die 
xccQÖCa^  von  den  Griechen  (loniern)  das  Zwerchfell  (^cpQsvsg, 
praecordia)  betrachtet  wird. 

5)  So  kommt  in  beiden  Fällen  die  Theorie  vom  Makro- 
und     Mikrokosmos 
zustande. 

Daß  eine  so 
weit  gehende  Über- 
einstimmung keine 
zufällige  sein  kann, 
sondern  eine  ent- 
schiedene Abhän- 
gigkeit der  einen 
Weltkarte  von  der 
andern  voraussetzt, 
dürfte  jedem  Unbe- 
fangenen klar  sein. 
Fragen     wir     jetzt 

.  .  ;   i'ig.  2-    HimmeUgöttin,  mit  Sternen  bedeckt,  Schu  stehend 

nach    der    Zeit,    der        und  Erdgott  Hegend.    Nach  Brugsch,  Religion  und  My- 
I  •      1  thologie  der  alten  Ägypter.    S.  210. 

jene       ägyptischen 

Bildwerke  entstammen,  so  kann  mit  voller  Sicherheit  be- 
hauptet werden,  daß  die  ihnen  zugrunde  liegende  Vorstel- 
lung in  ein  so  hohes  Altertum  hinaufreicht,  daß  eine  Beein- 
flussung von  Seiten  der  Griechen  (lonier)  vollkommen  aus- 
geschlossen scheint  und  sicher  das  Umgekehrte  anzunehmen 
ist.  Denn  nach  den  Darlegungen  von  Hugo  Prinz  (Alt- 
oriental.  Symbolik,  Berl.  191 5,  S.  16)  und  dem  daselbst  ab- 
gebildeten Deckengemälde  im  Grabe  Hamses'  IX.  (s.  Taf.  VI,  2) 
läßt  sich  jene  eigentümliche  Vorstellung  von  der  meuschen- 
gestaltigen  Erde  bereits  im  12. — 11.  Jahrhundert  vor  Chr. 
(vgl.  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Alt.  I  §  268)  nachweisen. ^^)  Spä- 
tere Wiederholungen   des   gleichen  Bildes   sind  nicht   selten; 


25)  Ygl.  auch  PiETSCHMANN  bcl  Paulj-Wissowa  I  Sp.  985,  syflF.,  der 
auf  Dknon,  Voyage,  Atlas;  Lepsiüs,  Denkmäler  IV  35*"  usw.  verweist. 


14  WiLii.  H.  Koscher:  f7',5 

(las  von  mir  in  AMi.  III  Taf.  II  Fi;^'.  i  u.  Ahli.  I  S.  1 2  aus 
Hkuosch,  Hell«,',  n.  Mythol.  d.  alt.  Ägypter  S.  2  n  entlehnte 
Cienüilde  entspricht  so  ziemlich  dem  Deckenbild  im  l'ionaos 
des  Tempels  von  Philae  aus  ptoleniäischer  Zeit  (1'kinz  Taf.  VIII 
Fig.  2):  'llimmelsgöttin  nackt,  auf  ihrem  Kcirper  24  Scheiben, 
in  gleicher  Form  und  Haltung  wie  die  llimnielsgöttinnen  auf 
Nr.  I  u.  2[  auf  ihrer  r.  liaml  männliche  Gottheit.  Über  ihr 
eine  zweite  nackte  Himinelsgöttin  in  gleicher  Form  und  Hal- 
tung, auf  ihrem  Körper  zwei  gellügelte  Sonnenschcibeu.  Am 
Boden  liegt  der  Erdgott  (vgl.  Ö.  22)-^  über  jeder  Hand  eine 
Sonnenscheibe.  Der  von  den  Göttinnen  eincreschlossene  Raum 
ist  mit  Sternen  angefüllt  .  .  .'  Das  von  mir  in  Abh.  111  Taf.  II 
Fig.  2  nach  Brugsch  a.  a.  0.  S  210  wiederffef^ebene  Bild  da- 
gegen  entspricht  einigermaßen  dem  bei  Pkinz  S.  16  nr.  6  und 
bei  Lanzone,  Diziouario  Tav.  CLX  1,  nur  daß  hier  Schu 
kniet,  dort  aber  steht.  Ähnlich  auch  Prinz  S.  17  nr.  7 
(Holzsarg  der  XXI.  Dynastie)'^)  und  nr.  8  (Holzsarg  derselben 
Dyn),  nr.  9  =  Lanzoxe  Tav.  CLVIl,  nr.  10  und  Lanzone 
Tav.  GL VIII,  2  usw. 

Auf  <jrund  aller  dieser  Darlegungen  darf  also  mit  ziem- 
licher Zuversicht  behauptet  werden,  daß  die  in  Rede  stehende 
Vorstellung  des  ionischen  Hebdomadikers  nicht  bloß  auf  alt- 
ägyptischer Grundlage  beruht,  sondern  wahrscheinlich  auch 
in  jener  Zeit  nach  lonien  verpflanzt  worden  ist,  als  die  Mile- 
sier  unter  Necho  II.  (609 — 595)  und  Amasis  (569 — 526)  viele 
militärische  und  kommerzielle  Beziehungen  zu  Ägypten  ge- 
wannen und  eine  bedeutende  Niederlassung  im  Nildelta  (Nau- 
kratis)  gründeten ^^),  das  ist  aber  das  Zeitalter  des  Thaies  und 
des  Anaximandros,  des  Verfassers  der  ersten  [?J  von  einem  lonier 
entworfenen  Weltkarte  ^^) 

26)  Die  XXI.  Dynastie  regierte  bekanntlich  vor  800  vor  Chr.  Vgl. 
E.  Meyeb,  Gesch.  d.  Alt.  I  S.  479  n.  §  3  50  f. 

27)  Vgl.  Ed.  Meyer  a.  a.  0.  I  §  468  f.  und  §  500. 

28)  Vgl.  H.  Bekger,  Gesch.  d.  wissenschaftl.  Erdkunde  d.  Griechen  * 
S.  2f. ,  der  annimmt,  daß  A.  seine  Karte  noch  vor  550  v.  Chr.  ange- 
fertigt  und   auf  derselben  außer  der  taurischen  Halbinsel,   der  ägypti- 


71,5]      Dje  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  15 

Mit  noch  viel  größerer  Sicherheit  aber  weisen  folgende 
Tatsachen  und  Erwägungen  auf  Milet  und  die  erste  Hälfte 
des  6.  vorchristlichen  Jahrhunderts  hin: 

a)  „Die  Erdkarte  unseres  Autors  ist  für  die  Gesamtheit 
der  griechischen  Welt  allerdings  unvollständig,  aber  nach 
einem  besonderen  Prinzip,  und  wiederum  vollständig,  indem 
sie  nur  das  Kolonial-  und  Handelsgebiet  von  Milet 
umfaßt,  wie  es  sich  im  6.  Jahrh.  entwickelt  hatte"  (Drerup, 
Lit.  Zentralbl.  191 3  S,  13 13). 

b)  „Sie  ist  verständlich  nur  vom  Standpunkte  a)  des 
6.  Jahrh.  vor  Chr.,  ß)  eines  loniers.  Wenn  nämlich  lonien 
hier  das  Zwerchfell  der  Erde  genannt  wird,  so  kann  damit 
dieses  Land  nur  als  Mittelpunkt  der  Welt  und  der  Sitz  der 
höchsten  Intelligenz  und  Kultur  hiagestellt  sein.  Denn 
diese  altepische  Bedeutung  des  Zwerchfells  ergibt  sich  auch 
für  unsern  Verfasser  aus  der  Stellung  und  Bedeutung  des 
Mondes  im  Kosmos,  die  dem  Zwerchfell  im  Körper  entspricht" 
(Drerup  a.  a.  0.).    S.  ob.  Anm.  13  u.  Abb.  H  S.  16 f. 

c)  Auch  die  Ignorierung  des  persischen  Weltreichs 
und  Athens,  sowie  des  gesamten  Westens,  mit  dem  die 
Milesier  direkt  kaum  verkehrten  ^^),  deutet  auf  das  Milet  der 
ersten  Hälfte  des  6.  Jahrh. 


sehen  Nordküste,  den  Syrten,  Kleinasien  usw.  auch  die  auf  unserer 
hebdomadischen  Weltkarte  noch  fehlenden  Halbinseln  des 
südlichen  Italiens  und  Attika  zur  Darstellung  gebracht  habe. 

29)  Natürlich  brachten  die  Milesier,  um  das  gefährliche  Vorgebirge 
Maleia  zu  vermeiden,  ihre  für  den  Westen  bestimmten  Waren  zur 
Weiterbeförderung  durch  die  Korinthier  nach  dem  Isthmos,  der  deshalb 
auch  Ton  unserem  Kosmologen  ausdrücklich  trotz  seiner  räumlichen 
Beschränktheit  auf  seiner  Weltkarte  als  ein  Hauptpunkt  genannt  wird. 
Vgl.  BusoLT,  Griech.  Gesch  *  1  S.  446.  Neumann-Partsch,  Physik.  Geogr. 
V.  Griechenl.  S.  106  u.  142  ff. :  „Immer  blieb  für  die  griech.  Küstenfahrt 
das  Doublieren  des  Cap  Malea  eine  schwierige  Aufgabe.  Dies  war  der 
Umstand,  welcher  im  Altertum  die  Lage  Korinths  für  den  Handel  so 
überaus  wertvoll*  machte"  usw.  Hierzu  kommt  noch  die  gewichtige 
Tatsache,  daß  die  für  die  Schiffahrt  und  den  Handel  der  Milesier 
(lonier)  bei  weitem  wichtigsten  und  häufigsten  Winde  die  Nord-  und 
Südwinde  sind,  während  die  für  den  V^erkehr  mit  dem  Westen  nötig- 


i6  Wn.ii.  Tl.  KosruKR:  [71.5 

d)  Die  diMii  lldiilonuuliki'r  vorlie^JMidc  Weltkiirto  Imt 
iiugcuschtMiilicli  nur  die  von  den  Milesiern  zwischen  Ägypten 
und  der  Maiotis  einerseits  und  zwiscluMi  Milet  und  der  l'elo- 
ponnes  (oder  Isthnios)  anderseits  befahrenen  Schiiisrouten  ent- 
halten und  ist  demnach  mehr  eine  See-  als  eine  Erdkarte 
gewesen.  So  erklärt  sieh  <;anz  einlach  die  sonst  unbegreif- 
liche Tatsache,  daß  unser  Kosniolo^e  nur  4  Länder  al)er 
6  Meere  nennt,  die  jedoch  alle  im  Hereiche  des  altmilesi- 
»chen  Seehandels  —  man  denke  an  die  'Ativavtai  Milets! 
—  lagen. 

e)  Auch  die  aus  dem  6.  Jahrh.  stan)menden  und  von 
V.  Stekn  (Klio  IX  [190g]  S.  141)  beschriebenen  Grabfunde, 
die  den  milesi sehen  Kolonien  Südrußlands  verdankt  werden, 
bezeichnen  fast  denselben  geographischen  Kreis  wie  die  Welt- 
karte unseres  Kosmologen.  Dort  fanden  sich  nämlich  zahl- 
reiche Naukratisscherben,  rhodische  Teller  (vgl.  Poul- 
SEN,  D.  Orient  u.  die  frühgriech.  Kunst  S.  91  f.),  klazome- 
nische  und  altmilesische  Gefäße,  korinthische  Scherben, 
ägyptische  Skarabäen  und  schwarzfigurige  attische  Scher- 
ben, die  wahrscheinlich  von  den  Milesiern  importiert  v^aren.^") 
Erst  zu  Ende  des  6.  Jahrh.  (wohl  nach  der  Zerstörung  Milets) 
•wird  diese  ionische  Kultur  durch  den  überhand  nehmenden 
attischen  Einfluß  verdrängt. 

b)  Die  Weltkarte  und  Erdkunde  des  Pythagoras  und  seiner 

ältesten  Schüler. 
Zwar   ist    uns    von    der    Erdkunde    und   Weltkarte    des 
Pythagoras  und  seiner  ältesten  Schüler  direkt  wenig  Authen- 


ßten  Ost-  und  Westwinde  nur  eine  ganz  geringe  Rolle  spielen.  Vgl. 
Ro-scHER,  Abb.  II  S.  82 f.  u.  A.  Mommsen,  Griech.  Jahreszeiten  4  S.  450. 
Neumann-Partsch,  Phys.  Geogr.  v.  Griechenl.  S.  97  u.  125. 

30)  Vgl.  dazu  auch  Perrot-Chipiez,  Hist.  de  l'art  d.  l'ant.  X  (1914) 
über  die  nur  in  Attika  und  Aigina  gefundenen  'protoattischen'  Vasen 
(bis  Beginn  d.  6.  Jahrb.),  die  einer  Zeit  angehören,  als  Athen  (im  Gegen- 
satz zu  lonien,  Korinth,  Chalkis,  Aigina)  noch  keinen  überseeischen 
Handel  trieb:  Lit.  Zentralbl.  19 18  Sp.  1069. 


71,5]        Dlli   HrPPOKRATISCHE    SCHRIFT    VON   DER   SiEBENZAHL.  I7 

tisches  überliefert  worden  ^^),  aber  wir  können  doch  aus  ganz 
bestimmten  Tatsachen  durchaus  sicher  schließen,  daß  ihre 
Erdkarte  ganz  anders,  und  zwar  viel  vollständiger  und 
moderner,  ausgesehen  haben  muß  als  die  altmilesische, 
nur  das  Handels-  und  Kolonialgebiet  der  Milesier  berück- 
sichtigende unseres  Hebdomadikers.  Denn  daß  bei  ihrem  auf 
Gewinnung  eines  umfassenden  Weltbildes  ^^j,  sowie  auf  die 
Lösung  der  damit  zusammenhängenden  geometrischen  und 
arithmetischen  Probleme  gerichteten  Streben  Pythagoras  und 
seine  ältesten  Schüler  nach  dem  Vorgänge  des  Anaximan- 
dros  kaum  auf  den  Entwurf  einer  Weltkarte  verzichtet  haben 
können,  dürfte  schon  von  vornherein  einleuchtend  sein.  Vor 
allem  läßt  sich  schon  von  Pythagoras  selbst  mit  größter  Zu- 
versicht behaupten,  daß  er,  der  als  reifer  Mann  von  ungefähr 
40  Jahren  während  der  Regierung  des  Polykrates  Samos  ver- 
lassen hat,  um  nach  Unteritalien  auszuwandern,  unmöglich 
das  persische  Weltreich  und  den  Westen  ebenso  wie  der 
Hebdomadiker  ignorieren  konnte,  wenn  er  seine  geographi- 
schen Kenntnisse  zum  Entwürfe  einer  Erdkarte  oder  einer 
Übersicht  über  die  ihm  bekannten  Länder  und  Völker  der 
damaligen  Oikumene  verwerten  wollte.  Denn  er  erlebte  ja 
zweifellos  nicht  bloß  die  Eroberung  Lydiens  und  loniens 
durch  Kyros  (546),  sondern  auch  die  Stellung  einer  samischen 
Hilfsflotte   für   Kambyses    seitens    des   Polykrates   (525);   vgl. 


31)  Eine  ziemlich  deutliche  Spur  von  der  einstigen  Existenz  einer 
pythagoreischen  Welt-  oder  Erdkarte  erblicke  ich  in  dem  wahrschein- 
lich aus  Varro  stammenden  Zeugnis  des  Martianus  Capella  VI  609 
(198  G):  Quarum  regionum  habitus  [gemeint  sind  die  Erdzonen] 
prodidit  doctissimus  Pythagoras.  Vgl.  dazu  auch  Plut.  de  plac. 
philos.  2,  IG:  Uv&ccy  oQag,  ükcctcov,  'AQiaxoxiXr]g  ös^lcc  tov  tiöa^tov  ra 
ttvaroXiKCi  fiSQr],  acp  av  i]  ccQxr]  r/jg  Kiv^asag,  agiarsgä  Sk  xa  Svxlkcc. 
Zum  Verständnis  verweise  ich  auf  Heidel,  Class.  Philology  X  (1915) 
S.  227  (ob.  Anm.  18).  —  Verkehrt  Lobeck,  Agl.  S.  924  Anm.  ''  und  da- 
nach Roth,  Abendl.  Philos.  11%  962'».  314.  S,  Zellee  a.  a.  0.  ^  I,  321 
Anm,    Mehr  unt.  Anhang  IV. 

32)  Vgl.  RoHDE,  Psyche  *  II,  159,  3.  168.  Gompebz,  Griech.  Denker 
n  S.  95f. 

Phil.-hiit.  Klasse  1919.  Bd.  LXXI.  5.  2 


i8  Wii,ii.  II    RoscMiKii:  [71.  S 

llorod.   3,  44.    Hierzu  ki)iimit  iiofli   die  liolu«  WahrBi'lu'inlich- 
keit,  'daß   rvtlia«;oras  als  Adept  d.'i-   malliomatischen  Wisseii- 
scliai't  das   lleimatland   drrsolht'ii,  A<<ypt(Mi,  bcsuc-.ht,  hat,  wo- 
hin  noe-h   t'iii   und   zwei   .hihrhunderte   später   ein    IMatoii    und 
Eudoxos   in    «gleicher  Absicht   ilire  Schritte    h^iktcii,    und   wo 
er  nicht  bloß  äjjyF'^'sche,  sondern  autli  persische  und  bal)ylo- 
nische    Uelij^ion,    Wissenschaft    und     Kultur    kennen     lernen 
konnte'    (Gompkkz,    Griech.  Denker*  I  S.  82   u.  433f.).     Und 
ebenso  spricht  nach  GoMl'Eitz  (a.  a.  0.  S.  82)  alle  Wahrschein- 
lichkeit dafür,  'daß  der  bildungsbedürftige  Grieche  auch  Ba- 
bylon   selbst,    die    Stätte    uralter    Kultur    und    Wissenschaft 
(Astronomie!),    besucht    und    dort    einheimische    sowohl    als 
fremde  Überlieferungen  aufgelesen  hat'.-''^)     Ich  erinnere  hier 
vor  allem  an  die  bekannten  Urteile  des   Herakleitos^"*),   Em- 
pedokles  und  Ion  über  Pythagoras,  die  von  seiner  noXv^iad-Cri, 
seinem  übermenschlichen  vielseitigen  Wissen  {Ttsgiaöia  fldibg' 

33)  Ich  denke  dabei  in  erster  Linie  an  die  von  Gomperz  a.  a.  0. 
S.  103  richtig  hervorgehobene  merkwürdige  Übereinstimmung  seiner 
Lehre  von  der  Seelenwanderung  mit  den  Vorstellungen  der  Inder, 
von  denen  Pythagoras  leicht  „durch  persische  Vermittlung"  Kenntnis 
erhalten  konnte.  Daß  gerade  die  Heimatinsel  des  Pyth.,  Samos,  alte 
Handelsverbindungen  mit  Indien  besaß,  beweist  vor  allem  die  unzweifel- 
haft aus  Indien  stammende  Pfauenzucht,  die  im  samischen  Heraion, 
dem  8.  Z.  größten  und  berühmtesten  Tempel  von  Hellas,  gepflegt 
wurde  (Hehn,  Kulturpflanzen  u.  Hausthiere  *  S.  305 f)-  Wie  Heiin  (S. 
304)  bemerkt,  stammen  aber  nicht  bloß  die  prächtigen  Pfauen,  sondern 
auch  „das  blanke  Gold,  die  blitzenden  Edelsteine,  das  weiße  Elfenbein 
und  das  schwarze  Ebenholz",  lauter  Gegenstände,  die  schon  dem 
Homer  bekannt  waren,  aus  Indien  und  sind  den  loniern  sicher  durch 
den  Handel  mit  den  östlichen  Völkern  (Phöniziern,  Syrern  usw.)  zu- 
gekommen. 

?4)  Diog.  L.  9,  I  (=  DiELs,  Vorsokr.  I  S.  68,  8):  noXv ficcd' tri 
vöov  'ix^iv  ov  diSaGy.ei  •  ' HcioSov  yäg  av  idiSa^s  xaJ  riv&ayÖQrjv 
uivis  Ti  Sevocpävsa  xai  'Exaroüov.  Man  bedenke,  daß  Hekataios 
ebenso  wie  Xenophanee  weit  gereist  war  (Gompekz,  Gr.  D.  I  S.  205f.) 
und  so  außerordentlich  vielseitige  Kenntnisse  gewonnen  hatte  (vgl. 
für  Xenoph.  Gompebz,  Griech.  Denker 'I,  129).  Auch  von  'Hesiod'  gab 
es  eine  üsQioSog  yr/g  (nach  Strab.  7,  302),  die  auf  weite  Reisen 
schließen  ließ. 


7 1,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  ig 

Qsf  o  ys  t&v  övxcov  tcccvtov  XsvögsGusv  e'xaörovy^)  klares  Zeug- 
nis ablegen,  Eigenschaften,  die  er  sich  kaum  anders  als  durch 
umfassende  Bereisung  der  damaligen  Welt  erwerben  konnte. 
Und  selbst  wenn  —  aller  Wahrscheinlichkeit  zuwider  —  die 
ausdrücklichen  Zeugnisse  für  die  Reisen  des  Pythagoras  sämt- 
lich auf  Fälschung  oder  Übertreibung  beruhen  sollten,  so 
waren  doch  auf  jeden  Fall  seit  der  Unterwerfung  Lydiens 
und  loniens  durch  Kyros  die  Grenzen  der  persischen  Macht 
so  weit  vorgeschoben,  daß  selbst  auf  den  Inseln  die  Gewalt 
der  neuen  Weltmonarchie  drückend  gefühlt  werden  mußte. 
„Zu  einer  Zeit,  da  Polykrates  nicht  umhin  konnte,  dem 
Kambyses  eine  Hilfsflotte  für  den  Zug  nach  Ägypten  zu 
steUeu  (Herod.  3,  44),  hätte  sich  der  Samier  Pythagoras  wie 
sein  sagenhafter  Sklave  Zalmoxis  auf  Jahre  unter  die  Erde 
verkriechen  oder  wie  Epimenides  auf  50  Jahre  schlafen  legen 
müssen,  wenn  er  es  vermeiden  wollte,  zwei  Stunden  Segel- 
fahrt von  seiner  engsten  Heimat  entfernt  mit  der  persischen 
Küstenbesatzung  zusammenzutreffen  und  dort  jenen  Pyraithoi 
zu  begegnen,  ohne  deren  Beistand  kein  gültiges  Opfer  ge- 
bracht werden  konnte  (Herod.  i,  132)."  Wie  Eisler  (Welten- 
mantel u.  Himmelszelt  S.  733f.)  mit  Recht  bemerkt,  ist  es 
wirklich  ziemlich  gleichgültig,  ob  man  an  weite  Bildungs- 
reisen des  Pythagoras  glaubt  oder  nicht,  hatte  er  doch  eben- 
so wie  Thaies  und  Pherekydes,  auch  ohne  weite  Reisen  zu 
unternehmen,  schon  in  der  Heimat  oder  in  deren  unmittel- 
barer Nachbarschaft  [ebenso  wie  in  Ägypten]  reichliche  Ge- 
legenheit, mit  kappadokischen  „Magiern"  und  wandernden 
'Ohaldäern'  zusammenzutreffen  und  von  ihnen  allerlei  wert- 
volle astronomische  (und  geographische)  Kunde  einzuheimsen. 
Genau  dasselbe  gilt  natürlich  in  noch  höherem  Maße  als  von 
dem  Meister  selbst  von  seinen  ältesten  Schülern,  zu  denen  unter 
anderen  auch  Demokedes,  der  aus  Knidos  stammende  berühmte 
krotoniatische  Leibarzt  des  Polykrates  und  Dareios,  gehörte.^®) 

35)  Empedokl.  fr    129  Diels  (Vorsokr.  I  S.  211). 

36)  Vgl.  die  Zeugnisse  bei  Diels,  Vorsokr.  I  S.  32 f.  u.  II,  i  S.  656. 
RoscHEK,  Hebdomadenlehren  S.  24  Anm.  31  u.  unt.  S.  28  Anm.  49. 


20  "WiMi.  H   Kosohkr:  [7i.5 

Zu  ilemsolbou  Ergebnis,  daß  Pvtlia<^oras  und  seino  iUtoste 
Scliulf  bei  der  SclmtVunjjf  ihres  Wclthililos  iiimiö^lich  Persien 
und  den  gesamten  \\'esten  ebenso  wie  der  hebdoniadische 
Kosinolo<r  ijrnorieren  konnten,  >feliin<]rc?i  wir,  wenn  wir  di(>  uns 
aus  zahlreieheu  Hruebstücken  und  gewissen  Andeut,ung(>u 
Herodots  leidlich  bekannte  Weltkarte  {7rf()iodog  yijg)  des 
Hekat.iios,  eines  jüngeren  Zeitgenossen  des  l'ythagoras,  in 
Betracht  ziehen. •''') 

Wie  ich  bereits  in  einem  ,,Da8  Alter  der  Weltkarte  in 
Hippokrates'  n.  tßdo^iädcov  und  die  Keichskarte  des  Darius 
H^'staspis"  betitelten  Aufsat/e  des  Fhilologus  (LXX  =  N.  F. 
XXIV,  4  S.  5  2Qff.)  nachgewiesen  habe,  lehrt  ein  Vergleich 
der  Weltkarte  des  Hippokrateers  mit  den  beiden  bekannten 
Erdkarten  des  Hekataios  und  Dtirius  Hystaspis  unzweifelhaft 
das  höhere  Alter  der  ersteren.  Von  der  Erdkarte  des  Heka- 
taios erfahren  wir  aus  Herodot,  daß  sie  um  500,  also  kurz 
vor  der  Zerstörung  Milets  durch  die  Perser,  in  einem  bron- 
zenen Exemplar  von  Aristagoras  dem  Spartanerkönig  Kleo- 
meues  vorgelegt  wurde,  um  diesen  zu  einem  Zuge  nach  Susa 
zu  veranlassen  (a.  a.  0.  S.  532).  Zu  diesem  Zwecke  werden, 
dem  Zusammenhange  und  der  Absicht  des  Aristagoras  ent- 
sprechend, nur  die  östlichen  Länder  zwischen  der  Küste 
Kleiuasiens  und  Persien  aufgezählt,  nämlich  lonien,  Lydien, 
Phrygien,  Kappadokien,  Kilikien,  Kypros,  Armenien,  Matiene, 
Kissien.  Auch  muß  jene  Erztafel,  wie  aus  Herod.  5,  52  (vgl. 
5,  36)  hervorgeht,  die  sämtlichen  Wege  und  Rasten  zwischen 
Sardes  und  Susa  nebst  Angaben  über  die  Entfernungen  in 
Parasangen  enthalten  haben,  was  doch  wohl  mit  ziemlicher 
Sicherheit  darauf  schließen  läßt,  daß  dem  Zeichner  persische 
Quellen  (Itinerarien  und  Wegkarten)  zur  Verfügung  ge- 
standen    haben. ^^j     Da    nun    aber    nach     den     Darlegungen 

37)  Nach  SiEQUN  bei  H.  Philipp  in  der  Wochenschr.  f.  klass. 
Philol.  191 5  Nr.  30  Sp.  697 f.  hat  Hekataios  seine  Weltkarte  nebst 
Kommentar  etwa  516  v.  Chr.  herausgegeben.  Seine  Vorarbeiten  dazu 
reichen  natürlich  in  viel  frühere  Jahre  zurück. 

38)  Vgl.  Herod.  5,  36:  'Exaraiog  S'  6  loyonoibg  .  .  .  ovy.  ^a  noXs^ov 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         21 

Jacobys  im  Artikel  Hekataios  bei  Pauly-Wissow  a  die  TceQio 
dog  yfjg,   deren  ursprüngliche   Bedeutung   Heraklit  und  Hero- 
dot    indirekt    bezeugen,    im    ganzen    5.    Jahrb.    unzweifelhaft 
„das    geographische    Hauptbuch"    war   und    als    solches 
von  Aischylos,  dem  Autor  tcsql  aegcav,  ferner   von    Herodot, 
Hellanikos,    Damastes    (der    xä    nXslöxa    iy.    tcbv   'Exaraiov 
{israyQaipag    IlsQiitlovv    syQaipsv:    Agathem.    i,   i)    einerseits 
aufs  stärkste  ausgebeutet  oder  als  Ausgangspunkt  der  weiteren 
Arbeit    benutzt,    anderseits    zum    Hauptzielpunkt    gegen    das 
ionische  Weltbild  gemacht  wurde,  so  leuchtet  ohne   weiteres 
ein,  daß  weder  Pythagoras  selbst  noch  seine  ältesten  Schüler, 
die  größtenteils  dem  griechischen  Westen  angehörten,  eine  be- 
reits vollkommen  veraltete,  im  Grunde  nur  die  Schiffsrouten 
der  ältesten  Milesier  berücksichtigende  Weltkarte  ihrem  Welt- 
bilde und  ihrer  Erdkunde  (Erdbeschreibung)   zugrunde  legen 
konnten.     Was  aber  von  den  ältesten  Pythagoreern  gilt,  das 
gilt   natürlich  erst  recht  von  den  jüngeren,   z.  B,  von  Philo- 
laos,  dem  Zeitgenossen  des  Sokrates,  der  ganz  gewiß  ebenso 
wie  Aischylos,   Herodot  usw.  bei  seinen  etwaigen  geographi- 
schen Erörterungen  die  Tcegtodog   yfjg    des    Hekataios  benutzt 
hat.    Wie  vortrefflich  man  etwa  in  Philolaos'  Zeit  in  Unter- 
italieu    über    persische    Verhältnisse    orientiert    war,    das 
lehrt  vor  allem  die  berühmte  aus  Canosa  stammende  Dareios- 
vase,    die    uns    den    persischen    Großkönig   mit    seinem   Hofe 
und  seinen  Finanzbeamten  in  überaus  charakteristischen  Dar- 
stellungen vorführt. 

Derselben  Zeit  und  wahrscheinlich  pythagoreischer  Lehre 
gehört  auch  die  zuerst  bei  dem  Dichter  der  mittleren  Ko- 
mödie Alexis  (^seit  384  v.  Chr.),  femer  bei  Timaios,  Aristo- 
teles usw.^^)   auftauchende  Theorie  von    den   sieben  größten 


ßaaiXh  Tfö  TIsQOSwv  avcctghG&at. ,  v.axakiy(üv  xä  rs  ^&vs(x  ■nävxcc  r&v 
i]Q%E  ^agsios  yial  triv  dvvcutiv  uvxov.  Vgl.  damit  das  weiter  unten  über 
die  Länder-  und  Völkerverzeichnisse  des  Dareios  Gesagte. 

39)  Vgl.   Alexid.   fr.  3  p.  517   Mein.  Timaios   b.  Strab.  654.   Pb.- 

j    Aristot.  mirab.  ausc.  88.  'Aristot.'  de  mundo   p.  393  a  12.   Hyg.  f.  276. 

J    Latercul.  Alex.  ed.  Diels  p.  lo.  —  S.  auch  Bergek  a.  a.  0.  S.  42  f. 

L 


22  Wn,}i.  II   Rosciier:  [71.5 

Inseln  (Sardinien,  Sizilien,  Cypern,  Kreta,  Euboia,  Kor- 
sika, Loshoa)  an.  Die  Eutstohunjif  dieser  Theorie  dürfte,  da 
sie  htMcits  /,u  Alexis'  Zeit  in  Athen  ganz,  j)()i)uliir  war,  wohl 
sicher  ins  5.  Jahrluiiidert  zu  setzen  sein,  und  der  Verfasser 
der  Schrift  7t.  tßöouc'cdiov  würde  sie  sieh  bei  seiueni  olfen- 
kundigen  Streben,  niÖgliehst  alle  aiu>rkannten  liebdoniaden  zu 
sammeln  und  zu  verwerten,  jjewiß  ni(;ht  haben  entziehen 
lassen,  wenn  er  sie  gekannt  liiitte.  Da  nun  aber  die  west- 
lichen luseln  dieser  Gru})pe,  nämlich  Sizilien,  Sardinien  und 
Korsika  notwendig  zu  dieser  Theorie  gehören,  so  läßt  sich 
schon  aus  deren  Ignorierung  von  selten  des  Hebdomadikers 
der  Schluß  ziehen,  daß  er  von  jenen  westlichen  Insehi  noch 
keine  rechte  Kenntnis  hatte,  während  eine  solche  für  Pytha- 
goras  und  seine  älteren  Schüler  sicher  vorausgesetzt  werden 
muß.  Das  erscheint  um  so  gewisser,  da  wir  ja  positiv  wissen, 
wie  hoch  gerade  die  Siebenzahl  von  ihnen  bewertet 
worden  ist.'*°) 

Aber  wir  besitzen  noch  weitere  unzweifelhafte  Zeugnisse 
für  das  hohe  Alter  der  hebdomadischen  Weltkarte  und  ihren 
vorpythagoreischen  Ursprung.  Ich  meine  die  den  größten 
Teil  der  gegen  Ende  des  6.  Jahih.  bekannten  Erde  um- 
spannende Reichskarte  des  Darius  Hystaspis,  deren  Umfang 
und  viele  darin  enthaltene  Einzelheiten  wir  aus  mehreren 
von  diesem  großen  Herrscher  hinterlassenen  und  sicher  auch 
Hekataios,  den  Pythagoreern  usw.  bekannten  Monumenten  er- 
schließen können.  Das  wichtigste  von  diesen  ist  die  große 
durch  die  Trachtenbilder  aller  von  Dareios  unterworfenen 
Völkerstämme  illustrierte  Inschrift  vom  Grabe  des  Großkönigs 
zu  Susa,  über  deren  Bedeutung  für  unsere  Frage  ich  bereits 
im  Philologus  LXX  (N.  F.  XXIV  S.  533  0".)  gehandelt  habe. 
Hier  heißt  es  (nach  Weissbach,  Abh.  d.  philol.-histor.  Klasse 
d.  Kgl.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  Bd.  2g  Nr.  i  Leipz.  191 1)  in  §  3: 

„Es  spricht  Darius  der  König:  Nach  dem  Willen  Ahuramazdaa 
(waren  es)  diese  Länder,  die  ich  (in  Besitz)  nahm  außerhalb  von  Per- 


40)  S.  unten  Kap.  IP  a.  E. 


71,5]        D^E   HIPPOKRATISCHE    SCHRIFT   VON   DER   SiEBENZAHL.  2^ 

sien;  ich  herrschte  über  sie;  sie  brachten  mir  Tribut;  was  von  mir  ge- 
sagt wurde,  das  taten  sie;  mein  Gesetz  hielt  sie  (in  Schranken):  Medien, 
Huuaga  [=  Elam],  Parthien,  Areia,  Baktrien,  Sogdiana,  Chorasmien, 
Drangiana,  Arachosien,  Sattagydien,  Gandära,  Indusland,  die  amyr- 
gischen  Saken,  die  Saken  mit  spitzen  Mützen,  Babylonien,  Assyrien, 
Arabien,  Ägypten,  Armenien,  Kappadokien,  Sparda  [=  Sardes,  Lydien], 
1 0  n  i  e  n  [in  Kleinasien] ,  die  Saken  jenseits  des  [Schwarzen]  Meeres, 
Skudra,  die  Schilde  [d.  i.  schildartige  Kopfbedeckungen  =  Kuvaiai, 
nhaßoi]  auf  den  Köpfen  tragenden  lonier  [gemeint  sind  die  Hellenen 
in  den  Kolonien  am  Schwarzen  Meere,  in  Thrakien,  Makedonien  usw.], 
Püt,  Küs,   Makiia,  Karka  [4  afrikanische  Völker].  — 

§  4.  Es  spricht  Darius  der  König:  Als  Ahuramazda  diese  Erde 
durch  Kampf  verwirrt  sah,  da  übertrug  er  sie  mir,  machte  mich  zum 
König:  ich  bin  König  ....  Wenn  du  nun  denkst:  'Wie  vielfach 
(waren)  jene  Länder,  die  Dariu9  der  König  besaß?',  (so)  betrachte  die 
Bilder  die  den  Thron  tragen.*')  Da  wirst  du  erfahren:  .  .  .  Des  per- 
sischen Mannes  Lanze  ist  weithin  gegangen.  Dann  wird  dir  kund 
werden:  Der  persische  Mann  hat  fern  von  Persien  den  Kämpfenden 
geschlagen"  .... 

Ein  zweites,  ebenfalls  eine  Art  Reichskarte  des  Darius 
darstellendes  Monument  lernen  wir  aus  Herodot  4,  87  kennen. 
Hier  wird  berichtet,  daß  Darius  nach  dem  Übergang  über 
den  durch  das  technische  Geschick  des  Mandrokles  von  Sa- 
mos,  also  eines  speziellen  Landsmannes  des  Pjthagoras, 
überbrückten  Bosporus  bei  Byzanz  zwei  Stelen  errichten 
ließ,  die  eine  mit  einer  persisch -assyrischen,  die  andere  mit 
einer  griechischen  (d.  i.  ionischen)  Inschrift.  Beide  ent- 
hielten ein  genaues  Verzeichnis  aller  Völker,  welche 
im  Heereszuge  des  D.  gegen  die  Skytben  (514  v.  Chr.)  ver- 
treten waren;  er  fährte  aber  alle  mit  sich,  die  er  beherrschte, 
darunter  zahlreiche  lonier  (Herod.  4,  89.  133.  i36f.).  Es 
braucht  kaum  noch  besonders  dargelegt  zu  werden,  wie  klar 
und  deutlich  auch  diese  Tatsache  gegen  die  Annahme  spricht, 
daß  der   ionisch   schreibende  Verfasser   der  hebdomadischen 


41)  Jede  der  hier  dargestellten  28  -(-  2  =  30  Figuren  ist  mit  einer 
erklärenden  Inschrift  versehen,  die  mit  der  oben  mitgeteilten  Gesamt- 
aufzählung in  Reihenfolge  und  Benennung  übereinstimmt.  Auch  er- 
scheint jeder  Vertreter  einer  Völkerschaft  in  der  für  diese  charakteri- 
stischen Tracht. 


24  Wu.ii.  H.  KosciiKK:  f7',5 

Kosmologie  erst  der  Zeit  naeli  Pythagorns  und  Dareios  oder 
gar,  wie  DiKLS  uud  lk)LL  nieiiien,  erst  zwiselieii  450  und 
350  angeliört  liabe,  weil  eine  derartige  Ignorierung  des  per- 
sischen Weltreichs  gerade  seitens  eines  wissensehaftlich  ge- 
hildoten   loniers  g;inz  unghiublich   nnd  niirnr)glich  ersclieint. 

(lan/  ähnlicli  verhält  es  sich  niii  der  wesentlich  nach 
geographischen  (iesichtspunkten  vorgenommenen  Einteilung 
des  Perserreichs  unter  Darius  in  Steuerkreise,  die  uns 
Herodot  (3,  Qoff.)  überliefert  hat.  Da  hier  in  erster  Linie 
die  lonier,  Magneten,  Aioler,  Karer,  Lykier,  Myser,  Lyder, 
Hellespontier  erwähnt  werden,  so.  konnte  ein  ionischer 
Philosoph  oder  Arzt  jener  Zeit  (oder  etwas  später),  der  eine 
Weltkarte  entwerfen  wollte,  unmöglich  das  persische  Reich 
isnorieren,  dessen  Macht  und  Größe  er  selbst  als  Steuer- 
Zahler  nur  zu  deutlich  empfinden  mußte.  Es  ist  daher  aus 
solcher  Ignorierung  wiederum  kein  anderer  Schluß  zu  ziehen 
als  der,  daß  sie  nur  zu  einer  Zeit  möglich  war,  als  die  per- 
sische HeiTSchaft  sich  noch  nicht  bis  nach  Lydien  und  lonien 
erstreckt  hatte.  Daraus  folgt  aber  wieder  mit  unumstößlicher 
Gewißheit,  daß  der  Verfasser  unserer  hebdomadischen  Welt- 
karte unmöglich  ein  Pythagoreer  gewesen  sein  oder  unter 
pythagoreischem  Einfluß  gestanden  haben  kann,  sondern  viel- 
mehr der  Zeit  vor  546  angehört  haben  muß. 

Daß  die  Weltkarte  des  Pythagoras  und  seiner  ältesten 
Schule  ganz  anders  ausgesehen  hat  als  die  des  Hebdoma- 
dikers,  läßt  sich  aber  noch  auf  einem  ganz  anderen  Wege 
wahrscheinlich  machen. 

Jede  geographische  Karte,  vor  allem  aber  eine  Welt- 
karte muß  ein  Zentrum  {o^cpaXog)  haben,  da  sie  ursprüng- 
lich nach  dem  Prinzip  der  Windrose  entworfen  ist."*^)  Unser 


42)  Vgl.  Plin.  h.  n.  18,  326 ff.:  Ventorum  [ratio]  paulo  scrupu- 
losior.  Observato  solis  ortu  quocunque  die  libeat,  stantibus  hora  diei 
sexta  (^  meridie)  sie,  ut  ortum  eum  a  sinistro  humero  habeant,  con- 
tra mediam  faciem  meridies  et  a  vertice  septentrio  erit.  Qui  ita  limcs 
per  agrum  cun-et,  cardo  [=  u^mv,  axis,  ttoJ.os  =  SiäfpQuynu  b.  Dikaiarch; 
Tgl.  RoscHEB,   Abb.  V   S.  118  A.  173]  appellabitur.     Circumagi  deinde 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  25 

altmilesischer  Hebdomadiker  hatte  für  seine  Weltkarte  deren 
Omphalos  augenscheinlich  in  lonien,  d.  h.  wahrscheinlich 
in  Milet-Branchidai,  angenommen,  wie  ich  wiederholt  aus- 
geführt habe,  da  sich  die  Bezeichnung  loniens  als  'Zwerch- 
fell' der  Welt  gar  nicht  anders  erklären  läßt.^^)  Es  fragt 
sich  nunmehr:  welches  war  der  Omphalos  der  vorauszu- 
setzenden Weltkarte  des  Pythagoras  und  seiner  ältesten 
Schule?  Die  Antwort  lautet:  es  kann  kaum  zweifelhaft  sein, 
daß  das  Zentrum  der  pythagoreischen  Weltkarte  nicht  wie 
bei  dem  Hebdomadiker  und  wahrscheinlich  auch  bei  Hekataios 
(Anm.  43)  in  lonien,  also  etwa  in  Milet-Branchidai,  sondern 
vielmehr  in  Delphi  anzunehmen  ist.  Die  Gründe,  die  dafür 
sprechen,  sind  kurz  folgende: 

Nach  allem,  was  wir  von  Pythagoras  und  seinen  ältesten 
Schülern  wissen,  kann  nicht  bezweifelt  werden,  daß  sie  zu 
Delphi  und  nicht   etwa   zu   Branchidai,    dem  Hauptkonkur- 


melius  est,  ut  umbram  suam  quisque  cernat;  alioquin  post  hominem 
erit.  Ergo  permutatis  lateribus,  ut  ortus  illius  diei  a  dextro  huinero 
fiat,  occasus  a  sinistro,  tunc  erit  hora  sexta,  cum  minima  umbra  con- 
tra medium  fiet  hominem.  Per  liuius  mediam  longitudinem  duci  sar- 
culo  sulcum  vel  [vom?]ere  lineam,  verbi  gratia,  pedum  XX  conveniat, 
mediamque  mensuram ,  hoc  est  in  decimo  pede  circumscribi  circulo 
parvo,  qui  vocetur  umbilicus  etc.  Ein  etwas  vervoUkommneteres  Ver- 
fahren schildert  uns  Vitruvius  I,  6,  6  u.  12  und  dazu  Rehm,  Griech. 
Windrosen.  Münch.  1916  S.  12  f.  Röscher  in  Wochenschr.  f.  klass. 
Philol.  19 17  Sp.  849.  S.  auch  Lelewel,  Geogr.  du  moyen  äge  I  Proll. 
p.  LXXX  u.  I  p.  27  Anm.  46.  II  p.  134.  Röscher,  D.  OmpLalosgedanke 
S.  100.  S.  auch  Berger,  Gesch.  d.  Erdkunde  *  S.  1 1 1  ob.  über  die  Not- 
wendigkeit für  jeden  Geographen,  einen  Omphalos  für  seine  Erdkarte 
anzunehmen. 

43)  Vgl.  Omphalos  S.  38  ff.  Neue  Omphalosstudien  S.  29.  Neuer- 
dings hat  Jacüby  in  seinem  gründlichen  Aitikel  '"Hekataios'  bei  Pauly- 
WissowA- Kroll  VI!I,  2  Sp.  2703,  15  u.  2706  die  bestimmte  Vermutung 
ausgesprochen,  daß  auch  für  dessen  Weltkarte  der  Omphalos  nicht  in 
Delphi,  sondern  in  lonien  lag.  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  daß 
lonien  tatsächlich  in  der  Mitte  zwischen  Ägypten  und  den  milesischen 
Kolonien  am  Pontos  Euxeinos  und  der  Maiotis  gelegen  ist  und  infolge- 
dessen ein  mittleres,  gemäßigtes  Klima  besitzt.  Vgl.  Röscher,  Om- 
phalos S.  39  A.  74. 


26  \Vii.iiH.  KosDuicii:  (7'i5 

reuten  Delphis  in  älterer  Zeit'*\  in  allerengsten  Rezieliuugen 
gestanden  haben.     Das  erhellt: 

a)  aus  einer  (Quelle  ersten  Hanges,  niinilich  aus  Aristo- 
xenos  bei  Diog.  L.  8,  8  [u.  21):  q  tjol  dt  xaVA^iöTÖ^ivog  rä 
Tikelaxa  rüi'  i^iyixüx'  öoyfidrwv  Xaßfiv  toi'  Jhi^ayÖQav  na- 
get i-)nn(iToxke{(ig  [wohl  einer  I'ythia]  T>"jg  iv  ^sXcpoig.^^) 

b)  aus  der  übereinstimmend  von  I'or|)hyrios  (vila  Pytha- 
gor.  2)  und  laniblichos  (v.  l'ytii.  5  u.  6)  überliei'erten  Sage, 
daß  Pythagoras  eigentlich  der  Hohn  des  pythischen 
Apollon  und  der  ursprünglich  IJciQ&eing,  später  dem  ])ythi- 
schen  Apollon  zu  Ehren  Jh'ifai'g  genannten  Gattin  des 
Muesarchos  gewesen  sei.  Dafür  beruft  sich  der  in  diesem 
Falle  indirekt  aus  Timaios  schöpfende  laniblichos'*^)  auf 
einen  samischen  Dichter  und  außerdi'm  auf  Epimenides, 
Eudoxos  und  Xenokrates.  Ja  nach  Aribtot.  b.  Ael.  v.  h.  2,  26 
sollte  Pythagoras  von  den  Krotoniaten  geradezu  als  'Jz6X?.(ov 
' T^iaoßoQaLog  verehrt  und  gepriesen  worden  sein,  eine  Sage, 
die,  wie  Crusius  im  Artikel  Plyperboreer  des  Lexikons  d. 
Mythol.  dartut,  ebenfalls  auf  Delphi  und  die  dort  lokalisierte 
Hyperboreersage  zurückweist.'*^)  Ich  kann  also  durchaus 
nicht  RoHDE  (Kl.  Sehr.  II,  123)  beistimmen,  wenn  er  diese 
Legenden  als  Autoschediasmen  des  Apollonios  von  Tyana 
behandelt,  glaube  vielmehr  mit  Bertp:rmann  (a.  a.  0.)  und 
anderen,    daß    der    von    lamblichos  in    diesem  Falle  benutzte 


44)  RoscHEu,  Abb.  III  S.  26 f.  u.  Omphalos  S.  44  A.  86. 

45)  Vgl.  auch  Suid.  s  v.  Uvd'ayÖQag  p.  550  B:  tä  di  d6y(iaTa 
^Xaßs  Ttagcc  tfjg  iv  ^tXtpoli  [Hss.  ccSslcfifjq]   Osoxliias- 

46)  S.  Bektermann,  De  lamblichi  vitao  Pythag.  fontibuH.  Dissert. 
Königsberg  191 3  p.40.  Diels,  Vorsokr.  II,  i  S.700.  —  Berteumann  (S.40,  i) 
verweist  lür  Timaios  und  dessen  Tendenz,  in  seiner  Geschichte  die 
göttliche  Vorsehung,  soweit  sie  sich  in  den  Orakeln  offenbart,  zu  ver- 
herrlichen, auch  auf  Wachsmuth,  Einleit.  in  d.  Studium  d.  alt.  Gesch. 
S.  551  ff.  Vgl.  auch  Tim.  fr.  60. 

47)  Vgl.  auch  Titnaio.s  b.  lamblichos  a.  a.  0.  91  u.  93:  "AßuQig 
(der  Hyperboreer)  amov  \r.  JJvQ-ay.^  ovrag  'AiiöXXava  nicrtvacig.  Luc. 
dial.  mort.   10,  3.    Gall.   16. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  27 

ApoUonios    von    Tyana    einfach    das    ihm    von    Timaios    dar- 
gebotene Legendenmaterial  übernommen  und  weitergegeben  hat. 

c)  Auch  der  Tempel,  den  Mnesarchos,  der  Vater  des 
Pythagoras,  zu  Samos  dem  Apollon  Pythios  zu  Ehren  er- 
baut haben  sollte,  deutet  auf  enge  Beziehungen  des  Pytha- 
goras und  seiner  Familie  zu  Delphi  (Pytho)  hin  (Timaios  b. 
lamblich.  a.  a.  0.  9). 

d)  Schon  Ankaios,  der  mythische  Urahn  des  Pythagoras, 
sollte  ein  besonderer  Verehrer  des  pythischen  Apollon  ge- 
wesen sein  und  auf  dessen  Befehl  von  Kephallenia  eine 
Kolonie  nach  Samos  geführt  haben.*^) 

e)  Auch  der  Name  des  Pythagoras  soll  mit  einem 
pythischen  Orakel  zusammenhängen,  das  dem  Vater  Mnes- 
archos,  als  er  gerade  in  Delphi  weilte,  die  Pythia  erteilt 
habe.  Timaios  bei  lambl.  a.  a.  0.  6:  rbv  ysvo^evov  vlbv 
TIvxtayoQav  TiQoörjyÖQSvösv,  ort  aga  vtco  tcD  UvQ-Cov 
jtQoijy 0QSvd"rj  avx(p. 


48)  Timaios  b.  lambl.  a.  a.  0.  3 :  AiysvaL  .  .  'Ay-Kcctov,  rbv  xarot- 
X'^aavTa  xt]v  Uä^ov  ti]v  iv  r^  KEcpaXXr]via,  yBy£vvf}69at  ^hv  änb  Jiös 
.  .  .  Tovra  öh  ysvso&ai  ;^()7jöfi6v  itaucc  rfjs  riv&lccg,  Gvvayaystv  anoi- 
KLuv  ix  rfjs  KsqxxlXrivlag  Kai  ix  ttjj  'Ag^aSlas  %ai  i^  rfiq  ©EztaXiag, 
xal  TtQoaXaßstv  inoixovg  Ttagd  t8  tibv  'A&rivaicov  xal  Ttaga  räv  JLni- 
SavQLCov  Kccl  TtKQCc  x&v  XaXxidiav,  xccl  rovtcov  änocvzcov  r]yov\iEvov  olxi- 
Gai  vf]6ov  Tr]v  dt  ccQ£t7]v  toi)  iSdq)Ovg  xal  rfjg  y^g  MsXä^q)vXlov  v.a- 
Xov^ievriv,  ngoaayoQ^vaai  rs  rrjv  nöXiv  I^ä^iov  ccvtI  ttjs  Ediir\g  Tf]g  iv 
KsfpaXXrivia.     Tbv  ftsv  ovv  jjprjfffiov  avvißr\  ysvic&cd,  roiovtov 

'Ayxut\  slvccXiav  vfjGov  Häaov  dvrl  Za(ir]g  6s  ||  Olxi^siv  xiXofiaf 
^vXXccg  d'  övo}id^STai  avtr\.  —  Tov  dh  rag  dnoixiag  ix  tcöv  zotküv  röav 
TtgosigriiiEvcov  avvsX&stv  criiislov  ietiv  ov  y.6vov  al  tcöv  &scbv  ri^al  xal 
%'vaiai,  Siori  y-striy^iivai  rvyxdvovGiv  ix  röav  tonrov,  o&sv  ra  TtX'^d'ri  xcbv 
ccvdgäv  ovvi]Xd'£v^  dXXcc  xal  (cciy  t&v  cvyysvsicov  xal  x&v  itsr  aXX^Xcov 
evvööav,  ag  itoiovyLEvoi  ol  ^diiioL  xvyxdvovGi.  Alle  diese  Notizen  über 
die  Kolonisierung  von  Samos  machen  den  Eindruck  guter  und  echter 
Lokalüberlieferung,  die  durch  anderweitige  Nachrichten  Bestätigung  er- 
halten (vgl.  Apollod.  fr.  180:  alte  Beziehungen  der  Samier  zum  delphi- 
schen Orakel.  Pherecyd.  fr.  11 1:  Ankaios,  Herrscher  von  Samos. 
Strab.  637 :  Samos  =  M£Xd^q)vXXog  und  dnoixia  iE,  'l%'dxr]g  xal  Ks- 
(paXXr]viag  etc.). 


28  Wii.ii.  11.  Koscur.u:  l7'.5 

f)  Hierzu  koinnuMi  sclilicßlicli  iiorli  i]\o  viclfiiclicu  ho- 
kannteii  z.  T.  sehr  alten  Heziehun^cii  Krotons  iiiul  Mcta- 
ponts,  der  beiileii  llmipt Wirkungsstätten  des  Pytluigoras  in 
Unteritiilien,  zum   dolphiselien   Orakel.'") 

Auf  Grund  ulier  dieser  untereinander  trefflich  übereiu- 
stinimenden  ZeuL!;nisse  läßt  sieh  wohl  mit  volhjr  Sicherheit 
behaupten,  daß  Pyth:igoras  und  seiin'  Sehule,  wenn  sie  es 
nicht  mit  der  anf  ihre  Omphaloslheorie  höehst  eifersüchti<ren 
delphisehen  Priestersehaft  t^ründlieh  verderben  wollten,  zum 
Mittel puidvt  ihrer  \V'eltkarte  nur  Delphi  (nicht  aber  Biauchi- 
dai  oder  Delos)  erwählen  konnten.  Ich  nehme  also  an,  daß 
A»ijathemerus  (i,  i),  wenn  er  behauptet,  daß  auf  den  ältesten 
Weltkarten  Delphi  als  oncpaXög  figuriert  habe,  dabei  vorzugs- 
weise an  die  Pythagoreer  gedacht  hat,  während  Anaxini an- 
der, Hekataios  (s.  ob.  S.  2of.)  und  unser  Hebdomadiker  natür- 
lich das  ihnen  viel  bequemer  gelegene  Branchidai,  den  Haupt- 
konkurreuten  des  deli)hischen  Orakels  in  älterer  Zeit,  zum 
Zentrum  ihrer  Weltkarten  gemacht  hatten. ^'^'')  S.  Omphalos 
S.  36  f.  / 


49)  Vgl.  0.  Müller,  Dorier  I,  263 f.  Gkuppe,  Rel.  u.  Mythol.  I, 
369,  4  u.  II,  1257,  4.  Ckusius  im  Art.  Hyperboreer  des  Lex.  d.  Mythol. 
I,  2806 ff.  2822  f.  M.  Mayer  ebenda  2838,  i6tf.  Der  Dreifuß  auf  den 
Münzen  von  Kroton  (Hkad,  Hist.  Num.  84)  ist  natürlich  der  delphische; 
vgl.  dazu  Lobeck,  Aglaoph.  386  p.  —  Über  das  von  Metapont  nach 
Delphi  geweihte  xQ'^dovv  &sQog,  das  auch  oft  auf  Münzen  erscheint,  8. 
Strab.  264:  ovg  [die  Metapontiner]  ovrcog  ccTth  yscogyiag  svtvxiioai  cpaciv 
&OTB  d'SQog  ^Qvaovv  iv  ^slcpotg  ccvad'stvai.  Als  Gründer  {olKiGrrjg) 
von  Metapont  galt  davXiog  6  Kgißrig  xvQuvvog  r^g  tibqI  d tXcpovg,  mg 
(fr\6iv  "EcpoQog  (Strab.  265).  Auch  gab  es  in  Kroton  ein  TIvO-aLOv,  in 
dem  Pythagoras  vor  den  naldsg  gepredigt  haben  soll  (Timaios  b. 
lambL  a.a.O.  50  u.  bei  Athen.  522'':  TJi-qoi-aiiv  ixmv  6zoXi]v  TCSQitQX^rat 
[6  z/7}uo-/.?]dr]e]  rcttg  ^ßdouccig  [d.  h.  an  den  apollinischen  Festtagen] 
tovg  ßcofiovg  (ib:u  tot)  TCQvrdvscog.    Vgl.  dazu  Abh.  II  S.  24  Anm.  31. 

50  a)  Wer  etwa  gegen  obige  Annahmen  geltend  machen  will,  daß 
die  Annahme  eines  Erdnabels  mit  der  pythagoreischen  Lehre  von  der 
Kucelgestalt  der  Erde  in  schroffem  Widerspruch  stehe,  der  sei  auf 
meine  Darlegungen  im  Omphalos  S.  4iff.  verwiesen,  wo  ich  ausgefühi-t 
habe,   daß   der  Ausgleich  der  beiden  entgegengesetzten  Anschauungen 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  29 

Der  Anstoß,  den  man  etwa  an  dem  Umstände  nehmen 
könnte,  daß  ja  nach  pythagoreischer  Theorie  die  Erde  eine 
Kugel  und  keine  Scheibe  mit  einem  Zentrum  in  der  Mitte 
war,  läßt  sich  leicht  durch  zwei  Erwägungen  beseitigen.  •''") 
Erstens  durch  den  Hinweis  darauf,  daß  noch  heute  alle  o-eo- 
graphischen  Karten  (im  Gegensatze  zu  den  Globen)  die  Erd- 
oberfläche nur  als  Fläche  (nicht  als  Ausschnitt  eines  Kuo-el- 
mautels)  darstellen  können  und  infolgedessen  auch  ein  Zen- 
trum aufweisen  müssen,  und  zweitens,  daß  schon  im  klassischen 
Altertum  nach  dem  Entstehen  der  Lehre  von  der  Erdku»'-el 
um  einen  Ausgleich  mit  der  Theorie  von  der  Erdscheibe  und 
deren  Omphalos  zu  erzielen,  die  Annahme  einer  Erdachse 
(a'lcov,  JioXog)  aufgekommen  ist,  als  deren  Endpunkt  gewisser- 
maßen der  d^ffulbg  yyjg  gelten  konnte.  Mit  ziemlicher  Wahr- 
scheinlichkeit dürfen  wir  die  Pythagoreer  als  die  eigentlichen 
Urheber  dieser  Theorie  bezeichnen  (vgl.  z.  B.  den  Tythagoreer' 
Hiketas  b.  Diels,  Vorsokr.  I  S.  265,  20 ff.,  und  mehr  b.  Röscher, 
Omphalos  S.  40  ff.  u.  Anm.  79).    Vgl.  unt.  Anh.  IV. 


einfach  durch  die  Annahme  eines  ^sao^cpaXog  ä^wv  (=  nolog,  axis), 
d.  i.  einer  Erdachse,  bewirkt  wurde,  die  durch  den  6^q)cdbg  y-ijs  hin- 
durchging. Wahrscheinlich  hat  schon  vor  Pythagoras  unser  Hebdoma- 
diker  dieser  Theorie  gehuldigt,  insofern  er  als  ältester  Vertreter  der 
Erdkugellehre  niemals  von  einem  'Erdnabel',  sondern  nur  von  einem 
'Zwerchfell  der  Welt'  gesprochen  hat. 

50)  Ob  schon  Pythagoras  selbst  die  Kugelform  der  Erde  gelehrt 
hat,  ist  neuerdings  bezweifelt  worden  von  A.  Döring  in  seinem  Aufsatz 
„Wandlungen  in  der  pythagor.  Lehre"  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  V 
(1891)  S.  510  ff.  D.  hält  es  für  möglich  und  wahrscheinlich,  daß  Pytha- 
goras in  diesem  Punkte  wie  auch  in  andern  noch  von  Anaximenes  ab- 
hängig gewesen  ist.  Vielleicht  erhält  das  in  Rede  stehende  Problem 
eine  andere  Gestalt,  sobald  man  darin  mir  beistimmt,  daß  unser  Hebdo- 
madiker  noch  älter  als  Pythagoras  und  Anaximenes  ist. 


30  Willi.  Tl.  Rosciirr;  [7',S 

II.  Ai'itliinotisclies. 

a)    Dio    primitive    (einsoitigo)  Hobdomadonlchro   der  Schrift 
von  der  Siobonzahl;  Hubdomadeu  älter  als  Dokndon. 

Nichts  hat  der  richti^fon  lU'urteiluiij;-  der  kSchril't  von  der 
Siebeiizahl  und  ihres  Verhältiiigses  zur  Zahh'nlelire  des  'Pytha- 
goras*  sowie  dem  gründlichen  Verständnis  der  letzteren  mehr 
geschadet  als  die  vorgefaßte  Meinung,  daß  die  i'ythagoreer 
im  Grunde  die  ersten  Vertreter  einer  Zahlen-  und  besonders 
einer  Hebdoniadenlehre  und  darum  alle  sonstigen  Hel)doma- 
diker  jünger  und  von  Pythagoras  und  seiner  Schule  abhängig 
gewesen  seien.  Wie  irrig  dieser  in  früherer  Zeit  namentlich 
von  Ermkuins  und  neuerdings  von  Pfeiffer  vertretene  Stand- 
punkt ist,  kann  verhältnismäßig  leicht  dargetau  werden.  Be- 
reits in  meinen  auf  die  Sieben-,  Neun-,  Vierzig-  und  Funl'zig- 
zahl  bezüglichen  umfassenden  Untersuchungen  habe  ich,  wie 
ich  meine,  für  jeden  Unbefangenen  den  zwingenden  Beweis 
geliefert,  daß  die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  nicht  den  An- 
fang, sondern  vielmehr  das  Ende  und  den  Abschluß  einer 
sehr  langen,  bis  in  die  prähistorische  Zeit  zurückreichenden 
Entwicklungsreihe  bedeutet,  und  daß  demnach  Übereinstim- 
mung mit  ihr  in  einzelnen  Punkten  durchaus  keine  Abhängig- 
keit vom  Pythagoreismus  zu  beweisen  braucht.  ^^)  Besonders 
im  griechischen  Kultus  und  Mythus  ist  die  Bedeutung  der 
Siebenzahl  von  jeher  so  energisch  und  vielfach  betont  worden, 
daß  es  nur  eines  kleinen  Schrittes  bedurfte,  um  daraus  eine 
vollständige  Hebdomadentheorie  zu  entwickeln.  Bereits  auf 
dieser  Stufe  treffen  wir  die  hebdomadischen  Tages-,  Monats-, 
Jahres-  und  Geschlechterfristen  (yevsaC),  wenigstens  in  der 
Praxis  des  Kultus,  sowie  im  Mythus,  vollkommen  entwickelt 
an  und  können  zugleich  beobachten,  wie  die  Zahl  der  heiligen 
Fristen  weiterhin  auch  auf  viele  andere  Bestimmungen  über- 
tragen und  60  schließlich  zu  einer  typischen  Zahl  geworden 


51)  Vgl.  RoscHEB,   Die  SieLen-  u.  Neunzahl  im  Kultus  u.  Mythos 
d.  Griechen  S.  74. 


i 


yi,  sJ      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebbnzahl.  31 

ist.  In  dieser  Hinsicht  bietet  uns  vor  alleni  der  Kultus  und 
Mythus  des  Apollon  zahlreiche  und  deutliche  Belege  dar,  in- 
sofern hier  außer  den  hebdomadischen  Fristen  anch  sieben- 
fache Tier-  und  Kucheuopfer,  siebenblättrige  Lorbeerzweio-e, 
ja  sogar  siebenblättrige  Kohlpflanzen,  Reinigungen  in  sieben 
Quellen  (Flüssen,  Wellen),  siebenteilige  Chöre,  Lieder,  Sprüche, 
Kampfspiele,  siebenstufige  Tempel  usw.  vorkommen.  Diese  an 
sich  schon  hervorragende  Bedeutung  der  Siebenzahl  muß  sich 
aber  in  unseren  Augen  noch  ganz  bedeutend  steigern,  wenn 
wir  erwägen,  wie  fragmentarisch  und  lückenhaft  im  Grunde 
das  von  uns  zur  Untersuchung  herangezogene  Material  ist, 
oder  mit  anderen  Worten,  wie  viele  weitere  Belege  für  die 
einstige  Verwendung  der  uralten  heiligen  7  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte und  Jahrtausende  auf  den  Gebieten  der  Literatur, 
der  Inschriften,  der  bildenden  Kunst  uns  unwiederbringlich 
verloren  gegangen  sind.  ^^) 

Von  ganz  besonderer  Bedeutung  für  uns  ist  aber  die  Tat- 
sache, daß  in  den  Kulten  und  Mythen  keiner  Gottheit  die 
hebdomadischen  Fristen  und  sonstigen  Bestimmungen  eine 
größere  Rolle  gespielt  haben  als  in  denen  des  Apollon  und 
Dionysos,  die  bekanntlich  von  Delphi  aus  auf  Lehre  und 
Satzungen  der  Orphiker  wie  der  Pjthagoreer  den  bestimmend- 
sten Einfluß  ausgeübt  haben, ^^) 

Hierzu  kommt  noch  der  sehr  gewichtige  Umstand,  daß 
bereits  um  600  vor  Chr.,  also  jedenfalls  vor  Pythagoras  und 
wahrscheinlich  zu  derselben  Zeit,  als  die  Orphik  in  Hellas 
entstand  und  sich  ausbreitete,  kein  geringerer  als  So  Ion  in 
einer  berühmten  Elegie  die  offenbar  volkstümliche  Anschau- 
ung vertrat,  daß  das  ganze  normale  Leben  des  Mannes  von 
70  Jahren  in  10  Jahrhebdomaden  zerfalle,  die  eine  ununter- 
brochen   fortlaufende    Stufenfolge    (xXtaa^)    darstellen,    deren 

52)  Röscher,  D.  Hebdomadenlehren  S.  7. 

53)  Röscher  a.  a.  0.  S.  18  tf.  u.  2^S.  Was  die  Frage  betrifft,  ob 
die  orphische  Zablenspekulation  und  -mystik  die  Lehre  <ler  Pythagoreer 
beeinflußt  habe  oder  umgekehrt,  so  verweise  ich  auf  Hebdomadenlehren 
S.  19  A.  19. 


^2  Wii,ii  TT.  l\(»scnKu:  [71,5 

(iriMizpunkto  als  kritisch  oilcr  klimakterisch  bezeichnet  werden 
können,  insofern  rejfclniäliig  im  siel)enten  oiler  mich  voll- 
endetem siebenten  Jahre  eine  neue  Stufe  der  Eutwicklunj^ 
bej^iniil  und  somit  eine  xqi'Oi^  oder  jHfT«/ioA?),  d.  h.  eine  Ver- 
ämlerunjif  des  bisherigen  Zustandes,  statttindet.  Die  «xju»/  tritt 
in  der  4.  und  7.  Hebdounide  ein.  Die  Iveihe  der  solonischen 
Stufenj:dii-e  lautet  also   in  arabischen   Zahlen  ansj^edrückt: 

UX^lj  I  «Xjiu)  2=11   ^"^V 

7         14        2  1         28        35        .\2  4(j  56        63        70.'"') 

Scheu  längst  habe  ich  als  höchst  wahrscheinlich  hingestellt, 
daß  bei  den  innigen  Beziehungen  Athens  zu  Delos  und  dem 
dortigen  Apollonkult,  in  dem  nach  dem  ausdrücklichen  Zeug- 
nis des  Aristoteles  vor  alters  die  Rechnung  nach  Hcpteteriden 
üblich  waj-,  die  solonischen,  in  Athen  otfenhar  volkstümlichen 
e:rT£ry]Qi'Ö£g  mit  denen  des  delischen  Apollonkultes  eng  zu- 
sammenhängen. 

Gehen  wir  jetzt  auf  die  Einzelheiten  der  Hebdomaden- 
lehre  unseres  altionischen  Kosmologen  genauer  ein,  so  haben 
wir  natürlich  in  erster  Linie  die  von  ihm  angenommenen 
bebdomadischen  Fristen  zu  besprechen,  die,  wie  auch 
sonst  ganz  allgemein,  die  eigentliche  Grundlage  für  alle  wei- 
teren  bebdomadischen  Bestimmungen  bilden. 

In  Kap.  V  werden  uns  in  unmittelbarem  Anschluß  an 
die  sieben  d)Qai  die  sieben  Lebensalter  des  normalen  Men- 
schen mit  folgenden  Worten  vorgeführt:  Ovrco^^)  de  aal  an 
ävd-QG}Zov  (pvöiog  iTCtä  coQaC  eiöLv,  ag  rjXtxCug  xaXto^sv  nai- 
dCov,  Ttalg,  ^biqocxlov^  vsi]vi6xog^  avriQ,  TtQSößvxT^g^  ysQav.  Kai 
jcaudcov  fisv  iaxiv  axQig  STträ  träv,  böövrcov  exßolfjg-  Jtalg 
d'  uxQL  yovfjg  ixcpvöeag^  ig  tä  dlg  STtTcc'  ^stQaxiov  ö'  axQi 
yevsCov  Xaxvaöeag^  ig  rä  r()ig  aTfra'  vEi]VLaxog  ö'  äxQig  av^ij- 


54)  Röscher  a.  a.  0.  S.  16.  Über  eine  ähnliche  Hebdomadenlehre 
der  Etrusker  habe  ich  a.  a.  0.  S.  17  A.  14  gehandelt.  S.  auch  Tiiulin, 
Die  etrusk.  Disciplin  III  S.  61  f. 

55)  Unmittelbar  voraus  geht  der  Abschnitt  von  den  7  wpat, 
d.  h.  Jahreszeiten. 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl. 


33 


ßiog  öXov  rov  öco^atog^  ig  xä  retQaxig  sTttd'  avriQ  d'  äiQig 
svbg  öäovtog  7tevxi'iy,ovta^  eg  xä  mxdxig  Sjtxä'  jtQeßßvxrjg  ö' 
äxQt'    nsvxiqyiovxa    i|,    sg    xä    aTcxamg   öxxa'    xb    d'    ivxsv&av 

In  welchen  Punkten  die  soloniscten  und  die  'hippokra- 
tischen'  rjliotCccL  übereinstimmen  und  in  welchen  sie  von  ein- 
ander abweichen^  zeigt  folgende  Tabelle^''): 


Sc 

Ion 

%.  Eßdo(i,ädog 

lebd. 

Jahre 

Kenn- 
zeichen 

Hebd. 

Jahre 

Kenn- 
zeichen 

I  ncüg  avTjß 

1—7 

686vr. 

I 

■naiSlov 

1—7 

OSÖVT. 

iußoX'^ 

iyißoXri 

II            ? 

7—14 

II 

■naZg  ^') 

7—14 

yovfig 
^■Kq)vGtg 

III  {^cprißog 

?) 

14—21 

yivsiov 
XaivovTut, 

III 

(u-sipaHtoi'®' 

)i4— 21 

ysvsiov 
Xäj^vaGig 

IV  (&vriQ?) 

21—28 

tog  ia^vv 

IV 

VErfvioKog 

21—28 

ccv^ccv.  oX. 

V  ccviqQ 

28—35 

yä(iov 
(isuv.  Eivat 

V 

avT^Q 

28-35 

VI  - 

35—42 

KaraQXv- 
Exai  vöog 

VI 

"^ 

35—42 

vn  — 

42—49 

VOVV    X. 

VII 

— 

42—49 

yX&66.  &Qi6rog 

7III  — 

49—56 



vni 

TtQB6ßvTr]g 

49—56 

IX    ? 

56 — 63  naXaKmrs- 
90g 

IX 
X 

yegav 

56-? 

X   {yegcav) 

63—70 

reif  zum 
Tode 

Man  erkennt  auf  den  ersten  Blick,  wie  nahe  die  beiden  Heb- 
domadentheorien  miteinander  verwandt  sind,  und  wie  alt 
infolgedessen  die  Lehre  von  den  rjXtxCai  in  der  Schrift  tc.  aß- 
dofiddcov  sein   muß,   da    wir   sie  schon  um  das  Jahr  600  bei 


56)  Vgl.  auch  Poll.  on.  2,  4  und  Philo  de  roundi  opif.  36. 

57)  Eine  nahe  verwandte  ebenfalls  hebdomadische  Einteilung  des 
Lebens  findet  sich  in  «.  GaQx.  13;  doch  werden  hier  der  zweiten  und 
dritten  Hebdomade  andere  Benennungen  beigelegt,  nämlich  inldriXos 
für  Ttalg  und  vsr\viGy.og  für  ^eiqÜ-kiov  ^  vgl.  meine  Ausgabe  von 
TT.  kßd.  S.  86. 

Phü.-hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  5.  3 


34  Wii.ii.  H.  RoscuKu:  [71.5 

Solon  vollkonimen  eiitwickcU  vorfinden.  Wsilirsclioinlich  ist 
sie  aber  noch  sehr  vi«'l  illtor  als  Solon  und  beruht  iiuf  ur- 
alten Ansolmuuui^'cn  des  jjriecbischeti  \'oIk(>s,  die  z.  T.  nach- 
weislich mit  solchen  anderer  Völker,  /,.  H.  der  Semiten, 
Perser,  Ktrusker  usw.,  übereinstimmen.''")  Zu<jjleich  weise  ich 
schon  liier  darauf  hin,  daß  die  i)kixiat  des  l'ythagoras  und 
seiner  Schule  (4  zu  je  20  Jahren)  ebenso  wie  die  von  ihnen 
angenommene  Vi  er  zahl  der  ojqki  sowohl  von  Solon  als  auch 
von  unserem  Hebdonuidiker  außerordentlich  stark  abweichen, 
was  natürlich  wiederum  auf  völlige  Unabhängigkeit  des  Kos- 
mologen vom  Pythagoreismus  und  auf  das  höhere  Alter  des 
ersteren  hindeutet. 

Mit  seiner  Lehre  von  den  klimakterischen  Jahren 
hängt  aber  wiederum  die  Theorie  unseres  Hebdomadikers  von 
den  kritischen  Tagen  und  Monaten  in  Krankheiten  aufs 
innigste  zusammen,  und  daß  auch  diese  uralt  und  volkstüm- 
lich sind,  d.  h.  aus  uralter  Volksmedizin  stammen  müssen, 
ersieht  man  am  besten  aus  der  gewichtigen  Tatsache,  daß 
von  sämtlichen  im  Corpus  Hippocrateum  vorkommenden  der- 
artigen Fristen  die  hebdomadischen  die  bei  weitem  größte 
Rolle  spielen,  was  sich  höchstwahrscheinlich  aus  dem  uralten 
und  verbreiteten  Aberglauben  von  dem  Einfluß  des  Mondes 
und  seiner  siebentägigen  Phasen  auf  sämtliche  organische 
Wesen  erklärt.^^)  Die  Reihen  der  im  26.  Kapitel  von  n.  ißd. 
angegebenen  kritischen  Tage  und  Monate  stimmen  also  im 
wesentlichen  mit  der  Folge  der  hebdomadischen  Lebensjahre 
überein: 


kritische  Tage:    7   g^)   11^")   14   21    28  35   42   4g  56  63 
—       Monate:    5^°)  7  9^°J  <ii>   14 


58)  Vgl.  außer  Hebdomadenlehren  S.  17  auch  Spiegel,  Eran.  Alter- 
tumskunde 3,  599.  Plat.  Ale.  I  p.  121  E  usw.,  mehr  in  meinen  Ennead. 
u.  hebdom.  Fristen  S.  33f.  Anm.   114. 

59)  Weitere  Gründe  für  das  hohe  Alter  der  hebdomadischen 
Tj^iBQca   KgiGi(iot,  s.  in  meinen  Hebdomadenlehren  S.  59  u.  67. 

60)  Bereits  in  den  'Hebdomadenlehren'  S.  63  Anm.  102 f.  habe 
ich  die  Frage  aufgeworfen,  ob  hier  die  5,  9  und  11,  die  bis  zu  einem 


i 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         35 

Ebenso  steht  unser  Kosmologe  auch  hinsichtlich  der 
Lehre  von  der  Entwickelung  der  Embryonen  auf  dem  Stand- 
punkte, daß  dafür  ebenfalls  die  hebdomadischen  Tages-  und 
und  Monatsfristen  maßgebend  seien.  Denn  in  Kap.  I  heißt  es 
in  der  lateinischen  Übersetzung: 

■^Septem  dierum  coagulationem  seminis  humani 
et  forraationem  naturae  hominis.'^^) 

Was  das  zu  bedeuten  hat,  ersehen  wir  am  besten  aus 
folgendem  Satze  aus  der  hinsichtlich  der  Hebdomadcnlehre 
fast  auf  dem  gleichen  Standpunkte  stehenden  hippokratischen 
Schrift  ;r.  öagxäv:  'O  ob  alcbv  s6tt  xov  avQ'Qarcov  STtta- 
'^asQog.  IlQäxov  ^av  e7ti]v  sg  rag  ur]rQag  ik&r]  ö  yovog^  iv 
iiixä  YjusQrjöLv  siei  6xÖ6a  tisq  egxlv  sxsiv  xov  6(bfiaxog. 
Nun  folgt  ein  Bericht  über  die  Erfahrungen,  welche  die 
öffentlichen  Buhldirnen  machen.  Wenn  diese  nämlich  am 
siebenten  Tage  nach  der  Empfängnis  die  Frucht  abtreiben, 
so  erkennt  man,  daß  schon  an  diesem  Tage  der  Embryo 
völlig  formiert  und  Fleisch  (odgl)  geworden  ist.^^)  Dann 
heißt  es  weiter:  "Egxv  5s  ■koi  xojds  xanurJQaßd^at  '  xb  iiaidCov 
iTtxdfirjvog  yövog  ysvoiievov  loya  ysyivqxai  xat  lif]  xal  X6- 
yov  SIEL  xoLovxov  ■Kai  äoiQ-^bv  ävQSxsa  sg  xäg  ißdo^ädag 
[d.  h.  30  Hebdomaden],  öxxd^rjvov  ös  ysvo^svov  ovdhv  ßiol 
TCcoTioxe,  ivvia  6e  ^r]vöji'  xal  dexa  ijaegicov  yovog  yCyvsxai 
xal  t,fj  xal  SIEL   xov   ccQtd'iibv    ar qexecc  eg  xäg  e ßöo fidd ag  ' 


gewissen  Grade  die  sonst  rein  hebdomadisch  verlaufende  Reihe 
stören,  nicht  auf  späterer  Interpolation  beruhen.  Vgl.  a.  a.  0.  S.  62 
Anm.  100  und  die  ebenfalls  rein  hebdomadisch  angelegte  Reihe 
bei  Diokles  von  Karystos,  der  in  diesem  Falle  wohl  uralter  Tradition 
folgt  (s.  Wellmann,  Fragm.  d.  griech.  Ärzte  I  S.  41,  Frgm.  109  S.  161). 

61)  Vgl.  auch  Ps.- Galen  in  seinem  arabischen  Kommentar  zu 
7t.  sßS.  Kap.  I  nach  Bergsträsser  S.  7:  'manche  der  Teile  der  Welt 
.  .  .  sind  der  Hebdomaden periode  unterworfen,  wie  das  Sperma 
und  der  Foetus'  usw. 

62)  Dieselbe  physiologisch  unbegründete,  aber  gerade  deshalb  für 
archaisch  zu  haltende  Tbeorie  findet  sich  in  Kap.  13  der  Schrift  n. 
(pva.  TtaiSiov  =  Littre  VIT  p.  488 f.  Vgl.  darüber  meine  Ausgabe  von 
n.  tßS.  S.  81   Anm.  133. 

3* 


36  Wii.ii.  U.  Kosciir.u:  [7ii5 

teööaQf'^  dexttöeg  tßdouäöcov  ^fitgat  eiOi  ÖL7jx6öiat  öydoi'jxovTcc 
'  is  Ö£  T))i'  dexäöa  töi'  tßdouciöcjv  eßd o^iijxovTcc  ij^i()aL 
[10x7  =  70;  70x4  =  280].  "Kxfi  Öh  xcci  t6  ijiräfi^vov 
yivö^usvov  rgetg  öexaöai;  tßÖo^ädcoVy  ig  öh  ti^v  öfxäda  ixdiSTyiv 
fßdo^yjxoi'Tcc  iifiegai,  Tp^Tj,"  öexäÖeg  öh  ißdoficidcjv  ai 
öv^iJiKöai  ösxcc  xcd  diyjxööicci  [30x7  =  210;  3x70=210]. 
Sobald  man  dieso  und  noch  weitere  Briiclistücko  einer 
alten  nahe  verwandten  Theorie  von  der  Entwickelun<r  der 
Embryoneu  im  Mutterleibe  nach  hebdomadischen  oder  tessa- 
rakoutadischen  Fristen  ^^)  mit  dem  oben  mitgeteilten  kümmer- 
lichen Sätzfhen  aus  K^p.  i  der  Schrift  von  der  Siebenzahl 
vergleicht,  erkennt  man  von  neuem  die  schon  früher  von 
uns  festgestellte  Lückenhaftigkeit  der  jetzt  vorliegenden 
Überlieferung;  denn  es  fehlt  ja  trotz  dieser  klaren  Andeutung 
der  Vorrede  jede  weitere  vom  Leser  erwartete  und  geforderte 
Ausführung  im  Gegensatze  zu  der  ebenso  in  Kap.  i  kurz  an- 
gedeuteten, aber  erst  später  ausführlicher  behandelten  Lehre 
von  den  kritischen  Tagen.  Es  heißt  nämlich  in  unmittel- 
barem Anschluß  an  die  obigen  Worte:  'septem  die r um 
coagulationem  seminis  humani  et  formationem  naturae  ho- 
minis' weiter:  "^et  determinatiouem  egritudinum  et  quaecun- 
que    deputriunt    in    corpore' ;^^)    die    eingehende    Ausführung 

63)  Vgl.  namentlich  die  (archaischen)  Theorien  des  Feripatetikers 
Straten  und  des  Diokles  von  Karystos  bei  Nikomachos  v.  Gerasa  in 
den  Theologumena  arithm.  ed.  Ast  p.  46  f.  und  bei  Macrobius  in  Somn. 
Scip.  I,  6,  65ff. ,  die  beide  wahrscheinlich  aus  dem  Kommentar  des 
Poseidonios  zu  Piatons  Timaios  geschöpft  haben  (s.  meine  Ausgabe 
von  Tt.  ^ßS    S.  92 tf.  und  Hebdomadenlehren  S.  ggf.)- 

64)  Vgl.  dazu  TT.  caQx.  19:  JrjXov  6s  xal  tw^e,  ort  inrijiiSQog  6 
alwv  sl'  Tig  id'ilsi  hmu  rj(iSQCig  (payisiv  rj  nihiv  (irjölv,  oi  (ihv  noXlol 
anod'v'^G'iiovo IV  iv  ctvtfjGLv  •  slcl  öi  rivsg  y.ai  ol  vjisgßciXXovaiv,  ano- 
&vri6v.ov6i  S'  ofimg  '  siel  ds  rivig  ol  xat  imio&ricciv ,  ojars  firj  Scno- 
xaQrEQ7]eai,  dclXa  (fuyitiv  rs  xai  misiv  '  aXX'  t]  -KoiXirj  owiri  Kccrcc- 
ÖExttixi  •  ij  yccQ  vf]6tig  avvscpvr]  iv  TavzTfici.  fjjaiv  ijfi^Qrjßiv  '  aXXa  &vrj- 
ffxouCi  xai  ovTOL.  —  lt.  §7ttci(i.  9  =  p.  446  L. :  ai  ^hv  ovv  ijfiiQca 
imorniöxaTuL  slaiv  iv  roici  nXficzoiCLV  ai'  rs  itgwTai  y.al  si  sßöoficci, 
TtoXXal  fihv  jtepi  vovGmv,  itoXXul  Sl  xcci  rotOLV  i^ißgvoiOLV  '  rgciOfioi  rs 
yccQ    yivovtai    v.al    oi   nXtiotoi   tavTrjGi   rfjCiv    ijiiSQrjOiv  '   övoiid^STaL  öh 


71,5]        DdE   HIPPOKRATISCHE   SCHRIFT  VON   DER   SlEBENZAHL.  37 

dieser  kurzen  Andeutung  folgt  aber  erst  in  Kap.  26  der 
gegenwärtigen  Überlieferung  (s.  S.  45  meiner  Ausgabe  von 
7t.  ißd.). 

Auch  die  sicher  uralte  und  von  jeher  volkstümliche  An- 
sicht von  der  Lebensfähigkeit  der  sxxd^yivoi,  die  in  den  so- 
eben aus  %.  öKQX&v  mitgeteilten  Sätzen  einen  wissenschaft- 
lichen Ausdruck  gefunden  hat  (vgl.  auch  die  hippokratischen 
Traktate  tt.  smainqvav  und  öxra^TJvcDv  sowie  Diokles  v.  Kary- 
stos  und  Straton  ob.  Anm.  60),  wird  jetzt  in  dem  Buche 
%.  sßd.,  in  das  sie  unbedingt  hineingehörte,  schwer  vermißt. 
Ihr  hohes  Alter  erhellt  schon  aus  den  Mythen  von  Apollon 
und  Dionysos,  die  beide  als  Siebenmonatskinder  zur  Welt 
gekommen  sein  sollten  (Röscher,  D.  7-  und  9 -Zahl  im 
Kultus  u.  Mythus  d.  Griechen  S.  6  Anm.  12  u.  S.  23  Anm.  54).®^) 

Die  somit  nachgewiesenen  Lücken  in  der  gegen- 
wärtigen direkten  Überlieferung  von  tc.  eßd.  müssen 
demnach  aus  tc.  ßaQX&v,  tc.  STCta^'^vcov,  Diokles  v. 
Karystos  nsw.  ergänzt  werden  (s.  meine  Ausgabe  von 
TC.  eßd.  S.  81  ff.). 

Hinsichtlich  der  übrigen  im  Buche  von  der  Siebenzahl 
besprochenen  Hebdomaden  kann  ich  mich  kürzer  fassen,  da 
mehrere  von.  ihnen  später  noch  eine  besondere  Behandlung 
erfahren  werden.    Es  sind  kurz  folgende: 

Kap.  I  §  2:  Die  7  Sphären  des  Alls:  i)  der  ccxQrirog 
(Hss.  äxQLXog)  xö(j{iog,  £i,odov  s%cov  d-agsog  not  %si^Givog.  — 
2)  Die  Sphäre  der  Gestirne  {aöTQo).  —  3)  Die  Sphäre  der 
Sonne.  —  4)  Die  des  Mondes.  —  5)  Die  der  Luft.  —  6)  Die 
des  Wassers.  —  7)  Die  der  Erde. 

Kap.  2:  Die  sieben  auffallenderweise  zu  vier  Paaren  an- 


xci  xr\Xiv.uvxa.  ixQvcsig,  aXX'  ov  tQco6[iol.  Aach  diese  Sätze  müssen,  denke 
ich,  in  der  ursprünglichen  Überlieferung  von  7t.  tßS.  gestanden  haben, 
da  sie  in  der  Einleitung  nur  ganz  summarisch  angedeutet  worden  sind. 
65)  Ich  erinnere  hier  zugleich  an  die  denkwürdigen  Worte  der 
Mutter  des  Damaratos,  Königs  von  Sparta,  zu  ihrem  Sohne:  rixTovai 
ywaiKsg  xal  ivvEd^T}vu  y.ul  k7Ctäiir}vu,  xaJ.  ov  n&Gai  diyicc  yifjvai 
ixTsXioaßai  •  iyw  ök  gL  m  nai,  tJträ^irivov  hfnov. 


jg  Wiui.  H.  Roscukk:  [yi.S 

geordneten  Gestirne,  welche  die  Ordnung  der  7  Jahn'szeiten 
liedingen,  sinil  Sonne  und  Mond,  Arklos  und  Aikturos, 
Pleiadou  und  llyadeu,  Orion  und  Seirios  (xi'-wr).  I):iü  in 
dieser  Reihe,  diiniit  die  notwendig  geforderte  Siel)en/ahl 
herauskommt,  genau  genommen  der  Mond  v.n  streichen  ist, 
weil  i'v  nur  die  Monate  und  deren  Teile  (Wochen),  nicht 
die  Jahreszeiten   bedingt,  wird  später  gezeigt  werden. 

Kap.  3:  Die  7  Winde  und  7  Teile  der  Windrose,  die 
auoh  sonst,  z.  B.  bei  den  Babyloniern,  Kelten,  Russen,  Juden 
(Deuteronomium  28,  7.  Apokal.  i,  4-  3,  i-  4,  5-  5,  (^  ""^  <lazu 
BOLL,  Zroix^ta  i,  22),  sowie  den  Turkstlimmen  Südsibiriens 
(Radlofb^,  Proben  IV  S.  314)  vorkonimen.^*^) 

Kap.  4:  Die  7  Jahreszeiten  (ugat),  die,  wie  es  scheint, 
auch  noch  von  anderen  griechischen  Schriftstellern  ange- 
nommen worden  sind"),  während  die  Pythagoreer  bekannt- 
lich nur  4  Jahreszeiten  angenommen  haben. 

Kap.  6:  Die  7  Bestandteile  des  Mikro-  und  des 
Makrokosmos,  wozu  Parallelen  aus  der  Adamsage  und  aus 
der  indischen  Literatur  angefühi-t  werden  können.^^) 

Kap.  7:  Die  7  Teile  des  menschlichen  Körpers:  Kopf, 
Hände,  innere  Eingeweide  und  Zwerchfell,  Urinorgan,  Samen- 
ortTtin.  Mastdarm  und  Schenkel,  wozu  es  Parallelen  aus  der 
griechischen  und  jüdischen  Literatur  gibt.^^) 

Kap.  8:  Die  7  Funktionen  des  Kopfes;  vgl.  Roscher 
a.  a.  0.  S.  100 f.,  wo  auch  Analogien  aus  China,  Persien,  Ju- 
däa  usw.  angeführt  sind  und  wahrscheinlich  gemacht  wird, 
daß  auch  hier  eine  uralte  und  weitverbreitete  volkstümliche 
Anschauung  zugrunde  liegt. 

Kap.  9:  Die  7   Vokale.    Die  Entstehung  dieser  Theorie 


66)  RoscHEE,  über  Alter  usw.  der  Schrift  von  d.  Siebenzahl  S.  80 
Anm.  158.  Man  denke  auch  an  die  Vorstellung  vom  knräiivxov  aniog 
des  Boreas,  als  des  Königs  der  Winde. 

67)  Koscher  a.  a.  0.  S.  84  Anm.  166. 

68)  Koscher  a.  a.  0.  S.  92  Anm.  185;  s.  ob.  S.  10  Anm.  19. 

69)  Koscher  a.  a.  0.  S.  99.  Wünsche,  Aus  Israels  Lehrhallen  V, 
2  S.  96  f. 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  39 

muß  spätestens  in  die  Zeit  zwischen  Oiymp.  40  =  620  v.  Chr. 
(wo  noch  Sl  fehlt  und  durch  O  ersetzt  wird)  und  Olymp. 
56  =  556  V.  Chr.  (wo  H  statt  E  zum  erstenmal  erscheint) 
fallen  (vgl.  Kirchhoff,  Stud.  z.  Gesch.  d.  griech.  Alphab.  ^ 
S.  40  f.  Taf.  I  Kol.  X).^») 

Kap.  10:  Die  7  Elemente  der  Seele,  d.  i.  der  Lebens- 
kraft. Eine  ähnliche  Beziehung  der  Seele  zur  Siebenzahl 
findet  sich  später  bekanntlich  bei  Piaton  und  den  Stoikern 
(RosCHER  a.  a.  0.  S.  106). 

Kap.  11:  Die  7   Teile  der  Erde  (s.  oben  S.  2 ff.). 

Wenn  ich  in  diesem  Zusammenhange  mehrfach  auf  heb- 
domadische  Parallelen  bei  anderen  Völkern,  z.  B.  den  Baby- 
loniern,  Juden,  Persern,  Indern,  Chinesen,  Kelten,  Russen  usw. 
aufmerksam  gemacht  habe,  so  habe  ich  es  nicht  etwa  getan, 
um  in  diesen  Fällen  einen  historisch-genetischen  Zusammen- 
hang nachzuweisen,  was  ich  meist  für  ganz  unmöglich  halte, 
sondern  nur  um  die  weite  Verbreitung  einer  fast  überall 
spontan  entstandenen  und  deshalb  für  hocharchaisch  zu 
haltenden  volkstümlichen  Anschauung  wahrscheinlich  zu 
machen.  Ganz  ähnlich  wie  mit  diesen  Hebdomaden  verhält 
es  sich  bekanntlich  auch  mit  dem  fast  über  den  ganzen 
orbis  terrarum  verbreiteten  Omphalosgedauken,  dessen  Ent- 
stehung sicher  nur  selten  auf  Übertragung  von  einem  Volke 
zum  andern,  sondern  fast  immer  auf  der  überall  vorhandenen 
und  überaus  einfachen  Vorstellung  von  einer  kreisrunden 
Erdscheibe  mit  dem  in  der  Mitte  darüber  schwebenden 
Zenit  beruht.  ^^) 


70)  Nach  Ehrlich  in  der  Berl.  Philol.  Wochenschr.  1913  Sp.  1620 
wurde  in  den  ionischen  Söldnerinschriften  von  Abu  Simbel  vor  650  v. 
Chr.  zwar  schon  E  und  H,  aber  noch  nicht  Sl  geschrieben,  'während 
in  Milet  selbst  und  seiner  Einflußsphäre  bereits  um  700  Sl  üblich  ist.' 
'Das  dorische  Rhodos  kennt  gleichfalls  das  ion.  Alphabet  seit  dem 
7.  Jahrh.' 

71)  Vgl.  meine  Schriften:  'Omphalos'  191 3,  'Neue  Omphalos- 
Btudien'  1915  und  'Der  Omphalosgedanke  bei  verschiedenen  Völkern, 
besonders  den  semitischen'   19 18. 


40  Wii.ii.  11.  Uoscukk:  [7'i5 

Übrigens  läßt  sich  für  die  Riehtij^keit  unserer  Belinup- 
tung,  (laß  iu  den  echt  archaisclieii  Tlieorien  der  Griechen 
ebenso  wie  iu  deren  Volksiinseliauun^n-n  die  II('l)(U)niaden 
durehwetjj  auf  einer  älteren  Ötul'e  steheu  als  die  Dekaden, 
ein  nahezu  niutliematisehe  Sieherheit  <^evvährender  Analo^ie- 
i)eweis  führen:  ich  meine  vor  allein  die  bekannte  Lehre  der 
älteren  griechisciien  Arztes  von  den  sogen,  kritischen 
Tagen.  In  meinen  'Hebdomadenlehreu  der  griechischen  Phi- 
losophen und  Arzte'  S.  56 f.  habe  ich  dargelegt,  daß  in  der 
ältesten  medizinischen  Wissenschaft  ein  offenbarer  Fortschritt 
eben  darin  besteht,  daß  die  ursprünglich  weniger  auf 
Erfahrung  {nelQo)  als  auf  Spekulation  (Xoyog)  be- 
ruhende Alleinherrschaft  der  Siebenzahl  allmählich 
durch  das  hauptsächlich  auf  genaueren  Beobachtungen  be- 
ruhende Aufkommen  anderer  Zahlen,  besonders  der  Dekaden, 
neben  ihr  einigermaßen  beschränkt  wird,  doch  sind  diese 
anderen  offenbar  größtenteils  aus  der  nsiQa  stammenden 
Zahlen  niemals  imstande  gewesen,  die  uralten  Hebdomaden 
völlig  zu  verdrängen.  Und  der  a.  a.  0.  S.  58  u.  59  (vgl.  auch 
die  S.  66  mitgeteilte,  die  kritischen  Tage  nach  Ansicht  der 
knidischen  Arzte  übersichtlich  darstellende  Tabelle  II)  ge- 
zogene Schluß  (S.  59)'^»)  lautet: 

„Sowohl  in  den  'knidischen'  als  auch  iu  den  für  echt 
hippokratisch  geltenden  Büchern  überwiegen  die  heb do ma- 
dischen Fristen  und  Bestimmungen  die  übrigen,  unter  denen 
an  Zahl  und  Bedeutung  die  dekadischen  hervorragen,  ganz 
bedeutend.  Das  läßt  darauf  schließen,  daß  ursprünglich  in 
der  alten  Medizin  die  hebdomadischen  Fristen  fast 
ausschließlich  dominierten  (man  denke  an  die  älteste 
der  'knidischen'  Schriften,  nämlich  das  Buch  x.  sßdopidd(ovl), 
im  Laufe  der  Zeit  aber  teils  infolge  der  Einführung  des 
dreißigtägigeu  in  3  Wochen  zu  je  10  Tagen  zerfallenden 
Monats   (s.   Abh.  I  S.    SK)"^^^),    teils    infolge    genauerer    Be- 

71a)  Vgl.  auch  S  67  u.  75  il.  sowie  meine  Ausgabe  von  n.  tßd.  S.  88  ff. 
71b)  Gemeint  ist  die  Abhandlung  über  die  enneadischeu  u.  heb- 
domadischen Fristen  u.  Wochen  der  ältesten  Griechen. 


I 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         41 

obachtung  dekadische  und  andere  Fristen  allmählich  auf- 
kamen und  die  früher  ausschließliche  Herrschaft  der  Sieben- 
zahl  beschränkten Aus   allen    diesen    Gründen   müssen 

wir  annehmen,  daß  der  Hebdomadentheorie  in  der  antiken 
Medizin,  die  wie  alle  Medizin  ursprünglich  Volksmedizin 
war,  ein  sehr  hohes  Alter  zukommt,  so  daß  es  selbst  dem 
Hippokrates  und  seiner  Schule  trotz  ihrer  im  Interesse  der 
reinen  Erfahrung  (Tialgci)  gemachten  Anstrengungen  nicht  ge- 
lungen ist,  sie  endgültig  zu  beseitigen.  Sogar  noch  in  der 
Zeit  nach  Hippokrates  haben  Diokles  von  Karystos  (s.  Fragm. 
d.  griech.  Arzte  ed.  Wellmann  I  p.  42  u.  fr.  109,  p.  161) 
und  die  Gewährsmänner  des  Macrobius  (in  Somn.  Scip.  I,  6, 
62 ff.,  s.  Abh.  I  S.  52 f)  versucht,  die  alte  Lehre  wieder  zu 
Ehren  zu  bringen;  und  wenn  man  in  dieser  Hinsicht  Galen 
Glauben  schenken  darf,  hat  sogar  Hippokrates  selbst  ihr 
wieder  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Rechnung  getragen." 

Auch  bei  Homer  sind  die  hebdomadischen  und  ennea- 
dischen  Fristen  viel  häufiger  und  älter  als  die  dekadischen, 
die  erst  bei  Hesiod  infolge  der  Einführung  des  30- (=3x10-) 
tägigen  Monats  die  Oberhand  erhalten  (Abh.  I  S.  8if.  u.  7of). 
—  Ferner  erinnere  ich  an  die  bekannte  von  mir  Abh.  I 
S.  49 f  behandelte  Reihe  der  apollinischen  Monatstage: 
I  7  14         20         30.^^"=) 

Diese  Reihe  beruht  offenbar  auf  einer  Vermischung  des 
hebdomadischen  und  des  dekadischen  Prinzips,   die  mit  einer 

71c)  Wie  ZiMHERN  (Zeitsclir.  d.  D.  Morgenl.  Ges.  58  [1904]  S.  201) 
nachweist,  gibt  es  dazu  eine  deutliche  Analogie  bei  den  Babyloniern. 
Hier  kommen  3  verschiedene  Reihen  von  Monatstagen  vor:  hebdoma- 
dische  (7.  14.  21.  28),  pentadische  (5.  10,  15.  20.  25.  30)  und  ge- 
mischte (7.  15.  19.  20.  25.  30);  letztere  sind  natürlich  jünger  als  die 
ersteren.  —  Man  denke  auch  an  die  ehrwürdige  Sitte,  den  neugeborenen 
Kindern  am  7.  Tage  nach  der  Geburt  (d.  h.  am  Ende  der  ersten 
Lebenswoche)  den  Namen  zu  geben.  Wenn  statt  des  7.  später  auch 
der  IG.  Tag  als  Tag  der  Amphidromien  genannt  wird,  so  hängt  das 
natürlich  wiederum  mit  der  Einführung  der  dekadischen  Woche  und 
des  30  tägigen  Monats  zusammen  (Ennead.  u.  hebd.  Fristen  S.  41  f. 
Anm.   136  u.   138). 


i 


42  Wii.n.  II.  KosciiKii:  [71,  5 

gewissen  Notweiidii^keit  »'intreten  n)ußte,  als  die  dekadische 
Moimteteilung  die  iUtt're  liehdoinadischc  im  hür^erliolien  Lclx'u 
verdrängt  hatte,  ohne  jedoch  imstande  zu  sein,  das  (hiich  den 
A|)()lh)kult  g»'heih'«^te  ältere  hel)domadisohe  Trin/ip  vJillig  zu 
beseitigen  (vgl.  den  Apollou  ißdö^itiog^  ißdoiiccyfvi'jg^  tßöo^ia- 
ysT-qc:,  die  Feier  der  'KßööufLa  in  Delos  und  Mih't  [Nilsson, 
üriech.  Feste  170!'],  sowie  den  Ap.  /tVxadiot; ''*''),  I\'to^njVU)<;). 
Wer  diese  ganz  unal)hängig  von  unserer  gegenwärtigen 
Untersuchung  gewonnenen  Tatsachen  in  Betracht  zieht,  wird 
kaum  daran  zweifeln,  daß  auch  in  der  Philosophie  der  Grie- 
chen ebenso  wie  in  deren  Medizin  die  Hebdornaden  durch- 
schnittlich älter  sind  als  die  Dekaden  und  die  übrigen  von 
den  Pythagoreern  verwerteten  Zahlen. 

b)  Die  vielseitige  (fortgeschrittene)  Zahlenlehre 
der  Pythagoreer. 

In  dem  vorstehenden  Abschnitt  (a)  ist  wohl  zur  Genüge 
gezeigt  worden,  wie  überaus  einseitig  und  beschränkt  der 
sozusagen  arithmetische  Standpunkt  des  hippokratischen  Kos- 
niologen  und  seiner  Nachfolger,  d,  h.  der  Verfasser  der 
Schriften  71.  öaQxäv  und  n.  eitiaaiqvav ,  sowie  des  Diokles 
von  Karystos^^),  gewesen  ist,  insofern  diese  einzig  und  allein 
von  allen  Zahlen  der  Sieben  eine  hervorragende  Bedeutung, 
und  zwar  eine  genau  genommen  alle  übrigen  Zahlen  aus- 
schließende, zuerkannt  haben,  eine  Tatsache,  die  allein  schon 


yid)  Vgl.  Et.  M.  s.  V.  EUädiog  p.  297,  57:  iv  rfi  eiKccdi  rov  fi?jv6? 

lopTTj    insxfXsiro    rä    'AnölXwvi iTtsiöi]    ovv    iv    zuvrrj    xf)    ioQTji 

iyivvi']9"ri,  XeytraL  EUdÖLog.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  der  Mythus 
von  der  Geburt  des  Gottes  am  20.  nur  von  lokaler  Bedeutung  und  viel 
jünger  sein  muß   als  die  Legende   von  seiner   Geburt  an  den  kßdö^-i]. 

72)  Wenigstens  nach  dem  großen  von  Macrobius  mitgeteilten 
Bruchstücke,  das  in  griechischer  Sprache  auch  Tbeol.  arithm.  ed.  Ast 
p.  46t.  erhalten  ist.  Nach  einem  andern  Fragmente  (Diels,  Vorsokr. 
p.  167,  36ff.  RoscHEK,  Ennead.  Stud.  8.  52f.)  freilich  vertrat  derselbe 
Diokles  in  einer  andern  Periode  seines  Lebens  auch  eine  enneadische 
Theorie,  vielleicht  im  Anschluß  an  Empedokles. 


71,  5j      Die  hippokratische  Schrift  von  dkr  Siebenzahl.  43 

auf  eine  höchst  primitive,  noch  wenig  entwickelte  wissen- 
schaftliche Stellung  der  Verfasser  schließen  läßt. 

Im  schroffsten  Gegensatze  dazu  steht  die  bedeutend  viel- 
seitigere und  weiter  fortgeschrittene  Zahlenspekulation  des 
Pythagoras  und  seiner  Schule,  die  zwar  auch,  z.  T.  in  Über- 
einstimmung mit  den  ihnen  nahe  stehenden  Orphikern,  der 
Siebenzalil  eine  hervorragende,  aber  durchaus  keine  ausschließ- 
liche Stellung  zuerkennen,  sondern  neben  ihr  auch  vielen 
anderen  Zahlen,  besonders  der  4  und  40,  der  9  und  ihren 
Vielfachen,  der  27,  go,  72g  (=  g^),  vor  allem  aber  der  10 
eine  mindestens  ebenso  große,  ja  sogar  noch  überragende  Be- 
deutung zuschreiben,  indem  sie  die  Dekade  geradezu  als  die 
für  die  Weltbildung  maßgebende  Zahl  mit  einer  Art  von 
religiöser  Ehrfurcht  betrachten.  Diese  religiöse  Verehrung 
gewisser  Zahlen,  besonders  der  10,  zeigt  sich  bekanntlich 
auch  in  ihrer  Gleichsetzung  mit  bekannten  und  allgemein 
verehrten  Gottheiten,  z.  B,  mit  Apollon  Agyieus,  Athena, 
Zeus,  Mnemosyne  usw.  Auch  in  dieser  Beziehung  sind  wohl 
die  Orphiker  den  Pythagoreern  vorangegangen. 

Die  nun  folg^ende  möglichst  summarische  Übersicht  über 
die  einzelnen  hier  in  Betracht  kommenden,  für  Orphiker  und 
Pythagoreer  besonders  maßgebenden  Zahlen  nebst  den  wich- 
tigsten zugehörigen  Zeugnissen  möge  diese  Behauptungen 
bestätigen. 

a)  Die  Einzahl  (6  sig  dgid-^ög,  ^ovdg) 

wurde  schon  von  den  Orphikern  '^yviEvg  genannt,  d.  h.  mit 
^TioHcov  kyvievg  identifiziert,  was  ziemlich  genau  der  Zahlen- 
allegorie der  Pythagoreer  entspricht,  die  bekanntlich  die 
[lovag  dem  mit  Helios  identifizierten  Apollon  gleichgesetzt 
haben.'^^)  Vgl.  lo.  Lydus  de  dieb.  II,  5  (=  Abel,  Orphica  fr, 
144):  'ÖQcptvg  xhv  eva  dgi^iiov  'y4yvisa  ocaksl.  —  ib:  'O 
Uvd^ayÖQag  trjv  fiovdda  ' Tnegiovida  xaXü  diä  t6  :tdvtc3v 
VTcaQslvuL  zfj  ovaCa,  coGtisq  xal  6   vorjxbg  "HXiog  x.  x.  X.  — 

73)  Vgl.  Lobeck,  Aglaoph.  716.  Zellek,  Gesch.  d.  griech.  Phüos.' 
I  S.  337  A.  I. 


^^  WiMi.  II.  KosciiKu:  [?'.  5 

Porplivr.   dl'  iibst.   2,   36:  oJ  .  .    fli'd-ayÖQfioi   :rfQl   rovg  ccql^- 

rofs,"  ^«of^'  «;r>j();i;oi'r(),  tov  ,ufV  Tira  aQi^^iov  \ld-rjvav  xa- 
AüOjTfsN  TOJ'  ^^  Tti^a  ".iQTf^itv^  löoiieQ  av  «AAov  'y^^roüova, 
x«l  ^raAtv  «AAo/'  jufi'  . //x«/o(yj''T?;i',  «AAor  d^  ZVaqppcxyuri/i/  ' 
xal  fiti  Tü)v  öiayQccu^dxcov  b^ioi'cog  .  xcd  ovrag  i)()t(ixovTO 
Tovg  d-sovs  tatV  touivraig  dnctQxaig.  —  Modenit.  b.  Stob.  ecl. 
phys.  1,  9  (-o):  Ilv&ayÖQag  nkfiöTy  önovfif}  tteqI  rovg  ccQid-- 
jiovg  exQi]GKTO  .  .  .  ht  öh  rolg  ^eolg  (t7tBixdi,av  t-jTcov6[U(t,Bv^ 
log  'A:t6kko3va  ^lev  ti)v  novädcc  ovöav^  "jQxe^iv  dl  xiiv 
Öväda  .  .  .  ry)v  Öh  it,(xött  rd^iov  xal  'JcpQodttrjv,  t-^v  dh  ißdo- 
i.idöa  KaiQOV  xal  l4d-r]väv^  lAocpdksiov  Öh  xal  TloauÖäva  t^v 
öyöodda,  xal  ri)v  ösxdda  Ilavrikeiav.  Vgl.  Pliilol.  p.  243,  4 
DlELS.  Das  hängt  wahrscheinlich  z.  T.  mit  dem  Umstände 
zusammen,  daß  der  erste  Tag  des  Monats  wie  des  Jahres, 
die  vov^rjvCa,  dem  Apollon  (=  Helios)  geweiht  war,  während 
der  zweite  unmittelbar  darauf  folgende  der  Artemis-Selene 
heilig  war'^)  und  darum  geradezu  ebenso  wie  die  Övdg  Ar- 
temis genannt  wurde  (Lyd.  a.  a.  0.  2,  6.  Porphyr,  de  abst.  2, 
36,  s.  ob.-,  Theolog.  arithm.  14  p.  12  Ast  und  daselbst  p.  166). 

b)  Auch  die  Dreizahl 
wurde  von  den  Orphikern  und  Pythagoreern  hochgefeiert. '"^) 
Die  auf  die  Triade  bezüglichen  Zeugnisse  aus  den  Orphica 
und  der  von  diesen  abhängigen  Literatur  s.  bei  Lobeck, 
Aglaoph.  p.  3840".  Vgl.  namentlich  Ai-istot.  de  caelo  A  i. 
268^  10  (=  DiELS>  Vorsokr.  I  273,  35):  xa&d7t£Q  yaQ  (paöi 
xal  Ol  Uvd-ayoQSLOL^  t6  ^äv  xal  xd  ndvxa  xolg  xqloIv 
G>QL6xaL  •  xsksvxij  yaQ  xal  [liöov  xal  dQ%ri  xbv  aQL&^bv  tiu 
xbv  xov  :tavx6g^  tavxa  dh  xbv  xrjg  XQiddog.  Vgl.  ferner 
Damasc.  de  princip.  123  R.  (=  Diels,  Vorsokr.  476,  27!):  av 
[isv  .  .  .  xaig  cpeQoiitvaig  xavxaig  'Pail^adCatg  'ÜQcpixatg  7]  d^so- 

74)  Ebenso  der  achte  Tag  dem  Poseidon:  Lobeck,  Agl.  p.  433- 

75)  Vgl.  zur  Heiligkeit  der  Dreizahl  bei  den  verschiedensten 
Völkern  auch  Gompkuz,  Griech,  Denker  I  S.  87  f.  und  Usenebs  Dreiheit, 
Bonn  1903  (=  Rh.  Mus.  58). 


71, 5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         45 

Xoyid.  dr]  rCg  kötiv  rj  Ttegl  xb  vorjtöv,  i]v  xal  ol  cpilÖGocpoL 
diSQiirjvsvovöLV  avtl  ^lev  rrjg  (it&g  xüv  öXav  &Q%fig  rbv  Xqo- 
vov  ti&evtsg^  ävtl  de  xolv  dvolv  Al&SQa  xal  Xdog,  avxl  de 
xov  bvxog  unXSig  xb  abv  ccTtoXoyi^öfisvoL,  xal  tQidöa  xuvxriv 
jCQcoxr]v  TioLOvvxsg  .  .  .  Archyt.  Vorsokr.  261,  11 :  [isöai  de 
ivxi  XQig  xa  ^ovölym^  [iCa  ^isv  dQid-iiiqtixd^  dsvxsQa  ds  ya- 
(isxQLxd^  xqCxu  de  vnevavTia^  av  aaXiovxi  ccQiiovfiidv .  d^iQ-- 
^rjxixd  jitfV,  oxxa  ecavxi  XQstg  öqol  .  .  .  . 

c)  Die  Vierzahl 

hat  ebenfalls  in  der  pythagoreischen  Zahlenlehre  eine  nicht 
unbedeutende  Rolle  gespielt.  Vgl.  Aristot.  Metaph.  12,  4^  3: 
Ol  ÖE  Uv&ayÖQeLOL  [i^ijxovv]  %eqC  xtvav  öXCyaVj  av  tovg  X6- 
yovg  dg  xovg  aQL&^ovg  dvriTtrov  olov  xi  s6xi  xaiQÖg  [=  7]  -?) 
t6  diXKLov  [=4  od.  9]  i]  yd^og  [=  5  od.  6].  Hierzu  kommt 
die  Bemerkung  des  Alexandros  z.  Metaph.  I,  5  p.  985^,  26: 
z/iä  xovro  xal  xov  lödxig  löov  aQid'^bv  tcqüxov  elsyov  eivai 
zJ ixaiodvvr]v  .  .  .  xovxov  da  ol  (lav  xov  xexxuQcc  eXsyov 
[so  auch  Nicom.  Theol.  ar.  p.  2^^^),  .  .  .  .  ol  6s  xbv  ivvsa,  og 
eöXL  JtQüxog  xsxQaycovog  aTtb  71£qi66ov  xov  xqCk  s(p  iavxbv 
yevoiitvov  (s.  Nicom.  a.  a.  0.  p.  29).  Philolaos  fr.  13  Diels 
[=  Vorsokr.  I  S.  244,  11  ff.  =  Theol.  ar.  p.  20,  35  Ast]  nimmt 
xsßöaQsg  aQX^^''  "^^^  ^<pov  xov  Xoyixov  an,  nämlich  eyxi- 
(paXog,  xagöCtt,  b^(paX6g  und  aldolov.  Denn  er  sagt  geradezu 
in  seinem  Buche  7t.  (pv6acog:  syxitpaXog  [lev  vöov^  xagdCa  de 
tl^vifig  xal  aiöQ^^öLog,  o^cpaXbg  de  Qi^aöiog  xal  dvaq)V6Log  xov 
^tptoTotJ,  aidotov  de  öniQ^iaxog  xaxaßoXäg  xe  xal  yevvrjöLog  . 
iyxecpuXog  de  (öaiiaCveiy  xdv  dvd'Qtonco  aQ^dv^  xaqdCa  de  xäv 
^(pov^  öfi(paXbg  de  xäv  cpvxov,  aldolov  de  xäv  ^vvandvxav 
■ndvxa  yccQ  xal  ^dlXovöi  xal  ßXa6xdvov6iv.  —  Hier  ist  auch 
noch  das  eigentümliche,  nach  Ansicht  der  Pythagoreer  und 
wahrscheinlich  schon  des  Pythagoras  selbst  hochbedeutsame 
mystische  Verhältnis   zu   erwähnen,  das   die  Vierzahl  (xexga- 

76)  KccXsixai  Sh  avri],  mg  cpriOLV  6  'AvaroXiog,  d lyiaioavvr},  iitsl 
xb  rsTQaywvov  t6  0:71'  avtfjSy  xovtiaxL  xb  iiißuSbv  xjj  TtiQi^BXQO} 
160V   X.    X.    1. 


i 


46  Willi.  TT.  Röscher:  [71, 5 

xTi'g)  7A\  der  noch  wicht ifjjereii  Zeh  ii/.:ilil  haben  sollte.  M;m 
legte  dabei  dio  für  außerordentlich  Ix'deutsam  j^ehaltene,  im 
Grunde  aber  /ienilich  <j^leich^ültiü;t>  Tatsache  zu<^rnn(le,  «lau 
die  Summe  der  ersten  4  'Zahlen  «gerade  10  beträft:  i  +  2 
+  3  +  4  =  10.  Vgl.  Atheiüitr.  5  |).  6,  15  SciiWAUTZ  (=  Vor- 
sokr.  I  S.  250,  i^ff ):  |6|  tU  ^isyiOro^  ftfv  ccQLd^^ibg  6  öixa 
xard  Tovg  FIvd'ayoQixovg  o  rsTQaxfvg  Tf  o)i'  xal  jcccvrag 
Tovg  ttQttfuv,TLXovg  xal  Tovg  aQ^iojnxovg  tcbquxcov  koyovg.  .  .'^) 
Genauer  Aet.  I,  3,  8  (=  Vorsokr.  I  S.  273,  17  ff.):  elvai  dh 
T})v  (pi)6iv  Tov  K()Ld'uov  ÖBxa.  [.lEXQi  yuQ  tcöv  ötxa  Tica'Tsg 
''Ekli]i{ig^  Ttdvrsg  ßaQßaQOL  aQi&^iovöiv^  i(p  a  iX^ovreg  TcäXiv 
avtt:Todov(5iv  [?]  ^tiI  rijv  (.Loväda.  xal  töj^  ötxa  Tcdliv,  q)ti(}lv 
[6  nvQ-ayÖQag]^  rj  dvvaaCg  hönv  iv  rotg  xsößaQöt  xal  rfj 
TSTQc<öi.  tö  ÖS  ainov  '  ei'  ng  d^b  tfjg  ^ovdÖ og  [dvaTiodäv^ 
xaxu  :TQ66d-£6iv  ridsCy]  rovg  aQid-^ovg  diQi  tCov  reöödgojv 
nQoeld^av  sxuXyiqqoösi  tbv  <^rävy  dexa  dQbd^^iöv  "  idv  dh 
vTtsQßdkr]  xig  zbv  xrig  xsxgdd og^  xal  xäv  dsxa  imsQsx- 
nseslxav  oiov  si'  rtg  d-eCrj  fV  xal  ovo  TtgoodsCr]  xal  xQia  xal 
TOVTOtg  XBöGaga,  xbv  xäv  dexa  kxitlr^QioGei  dQiQ-yiöv.  cö6xs  6 
dgid-^ibg  xaxä  ^ev  novdda  ev  xolg  dexa^  xard  de  övva^Lv 
iv  xotg  xsGöaQöL.  ölo  xal  eJiErp&syyovxo  ol  üv^ayöguoi  ag 
HsyCöxov  oQxov  ovxog  xfig  xexgddog' 

ov  (lä  xbv  d[iEXiQa.  x£(paXä  naQaöövxa  xsxQaxxvv 
%ayav  aBvdov  (pvösag  Qi^coad  x  s^ovöav.^^) 
xal  ii  rjfisxega  ^v^i]^  (prjöCv^  ex  xexgdöog  övyxeixai .  eivat 
ydo  vovv  iTCLöXTjUTjv  öo^av  ai6d-t]6LV,  i^  d)V  Ttäöu  xiy^vri 
xal  i7ti6xr](ir}  xal  avxol  XoytxoC  eG^ev.  —  Ahnlich  auch  Luc. 
de  laps.  in  sal.  5  (=  Vorsokr.  I,  235,  5 ff.):  dßl  de  ol  xal 
x^v  xexQaxxvv  xbv  ^eyiöxov  oqxov  avxäv  [=  d.  Pytha- 
goreer],  rjv  xbv  ivteXr]  avxolg  aQid-abv  dnoxeXelv  oX(ovxav 
xbvy   dexa^   vyielag   dg^riv''^)   sxdXeöav   "  av    xal    OiXoXaog 


77)  ^gl-    auch  Theol.  ar.  p.  23:    itiyLav   Ss    avxijv  [r.  Ttzgädu]  ol 
nv&ccyOQSLOi,  dbs  dsxäöog  ysvvrjTin'^v. 

78)  Vgl.  auch  Theol.  ar.  ed.  Ast  p.  18  a.  E.  und   dazu  Asts  Er- 
läuterungen p.  168  ff. 

79)  Ich    vermute,   daß   diese   Benennung   der  Vierzahl  damit  zu- 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  47 

sdXL.  —  Übrigens  gehörte  die  targaxrvs  auch  zu  den  dxovß- 
fiara  xal  övußoXcc  der  Pythagoreer.  S.  Vorsokr.  I,  280,  17: 
Tt  Eon  tÖ  SV  /IsXfpolg  iiccvveiov;  rft^axTug"  oTtfQ  iöxlv  1^ 
ccQnov{a,  iv  ^  al  GsiQTJveg  (=Iambl.  v.  Pyth.  82  f.).  —  Hier- 
her gehört  ferner  die  pythagoreische  Lehre  von  den  4  chgai, 
(£«(),  ^EQo^,  (pd-LVÖTtcoQOV^  xsL/xcov)  Und  der  ihnen  genau  ent- 
sprechenden 4  i)hxLai  (jcarg,  vsipdöxog^  vsy]vtr]g^  ysQCov),  die 
uns  Laert.  Diog.  8^  10  (u.  Theol.  ar.  p.  20  Ast)  überliefert 
hat  (vgl.  meine  'Tessarakontaden'  S.  7  6  f.).  Diese  Theorie  steht 
natürlich  im  schroffsten  Gegensatz  zu  der  Lehre  von  den 
7  aQUi  und  rjlLxCai,  unseres  hebdomadischen  Kosmologen  (s. 
ob.  S.  32f.  u.  38). 

Von  den  Vielfachen  der  4  haben  die  Pythagoreer  nament- 
lich die  40  für  bedeutungsvoll  gehalten.  Vor  allem  sehen 
wir  die  Vierzigtagefrist  in  den  Anschauungen  der  Pytha- 
goreer von  der  Entwickelung  der  Embryonen  eine  ähnliche 
Rolle  spielen  wie  in  der  griechischen  Religion  und  in  den 
Theorien  der  ältesten  griechischen  Arzte.  Denn  nach  Alexan- 
der V.  Aphrodisias  b.  Diog.  Laert.  8,  29  soll  PytbagorüS  in 
seiner  Biologie  auch  den  Satz  vorgetragen  haben:  ^ogcpovöd-ui 
....  tÖ  ^av  TCQ&rov  Ttaysv  iv  rj^sQaig  rsööaQccxovra^ 
xatä  Ö£  rovg  rfjg  ccQuovCccg  Xoyovg  iv  i^rä  rj  ivvsa  rj  dexa 
TÖ  nkalöxov  ^r]6l  xslscod-av  uTtoxvi'öxaöQ'aL  xb  ßQ£q)og.  Li 
engem  Zusammenhang  damit  steht  die  merkwürdige  Lehre 
der  Pythagoreer  vom  partus  major,  die  uns  der  wahrschein- 
lich aus  Varro  schöpfende  Censorinus  de  die  nat.  11,6  über- 
liefert hat.  Sie  lautet:  'Alter  autem  ille  partus,  qui  major  est, 
majori  numero  contiuentur,  septenario  scilicet,  quo  tota 
vita  humana  finitur  ....  itaque  ut  alterius  partus  origo  in 
sex  est  diebus,  post  quos  seinen  in  sanguinem  vertitur,  ita 
huius  in  Septem;   et  ut  ibi  quinque  et  triginta  diebus  infans 


sammenhängt,  daß  der  vierte  Tag  in  Krankheiten  öfters  eine  ähnliche 
Bedeutung  hat  wie  der  siebente,  d.  h.  die  Krisis  und  damit  die 
Besserung  biingt;  b.  Hippocr.  n.  aagy..  19.  Vgl.  auch  Theol.  ar.  p. 
22  Ast:  oi  largol,  yad'dnsQ  'InTtoügärris ,  Tr]v  Tfrpada  XiyovOi  v.olv(o- 
vovaav  .  .  .  tj  kßöoiiäöi  x.  t.  X. 


48  Willi.  TT.  Röscher:  [71,5 

membratur,  ita  hie  pro  portioue  diebus  loro  quadraginta; 
quare  in  Graecia  dios  habeut  quad ragen si mos  insignes. 
nanique  praegnans  ante  diom  ([  nadragensimum  non  pro- 
dit  in  fanum,  et  post  partum  quadraginta  diebus  plerae- 
que  fetae  graviores  sunt  nee  snnguinem  interdum  coutinent, 
et  parvoli  ferme  per  hos  fere  morbidi  sine  risu  nee  sine 
periculo  sunt,  ob  quam  causam,  cum  is  dies  L=quadra- 
gensimus]  jiraeteriit,  diem  festum  solent  agitare,  quod  tcm- 
pus  appelhiut  TfööSQaxoöralov.  hi  igitur  dies  quadra- 
ginta per  Septem  illus  initiales  multiplicati  liunt  dies 
uuceuti  octogiuta,  id  est  hebdomadae  quadraginta'. 
Aus  diesen  Worten  geht  deutlich  hervor,  daß  die  Pytha- 
goreer  sich  auch  hinsichtlich  der  von  ihnen  angenommenen 
Bedeutung  der  tessarakontadischeu  Fristen  einfach  an  die  auf 
der  natürlichen  Dauer  der  Normalschwangerschaft  von  40x7 
oder  7x40  =280  Tagen  beruhenden  Bestimmungen  der  grie- 
chischen Religion  und  der  altgriechischen  Äizte  angeschlossen 
haben. ^°j  Im  Einklang  damit  steht  auch  die  Überlieferung, 
daß  Pythagoras  unmittelbar  vor  seinem  Tode  40  Tage  lang 
gehungert  habe,  sowie  als  40 jähriger  Mann  nach  Italien  aus- 
gewandert und  als  8o(=  2X4o)jähriger  Greis  gestorben  sei, 
so  daß  er  also  40  Jahre  lang  an  der  Spitze  seiner  Schule 
gestanden  habe  (Aristox.  fr.  4  b.  Porph.  v.  Pyth.  9).  Ebenso 
soll  er  mit  40  Anhängejni  zusammen  untergegangen  sein 
(Diog.  L.  8,  39.  Porphyr,  v.  Pyth.  56).  Mehr  in  meinen  Tes- 
sarakontaden  S.  81  f.  —  In  den  Orphika  fehlt  es,  wie  es 
scheint,  an  den  entsprechenden  Parallelen. 

d)  Die  Fünfzahl 
scheint  zwar  in  der  Zahlenmystik  der  Pythagoreer  keine  be- 
sondere Rolle   gespielt  zu  haben,   ist   aber  doch    keineswegs 

80)  Vgl.  darüber  meine  Tessarakontaden  u.  Tessarakontadenlehren 
der  Griechen  u.  anderer  Völker  (Leipz.  1909)  S.  77 ff.,  wo  auch  wahr- 
scheinlich gemacht  wird,  daß  auch  die  Orphiker  an  die  Bedeutung 
der  40tägigen  Frist  geglaubt  haben;  vgl.  Herakl.  Pont.  b.  lo.  Lyd.  de 
mens.  4,  29  p.  186  Roether. 


71, 5 J     Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         49 

von  ihnen  vöUig  ignoriert  worden.  Bei  AST,  Theologum. 
arithm.  p.  24  heißt  es:  rj  Jievrag  TtQärt]  TCEQiBlaßs  xo  tov 
TCavrbs  agid-iiov  slöog,  ijroc  rbv  ß'  rbv  ngärov  ägriov  xccl 
rbv  y  rbv  TtQ&rov  tisqlttöv  '  Ölo  xal  räfiog^^)  xaXtlxai  cjg 
f'l  'ÜQQSvog  xal  d'^Xsog.  Daß  eine  Zahl  von  den  Pythagoreern 
yccuog  benannt  wurde,  bezeugt  auch  Aristot.  Met.  12,  4,  3, 
aber  er  sagt  leider  nicht,  welche  Zahl  in  diesem  Falle  ge- 
meint ist.  Denn  da,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  nach  Ana- 
tolios  bei  AsT  a.  a.  0.  S.  33  auch  die  Sechszahl  von  den 
Pythagoreern  yccuog  und  aQQSvö&rjXvg  genannt  worden  sein 
soll,  ort  avtbg  tolg  Savrov  ^sqsölv  iörtv  IVog,  yd^iov  ös 
EQyov  t6  öiiota  Jiotstv  tä  syyova  rolg  yovsvöi,  so  muß  es  bis 
auf  weiteres  zweifelhaft  bleiben,  ob  sich  der  Ausspruch  des 
Aristoteles  auf  die  5  oder  auf  die   6  bezieht. 

e)  Die  Sechszahl. 

Auch  hier  haben  wir  wieder  eine  merkwürdige  Überein- 
stimmung der  Pythagoreer  mit  den  Orphikern  festzustellen, 
denn  es.  heißt  bei  Anatolios  (Ast  a.  a.  0.  p.  36):  rijv  ii,ddu 
bko^Eltiav  [Ovko^sXeia  Nicom.  b.  Phot.  bibl.  187,  240]  tiqoö- 
rjyÖQSvov  oi  nvQ-ayoQixol  xataxoXovd-ovytsg  'OQ(psl,  iqxoi 
jcaQÖöov  olri  xolg  iiiXtövv  ri  ^bqeölv  i6ri  iörl  ^övrj  x&v  ivxbg 
dsxddog  (vgl.  Lobeck,  Aglaoph.  p.  717).  Ob  freilich  Lydus 
de  mens.  2,  10  mit  Recht  behauptet:  ^Ogg)evg  tisqI  ii,ccdog 
xavrd  (p}]6iv  '  'IXccd-i,  xvdia  aQi&fie^  itdxsQ  iiaxccQCOV^  rcdxsQ 
dvÖQ&v.,  also  die  Sechszahl  mit  keinem  geringeren  Gotte  als 
Zeus  identifiziert,  muß  nach  Lobecks  (Agl.  7i5ff)  Dar- 
legungen füglich  bezweifelt  werden.  Ich  werde  weiter  unten 
im  Abschnitt  von  der  Zehnzahl  wahrscheinlich  zu  machen 
suchen,  daß  bei  Lydus  a.  a.  0.  statt  i^ddog  vielmehr  dsxd- 
dog  zu  lesen  ist,  oder  daß  Lydus  aus  Versehen  die  beiden 
Zahlen  verwechselt  hat. 

Eine  ganz  eigentümliche  und  nicht  ganz  leicht  verständ- 
liche Beziehung  wird  der  Sechszahl  von  Anatolios,  ganz  offen- 


81)  Nach  Ast  a.  a.  0.  p.  32  wurde  sie  aucli  FafiriXici  genannt. 

PhiL-hist.  Klagie  1919.  Bd.  LXXI.  5.  4 


,SO  Wii.ii    11.  K(is(iii-,u:  (7«,  5 

bar  nach  illtoren  ^nittii  (^ucllt'ii,  zur  Soelo  {ipv^tj)  und  Ho- 
seelunp;  (iI'vxcogli^)  zugesclirioben.  Es  heißt  in  den  Thcol. 
arithin.  tnl.  Ast  S.  ,^4  iroijidczu:  rfj  de  il>vx^  tö  TtuQäTcav 
ovdAi^  fcpaQfio'^fti'  dvvaTca  ^läkXov  it,ädoi;  «(i/i^jtios*,  <>'"< 
ciXXog  ca>  ovtco  öidQtyQcocftg  tov  Tcavrbg  Afyotro,  ipi^xoTCo log 
törafifvog^  fVQKV^ouH't]  xal  r^g  ^coTixfjg  e'tscog  ^jiijrotT^TtxrJ, 
,T«()ü  i^äg  .  .  .  Kur/,  zuvor  (S.  33)  wird  den  Pythagoreern 
die  Ansicht  zu<i;esch rieben:  xar  ccvt-^v  |  r.  ^^«d«]  iatjjvxiööifccc 
x«(  x«{t>y()«d(ji)'«t  Tüi'  xo(?,uoj'  X.  T.  A.  Dali  wir  es  hier  mit 
einer  guten  alten  echtpytliaü;oreisc]ien  Auffassung  zu  tun 
haben,  dafür  bürgt  das  dem  Philolaos  zugeschriebene  Fra«;- 
ment  (Theol.  ar.  p.  55  Ast  =  Diels,  Vorsokr.  I,  235,  8f.): 
0iJ.6lc<og  rpvxcoöiv  öa  sv  f^adt,  vovv  öh  xal  vysCaj'  xal 
t6  v:z  ccutov  XEyoiievov  (päg  iv  sßöo^ddi^  ^srä  ravtd  (pr]0iv 
eQCora  xal  cpiXiav  xal  uijTiv  xal  EJiCvoiav  iii  dyäoadi  6v(i- 
ßfjvat  rolg  ovGiv.  Was  das  zu  bedeuten  hat,  erkennt  man  am 
besten  aus  der  wahrscheinlich  auf  eigensten  Aussagen  und 
Oöenbarungen  des  Pythagoras  beruhenden  Erzählung  von 
seinen  alle  216  Jahre  erfolgten  Metempsychosen,  wonach  er 
genau  216  Jahre  vor  seiner  Geburt  als  Pythagoras  als 
Pyrrhos,  und  abermals  216  Jahre  früher  als  Hermotinios  usw. 
gestorben  sei.  Die  eigentümliche  Bedeutung  dieser  Zahl  aber 
besteht  einerseits  darin,  daß  sie  der  Kubus  der  6  (=  6^)  ist, 
anderseits  der  Schwangerschaftsperiode  der  Siebenmonats- 
kinder entspricht,  wie  Anatolios  a.  a.  0.  S.  40  bezeugt:  enal 
ÖS  6  a:io  rov  6t'  xvßog  öiöt'  yCvsxat^  6  tTtl  STtt aix^vav 
yovcfxcov  %()övoff,  tSvvaQL&novfisvav  ralg  t-jirä  t&v  £^ 
•flfiSQäv,  £V  aig  dcpQOvtat  xal  diacpvösLg  öTtSQ^atog  la^ßdv8i 
xb  öTttQiia,  '^vÖQOxvdrjg  öh  6  TIvd-ayoQixog  6  itaQi  räv  6v[i- 
ßoXcov  yQaijjag  xal  EvßovlCdrig  ö  üv&ayoQLxbg  xal  !Aqi(3t6^e- 
vog  xal  'iTiTCoßoxog  xal  Nsdvd-r^g,  ol  xaxd  xbv  dvÖQa  dvayQd- 
tjjavxsg,  6i6z'  exeöl  xäg  ^exe^tlJvxaöSLg  xag  avxa  öv^ßsßrj- 
xvCag  6(pa6av  ysyovivaf  fisxä  xoöavxa  yovv  Exrj  elg  Tta- 
kiyyavEöiav  Eld-alv  IIvifayoQav  xal  dva^rjöac  coaavEi  fietä 
xtjv  7iQG)xr]v  dvaxvxXcoöiv  xal  ETtdvodov  roO  cctco  f|  i^v^oyo- 
vixov  xvßov  .  .  .  ci  xal  GvnqxovEl  ro  EvfpdQßov  xrjv  ipvx'^v 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  51 

h6ii]y.sv(u,  xata  ts  tovg  j(^q6vovs  ü.  t.  A.  Dieselbe  Zahl  scheint 
auch  von  Herakleides  Pontikos  in  jener  ygarpiq  bei  Laert. 
Diog.  8^  14  bezeugt  zu  werden,  in  welcher  Pythagoras  avx6g 
q)rj6i  dt  exxaCdexa  [Hss.  szra]  xal  dn]xoöi<x}i'^^)  ixcbv  i'B,  äiÖEco 
ütaQaysysvYjad-c.t  slg  avd-gcoTtovg  (vgl.  RoHDE,  Psyche  ^11,  419). 
Nahe  verwandt  mit  dieser  Theorie  ist  offenbar  die  eben- 
falls als  altpythagoreisch  bezeichnete  vom  ^partus  minor',  die 
uns  Varro  bei  Censorinus  de  die  nat.  c.  1 1  (vgl.  Zeller 
^III,  2  p.  81,  i)  überliefert  hat.  Danach  gab  es  für  die  Ent- 
wickelung  der  Embryonen  im  Mutterleibe  zwei  verschiedene 
Fristen,  eine  kleinere  siebenmonatige  und  eine  größere  von 
10  Monaten.  Die  erstere  endigt  am  210.  Tage,  die  letztere 
am  274.  nach  der  Empfängnis.  Für  die  kleinere  Frist  ist 
nach  Censorinus  die  Sechszahl  besonders  maßgebend ^^),  in- 
sofern die  Frucht  während  der  ersten  6  Tage  aus  milch- 
artigem, in  den  darauffolgenden  8  Tagen  aber  (also  vom  7.  bis 
zum  1 4.  Tage)  aus  blutartigem  Safte  besteht.  Sobald  diese  8 
Tage  zu  den  ersten  6  hinzukommen,  entsteht  die  erste  6v}i- 
(povCa  diä  tEößccQcov.  In  den  folgenden  g  Tagen  verwandelt 
sich  der  Embryo  in  Fleisch,  und  es  entsteht  die  zweite  övii- 
(pcovCa  öiä  7CEVTS.  In  der  nunmehr  folgenden  Frist  von  12 
Tagen  bildet  sich  die  Gestalt  des  Kindes^*),  und  es  entsteht 
die  6v{i(pG}Via  ölcc  nccGüv,  so  daß  bis  zum  Schluß  dieser  Ent- 
wickelung    35   [=5X7  =  6-f8-}-g-f-i2]    Tage    vergehen. 


82)  Die  überlieferte  Zahl  207  ist  irrational  und  in  diesem  Zu- 
sammenhang völlig  sinnlos.  Sie  in  216  zu  korrigieren  hat  Rohde  schon 
längst  vorgeschlagen,  ist  aber  merkwürdigerweise  Psyche  ^11,  419  darin 
wieder  irre  geworden. 

83)  Censor.  a.  a.  0.  11^  2:  partus  minor  aenario  maxime  conti- 
uetur  numero.  nam  quod  ex  semine  conceptum  est,  sex  ...  primis 
diebus  umor  est  lacteus  etc.  —  ib.  4:  nee  immerito  senarius  funda- 
mentum  gignendi  est:  nam  eum  telion  [rskeiov]  Graeci,  nos  autem  per- 
fectum  vocamus,  quod  eius  partes  tres,  sexta  et  tertia  et  dimidia,  id 
est  unus  et  duo  et  tres,  eundem  ipsum  perficiunt. 

84)  Welcher  Gegensatz  zur  Theorie  unseres  hebdomadischen  Kos- 
mologen,  der  die  rvTCwaig  des  Embryo  bereits  am  7.  Tage  nach  der 
Empfängnis  erfolgen  läßt! 


4* 


V 


52 


WiMi.  TT.  Koscher:  [7>,  S 


Multipli/iert  niiin  diese  Zahl  35  mit  6,  so  ergeben  sich  als 
l'rodukt  210  Ta^^e,  d.  h.  die  Zahl  der  Tage,  die  ein  Sieben- 
mouatskiml  braucht,  um  zur  \Volt   zu  koumieu. 

f)  Die  Neunzahl. 
Da  ich  über  die  Bedeutung  der  Enneade  in  der  orphi- 
schcn  und  pythagoreischen  Lehre  bereits  au  einem  andern 
Orte  (s.  Enueadische  Studien  S.  40 tf.  und  50 ff.)  ausführlich 
gehaiulelt  habe,  so  kann  ich  mich  hier  in  dieser  Beziehung 
kürzer  fassen,  indem  ich  hinsichtlich  aller  Einzelheiten  eiu- 
fach    auf    meine    im    Jahre     1907     erschienene    Abhandlung 

verweise. 

^  Vor  allem  ist  hier  von  Wichtigkeit  die  Feststellung  der 
Tatsache,  daß  auch  hinsichtlich  der  Enneade  die  Pythagoreer 
sich  an  die  Orphiker  angeschlossen  haben.  Beide  be- 
zeichnen die  Neunzahl  als  KovQfitig  oder  Köqt]  (a.  a.  0. 
S.  46).  Zwar  stammen  die  betreffenden  Zeugnisse  erst  aus  der 
Zeit  und  den  Kreisen  der  Neupythagoreer,  doch  lassen  sich 
für  deren  Echtheit  und  Altertümlichkeit  so  vortreffliche  Ana- 
logien aus  Aristoteles  u.  a.  aufühfen  (s.  Hebdomadeulehren 
S.  28 ff.),  daß  etwaige  Zweifel  dagegen  kaum  aufkommen 
können.  Den  Grund  für  diese  beiden  Benennungen  haben  wir 
offenbar  in  zwei  religiösen  Tatsachen  zu  erblicken,  nämlich 
einerseits  in  dem  Mythus  von  den  9  Kureten  oder  Kory- 
banten,  anderseits  in  den  bekannten  Beziehungen  der  Köqtj 
(=  n£Q6i(p6vri)  zur  Feier  der  sv[v\ata  (novemdialia)  und 
überhaupt  zu  dem  durch  mehrfache  enneadische  Bestimmungen 
(Fristen  usw.)  charakterisierten  Totenkult. 

Auch  sonst  spielen  enneadische  Fristen  in  der  Lehre  der 
Orphiker  eine  nicht  unbedeutende  Rolle.  So  sollte  Orpheus 
ebenso  wie  die  erythräische  Sibylle  und  der  apollinische 
Prophet  Teiresias  eine  Lebensdauer  von  9  yEvmC  erreicht 
haben  (a.  a.  0.  S.  40  Anm.  64).  Ferner  huldigen  sie  ebenso 
wie  Hesiod  der  Anschauung,  daß  der  Meineid  eines  Gottes 
mit  einer  neunjährigen  Verbannung  aus  dem  Olymp  bestraft 
werde   (a.  a.  0.  S.  44  f.).     Auch   scheinen   die    eigentümlichen 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  53 

enueadischen  Bestimmungen,  welche  Vergil  im  6.  Buche  der 
Aeneis  in  der  Beschreibung  der  Katabasis  seines  Helden  ver- 
wertet hat  (vgl.  z.  B.  noviens  Styx  iuterfusa  6,  439  und  die 
novem  circuli  der  Unterwelt  v.  426  u.  Serv.  z.  d.  St.),  zu- 
nächst aus  einer  Scbrift  des  Poseidonios  (man  denke  auch 
an  die  novem  orbes,  die  Cicero  den  Scipio  im  Traume  sehen 
läßt!)  und  weiter  aus  einem  im  Altertum  vielgelesenen 
eschatologischen  Gedichte  des  Orpheus,  nämlich  seiner  Hades- 
fahrt, zu  stammen.  ^^)  , 

Viel  besser  als  über  die  Enneaden  der  Orphiker  sind 
wir  über  die  der  Pythagoreer  unterrichtet,  die  ja,  wie  wir 
eben  sahen,  jenen  in  der  Bezeichnung  der  Neunzahl  als 
KovQfjng  oder   Köqt]  gefolgt  sind.**^)  ^ 

Von  großer  Bedeutung  ist  ferner  die  enneadische  Frist 
von  3x9  Tagen,  die  Pythagoras,  d.  h.  die  Altpythagoreer, 
nach  einem  aus  Varro  entlehnten  Zeugnis  des  Gellius  (N.  A. 
1,  20,  6;  vgl.  Favonius  Eulogius  p.  12,  4  Holder)  als  die 
Zahl  der  Tage  des  uralten  und  weitverbreiteten  aus  3  neun- 
tägigen Wochen  bestehenden  Lichtmonats  (des  'circulus 
lunaris'  oder  'lunaris  cursus')  angenommen  haben  (vgl.  die 
tQlg  evvsa  'i]a6QaL,  die  Nikias  infolge  einer  Mondfinsternis 
auf  den  Rat  seiner  ndvtsig  im  Jahre  413  zu  warten  beschloß, 
um  eine  andere  Mondperiode  abzuwarten:  äXXrjv  ösltjvrjg 
ccvapisvstv  JtsQLßdov:  Plut.  Nie.  2^  u.  Thuk.  7,  50).  Genau 
dieselbe  uralte  hieratische  Frist  spielt  bekanntlich  auch  im 
Leben  des  Pythngoras  eine  Rolle,  insofern  berichtet  wird 
(Porphyr,  v.  Pyth.  17),  P.  sei  in  die  idäische  Grotte  hinab- 
gestiegen und  habe  daselbst  die  ^üblichen'  3x9  Tage  (rag 
vsvouLö^evag  t^lg  ivvaa  'i^ixs^ag)  zugebracht  (mehr  in  den 
Ennead.  Stud.  S.  51  f.).  Auch  soll  Pythagoras  als  Neunzig- 
jähriger nach  dem  Schol.  z.  Plat.  de  rep.  p.  600  B  =  p.  360 
Herm.)    in    einer    Feuersbrunst    umgekommen    sein.     Hierher 

85)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  47  Anm.  76  u.  Nokdens  Kommentar  z.  6. 
Buche  von  Verg.  Aen.  S.  29  f. 

86)  Hinsichtlich  der  Benennung  entweder  der  Neunzahl  oder  der 
Vierzahl  als  Jixuioavvri  s-  ob.  S.  45  Anm.  76. 


54  Wii.ii.  11.  RosCHEu:  [71,5 

gehört  ferner  die  für  die  Eiitwickelung  der  in  der  altpytba- 
goreischen  Lolire  eine  gewisse  Rollo  sj)ieloudeu  Boluie  an- 
genommene Frist  von  90  Tagen  (Porphyr,  v.  Pyth.  44),  so- 
wie die  72g  [=  9^J  betragende  Zahl  der  Monate  im  Großen 
Jahr  des  Philolaos  (Censorin.  18,  8).  Es  ist  demnach  auch 
sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Zahl  72g,  die  Piaton  im  Staat 
p.  587  D — E  nicht  weniger  als  zweimal  verwertet,  ebenso  wie 
andere  enneadische  Zahlen  (die  9,  27,  81,  243)  in  der  pytha- 
goreischen Lehre  von  den  Abständen  der  10  Weltkörper, 
ganz  direkt  aus  altpythagoreischen  Anschauungen  stammt 
(Ennead.  Stud.  S.  54  A.  91   u.  S.  88  f.). 

g)  Die  Zehnzahl. 

Daß  die  Zehn  in  der  Lehre  der  Altpythagoreer  für  die 
bedeutungsvollste  und  maßgebendste  aller  Zahlen  gegolten  hat, 
geht  schon  aus  ihrer  bereits  besprochenen  Gleichsetzung  mit 
der  tSTQaxrvg  und  ihrer  Verwertung  als  fisyiörog  OQXog^ 
avxaXrig  aQid^iiog  und  vyuiag  &Q%ri  (Philolaos  b.  Luc.  de  lapsu 
in  sal.  5  =  DiELS,  Vorsokr.  I  S.  235,  5)  deutlich  hervor  (s. 
ob.  S.  46).  Damit  stimmt  trefflich  überein  die  aus  einer 
Schrift  des  Speusippos  JJ^qI  nvO-ayoQixüv  aQid^^&v  (Theol. 
ar.  p.  61  Ast  =  DiELS,  Vorsokr.  I,  235,  21  f.;  die  ganze  eine 
Hälfte  des  Buches  handelt  von  der  Zehnzahl)  stammende 
Charakteristik  der  Zehnzahl,  in  der  sie  cpvmxaxäxri  xal  tsXsö- 
tLxcordrr]  xav  ovxav  sowie  d'S^s'kiov  vnäQiovGa  xal  TtaQa- 
ÖEiyiia  TCavxsktöxaxov  xa  xov  Tcavxhg  notrixi]  &£a  TtQoexxu- 
fiEvi]  genannt  wird.  Bei  dieser  außerordentlichen  Bedeutung 
der  Dekade  liegt  es  auch  nahe,  den  von  lo.  Lydus  (de  mens. 
II,  10)  dem   Orpheus ^^),   von   anderen   zuverlässigeren  Zeugen 

87)  Die  Zuweisung  des  Verses  seitens  des  Lydus  an  Orpheus 
kann  richtig  sein,  da  wir  aus  Ljd.  de  mens,  i,  15  wissen,  daß  die 
Orphiker  die  Dekas  xladovxog  nannten,  i^  rjg  aasl  xAadot  zLvlg  ndvTEg 
ccQLQ-fiol  (pvovtai  (Lobeck,  Agl.  p.  716).  Vgl.  auch  Syrian.  in  Aristot. 
Met.  p.  915**  (=  Orphica  frgm.  150  Abel)  und  bei  Lobeck,  Agl.  p.  720. 
Wahrscheinlich  ist  also  bei  Lydus  de  mens.  2,  10  (Abel,  Orphica  fr. 
147)  statt  e|ados  [=  5'J  vielmehr  öby-ccöos  [t'J  zu  schreiben  oder 
wenigstens  anzunehmen,  daß  so  in  der  Quelle  des  Lydus  zu  lesen  war. 


71.5]      Die  hippokkatische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  55 

den  Pythagoreern  zugeschriebenen  Vers  KsxXvd-i.  ["'/AaO^t]  xv- 
diii  ägid^ns,  näxEQ  fiaxccijcov,  Tcäreg  dvÖQüv^^)  statt  mit 
Lydus  auf  die  sonst  nicht  besonders  hervortretende  it,ccg  viel- 
mehr auf  die  dexäs  als  den  aQLd-j.ibg  xat'  sE,o'p]v  zu  beziehen 
und  anzunehmen,  daß  diese  mit  Zeus,  dem  Vater  der  Götter 
und  Menschen,  in  orpbisch-pythagoreischen  Kreisen  identifi- 
ziert worden  ist.  Vgl.  auch  Proklos  in  Tim.  III  p.  269  (Lobeck, 
Agl.  7  IQ  f.):  TtQÖELöi  yaQ  6  d-etog  aQi&^ög,  ag  q)rj6iv  6  IJvd-a- 
yÖQSLog  slg  ccvrbv  v^vog 

^ovvddog  ex  xsv^fiavog  axrjQatov,  aör    av  ixy]tai 
xaxQdö^    £7tl  ^ai>£'7^i/,  r]  dr}  rsxs  ^rjrsQa  ndvxo3v 
•jcavdoxsa^  TCQaößsiQav^  ögov  nsgl  näöt  xiQ^slGav^ 
dxQoitov,  dxdiiaxov,  dexdöa  xXUovgC  [ilv  ayvijv. 

Weitere  in  diesen  Zusammenhang  gehörige  Zeugnisse  sind 
folgende:  Theol.  ar.  p.  60,  25  (=  Diels,  Vorsokr.  I,  236,  21): 
nißx tg  ys  ixtjv  xalelxai  [t]  Öexdg\  oxi  xaxä  xhv  OiXöXaov 
daxdöi  xccl  xolg  avxfig  iioQioig  :Z£qI  xüv  bvxav  ov  TtccQSQycog 
xaxaXa^ßavo^bvotg  tclöxlv  ßeßaCav  eio^sv .  dionaQ  xal  Mvrjiirj 
XsyoLx'  UV  ix  xav  avrcbv,  dq/  üv  xal  yioväg  MvrjuoGvvrj 
G)vofid<3d-r].  —  Laur.  Lyd.  de  mens,  i,  15:  oQd-üg  ov%>  avxijv 
6  0LX6Xaog  daxdöa  üiQoörjyoQSvöev  ag  dsxxixijv  xov 
dicsCgov. —  Philol.  fr.  11  Diels  b.  Theo  Smyrn.  106,  10:  nagl 
rjg  [t.  daxddog^  xal  'JlQy^vxag  av  xa  Tlagl  xrjg  d axdd og  xal 
0LX6Xaog  av  xg)  IJagl  (pvötog  noXXä  öia^Caöiv.  —  Stob.  Ecl. 
1  prooem.  cor.  3:  0tXoXdov:  ^aagalr  öal  xd  sgya  xal  xijv 
ovätav  Tö  dgid^fiä  xaxxdv  dvva^iv  dxig  iöxlv  av  xa  öaxddv 
(leydXa  yaQ  xal  xavxaXijg  xal  Ttavxoegybg  xal  d-aCa  xal 
ovgavCco  ßCco  xal  dvO^QOJTcCvco  dg^d  [vgl.  damit  oben 
%dxaQ  [laxdQcov,  ndxag  dvdgcöv/]  xal  dyajicov  xoivcovovöa 
♦=f*  dvva^ig  xal  rag  dsxddog'  dvav  da  xavxag  ndvx 
dnaiQa  xal  dör]Xa  xal  dtpavfj  . 

Auch  darin  zeigt  sich  die  ungeheure  V^ichtigkeit,  welche 
schon  die  Altpythagoreer  der  Zehnzahl  zuerkannt  haben,  daß 
Archytas    eine    besondere    Schrift    Ilagl   xi^g    dexddog    verfaßt 


88)  Lobeck,  Agl.  71 5  ff. 


56  "VViLH.  H.  KoscHKii:  l7'.5 

haben  soll  (Theo  Sniyrn.  106,  10  =  Dikls,  Vorsokr.  1,  242, 
25)  und  daß,  wie  Aristoteles  [}\ci.  A  5.  9B5'',  23  ff. -=  Dikls 
a.  a.  0.  270,  44 ff.)  bez('u*;l:  ^nfiÖi)  rsksiov  ij  öex«^  iivai 
doxfi  xa\  7(Cx(5av  7itQUiXi]tph>ai  ri]v  riov  a^iif^iäv  cpvOLv,  xal 
rä  (fSQÖf^iei'a  xatä  rör  ovQavbi'  Ötxa  fihv  tlvai  cpaöiVj. 
(ivtav  de  ivvt'cc  ^6vov  räv  (pavfgäv  ötä  xovto  dtxccTrjv  rtjv 
tttnix^ova  :roiov(Hv.  —  Theophr.-Aötius  ]).  DiKLS  a.  a.  0.  I, 
237,  J?:  ^fQ^i  T()  ^eöov  öexa  öcöftara  0-tta  yoQtvsiv.  (le- 
naueres  darüber  s.  unt.  Kap.  111''.  —  Hierher  gehört  endlich 
auch  die  bekannte,  ebenfalls  von  Aristoteles  (Met.  A  5  986* 
i5ff.  =  Dikls  a.  a.  0.  I,  271,  i7ff'.)  bezeugte  Tafel  der  10 
elementaren  Gegensätze  {aQiaC),  nämlich  i  niqag  xal  utibiqov. 

—  2  TieQLTTOv  xcci  aQTiov.  —  3  'ev  xal  nlrjd^og.  —  4  de^ibv 
xai  ccQiöTeQÖi'.  —  5  ccqqsv  xal  d'i^lv.  —  6  r}Q6uovv  xal 
xivov^evov.  —  7   sv&v  xal   xaincvXov.   —   8  cpüg  xal   6x6x0$. 

—  9  aya^bv  xal  xaxöv.  —  10  rszQäyavov  xal  iteQÖfirjxeg. 

h)  Die  Siebenzahl. 

Aus  Gründen  der  Methode  betrachten  wir  die  Hebdo- 
maden der  Pythagoreer  erst  nach  ihren  Dekaden,  um  beide 
Zahlen  als  arithmetische  Hauptgrößen  und  mächtige  Kon- 
kurrentinnen zu  erweisen,  was  für  die  richtige  Beurteilung 
einiger  bedeutsamer  Zeu<)fhisse  von  Wichtigkeit  ist. 

Auch  hier  haben  wir  wieder  festzustellen,  daß  die  Or- 
phiker  ebenso  wie  hinsichtlich  mehrerer  anderer  Zahlen  (^be- 
sonders der  I,  6,  9  und  10)  auch  in  bezug  auf  die  Wer- 
tung der  Siebenzahl  Vorgänger  und  Lehrer  des  Pjthagoras 
und  seiner  Schüler  gewesen  sind  (s.  Hebdomadenlehren  S.  19 f.). 
So  sehen  wir  vor  allem  die  siebentägige  Frist  im  Kultus  und 
Mythus  der  Orphiker  eine  bedeutsame  Rolle  spielen,  denn 
nach  Ovid  (Met.  10,  73)  soll  Orpheus  selbst  nach  dem  Tode 
seiner  geliebten  Eurydike  7  Tage  gefastet  haben,  ein 
Sagenzug,  der  beweist,  daß  in  den  Kreisen  der  Orphiker 
siebentägige  Fasten  üblich  waren ^^).    Eine  sehr  willkommene 

89)  Da  die  Orphik  aus  Thrakien  stammt,  ist  eb  vielleicht  von 
Wert,  daran  zu  erinnern,  daß  auch  dort  wenigstens  in  der  Viehzucht 


71,  s]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         57 

Bestätigung  dieser  Annahme  bietet  uns  der  aus  einem  Grabe 
bei  Thurioi  stammende  orphische  Demeterhymnus,  worin  der 
Persephone  Rückkehr  zur  Mutter  verheißen  wird,  wenn  sie 
ein  siebentägiges  Fasten  auszuhalten  imstande  sei.  Ferner 
lautet  ein  von  lo.  Lydus  (de  dieb.  2^  11)  angeführter  orphi- 
scher  Vers  (Abel,  Orphica  fr.  148): 

'Eßö6{i7],  rjv  £(plh]ösv  avai,  sy.dsQyog  'y^TtöXlcov. 
Bei  den  überaus  nahen  Beziehungen  der  Orphiker  zu  Delphi 
und  dem  dortigen  Apollonkult  dürfen  wir  wohl  unbedenk- 
lich annehmen,  daß  sie  wie  die  siebentägige  Frist  bei  Fasten 
so  auch  die  apollinischen  Festtage  am  7.  jedes  Monats  ge- 
Avissenhaft  beobachtet  haben.  Aber  auch  der  delphische 
Dionysoskult  und  Mythus  hat  deutlichen  Einfluß  auf  die 
orphische  Lehre  ausgeübt;  man  denke  an  die  orphischen 
Legenden  von  den  7  männlichen  und  7  weiblichen  Titanen, 
die  den  jugendlichen  Dionysos-Zagreus  in  7  Stücke  zerreißen 
und  diese  dann  auf  7  Bratspieße  aufspießen,  um  sie  zu  braten 
und  zu  verzehren  (Lobeck,  Agl.  557).  Auch  schrieben  sie 
dem  Dionysosknäblein  sTcrä  naidagicbdi]  a^vQnaxa  zu,  mit 
denen  es  gespielt  haben  sollte  (Lobeck,  Agl.  555 f.). 

Im  vollkommenen  Einklang  damit  stehen  nun  die  viel 
zahlreicheren  Hebdomaden,  die  wir  in  der  Lehre  und  der  Lebens- 
praxis der  Pythagoreer  antreffen  und  die  meist  auf  uralten 
religiösen  Kultgebräuchen  oder  auf  ebenfalls  sehr  alten  Volks- 
anschauungen beruhen.  Auch  hier  beginnen  wir  wieder  mit 
einer  Übersicht  über  die  hebdomadischen  Fristen,  die  in  der 
Lehre  und  Praxis  der  Pythagoreer  vorkommen. 

Auf  eine  apollinische  Feier  am  Siebenten  jedes  Monats 
beziehe  ich  unbedenklich  die  von  Timaios  (s.  fr.  82  M.)  bei 
Athenaios  522 <=  überlieferte  Nachricht  von  dem  Aufenthalt 
des  Demokedes,  des  bekannten  Pythagoreers  und  Leibarztes 
des  Darius  I  Hystaspis,   in  Kroton:   UsQßLxriv  exc3v   ßroXrjv 

siebentägige  Fristen  üblich  waren.  Vgl.  Aristot.  bist.  an.  8,  6,  3:  Ol 
di  ©(jü^sg  niaivovoi  [die  Scbweine]  xjj  (liv  Tigarj]  itislv  Siöövrsg,  slttt 
äiaXEiTtovTsg  rj^^gav  ^liccf  xb  Ttgwvov,  fisrcc  6i  tavTu  ovo  ^  sira  rgslg 
xal  zizTUQug  ^ixQ''  "^^^  intd. 


:^8  Wii-ii.  II.  KusciHKu:  [71,5 

:TFQiSQXf'^<*''  ^"'^'  tßdö^aig  rovg  ßco^ovs  ^itä  rov  TCQvriivfcos 
(DlELS,  Vorsokr.  ^I  S.  656).  Da  Krotou  einer  der  Ilaupt- 
mittelpunkte  der  Orpliik  uiul  des  Pytlm<,'()reisnuiB  und  zu- 
iT-leich  ein  durch  den  Kult  des  pythisehen  Ai)()llon  aus- 
gezeichneter Ort  war**"),  so  ist  kaum  zu  bezweifeln,  daß  es 
siih  in  diesoni  Falle  um  einen  krotoniatischeu  ApoUokult 
am   siebeuten  Monatstage  handelt. 

Ferner  findet  sieh  bei  Aristoteles  (Met.  14,  6)  die  den 
Pythagoreern  zugeschriebene,  aber  offenbar  aus  weit  älterer 
Volksüberlieieruug  stammende  Lehre:  iv  BTrtä  (ßreöiv^  6- 
öövTtt^  ßäkku  <ö  av&Qa:!tog}\  vgl.  Solon  fr.  27B.  und  oben 
S.  iö-  Wenn  sodann  derselbe  Aristoteles  (Met.  12,  4,  3)  be- 
hauptet, daß  die  Pythagoreer  eine  gewisse  Zahl  als  KaiQÖs 
bezeichnet  hätten,  so  kann  damit  nur  der  siebente  Tag  in 
Krankheiten  gemeint  sein,  der  zweifellos  bereits  in  der  ältesten 
Volksmedizin  der  Griechen  die  Rolle  eines  kritischen  Termins 
erster  Ordnung  gespielt  hat''^),  weshalb  die  Heptas  auch 
ji^i/vä  (NCxrj,  naiavCa,  'TyCsLo)  oder  Kqlöls  oder  IdÖQÜöxEia 
crenannt  werde  (Philol.  fr.  20  DielS  u.  Hebdomadenlehren 
S.  28 f.).  Man  denke  auch  an  die  Bezeichnung  der  kritischen 
Tage  als  'pythagorici  numeri'  bei  Celsus  de  med.  3,  4  p.  81 
Dakemb.,  womit  in  erster  Linie  die  Hebdomaden  gemeint 
sind  (mehr  Hebdomadenlehren  S.  29 f.).  Eine  ganz  besondere 
kritische  Bedeutung  kommt  der  heptadischen  Tagefrist  in  der 
echtpythagoreischen  Lehre  vom  partus  major  zu  nach  Varro 
bei  Censorinus  de  die  nat.  11.  Danach  dauert  die  erste 
Periode  der  Entwickelung  des  Fötus,  d.  h.  dessen  milchartiger 
Zustand,  7,  seine  körperliche  Gestaltung  aber  40  Tage.  Multi- 
pliziert  mau   nun    diese   40   Tage   mit    7,   so   erhält   man  die 

90)  S.  oben  S.  28  Anm.  49. 

91)  Das  hohe  Alter  des  siebenten  kritischen  Tages  erkennt  man 
unter  anderem  an  der  statistisch  erwiesenen  Tatsache,  daß,  je  älter 
die  Verzeichnisse  der  kritischen  Tage  sind,  um  so  mehr  darin  die  heb- 
domaiUschen  Termine  überwiegen  (Hebdomadenlehren  S.  66f.).  Dar- 
aus erhellt  wiederum  das  hohe  Alter  der  hippokratischen  Schrift  von 
der  Siebenzahl,  die  in  dieser  Hinsicht  noch  auf  dem  Standpunkt  der 
ältesten  knidiechen  Ärzte  steht  (s.  ob.  S.  40  f-)- 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  59 

280  Tage  oder  40  Hebdomaden  der  Norraalschwangerschafts- 
dauer.  Daun  heißt  es  weiter  bei  CeDSoriüus:  sed  quoniam 
\  ultimae  illius  hebdomadis  primo  die  editur  partus,  sex  dies 
decedunt  et  ducent.  septuag.  quartus  observatur.^^)  Diese  Zahl 
(274)  aber  stellt  fast  genau  drei  Viertel  eines  Jahres  von 
365  Tagen  dar,  insofern  die  Differenz  zwischen  365  und  274 
gerade  91  Tage  beträgt  und  diese  91  Tage  fast  genau  ein 
Vierteljahr  ausmachen  (91x4  =  364).  Wie  es  scheint,  liegt 
also  auch  dieser  Bestimmung  des  partus  major  genau  ge- 
nommen ein  Produkt  der  7  zugrunde,  insofern  es  sieh,  wie 
auch  Ceusorinus  ziemlich  deutlich  zu  verstehen  gibt,  ur- 
sprünglich wohl  kaum  um  274,  sondern  vielmehr  um  280, 
also  um  40  Hebdom aden  oder  7  Tessarakontaden  handelte. 
Die  Zahl  280  ist  demnach  nur  deshalb  künstlich  in  274  um- 
gewandelt worden,  weil  es  darauf  ankam,  für  den  partus 
major  eine  Ziffer  zu  erhalten,  die  möglichst  genau  drei  Vierteln 
des  365tägigen  Jahres  eutspricht.^^J  Überhaupt  müssen  die 
hebdomadischen  Fristen  in  der  Biologie  der  Pythagoreer  be- 
sonders zahlreich  gewesen  sein  nach  dem  Zeugnis  des  Syria- 
nus  in  Met.  XHI  p.  121  (=  Lobeck,  Agl.  p.  724):  „Pytha- 
goras  multa  divina  de  septenario  dicens  ostendit,  quo 
pacto  natura  per  Septem  annos  aut  menses  aut  dies 
plurimas  huius  modi  rerum  perficit."^"^)  Nach  TertuUian  (de 
au.  28)  soll  Pythagoras  selbst  7  Jahre  lang  verborgen  in 
einer  Art  Grabeshöhle  (subterraneo  latitat)  gelebt  haben,  wo- 
mit man  die  siebenjährige  Abwesenheit  des  Aristeas  nach 
Herod.  4,  14  vergleichen  kann.^^) 

92)  Mehr  Hebdomadenlehren  S.  35  Anm.  51. 

93)  Mehr  Hebdomadenlehren  S.  35  Anm.  52,  wo  auch  auf  Ps.- 
Hippocr.  TT.  ETTTcfi.  a.  Anfang  hätte  hingewiesen  werden  können. 

94)  Den  griechischen  Wortlaut  s.  jetzt  in  der  Berliner  Aristoteles- 
ausgabe V  p.  940'',  28,  wo  es  heißt:  ngägog  y,sv  6  IIvQ-  ayög  e  log 
jtoXla  xat  GSfivcc  kccI  d-eongSTir]  itsgl  kiträdog  sinwv  ovSs^iä  roLavriß  XQV- 
xui  anodöcsi,,  dsiKvvai  äs  cuvsrcös,  ojiag  rj  cpvaig  dt'  snzä  ixäv  rj 
^-qvciv  7]  TJfifpmv  nXclGtcc  xoiovxoiv  itgccyiiäxcov  xsIbloZ  t)  ^sxaßäXXst. 
Vgl.  dazu  Hebdomadenlehren  S.  39! 

95)  Vgl.  CoRSSEN,  Rh.  Mus.  191 2  S.  23  n.  43. 


6o  WiMi.  H.  UosciiKii:  [7',  5 

Au  diese  hebdomiulischeii  l'^risten  der  })ythii^oreise,lien 
Lelire  und  Leben.sliilirun>r  reihen  sieh  noch  viele  weitere 
hebdoniiidisehe  Hestinunun<;eD  au,  auf  deren  ausführliche  Be- 
sprechung ich  hier  deshalb  leicht  verzichteu  kann,  weil  diese 
bereits  in   »len   llebdoniadenlehren  S.  240".  erfoli^t  ist. 

a)  Daß  die  Theorie  vou  den  7  Vokalen,  7  Saiten  oder 
Harmonien  (fVr«  q)coi>tJ£VTa^  inxä  xoqÖckI  1]  uq^iovi'ui)  und  den 
7  PK'jailen  in  der  älteren  Literatur  der  Pythagnreer  eine 
Rolle  gespielt  hat,  erfahren  wir  durch  Aristoteles  (Met.  14, 
0;  DiELS,  Vorsokr.  -I,  275,  34).  Die  7  Vokale  und  7  IMe- 
jadeu  sind  uatürlich  vorpythagoreische  Heptaden.  Dagegen 
haben  wir  als  die  eigentliche  Errungenschaft  des  Pythagoras 
und  seiner  Schule  die  Lehre  von  den  auf  dem  Vergleiche  der 
vermeintlichen  7  beweglichen  Sterne  (Planeten)  und  deren 
(angenommeneu)  durch  ihre  Bewegungen  oder  Schwingungen 
hervorgebrachten  harmonisch  gestimmten  Töne  mit  der  Har- 
monie der  7  Töne  des  Heptachords  anzusehen,  eine  über- 
aus wichtige  und  originelle  Theorie,  die  wir  später  in  einem 
besonderen  Abschnitt  genauer  betrachten  müssen,  zumal  da 
sie  offenbar  unserem  hippokratischen  Hebdomadiker  noch  ganz 
unbekannt  ist.  Ferner  erinnere  ich  an  die  'septem  bona'  der 
brassica  Pythagorea,  die  Cato  de  r.  r.  157,  i  Keil  er- 
wähnt (Hebdomadenlehren  S.  41),  und  die  höchst  wahrschein- 
lich auf  einer  ganz  persönlichen  Ansicht  und  Lebenserfahrung 
des  Pythagoras  beruhen,  endlich  an  die  7  aQt%-aoi  (Zahlbe- 
griffe), 7  öocfCai  (=  ^söötrjreg),  7  xivrjßsLg,  j  Waschungen 
usw.,  die  als  pythagoreisch  wohl  bezeugt  sind  (Hebdomaden- 
lehren  S.  43). 

Schließlich  haben  wir  in  diesem  Zusammenhang  noch 
jenes  bekannten  von  der  Bedeutung  der  Siebenzahl  handeln- 
den Bruchstücks  des  Philolaos  zu  gedenken,  das  DiELS  zwar 
(Vorsokr.  I  S.  2  46  f.)  für  „zweifelhaft"  erklärt  hat,  das  aber, 
wenn  es,  wie  ich  mit  andern  annehme,  echt  ist,  eine  ganz 
besonders  hervorragende  Stellung  der  Siebenzahl  unmittelbar 
neben  der  Zehn  (s.  ob.)  innerhalb  der  pythagoreischen  Zahlen- 
theorie bezeugen  dürfte. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         6r 

Es  lautet  bei  Philo  de  opif.  loo  p.  34,  10  Cohn:  dt'  rjv 
aitCav  ol  ^ev  äkkoi  cpiXoöoq^oi  tbv  ägtO-fibv  rovrov  f|o- 
^otovöt  rfj  a^TJroQi  Nixt]  xal  UaQ^ivc)  \='A&riva\,  ?jv 
kx,  rfjg  xov  /iioq  xeq)al'tjs  Kvaq)avf}vaL  Xoyog  f'^ft,  ol  de  IIv- 
^•ccyÖQSLOi  xS)  riyeiiövi  xäv  öv^ndvxcov  '  xb  yaQ  ^-^ts  ysvv&v 
H't]X£  ysvvco^evov  äxCv^xov  nivst  xxl.  ^uqxvqsI  de  ^lov  rä 
Xöyc3  xal  0L}.6Xccog  iv  xovxoig ' 

£<3XL  yaQ  rjyefiGJV  xal  ag^cov  aitdvxaVj  ^■eog,  ^^s,  ael  cbv,  fi6- 
vifiog^  dxCvfjxog^  avxbg  iavxa  ö^ioLog,  ^Tfpog  xäv  dlXav. 
Aus  derselben  Quelle  (Poseidonios)  stammt  Lydus  de  mens. 
2,  12:  oQd^äg  ovv  di.itjxoQa  xbv  snxä  aQtd-iibv  6  ^iXöXaog 
jtQoörjyÖQSvöe  '  ^ovog  yccQ  ovxe  yevväu  ovxe  yevväö&ai  ne- 
<pvxe'  xb  de  ^r]xe  yevv&v  ^iqxe  yevvä^evov  dxLvrjxov  sv  xi- 
vTjöei  yaQ  rj  yevvi]6ig,  xb  ^ev  IW  yevvrjör},  xb  dh  Iva  yevvrjdfi. 
xoLovxog  de  6  d'sog,  äg  xal  avxbg  6  qtjxcoq  6  TaQavxlvog' 
q}r]öl  de  ovxcjg  '  eöxi  —  o^otog.  Ahnlich  auch  Anatol.  de 
decade  p.  35  Heiberg:  eßdo^äg  ^övtj  t&v  evxbg  dexddog  ov 
yevva  ovte  yevvdxai  vtc  allov  aQid^^ov  %kriv  vitb  fiovddog " 
dtb  xal  xaXelxai  vnb  x&v  TIv&ayoQeLCOv  jcaQd-evog  d^7]tG}Q. 
Was  zunächst  die  äußere  Beglaubigung  dieses  Bruchstücks 
als  echt  philolaisch  anlangt,  so  ist  es  so  gut  wie  sicher,  daß  sowohl 
Philo  als  auch  Lydus  und  Anatolios  direkt  oder  indirekt  aus  dem 
an  ähnlichen  Zeugnissen  überaus  reichen  Kommentar  des  Posei- 
donios  zu  Piatons  Timaios  geschöpft  haben.  Ich  verweise 
in  dieser  Beziehung  auf  meine,  Schmekels  und  BoRGHORSTS 
Arbeiten  verwertenden,  Ausführungen  in  den  Hebdomaden- 
lehren  S.  logff  und  ii4if.,  wo  noch  weitere  von  Diels  a.  a. 
0.  weggelassene  Zeugnisse  des  Clemens  Alexandrinus,  Favo- 
nius  Eulogius,  Nikomachus  Gerasenus,  Macrobius  usw.  an- 
geführt sind.  Auch  der  ans  Religiöse  streifende  gehobene  Stil 
des  Bruchstücks  entspricht  durchaus  der  Art  des  Philolaos. 
Man  vergleiche  damit,  was  derselbe  Philolaos  in  fragm.  11 
(Diels,  Vorsokr.  ^1,  243,  3)  von  der  mit  der  Heptas  kon- 
kurrierenden Zehnzahl  sagt:  d^ecoQetv  del  xa  eQya  xal  xijv 
ovöCav  Tö  dQid'piG)  xdxxdv  dvva^iv  dxig  koxlv  iv  xa  dexddu ' 
^eydXa  yuQ  xal  jtavxeXijg  xal  navxoeQybg  xal  d^eico  xal 


i 


62  WiiM.  TT   Kosciikh:  [71,5 

ovQavCco  ßi'io  xKi  ai'd^gconi'vo)  Äqx^^  \— ndtSQ  ^axKQcov, 
:TaT£Q  ttj'dQÖJv  bei  Lyd.  de  dieb.  2,  10;  s.  ob.  S.  49  u.  55]  xal 
ccyf^Lcov  xoLvcavovött  .  .  .  dvvafitg  xal  rag  öfxdÖog.  avev  öh 
T«i''ra?  Ttttvr'  ÜTteiQ«.  xai  adi]Xa  xai  drpccvfj.  Wenn  mit  diesen 
in  gehobener  Sprai-he  vorgetragenen  Worten,  die  in  einem 
unverkennbaren  Gegensat/e  zu  der  überans  nüchternen  Aus- 
drncksweise  unseres  hippokratischcn  Ilobdoniadikers  stellen, 
der  Bedeutnng  der  Zehnzalil  entsprechend,  diese  mit  Zeus, 
dein  Vater  der  Götter  und  Menschen,  identifiziert  wird,  so 
ist  es  ebenso  naheliegend  und  begreiflich,  daß  Pbilolaos  durch 
die  Gleichsetzung  der  Siebenzahl  mit  Athena,  der  einzig- 
artiffen  geliebten  Tochter  des  Götterkönigs,  dieser  unter  samt- 
liehen  Zahlen  die  zweite  Stelle  nach  der  Dekas-Tetraktys  zu- 
weisen wollte.  Für  eine  solche  hervorragende  Sonderstellung 
beider  Zahlen  spricht  übrigens  auch  ein  interessantes  Frag- 
ment des  Pythagoreers  Hippon  von  Metapont,  das  uns  Cen- 
sorinus  (de  die  nat.  7,  2  H.  =  Diels,  Vorsokr.  ^I  225,  5) 
glücklich  aufbewahrt  hat: 

Hippo  MetapontinuB  a  septimo  ad  decimum  mensem  nasci 
posse  aestiuiavit.  nam  septimo  partum  iani  esse  maturum  eo  quod 
in  Omnibus  cumerus  septenarius  plurimum  possit,  siquidem 
Septem  formemur  mensibus  additisque  alteris  recti  consistere  in- 
cipiamus  et  post  septimum  mensem  dentes  nobis  innascantur  idem- 
que  post  septimum  cadant  aunum,  quarto  decimo  autem  pubescore 
soleamus.  sed  hanc  a  septem  mensibus  incipientem  maturitatem  neque 
ad  decem  perductam  ideo  quod  in  aliis  omuibus  haec  eadem  natura 
est,  ut  Septem  mensibus  annisve  tres  aut  menses  aut  anni  ad  con- 
suuimationem  accedant:  nam  dentes  septem  mensum  ini'anti  nasci  et 
maxime  decimo  perfici  menae,  septimo  anno  primos  eorum  excidere, 
decimo  Ultimos,  post  quartum  decimum  annum  nonuuUos,  sed 
omnes  intra  septimum  decimum  annum  pubescere. 

Es  ist  klar,  daß  auch  diese  Theorie  echt  pythagoreisch 
ist  und  beide  Zahlen  als  gleichbedeutsam  und  gleichberechtigt 
erweisen  sollte.  Die  einzige  Schwierigkeit,  die  Diels  zum 
Zweifel  an  der  Echtheit  des  philolaischen  Bruchstücks  ver- 
anlaßt zu  haben  scheint,  besteht  darin,  daß  Philo  a.  a.  0. 
einen  Gegensatz  zwischen  den  äXlot  cpiXöaocpoi  und  den 
Pythagoreern  konstruieren   will,   von   dem   wir  sonst  absolut 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  63 

nichts  erfahren.  Wie  ich  schon  Hebdomadenlehren  S.  114 
Anm.  178  dargelegt  habe,  liegt  hier  offenbar  ein  Verderbnis 
oder  Mißverständnis  Philos  vor.  Nach  den  sonstigen  Zeusf- 
nissen  sollte  man  bei  Philo  erwarten  oi  [lev  ccXXol  Ilvd^ayö- 
QELOL  ....  6  de  0i,Xölaog  reo  rjys^ovi  tcov  6.  .  .  .  Daß  es 
sich  wirklich  so  verhält,  lehrt  Philo  selbst  leg.  alleg.  i ,  5 : 
7}  8i  ys  ißöoaäg  ovrs  ysvvä  riva  tcbv  evTog  ösxccdog  aoid-- 
fiäv^  ovTS  ysvvätai  v%6  xivog^  naQ  b  ^vd^evovtsg  ol  Ilvd'a- 
yoQSiOL  rfj  ast^UQd'EVG)  xal  a(i')]TOQi,  avxi]v  aTiSixd^ovöLV, 
Ott  ovts  ä7t£xvt]d-r]  ovt£  dTtors^stat. 

Sehr  wohl  möglich  und  denkbar  dürfte  es  jetzt  jedem 
Unbefangenen  erscheinen,  daß  Philolaos  und  vielleicht  sogar 
Pythagoras  selbst  bei  ihrer  hohen  Schätzung  der  Siebenzahl 
Schriften  wie  die  unseres  hippokratischen  Hebdomadikers  und 
seiner  unmittelbaren  teils  philosophischen  teils  medizinischen 
Nachfolger  —  man  denke  an  ir.  öaQxmv,  tcsqI  STtTa^tjvcov  usw. 
—  berücksichtigt  haben.  Die  entgegengesetzte  Annahme,  daß 
der  hippokratische  Kosmologe,  dessen  primitive  Weltkarte 
Bchon  Ermerixs'  und  Pfeiffers  Auffassung  gründlich  wider- 
legt, von  dem  hinsichtlich  der  Zahlenlehre  wie  der  Welt- 
anschauung so  viel  weiter  fortgeschrittenen  Philolaos  ab- 
hängig sei,  kann  schon  von  den  hier  geltend  gemachten 
Gesichtspunkten  aus  als  völlig  unhaltbar  und  antiquiert  be- 
trachtet werden. 

III.  Astronomisches. 

a)  Die  Gestirnlehre  des  Hebdoniadikers. 

Um  über  diesen  besonders  schwierigen  Abschnitt  der 
Schrift  7C.  ißdoadöojv  klar  zu  werden,  müssen  wir  unbedingt 
von  dem  überlieferten  Wortlaut  in  Kap.  II  (s.  meine  Ausgabe 
S.  5)  ausgehen.  Dabei  sind  aber  auch  zugleich  BOLLs  namentlich 
in  Einzelheiten  wertvolle  Erläuterungen  und  Übersetzungen, 
die  er  bald  nach  dem  Erscheinen  meiner  Ausgabe  in  seinen 
„Lebensaltern"  S.  53 ff.  gegeben  hat,  in  Betracht  zu  ziehen. 
Wir  können  daher  im  Interesse  der  Sache  kaum  besser  ver- 


64  Wii.ii    II.  H(is<nKu:  (7'i  5 

fiihren,  als  wenn  wir  zuniii-hst  don  «^ricchiscluMi  Wortlaut  mit 
den  uu/weifoUiaftmi  KiinMuliitionen  Hokls  und  dessen  deutsohe 
Üborset'/ung  der  einzelnen  Sätze  nebeneiiumder  stellen  und 
sodann  die  wichtif^sten  l'irläuterun^en  des  von  Bkuostuässku 
tretl'lieh  heraus<re«rehenen,  auf  griechischen  Quellen  beruhen- 
den arabischen   Kommentators  folgen  lassen. 

I  II 

'H  n^v  yi)  ovaa  fiiff?]  xal  6  Ölvft-  Die  Knie,  die  in  der  Mitte  steht, 
Tttoe  xÖG^O'i  vTTUTog  wv  «ifl  "')  üxi-  und  die  Welt  des  Olymps,  die  zvi 
rrjrä  ioTtr  •  fi  Sk  öf/l^'vTj  /«^ff»]  ovda  obcrst  lii'},'t,  sind  stets  unbewegt; 
owagiiö^si  ctvrä  '  Tfti/i.«  Ttdvta  fv  der  Moud  aber,  der  in  der  Mitte 
&i.X7]i.oiai,  Jwvra  xal  öi'  &UriXwv  steht,  verbindet  sie.  Das  andere 
SuövTu  avrö:  [tu]  vqp'  kcovTwv  xai  alles  lebt  ineinander  und  geht 
iitb  rcbv  &sl  övtcov  ^r}Ldiag  [äidicov]  durcheinander  und  wird  von  seiest 
KiVEiTut.  und    von    dem    Ewigen    leicht   be- 

wegt. [Boll:  Das  'Ewige'  sind  die 
Sterne,  die  die  Luft,  und  das  Wasser, 
die  Witterung,  beeinflussen,  während 
sie  selber,  die  Sterne,  sich  selbst 
bewegen.] "') 

[Von  den  Planeten:  Boll]. 

Tä     zoivvv     aarga    tcc    oigävia  Die   himmlischen    Gestirne    also, 

^Tcra    iövTcc^^)    ra^iv    ^x^i   tf)    ribv  die    7   sind,    haben    ihre    Ordnung 

agidiv       ^^Sox^       iif(iseiG(isvriv^^),  durch     die     Aufeinanderfolge    der 

(^waneg   Kcttä   wgcc?  agiofifvag  ccko-  Zeiten    im   Jahre    eingeteilt,    <^wie 

Xovd-hiy    ceX-^vr]    [Hs:  MENMlHCj  in   gemessenen   Zeiten    folgt)   dem 

fiiv  r/Xios,  TjXia}  öh  GsXrivri.  Monde   die   Sonne   und    der   Sonne 

der  Mond. 

96)  So  BoLL  statt  des  überlieferten  vitb  togwvSs.  Auf  vnatog  wv 
führt  namentlich  die  lateinische  Übersetzung,  die  hier  bietet:  olym- 
p<^i)u8  mundus  summitatem  tenens,  wie  schon  Härder  erkannt  hat. 

97)  Anders  leb  in  meiner  Abhandlung  über  Alter  usw.  S.  74: 
VTib  ttSv  &sl  <[7tvys6vtcov  .  .  —  Vgl.  7t.  cpva.  3:  riXiov  kocI  arjXrjvrig  xa/ 
aargcov  oöbg  öiä  tov  Ttvevficcrög  iativ.  Mehr  in  meiner  Abhandlung 
über  Alter  usw.  S.  74  Anm.   146. 

98)  Bergsträ.sser  S.  13:  Auch  die  Sonne  und  die  andern  7  Sterne 
[Mond,  Arktos,  Arkturos  usw.]  gehen^  durch  die  Sphäre  der  Tierkreis- 
zeichen. 

99)  So  BoLL.  Die  Handschrift  bietet:  r^s  täv  mgsav  ivdoxVS 
lLBit,igi6nsvr]g. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebexzahl.         65 

[Von  den  Fixsternen:  Boll]. 

kKoXov&hi    6h   ylgyiTog  jj5   'Aqk-  Es    folgt    aber    tlie    Bärin    dem 

TovQO)    axolov&ir^v   i'arjv    wansQ  kuI  Bärenhüter  in  gleicher  Art  wie  der 

rjXico   6sXi]VTi,  ai  ös  ÜXBiäSig  xficiv  Sonne  der  Mond,  und  es  folgen  die 

'TÜGiv  ccKolov^-sovaiv,  rü  Ss  'Slgiavi-  Plejaden  den  Hyaden  und  dem  Orion 

6  Kvwv.  der  Hund. 

[Das  gegenseitige  Verhältnis  von  Planeten  und  Fixsternen:  Boll]. 

Tavrcc  8h  tu  actga  &ycoXov&ir}v  Diese  Gestirne  aber  —  [Fixsterne 
^X^i  ccXX'^Xoiai  Kai  ivavticoaiv  '  xal  u.  Planeten  zusammen]  —  folgen 
yccQ  ^1  EtiöoyjjS  [Hs:  ix  dB^ifjg]  rfjg  einander  und  haben  entgegenge- 
täv  caQicov  tTSQoiÖDasws  [Hs:  iaregi-  setzten  Lauf:  denn  nach  der  Folge 
6ioe\  oSsvovaiv,  coßts  jXTj  r^v  avrrjv  der  Veränderung  der  Jahreszeiten 
ardaiv  t';uftr  odov  rä  aexQu.  marschieren  sie,   so  daß  nicht  im- 

mer den  nämlichen  Standplatz  am 
Wege  haben  die  Gestirne. 


-ö^ 


Ps. -Galen  übers,  von  Bergsträsser. 

S.  33  (Text  des  'Hip^jokr.'):  Was  die  übrigen  Dinge  anlangt,  so 
leben  sie  voneinander  und  bewegen  sich  ineinander 

S.  35  (Text  des  'Hippokr.'):  Die  himmlischen,  irrenden  [T?]^"**) 
Sterne  sind  sieben,  und  sie  sind  die  Ursache  der  Jahres- 
zeiten. 

S.  37  (Kommentar):  Hippokrates  teilt  die  7  Sterne  in  Teile;  er 
spricht  nämlich  davon,  daß  der  erste  Teil  die  Sonne  ist,  und  daß  der 


100)  Hier  muß  ein  gewaltiges  Mißverständnis  des  arabischen 
Kommentators  oder  seiner  Quelle  vorliegen;  denn  erstens  ist  es  ja  Un- 
sinn, zu  behaupten,  daß  —  abgesehen  natürlich  von  der  Sonne  —  die 
übrigen  6  Planeten  (^lond,  Venus,  Jupiter,  Saturn  usw.)  Ursache 
der  Jahreszeiten  seien,  und  zweitens  findet  sich  weder  im  grie- 
chischen Urtext  noch  in  der  lateinischen  Über.-etzung  (signa  celestia 
Septem)  ein  Ausdruck,  der  auf  die  Planeten  (Irrsterne)  hindeutet.  Es 
kommt  hinzu,  daß,  wenn  man  die  5  Planeten  zu  den  angeführten  4 
Paaren  (Sonne — Mond,  Arktos — Arkturos  usw.)  noch  hinzurechnet,  die 
Hebdomadentheorie  aufs  gröblichste  verletzt  wird,  und  daß  offenbar 
unser  Hebdomadiker  von  der  pythagoreischen  Siebenzahl  der  Planeten, 
von  denen  er  nur  Sonne  und  Mond  kennt  und  benennen  kann,  keine 
Ahnung  hat:  ein  deutlicher  Beweis,  daß  er  älter  ist  als  Pythagoras 
und  dessen  Schule.  Es  ist  nicht  im  geringsten  zu  bezweifeln,  daß  er 
als  einseitiger  Theoretiker  der  Siebenzahl  nicht  versäumt  hätte,  die 
Siebenzahl  der  Planeten  und  die  pythagoreische  Sphärenharmonie  für 
seine  Zwecke  zu  verwerten,  wenn  er  sie  gekannt  hätte. 

PhiL-hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  5.  c 


66  Wu.ii.  II.  KosciiKit:  I7'i5 

Mond  ilcr  Sonne  folgt  Er  meint  mit  diesen  seinen  Worten  die  R])liilre 
der  Tiorkreiszeiclicn,  weil  die  Soniu'  mul  der  Mond  in  ihr  schwimmen 
und  sie  nicht  verlassen,  und  elu-nso  verlassen  die  ül)ri^'eu  irnnden 
[VV]'"")  Sterne  diese  Sphäre  nieht. 

S.  39  (Kommentar):  Und  wißt,  diiß  oh  unter  den  Krkiiirern  welche 
fjibt,  die  die  Worte  des  Hi|)|)okrates  erklären  und  sai,'eii:  er  meint 
damit  nur  die  Sonne  und  den  Mond,  weil  sie  eine  besondere  Be- 
wejjiiiifx  haben,  die  die  i'ibri^en  [liier  jijonaiuiten  Sterne:  Arktos,  Ark- 
turos,  IMejaden  usw  )  nicht  haben;  aber  ilire  Worte  sind  vorkehrt.  l)enn 
wenn  jemand  etwas  von  den  Worten  der  Frülieren  klarmachen  will, 
so  ist  es  seine  Pflicht,  es  klarzumachen  von  tlen  zahlreii  h-ten  Dingen 
aus  [also  von  den  Fixsternen  Arktos  usw.  aus],  niciit  von  den  wenip^sten 
[d.  i.  Sonne  und  Mond].  Di'nn  wir  sehen  die  nicht  irrenden  Sterne 
zahlreicher  als  die  irrenden;  dem  entsiirecliend  müssen  wir  die  Worte 
des  Hippokrates  schreiben.  Denn  die  nicht  irrenden  Sterne  [und 
die  Sonne!]  sind  es,  die  die  Jahreszeiten  hervorrufen  und 
ihre  Ordnung  bereiten. 

S.  43  (Text  des  'Hippokr.'):  Die  Sterne  bewegen  sich  in  der  Sphäre 
auf  verschiedene    Art. 

Kommentar:  Er  meint  hier  die  Sonne,  denn  sie  ist  es,  die  sich 
in  ihrem  Lauf  bewegt;  und  auch  der  Mond  hat  in  der  Sphäre  eine 
besondere  Bewegung  ....  Damit  aber,  daß  er  von  den  Sternen  spricht, 
meint  er  diese  beiden  Sterne  allein,  die  Sonne  und  den 
Mond,  weil  sie  beide  sich  von  einem  Ort  zum  andern  begel'en. 

Die  wichtigen  Fragen,  die  sich  an  dieses  Kapitel  Icuüpfen 
und  deren  Beantwortung  in  vielen  Beziehungen  entscheidend 
wirken  dürfte,  lassen  sich  kurz  wie  folgt  formulieren: 

i)  Sind  hier  unter  den  7  die  7  Jahreszeiten  und  deren 
Folge  bestimmenden  Gestirnen,  wie  Ginzkl  und  ich  meinen^*''), 
die  Sonne  und  die  genannten  6  Sternbilder  (Arktos — Arktu- 
ros  usw.)  oder  mit  BoLL  die  7  Planeten  (von  denen  hier 
aber  nur  Sonne  und  Mond  genannt  werden)  und  die  6  ge- 
nannten Gestirne  (Arktos  usw.)  zu  verstehen? 

2)  Hat  BoLL  recht,  wenn  er  obige  4  Sätze,  die  ojffen- 
bar  eine  Einheit  bilden,  voneinander  trennt  und  durch  ein- 
geschobene Überschriften:  '^Von  den  Planeten',  'Von  den  Fix- 
sternen' und  'Das  gegenseitige  Verhältnis  von  Planeten  und 
Fixsternen'  in  seinem  Sinne  zu  erklären  sucht? 


10 1)  Über  Alter,   Ursprung  u.  Bedeutung   der   hippokrat.  Schrift 
von  d.  Siebenzahl  S.  76  ff. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siekenzahl.         67 

Vor  allem  ist  festzustellen,  daß  es  sich  —  der  ganzen 
Tendenz  des  Hebdomadikers  entsprechend  —  auch  hier  im 
Grunde  nur  um  eine  Siebenzahl  von  Gestirnen  handeln 
kann,  die  durch  ihre  Bewegung  oder  ihren  Auf-  und  Unter- 
gang die  7  Jahreszeiten  (cjQai)  bestimmen.  Als  solche  werden 
nun  aber  statt  7  nicht  weniger  als  8  in  vier  Paaren  an- 
geordnet aufgezählt,  nämlich  Sonne — Mond,  Arktos — Ark- 
turos,  Plejaden — Hjaden,  Orion — Kyon,  so  daß  es  sieh  fragt, 
welches  von  den  8  Gestirnen  genau  genommen  ausgeschaltet 
werden  muß,  damit  die  unzweifelhaft  beabsichtigte  Sieben- 
zahl der  für  die  Bestimmung  und  Folge  der  7  ojQai  maß- 
gebenden Gestirne  herauskommt.  Um  diese  für  das  astrono- 
mische Verständnis  des  ganzen  Zusammenhangs  wichtige 
Frage  zu  lösen,  habe  ich  mich  schon  vor  Jahren  an  Prof. 
GiNZEL  in  Berlin,  den  Bearbeiter  der  neuen  Auflage  von 
Idelers  Chronologie,  gewendet  und  von  ihm  mit  freundlichster 
Bereitwilligkeit  folgende  briefliche  Auskunft  erhalten  ^°^): 
„Wenn  die  genannten  Gestirne  zur  Andeutung  der  Jahres- 
zeiten verwendet  werden,  so  können  meines  Erachtens  ,nicht 
die  täglichen  Auf-  und  Untergänge,  sondern  nur  die  jähr- 
lichen in  Betracht  kommen,  durch  welche  ja  auch  sonst  bei 
den  Griechen  die  Anfänge  der  einzelnen  Jahreszeiten  be- 
stimmt werden,  vor  allem  die  heliakischen  Aufgänge  (wann 
die  betreffenden  Sternbilder  nach  der  Konjunktion  mit  der 
Sonne,  d.  h.  ihrer  zeitweiligen  Unsichtbarkeit  wegen  des 
Sonnenlichtes,  zum  erstenmal  wieder  sichtbar  werden).  Unter 
den  'sieben'  Sternen  sind  wahrscheinlich  gemeint: 

i)  Sonne,  2)  Arktos  (d.  große  Bär),  3)  Arktur  {a  Bootes), 
4)  Plejaden,  5)  Hyaden,   6)  Orion,   7)  Sirius. 

Die  Sonne  muß  in  der  Siebenzahl  inbegriffen  sein,  weil 
eben  sie  die  Jahreszeiten  erzeugt,  resp.  weil  die  heliakischen 
Aufgänge  der  weiter  folgend  genannten  Sterne  von  ihr  be- 
wirkt werden. 

Was  die   Folge  der   Sterne  betrifft,   so   ist    der  Mond 

102)  A.  a.  0.  S.  76  f. 

5* 


68  Wii.ii.  H.  Rosohkr:  [71,5 

natiirlirh  mit  dor  Soiiiu»  in  Vorl)iii(liiii|^,  tiii  tr  ilio  Monate 
erzeugt,  wio  dio  Soiino  das  .lalir.  \)or  Ausdruck  'der  Sirius 
folgt  dem  Oriou'  ist  richtig,  da  für  Athen  um  600  v.  Chr. 
der  heliakische  Aufgang 

des  Oriou  am   29.  .luai 
des  Sirius    „     28.  Juli 
stattfand. 

'Die  Arktos  (=  gr.  Bär)  folgt  dem  Arkturos':  Der  helia- 
kische Aufgang  des  Arktur  (=  «  Bootes)  erfolgte  am  .17. 
September  und  zeigte  bei  den  Griechen  den  Beginn  des 
Herbstes  an.  Der  gr.  Bär  geht  natürlich  seiner  nördlichen 
Stellung  wegen  für  Athen  nicht  auf  und  unter.  Aber  das 
Ende  des  Schwanzes  des  gr.  Bären  steht  über  dem  Arktur; 
und  daher  ist  die  Verbindung  Arktos— Arkturos  erklärlich. 
In  einem  alten  chinesischen  Werke  werden  die  Jahreszeiten 
durch  die  Stellung  des  Schwanzes  des  gr.  Bären  definiert: 
'Wenn  der  Schwanz  nach  Westen  gerichtet  ist,  wird  es 
Herbst,  wenn  er  nach  Osten  zeigt,  Frühjahr'  usw. 

Der  Satz  dagegen:  'Die  Plejaden  folgen  den  Hyaden' 
stimmt  nicht: 

heliakischer  Aufgang  der  Plejaden  =20.  Mai; 

„  „  „     Hyaden   =  circa  g.  Juni. 

Da  beide  Sterngruppen  nicht  weit  voneinander  entfernt 
sind,  so  wäre  eine  Verwechslung  denkbar." 

Aus  dieser  dankenswerten  Darlegung  Ginzels  folgt,  daß 
hier,  wo  es  sich,  wie  auch  sonst  fast  durchweg  bei  der 
Nennung  der  Arktos,  des  Arkturos,  der  Plejaden  und  Hyaden, 
des  Sirius  und  Orion^°^),  nicht  um  die  Bestimmung  von 
'Zeiten'  im  allgemeinen,  sondern  ganz  speziell  von  Jahres- 
zeiten {cjgai)  handelt,  aus  der  Reihe  der  8  aufgezählten 
Gestirne  der  Mond  ausgeschaltet  werden  muß,  den  man 
niemals  zur  Bestimmung  der  Jahreszeiten,  sondern  immer 
nur  zur  Bemessung  der  Monate  und  deren  Einteilung  be- 
nutzt hat.     Dagegen   muß  die   Sonne,   die  man  zur  Berech- 


103)  S.  a.  a.  0.  S.  78 f.  Anm.  IS3. 


/i,  5]      Die  hippokratischk  Schrift  von  der  Siebenzahl.         6g 

nuncr  nicht  bloß  des  Jahreslaufes,  sondern  auch  der  Sonnen- 
wenden  (tQOTiai)  und  der  Tag-  und  Nachtgleichen  von  jeher 
beobachtet  hat,  unbedingt  beibehalten  werden.  Übrigens 
konnte  jeder  Leser  hier  um  so  eher  an  die  Ausschaltung  des 
Mondes  denken,  als  dessen  Bedeutung  in  dem  unmittelbar 
vorangehenden  Abschnitte  zur  Sprache  gekommen  war.  Wir 
können  auch  darauf  hinweisen,  daß  er  auch,  als  in  der  Mitte 
zwischen  Erde  und  Himmel  schwebend  und  also  gewisser- 
maßen das  Zwerchfell  (und  den  Nabel?)  des  Kosmos  dar- 
stellend, von  unserem  Verfasser  für  den  Sitz  der  Weltseele 
gehalten  wird. 

Diese  Auffassung  Ginzels  ist  nun  von  Boll  (Lebensalter 
S.  55)  energisch  angefochten  worden,  indem  er  behauptet,  für 
eine  Teilung  von  7  Jahreszeiten,  wie  sie  der  Autor  in  Kap.  4, 
also  bald  darauf,  gibt,  seien,  wie  man  aus  Ideler,  Chronol. 
I,  252  oder  BöCKH,  Sonnenkreise  S.  76 f.  sehen  könne,  nur 
Sonne,  Plejaden  —  allenfalls  auch  Hyaden,  wie  er  hinzufüge 
—  Arkturos,  Hund  brauchbar.  'Mit  dem  großen  Bären  haben 
die  Griechen  wohl  gelegentlich  die  einzelne  Nacht,  aber  nie 
die  Jahreszeiten  gemessen,  und  in  keinem  Kalender  kommt 
er  vor,  weil  er  eben  nie  untergeht,  also  die  Bedingung  nicht 
erfüllt,  unter  der  allein  die  andern  als  Kalendersternbilder 
verwendbar  sind.' 

Gegenüber  diesen  Einwendungen  Bolls  berufe  ich  mich 
auf  einen  zweiten  Brief  Ginzels  vom  7./V.  19 18,  in  dem 
folgendes  ausgeführt  wird: 

„Betreffs  der  Frage  über  die  'die  Jahreszeiten  be- 
stimmenden Gestirne'  kann  ich  sagen,  daß  der  Mond  keines- 
falls dazu  gehört,  also  von  der  Reihe  der  8 -Zahl  aus- 
geschlossen ist.  aQxtog  die  Bärin  kann  aber  dazu  ge- 
hören, da  sich  die  Stellung  des  Bärenschwanzes 
während  eines  Jahres  um  360°  dreht.^"^)  Also  konnten 
die  Chinesen  sagen:   wenn  der  Bärenschwanz  dort  oder  dort- 


104)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  77  f.  Anm.  152  u.  f.,  wo  von  den  &qhxov  ötqo- 
qpai  usw.  die  Rede  ist. 


•jo  Wii.ii    H.  U'oscuKu:  |7'.  5 

hin  '/.t'i^t  ^^lliiHiuolsriilituii«,' ),  hc^iimt  iler  Soninior,  Winter 
usw.  (^llamll).  il.  math.  u.  tci'lin.  Chronol.  I,  qi).  tlbcrhiuipt 
brftiu'ht  ein  Gestirn  nicht  unter-  oder  aufzugehen,  um  zu  den 
die  Jahreszeit  bestimmenden  Gestirnen  zu  gehören.  Man  kann 
z.  B.  sagen,  dali  der  Winter  beginnt,  wenn  zu  einer  gewissen 
Abendzeit  irgendein  hochstehendes,  für  eine  gewisse  geogra- 
phische Breite  nicht  uutergeheiules  Sternl)ild  (hirch  den 
Meridian  des  Ortes  geht  usw.  Orion  und  IMejaden  werden 
jetzt  iu)ch  verwendet  für  Definition  vom  Anfang  der  .labres- 
zeiten,  z.  B.  auf  Java  (a.  a.  0.  II,  i28f.).  Über  die  Kollo  von 
Arktur,  Ph\jaden,  Orion  in  den  Jahreszeiten  der  Griechen 
'  habe  ich  a.  a.  0.  11,  311  ff.  gehandelt.  Auf  BoLLs  Behandlung 
des  griechischen  Textes  darf  ich  nicht  eingehen,  denn  das 
ist  eine  rein  philologische  Frage,  da  habe  ich  nicht  mit- 
zureden." 

Ich  glaube,  wir  sind  nunmehr  in  der  Kenntnisnahme  der 
vorliegenden  Überlieferung  und  in  der  Darlegung  der  in  Be- 
tracht kommenden  astronomischen  Verhältnisse  so  vireit  vor- 
geschritten, daß  wir  es  getrost  wagen  können,  die  oben 
(S.  66)  vorgelegten  Fragen  mit  einiger  Sicherheit  zu  be- 
antworten. 

i)  Es  scheint  mir  vollkommen  unmöglich,  unter  den  7 
die  Jahreszeiten  und  deren  Folge  bestimmenden  Gestirnen 
mit  BoLL  die  7  Planeten  und  die  6  genannten  Gestirne 
(Arktos — Arkturos  usw.)  zu  verstehen,  weil  nicht  bloß  die  so 
gewonnene  Summe  (13)  der  durch  den  Zusammenhang  ge- 
forderten Siebenzahl  arg  widerstreiten  würde,  sondei-n  auch 
die  Planeten,  mit  einziger  Ausnahme  der  Sonne,  auf  die  Be- 
stimmung der  Jahreszeiten  nicht  den  geringsten  Einfluß  haben. 

2)  Zwar  hat  sich  BoLL  durch  mehrere  schöne  und  ein- 
leuchtende Einzelverbesserungen  des  griechischen  Textes  ein 
unleugbares  Verdienst  erworben,  doch  kann  seine  Gesamt- 
auffassung des  Abschnittes,  insbesondere  dessen  Trennung 
durch  eingeschobene  Überschriften  'Von  den  Planeten'  usw. 
nicht  gebilligt  werden.  Vor  allem  scheint  mir  seine  Annahme, 
daß    der    Hebdomadiker  außer    Sonne    und    Mond    noch    die 


71,5]      Die  hippokratische  Schpjft  von  der  Siebenzahl.  71 

übrigen  5  erst  von  den  Pythagoreern  festgestellten  Planeten 
(Venus '°^),  Jupiter,  Saturn,  Mars,  Merkur)  gekannt  und  hier 
iv  TiaQSQya,  ohne  ihre  Namen  anzugeben,  summarisch  er- 
wähnt habe,  unbegründet  zu  sein. 

In  schroffem  Gegensatz  zu  dieser  auf  eine  hocharchaische 
Zeit  hinweisenden  Rückständigkeit  unseres  Hebdomadikers 
in  planetarischer  Hinsicht  stehen  aber  seine  sonstigen  astro- 
nomischen Anschauungen,  die  einen  höchst  beachtenswerten 
Fortschritt  wenigstens  gegenüber  Thaies  und  Anaximandros 
darstellen  und  in  Anbetracht  der  sonst  überall  nachweisbaren 
hohen  Altertümlichkeit  seines  Weltbildes  beweisen,  daß  wir 
es  hier  mit  einem  selbständigen  und  originellen  Denker  zu 
tun  haben. 

Vor  allem  ist  hier  hervorzuheben  die  hier  zum  ersten 
Male  in  der  wissenschaftlichen  Literatur  auftauchende,  ganz 
klare  und  bestimmte  Vorstellung  von  der  Kugelgestalt 
der  Erde.  Noch  Anaximander  und  Anaximenes  hatten  sich 
die  Erde  entweder  als  Säulentrommel  (xi'ovi  XC&a  Tia^uxXi]- 
6iov:  DiELS,  Vorsokr.  I,  14,  7)  oder  als  tischplattenförmig 
{nlaxBia  8ti  asQog  öioviievi]:  DiELS,  Vorsokr.  I,  18,  40)  vor- 
gestellt, während  unser  Hebdomadiker  von  ihr  behauptet: 
xarä  ^söov  di  xov  y.6(yfiov  i]  yi]  xaiutvi]  y.ul  exovöa  ev 
Ecovrf]  v.al  v(p  iojvrfj  rä  vygä  ev  ra  yisql  öxseraL,  cööre  xoiöi 
xdrco  xdds  filv  rä  ävco  [so  nach  BoLL  a.  a.  0.  S.  54]  xccra 
Hvai^  xä  8\  xccTco  avco,  ovxcy  da  di]  '£%siv  xcc  xs  ix  ös^ifig  xaX 
XU  ii,  aQLGxsQfig  d.  h.  (nach  Boll):  'so  daß  denen,  die  drunten 
sind,  daß  Hier,  das  Obere,  unten  ist,  das  Untere  aber  oben, 
und  gerade  so  es  sich  für  sie  verhält  mit  dem  Rechts  und 
dem  Links.'  Mit  Recht  macht  Nestle  in  der  Wochenschr. 
f.  klass.  Philol.    1914    (15/XI)    S.   645  ff,    darauf   aufmerksam, 


105)  Man  könnte  sich  vielleicht  darüber  wandern,  daß  unser  Verf. 
sogar  einen  so  hervorragenden  Planeten  wie  den  Phosphoros-Hesperos 
zu  ignorieren  scheint.  Aber  man  bedenke,  daß  die  Identität  des  Morgen- 
und  Abendsterns  und  damit  seine  eigentliche  Planetennatur  erst  von 
Parmenides  oder  Pythagoras  erkannt  worden  sein  soll:  Laert.  Diog. 
9,  23  =  DiELS,  Vorsokr.  *I,  106,   11  f. 


72  WiLii.  H.  Roschkr:  l7',5 

iliD  ilio  Kugelf^estiilt  dor  Erde  hior  nicht  einfach  mit  dem 
Ausdrnck  ö(fai()osid)jg  wie  hei  den  Spiiteren,  sondern  in 
eigentümlich  unheholteuer,  d.  h.  hochultertümlicher,  VV^eise  be- 
solirieben  wird. 

Wenn  freilich  Boll  (a.  a.  0.  S.  54),  um  die  Originalität 
dieser  Theorie  zu  bestreiten  und  sie  samt  ihrem  Vertreter  in 
eine  spätere  Zeit  (450 — 350)  herabzurücken,  die  skej)tische 
Fratj!:e  aufwirft:  'Ist  wohl  jemals  in  heißer  Arbeit  |?J  er- 
ruu;j;ene  neue  Wahrheit,  die  noch  2000  Jahre  später  Hohn 
und  Verfolgung  fand,  so  [d.  li.  ohne  genauen  Induktions- 
beweis] in  die  Welt  gesetzt  worden'?',  so  liabe  ich  darauf 
folgendes  zu  erwidern: 

i)  Es  fragt  sich  von  vornherein,  ob  unser  Verfasser  die 
Kugelgestalt  der  Erde  beweislos  als  eine  geniale  Hypothese 
oder  auf  Grund  eigener  detaillierter  Forschung  ausgesprochen 
hat.  Ich  halte  erstere  Annahme  für  viel  wahrscheinlicher  und 
dem  sonstigen  Charakter  des  Hebdomadikers  entsprechender 
als  die  zweite.  Er  ist  einfach  einen  kleinen  Schritt  weiter- 
gegangen als  Anaximander  und  Anaximeues,  die  auch  schon 
die  Kuycelforra  des  Alls  angenommen  und  die  rundliche  ent- 
weder  säulentrommel-  oder  tischplattenförmige  Erde  in  dessen 
Mittelpunkt  versetzt  hatten,  und  hat  zum  ersten  Male  auch 
die  Kuorelform  der  Erde  beweislos  als  eine  überaus  nahe- 
liegende  Annahme  ausge.sprochen.  Ja  ich  halte  es  sogar  für 
möglich,  daß  unser  Hebdomadiker  gar  nicht  der  eigentliche 
Entdecker  der  Kugelgestalt  der  Erde  gewesen  ist,  sondern  nur 
eine  damals  in  Milet  gewissermaßen  'in  der  Luft  liegende',  von 
einem  oder  mehreren  uns  unbekannten  altionischen  Denkern 
vertretene  Idee^"^'')  sich  angeeignet  hat.  Daran,  daß  unser  Heb- 
domadiker in  diesem  Falle  den  Namen  des  eigentlichen  Ur- 
hebers der  Theorie  nicht  genannt,  sondern  sie  als  seine  per- 
sönliche Errungenschaft  hingestellt  haben  sollte,  ist  durchaus 
kein  Anstoß   zu  nehmen.     Gilt   doch   für   die   ältesten  Philo- 


105  b)  Vgl.  Beuger,  Gesch.  d.  Erdkunde'  S.  33.  39.  176  f.  A.  i, 
der  die  Lehre  von  der  Erdkugel  zuerst  in  Ägypten  und  Babylon  ent- 
standen denkt. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  73 

sophen  der  Griechen  genau  dieselbe  Beobachtung,  die  Diels 
hinsichtlich  der  Art,  wie  sich  die  älteren  griechischen  Arzte 
den  Werken  ihrer  Vorgänger  gegenüber  verhalten  haben,  ge- 
macht hat  (Ber.  d.  Berl.  Ak.  d.  Wiss  1910  (LIII)  S.  ii4of.): 
'Der  Autoritätsglaube,  der  sich  erst  nach  dem  Untergang  der 
politischen  Selbständigkeit  auch  auf  geistigem  Gebiet  aus- 
bildet .  .  .,  hatte  diese  älteren  Arzte  noch  nicht  ergriffen. 
Sie  schreiben,  wie  die  alten  Historiker,  ungeniert  ab,  wo  sie 
etwas  Gutes  linden  (sogar  wörtlich:  Wellmann,  Fragments, 
d.  griech.  Arzte  I  S.  ö),  und  tadeln  ungeniert,  wo  sie  etwas 
Besseres   zu  wissen  glauben.     Aber  das   schriftstellerische  In- 

CD 

dividuum,  die  Persönlichkeit  ist  ihnen  noch  nicht  so  wichtig, 
wie  den  Späteren.  Es  ist  ihnen  noch  um  die  Sache  zu  tun, 
und  darum  ist  der  Begriff  der  Schriftstellerindividualität  und 
des  literarischen  Eigentums  bei  ihnen  noch  nicht  voll  ent- 
wickelt.' Wie  man  leicht  erkennt,  paßt  diese  Charakteristik 
auf  niemand  besser  als  auf  die  beiden  Verfasser  der  Schrift 
;r.  ißdo^ddcov  in  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt,  sowohl  den 
Kosmologen  als  auch  den  Arzt,  der  die  Kosmologie  des 
Hebdomadikers  seinem  Büchlein  7t.  vovöcov  als  Einleitung 
vorausgeschickt  hat,  ohne  dessen  Namen  zu  verraten.  Man 
entschuldigt  diese  Unterlassung  um  so  leichter,  als  er  auch 
selbst  sich  in  Anonymität  zu  hüllen  bestrebt  gewesen  ist 
und  keinen  Wert  darauf  legt,  von  der  Nachwelt  genannt  zu 
werden.  * 

2)  Schon  Vorjahren  habe  ich  die  Ansicht  ausgesprochen  ^°^), 
daß  unsere  Kosmologie  nicht  das  eigentliche  vollständige 
Original  ist,  sondern  dieses  als  Exzerpt  nur  ganz  sum- 
marisch wiederzugeben  sucht.  Auch  sind  von  mir  selbst 
und  anderen  schon  mehrere  empfindliche  Lücken  in  der 
jetzigen  Überlieferung  nachgewiesen  worden,  die  sich  mit 
einer  gewissen  Leichtigkeit  aus  n.  6aQx&v  sowie  aus  Diokles 
von   Karystos   und   Ärzten,   deren   Schriften   im   Hippokrates- 

106)  Vgl.  Die  neuentdeckte  Schrift  eines  altmiles.  Naturphilo- 
sophen S.  35  (=  Memnon  V  S.  183),  ferner  meine  Ausgabe  S.  156 
Anna.  213  und  oben  S.  5  Anm.  10. 


74  NN'ii.ii.  H.  luisciiKu:  |7'.  5 

Korpus  stehen,  /.  15.  den  A])li()risnu'n  und  den  Coacac  ])rae- 
notiones.  erirJiir/.en  lassen.  Dies  erkennt  /.u  meiner  Freude 
auch  E.  Pfkifkku  (Herl.  IMiiloh)g.  VVocIienschr.  1914  Sj).  1416) 
an.  wenn  tM"  henierkt:  'Wir  haben  demnacli  an  den  Anfau«.; 
einen  erweiterten  llippokrates  7t.  ißö.  zu  stelhm  .  .  .  , 
aus  dem  (his  uns  vorliegende  Buch  ;r.  fßÖ.  einen  Auszug 
darstellt.'  8.  ob.  S.  5.  Es  ist  demnach  sehr  wohl  denkbar, 
daß  die  ursprüngliche  Schrift  tc.  eßd.  die  Kugelgestalt  der 
Erde  mit  irgendwelchen  Gründen   motiviert  hat. 

Endlich  ist  hier  noch  darauf  hinzuweisen,  daß  unser 
Kosmologe  die  richtige  Ordnung  der  Sphären  angil)t:  von 
oben  nach  unten:  Sternhimmel,  Sonne,  Mond.  'Das  ist',  wie 
BOLL  a.  a.  0.  S.  54  bemerkt,  'keineswegs  etwas  Selbstver- 
ständliches. Die  Babylonier  und  Perser  hatten  den  Fixstern- 
himmel unter  die  Planeten  und  Sonne  und  Mond  gestellt; 
Anaximander  stellt  zu  oberst  die  Sonne,  dann  den  Mond,  zu 
Unterst  Fixsterne  und  Planeten,  und  so  noch  Metrodor  von 
Chios,  ja  selbst  Krates,  ....  Anaximenes  dagegen  hatte 
wahrscheinlich  die  richtige  Auffassung.' 

b)  Die  Gestirn-  und  Sphärenlelire  der  Altpythagoreer. 
Ehe  wir  auf  die  Einzelheiten  dieses  Abschnittes  ein- 
gehen, sei  hier  einer  neuerdings  mehrfach  ausgesprochenen 
Forderung  gedacht,  dahin  gehend,  womöglich  innerhalb  der 
altpythagoreischen  Schule  eine  älteste  etwa  auf  Pythagoras 
selbst  zurückzuführende  und  eine  etwas  jüngere  Richtung  zu 
unterscheiden.  Nach  meiner  Meinung  ist  es  aber  bei  dem 
gegenwärtigen  Stande  unserer  Überlieferung  bis  auf  weiteres 
schwer  möglich,  bestimmte  klare  Unterschiede  zwischen  beiden 
Richtungen  festzustellen.  Über  mehr  oder  weniger  unsichere 
Vermutungen  wird  man  vorläufig  kaum  hinausgelangen 
können  Wie  unsicher  auf  diesem  Gebiete  jetzt  noch  fast 
alles  ist,  ersieht  man  schon  aus  den  zur  Zeit  noch  weit  aus- 
einander gehenden  Annahmen  der  hier  in  Betracht  kommen- 
den  Forscher.  So  stehen  sich  z.  B.  hinsichtlich  der  Frage, 
ob  die  mehrfachen  unleugbaren  Übereinstimmungen  zwischen 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  75 

der  Lehre  des  Anaximenes  und  der  des  'Pythagoras'  auf  eine 
Beeinflussung  des  letzteren  von  Anaximenes  oder  umgekehrt 
zu  erklären  seien,  die  Ansichten  Chiappellis  und  Dörings 
schroff  gegenüber.  ■"''')  Ebenso  bezweifelt  der  letztere  Gelehrte 
die  Berechtigung  der  sonst  ziemlich  allgemein  angenommenen 
Überlieferung,  daß  Pythagoias  als  erster,  also  noch  vor  Par- 
menides,  die  Kugelgestalt  der  Erde  gelehrt  habe,  indem  er 
bemerkt,  ein  zwingender  Grund  dafür  sei  im  Pjthagoreismus 
erst  dann  eingetreten,  als  die  Erde  zu  einem  um  das  Zenti-al- 
feuer  kreisenden  Planeten  gemacht  worden  sei.  Nebenbei  be- 
merkt, erhält  das  Problem  jetzt  durch  die  Entdeckung  des 
altmilesischen  Hebdomadikers  eine  wesentlich  andere  Gestalt, 
insofern  wir  jetzt  wissen,  daß  die  Lehre  von  der  Kugelgestalt 
der  Erde  hoch  ins  6.  Jahrhundert  hinaufreicht  und  mit  der 
geozentrischen  Theorie  sehr  wohl  vereinbar  ist.  So  läßt  sich 
auch  zur  Zeit  nicht  sicher  entscheiden,  ob  die  Lehre  von  den 
5  oder  7  Planeten  und  von  der  damit  eng  zusammenhängen- 
den Sphärenharmonie  bereits  von  Pythagoras  selbst  oder  erst 
von  seinen  älteren  Schülern  ausgesprochen  worden  ist.  Zwar 
neige  ich  persönlich  ganz  entschieden  zu  der  Meinung,  daß 
man  sich  den  Unterschied  zwischen  der  Kosmoloirie  des 
Pythagoras  und  der  seiner  ältesten  Schüler  nicht  groß  denken 
dürfe,  muß  aber  im  Hinblick  auf  die  leider  über  allen  Zweifel 
erhabene  Tatsache,  daß  Pythagoras  nichts  Schriftliches  hinter- 
lassen hat,  zugeben,  daß  zwingende  Beweise  für  meine  An- 
nahme einstweilen  nicht  beizubringen  sind.  Höchstens  das 
eine  dürfte  wohl  unbestreitbar  sein,  daß  in  allen  Fällen,  wo 
die  pythagoreische  Kosmologie  mit  der  des  Parmenides  über- 
einstimmt, wenigstens  die  Annahme  eines  hohen  Alters  der 
betreffenden  Lehre  und  ihrer  Entstehung  vor  500  vor  Chr. 
gerechtfertigt  erscheint. 

Eines  der  ältesten  und  bestbezeugten  Zeugnisse  für  die 
Lehre  des  Pythagoras  von  den  5  oder  7  Planeten  verdanken 

107)  ^gi-  Chiappelli  ('Zu  Pythagoras  u.  Anaximenes'),  Archiv  f. 
Gesch.  d.  Philos.  I  (1888)  S.  582  u.  Döring  CWandlungen  in  d.  pjtha- 
gor.  Lehre'),  ebenda  V  (1891/2)  S.  503  ff. 


i 


76  Wii.ii.  H.  IvosciiHit:  l7',5 

wir  dem  Aristoteles  [fr.  ig6]  bei  Porphyr,  v.  Pytli.  41  (=-DlKLS, 
Vorsokr.  I,  .'79,  21 11").  Es  lautet:  ekeye  Öt  riva  xal  ^vötixcö 
tqö:tco  övaßoXixÜjg^  c<  Öt)  inl  nXtov  'AQiöTOTtXi]^  ccviyQaipEv, 
oiov  ort  T»)i'  ^(ikarrav  iitv  Ixdkei  sivui  <^Kq6i'ov)>  düx()x)ov^ 
rag  dh  üqxtoi'S  'Piag  x^'i^^^"  ^h'^'  '^^  nXficiöa  Miwöäv  lvi)«v, 
Tovg  öh  n?.av}JTag  xvi'ag  t  >'/ 1,*  FlfQiJfCfoinjg  x.  x.  k.  Das- 
selbe bezeugt  luieli  der  noch  vor  Kallinuiclios  blüliende  Gnirn- 
niatiker  i\ox  iilexandrinischen  Zeit  E{)igencs,  der  nach  ('leni. 
AI.  Strom.  1,  _M  ji.  .sg7  u.  V,  8  p.  675  P.  eine  Schrift  nfgl 
rfig  dg  'ÜQCpia  (oder  'Oijqjtcog)  Tcoiijöfcog  verfaßt  hatte,  worin 
namentlich  die  Ausdrücke  der  orphischen  Symbolik  erlilutert 
und  tlie  Karaftaöig  elg  "Aiöov  luul  der  [fpö..,'  köyog  dem 
Pythagoreer  Kerkops  und  die  (Pvöixa  dem  el)enf'alls  der 
pythagoreischen  Schule  angehörigen  Bro(n)tiuo.s  zugeschrieben 
wurden.  Es  heißt  dort  nach  Erwähnung  rein  orphischer 
(Sv^ßoka  wie  xtQXLÖeg,  xanTri'koyQOOTsg  (=  aQOVQot)^  Orrj^iovsg 
(=  avkaxsg)^  ddxQvcc  zJihg  (=  opißQog):  ravta  [roiavtcc  LoiJi:CK, 
Agl.  837)  xcd  Ol  TlD^ayÖQEioi  tjvCööovTO  ^SQaetpovrjg 
[.ihv  xvvag  Tovg  Jtkavrjtag^  Kqövov  ös  Ökxqvov  xiiv 
%dka6Gav.  Wir  haben  demnach  den  Ausdruck  ^.  xvvEg  für 
alt-  und  echtpythagoreisch  zu  halten,  weil  er  offenbar  aus 
orphischer  Anschauung  stammt  und  wahrscheinlich  schon 
von  Pythagoras  selbst  gewählt  worden  ist.  Was  die  zugrunde 
liegende  Vorstellung  betrifft,  so  habe  ich  schon  längst  in 
meiner  Schrift  über  Selene  u.  Verwandtes  S.  iigf.  daraufhin- 
gewiesen, daß  bei  den  Orphikern  und  den  Pythagoreern, 
z.  B.  bei  Epicharmos,  Persephone  mit  Hekate,  der  Hunde- 
göttin, gleichgesetzt  und  daher  als  Moudgöttin  aufgefaßt 
worden  ist.  Daß  aber  in  diesem  Falle  nicht  wie  bei  unserem 
Hebdomadiker  unter  den  Planeten  bloß  Sonne  und  Mond, 
sondern  auch  die  übrigen  5  Planeten  (die  jener  noch  nicht 
kannte  und  benannte)  zu  verstehen  sind,  ist  leicht  begreiflich 
zu  machen.  Denn  da  der  Mond  selbst  als  Persephoue-Hekate 
gefaßt  werden  muß,  aber  der  'Planet'  Sonne  nicht  genügt, 
um  den  Plural  xvveg  verständlich  zu  machen,  so  bleibt  nichts 
anderes  übrig,  als  ihn  auf  die  Sonne  und  die  übrigen  5  Irr- 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzaul.         77 

Sterne  zu  beziehen.  Aucli  die  bekannte  auf  dem  Vergleich 
der  7  'tönenden'  Planetensphären  mit  der  siebensaitigen  Leier 
beruhende  Sphärenharmonie ^*^^)  setzt  unzweifelhaft  die  Ent- 
deckung'"^) der  7  Planeten  voraus ^"^)  und  darf  mit  ziem- 
licher Wahrscheinlichkeit  ebenso  wie  die  Entdeckung  der 
Identität  des  Morgen-  und  des  Abendsterns  dem  Meister  der 
Schule  selbst  zugeschrieben  werden.  Auch  eine  Autorität  von 
dem  Range  des  Kallimachos  schreibt  die  Erfindung  der 
xvxXoL  ETird  oder  des  Kv>iloi;  STCtafiy^xrjg,  d.  h.  des  die 
Sphärenharmonie  bedingenden  Systems  der  sieben  Planeten, 
dem  Phryger  Euphorbos,  d.  h.  dem  Pythagoras,  zu.  Vgl.  fr. 
83»  Sehn.  b.  Diod.  exe.  X,  6,  4  (=  Diels,  Vorsokr.  I  p.  280, 
37 ff.):  KalUfiaxog  dna  nsgl  TIvd-ayoQov ort 

Ei,BVQS    Opi'l    Ev(p0Qß0J,    ÖÖTlg    äv&QCOJtOLg 

XQiyavcc  ts  özälriva  xal  Tcvickav  sJttä 

<(sdsL^€y  ^i,xi]  <^xiq')dCda'E,s  vrjörsvSLV 

täv  sfi^tvsövtav  •  ol  ö'    uq    ov%  vtit^kovöuv 

jittvtsg}^^) 
Was  endlich  die  Frage  betrifft,  wie  denn  die  Altpythagoreer 
die  5  Planeten  außer  Sonne  und  Mond  benannt  haben,  so 
habe  ich  sowohl  im  Lexikon  der  Mythol.  unter  'Planeten' 
(III  Sp.  2522  Anm.)  als  auch  in  den  'Hebdomadenlehren' 
wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  daß  die  etwas  abstrakten, 
aber   gerade   wegen  ihrer  Abstraktheit  für  Philosophen  sich 


108)  Vgl.  Aristot.  de  caelo  2,  9,  der  hier  wie  sonst  nur  von  ITi;- 
Q-ayÖQeiOL  redet,  und  Censor.  de  die  nat.  13,  i,  der  die  Sphären- 
harmonie  direkt  dem  Pythagoras  zuschreibt. 

109)  Selbstverständlich  soll  mit  diesem  Ausdruck  nicht  geleugnet 
werden,  daß  Pythagoras  und  seine  ältesten  Schüler  in  dieser  Beziehung 
von  altbabylonischer  Forschung  und  Lehre  abhängig  waren.  Vgl.  ob. 
Anm.  105  b. 

iio)  Laert.  Diog.  8,  14:  «pöordv  te  "Eaitsgov  yial  ^aacpogov  xov 
avtov  sinsiv,  ol  ds  (paei  naQ(isvidr}v.  Ähnl.  ders.  9,  23.  Plin.  n.  h.  2, 
37:  quam  naturam  eins  [sideris,  d.  i.  d.  Venus]  Pythagoras  Samius 
primus  deprehendit,  Olympiade  circiter  XLII.  ApoUod.  b.  Stob.  ecl.  i,  520. 

III)    Anders   jetzt    Kallim.    lamb.    123    Hunt:    offrtg    ävQ'QmTtcov   || 

ktgLytova  xal  gkuXtivcc  jrpcoros  ^ypaips  ||  xai  kvkXov  inrcui'^yisa. 


78  Wu.ii.  II.  Kosciikh:  l7>.  5 

besoiulers  eignenden  Namen  wie  UrlX^iav  ■=-  Merkur,  <Pat'&(ov 
—  Jnjjpiter,  <l>cüvcov  =  Siiturn,  TJtuyoftg  —  Mars  (die  alle  ver- 
schiedene Nuaneen  iles  Glanzes  bezeichnen)  j)ythag()reisclieii 
Ursprungs  seien,  während  die  andern  von  den  ins  Griechische 
übersetzten  großen  Götteiu  Babylons  (Ähirduk  —  Juj)piter, 
Ninib  =  Mars,  Nebo  =  Merkur,  Istar  =  V'^enus,  Nergal  ==  Sa- 
turn) entlehnt,  also  getiau  genommen  babylonischen  Ursprungs 
sind  (Lex.  d.  Myth.  111  Öp.  2525 f.). 

Es  b»auciit  in  diesem  Zusammenhang  wohl  kaum  erst 
darauf  aufmerksam  gemacht  zu  werden,  wie  willkommen 
unserem  llebdomadiker  gerade  die  altpythagoreische  Lehre 
von  den  7  Planeten  und  der  damit  zusammenhängenden 
Sphärenharmouie  gewesen  wäre,  wenn  er  sie  gekannt  hätte. 
Nichts  beweist  sein  hohes  Alter  und  seine  Unabhängigkeit 
von  den  Pythagoreern  deutlicher  als  seine  völlige  Ignorierung 
dieser  altpythagoreischen  Theorien. 

In  ebenso  schroti'em  Gegensatz  wie  die  Planetentheorie 
des  'Pythagoras'  und  seiner  ältesten  Schüler  steht  auch  ihre 
Sphären  lehre  zu  den  Annahmen  unseres  hebdomadischen 
Kosmologen,  so  daß  auch  in  diesem  Punkte  irgendeine  Be- 
einflussung des  letzteren  vom  Pythagoreismus  als  absolut 
ausgeschlossen  erscheinen  muß.  Zwar  ist  es  so  gut  wie 
sicher,  daß  Pythagoras  selbst  die  Lehre  von  den  10  Sphären 
noch  nicht  ausgesprochen  hat,  doch  liegt  dieselbe  bereits  bei 
Philolaos  (um  430  v.  Chr.),  dem  Zeitgenossen  des  Sokrates, 
vollkommen  ausgebildet  vor,  so  daß  unser  Hebdomadiker, 
wenn  er  wirklich  erst  in  der  Zeit  von  450 — 350  gelebt 
haben  sollte,  und  (wie  Pfeiffer  annimmt)  pythagoreischen 
Einflüssen  zugänglich  gewesen  wäre,  von  ihr  hätte  beeinflußt 
werden  müssen. 

Was  sodann  die  Einzelheiten  der  Sphärentheorie  be- 
trifft, so  läßt  sich  auch  hier  kaum  ein  größerer  Gegensatz 
zu  der  unseres  Hedomadikers  denken.  Während  dieser  nur 
folgende  7  Sphären  annimmt:  i)  ti]v  toü  «xpTjrou  xoöaou 
rd^iv,  2)  rrjv  räv  uötqojv  avTavyCav  xul  fidvaöiv,  3)  die 
Sphäre  der  Sonne,  4)  des  Mondes,  der   zugleich  als  Sitz  der 


I 


71,5]        Dll^   HIPPOKRATISCHE    SCHRlFT   VON   DER   SiEBENZAHL.  79 

Weltseele  gefaßt  wird,  5)  der  Luft,  6)  des  Meeres,  7)  der  im 
Mittelpunkt  des  Alls  unbeweglich  scliwebeudeu  Erde,  ztihlen 
die  Altpythagoreer  nicht  weniger  als  10  nicht  um  die  Erde, 
sondern  um  das  Zeutralfeuer  kreisende  himmlische  Körper 
(dexa  aäiiara  dsta  xoqsvovtu:  Stob.  ecl.  i,  4^8).  Und  zwar 
sollen  in  der  weitesten  Entfernung  vom  Zentrum  der  Fix- 
sternhimmel (l),  ihm  zunächst  die  5  Planeten  (II — VI),  hier- 
auf die  Sonne  (VII),  der  Mond  (VIII),  die  Erde  (IX)  und 
als  zehnter  Körper  die  Gegeuerde  (X)  kreisen;  die  äußerste 
Grenze  der  Welt  aber  suUte  durch  das  Feuer  des  Umkreises, 
dem  der  Mitte  entsprechend,  gebildet  werden  (vgl.  Zeller 
^I,  414  Anm.  3,  wo  die  sämtlichen  in  Betracht  kommenden 
Zeugnisse  zu  bequemer  Übersicht  gesammelt  sind:  Aristot.  de 
caelo  U,  13;  Metaph.  i,  5.  q86  a  8;  ebd.  293''  18.  Stob.  ecl. 
I,  488.  Alexand.  z.  Metaph.  I,  5).  'Mit  den  gewöhnlichen 
Vorstellungen  der  Alten  verglichen,  bezeichnet  diese  Theorie', 
wie  Zeller  a.  a.  0.  S.  42g  mit  Recht  bemerkt,  'einen  merk- 
würdigen Fortschritt  der  Sternkunde.'  'Denn  während  jene, 
die  Ruhe  des  Erdkörpers  voraussetzend,  den  Wechsel  der 
Tao-es-  und  Jahreszeiten  ausschließlich  von  der  Sonne  her- 
leiten,  so  wird  hier  zuerst  der  Versuch  gemacht,  wenigstens 
den  ersteren  aus  der  Bewegung  der  Erde  zu  erklären.' 
Auch  hier  wieder  muß  ausgesprochen  werden,  daß  in  dieser 
Beziehung  eine  Beeinflussung  unseres  Hebdomadikers  von 
Seiten  der  altpythagoreischen  Schule  absolut  ausgeschlossen 
scheint. 

IV.  Psychologisches. 

a)  Die  Psychologie  der  Schrift  von  der  Siebenzahl. 

Bei  der  traurigen  Unklarheit  und  Verderbnis  der  in  den 
lateinischen  Übersetzungen  des  Ambrosianus  und  Parisinus 
vorliegenden  Überlieferung  von  Kap.  X  sind  wir  hauptsäch- 
lich auf  den  ins  Arabische  übersetzten  Kommentar  des  Ps- 
Galen  ano-ewiesen,  wie  er  uns  in  der  BergsträSSER sehen 
Ausgabe  S.  loiff.  mitgeteilt  ist.  Danach  ist  der  Inhalt  dieses 
(10.)  Abschnittes  unserer  Schrift  etwa  folgender  gewesen. 


So  Wn.u.  H.  KosciiKu:  f7>.  5 

Auch  (lio  8eelc  {il'VXV^  aniina),  d.  i.  <1iis  Prinzip  der 
Lebeusk rillt,  bestobt  aus   7  Teilen  oder  Fiiktciren.    Diese  sind: 

\)  Die  ursi)riin,i,Miebe  Wärme,  die  im  Anfunfjj  der 
Scbwanfjerscbiit't  vorbanden  ist  (vgl.  Gal.  VII,  6i6:  t6  &eQiiov 

ovH  ejriXT}jToi'  ovd'  vötegoi'  tov  t.(p^w  rfjg  ysvtöscog^ 
all'  ctVTO  :T(iior6v  ti-  xcd  cc()x^Yovot>  xa)  i-)i€pvTov.  il).  XVll 
W  407  [ro  e^iifVTOV  9^i-qu'ov\  tö  öiccTrXciauv  H  ^QX^'l^  ^"  ^woJ') 
uud  binnen   7    Tagen   die  Form   des  Embryo  bildet. 

2)  Die  küble  Luft,  welche  die  allzu  große  Wirkung 
der   Wärme  ermäßigt. 

3)  Die   Feuchtigkeit,   die    in    dem   ganzen    Körper  ist. 

4)  Die  (trockene)  Erde,  d.  b.  die  in  Fleisch,  lilut  und 
Knochen  vorherrschenden  erdigen  (festen)  Bestandteile. 

5)  Bittere  Säfte  (d.  h.  die  gelbe  Galle),  welche  Krank- 
heiten veranlassen,  die  sich  in  hebdomadischen  Fristen  ent- 
scheiden. 

6)  Süße  Säfte,  die  namentlich  im  Blute  vorhanden 
sind  und  Gesundheit  und  Ernährung  bedingen. 

7)  Salziges,  d.  i.  das  (pXeyfia. 

Wer  durch  vernünftiges  und  mäßiges  Verhalten  diese 
zum  Leben  notwendigen  Bestandteile  in  der  richtigen  Mischung 
erhält,  der  bleibt  gesund  und  lebt  glücklich,  wer  aber  das 
Gegenteil  tut,  der  verfällt  in   allerlei   schlimme  Krankheiten. 

Wir  erkennen  deutlich,  daß  unser  Physiker,  um  eine 
Siebenzahl  von  'Seelenteilen'  zu  gewinnen,  hier  die  uralte 
Lehre  von  der  Vierzahl  der  Elemente  (Feuer  =  Wärme,  Luft 
=  Kälte,  Wasser  =  Feuchtigkeit,  Erde  =  Blut,  Fleisch,  Knochen) 
mit  der  ebenfalls  recht  alten  Lehre  von  den  4  Säften  (vygd: 
ai^a,  xoXr'i,  vdoQ,  (plsy^a)  verbunden  hat.  Natürlich  mußte 
er,  da  das  Wasser  sowohl  als  'Element'  wie  als  'Saft'  figu- 
rierte, dieses  aus  der  Liste  der  Säfte  streichen,  und  hat  von 
den  Säften  das  Blut,  das  ebenso  wie  das  Wasser  sich  als 
Süßsaft  auffassen  läßt,  mit  dem  yXvxv  identifiziert,  während 
das   'Salzige'   offenbar    dem    cpXty^a,   das   'Bittere'    der    xoXij 


71,5]      Die  hippokratischb  Schrift  von  der  Siebenzahl.  8i 

entsprechen  soll."^)  Auch  das  Buch  7t.  auQx&v  kennt  sowohl 
die  Lehre  von  den  4  Elementen  (Kap.  2:  VIII  584  L.)  als 
auch  eine  Theorie  von  den  zur  Bildung  des  animali.schen 
Körpers  notwendigen  7  Bestandteilen  (Kap.  13  =  VIII  600  L. 
&6Q[^6v^  rpvxQov,  xoXXäöeg,  XinuQÖv,  yXvxv^  tcluqov,  öörsu), 
die  jedoch  von  üaserem  Autor,  der  auf  einem  etwas  älteren 
Standpunkt  zu  stehen  scheint,  mehrfach  abweicht. 

Daß  dieser   SeelenbegriiSF  unseres   Hebdomadikers   durch- 
weg   dem    Standpunkt    der    altmilesischen    Philosophen    ent- 
spricht,   welche   die   Kraft,    die    den    sichtbaren   Leib    bewegt 
und  belebt,  die  Lebenskraft  des  Menschen  oder  seine  Psyche 
benennen,    mag    man    aus    RoiiDEs    glänzenden    Darlegungen 
(Psyche  ^11  i4of.)  ersehen.   Wie  Rohde  a.  a.  0.  S.  143 f.  aus 
führt,   kann   von   Unsterblichkeit   der  Seele  im  Sinne  der 
Mystiker,  die  der  Psyche,  d.  i.  einem  in  die  Leiblichkeit  von" 
außen  eingetretenen  und  von  dieser  rein  abtrennbaren  Geistes- 
wesen,   eine    Fähigkeit   gesonderten  Weiterlebens   zusprechen 
konnten,    keinesfalls    bei    diesen   Philosophen    die    Hede   sein. 
Auch  der  Verfasser  des  von  den  Krankheiten  handelnden  Ab- 
schnitts unerer  Hebdomadenschrift,   leugnet  offenbar  die  Un- 
sterblichkeit der  Menschenseele,  wenn  er  am  Schlüsse  seines 
Buches    (Kap.  LH)    bekennt:    OQog   dh  d-avccrov^   eäv   tö  ti]g 
ipvxfig  &£Qnbv  STtttvsld'rj  vzhg  rov  o^cpaXov  sig  xhv  äva  x5)v 
(pQEväv  TOTiov  y,a\  övyxavd'f]  xh  vyQOv  ajtav  '  STtsidäv  6  TtXsv- 
[icov  xal  i)  xaQÖCa  xi}v  lx^ccÖcc  äjcoßdXaöi,  xov  dsQ^ov  ad-QO- 
ovvTog    iv    xol6i    d'avaxäösöi    xoTCoig^    ccTtoTivasL    äd'QOov   xb 
TCVEvfia    xov    Q'SQ^ov,    od'Ev    7C£Q    ^vvsGxTj    TO    oAov,    slg    xb 
bXov    jtdXtv,    xb    fiav    diä    xäv    öaQxav^    xb    dh   dta   xüv   iv 
x8g^aXf]    avanvoav^    o^sv  xb    t,'f}v   xaXov[i8v'    anoXUnovöa   de 
i]   ^vjri    xb   xov    öä^axog   öxr^vog   xb   ipvxQbv   xal  xb   ^vy]xbv 
sL'ÖojXov    afia    xal    x^^ü    ^^'^   cci^^<^t^I'   ^o^t   (pXey^ari   xal   öaQxl 
TtccQedaxsv. 


112)  Vgl.  Röscher,  Über  Alter,  Ursprung  usw.  der  Schrift  von 
der  Siebenzahl  S.  106,  wo  auch  noch  weitere  Zeugnisse  (s.  Anm.  220) 
beigebracht  sind. 

PhiL-hist.  Klasae  1919.    Bd.  LXXI.  5.  6 


Hi  Willi.  1!,  lu)si"iii:u:  l7'-  S 

b)  Dio  Psychologie  dos  Pythagoras  und  der  Altpythagoreer. 

liii  allorscliärfsteii  (ipgoiisut/.e  zum  Seelcnbegrillc  der  Alt- 
inilesior  und  iiiisoros  llcbdoinadilvcrs  sUdit  d'w  in  neuester 
Zeit  nauiontlicli  von  ItoiiDK  (Psyclie  "II,  i6of,)  tiviVlich  er- 
örterte Psychologie  des  Pytlia<^oras  und  seiner  ältesten  z.  T. 
noch  oridiischem  Seelenglaul)eii  huldigenden  Anhänger.  Als 
Kern  dor  pythagoreischen  Seelenlohre  hat  Ron  OK  folgendes 
festgestellt. 

„Die  Seele  des  Menschen,  hier  wieder  ganz  als  der 
Doppelgänger  des  sichtbaren  Leibes  und  seiner  Kräfte  gefaßt, 
ist  ein  dämonisch  unsterbliches  Wesen,  aus  G()tterhöhe 
einst  herabgestürzt  und  zur  Strafe  in  die  'Verwahrung'  des 
Leibes  (£i/  (pQo\>QC(  Fiat.  Phaed.  62  B)  eingeschlossen.  Sie  hat 
zum  Leibe  keine  innere  Bezie^ung,  ist  nicht  das,  was  man 
die  Persönlichkeit  dieses  einzelneu  sichtbaren  Menschen  nennen 
könnte:  iu  einem  beliebigen  Leibe  wohnt  eine  beliebige  Seele. 
Scheidet  sie  der  Tod  vom  Leibe,  so  muß  sie  nach  einer  Zeit 
der  Läuterung  im  Hades  auf  die  Oberwelt  zurückkehren.  Un- 
sichtbar schweben  die  Seelenbilder  um  die  Lebenden;  in  den 
Sonnenstäubchen  und  ihrer  zitternden  Bewegung  sahen  Pytha- 
goreer  schwebende  'Seelen'.  Die  ganze  Luft  ist  voll  von 
Seelen.  Auf  Erden  aber  muß  die  Seele  einen  neuen  Leib  auf- 
suchen ,  und  das  zu  vielen  Malen.  So  wandert  sie  durch 
Menschen-  und  Tierleiber  einen  langen  Weg.  Wie  Pytha- 
goras selbst  an  die  früheren  Verkörperungen  seiner  Seele  die 
Erinnerung  bewahrt  hatte  und  davon  zu  Lehr  und  Mahnung 
der  Gläubigen  Kunde  gab,  berichteten  alte  Legenden.  Die 
Seelenwanderungslehre  nahm  auch  hier  eine  Richtung 
auf  religiös-sittliche  Erweckuntr.  Nach  den  Taten  des  früheren 
Lebens  werden  die  Bedingungen  der  neuen  Verkörperung 
und  der  Inhalt  des  neuen  Lebenslaufes  bestimmt.  Was  sie 
damals  getan,  das  muß  sie  nun,  als  Mensch  wiedergeboren, 
an  sich  erleiden."  Im  folgenden  sucht  Rohde  zu  zeigen,  wie 
die  pythagoreische  'Heilsordnung',  rituale  Symbolik  und  As- 
kese darauf  gerichtet  waren,  die  Seele  rein  zu  bewahren  und 


7f,5]         l)lE   HIPPOKUATISCHE    SCHRIFT   VON   DER   SiEBENZAHL.  8,3 

sie  endlich  aus  diesem  Erdenle}3en  ganz  herauszuheben  und 
einem  göttlich  freien  Dasein  zurückzugeben  (S.  163  f.).  Zu- 
letzt macht  R.  wahrscheinlich,  daß  die  Seelenlehre  des  Pytha- 
goras  weder  aus  der  griechischen  Wissenschaft  noch  aus  der 
Fremde  (Indien)  geschöpft  ist,  sondern  in  ihren  wesentlichen 
Zügen  nur  die  Phantasmen  alter  volkstümlicher  Psychologie 
wiedergibt,  in  der  Steigerung  und  umgestaltenden  Ausführung, 
die  sie  durch  Theologen  und  Reinigungspriester,  zuletzt  durch 
die  Orphiker  erfahren  hatte  (S.   167). 

Über  die  später  durch  Philolaos  vertretene  mit  dem 
älteren  pythagoreischen  Seelenbegriffe  sowie  der  Annahme 
der  Unsterblichkeit  nicht  recht  in  Einklaag  stehende  Vor- 
stellung, daß  die  Seele  eine  Harmonie  sei,  s.  Zeller  a.  a.  0. 
^I,  444 f.  u.  ROHDE,  Psyche  -IT  S.  169.  Noch  weniger  sind 
die  von  späteren  Schriftstellern  den  Pythagoreern  zugeschrie- 
benen Ansichten  von  2  oder  3  oder  4  Seelenteilen,  die  aber 
mit  den  7  von  unserem  Hebdomadiker  angenommenen  7 
Teilen  nicht  die  geringste  Verwandtschaft  verraten,  für  ur- 
sprünglich und  echtpythagoreisch  zu  halten. 


V.  Musikalisches  und  Akustisches. 

Die  musikalisch -akustischen  Entdeckungen  gehören,  wie 
namentlich  Gomperz  in  Bd.  I  d.  Griech.  Denker  lichtvoll  dar- 
gelegt hat,  zu  den  größten  und  bleibendsten  wissenschaftlichen 
Leistungen  des  Pythagoras  und  seiner  Schule.  Alle  beruhen 
aber  nach  Zeller  -'^I,  433,  der  in  dieser  Beziehung  auf  die 
nur  aus  der  7- Zahl  der  Planeten  verständliche  Sphären- 
harmonie verweist,  auf  der  Analogie  der  der  ganzen  pytha- 
goreischen Tonlehre  bis  über  Philolaos  herab  zugrunde 
liegenden  Tatsache  der  7  Töne  des  Heptachords  oder  der 
siebensaitigen  Leier  (Belege  bei  Zeller  a.  a.  0.  S.  431 
A.  2  u.  433  A.  i).  Es  braucht  nicht  erst  ausführlich  dargelegt 
zu  werden,  wie  willkommen  unserem  Hebdomadiker  diese 
musikalisch -akustische  Bedeutung  der  Siebenzahl  gewesen 
wäre    und    wie    eifrig    er    sie    in    die    Zahl   der   von   ihm   be- 

6*. 


8^  WiMi.  H.  Rosciikr:  [7'.  5 

haiiilolttMi  und  aufgezähltou  llelxlomaden  aufgonoiunien  haben 
würde,  wenn  er  sie  gekannt  hätte.  So  spricht  nichts  dout- 
lielier  gej^en  eine  Beeinflussung  des  Ilehdomadikers  durch 
Pylhagoras  und  dessen  Schule  sowie  für  den  vorpytlia- 
goreischeu  Ursprung  seiner  Schrift  als  diese  nicht  in  Abrede 
zu  stellende,  vom  Standpunkte  des  5.  und  4.  Jahrhunderts 
aus  gar  nicht  /.u  rechtfertigende  klatFende  Lücke  innerhalb 
seiner  Hebdoniadenlehre. 

VI.  Über  E.  Pfeiffers  Vorsucli,  die  Abliänjjjiskeit  des 
Hebdomadikers  vom  Pytiia^oieismus  nachziiweiseu. 

In  einer  sonst    manches   Gute  und   Anregende   bietenden 
Schrift,   betitelt    'Studien   z.  antiken   Sterngiaubcn'  (=  Bohh, 
Zxoixsiu  lI,Leipz.  19 16)  hat  E.  Pfeiffer,  ein  Schüler  F.  Bolls, 
den   ernstlichen  Versuch    gemacht,   in    einzelnen    Punkten  die 
Abhängigkeit   des    Hebdomadikers    vom    älteren    Pythagoreis- 
mus  nachzuweisen  und  damit  die   Entstehung  seiner  Kosmo- 
logie in  die  Zeit  zwischen  450  und  350  herabzurücken.     Ich 
hatte   ursprünglich   die   Absicht,   gleich   in    den  vorstehenden 
Kapiteln   die    Behauptungen  Pfeiffers   eingehend   zu  wider- 
legen,  habe  aber   schließlich  davon    abgesehen,   um  jene  Ab- 
schnitte nicht  allzusehr  mit  Polemik  zu  belasten  und  meine 
Darlegungen  zunächst  möglich  objektiv  durch  sich  selbst  auf 
den  Leser  wirken   zu  lassen,  und   gehe   erst  jetzt   in  diesem 
Schlußkapitel  daran,  das  oben  Versäumte  einigermaßen  nach- 
zuholen.^^') 

Für  Pfeiffers  Beurteilung  der  Schrift  7t.  aßS.  ist  vor 
allem  charakteristisch,  daß  er  die  entschieden  hocharchaische 
siebenteilige  Weltkarte,  die  nach  fast  allgemeiner  Ansicht  nur 
vom  Standpunkt  des  altmilesischen  Seefahrers  des  6.  Jahrh. 
verständlich  ist  (s.  ob.  S.  iff.),    ebenso  wie  die   ganze  Schrift 

113)  Vgl.  übrigens  meine  Anzeige  von  Rehms  Griech.  Windrosen 
in  d.  Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  1917  Sp.  8sof.,  wo  ich  auch  schon 
meinen  Standpunkt  gegenüber  Pfeiffers  Ansichten  in  aller  Kürze  zu 
wahren  gesucht  habe. 


71,  5]      Die  hippokkatische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         85 

7t.  sßd.  (also  auch  den  medizinischen  Teil),  sich  nur  in  der 
Zeit  zwischen  450  und  350  entstanden  denken  kann.  Auf 
eine  Widerlegnug  der  von  mir  und  anderen  Forschern  ge- 
lieferten Beweise  verzichtet  er  einfach,  indem  er  auf  Bolls 
Ausführungen  in  den  Neuen  Jahrbb.  31  (1913)  S.  137 f.  ver- 
weist, wo  zwar  von  einer  triftigen  Widerlegung  meiner  An- 
sicht von  dem  hocharchaischen  Charakter  der  Weltkarte  keine 
Rede  ist,  wohl  aber  in  sehr  verdienstlicher  Weise  auf  die 
Beeinflussung  des  Heptadisten  durch  ein  altägyptisches  in  der 
sogen.  KoQT]  xöGuov  erhaltenes  Weltbild  (s.  ob.  S.  gfi".)  hin- 
gewiesen wird.  Also  mein  llauptargument  für  den  vorpytha- 
goreischen Ursprung  der  Schrift  von  der  Siebenzahl  bleibt 
nach  wie  vor  trotz  Pfeiffers  Polemik  vollkommen  un- 
erschüttert bestehen. 

S.  37  gibt  Pfeiffer  zwar  zu,  'daß  man  auch  außer- 
halb der  Pythagoreerkreise  (d.  h.  vor  der  Entstehung  des 
Pythagoreismus)  das  menschliche  Leben  nach  Hebdomaden 
einteilte  —  die  Pythagoreer  selbst  haben  es  bekanntlich  in 
4  rjkLXitci  zu  je  20  Jahren  geteilt;  s.  ob.  S.  34  — ,  7  Vokale 
annahm  und  in  der  Medizin  viel  mit  der  Siebenzahl  arsu- 
nientierte',  ^iber  den  nöö^og  nach  der  Siebenzahl  zu  ordnen 
scheint  ihm  im  Hinblick  auf  die  Einzelheiten  der  deka- 
dischen (!)  Gliederung  der  Welt  wiederum  auf  die  Pytha- 
goreer hinzuführen'.  Ich  verweise  in  diesem  Punkte  einfach 
auf  meine  Darlegungen  oben  S.  78f.  (Kap.  Hl)  und  erblicke  in 
dieser  Argumentation  Pfeiffers  geradezu  eine  Umkehrung 
des  Richtigen.  Ebenso  verkehrt  ist  es,  wenn  Pfeiffer  a.  a. 
0.  annimmt,  daß  auch  Poseidonios  in  seinem  Timäuskommen- 
tar  bei  Theo  Smyrn.  p.  103,  18  ff.  H.  'den  Aufbau  der  Welt 
nach  der  Siebenzahl  aus  Pythagoreerkreisen'  übernommen 
habe.  Vielmehr  ist  in  diesem  Falle  kein  anderer  als  eben 
unser  Hebdomadiker  Quelle  des  Poseidonios  gewesen,  wie  ich 
schon  längst  in  meiner  Ausgabe  S.  104  ff.  zur  Genüge  bewiesen 
zu  haben  glaube,  was  Pfeiffer  leider  völlig  übersehen  hat. 

Wenn  Pfeiffer  ferner  behauptet,  daß  der  Hebdoma- 
diker nicht  bloß   2    Irrsterne   (Sonne  und   Mond),   sondern 


86  Wii.ii.  11.  K'nsciiKi;:  [71,  5 

jiiK'li  ilio  ültrigcu  5  Planeten  gekannt  und  in  den  Krois  seiner 
liebdoinadischeu  Darlef^un^en  oinl)e/()<i;en  liiilte,  so  ist.  in  dieser 
Hinsiclit  schon  oben  (Kaj).  111  S.  66Ö'.)  unter  Beruf\in«]j  auf  die 
Autorität  (1INZKLS  alles  Nöti^^o  gesagt  worden.  Ebensowenig 
kann  ifli  ]*Ki:iKri:i{s  Hcliaui)tung  beijiflicliten,  daß  er  'un- 
zweifelhaft astrologische  Gedankengänge  beim  Ilebdo- 
niadiker  festgestellt  habe',  insofern  dieser  dein  nitlich  sehim- 
nieruden  Arktur  'fervores',  d.  h.  Zorneserregungen,  7,usehreil)(>. 
Denn  'aucli  von  späteren  Astrologen  wurde  Arktur  in  Be- 
ziehung /aun  Planeten  Mars  gesetzt,  der  bekanntlieh  Erreger 
des  d^x^^ioeiÖei^  ist.'  Selbstverständlich  kann  von  'astrologiseheu 
Gedankengängen'  erst  dann  die  Rede  sein,  wenn  zuvor  die 
Bekanntschaft  mit  den  sämtlichen  7  Planeten  sicher  bewiesen 
ist,  aber  auch  ganz  abgesehen  davon  ist  es  überaus  kühn, 
allein  aus  der  Beziehung  des  Arktur  zum  Zorne  (fervor) 
auf  'astrologische  Gedankengänge'  schließen  zu  wollen. 

Nicht  minder  mißlich  und  gewagt  ist  es,  wenn  Pfeiffer 
die  Worte  in  Kap.  VI:  'Arcturius  autem  fervoris  in  homine 
Operationen!  quaestula  enutrita'  (so  der  Ambros.)  und  'Hos 
autem  fervores  in  omnem  operationem  que  e  sole  nutrita'  (so 
der  Paris.)  verbessert  in:  'Areturus  autem  fervores  in  homine 
operatur,  qui  e  sole  nutritur'  und  dies  ins  Griechische  über- 
setzt: ^QXTOVQOS  ÖS  d^SQfiörrjXcc  iv  dvd-gcjTta  ccTceQyu^itaL  ög 
■i»:7r6  ijkCov  tQt(psTat.  Die  deutsche  Übertragung  soll  nach 
Pfeiffer  lauten:  'Arktur  aber  verursacht  im  Menschen,  der 
von  der  Sonne  stammt,  die  Hitze.'^^*)  Damit  will  Pfeiffer 
die  Lehre  des  Parmenides  in  Zusammenhang  bringen,  der 
nach  Diog.  L.  IX,  22  (Diels,  Vorsokr.  18  A.  i)  behauptete: 
ysveöLv  [nicht  tQ0(p7]v^  xs  äv^QCinciv  i^  t)XCov  tiqüxov 
ysveöd-at,^   uixia   de  vndQj(^siv  xb  ^sq^ov  xal  xb  x}jvj(^q6v,   f'l 


114)  Aus  dem  ins  Arabische  übersetzten  Kommentar  Ps.-Galens 
ist  nach  Bkrgsträsseb  S.  83  f.  nicht  viel  zu  gewinnen.  Wir  erfahren 
daraus  bloß,  'daß  die  beiden  Kalbssterne  [Arktur  u.  Arktos]  der  Wärme 
gleichen,  die  im  Menschen  ist',  und  'daß  Hipp,  die  Wärme,  die  im 
Herzen  ist  und  den  Zorn  erregt,  mit  den  beiden  Kalbssternen  ver- 
bindet'. 


71,  5j        DiK   HIPPOKRATISCHE    ScHRIFT   VON   DER   SiEBENZAHL.  87 

rav  XU  Tcdvra  öwedrccvai.  'Damit  haben  wir  wiederum  die 
Pytliagoreer  [deren  kosmologische  Auffassungen  bekanntlich 
Parmenides  vielfach  geteilt  hat]  als  für  den  Hebdomadiker 
richtuncfo-ebend  festgestellt'  [??]:  so  lautet  der  von  Pfeiffer 
aus  obigen  durchaus  unsichern  Prämissen  gezogene  Schluß, 
dem  kein   Unbefangener  ohne  weiteres  beipflichten  dürfte. 

Wenn  Pfeiffer  ferner  aus  den  auf  das  Wesen  der 
Winde  bezüglichen  etwas  unklaren  lateinischen  Ausdrücken 
'motus  vegetans'  und  'flatus  virtutes'  unbedenklich  den  Schluß 
zieht,  daß  hier  offenbar  vom  Atmen  der  Welt,  wie  es  die 
älteren  Pythagoreer  gelehrt  haben  sollen,  die  Rede  sei  und 
daß  daher  der  Heptadist  auch  diese  Vorstellung  dem  Pytha- 
goreismus  entlehnt  habe,  so  ist  es  mir  vielmehr  schon  im 
Hinblick  auf  die  hocharchaische  vom  Standpunkt  des  Pytha- 
goras  aus  ganz  unverständliche  Weltkarte,  ferner  auf  seine 
Unbekanntschaft  mit  der  Sphärenharmonie,  dem  Heptachord. 
und  den  7  Planeten  unendlich  wahrscheinlicher,  daß  hier 
vielmehr  Abhängigkeit  der  Pythagoreer  von  unserem  Hepta- 
disten  oder  von  einem  anderen  Physiker  vorliegen  würde, 
wenn  wirklich  hier  die  Vorstellung  vom  Atmen  des  Makro- 
kosmos vorliegen  sollte.  Aber  auch  dies  ist  einstweilen  nur 
eine  unsichere  Vermutung. 

Auch  die  Ausdrücke  "OXv^Tiog  (genauer  'Okv^TCiog  xÖG^og 
in  Kap.  11)  für  den  äußersten  feststehenden  Umkreis  der 
Welt  und  die  avravyia  aöxQCJV  (I  §  2)  sollen  sich  nach 
Pfeiffer  nur  aus  der  Abhängigkeit  vom  Pythagoreismus 
erklären.  Das  könnte  aber  nur  dann  mit  einiger  Wahrschein- 
lichkeit behauptet  werden,  wenn  einerseits  der  Begriff  des 
"OXvuTtos  erst  von  Pythagoras  und  seiner  Schule  (nicht  schon 
von  Homer,  Hesiod  usw.)  ausgegangen,  anderseits  die  Er- 
findung des  Spiegels  oder  die  Entdeckung  und  erste  Be- 
obachtung einer  Widerspiegelung  {dvrav'ysta,  dvccalaöig)  erst 
den  Pythagoreern  verdankt  würde,  was  nachzuweisen  doch  so 
gut  wie  undenkbar  erscheint. 

Der  Versuch  Pfeiffers,  den  Hebdomadiker  als  von 
Pythagoras  und  seiner  älteren  Schule   stark  beinflußt  hinzu- 


88    Wn.n.  H.  RoSfUKu:  Oii;  iiii-roKU.  Schkikt  v.  d.  Sikhknz.    [7',5 

stoUeii,  iiiiili  dcuiuiioh  c'instwt'ilcu  als  oiin/.lich  iniBlim«j;('ii  bo- 
zeu'hnet  werden.  Schon  das  hoho  Alter  der  priniitivtii  öiebeii- 
teilii'eii  Weltkarte,  die  Unbekaiintseluift  mit  den  7  Planeten, 
mit  der  Sjihärenliarnionie  und  der  Akustik  des  Pythafronis 
sprei-ben  /.u  deutlich  gc<^t'n  Pkkifkkks  Annalnne.  Auch  hat 
er  /.u  wt'ui«^  bethicht,  daß  die  veriiältuisiuäßi>r  gerinf^^t-n  Über- 
eiubtinmningen  zwischen  (h'r  pythagoreischen  und  der  IJel)- 
domadeulehre  (wie  die  i-mu  (pcoinjevra^  das  odövras  ßäXkfiv 
im  7.  Lebensjahre:  Arist.  Metaph.  14,  6)  auf  gemeinsamen 
älteren  Quellen  otler  auch  auf  Abhängigkeit  der  I'ythagoreer 
von  nnserem  Hebdomadiker  und  seinen  Anhängern  beruhen 
können.  Letztere  Annahme  scheint  mir  besonders  nahe  zu 
liegen  bei  dem  von  DiELS  für  zweifelhaft  erklärten  Zeugnis 
des  Philolaos  (Vorsokr.  I  S.  246),  das  mit  seiner  Lehre  von 
der  Bedeutung  der  Dekade  (Diels,  Vorsokr.  I  S.  243,  2  ff.) 
in  einem  gewissen  Widerspruch  steht  und  lautet:  ean  yaQ 
\b  invä  ccQid-pLbg]  t]y6(.icov  xal  uqxcov  anävtcov,  dsbg,  ft.',  äsl 
(bv,  udi'tuog,  äxiviirog,  avtbc;  auvro)  ö^oiog^  STSQog  tüv  uXXov. 
Ich  halte  es  nach  wie  vor  für  wahrscheinlich,  daß  Philolaos 
mit  diesen  Worten  eine  Konzession  an  die  von  unserem 
Anonymus  als  Archegeten  geführten  Hebdomadiker  (s.  oben 
S.  63)  hat  machen  wollen,  indem  er  dabei  Ausdrücke  ge- 
brauchte, die  eigentlich  seine  Lehre  von  der  absoluten  Herr- 
schaft der  Zehnzahl  etwas  einschränken  mußten.  Die  umge- 
kehrte Annahme,  daß  die  ganze  einseitige  und  primitive 
Hebdomadenlehre  unseres  Verfassers  auf  obigem  Satze  des 
Philolaos  beruhe,  ist  doch  wohl  undenkbar. 


Anhang  I. 
Aphorismen  zum  Problem  der  Schrift  von  der  Siehenzahl. 

Bereits  in  der  Mono<?raphie  'Die  neuentdeckte  Schrift  eines  alt- 
milesischen  Naturphilosophen  und  ihre  Beurteilung  durch  H.  Diei.s' 
iqi2  S.  36 ff.  (=  Memnon  Bd.  V,  3—4  S.  i84ff.)  habe  ich  in  Form  von 
Aphoriömen  auf  zahlreiche,  z.  T.  recht  bedenkliche  Widersprüche 
und  Schwierigkeiten  aufmerksam  gemacht,  die  alle  diejenigen  glaub- 
haft, d.  h.  wissenschaftlich,  aufzulösen  verpflichtet  sind,  die  nicht  mit 
uns  die  ersten  elf  kosmologischen  Kapitel  des  Buches  jt.  kßd.  für  ein 
echtes,  einheitliches,  einem  altmilesischen  Physiker  des  6.  Jahrhunderts 
entlehntes  großes  Zitat  oder  Exzerpt,  sondern  vielmehr  für  die  „archai- 
sierende Imitation"  eines  zwischen  450  und  550  lebenden  „kindis^-hen 
Vertreters  der  Hippokratik"  (Diels)  oder  eines  „pythngorisierenden", 
d.  h.  vom  Pythagoreismus  wesentlich  abhängigen  Kosmologen  jener 
Zeit  (Pfeiffer)  oder  gar  eines  „Pythagoreers"  (Ermerins)  erklären  möch- 
ten. Wie  ich  schon  a.  a.  0.  hervorgehoben  habe,  lassen  sich  die  in 
dieser  Hypothese  liegenden  Schwierigkeiten  und  Widerspräche  wohl  am 
besten  klarmachen  durch  den  Hinweis  auf  das  sonderbare,  ja  fast 
unglaubliche  Gemisch  von  Gelehrsamkeit  und  Unwissenheit,  von  Selb- 
ständigkeit (Originalität)  und  Abhängigkeit,  von  Vernunft  und  Tollheit, 
von  Modernismen,  Archaismen"")  und  Anachronismen,  von  Scherzund 


115)  Mit  Recht  sagt  R.  Fritzsche,  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch. 
Philos.  u.  Soziologie  1912  S.  121:  „Ein  auf  Ablehnung  hindrängendes 
subjektives  .Gefühl  durch  objektive  Gründe  zu  stützen  ist  deshalb  so 
schwierig,  weil  es  in  dem  ganzen  Stücke  kein  f.^t'fl^'7]eo  amarslv,  keinen 
entschiedenen  sprachlichen  oder  sachlichen  Modernismus  gibt.  Dies 
ist  in  der  Tat  sehr  auffällig.  Diels  meint  deshalb,  daß  wir  hier  eine 
'archaisierende  Kompilation  und  Imitation'  (aus  der  Zeit  zwischen 
450— 350)  vor  uns  haben.  Aber  hat  dann  der  angeblich  kindische 
Verfasser,  falls  er  wirklich  —  und  warum?  —  so  geschickt 
archaisierte,  nicht  eine  erstaunliche,  ja  unbegreifliche  Lei- 
stung vollbracht?  Daß  die  Kugelgestalt  der  Erde  ein  Modernis- 
mus sei,  ist  nur  scheinbar.  Sie  ist,  wie  bei  Pythagoras,  so  auch  bei 
unserem "Heptadiker,  nur  eine  Übertragung  der  vom  Himmel  entlehnten 
Sphärenidee  zunächst  auf  die  Luft,  dann  auch  auf  das  Wasser  und  die 
Erde,  keineswegs  mathematisch  (durch  den  bei  Ortsveränderung  nach 
allen  Richtungen  gleichmäßig  sich  ändernden  Elevationswinkel  der 
Sterne)  begründet  usw." 


c)0  \Vii.ii.  H.  luisciiKu:  l7',S 

Ernst  "'),  das  die  kosuiolof^ische  Einleitung  von  tt.  l^ßfi.  darstellen  würde, 
wenn  sie  wirklich  erst  in  der  Zeit  zwischen  450  (od.  400)  und  350  v.  Chr. 
entstanden  wilre.  Das  lilßt  schon  eine  ohertiächlirhe  Musternnf^  der 
hauptsächlichsten  von  unserem  Kosniolopen  vertretencMi  '1  licorion  deut- 
lich erkennen,  wie  ich  a.  a  O.  iiusj^eliiiirt  habe,  eine  J,)arle<ruuf^,  die 
meines  Wissens  bis  jetzt  noch  nicht  in  einem  einzigen  Punkte  wider- 
legt worden  ist.  Hierzu  kommen  jetzt  noch  mehrere  neue  Argumente, 
die  mir  7..  T.  erst  kürzlich  bewußt  geworden  sind  und  ebenfalls  am 
besten  und   kiirzesten   in   nphoristischer   Form  vorgetragen   werden. 

Nimmt  man  an,  daß  der  Kosmologe  der  Schrill  n.  ipd.  erst  der 
zweiten  Hälfte  des  S-  Jabrh.  oder  noch  später  angehört  habe,  also  ein 
Zeitgenosse  des  Herodot,  Ilijipokrates  und  Demokrit  gewesen  sei,  so 
ergeben  sich  u.a.  folgende  höehst  unwahrsclieiuliclie   Konsequenzen: 

1.  Her  ionisch  schreibende,  also  doch  wohl  mit  der  Literatur 
der  lonier  einigermaßen  vertraute  Verfasser  muß  auf  einem  für  seine 
Zeit  geradezu  unglaublichen  geographischen  Standpunkt  gestanden, 
d.  h.  außerordentlich  viel  weniger  gewußt  haben  als  sein  zirka  50  bis 
100  Jahre  vor  ihm  lebender  Landsmann  Hekataios,  sehr  viel  weniger 
auch  als  sein  ebenfalls  ionisch  schreibender  Zeitgenosse  Herodot,  da 
seine  7 teilige  Weltkarte  nur  die  von  den  alten  Milesiern  des  7.  und 
6.  Jahrb.  befahrenen  und  besuchten  Meere  und   Länder  umfaßt. 

2.  Es  entsteht  die  schwer  oder  gar  nicht  zu  beantwortende  Frage, 
wie  es  zu  erklären  sei,  daß  der  Hebdomadiker  das  politisch,  wirtschaft- 
lich und  kulturell  durch  die  Perser  fast  zugrunde  gerichtete  (Herod. 
I,  170:  öi^qd-ägt])  lonien  immer  noch  als  ''Zwerchfell',  d.  h.  als 
Miftelpunkt  der  oly.ovfievri  und  Hochsitz  aller  Kultur  und  In- 
telligenz (s.  das  Zeugnis  des  Ps -Galenos  ob.  S.  4)  bezeichnen  kann, 
obwohl  doch  damals  die  Blüte  loniens  längst  vorüber  und  auf  das 
vom  Verf.,  ebenso  wie  Persien,  vollkommen  ignorierte  Athen  über- 
gegangen war. 

3.  Im  5.  Jahrhundert  und  später  galt  nach  der  Eroberung  loniens 
und   der   Zerstörung   des  Branchidenorakels   allgemein  Delphi   in   der 


116)  Wenn  man  mit  Diels  'die  Phantastik,  die  sich  in  dem  kos- 
mologischen  Abschnitt  Kap  i  — 11  entfaltet,  für  ein  Analogou  za  der 
tollen  Laune,  die  in  des  Aristophanes  Komödien  ihr  Spiel  treibt',  hält 
und  außerdem  an  die  Identität  des  Kosmologen  und  Pathologen  glaubt, 
dann  entsteht,  wie  Drekcp  (Lit.  Z.  191 1  S.  1314)  richtig  bemei'kt,  der 
wunderliche  Widerspruch,  daß  der  Verf.  des  durchaus  ernst  zu  nehmen- 
den pathologischen  Teihs  in  Kap.  I — XI  eine  von  toller  aristophanischer 
Laune  und  kindischer  Spielerei  zeugende  Kosmologie  verfaßt  haben 
soll,  was  doch  ganz  unglaublich  erscheint  und  bisher  jeder  Analogie 
entbehrt. 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.         gi 

griechischen  Welt  als  öacpaXbg  yf]?  und  Mittelpunkt  aller  relipriösen 
Weisheit  und  Kultur;  der  Verf.  von  ä.  kßS.  aber  ignoriert  völlig  Delphi 
als  Zentrum  des  orbis  terrarum  und  ürsitz  religiöser  Weisheit  und 
nennt  statt  seiner  lonien  das  'Zwerchfell  der  Welt',  dessen  Orakel 
(Branchidai)  längst  aufgehört  hatte,  der  Rivale  Delphis  zu  sein. 

4.  Der  Verf.  von  tt.  fßd.  müßte  ein  wunderlicher,  d.  h.  völlig 
kritikloser  ('kindischer')  Eklektiker  namentlich  gegenüber  dem  Fytha- 
woreismus  gewesen  sein,  mit  dessen  Grundidee  (Bedeutung  und  Herr- 
schaft der  Zahl)  er  doch  in  einseitigster  Weise  übereinstimmt.  Vor 
allem  erscheint  unbegreiflich,  warum  er  gerade  folgende  altpythago- 
reische  Hebdomaden  i'')  und  Lehren  ignoriert  oder  verworfen  hat: 

a)  die  Lehre  von  den  7  Tönen  (Heptachord) '^*), 

b)  die  Lehre  von  der  Sphärenharmonie, 

c)  die  Lehre  von  der  Siebenzahl  der  Planeten, 

d)  die  Lehre  von  der  Bewegung  der  Erde  um  das  Zentralfeuer, 
von  den  10  Sphären  und  von  der  Bedeutung  der  übrigen  maßgebenden 
Zahlen  (i,  4,  6,  9,   10  usw ). 

5.  Wer  den  heptadischen  Kosmologen  mit  dem  Pathologen  der 
Schrift  von  der  Siebenzahl  für  identisch  hält,  der  berücksichtigt  nicht 
folgende  bei  dieser  Annahme  unerklärliche  Tatsachen: 

a)  daß  in  Kap.  XII,  wo  der  pathologische  Teil  beginnt,  sich  plötz- 
lich der  Stil  des  Verf.  insofern  gründlich  ändert,  als  er  nunmehr  wieder- 
holt von  seiner  persönlichen  Ansicht  {'ego  ipse'  usw.)  redet,  im 
schroffen  Gegensatz  zum  Hebdomadiker  (s.  meine  Ausgabe  S.  16  f.  u. 
Anm.  3); 

b)  daß  im  pathologischen  Abschnitt  plötzlich  eine  dualistische 
(Kälte  —  Wärme:  Kap.  XllI  ff.)  oder  eine  tetradische  (i.  Feuer  oder 
Wärme,  2.  Feuchtigkeit  oder  Wasser,  3.  Kälte  oder  Luft,  4-  Festes 
oder  Trockenes  =  Erde:  Kap.  XV,  XXIV)  Anschauung  auttritt.  Auch 
stehen  die  3  Jahreszeiten  in  Kap.  XVI  in  schroffem  Widerspruch  mit 
den  7  ojQoci  in   Kap.  IV; 

c)  daß  der  Pathologe  am  Schluß  von  Kap.  LIIT  offen  die  Be- 
nutzung älterer  Literatur  zugibt  mit  den  Worten  der  lateinischen 
Übersetzung: 

„Ego  quidem  quae  (qui)  ante  nie  fuerunt  medici  rede  scierunt  his 
non  habeo  quod  contraeam,  credem  melius  esse  rede intelhgere  anterior a 
quam  nova  et  falsa  dicere."' 

Daß  zu  diesen  anteriora  in  erster  Linie  die  heptadische  Kosmo- 
logie gehört,    liegt  ja   auf  der  Hand  und   wird   überdies   noch   durch 


117)  Aufgezählt  von  Alex,  zu  Met.  1,  5,  985  C  26  S.  38,  8  =  Zellee 
PS.  390  A.  2. 

118)  S.  unten  Nestles  Brief  S.  97. 


g2  WiLii.  Tl.  Ivosi'iiKu:  [7'iS 

luelirore  Siit/e  in  Kap.  XII  uml  \.\  liostiltigt,  in  denen  unser  Pathnloj^e 
sich  etol/.  zu  iltMu  (irundsatz  bokimnt,  daß  ee  unmiij^lich  Bei,  die  Natur 
d«'8  nion.schlichen  Körpers  penüjrend  zu  erkennen  ohne  die  Krkonntnis 
der  Natur  dos  Weltfjanzen  {ciifi<  rT/v,-  ror  oXov  (pvatioe  IMat  l'liaedr. 
|).  270  C,  vjjl.  IijiEKii,  Festöcbr.  f.  l.ipaius  ö.  20  A.  1  u.  S.  31).  Vgl.  z.  li. 
Kap.  XU:  Cum  crt/o  eiic-moili  sit  mundus,  ostendam  et  in  egiitudine 
haec  pati  tot  um  )iiundum  tt  nlionnn  omniuni  corpora.  Necesse  est 
pmpter  eos,  qtii  vesciunt  miitidi  tolius  et  omniunt  vaturani,  ostnid're, 
ut  scieutes  niagia  adscfini  ]u>ssitit  qune  nunc  dirunlur  usw.  Kap.  XX: 
Medicontm  autem  hiijn ntidin  totitis  mundi  .  .  . 

b.  Die  Hebdomadeulehro  unseres  Kosmologen  gehört  entwick- 
lu  ugs  fx  Pschi  c  b  tlich  unzweifelhaft  in  die  Zeit  zwischen  Solon 
(vgl.  dessen  10  Iiobdoniadische  i]Xi-xiui)  und  Pythagoras  und  bildet 
die  bisher  vermilito  Brücke  zwischen  diesem  und  den  altmilesischen 
Philosophen,  sowie  die  Vorstufe  zu  der  altpythagoieiscben,  erlieblich 
vielseitigei-on  Zahlenlehre.  Das  bekannte  Fragment  20  (Diki.s)  des 
Philolaos:  i'crt  yug  {ij  t/J^oftäi,]  i^yfiiwr  xal  äpjjojj/  anccvrcov,  -öcdg,  elg, 
äfl  iov,  uoviuog,  äxlvrjzog,  arröi,-  tnvTcij  o^oiog,  tttgog  rüv  üV.cov  beweist 
klar  die  Abhängigkt-it  des  uuteritalisclien  Philosophen  von  der  Hebdo- 
madenlehre  der  altiouischen   Kosmologen  und   Ärzte  (s.  S.  63  u    88)."*) 

7.  Was  man  als  'kindische'  oder  'törichte'  Annahmen  ('Spiele- 
reien') unseres  Kosmologen  bezeichnet  hat,  darin  sind  im  Grunde  nur 
Zeugnisse  für  das  hohe  Alter  und  die  Nai  vität  (Kindlichkeit)  seiner 
philosophischen  Anschauung  zu  erblicken.  Viele  von  mir  (s.  Memuou 
a.  a.  ü.  S.  171  Anm.  i  u.  meine  Ausgabe  von  tt.  ^ßä.  S.  157  Anm.  215) 
angeführte  Vorstellungen  des  Thaies.  Anaximandros,  'Pythagoras', 
Heraklit,  Empedokles  usw.  stehen  aut  derselben  Stufe  der  Kindlichkeit 
wie  die  des  Heptadisten  und  würden,  wenn  sie,  wie  diese,  anonym 
in  irgendeinem  Hippocrateum  überliefert  wären,  mit 
gleichem  Recht  für  'kindische  Spielereien'  erklärt  werden 
können. 

8.  Das  Verhalten  des  Piaton  (Phaedr.  p.  270),  des  Poseidonios, 
Galenos  und  der  antiken  Herausgeber  und  Erläuterer  unserer  Schrift, 
die  von  ihnen  mit  Achtung  zitiert  wird  und  der  Aufnahme  in  die 
Sammlung  der  Hippocr  itea  gewürdigt  worden  ist,  beweist  zur  Genüge, 
daß  wenigstens  diese  Männer  den  Verfasser  für  keinen  'kindischen' 
oder  'törichten  Spieler'  mit  der  Zahl  7  gehalten,  sondern  tatsächlich 
ernst  genommen  haben  (vgl.  Ilbekg,  Festschr.  f.  Lipsius  S.  27). 


1 19)  Auch  wenn  (was  ich  nicht  annehme,  s.  ob.  S.  62  f.)  dies  Frag- 
ment, wie  DiELS  meint,  zweifelhaft  oder  gar  untergeschoben  sein  sollte, 
ist  doch  seine  Abhängigkeit  von  der  alten  Hebdomadenlehre,  wie  sie 
vor  allem  durch  die  Schrift  TtA§8.  repräsentiert  wird,  unbestreitbar. 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  93 

9.  Die  auffallende  Tatsache,  daß  unsere  Schrift  nur  von  Piaton, 
Poseidonios  und  Galenos  zitiert,  dage.ijen  von  Theophrast  und  dessen 
Ausschreibern  (Aetios  usw.)  ignoriert  wird,  erklärt  sich  einfach  aus  der 
von  DiELs  (Hermes  28  [1893]  S.  409)  geschilderten  Arbeitsteilung  der 
Mitarbeiter  des  Aristoteles  an  seiner  umfassenden  Enzyklopädie  der 
Wissenschaften,  wobei  dem  Theophrast  die  Bearbeitung  der  Pbilosophie- 
geschichte,  dem  Eudemos  die  Theologie  und  die  exakte  Wissenschaft, 
dem  Menon  die  Medizin  zugefallen  war.  So  gehörte  die  Lektüre  von 
TT.  sßS.  in  das  Ressort  des  Menon,  nicht  des  Theophrast,  und  konnte 
von  diesem  leicht  übersehen  oder  ignoriert  werden.  Noch  beute  ist  der 
Standpunkt  des  Th.  durchaus  nicht  überwunden,  insofern  die  Schrift 
n.  ißd  in  den  philosophiegeschichtlichen  Werken  nach  wie  vor  beharr- 
lich iornoriert  wird.  Wie  lange  wird  dieser  sonderbare  Zu- 
stand  noch  fortdauern? 

IG.  Herodot  sagt  (9,  11 6):  Ti]v  'Aaiav  näauv  [also  auch  lonien!] 
voiiitovGL  [Praes.!]  kavTcbv  slvcci  nigaai  ■aal  toü  ccd  ßceciXBvovtog.  Und 
in  einer  solchen  Zeit  soll  ein  ionischer  Kosmologe  oder  Arzt  beim  Ent- 
werfen  einer   7 teiligen  Weltkarte  Persien   außer  acht  gelassen  haben? 

11.  D.-rselbe  Herodot  sagt  von  den  loniern  vor  ihrer  Vernichtung 
duich  die  Perser  (i,  143):  ol  iiiv  vvv  aXXoi  "lovfg  xort  oi  '^Q-t]vocioi 
^(pvyov  rö  oüi'ou«,  ov  ßovXöfisvoi  "Icoveg  -asxXfiGd-ai,  aXXä  kkI  vvv  cpai- 
vovTai  (.LOi,  oi  noXXol  ccvtäv  inaiaxvvsa&aL  tm  ovpoikxti,  ai  6s  Svoads^a 
jtöXsig  [Milet  usw.]  avraL  xä  rs  ovv6(iaTi  iiyäXXQvxo  [PraeteritumlJ  xat 
igbv  iägvöavTO  ini  Gcpiav  ccvtscov,  reo  ovvoua  '^&svro  YIccviwviov ,  ißov- 
Xsv6avT0  dh  avTOv  ^sradovvai  ^r]Sa^ot6i,  aXXoißi  'lävcov.  Wer  dieses 
Zeugnis  Herodots  in  Betracht  zieht,  der  kann  nicht  zweifeln,  daß  unser 
hebdomadischer  Kosmolog,  der  offenbar  auf  seine  ionische  Heimat  über- 
aus stolz  ist  (s.  ob.  S.  4),  der  Zeit  vor  dem  Untergange  loniens  an- 
gehört und  unmöglich  in  die  Jahre  von  450—350  versetzt  werden  kann, 
wo  die  Mehrzahl  der  lonier  sich  ihres  Namens  zu  schämen  pflegte. 
Vgl.  auch  WiLAMOwiTz,  Timotheos  S.  66.  Thuk.  8,  25.  Zenob.  V,  57.  80. 
Apost.  12,  51.  5,  38.    Diogen.  3,  87. 

12.  Zu  der  eigentümlichen  Rolle,  welche  der  Mond  im  Weltbild 
des  Hebdomadikers  als  Sitz  der  Weltseele  oder  der  Weltvernunft  spielt, 
hat  wohl  sicher  der  uralte,  ganz  Vorderasien  erfüllende  Menkult  bei- 
getragen. 

13.  Gewiß  mit  Recht  nimmt  Feedkich  (Hippokrat.  Untersuchungen 
S.  134 f.)  an,  daß  die  Übereinstimmungen  vieler  alter  Physiker  nicht 
notwendig  auf  Abhängigkeit  voneinander  zurückzuführen  seien,  weil 
'ihre  Grundgedanken  gewissermaßen  in  der  Luft  lagen'. 
Das  gilt  wohl  sicher  auch  von  unserem  Kosmologen  hinsichtlich  seiner 
Übereinstimmung  mit  Thaies,  Anaximandros,  Anaximenes  usw.  Die 
Lehre  vom  Makrokosmos  —  Mikrokosmos,   die   zuerst  deutlich  von  un- 


94  WiLii.  II.  Hosi'niou:  l7»,5 

Borein  Kosiuologen  auBgi'wprofhon  ist'*"),  kann  recht  wohl  zu  dicHoii 
damals  in  der  Luft  lio^onden  (Jnmdf^cdanken  gehört  haben.  i']l)onHo 
dürfte  es  sich  mit  der  Lehre  vom  atmenden  Kosmos,  der  wir 
vielleicht  bei  unserem  KosmoloRcn  wie  bei  'l'ythagoras'  bej^egnen,  ver- 
halten (8.  .jedoch  ob.  S.  87). 

14.  Ks  ist  sehr  aulTallend,  tiali  iinstr  Kosmologe  einerseits  die 
epezitisch  pythagoreischen  Hebdomaden  (ob.  unter  4!)  ignoriert,  aber 
anderseits  die  sicher  vor  'Pythagoras'  allgemein  anerkannten  (Aristot. 
Met.  14,  6;  12,  4,  3),  nämlich  die  Lehre  von  den  7  (ionischen)  Vokalen, 
von  der  entscheidenden  (kritischen)  Bedeutung  der  Siebcn/.ahl  i'ür  die 
Kntwicklung  des  Fötus  wie  des  Menschen  überhaupt  und  für  die  Krank- 
keiten (s.  Hebdom  adenlehren  S.  60  ff.),  aufgenommen  hat.  Das  deutet 
doch  wohl  entschieden  auf  vori)y thagoreiachen  Ursprung. 

15.  Nach  P.  .Iknskn,  Kosmol.  d.  Babylonicr  S.  257,  und  H.  Bkroi;«, 
Sachs.  Her.  46  (1894)  S.  lO,  erscheint  nach  babylonischer  Anschauung 
die  Erde  'als  ein  Berg  oder  als  eine  unten  hohle  Halbkugel'.  Die- 
selbe Vorstellung  scheint  auch  dem  oben  (S.  12)  mitgeteilten  altägyp- 
tischen Bilde  zugrunde  zu  liegen,  das  den  Erdgott  in  einer  überaus 
wunderlichen,  n<ir  von  diesem  Gesichtspunkt  au.s  verständlichen  ])Ogen- 
oder  halbkugelförmigen  Verrenkung  zeigt.  Neuerdings  hat  Wkn.sinck 
in  seiner  Schrift  „The  navel  of  the  earth"  (==  Verband,  d.  K.  Akad.  te 
Amsterdam,  Letterkunde  N.  R.  XVII  Nr.  I)  S.  13  nachgewiesen,  daß 
auch  die  Westsemiten,  besonders  die  Juden,  Samaritaner  und  Araber, 
eine  ganz  ähnliche  Vorstellung  gehabt  und  dem  angenommenen  Mittel- 
punkt der  Erde  (Jerusalem,  Sichem,  Mekka  usw.)  infolgedessen  eine 
Höchstlage    zugeschrieben   haben    {?.  Roscheb,  D.  Omphalosgedanke 

S.  39-  52.  57). 

16.  Die  Geschichte  der  Erdkunde  der  Griechen  von  H.  Bekgkk 
lehrt  unwiderleglich,  daß,  entsprechend  den  immer  ausgedehnteren 
Entdeckungsfahrten  der  Griechen  und  den  Eroberungen  seitens  der 
Per.ser,  Mazedonier  und  Römer,  die  Erdkunde  der  Hellenen  von  der 
ältesten  Zeit  bis  zur  Ausbreitung  des  römischen  Weltreichs  fortwährend 
gewachsen  ist,  daß  also  die  Weltkarten  einen  um  so  bescheideneren 
Umfang  haben,  je  älter  sie  sind.  Schon  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
muß  die  Weltkarte  des  Hebdomadikers  älter  sein  als  die  des  Hekataios, 
ä,lter  auch  als  die  vorauszusetzende  des  Pythagoras  und  seiner  ältesten 
Schüler.  Leider  bat  Bekgeu  die  Schrift  n.  ißö.  nicht  berücksichtigt. 
Hätte  er  es  getan,  so  würde  er  sicherlich  die  siebenteilige  Weltkarte 
des  alten  Milesier.s  an  die  Spitze  seiner  Untersuchungen  gestellt  haben. 


120)  Vielleicht  auch,  aber  weniger  deutlich,  von  Anaximenes 
(Zellee  ^  I,  243  f.  u.  241,  4)  und  schon  von  Anaximandros  (Zei.leis 
a.  a.  0.  S.  21 7  f.). 


71,5]      Die  HiFPOKRATiscHE  ScHKiFT  VON  DER  Siebenzahl.  95 

Anhang  IL 

Briefliche  Äußerungen  hervorragender  Forscher  zum  Problem 

der  Schrift  ti.  eß<f. 

Um  namentlich  jüngere  Gelehrte,  die  sich  m.  E  viel  zu  wenig 
um  die  Schrift  von  der  Siebenzahl  gekümmert  haben,  zu  deren  Studium 
und  zur  Lösung  der  immer  noch  sehr  zahlreichen  darin  enthaltenen 
Probleme  anzuregen,  teile  ich  hier  eine  Anzahl  brieflicher  Äußerungen 
hervorragender  älterer  Forscher  mit,  die  mit  mir  der  Ansicht  sind,  daß 
die  genannte  Schrift  es  wohl  verdient,  nach  allen  Richtungen  durch- 
forscht zu  werden. 

Ich  ordne  die  betreffenden  Briefe  in  chronologischer  Reihenfolge. 
An  die  Spitze  stelle  ich  einen  Brief  von  Wii.amowitz  aus  dem  Jahre  1906, 
der  mir  den  Empfang  der  'Hebdomadenlehren'   meldet. 

Westend  Berlin,  5.  X.  06. 
Eichenallee  12. 
Hochgeehrter  Herr! 

Sie  haben  mich  durch  die  Übersendung  Ihrer  Abhandlung  über 
die  Siebenzahl  zu  dem  lebhaftesten  Danke  verpflichtet.  Es  haben  hier 
etliche  junge  Leute  in  den  letzten  Jahren  über  die  Theorien  gearbeitet, 
die  auf  Poseidonios  zurückzugehen  scheinen;  das  hat  mir  die  Aufgabe 
nahegebracht,  die  Sie  nun  lösen.  Es  ist  für  Hippokrates  von  großem 
Werte,  daß  Sie  die  Schrift  über  die  Sieben  einer  so  eingehenden  Unter- 
suchung gewürdigt  haben  Ich  kann  freilich  nicht  glauben,  daß  sie  in 
der  erreichbaren  Form  in  so  hohe  Zeit  hinaufreicht,  aber  die  Lehre  ist 
davon  unabhängig,  und  da  ist  Ihre  Darlegung  schwerlich  anfechtbar. 
Milet  oder  Kleinasien,  das  macht  nichts  aus,  Knidos  gehört  ja  auch 
dahin,  und  man  hat  dort  Medizin  doch  auch  nur  ionisch  geschrieben. 
Die  Frage  nach  dem  Hippokrates,  den  Piaton  zitiert,  wird  immer 
brennender,  denn  ich  kann  ihn  von  den  Epidemien  nicht  trennen.  Ich 
habe  jetzt  als  Preisaufgabe  die  Bücher  außer  i  und  3  gestellt,  aber  ich 
weiß  nicht,  ob  ich  einen  Bearbeiter  finden  werde. 

Den  schmalen  Pfad  zwischen  dem  Leugnen  des  babylonischen 
Einflusses,  der  in  Griechenland  doch  erst  im  sechsten  Jahrhundert  be- 
gonnen hat,  und  dem  Verfallen  in  das  moderne  Babyloniertum,  haben 
Sie,  dünkt  mich,  innegehalten.  Soweit  ich  sehe,  steht  es  in  der  Astro- 
nomie grade  so:  ich  glaube  allerdings  nicht,  daß  die  Tradition  Glauben 
verdient,  die  Morgenstern  und  Abendstern  erst  durch  Pythagoras  iden- 
tifizieren läßt.  Phaethon,  deu  Aphrodite  raubt,  ist  doch  wohl  auch  zu- 
gleich der  Phaethon,  der  vor  der  Sonne  reitet. 

Selbstverständlich  habe  ich  nur  eben  ihre  Arbeit  durchflogen,  um 
den  Eindruck  zu  haben,  der  mir  ermöglichte,  mich  zu  bedanken,  aber 


g6  WiLn.  H.  TvosriiER:  [71,5 

i(  h   kann  das  mit  der  Versicherunff  tun,  daß  ich  reiche  Belehrung  mehr 
noch  erwarte  als  bereits  empfangen  hahe. 

Mit  noclnnalipeni  vei  hindliclisten  Danke  und  der  Versicherung 
auügezeichucter  Hochachtung  ganz  er;;ebenst 

ri.UICn     WlLAMüWlTZ-MÖLLKNDOKKK. 

Es  folgen  mclirere  Briefe  von  Wii.amowitz,  Tmmisch,  W.  Nksti,k, 
WiNüKi.HANi),  die  flieh  über  den  Kindruck  autisproclien,  ilen  die  beiden 
Abhandlungen  'über  Alter,  Ursprung  u.  Bedeutung  der  hippokratischeu 
Sclirift  von  der  Siebenznhl'  (loii)  und  deren  unmittelbare  Nachfolgerin 
'Die  neuentdeckte  Schrift  eines  altmilesischen  Naturphilosophen'  usw. 
(1912)  auf  sie  gemacht  haben. 

Westend-Berlin,   5.  V.  11. 

Eichenallee  12. 
Hochverehrter  Herr! 

Ihrem  freundlichen  Briefe  folgte  Ihre  große  Abhandlung  bald 
nach,  die  ich  eben  nur  angeblättert  habe,  indessen  die  große  Bedeutung 
leuchtet  mir  schon  jetzt  ein:  denn  wenn  man  auch  noch  so  viel  abzieht 
(Überarbeitung  und  spätere  Entstellung),  bo  -weiß  icli  in  der  Tat  nicht, 
wie  man  sich  Ihrem  Hauptschlusse  entziehen  sollte,  daß  wir  die  Grund- 
züge  eines  milesischen  Buches  aus  der  Zeit  des  Hekataios  oder  älter 
vor  uns  haben.  Es  ist  gar  nicht  zu  schätzen,  was  das  für  Konsequenzen 
haben  muß.  Ihre  Abgrenzung  gegen  die  Pythagoreer  ist  ziemlich  das 
einzige,  was  ich  angesehen  habe,  so  daß  ich  die  Gründe  kennen  lernte, 
und  das  ist  einfach  schlagend:  damit  ist  ein  Licht  aufgegangen,  das 
uns  begreiflich  macht,  was  der  Samier  nach  Großgriechenland  bringen 
konnte. 

Ich  kann  also  nichts  als  einfach  Glück  wünschen  und  diesen  Ge- 
winn in  mich  aufzunehmen  versuchen,  der  mehr  bedeutet  als  vieles,  das 
aus  dem  ägyptischen  Sande  kommt  und  mir  einen  guten  Teil  meiner 
Zeit  und  Kraft  kostet. 

In  ausgezeichneter  Hochachtung 

dankbar  ergebenst 

Ulrich  Wilamowitz-Möllendorff. 

Einen  zweiten  Brief  Ws.  vom  7.  V.  191 1  habe  ich  bereits  in  der 
Monographie  'Die  neuentdeckte  Schrift'  usw.  S.  12  Anm.  3  mitgeteilt. 

Gießen,  2.  VII.  1911. 
Verehrter  Herr  Oberstudienrat! 

Ihre  wichtige  Zusendung,  für  die  ich  Ihnen  bestens  Dank  sage, 
kam  gerade  im  Trubel  des  Umzugs  an.  Heut,  nachdem  sich  das  Chaos 
gelichtet,  habe  ich  die  Schrift  gelesen  und  muß  sagen,  daß  mich  die 
Hauptthese    wirklich    überzeugt    hat.     Ich    werde    erst    in    den 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.  97 

Ferien  dazu  kommen,  Einzelheiten  zu  prüfen  und  zu  überdenken.  Ein 
paar  flüchtige  Marginalien  sind  noch  nicht  tanti,  daß  ich  sie  mitteilen 
wollte.  Die  Schritt  ist  auch  hinsichtlich  des  methodischen  Aufbaus 
der  Argumentation  sehr  lehrreich  und  schön,  und  wenn  Zweifel  kom- 
men werden,  Sie  werden,  wie  immer  die  Sache  ausgeht,  das  Verdienst 
behalten,  ein  äußerst  interessantes  Problem  in  Fluß  gebracht  zu  haben. 
Ich  persönlich  zweifle  am  günstigen  Ausgang  nicht,  soweit  der  erste 
Gang  durchs  Ganze  solch  Urteil  erlaubt.  —  Bezüglich  des  hum.  Gym- 
nasiums bin  ich  nicht  in  großer  Sorge.  Diesmal  machen  auch  die 
Universitäten  mobil  (endlich!).  Das  Wichtigste  aber  ist:  die  Attacke 
kommt  zu  spät,  der  Höhepunkt  des  Unverstands  ist  längst  überschritten: 
die  Äußei'ungen  der  Presse  zeigen  es  deutlich.  Und  gefährlicher  als 
Hyperboliker  sind  Reformer,  die  zur  Hälfte  recht  haben  und  Erreich- 
bares wollen.  T, 

0.  Immisch. 

Stuttgart,  den  14.  Nov.  191 1. 
Stitzenburgstraße  11. 

Hochverehrter  Herr  Hofrat! 

Nach  Erledigung  der  Prüfungsarbeiten,  die  mich,  wie  ich  Ihnen 
schrieb,  bis  Ende  Oktober  beschäftigten,  habe  ich  Ihre  mir  freundlichst 
zugesandte  Untersuchimg  über  Alter  usw.  der  Hippokr.  Schrift  von  der 
Siebenzahl  mit  größtem  Interesse  gelesen  und  mir  auch  die  Gegen- 
gründe von  DiELs  überlegt. 

Sie  ersuchen  mich  nun  um  ein  Urteil  über  Ihre  Hypothese,  das  ich, 
soweit  ich  mir  ein  solches  erlauben  darf,  im  folgenden  geben  will. 

Ihre  Beweisführung  scheint  mir  Ihre  These  jedenfalls  sehr  wahr- 
scheinlich zu  machen.  Am  meisten  Überzeugungskraft  messe  ich 
folgenden  3  Gründen  bei:  i.  der  Ignorierung  des  Heptachords,  den  sich 
zunutze  zu  machen  einem  Schriftsteller  des  5.  Jahrhunderts  doch  zu 
nahe  gelegen  wäre,  um  sie  zu  unterlassen;  2.  der  Ignorierung  Athens 
auf  der  Weltkarte  und  3.  der  Bezeichnung  loniens  als  cpgevEg.  Es  ist 
ja  wahr,  daß  die  metaphorische  Bedeutung  des  Wortes  nicht  angedeutet 
ist.*)  Aber  hier  kann  man  sagen:  das  war  eben  selbstverständlich, 
zumal  noch  nsgl  iQfjg  vovaov,  wie  Sie  ja  anführen,  gegen 
diese  Vorstellung  polemisiert. 

Die  von  Diels  behauptete  Unechtheit  von  fr.  126*  des  Heraklit  ist 
mir  keineswegs  über  allen  Zweifel  erhaben,  und  E.  Low,  dessen  Be- 
urteilung und  Exegese  heraklitischer  Fragmente  ich  sonst  freilich  meist 
für  ganz   absurd  halten   muß,   hat  gerade   zu   diesem  Bruchstück  eiue 

*)  Als  Nestle  dies  schrieb,  war  Bergsträssers  Übersetzung  des 
arabischen  Kommentators  (s.  ob.  S.  4)  noch  nicht  erschienen. 

Phil.-hist.  KlasBe  1919.    Bd.  LXXI.  5.  7 


q8  Wimi.  11.  K'osciiKu:  17',  5 

beiU'htcnswiMto  Deutung  lioif^cbracht  (Archir  für  l'hil.  igoi)  S.  <;of.  und 
i<.)ii  S  s6^f.).  Und  ebenso  niöchtf^  ich  Philolaos  fr.  20  nicht  so  leicht 
mit   OiKus  die  Echtheit  absprechen. 

Ob  das  u-KQirov  näyog  ein  MißverHtändniH  des  Anaximandrischen 
UTtttgof  oder  eine  urBprüni^'liclien'  Vorstellung  ist,  wird  sich  schwer 
entscheiden  lassen. 

Was  endlich  die  Kupel^estalt  der  Erde  betrifft,  ho  ist  es  mir  viel 
wahrscheinlicher,  ilaÜ  iliese  Lehre  zuerst  in  pytha^Mreischcn  Kreisen 
aut  kam  als  bei  Parmenides,  der  ja  ^'onavigenommen  die  Ku>fel<?estiilt 
auch   nicht  der  Knie,   sondern  ,,dom  Seienden"  zuschreibt  (fr.  8,  42 if.). 

80  scheint  mir  denn  kein  durchschl  aj^ender  tirund  f^e<;fen 
ihre  Annahme  zu  sprechen.  Die  sprachlichen  Bemerkungen  Hklmukiciis 
habe  ich  allerdings  noch  nicht  gelesen. 

Sie  würden  mich  zu  lebhaftem  Dank  verpflichten,  wenn  Sie  die 
Güte  hätten,  mir  s.  Z.  Ihre  Entgegnung  auf  Diei.s'  Einwände  im 
„Memnon"  zukommen  zu  lassen. 

Die  Vergleichung  der  Erde  mit  einem  Organismus  hat  mich  auch 
deswegen  lebhaft  interessiert,  weil  sie  an  die  wunderliche  Mythen- 
deutung des  Metrodor  von  Lampsakos  erinnei-t.  Seine  Gleichsetziing 
der  einzelnen  Mitglieder  des  olympischen  Götterstaats  mit  menschlichen 
Organen  wird  verständlicher,  wenn  ähnliche  Vergleiche  schon  vorlagen. 
Ich  erlaube  mir  Ihnen  meine  kleine  Abhandlung  über  diesen  wunder- 
lichen Allegoristen  mit  der  Bitte  um  freundliche  Aufnahme  beizulegen. 

In  voi'züglicher  Hochachtung 

Ihr  ergebenster 


'o* 


W.  Nestle. 

Stuttgart,  den  24.  XI.  1911. 
Stitzenburgstr.  11. 
Hochverehrter  Herr  Geheimtat ! 

Empfangen  Sie  meinen  besten  Dank  für  die  Zusendung  Ihres  Auf- 
satzes im  „Memnon",  in  dem  allerdings  2  Seiten  (167/8)  fehlen.  Trotz- 
dem hat  mich  die  Lektüre  desselben  und  die  wiederholte  Überlegung 
Ihrer  Aufstellungen  in  der  Ansicht  bestärkt,  daß  Sie  mit  Ihrer  Hypo- 
these das  Richtige  getroffen  haben.  Die  Ausführungen  über  Branchidai 
und  Lydien  entkräften  die  DiELsschen  Einwände.  Das  Ausschlag- 
gebende aber  ist  die,  wie  mir  scheint,  von  Ihnen  überzeugend  nach- 
gewiesene Altertümlichkeit  der  hier  vorgetragenen  Heptadentheorie,  die 
bei  Abfassung  der  Schrift  um  450  unerklärlich  wäre.  In  Summa:  ich 
glaube,  daß  Sie  recht  haben,  und  freue  mich  mit  Ihnen  der  schönen 
und  bedeutsamen  Entdeckung.  —  Dagegen,  daß  Sie  von  meiner  Mei- 
nungsäußerung auch  öffentlich  Gebrauch  machen,  falls  es  Ihnen  von 
Wert  ist,   habe  ich  nichts  einzuwenden.  —  Für  Ihre  Bemerkungen  zu 


71,5]      Die  hippokratische  ScHRrPT  von  der  Siebenzahx,.         99 

Metrodor  auch  noch  vielen  Dank:   sie  dienen  zur  weiteren  Aufhellung 
der  Gedankencränofe  des  wunderlichen  Heilicren. 


In  vorzüglicher  Hochachtung  t. 


W.  Nestle. 


Heidelberg,  16.  Jan.  1912. 
Hochgeehrter  Herr  Kollege! 

Es  ist  mir  sehr  peinlich  und  ich  bitte  vielmals  um  Entschuldigung 
dafür,  daß  ich  im  alten  Jahre  nicht  mehr  dazu  gekommen  bin,  Ihnen 
meine  Dankesschuld  abzutragen  für  das  freundliche  Geschenk  Ihrer 
Abhandlung  über  negi  ißSoy^äöcov,  die  Sie  in  so  liebenswürdige  Be- 
ziehung zu  einer  Bemerkung  von  mir  gebracht  haben.  Ich  hatte  mit 
den  unseligen  Neuauflagen  und  allerlei  sonstigen  literarischen  Ver- 
pflichtungen bei  gleichzeitiger  durch  Gesundheitsrücksichten  verlangter 
Verminderung  meiner  Arbeitszeit  so  viel  zu  tun,  daß  ich  erst  in  den 
Weihnachtsfei-ien  an  das  Studium  Ihrer  Arbeit  gehen  konnte.  Diese 
hat  mich  nun  außerordentlich  lebhaft  interessiert  und  überzeugt. 
Ich  finde  Ihren  Nachweis  von  der  Zugehörigkeit  der  ersten  Hälfte  des 
Buches  zu  der  ältesten  Literatur  der  milesischen  Wissenschaft  völlig 
gelungen;  namentlich  scheint  mir  das  Argument  aus  der  politischen 
und  handelspolitischen  Geographie  durchaus  konkludent.  Dieses  sieben- 
teilige Weltbild  bestimmt  Ort  und  Zeit  für  den  Ursprung  der  Schrift, 
wie  ich  meine,  ganz  eindeutig.  Es  kann  für  die  Geschichte  der  älteren 
griechischen  Philosophie  nur  höchst  wertvoll  sein,  wenn  so  der  all- 
gemeinere Hintergrund,  auf  dem  sich  die  drei  uns  bekannten  Figuren 
abheben,  in  neues  geschichtliches  Licht  tritt.  Darum  scheint  mir  ge- 
rade die  Beziehung  zum  Leben,  welche  Sie  für  jene  erste  Wissenschaft 
aufzeigen,  ganz  besonders  bedeutsam.  Und  ebenso  freue  ich  mich,  in 
Ihrer  Abhandlung  eine  Bestätigung  meiner  alten  Vermutung  zu  finden, 
daß  in  dem  Corpus  hippocrateum  noch  eine  Fülle  ungehobener  Schätze 
steckt:  sie  zu  heben,  fehlt  es  mir  leider  sowohl  an  der  Zeit  als 
auch  an  der  genügenden  Ausdehnung  des  philologischen  Wissens  und 
Forschens. 

Genehmigen  Sie  also,  hochgeschätzter  Herr  Kollege,  mit  diesem 
zwar  verspäteten,  aber  darum  nicht  minder  aufrichtigen  und  lebhaften 
Danke  den  Ausdruck   der  vorzüglichen  Hochachtung,   mit   der  ich  bin 

Ihr  ergebenster 
W.  Windelband. 

Westend-Charlottenburg,  22.  i.  12. 
Eichenallee  12. 
Hochverehrter  Herr! 
Nehmen  Sie  meinen  verbindlichsten  Dank  für  Ihre   freundlichen 
Sendungen  und  den  schmeichelhaften  Brief,  der  sie  begleitete.    Ich  bin 


loo  Willi   11.  Röscher:  [71,  .S 

Ihnen  allerdings  dankbar,  daß  Sie  den  Schein  vermieden  haben,  zwischen 
DiKi.s  und  mir  einen  Gegensatz  zu  präzisieren.  Als  ich  Dikls  zuerst 
erzählte,  daß  mir  Ihre  Abhandlung  sehr  bedculHani  zu  sein  scheine, 
hatte  er  sie  nicht  gelesen,  zeigte  aber  prinzii)ic,llo  Bedenken,  und  be- 
richtete einige  Wochen  später,  daß  er  den  Nachweis  liefern  könnte, 
von  brauchbaren  Spekulationen  des  6.  Jahrhunderts  wäre  jiichts  darin. 
Ich  erwartete  tieferes  Kingehen,  als  die  Anzeige  braclite;  eigentlich  er- 
warte ich  ea  noch,  uml  nun  erst  recht,  wo  Sie  so  vieles  Neue  heran- 
gezogen haben. 

Ich  habe  zurzeit  so  viel  Arbeit,  von  den  sehr  drückenden  IMlicli- 
t"n  des  Semesters  abgesehen,  und  sie  bewegt  sich  in  so  anderen  Ge- 
bieten, daß  ich  so  bald  kaum  zu  dem  eindringenden  Studium  der 
Schrift  selb-t  kommen  kann,  wie  notwendig  ist,  wenigstens  für 
meine  Art  zu  arbeiten,  um  zu  selbständigem  Urteil  /u  gelangen.  Die 
gemeinsame  Basis,  Kompilation  der  vorliegenden  Schrift  gegen  Ende 
des  5.  Jahrb.;  muß  Raum  zur  Verständigung  bieten.  Aber  die  Scheidung 
dessen,  was  dem  Kompilator  gehört,  ist  der  allein  sichere  Weg,  und 
das  ist  am  Ende  ohne  Text-  und  Stilkritik  nicht  zu  erreichen. 

Beim  ersten  raschen  Lesen  ist  mir  gewiß  manches  begegnet,  zu 
dem  ich  etwas  sagen  könnte,  allein  das  trifft  die  Hauptache  nicht:  das 
Kosmische  ist  wichtiger  als  das  Geographische.  Verzeihen  Sie  daher, 
bitte,  hochverehrter  Herr,  wenn  ich  nicht  mehr  als  meinen  Dank  aus- 
spreche und  meine  lebhafte  Teilnahme  an  dem  wichtigen  Probleme 
versichere.  Wo  immer  und  wie  immer  wir  etwas  von  der  aristotelischen 
Tradition  Unabhängiges  über  die  älteste  Philosophie  erfahren,  da  ist  das 
ein  großer  Gewinn,  und  was  fremdartig  aussieht,  erat  recht. 

In  ausgezeichneter  Hochachtung 

ganz  ergebenst 

U.    WiLAMOWITZ. 

Gießen,  8.  IV.  12. 

Bismarckstr.  43.  • 
Verehrtester  Herr  Kollege! 

Unverzeihlich  spät  danke  ich  Ihnen  für  Ihre  Memnonaufsätze.  Aber 
ich  habe,  der  Wichtigkeit  der  Sache  entsprechend,  die  Ruhe  der  Ferien 
abgewartet,  um  mich  in  das  problema  zu  vertiefen,  die  Polypragmosyne 
des  Seinesters  läßt  dazu  kaum  rechten  Frieden.  Sie  werden  nun  der 
Zustimmung  kaum  noch  bedürfen,  aber  mir  ist  es  Bedürfnis,  Ihnen 
auszusprechen,  daß  Sie  mich  vollständig  überzeugt  haben.  Ich  bin 
in  heller  Freude  über  den  wichtigen  Fund,  den  Sie  mit  Recht  auch 
noch  sehr  viel  über  die  Entdeckungen  von  Bernays,  Blass,  Gompekz 
stellen  dürfen,  denn  es  ist  wahrlich  nichts  Kleines,  ein  Stück  Urprosa 
wiedergewonnen  zu  haben,  sei  es  auch  in  aufgefrischter  Form  (das  tut 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.        ioi 

ja  wenig  aus,  und  ich  verstehe  Hklmreich  nicht,  wie  er  das  für  irgend 
entscheidend  halten  kann).  Es  wird  nun  manches  Problem  ein  neues 
Gesicht  bekommen.  Meinen  Sie  nicht,  daß  von  Ihrem  Weisheitspatri- 
archen Fäden  hinüberführen  zu  dem,  was  Plato  über  den  Aufbau  des 
Körpers  sagt  (der  Kopf  als  ccKgonoXi-gl  der  Hals  als  la&^ios,  die  cpQBvsg 
als  öidcpQayaa  im  ^iaov)'i  Aber  auch  zu  den  Mondphantastereien  des 
Xenokrates  (Heinzk,  bes.  139)!  Darunter  ist  Dämon  —  Seele  —  Mond  als 
Syzygie.  Ich  denke,  da  Sai^wv  (gebildet  wie  iSfimv,  Gtri^av ,  tsqucov, 
xXrmav,  Sar](icov)  ursprünglich  doch  wohl  weiter  nichts  ist  als  „Dipisor", 
wir  bei  ihrem  Manne  einen  wichtigen  Ausgangspunkt  des  Dämonen- 
glaubens haben.  Denn  daß  auch  er  keineswegs  konsequenter  Hylozoist 
ist,  lehren  die  Äußerungen  S.  I04f.  Ihrer  großen  Abhandlung,  die,  von 
Consilium,  Verständigkeit  und  Schuld  redend,  denn  doch  noch  neben 
der  tj^v^r}  als  Lebenskraft  ein  Movens  irgendwelcher  Art  annehmen, 
das  wird  wohl  der  eigentliche  Sai^cov  in  uns  sein,  den  der  Mond,  der 
Weltdämon*),  als  sein  Pendant  im  dai\i6viov  idog  der  q}Q8vsg  kolonisiert 
haben  wird.  Das  weist  wieder  auf  eine  stärkste  Bedeutung  des  Mondes 
überhaupt:  kurz,  wohin  man  blickt,  überall  umwittert  einen  die  Patri- 
archenluft des  Ostens.    Das  ist  wirklich  nicht  zu  verkennen. 

Macte  virtute! 

Mit  herzlichen  Grüßen 

Ihr 

0.  Immisch. 

Was  jetzt  zur  Förderung  des  Verständnisses  der  Schrift  von  der 
Siebenzahl  besonders  not  tut,  das  ist  ein  genaues  griechisch-lateinisches 
Vokabular,  das  uns  zeigt,  welches  griechische  Wort  dem  vom  lateini- 
schen Übersetzer  in  jedem  Einzelfalle  gewählten  lateinischen  entspricht. 
Erst  nach  Vollendung  eines  solchen  Vokabulars  könnte  man  an  eine 
einigermaßen  genügende  Rekonstruktion  des  griechischen  Originals  so- 
wie an  umfassende  Emendation  der  so  schwer  verderbten  lateinischen 
Übersetzungen  denken  (s.  meine  Ausgabe  von  n.  sßS.  S.  IX). 

Anhang  III  (Nachtrag  zu  S.  4). 

Über  die  geograpliisclie  ßedeatang  xon'EXlTjq  tiövtos,  (EkkriöTiovroq'}) 

in  Kap.  XI. 

Bekanntlich  hat  Siegmn  in  der  Festschrift  für  H.  Kiepert  (Berl.  1898) 
S.  323  ff.,  gestützt  auf  Strabo  fr.  58  des  7.  Buches  und  Eustath.  z.  Dion. 
Per.  125,  die  Behauptung  ausgesprochen,  daß  der  Hellespont  in  der 
älteren  Literatur  der  Griechen  eine  viel  weitere  geographische  Bedeu- 


*)  S.  jetzt  oben  S.  93  unt.  12! 


I02  WiLii.  H.  Kobchek:  l7i,S 

tuiiy  gehabt  habe  als  in  ilcr  Hpütoren,  uiul  iuKi»riiiif;licli  tliia  vur  dem 
S.  Jahrh.  nicht  genannte  Ägilische  Meor  darunter  mit  v.n  verstehen  sei. 
Zwar  sind  nicht  alle  von  S.  a.  a.  0.  iingciiihrten  ZeugniHsc  als  beweie- 
kräftii;  an/.usolien  (b.  A.  Klotz,  Rh.  Mus.  1913  168|  S.  286ff),  aber  in 
der  Hauptsaclio  sdieint  mir  S.  doch  recht  zu  haben,  wie  aus  den  nun 
folgenden   Darlegungen  zur  (ieuiigu  erhellen  dürlte. 

Nach  Stnibo  u.  Eust.  a.  a.  0.  ist  unter  11.  im  engaton  Sinne  nur 
der  schmale  Sund  (ar  fvov  "KUris  xOjia:  Antip.  Sidon.  Anth.  gr.  7,  639), 
der  als  solcher  auch  oft  '^ElXi}g  nGgd-ftüs  (Aescbylus'  Perser  69.  722. 
799)  oder  ''EXXtis  Tiögog  (Pind.  fr.  197  Boeckh.  Aesch.  Pcrs.  874'")  ge- 
nannt wird,  zu  verstehen,  während  andere  darunter  entweder  t6  iv- 
vbg  nBgiv9ov  fitgoi;  ti'j^  rigonövriöog  oder  oXt]v  tijv  IlgoitüvTiäu  be- 
greifen wollten.  Noch  andere  (oi  ds)  iiQoaXcc^ßävovai  (jif}  xai  Ti)g 
^^cü  d'aXdo6t]g  Tfjg  TtQog  rb  Alyatov  ntXayog  xai  tüv  MhXavcc  ^öX-nov 
&v£cpyu4vi]c,  xa)  ovroi  äXXog  aXXa  &TroTS(iv6(ievog'  oi  ^Iv  rb  &7ib  2Jtytlov 
in)  Ja/xi/'axov  xal  Kv^ixov  1]  TIccqiov  7)  Ilgianov,  o  öl  TtgooXa^ißävcav 
x«i  Tu  ccTtb  HiyQLov  T^?  Ascßiag.  Dann  heißt  es  weiter:  ovy.  ouvovai. 
de  rivsg  xai  ro  fte^pi  rov  Mvqtojov  nsXäyovg  anav  xaXstv 
EXXi]g  növrov  ['EH^önroirov] '**),  t'intg,  wg  (pr}Civ  iv  roTg  vfivoig 
niv  ö  ag  og , 

oi  (i£&'  'HguKXtovg  iv.   Tgoiag  nXiovrsg  dtä  nag&iviov 
[■7tag&£viag7]  ""'EXXag  növrov  [Hss.  Tropö'fiov],  iml  reo 
Mvgrccxp  6vvf]ipav,  sig  K&v  inaXiv6g6^r)ßccv  ^fcpvgov 
cci'Tinvsvaavtog.  '**) 

121)  Aesch.  Pers.  723  nennt  den  H.  auch  geradezu  Boanogog. 
Vgl.  außerdem  Meleager  XII,  53,  i :  nogov  '''EXXr]g. 

122)  Daß  hier  "'EXXrig  növrov  und  "EXXag  növrov  (für  "E.  nog%'[iöv) 
zu  schreiben  ist,  folgt  einerseits  aus  dem  Zusammenhang,  anderseits 
aus  Beispielen  wie  "'EHtjs  növrog  frgm.  lyr.  adesp.  12B.,  n6vrog"EXXrig 
(Lyk.  1285),  pontus  Helles:  Dichter  b.  Cic.  or.  163  und  bei  Sen.  epist.  80,  7 
u.  Quint.  9,  4,  140  [=  fr  ine.  LV  p.  289  R. ']:  en  impero  Ärgis  regna 
[sceptra'^  Quint.]  mihi  liquit  Pelops,  ||  qua  ponto  ab  Helles  atque  ab 
lonio  mari  ||  xirgetur  Isthmus,  wo  zugleich  deutlich  das  ganze  Ägäische 
Meer  als  pontus  Helles  bezeichnet  wird.  Weitere  Belege  aus  der  röm. 
Literatur  s.  b.  G.  Jachmänn,  Rh.  Mus.  70  (191 5)  S.  640  flf.  und  Birt  eben- 
da 68  (1913)  S.  414.  Ein  anderer  Ausdruck  für  "EXXrig  növrog  scheint 
mir  %-äXa66a  ''EXXi]vig  zu  sein  in  der  Rede  des  Lyders  Pythios  b. 
Herod.  7,  28.  Vgl.  auch  Phrixeum  mare  (Sen.  Herc.  Oet.  775  u.  Agam.  560), 
ebenfalls  in  der  Bedeutung  von  Aegaeum  mare,  und  das  Dichterbruch- 
stück bei  Plut.  cons.  ad  Apoll.  15,  wo  der  Hellespont  im  engsten  Sinne 
als  &aXä66r}g  avir]v  'EXXr\onovriag  bezeichnet  wird.  —  Vgl  auch  Herod. 
2,  113,  wo  es  von  Paris  cAlexandros)  heißt:    v,ui  ^iv,  mg  iyivero  iv  rä 


71,5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.        103 

ovTco  Ö8  y.ul  t6  Alycclov  niXayog  iiixQf-  ^ov  ©SQuaiov  xai  rfjg  v.ttxa 
OerTCiXiav  xai  Mav.iSoviccv  ^ciXä6ar\g  anav  a^iovGLv'''EXlr,g  Ttövrov  itqoG- 
ayoQEVsiv   äslv ,   nägrvQa   vial  "Ouhqov  v.cclovvTBg  (vgl.  11.  /  360  u.  B  846). 

Zum  Verständnis  des  von  Strabo  angeführten  Pindarfragmentes 
bemerke  ich,  daß  damit  offenbar  auf  die  II.  S  254  ff.  angedeutete 
Herakleslegende  angespielt  wird,  wo  Hypnos  der  Heni.  vorwirft:  ev  S4 
oi  -Aa-AOL  uijauo  &v^ä  \\  ÖQOaa'  ccgyaUcov  ärf/xcaz'  inl  novtov  ai]Tag,  \\  xai 
ftiv  £7iEirK  KöavS'  iv  vuioyiivr]v  ccitivsiv.ag  ||  vöacpi.  Nach  Pherekydes  b. 
Schol.  a.  a.  0.  ist  hier  unter  növrog  das  Aiyatov  nüayog  zu  verstehen, 
das  also  von  Pindar  a.  a.  0.  "EXXag  növrog  genannt  wird.  Aus  Piiidar 
lernen  wir  ferner,  daß  das  von  Hera  veranlaßte  Mißgeschick  des  Hera- 
kles darin  bestand,  daß  sie  ihn,  der  nach  glücklicher  Durchquerung 
des  "Ellag  Tiövcog,  d.  i.  des  Ägäischen  Meeres,  nahe  daran  war,  an  der 
heimischen  Küste  zu  landen,  plötzlich  durch  einen  widrigen  Weststurm 
bis  nach  Kos  zurückwarf  (inalivdQ6iir\6sv). 

Ob  freilich  die  beiden  von  Strabo  aus  Homer  angeführten  Zeug- 
nisse genügen,  die  von  ihm  angenommene  weite  geographische  Aus- 
dehnung des  Hellesponts  (=  Aiymov  itiXayog)  zu  rechtfertigen,  mag 
einigermaßen  zweifelhaft  sein.  Mir  scheinen  vielmehr  solche  Epitheta 
Avie  &nsiQ(ov  (H.  ß  545)  und  nXuTvg  (H.  H  86.  P  432.  Od.  a  82),  die  nur 
mit  Gewalt  auf  den  schmalen  Sund  bezogen  werden  können,  darauf 
hinzuweisen,  daß  auch  schon  Homer  den  Begriff  ' EXXijöJtovTog  {'EXXrig 
jTovrog?)  im  weiteren  Sinne  gebraucht  hat. 

Aber  den  Hauptbeweis  dafür,  daß  tatsächlich  die  weiteste  Be- 
deutung des  Namens  "'EXXt]?  növrog  oder  'EX^anovrog  zugleich  die 
älteste  ist,  erblicke  ich  in  der  Bedeutung  des  zweiten  Bestandteils 
des  Namens,  insofern  növrog  im  Gegensatz  zu  nogd-^LÖg  und  nögog 
immer  nur  vom  offenen  Meere,  niemals  von  einer  Meerenge  oder 
einem  Sunde,  gebraucht  wird. 

Diese  älteste  Bedeutung  liegt  höchstwahrscheinlich  auch  dem  von 
unserem  altmilesischen  Hebdomadiker  in  Kap.  XI  ausgesprochenen  Ver- 
gleiche des  Hellesponts  mit  den  cnira  {ay.iXr\,  (irjpoi)  eines  Menschen 
zugrunde.  Denn  es  würde  ja  weder  der  Größe  noch  der  Wichtigkeit 
dieses  Körperteiles  entsprechen,  wenn  a.  a.  0.  nur  der  verbältnismäßig 
kleine  und  schmale  Sund  darunter  verstanden  werden  sollte,  zumal 
da  es  dem  Kosmologen  darauf  ankommen  mußte,  im  Hinblick  auf  die 
Schiffahrtsinteressen  der  alten  Milesier  möglichst  alle  größeren  von 
ihnen  befahrenen  Meere  bei  seinem  Vergleiche  zu  berücksichtigen. 
So  tritt  denn  nunmehr  neben  das  Ägyptische  Meer  (=  Oberleib),   den 


Alyaim,  i^äarai  avfftot  ixßdXXovOL  ig  rb  Alyvnxiov  nsXayog.  Nach 
diesem  Zeugnis  (^ägyptischer  Priester)  grenzt  also  das  Ägäische  Meer 
(="£Ur]s  növrog  im  älteren  Sinne!)  unmittelbar  an  das  Ägyptische. 


104 


W'uA\.  H.  KosciiKu:  [71,5 


roiitus  KuxiuuB  (=  Intrrl'il)),  die  Maiotis  (=  lousal>o)  und  die  beiden 
Bospori  (=  Füße)  auch  das  bis  hör  vermißte! '"")  Ägilischc  Meer  eanit 
Hellespont  und  Propontis  (=  Schenkel)  als  gleichwer(,i<,'er  Teil  ilcr  als 
vollstilndi^'er  Men8clieiikörj)er  aufpeiaßten  ilyyptiHcli-niiloHiHchen  Welt- 
karte, und  wir  «jcwinnen  so  ein  neues  willUoinnieneH  Ar^ninient  i'iir  die 
hohe  AltertüniliclikeiL  der  Schrift  von  der  .Siebenzalil. 

Anhiinjj;  IV  (Nachtrag  /u  S.  17   Anni.  31). 

Nachträglich  habe  ich  gefunden,  daß  sich  die  Annahme  einer 
altpytba^oreisthen  Weltkarte  doch  noch  mit  yanz  anderen  Arpumenten 
bestätii^en  läßt  als  durch  den  Hinweis  auf  die  waiirsclieinlich  aus  Varro 
Btammeuden  Sätze  bei  Martianus  Capella  VI,  602  ff.  u.  609,  wo  von  den 
auf  den  'doctissimns  Pylhagoras'  zurückgeführten  'quinque  zonae  sive 
fasceae'  des  'orbis  terrae'  die  Rede  ist.  '-';  Auf  dieselbe  griechische 
Urquelle,  die  cpvaimov  öö^ai  des  Theophrast,  gehen  übrigens  zurück  die 
Worte  Plutarchs  de  plac  philos.  3,  14  (==  Dikls,  Doxogr.  378  u.  633): 
UvQ'ayÖQCig  zi]v  yfjv  ävctloyag  Tjj  tov  Ttccvzos  ovqchvov  acpaiQU  Sirj- 
Qf]a&at  slg  nivxs  fcöva?,  drpHTixjjv,  &SQivi]v,  x^i\itQivriV,  iarj^ieQivijv,  Sivt- 
aQXTiiii]V  av  })  fitai]  to  iitaov  ri}g  y))?  ögi^si,  Ttag'  avro  rovro  8ia- 
xfxaufts'j'r]  xßAorftEi'Tj  •  i}  61  oUrir-t]Qi6v  iettv,  i]  [ih6r\  Ti]g  %fQiviig  v.a.1 
XmiSQivfjg,  £i;xpards  zig  ov6a  (vgl.  Bkkgeu  a.  a.  0.  S.  38  u.  207). 

Ich  gehe  aus  von  den  schönen,  höchstwahrscheinlich  dem  Epitaph 
des  Archytas  entnommenen  Eingangsworten  der  berühmten  Horazisclien 

Ode  (I,  28): 

Te,  maris  et  terrae  numeroque  carentis  arenae 

Mensorem  cohibent,  Archyta, 
Pulveris  exigui  prope  litus  parva  Matinum 
Munera  .... 
Richtig  erklärt  schon  der  alte  Scholiast  den  Ausdruck  'mensorem' 
mit  'geometram'  und  verweist  zum  Verständnis  von  'arenae'  auf  Verg. 
Geo.  II,  i05f.:   'quem  [numerum]  qui  scire  velit  Libyci  velit  aequoris 
idem  1|  Dicere   quam  multae  Zephyro  turbentur  arenae';   denn  es  ist 
ja  nicht  zweifelhaft,  daß  es  sich  für  Arcbytas  um  das  Problem  der  am 
Erdglobus   oder  an  der  davon  abgeleiteten  Erdkarte  (jriVal)^**)  xu 

123a)  Vgl.  BoLL,  Lebensalter  S.  50  u.  ob.  Anm.  122. 

123)  Nach  Sirab.  II,  94  gab  Poseidonios  als  Urheber  der  Einteilung 
der  Erde  in  5  Zonen  den  Parmenides  an,  der  aber  in  diesem  Falle 
wohl  sicher  von  Pythagoras  abhängig  war  (Zeller  '  I,  47^ f.  Bebger, 
Gesch.  d.  Erdk.  d.  Gr.  *  S.  69  u.  207  A.  i). 

124)  Vgl.  über  die  auf  Grund  eines  Erdglobus  anzufertigende 
Erdkarte  Strab.  II,  116:  s.  auch  ebenda  U,  logff.,  wo  ebenfalls  von 
den  5  Himmels-  und  Erdzonen  die  Rede  ist. 


71,  5]      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.        105 

demonstrierenden  Erdmessung  und  um  das  Größenverhältnis  des 
festen  bewohnbaren  Landes  zum  Meere  und  zu  den  Sandwiisten  han- 
delte. Vgl.  auch  Plut.  Thes.  I:  iv  talg  yacay patpiaig  .  .  .  oi  ißroQiKol 
XU  SiufpivyovToc  xr]v  yvmßiv  avzäyv  rotg  iaj^äroig  /if'psci  rmi'  tclvcckcov 
TCK^ovvttg  ivioLg  TtccQaygäcpovGiv  oti  „to;  S  inSKSivcc,  •S'ii'fg  avvS qoi 
xat  d-TiQiwdit.g,  7)  ÄTjio?  aiÖv^g,  ?]  Z^vd'iyiov  KQvog,  rj  TtiXayog  Ttsnriyog.^'' 

Daß  mau  aber  tatsilchlich  dem  Pytha- 
goras  selbst  die  Konstruktion  des  Erdglobus 
zu  geographischen  Zwecken  und  ebenso  auch 
den  Entwurf  einer  Erdkarte  zugeschrieben 
hat,  scheint  mir  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
aus  jenen  zahlreichen  samischen  Münzen  her- 
vorzugehen, deren  Reverse  uns  den  großen 
Samier  (TTYGArOPHC)  auf  einem  Stuhle  sitzend 
zeigen;  in  der  R.  hält  er  ein  Stäbchen,  mit 
dem   er  an  einem  vor  ihm   auf  einem  Pfeiler    Fig.3  Revers  einer  samischen 

,.  j  /-111  T  L   •      1^         iT-1         KupfiTmüiize   des    Trajanua: 

hegenden    Globus    demonstriert;    die    Linke    Pythagoras  eisend  vor  einem 

stützt   sich   auf  ein    Zepter.  ^*^)  auf   einem    Pfeiler   ruhenden 

Unter  diesem  Globus  kann  aber  wohl  nur    ^^"^"^  ^"^  '"''  ^^°<^'"  ^'^^- 

chen  in  der  K.  an  diesem  de- 

die  Erdkugel,  nicht  die  Himmelskugel,  zu  ver-  monstrierend  (narh  Dibls, 
stehen  sein,  denn  die  Kugelgestalt  der  Erde  galt  Voraokr.^  i  Titelvignette), 
allgemein  für  eine  Entdeckung  des  Pythagoras  ^^®),  während  die  Kugel- 
form des  Weltalls  oder  des  Himmels  bereits  von  Anaximandros  ge- 
funden war  '*^),  also  keine  besondere  Errungenschaft  des  großen  Samiers 
bedeutet.  1*«) 

Nachträge. 

Zu  Kai).  ^^  S.  79  ff. :  Ein  großer  Unterschied  zwischen  unserem 
heptadistischen  Kosmologen  und  'Pythagoras'  besteht  auch  hinsichtlich 
des  Sitzes  der  ^vxr]  im  menschlichen  Körper.    Während  nach  Plutarch 


12^)  Vgl.  Catal.  of  greek  coins  in  the  Brit.  Mus.  lonia  p.  373.  376. 
381.  390.  392  u.  pL  XXXVII,  14  sowie  die  Titelvignette  zu  Diels,  Vor- 
sokrat.  ^  u.  H.  v.  Fritze  daselbst  S.  Xll. 

126)  Über  die  Möglichkeit,  daß  bereits  die  Ägypter  und  Babylonier 
die  Kugelgestalt  der  Erde  erkannt  haben,  s.  Berger  a.  a.  0.  S.  i76f. 

127)  Vgl.  über  die  acpaiQcc  des  Anaximandros  Diog.  L.  2,  if.  und 
Mahtin  im  Dict.  d.  antiq.  1,  494. 

128)  Nach  Hermesianax  freilich  (bei  Athen.  12  p.  599  A)  war  Py- 
thagoras nicht  nur  der  Entdecker  der  Kugelgestalt  der  Erde,  sondern 
sollte  auch  einen  Himmelsglobus  [arpaiQa  äatQoXoyiKij,  -ngiticotY]  =  Ar- 
millarsphäre,  Astrolabium)  konstruiert  haben.  Vgl.  Beruer  a.a.O.  S.  188 f. 
u.  Martin  a.  a.  0.  p.  488  f. 


io6  WiLii.  11.  Ko.sciiEii:  [71,  3 

(dv  plac.  ))liilo8.  4,  5,  11')  l'.vtliajjonis  lohito:  t6  /in»  fwT/xor  ntQi  rijv 
x«pdi'ai',  rü  di  Xoyiyibv  xor)  i'otQOv  nfQl  rjjv  xfqpaij/r,  iiiiniiit  der 
HobilouiadiktT  den  Sitz  ii<r  ij'i'xi]  (=  Lebenskraft  und  Vernunl't)  weder 
im  Herzen  noch  im  (Joliiru,  sondern  vielmehr  im  Zwerchfell  (cpgifveg) 
an  und  steht  also  noch  völlij^  auf  dem  Staiidpunkte  HüincrB  (v<^l.  IJosciikk, 
Üb.  Alter  usw.  S.  14  If.) 

Zu  S.  cfff.  Zur  Lfhre  der  K6q),  xocfxoi'  vom  Makro  —  Mikrokosmoa 
vgl.  auch  Kitoi.1. ,  I>.  Lehren  des  Hermes  Trismcgistos,  Münster  1914, 
S.  159  f.  u.  Anm.  3,  wo  noch  weitere  Literaturanj^aben  v.u  finden  sind, 
aber  die  Schritt  n.  §ßd\  übersehen  ist.  Nach  Kisi.ku,  Weltenmantel  u. 
Himmelszelt,  S.  503  A.  2  (vgl.  Fi.inukus-Pkthii:,  Personal  religion  in 
Egypt,  Lond.  1909,  S.  40 fF.)  gehört  die  Köqt}  xÖöjuoi»  dem  6.  Jahrb.  v.  Chr. 
an,  als  Ägypten  unter  persischer  Verwaltung  stand  (vgl.  Kislkr  a.  a.  0. 
S.  73t)  A.  4  u.  Kküll  a   a.  ü.  S.  159  A.  3). 

Zu  S.  1 1  A.  22  f.  Vgl.  auch  Kuoll  a  a.  O.  S.  167  u.  die  daselbst 
angeführte  Literatur. 

Zu  S.  94  a.  E.  füge  hinzu: 

17.  Die  Annahme  von  Diels,  daß  die  (gesamte)  Schrift  it.  ißd. 
zwischen  450  u.  350  v.  Chr.  (in  lonien)  entstanden  sei,  scheitert  schon 
au  dem  Umstände,  daß  die  hebdomadische  Kosmologie  (Kap.  i  — 11) 
otfenbar  von  einem  ganz  anderen  Verfasser  herrührt  als  die  Pathologie 
(Kap.  12 — 53);  s.  ob.  S.  91  unter  5.  Da  also  an  der  Nichtidentität  des 
Kosmologen  und  des  Pathologen  nicht  zu  zweifeln  ist,  so  müssen  beide 
nach  DiELs  der  Zeit  zwi.schen  450  u.  350  angehören.  Das  zwingt  aber 
weiter  zu  der  wenig  glaublichen  Annahme,  daß  in  jener  Zeit  zwei 
„kindische,  törichte"  Schriftsteller  existiert  haben,  von  denen  der  eine 
die  in  jeder  Hinsicht  archaisierende  und  darum  fast  lauter  ,, kindische" 
Theorien  verarbeitende  Kosmologie  geschaffen  habe,  während  der  an- 
dere, der  Pathologe,  so  töricht  war,  die  „kindische"  Kosmologie  seines 
Zeitgenossen  [!]  mit  seiner  sonst  ganz  vernünftigen  Pathologie  zu- 
sammenzuschweißen. Wieviel  einfacher  und  wahrscheinlicher  ist  es 
doch,  in  diesem  Falle  bloß  eine  einmalige  'Torheit'  anzunehmen  und 
mit  mir  zu  glauben,  daß  der  (vielleicht  auch  schon  um  500  lebende) 
knidische  Patholog,  weil  er  kein  Philosoph  war,  aber  doch  als  solcher 
erscheinen  wollte,  wie  er  ja  am  Schlüsse  selbst  offen  zugibt,  die  etwas 
veraltete  Kosmologie  eines  älteren  ionischen  Landmannes  benutzt  hat, 
■um  seiner  Pathologie  ein  philosophisches  Mäntelchen  umzuhängen. 

18.  Nach  Herodot  8,  132  hielten  die  Bemannungen  der  vor  Aigina 
versammelten  griechischen  Flotte,  darunter  viele  Athener  und  Korin- 
ther, um  480  vor  Chr.  die  Entfernung  Aiginas  von  Samos  für  ebenso 
groß  wie  die  von  den  Säulen  des  Herakles.  Dies  setzt  natürlich  eine 
große  Unwissenheit  in  geographischer  Beziehung  voraus,  doch  geht 
daraus   hervor,    daß   selbst  die   ungebildeten  Hellenen   des   Mutter- 


71,  5J      Die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl.       107 

landes  die  Existenz  eines  für  die  damalige  Weltkarte  so  wichtigen 
Westpunktes  kannten,  von  dem  unser  Kosmologe  im  Gegensatz  zu 
seinem  Landsmann  Hekataios  (s.  frgm.  3  Müller)  ebensowenig  wie  von 
Persien,  Sizilien  und  Großgriechenland  eine  Ahnung  gehabt  zu  haben 
scheint.  Aber  nach  der  DiELsschen  Hypothese  soll  ein  ionisch  schrei- 
bender Kosmologe  in  der  Zeit  zwischen  450  und  350,  also  50  bis 
150  Jahre  nach  der  Publikation  der  Erdkarten  des  Anaximandios  und 
Hekataios  und  30  bis  130  Jahre  nach  der  Schlacht  bei  Salamis,  bei 
dem  Entwurf  seiner  7  teiligen  Weltkarte  viel  unwissender  gewesen  sein 
als  die  geographisch  ungei»ildeten  Seeleute  vor  Aigina  um  480.  Übrigens 
scheint  mir  diese  Unwissenheit  (die  ja  auch  mit  der  sonstigen  von  der 
DiELsschen  Hypothese  vorausgesetzten  Gelehrsamkeit  des  Verf.  auf 
philosophischem  Gebiet  im  Widersj)ruch  steht:  Abb.  HI  S.  ^ötf.)  darauf 
hinzuweisen,  daß  auch  der  Pathologe  und  Herausgeber  der  Sohrift 
31.  ißd.  älter  ist,  als  man  bisher  angenommen  hat,  weil  er  sonst  die 
längst  veraltete  Weltkarte  schwerlich  ohne  die  nötigen  Korrekturen 
gelassen  hätte. 


Alphabetisches  Inhaltsverzeichnis. 

Die  bloBo  Zahl  bedeutet  die  Seito,  ein  vor  die  Zahl  gesetztes  A.  :=  Anmerkung. 

Adamsage:   lo  A.  19.  ;^pollon    EUddiog,    Neo^T]viog:    42 

EXlrig   növTog:  A.  71  d. 

—  TIvQ'iog:  27. 

—  'TTtfQßoQSLog  (=Fytha,gOY&B):  26. 
Archytas:    104. 
"AQxrog,  'JgxzovQog:  60 f.   86. 


Ägiliscliea  Meer 

101  ff. 

=  mare  Phrixeuxn:  102  A.  122. 

Ägypten  und  Ägyptisches  Meer  ^ 

Oberleib  der  Erde:  3.  5.  7. 


—  =  Land  der  Mitte:   11.   13. 


Artemis  =  Zweizahl:  44. 


Ägypter  nävtwv vosqwtsqoi^:  i  1  A.  23.  1  Athen  ignoriert  vom  Hebdomadiker 


13- 

—  wenden    dem   Süden   den  Kopf 
zu:   10  A.  20. 

Ägyptisches    Meer    grenzt    an    das 

Ägäische  (=  Hellespont):   102  f. 

A.  122  a.  E. 
'Asivavrai  =  Milesier:   16. 
axQTirog  xoffftog:   37. 
Amphidromien  am  7.  od.   10.  Tage 

nach  d.  Geburt:  41  A.  71c. 
Anaximanders  Weltkarte:  14  A.  28. 

17- 
Ankaios  mythischer  Urahn  des  Py-    Dareiosvase:  21. 

thagoras:  27.  Dekaden  jünger  als   Hebdomaden: 

ßjTTjiicdTixot     (Ostvölker)     =     itgog  40  ff. 

fta;fj]f  TtQÖyjiQoi,  to|(moi:   10.        j  Dekadische  Gliederung  der  Welt:  85. 
Apollon  'Ayvisvg  =  ftomg:  43  f.  Vgl.    Jsxäg  s.  Zahlen. 

RoscHEE,  Omphalos  Taf.  I  Nr.  24  j  —  =  vornehmste  Zahl:  54.  61. 

bis  30,  wo   die   als   (loväg  auf-    —  =  y.Xccdovx^^s  =  Zeus  54  f. 

gefaßte    Spitzsäule    des    A.    er-    —  =  TLietLg:  55. 

scheint.  —  =  dsv.xiy.r]  xov  ccneigov:   55. 

—  'Eßä6(isiog,  'EßSoiiaysvrjg  usw.:  1 —  =  itavnl^g  usw.  55  f. 

42.  \  Delphi  =  Omphalos  der  pythagor. 


15-  90. 
Atmen  der  Welt:  87. 

Babylonier:  95. 

Bospori  ==  Füße  der  Erde:  2.  7. 

Bosporaner  =  kräftig,  kriegerisch: 
4  A.  7.  7. 

Branchidai,  Hauptkonkurrent  Del- 
phis: 26  A.  44.  28.  Vgl.  d.  delph. 
Orakel  b.  Herod.  6,  19. 

Dareios'  (Hyst.)  Reicbskarte:    22  ff. 


71,  5]  WiLH.  H.  Röscher:  Die  hippokk.  Schrift  v.  d.  Siebenz.    109 


Weltkarte:    25;    ignoriert    vom 
Hebdomadiker:  91. 
Delphisches  Orakel  u  s.  Beziehungen 
zu  Py thagoras :  26  ff. 

—  —  —  —  —  zu  Samos:  27. 

—  —  —  —  —  zu  Kroton  u.  Meta- 
pont:   28  A.  49. 

—  —  beeinflußt  Orphiker  u.  Pytha- 
goreer:  31  f. 

Demokedes  (Pythagoreer):  19  A.  36. 

28  A.  49.  57  f. 
$vdg  =  Artemis:  44. 

evvaxa:   52. 

Erdachse  {u^av  iisaoiLcpaXog,  jcöXog): 

29  A.  50  a. 

Erde  als  7  gliedrige  liegende  Men- 
schengestalt vorgestellt:  12  f. 

—  als  Berg  oder  hohle  Halbkugel 
vorgestellt:  94. 

Erdgott  der  Ägypter:  12 f.  Hier  ist 
noch  nachzutragen  Curt.  Ruf.  7, 
8,  12:  Si  dii  habitum  corporis 
tili  aviditoti  animi  parem  esse 
voluissent,  orhis  te  non  caperet: 
altera  manu  orienteiu,  altera  oc- 
cidentem  contingeres  et  hoc  a^se- 
cuttis  scire  velles,  ubi  tanti  nu- 
minis  fulgor  comleretur.  Daß 
diese  Worte  durch  altägyptische 
Bildwerke  wie  das  ob.  auf  S.  12 
(Fig.  i)  mitgeteilte  (vgl.  die  bei- 
den Scheiben  der  auf-  u.  unter- 
gehenden Sonne  im  Osten  und 
Westen)  veranlaßt  sind,  dürfte 
einleuchten.  Man  beachte  auch, 
daß  die  Füße  aller  drei  Figuren 
den  Norden,  die  Köpfe  den 
Süden  bezeichnen! 

Erdkarte  s,  Weltkarte. 

Erdzonen:   17  A.  31. 

Euxinus  pontua  =  venter  inferior 
terrae:  3. 


Hebdomaden  s.  Sieben. 

—  d .  Semiten ,  Perser,  Etrusker  usw. : 

34- 

—  älter  als  Dekaden:  40  ff. 
Hebdomadiker  älter  als  Kyros  und 

Hekataios :  4  A.  7.  6.  20  f.  90. 

—  ignoriert  Persien,  Athen  u.  den 
Westen:   15. 

Hekataios'  Weltkarte:  20  f.  22.  96. 
Hekate  =  Mond-  u.  Hundegöttin :  76. 
Hellenen   =   kuXXIiitiqoi,  usw.  nach 

ägypt.  Vorstellung:   11. 
Hellespont  {"EXlrig  itovrog)  im  weit. 

Sinne  =  Ägäisches  Meer:  loiff. 

—  ^  Schenkel   der  Erde:   2.  4.  7. 

lOlff. 

—  grenzt  an  das  Ägyptische  Meer: 
102  A.  122  a.  E. 

—  =  mare  Fhrixeum:  102  A.  122. 

—  (im  engeren  Sinne)  =  Q'(xXäc6r\g 
uv%riv'EXi.r\onovrLag:  102A.  I22. 

Herz  (=  Mitte  d.  Körpers  u.  Sitz  d. 

Seele  nach  ägypt.  Vorstellung): 

IG  f.  106. 
Hexaa  (l|as)  =  yajiog,  aQ6sv6^T\Xvg'. 

49. 

—  —   =  OvXo^LsXsioc:  49. 

—  —   =  ipVjiOTtoLog:   50. 

—  —  =  Zahl  des  partus  minor:  51. 

—  —  =  fundamentum  gignendi 
{xÜsiog):   51   A.  83. 

Höchstlage  des  Mittelpunkts  d.  Erd- 
scheibe: 12  A.  24.  94. 

Jahreszeiten  (7  des  Hebdomadikers) : 
38. 

—  (4  des  'Pythagoras'):  34. 

Indien  beeinflußt  lonien  u.  Samoa 
(Pfauenzucht):   18  A.  33. 

lonien  =  Zwerchfell  u.  Mittelpunkt 
d.  Erde:  2.  4.  6.  7.  25  A.  43. 
90.  97. 


1  lO 


Wim.  H.  RoscMiKii: 


[71,5 


lonien  vernichtet  durch  die  Per- 
ser: 6. 

lonier  des  5.  u.  4.  Jahrh.  schilmen 
sich  ihres  Namens :  93. 

des  7.  u.  6.  Jahrh.  stark,  ver- 
ständig, weise:  4  A.  7. 

Isthmos  V.  Korinth  =  Hals  d.  Erde : 
•   2  f.  7- 

Italiker  =  xaUtVrjeoi  usw.:   11. 

KctiQO^  =■■  7:  44  f- 

Klimakterische     (kritische)     Jahre, 

Monate,  Tage:  34  tf-  40-  S». 
Kopf  =  Sitz  des  Verstandes  u.  der 

Seele:  3  A.  6. 
Kugelgestalt  d.  Erde  zuerst  gelehrt 

vom  Hebdomadiker:    29   A.  50- 

71.  88  A.  115-  9«- 
—  gelehrt  von  Tythagoras': 

3-  29.  98. 

Landenge  =  ati;f^V,  cervix:  7  A.  11. 
Lebensalter  (i^Aixt'aO  des  Solon:  33- 
—  (4  riuy.iai)  des  Tythagoras' :  34. 

85- 
Lichtmonat  (=3x9  Tage):  53. 
Lückenhaftigkeit  der  Schrift  n.  Ißd. : 

5  A.  10.  73  f. 
lunaris   cursus   (circulus)  =  3  ><  9 
Tage:  53- 


Mi'trodor :  98  f. 

Milesier    angewiesen    auf    die    Be- 
nutzung der  Nord-  u.  öüdwinde: 

»5- 
—  verkehren  wenig  mit  demWesten: 

15  A.  29. 
Milets  Handels-  u.  Kolonialgebiet: 

15  A.  29. 
Mitte   des    Körpers  =  cpg^veg:    13; 

=  Kcegöia:    13.    106. 
Monatstage,  apollinische:  41. 
Mond   hat   keinen   Einfluß   auf  die 

oiguL:  38. 

—  =r   Sitz    der    Weltseele   in    der 
mittelsten  Sphäre:   15.  37-  64. 

Mond  u.  Sonne  =  Planeten:  66. 
Mondphasen  (7tägige):  34. 

—  (gtägige):  53- 

Naukratis:   14. 

Neunzahl  {Kovgfjrig,  Kögr}):   5  2  f. 

—  =  ^fnaioavvT}:   53  A.  86. 
Neun  ysvBDci:   52. 
Neunjährige  Verbannung:  52. 
Nordvülker    {TtQwrEvovtss    tovg  «0- 

Sccg):   II. 
\  vonaToi  =  f'üxopvqpoi  usw:    10. 
'  vovfirivia  d.  Apollon  geheiligt:    44. 
novemdialia:  52. 


Maiotis  (palus)  =  venter  inferior  et 

longabo  terrae:  3.   5- 
^  Anwohner  schwach,   sklavisch, 

unkriegerisch :   5.  6. 
Makro  —  Mikrokosmos :  13.  106. 
Mars  (Planet):  86. 
Mare    Plirixeum  =    Hellespont  = 

mare  Aegaeum:   102  A.  122. 
meduUa:  2  A.  3. 
Menkult  in  Asien:  93.   10 1. 
Menon   bearbeitet  für  Aristot.    die 

medizin.  Literatur:  93. 


Olympos  {oXvfiniog  yidaiiog):  87. 
Omphalos  d.  Erde  =  Jerusalem  usw. : 

9-  94. 

—  der  Weltkarte   des  Hebdomadi- 
kers  =  Milet-Branchidai:  25. 

des  Tythagoras'  =  Del- 
phi: 25  ff. 
des  Hekataios  =  lonien: 

25  A.  43. 

—  Höchstlage:  12  A.  24,  94. 
Omphalosgedanke:  39  A.  71. 
Orpheus  hat  eine  Lebensdauer  von 

9  ysvsai:   52. 


71,5]        DiK   HIPPOKRATISCHE    SCHRIFT   VON   DER    SlEBENZAHL.  III 


Orphische  Zahlenlehre  älter  als  die  I  Pythagoras'  noXv^ad^iri:   i8  A.  34 


pythagoreische:  31  A.  55.  43  0"-*) 
Osten  rechts  un^  Westen  links  nach 
altägypt.  u.  pythagor.  Vorstel- 
lung: 9  A.  18.  17  A.  31. 
Ostvölker  {anTjXiazLKoi)  =  rechts- 
armig  u.  kriegerisch:   10. 

partus  major:   59. 

—  minor:   51. 

Peloponnes  =  Kopf  u.  Gesicht  der 
Erde:  2  f.  7. 

Peloponnesier  =  hochgesinnte  (gött- 
liche) Seelen :  2  f. 

Pentadische  Fristen:  41  A.  71c. 

nsvräs  =  ydaog:  49. 

Phaethon:  95. 


—  ■jtBQimGia  slStäg:    l8f. 

—  =    'AtcöXXcov     TjtBQßoQSiog:     26 
A.  47. 

— ,  Entstehung  s.  Namens:  27. 

—  lehrt  zuerst  [?]  die  Kugelgestalt 
d.  Erde  u.  dio  Erdachse:  29. 

—  Zahlenlehre:  30  tf. 

—  —  beeinflußt  von  den  Orphikern : 
31   A.  53.*) 

—  erlebt  alle  216  [=  6']  Jahre  e. 
Metempsychose:  50. 

—  bringt  3x9  Tage  in  der  idäi- 
schen  Grotte  zu:  53. 

—  stirbt  90  Jahre  alt:  53. 

—  abhängig   von    Anaximenes   [?]: 

75- 


Phosphoros  —  Hesperos:  71   A.  105.  1  —  Psychologie:  82  f. 

77  A.  110.  95.  —  musikal.-akust.  Theorien:  83  f. 

Planeten    des    Hebdomadikers    nur  | —  lehrt  d.  Unsterblichkeit  d.  Seele: 

Sonne  u.  Mond:  64  if. 

—  =  Kvvig  ^sQas(p6vr]g:  76. 
Planetennamen:  78. 
Pontus    Euxinus   =   Unterleib    der 

Erde:  3. 
Poseidonios:  61.  85. 
Pythagoras'  Weltbild  u.  Weltkarte 

(Erdkunde):  16  fF.  A.  31.  104  f. 

—  Reisen :   1 8  f. 

—  Beziehungen    zu  Indien  (?):    18 
A.  33- 


81. 


Reichskarte  des  Dareios  1:  22  f. 

Rechts  u.  links  (=  östlich  u.  west- 
lich) nach  ägypt.  u.  pythagor. 
Auffassung:  9  A.  18. 

Schema    'a   capite   ad   calcem' :    8 

A.  12. 
Schiff"srouten  der  Milesier:   16.  21. 
Schu  =  Luftgott   d.  Ägypter:   12  f. 


Ägypten  u.  Persien:  i8f.|  Seele    {-^vxri)    sitzt   im  Zwerchfell: 

Delphi:  26J0F.  3  A.  6.  106. 

— Metapont  u.  Kroton:    28    — im  Kopfe:  3  A.  6.  106. 


A.  49- 


hat  7  Teile  (Faktoren):  80  f. 


*)  Für  das  höhere  Alter  der  orphischen  Lehren  spricht  nicht  bloß 
die  gesamte  Überlieferung,  sondern  namentlich  auch  die  Tatsache,  daß 
nur  hinsichtlich  der  4  (rsr^axTv?)  die  Pythagoreer  selbständig,  d.  h.  un- 
abhängig von  den  Orphikern,  gewesen  sind,  und  die  Orphiker,  wie  es 
scheint,  gerade  dieser  Zahl  keine  Bedeutung  zuerkannt  haben,  wie  es 
doch  der  Fall  gewesen  sein  müßte,  wenn  die  orphische  Zahlenlehre 
jünger  und  von  der  pythagoreischen  abhängig  gewesen  wäre. 


I  I  2 


Wii,ii.  H.  Roschek: 


[7',  5 


Sieben  8.  auch  Hehdomiulen  und 
Hebdoraadikcr. 

7  Teile  der   Krdo:   2  f.   8.  30. 

7  Teile  des  nionschl.  Körpers:  8 
A.  12    0  f.   12.  38.  80  f. 

7  Spliäreu:  8  A.  13.  37.  74.  78  f.  91 

7  dvipa  d.  Inder:  8. 

7  niii^u  d.  Hal)ylonier:  9. 

7  tubukati  —  — :  9. 

7  keshvars  d.  Parsen:  9. 

7  akälim   d.  Araber:  9. 

7  xiiV«ra  d.  Ptolemaios:  9. 

7  Teile  d.  altügypt.  Weltkarte:  9. 
12. 

7  Teile  des  Körpers  Adams:  loA.  19. 

7  größte  Inseln:  21  f.  A.  39. 

7  Planeten:  64.  76  f.  91. 

7  die  7  otpai  bedingenden  Gestirne: 
38.  64  ff. 

7  Quellen  usw.:  31. 

7   wgai:   32. 

7  Lebensalter:  32  f. 

7  Winde  u.  Teile  d.  Windrose:  38. 

7  Teile  des  Mikro-  u.  Makrokos- 
mos: 38. 

7  Funktionen  (Öffnungen)  d. Kopfes: 
38. 

7  Vokale:  38,  60. 

7  Elemente  d.  Seele  (Lebenskraft): 

39. 
7   ccQi&^ioi:   60. 
7  aocpiui :  60. 
7  Waschungen:  60. 
7  Titanen  usw.:   57. 
7  Saiten:  60.  83. 
7  Plejäden:  60. 
7  Planeten:  60. 

7  bona  der  brassica  Pythagorea:  60. 
7  a'9'i'ipfißra :   57- 
7-jährige   tjXlxiui  des  Solon:   32. 
7 Festperioden  (Hepteteriden)  zu 

Delos:  32. 
7 Fristen:  58. 


7-jilhrige  Abwesenheit  des  Aristeas: 

5'). 
7 Verborgenheit    des    Pythago- 

ru8:   59. 
7-bliittrig('  Lorbecrzweige:  31. 

7 Kohlplliiiizcn:   31. 

7-fache  Tier-  u.  Kuchenopfer:  31. 
7-stufige  Tempel:   31. 
7-teiHge  Chöre:  31. 

7 Lieder,  Sprüche  uaw  :  31. 

7-tägige  Pliasen  des  Mondes:  34. 
7-tägiges  Fasten  d.  Orphiker:  50. 
7  Tage   braucht  der  Same  zur  rv- 

Ttcaois:   35  f   51   A.  84. 
Siebenmonatskinder        {knräfirivoi): 

35  ff. 
Siebenzahl  in  orphischer  u.  pytha- 

gor.  Lehre:  56  ff. 

—  =  'A9'r]vä,  KQiaig,jiSQccaT(ia  usw : 
58.  61  f. 

—  typisch    u.   heilig    im   Kult  des 
ApoUon  u.  Dionysos:   28  A.  49. 

31-  57- 
7.   Tag    des    Monats    (t/3ddfi7j),    d. 

Apollon  heilig:   28  A.  49.   57  f. 
Steuerkreise  de.s  persischen  Reiches: 

24. 
Süd  Völker   (voriaioi.)  =  BVKÖgvcpoi: 

10. 
Südwestvölker    (01    iv    rm    Xißi)   = 

ccQiGrfQo^axoi:   10. 

Tessarakontaden:  36. 
rBGafQaxoGtaiov:  48. 
TETQuiiTvg:   46  f.   54. 
Thraker,  kräftig,  kriegerisch:  4  A.7. 
Timaios    Quelle    des  Apollonios   v. 
Tyanausw. :  26  A.  46.  27  A.  48. 
Tpojfffioi:  36  A.  64. 

Völkerverzeichnis  u.  Reichskarte  des 

Dareios  I:  23. 
Volksmedizin:  34.  41. 


71,5]        I^Il"'    HIPPOKIlATrsOHK    SOHUIFT   VON    DER   SlKBENZAHL.  113 


Weltbild  d.  Pythagoreer:    17. 
Weltkarte  des  llelidomadikers:  i  ff . 
15  flf.  21.  24. 

—  —  —  enthält  nnr  die  Scbitts- 
ronten  d.  alten  Milesicr:  2\. 

—  (1    alten  Ägypter:  9. 

—  <1.  Tythagoras' :   r6  ff.  25  f. 

—  d.  Hekataios:  20. 

—  d.  Dareios  I:  20  ff. 
Weltkarten  u.  Windrosen:  24  A.  42. 
We.sten  =  linke  Seite  nacL  ägy|)t. 

u.  pythagor.  Auffassung:  9  A.  18. 

Zahlen  s.  auch  Dekaden,  Hebdo- 
maden, Pentadeu,  Neunzahl, 
Sieben,  Tessarakontaden. 

i:    43  f- 

2:    14. 

3:  40  (3  Wochen  zu  je  10  Tagen). 

4  4  f. 
4:  34  (4  6,(iui^  TiXiyiiai).   43.  45  ff.  47. 


4:  =  vyiEictg  &QX)'i'-  46  A.  79. 

5:  41   A.  7IC.  45.  4^f- 

6:  44.  46.  49  ff. 

7:  siebe  unter  Sieben. 

8:  44   (=:  Tloatidwv). 

9:  43.  45.   5-  ff. 
10:  40  ff.  43  f.   46.    S4  ff.   79.  91. 
14:  41. 
20:   41.   «S- 
30:   41. 
40:  43.  47  f.  s«. 

90:  53  f- 

216   (=  6''):    :0. 

—  Zahl  der  Metempsychose :  50. 

—  —  —  Schwangerschaft:  50  f. 
274: :   59. 

280:   —   —   — :    5.1  f. 

729   (=  9^):    54. 

Zwerchfell  (cpQsvf?,  praecordia)  =^ 
Sitz  d.  Seele  u.  d,  Verstandes: 
2  f.  6.   15.   loi ;  s.  lonien. 


Phil.-hiüt.  Klaasa  1919.     Bd  LXXI.  5. 


IM 


Sfellenreo^istfii'. 

Agatbeui.  i,  i:  28.  Kiillini.  IV.  «.r  Sciin.:  77. 

Alexis   fr.  3  \).  517  Mkin.  :   21    A.  39     Kögti  xoatiov  1).  Stob.  ofl.  i,   i'):  'itl 

Axistot.  bist.  au.  8,  6,  3:  57   A.  8<).  106. 

-  Metaph.  12,  4,  3:  45-  ^y,,   ,lo  ,„e,^H   ,;  „.:  vi. 
Aristox.  b,  Diojif.  L.  8,  8:  26.               ' 

Onjjjen.   Philos.   cd.    Mh.i.kk    p     mi: 
Ceneor.  d.  nat.  11,  2:  51    A.  83.  6  A.  10. 

«•     ,       o        .    1      A         Ti.n-1    ov     riiilol.tr.il   DiKi.s:   .:;5.  f.i  1'. 
Diocles   Cavyst.  h.  A.st,    Iheol.  av.  - 

-^    .     ,  A    ^^f  —   fr.  20   DiKi.s:   61  f.  88.  '(2.   i)8. 

p.,^3..^634.A.;.r   ,_,,;,„,,,,.,„^  ,,««,.,,,,,,„,. 

'  Pkt.  Ale,  I  1).  121  E:  34  A.  58. 

Heracli,l.lW.l..nios.L.8,,.,:  ;,.    ""'   'l  "■"*-;' "f'^  ^".f;" 
Heroa.  5,  36  ..  5.  5^:  =0  A.  3».  «<.t_'l^M.l».'.  l*.lo»__3.^.4.  .01. 

-  ''  ''■■  ^f-  -  Nie.  .3:  -J.      ■     '        " 

''  '"*^™  '^^'  Porphyr,  v.  Pyth.  17:  53- 

^    qoff  :   24.  .       ,  . 

MI-  /        ;,:!*.     .rft-  Provos  Ä.  i=7rr6<Jo?:   59   A.  94. 

'Hippocr.    7t.  ißS.  I:  35tt.  „     ^  ,     •    •      n-  i  *.- 

.    xi-  Ps.-Oaloiu   111    Fhppoci-.   de   septitn. 

-  —  —   2:  64  rt.  i^         1       1   n 

(Oinnicut.  arab.  ed.  Hkrgstras.skk 


5 


32  if. 


p.  IIS  ff-:   3  ff 


—    10:   79  f. 

II:  2  ff.  Schol.  z.  Plat.  de  rep.  p.  600  B:  53. 

26:  34-  Solon  fr.  27  Bergk:  33  f. 

52:  3  A.  6.  81.  strab.  7  frgm.  58:   loif. 

—  n.  aaQx.  13:  33  A.  57-  '  Syrian.  zu  Aristot.  Met.  13   p.  121: 
19:  35.  36  A.  64.  5<j 

—  n.  (tvG.  TtaiS.  7  p.  488  f.   Littrk: 

35   A.62.  Thuc.7,  .so:    53. 

—  7t.  inra\L.  9:  36  A.  64.  y?i\-x-o  (?)   b.   Mart.  Cap.  6,  609:    17 
Hippo  Metapont.  b.  Censor  d.  n.  7,  2 :  A.  3 1 . 

62. 

Hör.  ca.  i,  28:    104.  .  Zenob.  5,  57  u.  80:  4  A.  7. 


Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-liistorisclie  Klasse 

71.  Band     1919    6.  Heft 


Alfred  Körte 

Zu  neueren  Komödienfunden 


Leipzig 
Bei  B.  a.Teiibner 

1919 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  5.  Juli  1919. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  5.  Juli  1919- 

Druckfertig  erklärt  am  17.  Oktober  1919- 


I.  Eupolis'  Demen. 

Die  von  Lefebvre^)  zuerst  veröffentlichten,  von  mir^) 
als  Reste  der  Demen  des  Eupolis  erwiesenen  Blätter  aus 
Aphroditopolis  sind  in  den  letzten  Jahren  mehrfach  Gegen- 
stand eindrinorenden  und  fördernden  Studiums  gewesen. 
Während  Bruno  Keil  (Grött.  Nachr.  191 2,  237 ff.)  hauptsäch- 
lich die  Komposition  des  Stückes  aufzuklären  suchte,  hat 
Christian  Jensen  die  Erg-ebnisse  seiner  wieder  höchst  er- 
folgreichen  Revision  der  Blätter  in  einem  gehaltvollen  Auf- 
satz mitgeteilt  (Hermes  51,  19 16,  32 lö'.^)),  der  die  Text- 
gestaltung wie  die  Komposition  des  Ganzen  gleichmäßig  be- 
rücksichtigt, und  endlich  hat  die  Besprechung  von  Demi- 
ariczuks  Supplementum  comicum  Carl  Robert  Gelegenheit 
gegeben  (Gott.  Anz.  191 8,  168 ff.),  auf  Grund  von  Jensens 
neuen  Lesungen  weiterzubauen  und  sowohl  einzelne  Verse  wie 
Kompositionsfragen  zu  erörtern.  Daß  trotz  dieser  vereinten 
Bemühungen  noch  vieles  dunkel,  anderes  unsicher  bleibt,  ist 
hei  dem  traurigen  Zustand  der  Blätter  und  der  Schwierigkeit 
des  Stoffs  selbstverständlich.  Auch  mich  haben  die  kostbaren 
Reste  andauernd  beschäftigt,  ich  würde  aber  Bedenken  tragen, 
meine  bescheidenen  Ergebnisse  zu  veröffentlichen,  wenn  es 
mir  nicht  geboten  schiene,  einer  scharfsinnig  begründeten 
Hypothese  Roberts  entgegenzutreten,  die  den  Charakter  des 
ganzen  Fundes  wesentlich  umgestalten  würde. 

Das  dritte  der  Blätter  ist  bekanntlich  schon  1905  von 
dem  Besitzer  der  Hütte,  unter  welcher  bald  darauf  LEFEB\TiE 
den  Topf  mit  den  Resten  des  Menanderkodex  und  den  beiden 
andern    Blättern    des    Eupolis    entdeckte,    gefunden    worden. 


i)  Catal.  gen.  des   antiqu.  egypt.  du    musee   du   Caire  Nr.  43227 
Papyros  de  Menandre,  Le  Caire  191 1,  S.  XXI ff.  Taf.  XLIX— LIII. 

2)  Hermes  47,  191 2,  276  ff. 

3)  Hier  ist  auch  die  übrige  Literatur  angegeben;  vgl.auch  E.Wüst, 
Jahresber.  174  (191 6/8),  176  ff. 

PhiL-hiBt.  Klasse  1919.    Bd.  liXXI.  6.  I 


2  ALFUEn  Körtk:  I?'.^» 

Wiilirend  dem  Entdecker,  der  die  beiden  andern  Blätter  für 
Aristopliunes  hielt,  der  Charakter  der  alten  Komcidio  in  dem 
dritten  weniger  ansjjropräjjjt  schien,  so  daß  er  fj^eneii^t  war,  ea 
einem  andern  Dichter  znzuBchreiben  (a.  a.  0.  XXI),  i^lanhte 
ich,  die  Zngoliörij^keit  auch  des  dritten  Blattes  zu  Eupolis' 
Demen  mit  äußeren  und  inneren  (t runden  erwiesen  zu  haben. 
Nun  sind  .Tknsen  wieder  Zweifel  frckommen  (a.  a.  0.  349f-)> 
die  er  zwar  nicht  ganz  überwunden  (a.  a.  0.  352),  aber  doch 
zurückgedrängt  hat  (a.  a.  0.  350);  ßOBERT  hingegen  (a.  a.  0. 
i74ff.)  begreift  nicht,  wie  Jenskn  „seine  schöne  Entdeckung 
wieder  fallen  lassen  konnte",  und  will  sich  „des  verwaisten 
Kindes  annehmen",  was  er  dann  in  ausfülirlicher  Beweis- 
führung tut.  Ich  halte  das  verwaiste  Kind  für  einen  Wechsel- 
balg, dem  schleunigst  das  Lebenslicht  ausgeblasen  werden 
muß,  ehe  es  Unheil  stiftet. 

Wie  liegen  denn  die  Sachen?  Zunächst  das  Äußere.  Das 
Blatt  ist,  wie  der  Augenschein  lehrt,  und  auch  von  nie- 
manden angezweifelt  wird,  von  demselben  Schreiber  ge- 
schrieben wie  die  beiden  andern  Demenblätter,  das  Natür- 
liche ist  also,  daß  man  es  demselben  von  dem  byzantinischen 
Notar  makulierten  Buch  zuteilt  wie  sie.  Es  ist  im  höchsten 
Grade  unwahrscheinlich,  daß  der  Notar  zufällig  zwei  von 
dem  gleichen  Schreiber  geschriebene  alte  Bücher  hatte,  deren 
eines  Eupolis'  Demen,  deren  anderes  ein  Stück  der  mittleren 
Komödie  enthielt.  Daß  das  Blatt  zufällig  früher  gefunden 
wurde,  macht  nicht  das  geringste  aus,  auch  von  den  Blättern 
des  Menanderbuches  wurden  manche  (s.  meine  Menandrea^ 
praef.  IXf.)  im  Topf  über  den  Akten,  manche,  wie  die  beiden 
ersten  Demenblätter,  zwischen  den  Akten,  manche  außerhalb 
des  Topfes  in  der  Erde  gefunden.  Ebenso  unwahrscheinlich 
wie  der  Besitz  des  Notars  von  zwei  alten  Büchern  desselben 
Schreibers  ist  aber  die  Annahme,  in  demselben  Buch  seien 
die  Demen  mit  einem  Stück  der  mittleren  Komödie  vereinigt 
gewesen.^)  Und  weiter:  die  Blätter  stammen  aus  dem  4.  oder 


i)  Das  hebt  auch  v.  Wilamowitz  Herrn.  54  (191 9),  69  hervor. 


7^,(^]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  3 

5.  Jahrhundert  n.  Chr.  ^),  wer  soll  damals  in  Aphroditopolis 
ein  Stück  der  mittleren  Komödie  abgeschrieben  haben?  Die 
Papyri  zeigen  aufs  deutlichste,  daß  die  mittlere  Komödie  in 
Ägvpten  niemals  beliebt  war,  außer  dem  neuen  Alexis-Bruch- 
stück (v.  WiLAMOWiTZ,  Sitz.-Ber.  der  Berl.  Ak.  19 18,  743 ff., 
s.  u.  S.  36 ff.)  aus  dem  3.  Jahrhundert  v.  Chr.,  haben  wir  nur 
einen  Rest  von  Antiphanes'  Änthropogonie  aus  dem  3.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  (Ox.  Pap.  III  427)  und  ein  unsicheres  Blatt 
aus  dem  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  (Pap.  Soc.  Ital.  II  143).  Im 
4.  und  5.  Jahrhundert,  wo  sich  der  Kreis  der  gelesenen  und 
abgeschriebenen  Dichter  immer  mehr  verengert,  ist  die  mitt- 
lere Komödie  nach  unserer  bisherigen  Kenntnis  tot.  Natür- 
lich müßten  wir  diese  äußeren  Unwahrscheinlichkeiten  kopf- 
schüttelnd hinnehmen,  wenn  der  Inhalt  des  dritten  Blattes 
mit  den  Demen  unvereinbar  wäre,  aber  meiner  Überzeugung 
nach  ist  gerade  das  Gegenteil  der  Fall.  Entscheidend  ist  da 
der  Anfang.  Hier  fertigt  nach  meiner  Herstellung,  die  durch 
Jensens  neue  Lesungen  nur  in  Einzelzügen  berichtigt  wird, 
ein  gerechter  Mann  einen  Sykophanten  ab,  der  sich  selbst 
rühmt  (V.  3),  ein  öCxuiog  dvrJQ  zu  sein,  und  dann  erzählt, 
wie  er  von  einem  Fremden  Geld  erpreßt  habe.  Der  Fremde 
hatte  xvxsav,  den  heiligen  Mysterientrank,  getrunken  (V.  4) 
und  kam  mit  Graupen  im  Bart  (V.  5)  auf  den  Markt.  Der 
Sykophant  bemerkt  das  (V.  6),  geht  spornstracks  in  des 
Fremden  Haus  (V".  7),  stellt  ihn  zur  Rede  (V.  8)  und  verlangt 
100  Goldstücke  von  ihm  (V.  9  f.),  die  er  auch  gegen  das  Ver- 
sprechen, seine  Aussage  über  den  Trank,  den  der  Fremde 
getrunken,  zu  ändern,  ausgezahlt  erhält  (V.  11  f.,  über  die 
Herstellung  dieser  Verse  s.  u.  S.  10  f.).  Es  kann  nicht  dem  ge- 
ringsten Zweifel  unterliegen,  daß  die  Klage,  mit  welcher  der 
Sykophant  den  Fremden  bedroht,  die  wegen  Mysterienfrevel 
ist,  die  Graupen  im  Bart  machen  ihn  der  Mysterienentweihung 
verdächtig.  Gerade  die  Kürze,  mit  der  das  Gaunerstück  be- 
richtet   wird,    beweist,    daß    solche    Klagen    damals    aktuell 

i)    So    setzt    sie    jetzt    auch    Schubabt,    Einf.    in    die    Papyrus- 
kunde  476 


4  Alfred  Kokte:  |7i,6 

waren,  und  ilamit  koimnou  wir  uiiwiderlo<ijlic'li  in  die  Zeit 
der  allgemeinen  Aufrej^ung  über  Mysterienentweihnngen,  iu 
die  Jahre  bald  nacli  415,  also  in  die  der  Demen.  In  einem 
Stück  aus  der  Glitte  des  4.  Jahrliunderts  wäre  die  Szene 
durchaus  unverständlich  gewesen,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
ein  solcher  politischer  Handel  in  die  mittlere  Komödie  über- 
haupt schlecht  paßt.  Die  Verhandlungen  des  gerechten  Mannes 
mit  dem  Sykophauten  ziehen  sich  ziemlich  lang  hin  —  es 
ist  eine  durchaus  irrige  Behauptung  Uobkrts,  sie  seien  mit 
III  r.  14  abgeschlossen,  denn  noch  III  v.  5!'.  sagt  der  Ge- 
rechte: äXX'  ov[h  eyä)]  ^vyiö)]0ä  6\  dXX'  6  ^Evos  6  toi'  ocvxea 
7tLG)[v  —  sie  enden  damit,  daß  der  Sykophant  gebunden  (III 
V.  5)  und  trotz  allem  Sträuben  (ILL  v.  7  — 11)  abgeschleppt 
vt^ird  (III  V.  13  f.)  Daran  schließt  der  Gerechte  eine  kleine 
Ansprache^),  gern  würde  er  so  auch  den  Diognetos  fassen, 
dessen  Sündenregister  er  in  Kürze  entrollt  (III  v.  15 — 18), 
und  zum  Schluß  wendet  er  sich  feierlich  an  die  ganze  Stadt: 
V.  19  f.     eyio  ÖS  Ttdör]  TCQOöuyoQSvco  xi]  n6X\si 

slvai  d/[x]atov?,  ag  bg  dv  öCxaiog  rji  usw. 
Es  ist  mir  unbegreiflich,  daß  ein  so  guter  Kenner  der  alten 
Komödie  wie  Robert  iu  der  ganzen  Szene  den  Stil  der 
agyaCa  verkennen  kann,  das  Aktuelle  der  Episode,  die  rasche 
Justiz,  die  Bescheltung  einer  bestimmten  Persönlichkeit  als 
Anhang,  und  schließlich  die  ernste  Wendung  an  die  gesamte 
Bürgerschaft,  alles  paßt  vorzüglich  in  die  aQiaia,  und  nur  in 
die  uQ%aCa.  Wie  kann  man  zweifeln,  daß  der  wahrhaft  Ge- 
rechte, der  den  heuchlerischen  Sykophanten  entlarvt  und 
straft,  andern  droht  und  der  Gesamtheit  die  Pflege  der  Ge- 
rechtigkeit mahnend  ans  Herz  legt,  Athens  gerechter  Mann 
nax  i^oxr]v  Aristeides  ist,  der  iu  den  Demen  mit  den  andern 
TtQoöxurai  in  die  Oberwelt  geschickt  wird  (s.  I  v.  13),  um 
die  verfahrenen  Zustände  Athens  zu  bessern?  Wie  vortrefflich 

i)  Nach  Jensens  Herstellung  der  Verse  III  v.  15  — 18  scheint  mir 
aus  grammatischen  Gründen  ihre  Zuteilung  an  den  Gerechten  un- 
bedingt geboten,  während  ich  früher  (a.  a.  0.  311)  einen  Wechsel  des 
Sprechers  für  möglich  hielt. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  5 

paßt  dazu,  daß  der  Gegner  des  Sykophanten  auf  sicli  einen 
Vers  der  Euripideischen  Melanippe  anwendet  (III  v.  3)  xi  x\ovq 
d-avövras  o[t']>c  säig  rsd-vriXEi'lai:  und  daß  auch  in  III  r.  20 f. 
in  nicht  ganz  klarem  Zusammenhang  von  den  d-avöjnsg  die 
Rede  ist. 

Dies  alles  fügt  sich  so  tadellos  zusammen,  daß  ich  nach 
wie  vor  die  Zugehörigkeit  der  Blätter  zu  den  Demen  nicht 
für  eine  Möglichkeit,  sondern  für  eine  Tatsache  halte,  Roberts 
Gegengründe  lassen  sich  alle  leicht  beseitigen. 

Ausgangspunkt  für  ihn  ist  Jensens  Hinweis  auf  die 
Weihinschrift  eines  Rhamnusiers  Phrynon  für  seinen  Sohn 
Diognetos  au  Asklepios  aus  der  Mitte  des  4.  Jahrhunderts 
(IG  II  1440).  In  III  V.  15  ff.  haben  wir  nun  einen  Diogne- 
tos gg  t&v  navoyjQycov  B\(5\ti  t&v  v£(or[sQC3v]  TCoXkoi  xgccttötog, 
bnoxav  s'b  rö  6aii  £%\ri.  In  III  r.  17  liest  Jensen  nicht 
ohne  Schwanken q   Oqvvcov  aTtsKlsiö'   sxTiodchv. 

Irgendein  Zusammenhang  zwischen  dem  fraglichen  Phry- 
non und  dem  nach  Abschluß  der  Episode  anhangsweise  ge- 
nannten Diognetos  besteht  in  dem  Text  nicht.  Robert  be- 
nutzt  aber  weiter  das  Vorkommen  des  Namens  ovTiLdavQLog 
III  r.  16,  um  Dedikanten  und  Gott  jener  Inschrift  auf  dem 
Blatte  vereinigt  zu  finden.  Der  unsichere  Zusammenhang  ge- 
stattet leider  nicht,  in  dem  Epidaurier  mit  Sicherheit  den 
vom  Sykophanten  geprellten  Fremden  zu  erkennen,  wie  zu- 
erst ich  (a.  a.  0.  309),  dann  entschiedener  Jensen  (a.  a.  0. 
347)  vorgeschlagen  haben  (s.  u.  S.  9),  jedenfalls  aber  deutet 
in  den  erhaltenen  Worten  nicht  das  mindeste  darauf  hin 
daß  unter  dem  Epidaurier  Asklepios  zu  verstehen  sei. 

Wenn  man  erwägt,  daß  Asklepios  im  4.  Jahrhundert 
viele  Hunderte  von  Weihgeschenken  attischer  Bürger  zum 
Dank  für  die  eigene  Genesung  oder  die  ibrer  Angehörigen 
erhalten  hat,  ist  es  wirklich  eine  seltsame  Vorstellung,  daß 
nun  gerade  das  keineswegs  besonders  prächtige  Weihgeschenk 
des  Phrynon  für  Diognetos  so  stadtbekannt  gewesen  sein 
ßoU,  daß  ein  Komödiendichter  sich  mit  den  Beziehungen  der 
beiden   zum    epidaurischen    Gott    befassen    und    bei    den   Zu- 


\ 


6  Alkked  Körte:  [71,6 

schauern  auf  Kenntuis  dieser  Bczichunj^eu  hätte  rechnen 
können.  Der  Name  Diognetos  ist  in  Attika  ziemlich  häutig; 
hei  KiKCHNKK  und  Sindwall  finde  ich  zusammen  ^t,  Träger 
verzeichnet,  und  von  diesen  gohiut  nicht  einer,  wie  Rohkkt 
(a.  a.  0.  175)  meint,  sondern  mindestens  drei  der  Zeit  der 
Demeu  an  (Prosop.  Att.  3849,  3850  wohl  =  3875,  3851  wohl 
<=  3863),  und  zwei  von  ihnen  sind  in  die  Entweihung 
der  Mysterien  verwickelt.  Der  eine,  wahrscheinlich  Nikias' 
Bruder,  ging  415  als  Opfer  der  Denunziation  des  Teukros  in 
die  Verbannung  (And.  1  15,  s.  Kikc'HNER,  Pros.  Att.  3851 
und  3863),  er  kann  natürlich  nicht  der  im  Papyrus  genannte 
sein,  der  andere  war  415  tv^rjrijg  nach  der  Anzeige  des 
Pythonikos  (And.  I  14,  s.  Kikchner,  Pros.  Att.  3850  und 
3^75))  ^ind  auf  diesen  passen  die  Worte  des  Aristeides  vor- 
trefflich.^) Den  zweifelhaften  Phrynon  kann  ich  freilich  nicht 
in  der  Zeit  der  Demen  nachweisen,  aber  der  Name  ist  in 
Attika  schon  für  den  Ausgang  des  7.  Jahrhunderts  bezeugt 
(Kirchner,  Pros.  Att.  15029)  und  ein  unbekannter  Träger 
wäre  durchaus  nicht  auffallend.^) 

Roberts  übrigen  Einwände  gegen  die  Zugehörigkeit  der 
Blätter  zu  den  Demen  sind  so  wenig  beweiskräftig,  daß  ich 
sie  kurz  erledigen  kann.  Er  wundert  sich  (a.  a.  0.  178)  mit 
Jensen,  daß  „der  eben  aus  dem  Hades  gekommene  Aristeides 
den  Sykopbanten  binden  (III  v.  5)  und  ins  Gefängnis  führen 
lassen  könne"  —  das  kann  Aristeides,  der  doch  zur  Besse- 
rung der  Stadt  hinaufgekommen  ist,  genau  mit  demselben 
Recht  der  komischen  Person,  mit  dem  z.  B.  Dikaiopolis  in 
den  Acharnern  (952  ff.)  den  Sykopbanten  bindet  und  vom 
Boioter  über  die  Grenze  schaffen  läßt.  Robert  hält  es  ferner 


i)  Irrtümlich  habe  ich  a.  a.  0.  angegeben,  Kirchner  halte  den 
tr\trixrig  für  Nikias'  Bruder,  iiud  Robert  wiederholt  dies  Versehen. 

2)  Er  könnte  auch  mit  dem  aus  Ar.  Thesm.  861,  Isokr.  XVIII  57, 
Aisch.  III  137  übel  bekannten  Phrynondas  identisch  sein.  Zahlreiche 
Beispiele  für  das  Nebeneinander  von  Kurznamen  und  Patronymen  zur 
Bezeichnung  derselben  Persönlichkeit  bringen  Wilhelm,  Urk.  dram. 
Auff.  i33f.,  und  Radkemacheb,  Philol  LXXV,  1919,  474,  bei. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  7 

für  unmöcrlich,  daß  Aristeides  die  auf  Dioguetos  bezüglichen 
Verse  (III  t.  15 — 18)  spreche,  denn  „was  konnte  Aristeides 
von  Diognetos  wissen?"  Ich  frage  dagegen,  was  kann  der 
Aischylos  in  den  Fröschen  (1431  f.)  von  Alkibiades,  der 
EpopB  in  den  Vögeln  von  Kallias  und  Hipponikos  (283),  der 
Tereus  des  Anaxaudrides  (vor  seiner  Verwandlung)  von  Poly- 
euktos  (fr.  45),  der  Linos  des  Alexis  samt  seinem  Schüler 
Herakles  von  der  ganzen  griechischen  Literatur  (fr.  135) 
wissen?  —  Jede  Figur  der  Komödie  weiß  eben  von  den 
Zeitgenossen  des  Dichters  genau  so  viel  wie  seine  Zuschauer, 
auch  wenn  sie  dem  fernsten  Altertum  angehörte. 

Robert  findet  weiter  (a.  a.  0.  178)  das  Zitat  aus  Euri- 
pides'  Melanippe  (s.  o.  S.  5)  im  Munde  des  Aristeides  „eine 
große  Geschmacklosigkeit",  da  dieser  „sich  selbst  der  Todes- 
ruhe ohne  Zutun  des  Sykophanten  beraubt"  habe.  Daß  die 
Toten  nicht  aus  eigenem  Antrieb  auf  die  Erde  gekommen 
sind,  werden  wir  weiter  unten  sehen,  der  Sykophant  ist  frei- 
lich unschuldig  an  ihrem  Erscheinen;  da  hat  der  Wunsch, 
einen  Vers  aus  einem  beliebten  Euripideischen  Stück  anzu- 
bringen, Eupolis  allerdings  zu  einer  kleinen  Entgleisung  ver- 
führt, aber  damit  nimmt  es  die  alte  Komödie  nicht  so  genau. 
Daß  die  Verse  des  Euripides  (fr.  507  N.)  in  die  gefesselte 
Melanippe  gehören,  nicht  in  die  weise,  wie  ich  a.  a.  0.  310 
annahm,  behauptet  Robert  wahrscheinlich  mit  Recht,  aber 
sein  Versuch  (Herrn.  44,  1909,  402),  die  Desmotis  ins  Jahr 
409  zu  datieren,  ist  ganz  unsicher.^)  Daß  es  endlich  im  5- 
Jahrhundert  in  Athen  keinen  Zeuspriester  gegeben  habe, 
dessen  Erwähnung  (III  v.  8)  also  gegen  die'Demen  spreche 
(Robert  a.  a.  0.  178),  ist  eine  unbeweisbare  und  an  sich  un- 
wahrscheinliche Behauptung. 

So  komme  ich  wieder  zu  dem  Ergebnis:  nichts  spricht 
gegen  die  Zuteilung  des  dritten  Blattes  an  die  Demen,  alles 
dafür. 

i)  Daß  der  Dichter  in  drei  gleichzeitig  aufgeführten  Stücken 
Antiope,  Hypsipyle,  Melanippe  Desmotis,  dasselbe  Grundmotiv  behandelt 
habe,  ist  sogar  äußerst  unwahrscheinlich. 


8  Ai,iui;l»  Köutk:  l7',6 

Ich  gt'be  nun    den  Toxt   der  S'/ene,    soweit    ioli    sie   ver- 
stehe oder  das   Verständnis  lörilern  v.n  können  glaube: 

III  r.  2   {^üi'x.) i'vv  avTi'lx  |   ('(y^'^j^   si^i    ^'v^i 

xal  yctQ   öC\xai6i;  tla    dmJQ.  (^Q-)  \^y    ö  xl  ktyeig, 
(^vx.)  ^E:riöi<vQt,]6g  ttot    tii^  (xyo\(ja\i>  xvxeöj  tiliov 
5     it,ijX&e  x{)]{fivcov  T>/|j'l  vTCipnjV  ccvaTiXeog 
jui'o'Ti,()jx ](?)/'•   Toi'T    ivvoovnaC  Tiag  iytb. 
iX\t)-o)i'  dl  xuii'tog  o'ixaö^  evd-vg  tov  i,ivov 
„r(\  fd^aöug  to  navovQys  xal  xvßevra  övf 
e(p]iji',  xtXsvcpv  rbv  i,tvov  ^iol  iqvöCov 
lo     dof'i']««.  6ra-r[^i\Qag  ixciTÖv  ijv  yccQ  7tXox'>6iog. 

Xovö]i)'ov  (^Tor    ovvy  ex\^e\ktv6e  ^   tinslv  ort  nibiv 
i^^/Al^£l'■  [^r^ro:],  xat    «Aa/'iot'  t6  iqvöIov. 
didovg  de  7toL\strG}  ng  ort  jrorf  ßovXetKL. 
('/^().)  vrj  zli    aya^al  öt]   zf^g  öixuioGvvTig  öörj. 

3.  xal  '/äg  Jen.;  SixKiog  K.,  Leeuw.,  Wilam.     4.  'EniSuvQiog  Jen.; 
icyoQäv  K.,  Leeüw.       5.  ^^i/AQ-f  Jen.;  Kgi^vcav  K.,  Naheu,  Wil.       6.  (iv- 
GTTjQixcbv   K.,   CO  TCgoaitEOÖav   Jen.       7 — 10.    erg.  K.        11.   j^ovöqov   (röz 
ovvy  K.,  yaläxriov  Rob.  ;  i-KiXevce  Leeuw.      12.  i^fiX^sv  tlnu  K.,  slnov 
H.  Schöne.      13  — 14.  erg.  K. 

Die  Verse  III  r.  15 — 22  und  III  v.  i  —  2  kann  ich  nicht 
herstellen,  auch  nichts  Neues  für  sie  beibringen. 

III  V.  3   {^Q.)  tC  t^ovg  d^avovtag  g[v]x  iätg  red-vrjxsy\ai-, 
(Uvx.)  ^]aQTVQoaai'  xC  d'   o\^vx]   c(y(aui[o]v^[i:d-a] 
s  xa\kt6ag  us  övvdslg  xädL[xslg].   ('^().)  o:XX   ov[x  iyoj 

h,yy£dt]6d  ö\  aAA'    6  ^tvog  6  xov  xvxeä  jCic)[v. 
{2Jvx.)  dCxa[ia]  drjra  ravxa  näöiEiv  fiv  Sfis] 
(l^Q.)  iQQv  ßudLt,03v  ie^m  <(t6v)>  xov  zJiog. 
{Xvx^  vßQL^s'  xavta  d'   o(ii}v  ex    6(pXri<5eig  i.^gC. 
10  (L^p.)  ex\L]  yccQ  6v  xovcfEiXstv  Xsyeig  ovxtog  f[jj]c9v; 
(2Jvx.)  xal  yal  /xa  ^Ca  xXdovxa  xad-eöa  (?'   [ejv  ye[xQOLg. 

3.  erg.  Leeuw.  nach  Eur.  fr.  507  N.  4.  ri  S'  ovx  Jen.;  ccyaviov- 
y.s&a  Wil.  5 — 6.  erg.  K.  u.  Leeuw.  7.  igov  Wil.;  Ieq^u  röv  Leeuw. 
9.    ö'  ovv  Jen.  lO.    ici  und  tovcpsiXeiv  Jen.;  ^x^v  Leeuw.         Ii.    iv 

vsxQotg  Jbn. 


71,6]  Zu  NEUEREN   KOMÖDifiNPUNDEN.  9 

(L4^.)  xcd  rovTo  (lov  t6  XQSog  7tKtat(jsvd[ei  xuxcög. 

(^ccXXy  a.7t(x.\yax    avtbv  nal  naQadox    Oi\yEl  rayv^ 
ovrog  'y]c<Q  b6tl  räv  zolovtov  ölsöJtorrjg. 
15     s[§gvl]6(iijv  d'    av  y.al  ^LÖyyrjxov  l[a§elv 
xhv  IsQoGvXov^  og  tcox^   r}v  räv  evdslxa, 
gg  xav  navovQycov  b[6^xI  xäv  ve(j3x[eQcov 
tioXXg}  TtQCiXLöTog,  oTtoxav  £v  xb  öafi    sxlj}- 
iya  dh  Tcdörj  %Qo(5ayoQEvco  xfj  7t6l\£L 
20     slvcci  dt[K]cci'ovg^  ag  bg  av  dCxuiog  fjt 

12.  xarcxipBvSsL  caqicag  Leeuw. ;  Hancög  Jen.  13.  cclX'  andysz'  Jen.; 
Otvsi   ru^v  K.         14.   erg.  K.,   ncclui,  yÜQ  Leeuw.  15  — 18.   erg.  Jen., 

v£(OT£Qojv  (17)  und  ^^r]  (18)  K.,  Leeuw. 

In  V.  4  halte  ich  Jensens  den  Raum  genau  füllende 
Ergänzung  ^EindavQLog  trotz  dem  Fehlen  des  indefiniten  rtg 
für  richtig.  Daß  xig  in  der  späteren  Sprache  beim  Bthnikon 
nicht  selten  fehlt,  hebt  Jensen  selbst  (a.  a.  0.  347)  unter 
Verweisung  auf  Plutarchs  Laconum  apophthegmata,  die  Bei- 
spiele in  Fülle  bieten,  hervor,  aber  aus  der  klassischen  Zeit 
vermag  er  kein  Beispiel  anzuführen.  Sehr  ähulich  ist  immer- 
hin Eur,  Ale.  675 : 

w  italj  xiv    av^ßlg-,  ^oxsqu  Avöov  ?]  0Qvya 
xaxotg  s)mvvslv] 

und  noch  mehr  die  Nachbildung  dieser  Stelle  in  Aristo- 
phanes'  Vögeln   1244: 

qpe^'  l'doj,  TioTSQcc  Avöov  iq  Ogvya 
xavxl  Xsyovöa  noQßoXvxxsßd^at  doxslg] 

Die  Auj;lassung  von  xig  ist  also  in  der  klassischen  Zeit  un- 
gewöhnlich, aber  nicht  unmöglich,  und  gemildert  wird  die 
Härte  durch  das  indefinite  Tioxe.  Entschieden  empfohlen  wird 
aber  Jensens  Ergänzung  durch  den  unvollständio;en  Vers  16: 

(ov  {^syTiga^av  ov^idavQiog,   ein  Epidaurier  muß  in 

der  mit  V.  4   beginnenden   Erzählung   genannt  gewesen  sein, 

und  für  seine  Erwähnung  ist  schlechterdings  nur  in  V.  4  Platz. 

In  V.  6  vei-zeichnet  Jensen  „geringe  Spuren  am  unteren 

Buchstabenrand,  die  sich  am  besten  zu  IICC](jüN  ergänzen 


lo  ALFRED  Kokte:  f7'.6 

lassen"  und  schlägt  die  Lesung  co  7TQ(}(S:Tf(Jcov  vor.  Ich  habe 
gegen  diese  Ergänzung  sachliche  bedenken,  das  jr()oö7i{nrfiv 
könnte  dem  n'i'osiOiyai  kaum  vorangehen'),  und  bei  der 
offenbar  großen  Unsicherheit  der  Spuren  wagc^  ich  den  Vor- 
schlag iivöTtiQixüi',  der  den  Zusaiiunenhaug  uoch  klarer 
stelleu  würde. 

Das  A'erständnis  der  von  mir  in  dem  Ilermesaufsatz 
(289  und  .^oSf.)  nicht  glücklich  behandelten  Verse  1 1  f ".  liat 
RonKiv' I'  angebahnt.  Er  sagt  S.  177:  „Der  P'remde  besticht 
den  Svkoi)hanten,  damit  dieser  eine  falsche  Aussage  mache 
und  statt  des  xvxscov  ein  anderes  Getränk  angibt,  das  der 
Fremde  angeblich  getrunken  hat."  Aber  sein  Ergäiizungs- 
vorschlag  yaläxtiov  kaim  nicht  richtig  sein.^)  Das  nur  bei 
Alkiphron  IV  13,  10  eita  yaläxxia  TioixCkcc^  rä  [itv  ^sUjitixtcc 
tä  d'  arcb  rayijvov,  Ttvtiag  ^oi  doxsl  xaXovdv  aina  xal 
excöXvixag  rä  7cs^p.diia  vorkommende  Wort  bezeichnet  kein 
Getränk,  sondern  einen  Kuchen^),  und  selbst  ein  aus  Milch 
hergestellter  Trank  würde  nie  die  Graupen  im  Bart  erklären 
können.  Wir  brauchen  ein  Getränk  mit  Gerste  darin,  gewisser- 
maßen einen  Doppelgänger  zum  Kykeon,  und  ein  solches 
kennen  wir  in  der  Tat  aus  der  alten  Komödie.  Bdelykleon 
führt  Ar.  Wesp.  738  unter  den  Genüssen,  die  er  dem  Vater 
verschaffen  will,  auf  iövÖqov  Xs(%eiv,  und  Athenaios  sagt 
III  127  c:  lövÖQov  8s  eiQTjxs  t6  QÖcprjiia  ^QL6toq)ävrjs  iv 
^aixalavöiv  ovrojg  (fr.  203  K.); 

rj  IÖVÖQOV  'tipcov   Sita  ^vtav  t^ßaXcov 

ididov  QocpEiV  UV. 

Auch  in  der  medizinischen  Literatur  kommt  ^övögog,  das  ja 
meist  einfach  Graupe  bedeutet,  für  Gerstentrank  vor.  Jensen 
sagt  (348)  über  den  Versanfang:  „Da  die  Lücke  am  Anfang 
des  Verses  nur  für  4 — 5  Buchstaben  Raum  hat,  so  wird  die 

i)  Das  zeigt  auch  gerade  die  von  Jensen  angeführte  Stelle  Arist. 
Ekkles.  694. 

2)  Er  ist  auch  zu  lang. 

3)  Das  bleibt  bestehen,  auch  wenn  man  mit  Hebcheb  ra  neynid- 
ria.  als  Glosse  streicht. 


71,6]  Zu   NEUEREN   KoMÖDIENFUNDEN.  II 

senkrechte  Hasta  vor  O  ein  Iota  sein",  xövöqov  füllt  die 
Lücke  also  aus,  nötigt  aber  zur  Annahme  des  Ausfalls  zweier 
Silben.  Diese  Annahme  ist  ganz  unbedenklich,  denn  der  nach- 
lässige Schreiber  hat  leider  ziemlich  oft  einzelne  Buchstaben 
und  Silben  fortgelassen  (III  r.  15,  16,  v.  8,  9,  I  r.  11,  13, 
V,  10),  aber  meine  Ergänzung  ^av  ovv  oder  tot'  ovv  befrie- 
digt mich  nicht  ganz. 

Den  Anfang  des  folgenden  Verses  gibt  Jensen Cl 

.  .  .  .  K  AT ',  das  paßt  zu  ii,fiX%-^ev,  dann  muß  die  Zusage 
des  Sykophanten  kommen.  Hermann  Schoene,  der  mir  191 7 
aus  dem  Felde  wertvolle  Vorschläge  zur  Textgestaltung  der 
Demenblätter  schickte,  wollte  h.ci^a\ö\  b\171ov  schreiben,  aber 
man  sieht  auch  auf  der  Tafel  den  Ansatz  einer  senkrechten 
Hasta  vor  der  Lücke,  und  deren  Umfang  bestimmt  Jensen 
auf  vier  Buchstaben.  Ich  habe  deshalb  slna  eingesetzt.  Die 
Form  elna  ist  fi-eilich  erst  bei  Alexis  (fr.  2  K.)  nach- 
zuweisen, aber  elTiag  steht  schon  bei  Phrynichos  (fr.   20  K.). 

In  III  V.  1 1  halte  ich  die  von  Jensen  zweifelnd  vor- 
geschlagene Ergänzung  kv  vsxqoIs,  auf  welche  die  Spuren 
führeü,  für  richtig.  Daß  der  Sykophant  in  seiner  ohnmächtigen 
Wut  seinem  Bezwinger  Aristeides  noch  Rache  in  der  Unterwelt 
androht,  scheint  mir  ein  der  Komödie  durchaus  würdiger  Einfall. 

In  V.  13  nimmt  Jensen  am  Anfang  gewiß  mit  Recht 
den  Ausfall  von  äXl'  vor  äTcdysx''  an,  zum  Schluß  vermerkt 
er  „nach  O  am  oberen  Rand  der  Ansatz  zu  einer  Vertikal- 
hasta".  Das  führt  auf  Iota  und  damit  scheint  mir  die  Er- 
gänzung OivEl  gegeben:  Das  bekannte  Fragment  der  Kolakes 
159  schildert  am  Schluß  das  Mißgeschick  des  Akestor: 

V.    15  f.   öxoj^iia  yaQ   ein    aösXyag,  sit    avxhv  6  nals  %^vQcct,E 
ai,ayay(ov  äyovxa  hXolov  naQadcoxev  Olvst. 

Was  hier  Oineus  zu  bedeuten  hat,  erkannte  Meineke  (zu 
Alkiphron  S.  152^)):  Das  Barathron,  in  das  die  Leichen  der 
Hingerichteten  geworfen  werden,  liegt  nach  Bekker  Anecd. 
219,   10   im    Gebiet   der    Phyle    Oineis,    und   deren    Eponym 


i)  Vgl.  V.  WiLAMOwiTz  Herrn.  VII,  1873,  143. 


12  Alkukü  Köutk:  [71,6 

mag  dabei  eine  Statue  oder  einen  Bezirk  gehal)t  liaheii;  dem 
Oineus  übergebeu  werden  ist  also  so  viel  wie  ins  Haratliron 
geworten  werden.  Das  paüt  auch  au  unserer  Stelle  vor/.iiglieli. 
Dann  wird  im  nächsten  Vers  die  Nennung  des  Oineus  be- 
gründet, leicht  ergiin/.t  niaji  ovtoc;  ynQ  im  Anfang,  aber  für 
den  Schiuli  luibe  ich  nit-lits  g.in/  Helriedigendes  gefunden, 
d£a:T6Ti]g   unti  dj/'/iiot,'  scheinen   mir  denkbar. 

Bevor  ich  auf  die  beiden  andern  Kairener  Demenbliitter 
eingehe,  möchte  ich  zwei  kleine  Reste  anderer  Herkunft  be- 
sprechen, die  neuerdings  gewiß  mit  Recht  den  üemen  zu- 
geteilt worden  sind.  Den  einen  von  ihnen,  Ox.  Pap.  VI  863 
aus  dem  3.  Jahrhundert  n.  Chr.,  hat  Otto  Schuoeder  (Novae 
com.  fragm.  in  pap.  rep.  exe.  Menandreis  Bonn  191 5,  65 ff.) 
als  Fragment  der  Demen  erkannt  und  unterstützt  von  seinem 
Lehrer  Sudhaus  zu  ergänzen  versucht. 

V  2  1) örj^ov[s ]  r}Xv<j\iov. 

ixcop  av  el  /z))]  roig  iveQ[r£]Qotg  d-soig 
r'jQeöe  Ts9'vyj]xiog  oux  dvsßicov  ovÖ'    unai,. 

5     ^/i^ot  T^S  7i6ke(og  tcXhGtov  nolv 

lr\auol  dtacp&eLQovöi  vvv 

]   ÖQoC  T£  xal  ndQtdsg  ouov 

ol  vvv  XQCitovvreg  Tt^ay^drav]  t(öv  iv^dds' 

TtaQslsiZOV  TIQO   T[o]'y. 

10     sig  dvdxQiöiv 

V7C£Q  7c6Xs\cog  ^a^ovli-ievog 

]  rai .  d-ey[ 

2.  Si]^ovg  ScHR.,  jjXvGiov  Sud.,  beispielsweise  ergänzt  Schr.  amacov 
ithv  ovv  I  ^ycoys  rovg  Srjiiovg  hXntov  ri]lv6t,ov.  3.  xotg  ivsQZSQOig  Küerte, 
Schr.  axav  —  ^^  beispielsweise  Sud.  4.  i'iQtos  Sud.,  taQ-vri^wg  ovk 
&vsßla)v  Schr.  5.  dTJ^iOL  oder  d'q  hol  Schr.         6.    Itaiioi  oder  -d  ^oi 

ScHB.  7.  'AU^avSgoi  Gr.  H.,  IleiaavSQOL  zweifelnd  Schr.  8.  beispiels- 
weise ergänzt  von  Sud.  9.  rov  Gr.  H.,  die  erste  Hälfte  will  Sud.  etwa 
ergänzen  ndvv'  dvccrgsTcovaiv  ii  ri.  10.  rovrcov  ^ihv  ovv  ilTqXvd^  oder 
ävfiyov  Schr.  ii.  vnhq  -nöXtag  beispielsweise  Sud.,  yba^oviLsv  —  Gr.  H., 
liaxovfisvog  Schk. 

i)  Von  Vers  i  sind  nur  unsichere  Reste  zweier  Buchstaben  IC 
über  ä'^iLovg  vorhanden. 


71,  6j  Zu    NEUEREN   KOMÖDIENFUNDEN.  I3 

Entscheidend  sind  die  erst  von  Schroeder  riclitig  ab- 
geteilten und  ergänzten  Worte  in  V.  4  tsd-vrjxag  ovx  aveßCav 
ovd'  arcai,,  die  nur  ein  aus  der  Unterwelt  Aufgestiegener 
sagen  kann.  Der  sichere  Dativ  ToTg  evsQTSQOig  d-eolg  führt 
unmittelbar  zu  Sudhaus'  vortrefflicher  Ergänzung  von  V.  3 
und  4.  Nimmt  man  dazu  drjaov[g  (2),  sig  äväxQLöiv  (10)  und 
das  zweifellose  politische  Interesse  der  Verse  5  0'.,  so  kann 
man  in  der  Tat  kaum  zweifeln,  daß  hier  einer  der  TCQoöTcctai 
der  Demen  spricht,  der  zur  Untersuchung  der  verderbten  Ver- 
hältnisse der  Stadt  in  die  Oberwelt  gesandt  ist.  Schröeders 
Vermutung  für  V.  7  IIsLöavÖQOi  ts  Kai  UccQLdsg  6^ov  ist 
leider  unsicher,  man  sieht  nicht  recht,  warum  der  Demagoge 
Peisandros  mit  Paris  verkuppelt  wird.  Als  Subjekt  von 
%aQbXai7iov  (V.  9)  würde  ich  lieber  den  Sprecher  als  die 
jetzigen  Volksführer  annehmen.  So  dürftig  die  Reste  sind, 
lehren  sie  uns  doch,  die  Richtigkeit  der  Ergänzung  von  V.  3  f. 
vorausgesetzt,  für  die  Komposition  der  Demen  etwas  sehr 
W^ichtiges:  Nicht  aus  freien  Stücken  sind  die  alten  Führer 
aufgestiegen,  sondern  auf  Geheiß  der  unterirdischen  Götter,  die 
wohl  ihrerseits  das  Flehen  des  jüngst  im  Hades  eingetroffenen 
Myronides  (s.  Keil  a.  a.  0.  241  f.)  erhört  haben  werden. 

Nach  anderer  Seite  hin  wertvoU  sind  die  jämmerlichen 
kleinen  Fetzen  eines  Papyrus  aus  der  ersten  Hälfte  des  2.  Jahr- 
hunderts, die  Grenfell  und  Hunt  Ox.  Pap.  X  1240  ver- 
öffentlicht haben.  Ich  gebe  sie  in  der  Anordnung  der  Heraus- 
geber, die  freilich  unsicher  ist. 

fr.    I.  ^vQcovi§\rlg^^        ccq    ovxl  (pav[EQÖv 

i]  Ttov  ^sy    ol[^c)^SLV 

~  ^V-[ 

nöößog 

5  (zwei  Zeilen  ohne  lesbare  Spuren) 

fr.  2.  s]ßßaivs  7Cc(q[ 

iccb^a^\  OTCofcpl^ 

iöl 

(eine  Zeile  ohne  lesbare  Spuren) 

I.  erg.  Gr.  H.  2.  erg.  Koeete.  6.  erg.  Gb.  H. 


14  Alfred  Küktk:  (71»  6 

fr.   I.   0]heTt]^\.  .  . 
10        .  .Ji>fa    Tov 

fr.   3.  Xo{Q6g)        iyu)  dh  (fik 

xal  (pik 

xar  vvv 

TO 

15      0«'x]£'r>;(ij)         (fii)    loa  jtXuy.\ovvra 

9.  erg.  Gr.  H.  15.  ol^irj]?  (»h.   H.,  nXaviovvTa  Wii.amowitz. 

Fragment  4  enthält  nur  das  letzte  Wort  eines  längeren 
Verses  (t.L6vTac:.  Die  Herausgeber  bezeichnen  es  als  sehr 
möglich,  daß  fr.  i  und  3  zu  verbinden  sind,  und  berechnen 
für  diesen  Fall  die  Zahl  der  zwischen  V.  5  und  1 1  aus- 
gefallenen Verse  auf  etwa  9,  fr.  2  könne  einen  Teil  dieser 
Lücke  füllen.  Der  Wechsel  von  iambischen  Trimetern  und 
eingerückten^),  also  lyrischen  Versen  und  die  Beteiligung  des 
Chors  weisen  die  Fetzen  der  alten  Komödie  zu,  der  gleich 
den  übrigen  Personalnoten  von  anderer  Hand  beigeschriebene 
Name  Ux^QcovCdrig  ließ  v.  Wilamowitz  und  mich  sofort  an 
die  Demen  denken,  aber  natürlich  schlugen  wir  statt  TJvqco- 
vCd)]g  vielmehr  MvQovCdi^q  vor.  Die  Herausgeber  erklärten 
jedoch  TT  für  sicher,  und  damit  schien  die  Zugehörigkeit  zu 
den  Demen  ausgeschlossen,  wenn  man  nicht  zu  der  bedenk- 
lichen Aauahme  eines  Schreibfehlers  seine  Zuflucht  nehmen 
wollte.  Nun  stellt  aber  v.  Wilamowitz  Herm.  54  (19 19),  69 
fest,  daß  in  Plutarchs  Perikles  28^  der  einzigen  Stelle,  die 
vor  Auffindung  der  Kairener  Blätter  Myronides'  Auftreten 
in  den  Demen  bezeugte,  UvQiovCdrjv  überliefert,  MvQavCdrjv 
byzantinische  Konjektur  ist.^)  Du  weiter  im  Kairener  Papyrus 
einmal  H  r.  15  -vqojvCöt^v  steht,  das  andre  Mal  II  v.  9,  wie 
mir  Jensen  brieflich  ;iiitteilt,  die  Lesung  nvQG}vCöi]g  statt 
MvQ03Vidr]g  „nicht  ausgeschlossen"  ist,  wird  man  in  den 
Demen  durchgehends  Myronides  durch  Pyronides  zu  ersetzen 

i)  Da  die  Yersanfänge  von  Fragment  2  auch  für  Trimeter  passen, 
ist  mir  die  Einordnung  an  dieser  Stelle  doch  fraglich. 

2)  "Wie  ich  nachträglich  sehe,  hat  darauf  bereits  G.  Thieme  in  seiner 
sorgfältigen  Dissertation  Quaest.  com.  ad  Periclem  pert.  59  hingewiesen. 


71,6]  Zu   NEUEREN   KoMÖDIENFUNDEN.  15 

haben.  Der  Oxyrliynchos- Papyrus  und  die  gute  Plutarch- 
Überlieferung  stützen  einander  gegenseitig,  und  der  Kairener 
Papyrus  fügt  sich.  Daß  Eupnlis  unter  Pyronides  gleichwohl 
den  bekannten  Staatsmann  Myronides  verstanden  wissen 
wollte,  ist  nach  II  v.  14 ff.  kaum  zu  bezweifeln.  Weshalb  er 
den  Namen  leicht  änderte,  läßt  sich  nicht  sagen,  denkbar 
wäre,  daß  der  tatkräftige  Mann  bei  Lebzeiten  vom  Volk  mit 
auszeichnendem  Spitznamen  Pyronides  statt  Myronides  ge- 
nannt worden  ist.  Eine  ähnliche  durchsichtige  Namensände- 
rung ist  der  Hund  Actßr^s  statt  Aderig  im  Hundeprozeß  der 
Wespen  (V.  836  und  895 ff.),  auch  rvi]6i7i7tog  für  N6d-L7C7tog 
(Wilhelm,  Urk.  dram.  Auif.  loif.)  wäre  vergleichbar,  wenn 
nur  die  Gleichsetzung  beider  Personen  sicher  wäre  (s.  P.  Maas 
R.  E.  YII  i479JBr.).  Die  leichte  Umformung  des  Namens  rückt 
Myronides  immerhin  von  den  mit  richtigen  Namen  ein- 
geführten älteren  Volksfübrern  etwas  ab.  Daß  übrigens  der 
in  den  Demen  eingeführte  Myronides,  der  Sieger  von  Oino- 
phyta  im  Jahre  457,  von  dem  Gesandten  und  Strategen  des 
Jahrs  479^8  (Plut.  Arist.  10  und  20)  zu  scheiden  ist,  hätte 
Jensex  (a.  a.  0.  343,  6)  nicht  wieder  anzweifeln  sollen 
Beuno  Keil  hat  bereits  (a.  a.  0.  238)  auf  die  wichtige  Stelle 
des  Ephoros-Diodor  XI  82,  4  hingewiesen:  MvQCOvCdrig  fiev 
ovv  STCKpavBl  ticcxV  vi'inqöag  rovg  Boiojzovg  evd^ilXog  sysvy}d-i] 
xolg  TtQO  avvov  ysvo^ivoig  rjysfiöötv  STtigjavsördtoig 
QsuLöroy.Xst  xal  MiXtiddr}  xäl  KCiicovi.  Der  Stratege  von 
Plataiai,  den  Plutarch  (Arist.  20)  neben  Leokrates  als  Haupt- 
helfer des  Aristeides  nennt,  war  kaum  jünger  als  Kimon,  der 
479  mit  ihm  als  Gesandter  nach  Sparta  geschickt  wird  (Plut. 
Arist.  10)  und  erst  nach  der  Schlacht  von  Plataiai  eine 
führende  Stellung  gewinnt  (Plut.  Kim,  6,  Arist.  22>).  Nun 
hat  vollends  WüST  (Jahresber.  174,  178)  darauf  hingewiesen, 
daß  durch  schob  Ar.  Lys.  801  ausdrücklich  zwei  Männer  des 
Namens  für  die  ältere  Zeit  bezeugt  sind,  es  heißt  da :  dvo 
MvQCOvCdai  ipav^  cjg  sv  tatg  'EnK^rjöialovöaLg  dsdrjlcotai. 
ivd-dÖE  toCvvv  ^savrjTai  toö  ev  Oivocpvtoig  vmr^öavtog.  In 
dem  Scholion  zu  Ekkles.  303,  wo  Symmachos  (oder  Didymos) 


i6  Alkiieu  Köute:  l7',t) 

die  binden  llomonynieii  auislululiiher  beliaudelt  hatte,  lesen 
wir  leider  jetzt  nur  noch  MxfQioi'Cih]g'  tiov  svdoxi^oin'rcaj' 
ovTos  o  öTiyuTt^yög.  Daß  Myronides  in  den  Denien  nicht  zu 
den  :tQonT(xrai  «rohfirte,  sondern  nur  als  V'Z^}'w^'<^s'  i"  Be- 
tracht kam,  sei  im  Anschluli  an  lvi:iLs  vortreilliche  Aus- 
führungen (a.  a.  0.  241t'.)  noch  einnuil  betont. 

Auch  bei  iler  Behandlung  des  /weiten  Kairener  Blattes 
geht  RouERT  (a.  a.  O.  168 ff.)  eigene  Wege,  die  aber  meiner 
Ansieht  nach  nicht  über  Keils  und  .Jensens  Ergebnisse 
hinaus  zum  Ziel  des  völligen  Verständnisses,  sondern  in  die 
Irre  führen. 

Das  wichtigste  Ergebnis  von  Keils  Untersuchungen  über 
die  Komposition  des  Stückes  scheint  mir  die  Einsicht,  daß 
die  erste  Hälfte  im  Hades  spielte  und  daß  der  Demenchor 
dort  in  anderer  Gestalt,  als  rüstige  Altathener  der  Maratiion- 
zeit,  auftrat,  während  er  sich  in  der  Oberwelt  in  kläglich 
veränderter  Erscheinung  darstellt  (a.  a.  0.  246 jBF.).  Ein  solcher 
Kostümwechsel  ist  mit  nichten  unerhört,  wie  Kohert  (a.  a. 
0-  173)  wieder  behauptet,  in  den  Fröschen  wird  der  Frösche- 
chor, dessen  sichtbares  Auftreten  Keil  (a,  a.  0.  248)  sehr 
richtig  für  unerläßlich  erklärt,  durch  den  Mystenchor  ab- 
gelöst, das  ist  eine  viel  gewaltsamere  Umgestaltung  als  die 
des  Demenchors.  Der  natürliche  Einschnitt  für  den  Wechsel 
des  Kostüms  ist  die  Parabase,  darum  läßt  Keil  nach  ihr 
die  TtQoördraL  erscheinen  und  den  Chor  in  veränderter  Gestalt 
wiedereinziehen,  und  im  Anschluß  an  Keil  bestimmt  Jensen 
(a.  a.  0.  345)  die  Lücke  zwischen  I  v.  und  H  r.  auf  nur 
10 — 12  Verse.^)  Robert  hingegen  wiU  nur  den  Prolog  im 
Hades  spielen  und  den  Chor  nur  in  der  Oberwelt  auftreten 
lassen,  deshalb  setzt  er  Blatt  H  vor  Blatt  I  (a.  a.  0.  172 f.) 
und  läßt  die  wiedererstandenen  Führer  in  zwei  Gruppen  auf 
die   Oberwelt  kommen,   erst   Myronides,    Peisistratos,    Solon, 


i)  Zu  beachten  ist,  daß,  wenn  Jensen,  wie  ich  nicht  bezweifle, 
mit  Recht  II  r.  vor  II  v.  stellt,  die  Anordnung  der  Blätter  im  Demen- 
kodex anders  war  als  im  Menanderkodex,  wo  ausnahmlos  Rectum  auf 
Rectum  und  Versum  auf  Versum  folgt. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden,  17 

dann  nach  der  Parabase  Aristeides,  Miltiades,  Perikles.  Aber 
abgesehen  davon,  daß  dieHadesszenen,  besonders  die  Dokimasie 
der  TtQoardtai  viel  Raum  erforderte  (s.  Keil  a.  a.  0.  247 f.), 
spricht  der  kleine,  aber  sehr  wichtige  Szenenrest  nach  der 
Parabase  (I  v.  13  ff.)  ganz  entschieden  gegen  Roberts  Ver- 
mutung. Die  feierlichen  Begrüßungsverse  des  Aristeides  I  v.  1 3f.: 

(b  yi]  TtccTQaa  %alQE'  oh  yc(Q  df[y.rj  Itya^) 
Ttaö&v  Ttöksav  B'ii7CuyX\oxdxi]V  xal  (piXtdtrjv 

werden  durch  die  erregte  Frage  des  Probulen  unterbrochen:  t6 

de  TCQäy^a  xC  söxl; Unmöglich   konnte    der  Probule, 

dessen  Person  Jensen  aus  der  Personalnote  zu  V.  15  IIq. 
vortrefflich  erschlossen  hat,  so  erstaunt  sein,  wenn  schon 
vorher  drei  Tote  aus  dem  Hades  erschienen  waren,  und  er 
selbst  nach  Roberts  eigner  Annahme  (a.  a.  0.  S.  171)  längere 
Gespräche  mit  ihnen  geführt  hatte.  Es  ist  auch  an  sich 
schwer  glaublich,  daß  der  Dichter  die  glänzende  Wirkung  des 
Erscheinens  der  toten  7tQ06xdrat  durch  ihre  Zerlegung  in 
zwei  Trüppchen  abgeschwächt  haben  sollte.  Man  muß  also 
mit  Keil  und  Jensen  daran  festhalten,  daß  II  r.  unmittelbar 
auf  I  V.  folgt  und  den  ersten  Sprecher  der  Toten,  Aristeides, 
im  Gespräch  mit  dem  I  v.  15  erschienenen  Probulen  zeigt. 
Die  ersten  7  Verse  von  I  r.  lassen  sich  mit  Hilfe  der  Frag- 
mente (108  K.  und  Kratinos  fr.  65  K.  vgl.  Hermes  47,  191 2, 
306)  wie  folgt  herstellen: 

xsXsv ,  Iva  6nXdyy^voi6i\  6yyysvcia\£\d-a.  , 


i)  Sehr  ungern  opfere  icli  die  auf  Lefebvres  Lesung  gestützte  Er- 
gänzung aanä'Qoiiai.  dem  Einspruch  Jensens  (a.  a.  0.  327),  der  den 
Buchstaben  nach  yccQ  bestimmt  als  A,  die  folgenden  Reste  als  I  K  oder  H 
(auch  El  nicht  ausgeschlossen)  las.  Ist  diese  Lesung  richtig,  so  weiß 
ich  auch  keine  bessere  Ergänzung  als  Roberts  SUri  liyw,  oder  etwa 
8eZ  TCQoanaXiiv.  Gegen  die  für  Aristophanes  unmögliche  Zerreißung  des 
Anapästs  x'^'^9^'  <J^  Y^Q  würde  ich  mich  sträuben,  wenn  nicht  gleich 
der  nächste  Vers  eine  ganz  "entsprechende  ngäy^a  ri  iati;  brächte. 

Phil.-hi8t.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  6.  2 


iS  Alfiikp  Körte:  [71,6 

(Uq.)  f//oJ  jUfAj^tfff]   Tuvra  xal  7ia:rQ(ii.etai. 

dkX  sv^ttog  yv\cpö£öd-s  Tov^  df/f/ot's'  ööfo 
5     navTi]  xäxiöv  el\6i  vvv  diaxti^ievoL 

r)  ngöod^sv,  t)vi\x   i'jQxstov  av  xal  2J6Xav 
ijßijc:  r     ixe{vi]g   r\ov  r     ixei'vov  xul  q)Qev(öv.^) 

ROBEHT  hält  für  den  Mitniiterredner  des  Probulen  Peisistra- 
tos  (a.  a.  0.  170),  weil  Aristeides  und  der  100  Jahre  ältere 
Solon  nicht  „zeitlieh  und  durch  den  Dual  so  eng  miteinander 
verbunden  werden"  könnten,  wie  es  in  V.  6 f.  geschieht.  Aller- 
dings ist  das  Auftreten  des  PeisiBtratos  in  den  Denien  durch 
schol.  Ar.  Ach.  61  (fr.  123K.)  bezeugt,  aber  zu  den  in  die 
Oberwelt  aufsteigenden  ngoörärai  hat  er  sicher  nicht  gehört. 
Wir  haben  das  bestimmte  Zeugnis  des  Aristeides  Scholiasten 
(III  672,  4  Dind.):  Evzohg  inoiypsv  dvaöTccvra  tbv  MiXrLdörjv 
xal  'Aqi6t£C8i]v  xal  EöXava  (so  Valckenaer  für  das  über- 
lieferte TeXojpu)  xal  TlsQLxliaj  und  diesem  Zeugen  dürfen 
wir  den  Glauben  nicht  versagen,  denn  er  hat  noch  die  ganzen 
Demeu  gelesen,  sonst  könnte  er  nicht  den  Abstand  zweier 
Zitate  (fr.  94  und  96  K.)  auf  5  Verse  beziffern  (s.  Br.  Keil, 
Anon.  Argent.  48,  i).  Für  Peisistratos  ist  also  nur  in  der 
Dokimasie  der  Abgesandten  im  Hades  Raum^),  und  man  wird 
es  hinnehmen  müssen,  daß  Solon  und  Aristeides  inV.  6f.  so 
eng  verbunden  sind.  Die  gute  alte  Zeit  erscheint  dem  Dichter 


i)  Die  Ergänzung  von  V.  3  verdanke  ich  Hermann  Schoene  ;  ich 
hatte  ihv  -Ail.svGoi  vermutet,  was  Jensen  mit  dem  Raum  und  der 
ersten  Buchstabenspur  für  unvereinbar  erklärte.  In  V.  4  stammt  &XX' 
sv&icog  von  Jensen,  yvnGBaQ-s  von  Keil,  in  V.  5  Ttävrrj  von  Keil,  kÜklöv 
siöL  von  mir,  V.  6  ist  von  mir  ergänzt. 

2)  Unbedingt  sicher  scheint  es  mir  nicht,  daß  Peisistratos  selbst 
aufgetreten  ist.  Allerdings  sagt  der  Aristophaues-Scholiast:  EvTiolig  Sh 
iv  ^fiaoig  slaäysL  tbv  TI>:i6i6TQDctov  ßaadsa,  aber  in  dem  entsprechen- 
den Suidaa-Artikel  u.  ßaaiXshg  y,syag  heißt  es  -nal  E^xoXig  JlEieiGTQaxov 
ßaaiXiu  y,aXst  und  bei  Ammonios  de  diff.  verb.  (138  Valck  )  xal  rbv 
xvgavvov  ßaGiXia  ^Xfyov,  «s  EvnoXig  iv  /Irj^oig  iitl  tov  TIei6i6TQa.tov . 
Vielleicht  war  also  in  der  Dokimasie  nur  von  ihm  die  Rede.  Kaibel 
erwägt  sogar,  ob  nicht  im  Aristophanes-Scholion  für  dedysL  vielmehr 
XiysL  oder  xalat  einzusetzen  sei. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  19 

so  einheitlich,  ich  möchte  sagen  fiächeuhaft,  wie  etwa  dem 
Neuhumaniamus  um   1800  die  Antike. 

Der  Rest  der  Seite  entzieht  sich  der  Wiederherstellung^), 
aber  einiges  läßt  sich  doch  ermitteln  (s.  Herm.  47,  307  und 
Jensen  a.  a.  0.  345 f-)-  -^^^  gewiß  noch  dem  Probulen  ge- 
hörenden Versschlüsse  g  övivr]  und  10  TtQoöbQ^iBtai  werden 
das  Auftreten  des  Chors  ankündigen,  und  dann  folgen  lyrische 
Verse  des  Chors,,  denn  weder  12  jr]^ü(?0-£v  noch  17  aöTid- 
öaöd'ca  kann  Trimeterschluß  sein.  Ob  die  Chorverse  durch 
Trimeter  unterbrochen  werden,  läßt  sich  nicht  ausmachen, 
jedenfalls  sind  die  Versschlüsse  13 — 16  -^]rj  TtQoöüg,  -xriv 
TCQo&vfiCav,  -n^vQiovidrjv,  -ovg  dvr^yayev  für  Trimeter  möglich. 

Den  gleichen  Wechsel  von  lyrischen  Versen  und  Tri- 
metern  haben  wir  auf  der  andern  Seite  des  Blattes  (U  v.). 
Jensen  hat  die  ersten  trochäischen  Verse : 

-zog  yaQ  c)o[7tSQ]  \  dvÖQsg 
G)i>  x[L'](^6v]tsg  iv  toCaiöLV 

schön  hergestellt  (a.  a.  0.  339),  auch  seine  Annahme,  daß  eine 
Tragikerstelle  parodiert  sei,  ist  trotz  Roberts  Zweifel  (a.  a. 
0.  171  f.)  sehr  ansprechend,  aber  seine  Behandlung  der  fol- 
genden Trimeter  scheint  mir  verfehlt.  Er  gibt  sie  in  folgen- 
der Form: 

5     ETCsl]  do[x]ö  tovg  avÖQag  '^drj  tov[6d^   oQäv 
iiad']r]^svovg,  ovg  (paGcv  rjXSLV  [■Jt]a[Qä  vsxqöv, 
evtav]d'cc  ^hv  örj  xGiv  (pCXcov  7tQo6x[ri6o^ai. 
cp]g  oQd'hg  §(3tr]xco[g^  7i!;[a]()[£]ör'   auröv   [/xoVog 
MvQ(ovCdi]g,  SQa^ed^    [ay^r6[v,  st  doxst  (?). 

und  legt  sie  dem  Probulen  in  den  Mund.  Das  halte  ich  für 
ganz  ausgeschlossen:  Wie  kann  der  Probule,  der  schon 
III  V.  1 5   mit  den  Auferstandenen  in  Verbindung  getreten  ist, 


i)  Roberts  a.  a.  0.  170  nur  beispielsweise  gegebener  Ergänzungs- 
versuch  von  V.  8  f.  ovdhv  XiXsmxai  vvv  a7t]äy[v]  i]ä[ri  öwj^drcov  uyäl- 
fiutcc,  ipv^cbv  TtuQ]gi,[vi]u  6v%vri  befriedigt  nicht;  H.  Schoene  schlug  mir 
brieflich  vor:  „Wir  geben  aber  gern  -xav  <>7r]aj'[is]  r;  d[(aß7j]fictroJv." 

2* 


20  Ali'ked  Köutk:  [71.6 

den  wir  in  II  r.  in  Irbhaftoni  Gespräch  mit  ihnen  finden, 
jetzt  sagen:  „du  ich  die  Männer  hier,  die  von  den  Toten  ge- 
kommen sein  sollen,  sitzen  zu  sehen  «^flaubo,  will  ich  hier  für 
die  Freunde  eintreten.  Da  aufrecht  stehend  von  ihnen  allein 
Myronides  (vielmehr  Pyrouides)  anwesend  ist,  wollen  wir  ihn, 
wenn's  beliebt,  f raison"  — '? 

Das  kann  nur  jemand  sagen,  der  die  Ankömmlinge 
eben  erst  erblickt  und  eine  Verbindung  mit  ihnen  erst  an- 
knüpfen will.  Fällt  der  Probule  fort,  so  ist  der  Chorführer, 
dem  ich  die  Verse  schon  früher  zugeteilt  habe  (a.  a.  0.  303), 
der  einzig  mögliche  Sprecher.  Für  die  Zuweisung  an  ihn  läßt 
sich  auch  die  Tatsache  anführen,  daß  weder  nach  V.  4  noch 
nach  V.  g  eine  Paragraphos  steht,  während  sie  nach  V.  13 
und  V.  16  gesetzt  ist,  nach  der  Handschrift  gehören  also 
I  — 13  derselben  Person,  d.  h.  dem  Chor,  dessen  sprechender 
Führer  von  der  singenden  Menge  nicht  geschieden  wird.-*) 
Der  Probule  ist  vermutlich  beim  Einzug  des  Chors  abgetreten, 
um  für  das  gewünschte  Mahl  zu  sorgen. 

Im  einzelnen  sind  die  Verse  5 — 9  noch  keineswegs  be- 
friedigend hergestellt.  Auffallend  ist,  daß  Jensens  Ergänzung 
von  V.  5  mit  seinen  eignen  Lesungen  nicht  übereinstimmt. 
Er  hebt  ausdrücklich  hervor,  daß  snal  (oder  ixet)  die  Lücke 
am  Anfang  nicht  füllt,  da  könnte  man  durch  xu:tel  oder 
xdxsL  helfen,  aber  auch  oq&v  verträgt  sich  nicht  mit  dem  von 
ihm  an  dritter  Stelle  nach  TOY  gelesenen  „unteren  Ende 
einer  senkrechten  Hasta".  Auch  inhaltlich  befriedigt  das  dei- 
ktische  rovööe  neben  ogäv  öoxü  nicht  recht.  Roberts  Vor- 
schlag (a.  a.  0.  i6g),  die  VV^orte  in  V.  8  ag  oQ&bg  sötr^xag 
von  dem  folgenden  durch  Punkt  zu  trennen  und  mit  dem 
vorangehenden  hvrav^a  fi£V  di)  tcöv  cpClorv  TtQoöxriöofiaL  zu 
verbinden,  ergibt  einen  inhaltlich  und  formal  wunderlichen 
Satz,  aber  mit  Recht  hebt  er  hervor,  daß  man  auf  ^övog  in 

i)  Trimeter  im  Munde  des  Chorführers  sind  trotz  Sieckmanns  (De 
com.  Att.  prim.  53  fF.)  für  die  ältere  Zeit  zutreffender  Beobachtung  in 
einer  Komödie  des  Jahres  412  durchaus  nicht  auffallend,  vgl.  Jahxes- 
ber.  152,  241  f. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  21 

V.  8  nicht  bauen  darf,  weil  es  ganz  ergänzt  ist.  Ich  finde 
für  V.  8  keine  einleuchtende  Herstellung;  Schoene  dachte 
daran,  das  ag  als  Ausruf  zu  fassen:  ag  ÖQd-bg  e6ri]i  ag  .  .  .  . 
Tf,  aber  ^[4]q[s'\<3t  fügt  sich  dem  nicht  und  läßt  sich  schwer 
durch  etwas  anderes  ersetzen.  Für  V.  9  halte  ich  die  Er- 
gänzung ITvQCovLdrjg,  SQ^^sd-'  [ay]Tb[v  0  n  &sXsi,  für  ziem- 
lich sicher. 

In  den  folgenden  lyrischen  Versen  sind  gewiß  mit  Robert 
(bei  Jensen  341)  Kretiker  zu  erkennen,  die  sich  wenigstens 
dem  Sinne  nach  herstellen  lassen: 

10     sine  ^OL,  d)  {^dxccQ^  £- 

/ioAfg    Sr[£bv    6X    VSKQGiV 

TtQog  jcoAt-rö[v  Tio&rjrög] 
qppa[(?]0V,    TL    K[o^i6ig', 

^dxaQ  s^oXsg  ersov  verdanke  ich  Schoene,  ix  vsxq&v  schlug 
Robert  nach  ^o^^og  vor.  Jensen  hält  S.  342  ^Qog  Tcohrav 
für  sicher,  da  er  aber  S.  329  die  Buchstaben  TCü  für  schatten- 
haft erklärt,  ist  vielleicht  auch  yiQog  noUrag  no&ovvxag  denk- 
bar. Mit  xo^islg  habe  ich  das  richtige  Wort  schwerlich  ge- 
troffen. 

Myronides  (Pyronides)  antwortet  mit  drei  Versen,  deren 
Wortlaut  ebenfalls  recht  unsicher  ist.  Im  ersten  scheint  mir 
Gerckes,  mir  brieflich  mitgeteilte,  Ergänzung 

o](f  avrog  sl^'  ixsivog  '6v  6[v  7CQo6xaXstg 
denen  von  Wilamowitz  jtQoödoxäg  und  Keil  Ttvvd'dv'^  vor- 
zuziehen. Der  folgende  ist  durch  Jensens  Feststellung,  daß 
im  Eingang  b]g  oder  d]g  zu  ergänzen  sei,  nicht  verständ- 
licher geworden:  ö]g  ra?  'AQ'^vag  :jc6X^  str],  nun  erwartet  man 
ein  Verbum,  „der  ich  Athen  viele  Jahre  geleitet,  gefördeii,  ge- 
stützt habe",  aber  ich  finde  keine  dem  Sinne  und  Metrum 
angemessene  Form. 

Im  letzten  Vers  bestätigen  Jensens  Lesungen  meine  Er- 
gänzung dva\yÖQOvg  dv8Q\ag,  aber  davor  liest  er  .  .  (.)«§  r 
und  bemerkt:  „der  geringe  Rest  einer  Vertikalhasta  scheint 
eher  zu    dem    zweiten    als   zu    dem    dritten    Buchstaben    des 


22  Alfukp  Körte:  [71,6 

Verses  zu  gohören"^,  I^ohkrts  Vorschlag  r(u«s',  das  auch 
ein  Schüler  Geiukks,  Kkiuhkl,  vermutet  hat,  passe  nicht  zu 
seinen  Zeichnungen,  bg]  rdg  oder  avrccg  sei  nur  möglich, 
wenn  der  Schreiber  den  Zeilcnraud  nicht  genau  innegehalten 
habe.  Zu  diesen  Angaben  p:ißt  woiil  nur  erccs,  und  ich  halte 
es  nicht  für  unmöglich,  daß  Eupolis  dies  der  höheren  Poesie 
eigne  Wort  in  dieser  gehobenen  Szene  gebraucht  hat.  Ai.schy- 
los  verwendet  tTijg  liik.  247  und  fr.  377  für  Privatmann, 
Bürger,  im  Gegensatz  zu  Herrscher  und  Volk,  so  kcinnte  es 
auch  hier  angewendet  sein. 

Von    den    folgenden    lyrischen    Versen    des    Chors    hat 
Jensen  noch  den  Anfang 

1^  xal   öacpäg  0([d'    ort  ttccq 

glaublich  hergestellt. 

Endlich  noch  ein  Wort  über  die  Personenzahl  dieser 
Szene,  die  unnötige  Bedenken  erregt  hat.  Robert  läßt  (a.  a. 
0.  172)  die  Schatten  in  zwei  Gruppen  auftreten,  um  nicht 
zu  viele  Personen  gleichzeitig  spielen  zu  lassen.  Warum  ich 
an  eine  Verteilung  in  Gruppen  nicht  glauben  kann,  habe  ich 
oben  (S.  16  f.)  ausgeführt;  auch  die  Worte  des  Chorführers 
II  V.  5  ff.  setzen  die  Gesamtheit  der  Ankömmlinge  aus  dem 
Hades  voraus.  Das  sind  also  die  vier  :iQ06tdrui  mit  Pyro- 
nides  als  Führer,  und  als  sechste  Person  tritt  der  Probule  im 
Beginn  der  Szene  hinzu.  Tatsächlich  sprechen  aber  zunächst 
nur  Aristeides  und  der  Probule,  später  nach  Abtreten  des 
Probulen  Pyronides  und  der  Chorführer.  Nun  leugne  ich  zwar 
grundsätzlich  durchaus,  daß  wir  uns  in  der  Komödie  auf  die 
Dreizahl  der  Schauspieler  zu  beschränken  brauchen,  fast 
keine  Komödie  des  Aristophanes  ist  mit  drei  Schauspielern  zu 
spielen,  und  z.  B.  in  der  Göttergesandtschaft  der  Vögel  haben 
wir  längere  Zeit  (1565 — 1693)  vier  Schauspieler  in  lebhaftem 
Gespräch  zusammen,  aber  die  Gesandten  aus  dem  Hades 
können    sehr   wohl   zu    fünft   gekommen    sein   und  doch  nur 

i)  Im  Majuskeltext  gibt  er  an  zweiter  Stolle  die  Querhasta  eines  T. 


71,6]  Zu   NEUEREN   KoMÖDIENFUNDEN.  2^ 

zwei  oder  drei  Schauspieler  erfordert  haben.  Die  II  r.  i  fi. 
verlangte  Zurüstung  eines  Mahls  wird  wohl  den  dramatur- 
gischen Zweck  gehabt  haben,  die  fünf  Ankömmlinge  nach 
erfolgter  Becrrüßung  durch  den  Chor  mit  guter  Manier  in  ein 
Haus  zu  bringen,  aus  dem  dann  die  einzelnen  Führer  nach- 
einander herauskamen,  um  in  einer  Reihe  episodischer  Szenen 
ihre  erzieherische  Tätigkeit  auf  den  verschiedenen  Gebieten 
des  Staatslebens  auszuüben,  wie  das  besonders  Keil  (a.  a.  0. 
244)  schön  ausgeführt  hat. 

Als  besonders  ärgerlich  wird  es  jeder,  der  sich  mit  den 
Demenblättern  beschäftigt  hat,  empfinden,  daß  die  im  ganzen 
so  wohl  erhaltene,  in  Form  und  Inhalt  so  eigenartige  (s.  Herrn. 
47,  191  2,  293)  Antode  der  Parabase  in  der  Hauptsache  noch 
immer  unverständlich  ist.  Einiges  ist  freilich  auch  hier  ge- 
wonnen: Wüst  hat  (Woch.  f.  klass.  Philol.  1913»  943)  ge- 
zeigt, daß  das  Erhaltene  in  zwei  Strophen  zu  je  20  iam- 
bischen  Metren  (8  -f  6  -|-  6)  zu  gliedern  ist,  Jensen  hat  nach- 
gewiesen (a.  a.  0.  3 34 f.),  daß  die  Antode  vier  solche  Strophen 
umfaßt  hat,  also  von  erstaunlicher  Länge  war^),  auch  der 
Wortlaut  ist  an  mehreren  Stelleu  glücklich  berichtigt  worden. 
Aber  leider  sind  die  Anspielungen  des  Dichters  meist  so 
knapp  und  beziehen  sich  auf  so  unbedeutende  Ereignisse, 
daß  wir  sie  ohne  die  Hilfe  von  Schollen  nicht  verstehen,  vor 
allem  aber  ist  der  Sinn  des  das  ganze  Rügelied  beherrschen- 
den Leitwortes  diaöxQtcpEtv  noch  immer  dunkel;  vermutlich 
würde  uns  die  verlorene  erste  Strophe  das  Verständnis  wesent- 
lich erleichtern. 

Ich  setze  das  Lied  noch  einmal  her,  im  wesentlichen  in 
der  von  Jensen  (a.  a.  0.  ^2^,)  gegebenen  Form,  ohne  die 
Urheber  der  einzelnen  Ergänzungen  und  Änderungen  zu 
wiederholen;  nur  wo  ich  von  Jensen  abweiche,  gebe  ich  die 
Gewährsmänner  an: 


i)  Durch  die  Vierzahl  der  Strophen  wird  diese  Antode  von  den 
Parabasen  des  Aristophanes  noch  schärfer  geschieden  als  ich  a.  a.  0. 
293  ausgeführt  habe. 


24  Alfukd  Körte:  [71,6 

x(d  öl)  dh  //f/'o'« !'(?[() Ol']  dis- 
^  6TQ(((piyca  x^^^'^  ccqkJtioi'tk  (pa6\ 

t7i\tyi  ^tU'ov  riv    oj'T    fV|tft- 
roi'  ovx  ecpaöxa  ifQt'il.'fLV. 
5     Ilavöcoi'  dh  ^()oö<^öyTä^  QsoyBvei 
öeiTtvovvTi  TCQoc;  r))i>  xuqÖCuv 
xCov  bkxäöoiv  XIV    avxov 
xX\eil>ag  a;r«5  dieüTQfcpev' 
X]vxbg  ö'  sxetQ^   6  &6oysvrig 

10         T))]!/  vvx^    ökrjv  nfTCOQÖäg.  

(ßiu}(5xQBq)£iv  ovv  j[QCbxa  fiav 
.  XQi)  KalXCav  xovg  iv  ^axQolv 

xsQoi  yc'cQ  sIgiv  iiaäVy 
(15)    N]Lxi]Qar6v  x    jixo(.Qvia 
IS  XQCoy\uv  didövxa  x^^vLxag 

dv'    i]    XL    ^XSJOV    ixdöTCOLj 

öxav t]''  V-) 

XÜV    XQV^^''^^^    [^^    XaTtCXOLTT 

(20)         ovo'   ay]  XQLXog  TCQiaCiiriv.  - 


In  V.  9  scheint  mir  an  Stelle  des  von  Lefebvre  ein- 
gesetzten, von  Jensen,  und  auch  von  mir  früher,  angenommenen 
avxog  das  von  Maas  (Berl.  Philol.  Woch.  191 2,  862)  als  mög- 
lich erwogene  Ivxog'^)  aus  metrischen  Gründen  geboten. 
Wir  brauchen  nach  ÖLSöTQScpsv  einen  Konsonanten,  da  inner- 
halb der  Periode  syllaba  anceps  unmöglich  ist.    . 

Am  Anfang  von  V.  15  (16)  gibt  Jensen  CI]N  oder  81]  N 
und  davor  eine  Lücke  von  vier  Buchstaben,  das  führt  auf 
einen  Infinitiv,  und  da  (payslv  zu  kurz  ist,  habe  ich  das  in 
der  Komödie  so  beliebte  xQCiysiv  ergänzt. 

Im  folgenden  Vers  ist  meine  Ergänzung  öv  iq  xi  nliov 
für  den  Raum  etwas  kurz,  aber  die  Schrift  ist  in  diesem  Verse 
besonders  breit,   den  7  Buchstaben  von   exäöxcoc   entsprechen 

i)  Maas  denkt"  auch  an  x^roe  oder  nXvtdg,  letzteres  ist  durch  den 
Eaum  ausgeschlossen. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  25 

in  der  darüberstehenden  Zeile  fast  9.  Jensen  (a.  a.  0.  336) 
nimmt  gewiß  mit  Recht  an,  daß  von  Nikeratos  gesagt  war, 
er  verteile  zu  große  Rationen,  nicht,  wie  ich  früher  annahm, 
zu  kleine.  Die  Choinix  =  1,1  1  (s.  Hultsch  R.  E.  III  2356 ff.) 
wird  oft  (Her.  VII  187,  Athen.  III  98 E,  Diog.  Laert.  Yill  18, 
Suid.  u.  Uvd-ayÖQa  tä  öv^ßoka)  als  das  Normalmaß  für  den 
täglichen  Getreidebedarf  eines  erwachsenen  Mannes  bezeichnet: 
die  athenischen  Gefangenen  in  den  sizilischen  Steinbrüchen 
bekamen  täglich  nur  eine  halbe  Choinix  Gerste,  aber  das  gilt 
freilich  für  ganz  unzureichend  (Thuk.  VII  87,  Plut.  Nik.  29).^) 
Zwei  Choinikes  oder  etwas  mehr  sind  also  eine  überi-eich- 
liche  Ration,  was  gerade  jetzt  noch  mehr  einleuchten  wird, 
wenn  ich  das  Hohlmaß  in  Gewicht  umsetze,  das  Durch- 
schnittsgewicht von  zwei  Choinikes  Weizen  beträft  nach 
freundlicher  Mitteilung  meines  Kollegen  Kirchner  etwa  1650 
Gramm  (Gerste  etwa  1540  g).^)  Da  Jensen  am  Schluß  des 
nächsten  Kolon,  das  im  Papyrus  nicht  richtig  abgesetzt  ist, 
T]  I  H  gelesen  hat,  ist  es  wohl  sehr  wahrscheinlich,  daß  in 
einem  Satz  mit  sdv  oder  ötav  die  näheren  Umstände  der 
Getreide  Verteilung  augegeben  werden;  einen  bestimmten  Vor- 
schlag wage  ich  nicht.  Die  für  den  verfügbaren  Raum  aller- 
dings etwas  lange,  aber  doch  wohl  mit  ihm  vereinbare  Er- 
gänzung dh  TUTtLloiTt  verdanke  ich  Immisch ;  den  Sinn  trifft 
sie  gewiß,  was  vom  Vermögen  des  zu  freigebigen  Nikeratos 
noch  übrig  ist,  das  ist  nicht  der  Rede  wert. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  kurz  auf  das  leidige  Wort 
diaöTQ^'cpsLv  eingehen,  obwohl  ich  weder  selbst  eine  einleuch- 
tende Deutung  vorbringen  noch  einen  der  mir  von  be- 
freundeten Kollegen  gemachten  Vorschläge  unbedingt  emp- 
fehlen kann.    Meine  erste  Erklärung  (a.  a.  0,   294)  „prellen" 


i)  In  dem  Waffenstillstandsvorschlag  der  Spartaner  nach  der 
Einschließung  von  Sphakteria  wird  als  Tagesration  für  jeden  Spartiaten 
zwei,  für  jeden  d-sgäncov  eine  Choinix  vorgesehen  (Thuk.  IV  16). 

2)  Unsere  deutschen  Kriegsgefangenen  in  England  erhielten  im 
Winter  1918/9  außer  einer  Pferdefleisch-Kohlrübensuppe  täglich  140  g 
Brot  als  einzige  Nahrung. 


2  6  Alfred  Köktk:  (71,6 

liat  mit  Rerht  wenig  Beifiill  gefuiuleii,  >ibor  auch  der  fast 
gleichzeitig  von  AuGUST  Mayer  (Beil.  IMiilol.  VVoch.  U)i2, 
830)  und  Paul  Maas  (ebenda  862)  gemachte,  von  Jknskn 
(a.  a.  0.  336)  /ögeriid  angenommene  Vorschlag,  öiuaxQtrpuv 
gleich  Tcvyil^fiv  zu  setzen,  tiiilt  schwerlich  das  h'icliiige.  Es 
ist  Maykk  nicht  gelungen,  die  obszöne  Bedeutung  von  öia- 
6TQE(pen>  zu  belegen  mlcr  einwandfrei  herzuleiten,  und  der 
Sinn  ließe  sieh  alleiil'alls  mit  den  beiden  ersten  Beispielen 
vereinigen,  aber  unnu'jglich  mit  dem  dritten  —  wie  soll  p]u- 
polis  eine  paedicatio  der  Tausende  in  den  langen  Mauern  fiir 
notwendig  erklären,  weil  sie  zu  eßlustig  seien?  Auch  für  den 
Handel  des  Pausen  und  Theogenes  (V.  5 — 10)  paßt  die  Be- 
deutung notzüchtigen  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  öXxdg 
für  Eu])olis'  Zuschauer  ohne  weiteres  im  Sinne  von  Dirne 
verständlich  war.  Das  läßt  sich  aber  aus  dem  von  Mayer 
angezogenen  Epigi-amm  des  Hedylos  (Anth.  Pal.  V  160)  ganz 
und  gar  nicht  entnehmen,  denn  hier  werden  die  Beziehungen 
von  Schiffsherren  zu  bestimmten  Dirnen  gründlich  ausgepreßt, 
und  da  heißen  die  drei  Grazien  des  Diomedes  vavxhJQcov 
6kxädsg  sixoöoQOL,  das  Bild  ist  also  deutlich  ausgeführt.  Be- 
denkt man  weiter,  daß  wir  über  Theogenes  schol.  Ar.  Av. 
822  ausdrücklich  hören  XeyerccL  ort  asyaXt^TioQÖg  rtg  ißovXsto 
alvai  nsQalTi]g,  aXat,cov  ■^BvÖonkovrog^  so  scheint  mir  noch 
immer  die  Beziehung  der  hlxdg  auf  eines  der  in  Wahrheit 
gar  nicht  vorhandenen  Frachtschiffe  des  angeblichen  Groß- 
kaufmanns am  nächsten  zu  liegen,  obwohl  ich  die  Anspielung 
nicht  ganz  verstehe. 

Auffallend  ist,  worauf  mich  IjviMisCH  schon  vor  Jahren 
hinwies,  daß  in  allen  Fällen  das  diaörQtfpeiv  oder  ÖLaörfJkcpe- 
6%ai  mit  Essen  in  Verbindung  erscheint,  Peisandros  öü- 
CTQaTtrai  beim  Frühstück,  als  er  einen  hungrigen  Fremdling 
nicht  füttern  wollte,  Pauson  tritt  zu  Theogenes,  als  dieser 
nach  Herzenslust  schmaust,  und  öiaörQscftL  ihn  selbst  (was 
mir  noch  immer  wahrscheinlicher  ist)  oder  ein  Lastschiff, 
Kallias  und  die  Anwohner  der  langen  Mauern  muß  man 
SLcc6rQsq)£LV,  weil  sie  zu  gern  frühstücken,  Nikeratos,  weil  er 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  27 

zu  große  Portionen  austeilt.  Immisch  erinnert  daran,  daß 
6tQ6(}.og  Bauchweh,  6xQo(pov6Q'ai  Bauchweh  haben  bedeutet, 
möchte  diaöTQt'cpsa&ai  von  einem  durch  vieles  Fressen  anf- 
getriebenen  Leib  verstehen,  „dessen  natürliches  Ergebnis  der 
vvxd''  olriv  TCSTtcoQÖas  sein  dürfte"  und  erklärt  das  Aktiv 
als  ,,zu  einem  aufgetriebenem  Leib  verhelfen,  den  Magen  ver- 
derben". Für  die  Beziehung  des  Yerbums  auf  die  Verdauung 
ließe  sich  noch  anführen,  daß  sich  auch  das  Simplex  öxqs- 
(pEiv  in  diesem  Sinne  findet  Ar.  fr.  462  oX^ioi  xdkag,  xC  ^ov 
örgiffEi  rrjv  yaöxsQa;^)  —  aber  es  will  mir  nicht  gelingen, 
die  einzelnen  Szenen  mit  Hilfe  dieser  Interpretation  wirklich 
verständlich  zu  machen. 

H.  ScHOENE  nimmt  das  Wort  allgemeiner  „den  Hals 
umdrehen",  also  umbringen,  und  ich  bekenne,  daß  mich  diese 
Erklärung  noch  am  ehesten  befriedigt.  Zunächst  haben  wir 
ÖLaOTQecpsöd-ai  im  Sinne  von  „sich  den  Hals  abdrehen"  bei 
Aristophanes  Ritt.  175  und  Vög.  177,  dann  steht  es  aber 
auch  überti-agen  im  Sinne  von  „umkommen"  neben  djiod-avslv 
Ach.  15  xTixsg  ö'  ojie&uvov  xal  öia6TQä(priv  Iddiv^  öxs  örj 
7t(XQ8xvil>s  XaiQLs  i%l  xov  OQd'LOv.  Mit  dicscm  burschikosen 
Gebrauch  von  umkommen,  bzw.  umbringen,  kommen  wir  zur 
Not  in  allen  Strophen  des  Rügeliedes  aus.  Peisandros  kommt 
beim  Frühstück  um,  als  ihm  das  Ansinnen  gestellt  wird, 
einen  hungrigen  Fremden  mit  zu  füttern.  Pauson^)  bringt 
den  schmausenden  Theogenes  um,  dadurch  daß  er  ihm  eines 


i)  Vgl.  auch  Ar.  Plut.   1131,  Antiph.  fr.   177,  4. 

2)  Herr  Professor  E.  Kind  weist  mich  darauf  hin,  daß  Pauson  der 
bekannte  Maler  ist  (s.  Brunn,  Gesch.  der  griech.  Künstler  II  49 ff.),  und 
versucht,  eine  mehrfach  von  diesem  erzählte  Anekdote  zur  Erklärung 
des  Liedes  zu  benutzen:  Plut.  de  Pyth.  orac.  5,  396  berichtet  iy.lcipmv 
yccQ,  töff  ioiKSv,  iTTTtov  Ö:XlvSovii£vov  yQccipai,  TQS^ovru  '^ygaipsv.  ccyavcc- 
KTOvvtoe  äh  rov  ccv&Qmitov  ysXäGug  6  IIccvGcov  xaT^ffrpsif £  tbv  Ttivav.cc' 
■Kui  ysvoiiivoav  avoa  x&v  Kdra,  näXiv  6  imiog  ov  TgSj^Mv  aXX'  ccXivdov- 
fisvog  icpaivtro  (ähnlich  Ael.  var.  bist.  XIV  15  und  Luc.  enc.  Demosth. 
24).  Leider  handelt  es  sich  hier  aber  nicht  um  ein  öiaargecpiiv.,  sondern 
um  ein  KaraatgscpEiv  oder  äva6tQt(p£i.v ,  und  zu  den  übrigen  Personen 
ist  gar  keine  Beziehung  vorhanden. 


28  Alfred  Körtk:  [71,6 

seiner  lefjfiMuliirou  Fnichtsc-liilfe  stiehlt;  erschöpft  durch  den 
Schreck  liegt  Theogenes  die  ganze  Nacht  und  forzt.  Kallias 
und  die  Anwohner  der  langen  Mauern  muß  man  umbrimren. 
weil  sie  zu  sehr  aufs  Essen  erpicht  sind,  Nikeratos,  weil  er 
zu  große  Kornratiouen  ausgibt.  Das  alles  ist  nicht  übermäßig 
witzig,  aber  doch  erträglich. 

2.  Mailänders  Misumeuos. 

Unter  neuen  Dichtorfragmenten  aus  der  Papyrussamm- 
luug  des  Berliner  Museums  veröffentlicht  v.  Wilamowitz 
als  Nr.  6  (Sitz.-Ber.  der  Berl.  Akad.  1918,  747  ff.)  den  unteren 
Teil  einer  Seite  aus  einem  Papyrusbuch  des  3.  Jahrh.  n.  Chr. 
mit  im  ganzen  i^  Versen  eines  Dichters  der  neuen  Komödie. 
Der  Herausgeber  ist  schon  wegen  der  Zeit  des  Papyrus  ge- 
neigt, sie  Menander  zuzuweisen,  und  ich  glaube,  daß  sich 
diese  Zuteilung  wesentlich  bestimmter  geben  läßt,  wenn  man 
einige  Einzelheiten  etwas  anders  auslegt,  als  V.  Wilamowitz 
es  getan  hat.  Ich  konnte  für  das  Studium  des  interessanten 
Blattes  gute  Photographien  benutzen,  für  deren  Vermittlung 
ich  Herrn  Professor  Schubart  zu  Dank  verpflichtet  bin. 

Ich  beginne  mit  der  besser  erhaltenen  und  inhaltlich 
entscheidenden  Rückseite.  Die  schönen  Ergänzungen  v.  Wila- 
mowitz' und  ScHUBARTs  habe  ich  sämtlich  beibehalten,  aber 
durch  Hinzufügung  der  Personalnoten  und  einer  Bühnen- 
weisung meine  Auffassung  gleich  angedeutet: 

(Tipoqpdg.)     «[()'  o\v  XIV    01p lv  ovde  7CQo6d[oxc)^Evrjv 

o[q]ü;   [KgateLCi.)  xl  ßovlai  xr]d-La,  xl  ju-ot  kaXsig\ 
%axriQ  s^bg  tcov-^  [^rjiisag.)  naiöCov  KQccteia,   [nal 
15     Jca/lft  ^s.  {Kq.)  Ttdnna  xaiQs  noXlä  (piXxax[s. 
{'^Tj.)      e%Gi  0£  XExvov.  (Kq.)  g)  no^ov^svos  q)Kv[sCg^ 
6qS>  (?'   bv  ovx  äv  aiö^rjv  löatv  sxi. 
{&QaGcovCdii]g  y.al  Fhag  a^sqiovxai^ 
(Tq.)       ih,fjXd^£v  eh,(o.  {&Q.)  Ttal  xi  rcöO-';  avxyi  xCg  [ff; 
ccv&QC37C£,  Xi  Ttostg  ovxog]  ovx  iyco  'Xslyov, 
20     STC    avxocpäQCii  x6\y\Ö£  xov  t,'rixovii£[yov 


I 


71,  6]  Zu   NEUEREN   KomÖDIENFUNDEN.  29 

EX(o'  ysQCOv  ovrog  ys  jtoXtbg  (paCve\xaL 
iräv  Ttg  i^'yjxovra'  oucog  ds  TcXaylöetai. 
xiva  TisQißdkXsLv  xul  (piXslv  ovrog  [doxelg] 
Vor  V.  12  las  Schubart  „mit  starkem  Zweifel"  die  Personen- 
bezeichnung    TS,   für   die   auf   der   Photographie  kein   Platz 
ist;  der  Papyrus  scheint  seit  der  ersten  Lesung  etwas  gelitten 
zu  haben,  auch  an  Stelle  des  ersten  6  in  V.  i6,  das  v.Wila- 
MOWITZ  ohne  Punkt  gibt,   zeigt  die   Photographie  ein  Loch. 
Ich    glaube,    in    V.   1 2    an    erster    Stelle    ein    A,    dann    den 
unteren  Ansatz   eines  Buchstabens,   der  mit  P  vereinbar   ist, 
zu  erkennen. 

Zwischen  V.  13  und   14  sehe  ich  eine  von   den  Heraus- 
gebern nicht  mitgeteilte  Paragraphos. 

V.  15  Ttaxa  steht  im  Pap. 

Vor  V.  1 8  gibt  v.  Wilamowitz  die  Personenbezeichnung 

re,  ich  lese  auf  der  Photographie  [^  ,  also  FGT,  der 
oberste  Strich  des  T  steht  zu  weit  links,  um  als  Paragra- 
phos gedeutet  werden  zu  können.  Die  Notiz  ist  blasser  als 
die  übrige  Schrift,  auch  von  abweichender  Form,  also  wohl 
spätere  Zutat. 

Y.  2S  TteQißdXsLv  Pap. 

Wir  haben  eine  Erkennungsszene  zwischen  Vater  und 
Tochter,  die  schon  als  solche  wertvoll  ist.  Der  Anagnoris- 
mos  vollzieht  sich  hier  viel  schneller  und  einfacher  als  in 
dem  einzigen  bisher  im  Original  bekannten  Beispiel,  dem 
Leipziger  Blatt  aus  der  Perikeiromene  (V.  33^^-  meiner 
Menandrea).  Interessant  ist,  daß  auch  hier  durch  das  Fehlen 
aller  Auflösungen  in  den  Versen  der  eigentlichen  Erkennung 
und  durch  die  Längung  von  rtxvov  in  V.  16  eine  tragische 
Stilisierimg  erzielt  wird,  wie  in  dem  Anagnorismos  der  Peri- 
keiromene (s.  Ber.  der  Sachs.  Ges.  der  Wiss.  LX  1908,  169  f.). 
Die  Erkennung  wird  vorbereitet  durch  eine  als  TjjO-ta  an- 
geredete Alte,  welche  die  Tochter  Krateia  auf  die  Bühne 
führt.  V.  Wilamowitz  hat  bereits  für  das  bisher  unbelegte 
Wort  trj&La  auf  die  Notiz  des  Aristophanes  von  Byzanz  hin- 


v) 


o  Alfkkd  Köutk:  [7', 6 


gewiesen  (S.  140  Nauok)  //«m  x<xl  1)  anXög  TCQeößi'Tf'go:  yx<i'}j 
fAf'p'fTo,  1)  d'  ccvTi)  xcc]  T};i>i;  xat  tj/O-/'«.')  Dio  Toehtor  sioht 
deu  Vater  /.uuüohst  nicht  und  scheint  /weiiel  o-oinißcrt  7a\ 
hnben.  die  der  alten  Wärterin  Anlaß  zu  der  halb  vorwurfs- 
vollen Bemerkung  geben:  „sehe  ich  nicht  einen  Anblick,  auf 
den  mau  gar  nicht  gefaßt  sein  kann?"  Dann  erfolgt  die 
kurze,  aber  warme  Begrüßung  von  Vater  und  TtH'hter.  die 
erweist,  daß  beide  einander  nicht  frtMud  sind.  Krateia  ist 
wohl  längere  Zeit  vom  Vater  getrennt  gewesen,  aber  nicht 
wie  Glykera  in  der  l'erikeiromcue  als  Neugeborene  ausgesetzt 
worden.  Die  Freude  der  beiden  wird  unterbrochen  durch  das 
Heraustreten  eines  Mannes  aus  dem  Haus,  das,  otfenbar  von 
der  Alten,  durch  die  Wendung  ^'.  18  f^>;A9-fj'  et.co  angekündigt 
wird.  Hinter  tiw  steht  mir  ein  Punkt,  aber  der  Pcrsoueu- 
wechsel  ist,  wie  v.  Wii.amovvi  rz  mit  Uecht  bemerkt,  unver- 
meidbar. Natürlich  ist  es  das  Nächstliegende,  die  Tcrsonen- 
bezeichnuug  am  Bande  Fer.  (^oder  I>.^  auf  die  Alte  zu  be- 
ziehen, wie  es  V.  \\n.\Mowirz  tut;  gleichwohl  glaube  ich, 
sie  anders  auffassen  zu  müssen.^) 

Wer  ist  nun  aber  der  erregt  Herauskommende,  der  weder 
die  Amme  noch  deu  Vater  kennt  und  letzteren  sofort  heftiff  be- 
droht?  Nach  \ .  Wii,  vMtnvrrz  ist  es  ein  alter  Herr,  der  Krateia 
wie  seine  Tochter  hält,  von  Annäherungsversuchen  des  wirk- 
lichen Vaters  schon  etwas  gemerkt  hat  und  deshalb  mißtrauisch 
ist.  Aber  weder  die  Altersabschätzung  des  vermeintlichen  Bau- 
bers  V.  20a'.  noch  die  Androhung  körperlicher  Mißhaiuiluug 
(V.  22),  noch  der  ganze  hitzige  Ton  passen  in  deu  Mund  eines 
alten  Pflegevaters,  so  kann  nur  ein  junger,  lebhafter  Maiui.  ein 
Verliebter,  der  in  dem  umarmenden  Vater  einen  Nebenbulüer 
sieht,  reden,  v.  Wii.amowitz  ist  wohl  dadurch  zu  seiner  Auf- 
fassung gekommen,  daß  er  die  Worte  V.  18  jtcd  ri   ror^';  an 


1)  Ich  sehe  keinen  Grund,  mit  v.  Wilamowitz  das  überlieferte 
TTjd'i]  durch  rT]&ig  /.u  ersetzen;  Nauck  wollte  für  rrjO'i«  vielmehr  t7;9'/>- 
schreiben. 

2)  Auch  v.  WiLAMowiiz  hebt  hervor,  diiß  ihm  kein  mit  Fi-  be- 
ginnender Frauenname  bekannt  sei;  er  denkt  lUi  Fiiii. 


71,6]  Zu  NEUEREN   KOMÖDIENTCXDEK.  31 

Krateia  gerichtet  glaubte.  Aber  mit  xC  rovro  nul]  fMen.  .Sam. 
145,  Perik.  126,  fr.  113  K.j  oder  xC  ob  uol  xovxo  Ttc/Ä:  TSam. 
147)  werden  bei  Menander  nur  Sklaven  angeredet,  die  ein- 
fache Anrede  neu  ohne  den  Namen  —  wie  oben  TtuiÖLOv 
KoäxtLu,  71UL  —  oder  mindestens  w  vor  nul  finde  ich  Kindern 
ffeo-enüber  bei  Menander  überhaupt  nicht.  Die  Worte  n:ar  xC 
Toü-d-';  sind  also  an  einen  mit  ihm  heraustretenden  Sklaven 
gerichtet,  erst  mit  aurrj  xCg  al:  wendet  sich  der  Zornige  an 
die  Alte,  mit  uvi^oojxe  xC  Tcoeig  oütoj;  an  den  Vater,  die  ihm 
beide  fremd  sind.  Auf  den  Sklaven  geht  meines  Erachtens 
die  Personenbezeichnung  Fct  =  Fhas  am  Rande:  gerade  weil 
es  nicht  selbstverständlich  ist,  daß  Getas  mit  herauskommt, 
hat  wohl  ein  Leser  seinen  Namen  am  Rand  vermerkt. 

Meine  Auffassung,  daß  der  Störer  der  Erkennungsszene 
ein  Liebhaber  der  Krateia  ist,  der  sich  durch  den  Vater  in 
seinen  Rechten  gekränkt  glaubt,  wird  nun  voll  bestätigt 
durch  eine  überraschend  ähnliche  Szene  in  Plautus'  Poenulas. 
Hier  wird  die  Erkennungsszene  des  Hanno  und  seiner  Töchter 
durch  den  Soldaten  Antamoenides,  den  Liebhaber  der  Ante- 
rastylis  gestört   1294 ff. 

(Ante.)  Ut  nequeo  te  sätis  conplecti,    mi  pater,   (Anta.)  Ego 

me  moror. 
Propemodum  hoc  öpsonare  prändium   poterö  mihi. 
Sed  quid  hoc  est?  quid  est?  quid  hoc  est?    quid  ego  video? 

quömodo? 
Quid  hoc  est  condaplicätionis?    quae  haec  est  congeminätio ? 
Qais  hie  homost   cum  tünicis  longis    quasi  puer  caupönius? 
Satin  ego  oculis  cemo?   estne  illaec  mea  amica  AnterästylLs? 
Et  east  certo.  iäm  pridem  ego  me  sensi  nili  pendier. 
Nön  pudet  puellam  ämplexarei  bäiolum  in  media  via? 
lam  hercle  ego  illunc  excruciandum  totum  carnufici  dabo. 
Säne  genus  hoc  mülierosumst  tiinicis  demissiciis. 

Sed  adire  certumst  hänc  amatricem  Africam. 

Heus  tu,  tibi  dico,  mulier,  ecquid  te  pudet? 

Quid  tibi  negotist  aütem  cum  istac?  die  mihi; 


32  Alfued  Körte:  f7i.6 

(Ha.)  Adulescens,  salve.  (Anta.)  Nolo:  nil  ad  te  jittinet. 
Quid  tibi  hanc  digito  tactiost'?  (Ha.)  Quia  mihi  lubet. 
(Auta.)  LubetV  (Ha.)  Ita  dico.   (Auta.)  Ligula  in  nialani 

cruceni V 
Tune  hi'c  amator  aiidcs  esse,  hallox  viri, 
Aut  contraetare  qiukl  mares  homines  amaut?  usw. 

Die  Breite  der  Ausführung  namentlich  in  den  Scherzen  über 
Hannos  weibische  Tracht,  die  den  Anschein  des  Eunuchen 
erweckt,  wird  hier  auf  Rechnung  des  römischen  Bearbeiters 
zu  setzen  sein,  aber  der  Kern  der  Szene  ist  genau  der  gleiche 
wie  auf  dem  Papyrus:  Ein  hitziger  Liebhaber  hält  den  seine 
wiedergefundene  Tochter  umarmenden  Vater  für  einen  be- 
sünsticften  Nebenbuhler  und  geht  ihm  mit  Scheltreden  und 
Drohungen  zu  Leibe.  Daß  der  Polterer  ein  Soldat  ist,  kann 
nicht  als  Zufall  gelten,  denn  unüberlegte  Heftigkeit  gehört 
zum  Typus  des  komischen  Soldaten.  Wir  werden  auch  in 
dem  ungestümen  Bedroher  des  Papyrus  einen  Soldaten  zu  er- 
kennen haben,  und  dazu  paßt  vortrefflich,  daß  in  V.  9  der 
Vorderseite  von  einem  eoßuQ^bg  ^tvog  die  Rede   ist. 

Damit  ist  aber  das  Stück  unmittelbar  gegeben,  es  ist 
der  Misumenos  Menanders,  für  den  der  seltene  Mädchenname 
Krateia  bisher  allein  bezeugt  ist.  Einen  zweiten  Namen  aus 
dem  Misumenos  liefert  die  Personenbezeichnung  zu  V.  18 
rstag,  falls  ich  sie  richtig  gedeutet  habe.  Aus  den  früher 
bekannten  Fragmenten  und  dem  Ox.  Pap.  VU  10 13  wissen 
wir  über  das  Stück  etwa  folgendes  (s.  Menandrea^  praef.  LI  f. 
und  S.  127 ff.):  Der  Soldat  Thrasonides  hat  ein  Mädchen  Krateia 
erbeutet  und  liebt  sie  glühend,  während  sie  ihn  verschmäht 
(fr.  I,  2).  Obwohl  sie  in  seiner  Macht  ist,  berührt  er  sie 
nicht  (fr.  4)  und  bemüht  sich,  eine  ihr  zugefügte  Kränkung 
durch  Bitten  und  Geschenke  wieder  gutzumachen  (fr.  2). 
Seine  Leidenschaft  treibt  ihn  bis  zu  Selbstmordgedanken, 
deren  Ausführung  sein  treuer  Bursche  Getas  verhindert  (fr.  2). 
Dann,  laugt  Krateias  Vater  Demeas  (fr.  13)  an,  um  die  Tochter 
loszukaufen,  Thrasonides   kann   oder   will    sich   dem  Loskauf 


i 


71,6]  Zu   NEUEREN  KoMÖDIENFUNDEN.  33 

nicht  widersetzen  und  erhofft  nun  sein  Glück  einzig  von  einer 
Sinnesänderung  der  Geliebten  und  der  Zustimmung  des  Vaters 
zu  einer  legitimen  Ehe  (Ox.  Pap.  39 ff^,  wie  er  seinem 
eio-enen  Vater  in  lebhafter  Bewegung  bekennt.  Der  Schluß 
ist  nicht  erhalten,  aber  zweifellos  wurde  das  Herz  Krateias 
durch  den  Edelmut  des  ungestümen  aber  ehrlichen  Soldaten 
besiegt,  und  sie  gab  ihm  den  Vorzug  vor  einem  andern 
Freier  Kleinias  (Ox.  Pap.  12 ff.),  der  etwa  die  Rolle  des 
Moschion  in  der  Perikeiromene  gespielt  haben  wird.  Das 
Stück  ist  in  den  Grundmotiven  und  Charakteren  der  Perikei- 
romene sehr  ähnlich:  in  beiden  stößt  die  unbesonnene  Heftig- 
keit eines  stürmischen  Soldaten  ein  Mädchen  zunächst  ab, 
dann  legt  aber  der  hitzige  Krieger  so  viel  Zartheit  und  echtes 
Gefühl  an  den  Tag,  daß  er  über  die  flache  Genußsucht  eines 
jungen  Lebemanns  triumphiert  und  die  Braut  heimführt.  Im 
Misumenos,  der  das  spätere  Stück  sein  wird,  ist  das  Motiv 
dadurch  sesteigert,  daß  Thrasonides  rechtlich  unbeschränkte 
Gewalt  über  die  Geliebte  besitzt,  aber  von  seinem  Herren- 
rechte noch  keinen  GeTjrauch  gemacht  hat,  während  Glykera 
bereits  vor  Beginn  des  Stücks  in  einer  Art  Gewissensehe 
mit  Polemon  lebt  (s.  V.  236 ff),  aber  frei  ist  und  das  un- 
bezweifelte  Recht  hat,  ihn  zu  verlassen. 

In  das,  was  wir  von  der  Handlung  des  Misumenos  wissen, 
fügt  sich  nun  die  Berliner  Erkennungsszene ,  ganz  vortreff- 
lich ein;  ein  solches  Wiedersehen  von  Vater  und  Tochter  war 
unbedingt  vorauszusetzen  und  die  Heftigkeit,  mit  der  Thra- 
sonides die  Situation  verkennt  und  stört,  entspricht  ganz  dem 
Bilde,  das  wir  von  ihm  besonders  aus  fr.  i  und  2  gewinnen. 
Den  Umschwung  seiner  Stimmung  nach  dem  Anagnorismos, 
der  wieder  dem  des  Polemon  in  der  Perikeiromene  entspricht 
(398 ff.),  zeigt  dann  Ox.  Pap.  1013. 

Weniger  durchsichtig  ist  die  durch  etwa  20  verlorene 
Verse  von  der  Rückseite  getrennte  Szene  der  Vorderseite. 
Die  Sprecher  scheinen  mir  freilich  auch  hier  kenntlich  zu 
sein,  es  sind  erst  Getas  und  dann,  nach  dessen  Abgang  ins 
Haus,    die  Amme,    die  mit  einem  Monolog   die  Erkennungs- 

PhU.-hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  6.  3 


34  Ai.v'RKi)  Körtk:  [7'.^ 

Bzeno  vorbereitet.  Leider  fehleu  (lurchgiin;i;ig  die  Versanfänge, 
und  es  zeigt  sich  wieder,  d;iß  bei  Meuiiiider  VersautTnige 
schwerer  7-u  ergänzen  sind  als  Versschi üsse.  Die  Ergänzimgon 
rühren,  wo  nichts  anderes  bemerkt  ist,  von  Wilamowitz 
her,  V.  4  ist  von  Sciiuuakt  hergestellt. 

{Fe.)     (>  •  C^f*    ijxsis  JtQog  riaag.  aXku  xC 

^u&ojv  dvii\iii<}inTEL<^  xal  Tcdkcv  OxikkEL  diöovg 
xal  imöT\i)k(xg]  £1   jtttj  TL  xaxbv  ij^äg  noelg^ 
rC  7iccQEX£\kevöco  xovtö  ,a    tTil  dtt-rcvov  nüktv 
5     TOI'  de6:x\orr^v  xakeöuvxa-^  (pavfQOg  iöxi  yaQ 
äÖixCoV  ßlaötovu    siöco  de  xal  :jtsiQd6ofiui 
XQVTi:rc3]y  eiiccvxbv  ETttd'scoQyjöai  xi  rüv 
noioviiB\vcov  Evdov  kakox'jxevav  O-'   afia. 

(Tq.)    6oßaQcö\xEQOif  xovxov  iia  reo  itfo?  ^tvov 
lo     ovnä7io]x    Eidov  cd  xdkag'  xC  ßovkExai 

s%ELv  na\Q    olxa  xdg  öTcdd-ag  xäv  yEixövav] 

I.  Der  erste  deutliche  Buchstabe  M'  steht  über  TTT  von 
dva\xd^jtxEig,  davor  sind  zwei  kleine  Buchstabenreste  sichtbar, 
die  sich  wohl  mit  A,  vielleicht  auch  mit  H,  YC,  IC,  aber 
schwerlich  mit  O  vereinigen  lassen.  Zwei  Stellen  davor,  über 
dem  K  von  dvaxdiijtxEig,  sehe  ich  auf  der  Photographie  noch 
das  Ende  einer  längeren  senkrechten  Hasta,  wohl  von  P  oder 
Ö^,  möglich  wäre  ein  auf  -QLa[ia  ausgehendes  Schimpfwort. 

3.  V.  Wilamowitz  ergänzt  xdg  ßvfißokdg  und  denkt  eher 
an  geschäftliche  Beziehungen,  die  der  Fremde  angeknüpft 
habe,  als  an  den  Beitrag  zu  einem  Öeitcvov  djtb  övußokäv. 
Beides  scheint  mir  zur  Rückseite  nicht  zu  passen,  denn  offen- 
bar hat  der  Störer  der  Erkennungsszene  Krateias  Vater  weder 
gesehen,  noch  weiß  er  über  den  Fremden  etwas  Genaueres, 
nur  daß  sich  jemand  bei  seinem  Haus  zu  schaffen  gemacht 
hat,  ist  ihm  bekannt.  Nicht  ohne  Bedenken  habe  ich  xal  etcl- 
öxokdg,  was  den  Raum  genau  füllt  und  natürlich  mit  Krasis 
zu  lesen  wäre,  eingesetzt,  vor  -okag  glaube  ich  auf  der  Photo- 
graphie die  Ansatzspur  einer  Queidiasta  zu  erkennen,  die  für 
T  passen  würde,  aber  das  Bild  mag  täuschen.    Wäre  ivxokdg 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  35 

8i86va,L  eine  mögliche  Verbindung,  so  würde  ich  öi8ov£  tLvas 
ivroXag  vermuten. 

4.  ScHUBAETs  Ergänzung  tl  TtaQSxsXevöoj  (das  6  ist  über 
der  Zeile  nachgetragen)  ist  kaum  zu  bezweifeln,  der  Sinn  aber 
bei  der  Kürze  des  Ausdrucks  dunkel.  Wilamowitz  will 
merwürdigerweise  aus  V.  4f.  herauslesen,  der  Fremde  sei  von 
dem  Herrn  des  Sprechers  schon  zum  zweiten  Male  zu  Tisch 
geladen,  aber  das  widerspricht  dessen  Benehmen  in  der  folgen- 
den Szene  durchaus  und  läßt  sich  auch  mit  dem  Wortlaut 
unmöglich  vereinigen.  Die  Worte  rC  TiaQSXsXavGco  rovto  [i' 
STtl  delTtvov  TcäXtv  xov  ösöTCÖrrjv  xakeöavra;  weiß  ich  nicht 
anders  zu  übersetzen  als:  „Was  fordertest  du  mich  dazu  auf, 
als  ich  den  Herrn  noch  einmal  zum  Mahl  gerufen  hatte?" 
Vielleicht  läßt  sich  die  Situation  so  erklären:  Getas  ist  aus 
dem  Haus  gekommen,  um  seinen  Herrn,  der  Essen  und  Trin- 
ken vergißt,  zur  Mahlzeit  zu  rufen,  und  ist  dann  einen  Augen- 
blick allein  auf  der  Bühne  geblieben,  um  seinem  Ärger  über 
die  Gemütsverfassung  seines  Herrn  Luft  zu  machen.  Da  ist 
Demeas  mit  irgendwelchen  Aufforderungen  an  ihn  herange- 
treten, und  diese  erwägt  nun  der  Sklave  in  dem  vorliegenden 
Monolog.  Da  wir  nur  den  Schluß  seiner  Betrachtungen  haben, 
läßt  sieh  nicht  sagen,  welcher  Art  Demeas'  Anliegen  gewesen 
ist;  nur  so  viel  ist  klar,  daß  Getas  dem  Fremden  und  auch 
wohl  der  Krateia  mißtraut,  cpavsQÖs  £<5Tt  yäg  aÖLxäv  ist  das 
Ergebnis  seiner  Überlegungen.  Nach  beliebter  Sklavenart  geht 
er  ins  Haus,  um  etwas  zu  spionieren. 

An  seiner  Stelle  tritt  (V.  9)  die  Alte  auf,  deren  Ge- 
schlecht durch  den  Schwur  ^ä  tw  d'eco  gesichert  ist.  Ihr 
erstes  Wort  ergänzt  v.  Wilamowitz  ^avixäxBQov,  ich  ziehe 
öoßaQatSQov  vor,  weil  dies  Beiwort  auch  auf  Polemon  an- 
gewendet wird  (Perik.  52). 

1 1 .  Die  Ergänzung  ex^i'V  naJQ'  oUa  wird  sich  kaum  um- 
gehen lassen,  obwohl  v.  Wilamowitz  mit  Recht  betont,  daß 
oixog  im  Attischen  nicht  das  Haus,  sondern  entweder  den 
Hausstand  oder  das  einzelne  Zimmer  bedeutet.  Menander  sagt 
einmal    fr.  610    vvv   d'   sqii    ait    oL'xcov  x&vds,    aber   das   ist 

3* 


36  Alfred  Kokte:  [7', 6 

Piiratnigodie  nach  Eur.  llcl.  477  aXl"  cqjc'  ccti'  oI'xcüv.  Offen- 
bar fürchtet  Tlirasouicles  in  seiner  Aufre^un«^  eine  gewaltsame 
Entführung  der  Kratcia  und  hat  di'shall)  bewaffnete  Nachbarn 
aufgeboten.  Im  Zusammenhang  damit  kann  IV.  11  (meiner  Aus- 
gabe) des  Misumenos  stehen  aq)uvEtg  ysyövaöLv  al  anocd-ai,. 

Unleugbar  enthält  die  \'orderseito  nichfs,  was  die  aus 
der  Hiickseite  erschh)ssene  Zuteilung  des  Blattes  an  den 
Misumenos  bestätigt,  aber  aueh  nichts,  was   ihr   widerspricht. 

|Nach  Abschluli  der  Arbeit  bekomme  ich  den  13.  liand 
der  Oxv-rhyuchos-Papyri  zu  Gesicht  und  finde,  daß  Guknfell 
und  Hunt  S.  46  das  Berliner  Blatt  ebenfalls  mit  kurzer  Be- 
gründung dem  Misumenos  zuteilen.  Das  von  ihnen  als  Nr.  1605 
veröffentlichte  Papyrusfragment  aus  dem  3.  Jahrh.  n.  Chr. 
enthält  leider  nur  27  Versaufänge  und  vereinzelte  Versschlüsse 
einer  vorangehenden  Kolumne.  Das  Vorkommen  der  Namen 
Thrasonides  (V.  25)  und  Getas  (Personaluote  zu  V.  34  oder 
35)  sowie  das  Wort  ^r]Xotvn[og  (V.  2g)  weisen  mit  Bestimmt- 
heit auf  den  Misumenos,  aber  da  von  den  einzelnen  Versen 
immer  nur  5 — 7  Buchstaben  erhalten  sind,  läßt  sich  nichts 
ergänzen  und  ist  der  Papyrus  für  die  Kenntnis  des  Stückes 
vorläufig  wertlos.] 

3.  Alexis. 

In  derselben  Abhandlung  veröffentlicht  v.  Wilamowitz 
unter  Nr.  5  (S.  743  ff.)  interessante  Reste  von  Mumienkar- 
tonnage  des  3.  Jahrh.  v.  Chr.,  welche  Verse  der  mittleren 
Komödie,  aller  Wahrscheinlichkeit  von  Alexis,  enthalten.^) 
Der  Chor  beteiligt  sich  V.  24 ff.  in  einer  Weise  an  der  Hand-^ 
Ixms,  die  in  der  neuen  Komödie  nicht  nachweisbar  ist,  ander- 
seits    enthält    das   kleine    Fragment  2    die    Notiz  ;|jo]()ot),  die 

i)  Die  Zuteilung  an  Alexis  beruht  einmal  auf  der  Form  7taX]cct- 
ctQixäg  in  V.  23 ,  die  von  Phrynichos  (242  Lobeck)  speziell  Alexis  zu- 
geschrieben wird  (fr.  325  Kock),  während  die  älteren  Attiker  naXaiart- 
xog  sagen.  Daneben  auf  der  seltenen  Schwurformel  V.  21  f.  vi]  rov  JLa 
Tov  'Olviiniov  -/.al  zrjv  'A9T]väv,  die  sich  bei  Alexis  im  ToKiGzrig  fr.  231, 
außerdem  freilich  auch  zweimal  bei  Menander  (fr.  402  und  569)  findet. 


71,6]  Zu  NEUEREN  Komödienfunden.  37 

Benutzung  des  Chors  liegt  also  auf  der  Linie,  die  von  Aristo- 
phanes'  Plutos  zu  Menander  führt,  uud  damit  ist  die  Zu- 
weisung an  die  mittlere  Komödie  gegeben. 

V.  WiLAMOWiTz'  Auffassung  des  Blattes  ist  im  ganzen 
gewiß  zutreffend,  aber  in  Einzelheiten  glaube  ich  von  ihm 
abweichen  zu  müssen.    Die  ersten  Verse  lauten  bei  ihm: 

(Ä.)     rb  d]aiii6vLov  xa  rotavra  Tol[g  Ttsjtov&ööLV 
TCSQi  TCQccy^fiattt  ixrCd-rjöiy,  äkkoxQiav  ort 
t,cirf[v  Eio^isv  äjtavtsg,  rjv,  öxrcci'  doKfji^ 
7tdXi]v  TiaQ'   ixdörov  QUiöCcog  acpellsto. 
5     aAA']  slöicav  ^stä  trjg  isgecag  ßovXo^ui 
Ti^v]  hm^BkEiav  xS)^  TCQoörjxovzav  kccßstv. 

Da  scheint  mir  die  Wortstellung  und  Konstruktion  im 
ersten   Satz   unerträglich   hart,   ich  schlage   statt  dessen  vor: 

TÖ  d^aiiiövLOv  xa  xoiavxa  xol\g  ^vr^xotg  öacpri 
7taQaöeC'y]uaxa  sxxL&rjGiv  %xs. 

Das  Verbum  sKxi&ivai  paßt  für  TtaQccösCy^axa  besonders  gut. 

In  dem  auf  die  Sentenz  folgenden  Satz,  mit  dem  der 
Sprecher  (A.)  sein  Abtreten  von  der  Bühne  ankündigt,  nimmt 
V.  WiLAMOWiTZ  xav  TtQoörjKÖvxcov  persönlich  und  bemerkt 
dazu:  „TtQoörjxovxsg  werden  keine  nahen  Verwandten  sein", 
ich  halte  es  für  besser,  das  Wort  neutral  zu  nehmen.^)  Der 
Sprecher,  der  den  schützenden  Tempel  der  Demeter  (V.  12) 
glücklich  erreicht  hat,  will  mit  der  Priesterin  Sorge  tragen 
für  das,  was  sich  gehört. 

Der  erste  Sprecher  ist  damit  verschwunden,  und  zu 
einem  neuen  Ankömmlinof  sagt  der  Chorführer,  dem  v.  Wila- 
MOWITZ  die  Worte  gewiß  mit  Recht  gibt,  wohl  eher: 

TL  Jio]x    svkaßsl  ßiXxiGxs'^    als  xC  b\x    svXaßsT 

(v.  WiLAMOWiTz),  der  obere  Querstrich  des  T  steht  unter 
der  ersten  Hasta  des  IT  von  i^i^eXsLav^  für  vier  Buchstaben 
ist  also  vor  T  durchaus  Platz. 


1)  So  auch  Fränkel,  Sokrates  VI  366. 


,g  Alfukp  Körtk:  f7^<> 

l.-h  t^'obe  die  folgemle  lebhiifto  Szoue  im  ZusaniinonlmiiR, 
obwohl  U-h  nur  für  zwei  SteUen  Änderungsvorscbliigo  zu 
ruacbeu  habe. 

(Xo.)    TL  rrolr    EvXaßei  ßaTtare;  {B)  nQb^  &£äv  naQsg- 
duö]xo^iui  yc(Q,  xurä  xQdrog  diwxo^ufa 
r..TÖ|  ToO  xaraQKTOv  xhiQovo^ov,  Xij(piyüöo^ai. 
lo  (KX.)  iov].  öi'axs  l^GJöia,  övv(iQ:tu6ov 

TÖi/j  avdQaTTodiOrriv,  Xaße  Xäß   avrov.  ov  nsveig; 
(B.)     03  (p]iXrdTij  Jiuiy]r£Q,  dvaTi»y]t^C  6oi 

succvTOv  a^iö  TS  <3(Oit,eLV.  {KX.)  nol  öv,  Jtol:, 
(5.)     iJQOv  iuf,  TiQog  T>)r  döcpdXsiav  h^adl 
15  £[öa]x    inavTov  dvTetaid^i]v  xi  601. 

(KX.)    ovx  £6ri]v  dötfdXsLa  tm  7t£7Con]x6tt 

TotaiiT  •]  dxoXio]v^ei  ^ärrov.   {B.)  a,  a,  fiaQtvQOiiai, 
^aQ\ryQOii    v^äg  ((vÖQsg.  av  rijv  %£lQd  ^ol 
lK£]ty]QLia\i  xig  nQ06(pBQi]t,  nsnX-i%£tai 
20  7ra](»ax9»>«  ^'  *^^^^  rdnCxeiQCC  Xiji'sraL. 

{KX.)    xt]  (pr]Lg;  vnb  öov  ^aöxiyta;  {B.)  vrj  tbv  Aia 
xbv\  'OXv^TiLOV  xal  xr]v  'A&rjv&v,  sv  ys  aal 
^aX]aL6xQixüg,  ntiQav  ö'    tdv  ßovXvjL  Xaßi. 
{Xo)    bQ(b\vxEg  i)^ilg  y    oi  Ttagövxsg  sv&dÖE 
25  Ed6]o^tv  öE  Ttagavo^iEiv  Big  ttjv  ^eov; 

{B.)     p)  xovx]ö  y    avÖQEg-  ev  y£  TCQOöTCaC^ELV  doxEt. 

Der  neue  vom  Chorführer  begi-üßte  Flüchtling  {B.)  ist 
Sklave,  denn  er  wird  V.  21  ^aßriyCa  angeredet  und  gehört 
der  Partei  des  ersten  Sprechers  {A.)  an.  Da  sein  Verfolger 
(V.  9)  als  „der  verdammte  Erbe"  bezeielmet  wird  {KX.),  und 
dieser  ihn  'in  der  Wut  (V.  n)  dvdguTtodiöx'ng  nennt,  hat  B. 
offenbar  geholfen,  ein  Mädchen  —  an  mehrere  zu  denken, 
liegt  bei  neutraler  Auffassung  von  x&v  7tQo6r,x6vrav  in  V.  6 
kehl  Grund  mehr  vor  —  voraussichtlich  eine  Erbtochter,  der 
Gewalt  ihres  wirklichen  oder  angeblichen  xvQiog  zu  entziehen. 
Es  verdient  immerhin  Beachtung,  daß  Alexis,  wie  vor  ihm 
Antiphanes,  nach  ihm  Menander,  Diphilos  und  andere,  eine 
Komödie  'E7iCxXr,Qog  benannt  hatte.    Freilich  geben  die  spar- 


71,6]  Zu   NEUEREN   KOMÖDIENFUNDEN.  39 

liehen  Fragmente  dieses  Stücks  (CAF  II  32 2 f.  Kock)  für 
den  Inhalt  kaum  etwas  aus,  und  die  Nöte  einer  bedrängten 
Erbtochter  können  in  vielen  Komödien  verwertet  worden 
sein.  Der  verfolgende  Erbe  ist  von  einem  Sklaven  Sosias  be- 
gleitet, der  stumme  Person  bleibt,  mit  Gewalt  versuchen  die 
beiden,   den   Flüchtling  vom  Altar  der  Demeter  fortzureißen. 

Ersänzuno^sschwieriffkeiten  macht  in  der  lebhaften  Streit- 
rede  zunächst  V.  15.  v.  Wilamowitz  druckt  den  Anfang 
€  .  .  HK',  hält  an  erster  Stelle  auch  0,  an  vorletzter,  ob- 
wohl er  H  nicht  punktiert,  auch  Cü  für  möglich,  würde  am 
liebsten  öEöaxa  ergänzen,  was  mit  den  erhaltenen  Resten 
unvereinbar  sei,  während  das  zu  ilmen  am  besten  passende 
sörrjxa  sich  mit  s^avrov  und  avtEta^diiriv  rs  öol  nicht  ver- 
trage. Mir  scheint  das  von  Wilamowitz  auch  schon  erwogene, 
aber  verworfene  sdcjxa  die  einzig  mögliche  Ergänzung.  Der 
Buchstabenrest  vor  K  paßt  nach  der  Photographie  für  üJ 
soffar  besser  als  für  H  und  bei  der  Breite  dieses  Buchstabens 
füllt  er  den  Raum  unter  OY  von  tjqov  in  dem  vorangehen- 
den Vers  tadellos;  ich  glaube,  außer  der  rechten  oberen  Ecke 
auch  noch  ein  Restchen  der  Mittelhasta  des  Gü  zu  erkennen, 
und  an  zweiter  Stelle  Ansatzspuren  vom  ersten  Schrägstrich 
des  A.  Vor  allem  brauchen  wir  aber  neben  dvtsTah,durjv 
einen  Aorist,  und  da  6&r]Ka  ausgeschlossen  ist,  wird  sich  außer 
eöcjxa  kein  Aorist  auf  -xa  finden  lassen.  Für  den  zunächst 
auffallenden  Ausdruck  sdaxcc  E^avrbv  TfQog  triv  aöcpdXEiav 
geben  Stellen  wie  Pol.  V  14,  9  cdo'xft  yaQ  sig  rÖTtovg  avrbv 
dEdcaxavai  Ttagaßolovg  und  Diod.  V  59  didovg  ö'  eavrbv  £tg 
rag  BQrj^Cag  hinreichende  Analogien. 

V.  ig.  V.  Wilamowitz  ergänzte  den  Versanfang  zu 
ßaxtriQiai  und  erinnerte  an  die  Stöcke  in  den  Händen  der 
Bürger,  die  den  Chor  bilden.  Aber  der  Ausdruck  T7)v  %slQd 
XLVi  7tQo6(psQE6d-ai  ßaxrrjQLcc  wäre  sehr  seltsam,  und  sachlich 
spricht  gegen  die  Ergänzung,  daß  der  Flüchtling  nicht  ein 
Verprügeltwerden  auf  dem  Altar,  sondern  ein  Fortgeschleppt- 
werden von  ihm  zu  fürchten  hat.  Ich  ziehe  deshalb  den  Vor- 
schlag Fränkels  (a.  a.  0.)  ixsrrjQCoL  vor  und  glaube,  daß  — • 


40  Alfkkd  Körte:  Zu  neueuen  Komödhonkunden.         [71,6 

falls  (lio  Photograiihie  nicht  täuscht  —  auch  diu  Tintcureste 
auf  dem  zerfaserten  Kand  dos  Tapyrus  besser  zu  IK  als  zu 
BA  passen.  Persönlichen  Gebrauch  von  Ixsri'jQiOij;  belegt 
Fränki:l   mit   Soph.   Oed.   R.  327   orävTfg    6s   TtQoöxvvov^ev 

oid'    IxTlJQtOl. 

V.  24 f.  lauten  bei  v.  Wilamowitz 

vo^i(t]oiitv  öS  Tiagavo^etv  £ig  rijv  ^sov. 

In  dieser  Fassung'  scheint  mir  r()/<<'S;o;u£v  viel  zu  zalim, 
außerdem  setzt  der  folgende,  sicher  richtig  ergänzte  Vers 
fii)  Tovr\6  y  avÖQsg  nicht  eine  bloße  Meinungs-,  sondern  eine 
Willensäußerung  des  Chors  voraus.  Ich  würde  xcolvöofisv  ver- 
muten, aber  der  Kaum  scheint  dies  ebenso  wie  vo^Ct,o^ev 
auszuschließen.  Das  erste  O  steht  nämlich  genau  unter  dem 
N  von  aztt]vT£s  (oder  6QG)]vx£g),  es  fehlen  also  nur  3,  aller- 
höchstens  4  Buchstaben.  Somit  ist  wohl  idöjo^sv^  als  Frage, 
die  gebotene  Ergänzung.  Der  folgende  Vers  paßt  sehr  gut 
dazu,  aber  man  wird  dann  in  V.  24  statt  ajiavtsg  wohl 
6Qco]vT£g  schreiben  müssen.  Das  Nebeneinander  der  beiden 
Partizipien  ogcövreg  und  01  jtaQÖvrsg  ist  nicht  gerade  schön, 
steht  aber  ähnlich  in  V.  16  des  Misumenos  Papyrus  a  jcod-ov- 
[isvog  (pavelg.  Den  folgenden  Vers  gibt  v.  Wilamowitz  an- 
scheinend dem  Verfolger,  ich  natürlich  dem  Flüchtling,  der, 
erfreut  durch  die  Äußerung  des  Chorführers,  den  Chor  be- 
schwört, die  Verletzung  des  göttlichen  Rechtes  nicht  zu 
dulden.  Das  wird  auch  durch  die  Worte  ev  ys  7iQoöJiait,ELv 
doxsi  empfohlen,  die  man  am  natürlichsten  auf  den  Verfolger 
bezieht. 


Bericilte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologisch-liistorisclie  Klasse 

71.  Band.    1919.     7.  Heft 


Richard  Heinze 

Ovids  elegische  Erzählung 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1919 


Vorgetragen  für  die  Berichte  am  2.  Februar  19 18. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am  24.  September  1919. 

Druckfertig  erklärt  am  18.  Februar  1920. 


Ovid  liat  den  Raub  der  Proserpina   zweimal  erzählt,  im/ 
vierten  Buch  der  Fasten  (v.  417 — 620)    und  im  fünften   der 
Metamorphosen  {v.  341 — 661),  beide  Male  in  großer  Ausführ- 
lichkeit —  die  Fastenerzählung  ist  die  längste  elegische  Er- 
zähluno-    die  wir  aus  dem  Altertum  besitzen  — ,    beide  Male 
ohne    daß    der  Plan  der  Werke  es  unbedingt  forderte.     Die 
Fastenerzählung  geht  weder  darauf  aus,  den  Cereskult  über- 
haupt zu  begründen  —  denn  gerade  die  Einführung  des  Ge- 
treidebaues, die  in  den  einleitenden  Versen  395  ff.  als  Wohl- 
tat der  Göttin  gepriesen    wird,    ist    in    der  Erzählung    selbst 
ganz  kurz  (569  ff.)  und  keineswegs  mit  besonderer  Betonung 
erwähnt  — ,  noch  haben  die  zahlreichen  beiläufig  angemerk- 
ten ai'tia  griechischer  Kultbräuche  nähere  Beziehung  zu  den 
Riten    der    ludi   Ceriales,    an   die   der  Dichter  mit   exigit  ipse 
locus,  raptus   ut   virginis  edam  seine  Geschichte  leichthin  an- 
knüpft.    In   den   Metamorphosen    ist    die    Erzählung,    die    in 
ihrem  Kern  auf  keine  Verwandlung  hinausläuft,  nur  der  un- 
nötig breite  Rahmen  für  eine  Reihe  von  Verwandlungssagen, 
unter  denen  die  Metamorphose  der'  Cyane  von  Ovid  erfunden, 
die    der  Sirenen    aus    eigener    Erfindung    begründet    zu   sein 
scheint,    die    der    Arethusa    gezwuno;en    genug    herangezogen 
wird,    während  die  reizlose  und  flüchtig  erzählte  Lynceusge- 
schichte  einen  unorganisch  angeflickten  Schluß  bildet.     Ovid 
hatte  seine  beiden  großen  Werke  gleichzeitig  in  Arbeit;  man 
fragt  sich,  was  ihn  dazu  bewegen  mochte,  ein  und  denselben 
Stoff   in    beiden    so  ausführlich    zu  behandeln.     Offenbar  hat 
ihn  gerade  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  gereizt,  die  darin 
lag,    bei    diesem  Unternehmen  lästige  Wiederholung  zu  ver- 

Puü.-hist.  Klasse  1919.  Bd.  LXXI.  7.  I 


2  RiciiAUu  IIf.inzk:  [71,7 

moiden.  hls  liat  in  dvv  Tut  nuch  l'ür  den  heutigen  Leser  eincMi 
eigenen  Heiz  zu  sehen,  wie  verschiedene  Form  der  iu  ch'u  tJrund- 
zügen  durchaus  gleiche  Mythus  gewinnt,  je  nachdem  ihn  der 
Aetien-  oder  der  Metamorphoseudichter  darstellt.  Die  sach- 
lichen Diskrepanzen,  die  sicli  hieraus  ergeben,  hat  die  neuere 
Forscliung  scharf  ins  Auge  gelaßt,  geleitet  namentlich  durch 
die  Frage  nach  den  Quellen  Ovids.  Als  das  Ergebnis,  das 
vor  allem  einer  Untersuchung  L.  MaltknsM  zu  verdanken 
ist,  sehe  ich  an,  daß  wir  für  die  llauj)tgeschichte  nur  mit 
einer  Quelle,  einem  hellenistischen  Gedicht  (vielleicht  einer 
Elegie  des  Kallimachos)  zu  rechneu  haben,  dem  sich  Ovid 
in  den  Fasten  näher  anschloß  als  in  den  Metamorphosen. 
Über  der  sachlichen  Analyse  ist  aber  eine  andere  und,  wie 
mir  scheint,  für  das  Verständnis  ovidischer  Kunst  wichtigere 
Frage  gänzlich  übersehen  worden.  Die  Fasten  sind  ein  ele- 
gisches, die  Metamorphosen  ein  episches  Gedicht.  Sollte  die- 
ser Unterschied  auf  die  metrische  Form  beschränkt  sein? 
Das  ist  von  vornherein  bei  der  Bedeutung,  die  Ovid  und 
andere  römische  Dichter  dem  Unterschied  der  beiden  Gattun- 
gen beimessen"),  wenig  wahrscheinlich.  Eine  Prüfung  des 
Erzählungsstils  beider  Fassungen  wird  die  Frage  entscheiden. 


i)  Hermes  45  (19 10),  506.  S.  auch  Wilamowitz,  Berl.  Sitzungsber. 
1912,  535- 

2)  S.  die  Stellen  bei  Dilthey,  de  Callimacbi  Cydippa  p.  i.  Für  un- 
sere Frage  kommt  weniger  in  Betracht  die  beliebte  Gegenüberstellung 
der  erotischen  Elegie  und  des  heroischen  Epos,  als  Äußerungen  wie 
fast.  U  125  quid  volui  demens  elegis  imponere  tantum  ponderis?  heroi 
res  erat  ista  pedis  (nämlich  die  Verherrlichung  des  Augustus  als  pater 
patriae)  oder  ex  P.  III  4,  85  ferre  etiam  molles  elcgi  tarn  vasia  triumphi 
pondera  disparihus  non  potuere  rotis.  Diesem  Gegenstande,  hieß  es 
vorher,  wäre  selbst  der  Sänger  der  Aeneis  nur  mit  Mühe  gerecht  ge- 
worden, über  mollis  als  Epitheton  constans  des  elegischen  Maßes  s. 
Rothstein  zu  Properz  I  7,  19;  Skuxsch,  Gallus  und  Vergil  20,  i  (wo 
aber  Ciris  v.  20  mißdeutet  ist}.  Vgl.  auch  Statius'  gesuchte,  aber 
charakteristische  Bezeichnung  der  Elegie  als  dulce  . .  Jieroos  yressu  trun- 
care  tenores  silv.  I  3,  98  und  die  Elegea  ctlsior  adsueto  ebd.  I  2,  7 
(sonst  also  humilis,  wie  der  elegische  Dichter  vom  epischen  taxiert 
wird  Prop.  I  7,  21). 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErzÄHLUNG.  3 

I. 

Hauptinhalt    der    Geschichte    ist    das   Suchen    der  Ceres 
nach  der  geraubten  Tochter.    In  den  Fasten  ist  alles  Gewicht 
darauf   gelegt,    den    Schmerz    der  Mutter    nachempfinden   zu 
lassen:    nie   miseram    ist    ihr    erstes  Wort,    als    sie    aus   den 
Klagen  der  Gespielinnen  das  in  ihrer  Abwesenheit  geschehene 
Unglück  erschließt;  von  Sinnen,  wie  eine  Mänade  stürmt  sie 
dahin.     Der  Dichter  yergleicht    sie   mit   der  säugenden  Kuh, 
der  man  das  Kalb    genommen    hat,    mit  Philomele,    die    um 
Itys  klagt;  ihre  gemitus  v.  461,  miserae  querdae  v.  48 1;  mae- 
stissima  sitzt  sie  auf  der  äysiaörog  tcstqu  nieder;    sie  weint 
bei  dem  Gedanken  an  den  Gegensatz  zwischen  einst  und  jetzt, 
und    Tränen    des    Mitleids    vergießen    bei     diesem    Anblick 
Celeus   und   seiue  Tochter  (521);    als    sie    endlich    Nachricht 
über  den  Raub    erhält,    qiiesta    diu   secum,    ehe    sie    sich    an 
Juppiter  wendet,  und  als  entschieden  ist,  daß  Proserpina  der 
Unterwelt  verfallen,  non  secus  indoluit,  quam  si  modo  rapia 
fuisset,  maesta  parens,  longa  vixqiie  refecta  mora  est.   Das  Bild 
der    in    schmerzlichste    Trauer    versenkten    ist    durchofäno-io- 
festgehalten  und  in  immer  neuen  Wendungen  eingeprägt.   In 
den    Metamorphosen    hören    wir    nicht,    wie    Ceres    von    dem 
schweren  Schlag  zuerst  getroffen  wird;    nachdem  Pluton  mit 
seinem  Raub  verschwunden  und  Cyane  im  Schmerz  um  die  er- 
littene Kränkung  zerflossen  ist,  heißt  es,  vergleichsweise  ruhig, 
interea  pavklae  nequiquam  filia  matri  omnibus  est  terris,  omni 
quaesita  profundo   438;    die   erste  Tat,   die  von  der  Irrenden 
berichtet  wird,  ist  die  Bestrafung  des  vorwitzigen  Ascalabus; 
als  ihr  Cyane  den  Gürtel  der  Tochter  entgegenhebt,  trifft  sie 
das  freilich,  tamquam  tmic  denique  raptam  scisset  (471),  aber 
der  Schmerz    äußert   sich   in   leidenschaftlicher  Wildheit,    sie 
zerreißt  sich  das  Haar  und  zerschlägt  sich  die  Brust,  und  im 
Zorn    über    den    vermeintlichen  Undank  der  Erde   sendet  sie 
Mißwachs  und  Unfruchtbai-keit;  ihre  saevitia  und  ira  werden  i 
anschaulich   geschildert.     Die  Entdeckung  des  Raubes  durch 
Arethusa  läßt  sie  zunächst  zu  Stein  erstarren,  bis  dolore  pulsa 
gravi  gravis  est  amentia  und  sie  flugs  zu  Juppiter  eilt.    Und 


J 


^  UiciiAKi)   Hkin/.k:  (7'.  7 

wio  sii-h  hier  ihre  lliütuii};  von  der  C»M-eB  der  Faston  unter- 
scheidet, 80  sind  auch  die  Worte,  die  sie  an  den  Gatten,  den 
Vater  der  Gerauhten,  richtet,  hier  und  dort  hei  alh-r  nahen 
Ähnlichkeit  charakteristis.h  nuanciert.  Statt  der  Einführung 
der  Fasten  sie  est  adfata  Tonanion,  maximaquc  in  voltu  signa 
doloifis  rra)if,  die  von  neuem  den  Sclinier/,  und  ihn  allein  her- 
vorhebt, heißt  es  liier  toto  iiiihila  voltu  ante  lovcm  passis 
sfttit  incidiosa  capiUis.    Die  Reden  seihst  setze  ich  ganz  her: 

Met.  514 

proquc  meo  veni  supplcx  iihi,  luppiter,  i)iqnit, 

mmjuine,  proque  tiio.  si  nulla  est  (jratia  matris, 

nata  patrem  movent,  neu  sit  tibi  cura  precamur 

vilior  illinSj  quod  nostro  est  edita  partu. 

en  quacsita  diu  tandcm  mihi  nata  reperta  est, 

si  reperirc  vocas  amittere  ccrtius,  aut  si 

scire  nbi  sit  reperire  vocas.  quod  rapta,  feremus, 

dummodo  reddat  eam.  neque  cnim  praedone  marito   . 

ßia  digna  tua  est,  si  iam  mea  filia  non  est. 

Fast.  588 

si  memor  es,  de  quo  mihi  sit  Proserpdna  nata 

dimidiam  curae  debet  habere  tuae. 
erbe  pererrato  sola  est  iniuria  facti 

cognita.  commissi  praemia  raptor  habet, 
at  neque  Fersephone  digna  est  praedone  marito, 

nee  gener  hoc  nobis  more  parandus  erat, 
quid  gravius  victore  Gycje  captiva  tulissem, 

quam  nunc  te  caeli  sceptra  tenente  tuli? 
verum  iiyipune  ferat,  nos  hacc  patiemur  inultae; 

reddat  et  einendet  facta  priora  novis. 

Die  Stilisierung  der  Metamorphosen  mit  ihren  durchge- 
(führten  Antithesen  ist  die  der  Rede,  kouzis  und  energisch, 
ohne  poetische  Floskeln;  wolilberecLnete  Steigerung  in  dem 
auf  den  Anfangssatz  zurückweisenden  Schluß.  Die  Ceres  der 
Fasten  spricht  in  gewählteren  Wendungen  {dimidium  curae, 
commissi  praemia,  te  caeli  sceptra  tenente,  emendet  etc.),    mit 


71)7]  OviDs  ELKGiscHE  Erzählung.  5 

kaum  merklicher  Verwendung  rhetorischer  Kunstmittel.  Sie  - 
beklagt  sich  über  die  erlittene  Unbill  mehr,  als  daß  sie  sich 
beschwerte;  sie  appelliert  fast  schüchtern  an  Juppiters  Vater- 
schaft; sie  sucht  ihn  zu  rühren,  erwälmt  ihr  weltweites  Irren, 
die  Demütigung,  der  sie  unter  Juppiters  Szepter  ausgesetzt 
war;  aber  sie  verzichtet  in  Ergebenheit  auf  Strafe  und  Kache, 
wenn  nur  der  Räuber  die  Tat  wieder  gut  macht.  Sehr  anders 
die  Ceres  der  Metamorphosen.  Sie,  die  große  Göttin,  muß 
dem  Juppiter  supplex  nahen,  und  zwar  für  sein  eigenes  Blut: 
schon  darin  liegt  ein  Vorwurf.  Wie  hart,  fast  gehässig  klingt 
das  si  nidla  est  gratia  matris  und  erst  recht  die  Begründung 
des  folgenden;  wie  bitter  das  effektvoll  hingeworfene  en  .  . 
tandem  reperta  est  und  das  ironische  si  .  .  tocas;  wie  schroff 
die  Bedingung,  unter  der  sie  den  Raub  hingehen  lassen  will. 
Nicht  das  Mädchen  ist,  wie  in  den  Fasten,  praedone  marifo 
indigna,  sondern  'deine  Tochter':  damit  appelliert  sie  an  die 
verletzte  Würde  des  Götterkönigs,  um  endlich  mit  einer 
Pointe  zu  schließen,  aus  der  ihr  ganzer  ohnmächtiger  Zorn 
spricht.  Jeder  Versuch,  das  Mitleid  des  Hörers  zu  erwecken 
unterbleibt;  man  empfindet,  daß  diese  Ceres  glauben  würde,, 
sich  dadurch  zu  erniedrigen. 

Juppiters  Antworten  sind,  um  dies  gleich  anzuschließen, 
dem  verschiedenen  Tenor  der  Anreden  entsprechend  variiert. 
In  den  Met.  erkennt  er  zunächst  den  Anspruch  der  Ceres 
auf  seine  Teilnahme  für  Proserpina  an  (commune  est  pigmis 
onusque  nata  mihi  tecum),  stellt  sich  dann  der  Anklage  gegenüber 
auf  den  status  definitivus  (*.  e.  cum  in  controversia  est,  quo 
nomine  factum  appelletnr  auct.  ad  Her.  I  2 1 :  si  modo  nomina 
rebus  addere  vera  placet,  non  hoc  iniuria  factum,  verum  amor 
est),  widerlegt  endlich  die  Behauptung,  daß  Pluto  der  Ge- 
raubten nicht  würdig  sei,  mit  starker  Betonung  seiner  eigenen 
Würde  und  in  rhetorischer  Steigerung  (ut  desint  cetera,  quan- 
tum  est  esse  lovis  fratreml  quid  quod  non  cetera  desunt,  nee 
cedit  nisi  sorte  mihi!).  Versprechen  und  Bedingung  seiner  Er- 
füllung schließt  mit  Emphase:  sie  Parcarum  foedere  cautum 
est.    In  den  Fasten  dagegen  'entschuldigt'  er  den  Bruder,  ge- 


6  IxiciiAUi)  IIkin/.k:  [7^7 

stillt  ihm  jj^leifluMi  Kuntj;  mit  siili  selbst  zu  (non  cgo  nn- 
hilior)  uiul  stellt  die  dri'i  lu'iche  einander  gleich,  vers})richt 
nicht  autoritativ  repcfrt  Proserpina  cadum,  sondern  erklärt  sich 
zum  Versuch  bereit  {Jwc  (juoquc  tmiptoutis);  der  Schluß  einla- 
cher als  dort  infertil  e(miti</is  uxor  erit.  Man  sieht,  die  Ma- 
jestät  des  Götterkönigs  ist  hier  gellissentlich  gedämpft. 

Als  Juppiter  den  Pakt  mit  Pluton  geschlossen  hat,  daß 
die  Gerauhte  für  die  Hälfte  des  Jahres  zur  Mutter  zurück- 
kehre, setzt  nach  der  Erzählung  der  FastsiU-  die  Getröstete 
sich  den  Ährenkranz  aufs  Haupt,  largaqne  provenit  cessatis 
7uessis  in  herbis.  Vorher  ist  nichts  davon  zu  lesen,  daß  Ceres 
in  ihrem  Groll  Mißwachs  gesendet  habe.  Das  hat  Ovid  na- 
türlich nicht,  wie  man  sagt,  'vergessen'  zu  erwähnen:  die  Ceres 
der  Metamorphosen,  in*  blinder  Wut  die  unschuldige  Erde 
strafend  und  ihr  eigenes  VV'erk  vernichtend,  steht  in  schroft- 
stem  Widerspruch  zur  Ceres  der  Fasten,  die  selbst  in  ihrem  ' 
Gram  sich  als  Wohltäterin  im  Hause  des  Celeus  und  an  der  ' 
gesamten  Menschheit  erweist. 

Pluto  tritt  in  den  Fasten  sehr  wenig  hervor;  zwei  Disti- 
cha  sind  dein  Raub  und  dem  Hinabfahren  zur  Unterwelt  ge- 
gönnt; seiner  Liebe  ist  nur  in  Juppiters  Entgegnung  mit 
einem  Wort  gedacht  —  beim  Raube  selljst  hören  v^ir  nur 
hone  vifJet  et  visam  patrims  vclociter  aufert.  Es  ist,  als  wollte 
der  Dichter  den  finsteren  höllischen  Spuk  möglichst  bald 
wieder  verschwinden  lassen,  um  die  zarten  Farben  seines  Ge- 
dichts nicht  zu  trüben.  Ganz  anders  in  den  Metamorphosen. 
Die  reich  ausgeführte  Einleitungsszene  zeigt  uns  den  rex  si- 
lentum,  der  cursu  atrorum  vediis  equorum  die  Insel  Sizilien 
umfährt,  um  sich  zu  vergewissern,  daß  das  Toben  des  Ty- 
phoeus  die  Grundfesten  der  Erde  nicht  erschüttere  und 
einen  Spalt  bis  zur  Unterwelt  aufreiße;  Venus  erblickt  ihn 
und  heißt  Amor,  ihn  mit  seinem  Pfeil  zu  treffen  und  so  auch 
den  Tartarus  sich  Untertan  zu  machen;  zugleich  der  Perse- 
phone,  die  Jungfrau  zu  bleiben  hoffe,  dies  zu  verwehren.  Flugs 
gehorcht  Amor  dem  Gebot.  Der  Erfolg  bleibt  nicht  aus: 
X>aene   simul   visa   est   cUlectaque   raptaque  Diti.    Seine  Fahrt 


7I,7J  OVIDS   ELEGISCHE   ErzÄHLUNÖ.  7 

wird  anschaulich  beschrieben  (402 — 407);    als  ihm  Cyane  in 
den  Weg  tritt,  entbrennt  sein  Zorn  (420), 

terribilesqice  hortatus  equos  in  gurgitis  ima 
conf ortton  valido  sceptrum  regdle  lacerto 
condidit;  icta  viam  Tcllus  in  Tartara  fecit 
et  pronos  currus  medio  cratere  recepit. 
Ovid  ist  in  diesen  Partieen,  meine  ich,  ganz  selbständig    , 
voro-eo-ano-en:    so  gut  wie  die  Umgestaltung  der  Cyanemeta- 
morphose    ist    die    Motivierung    der  Liebe   durch  den  Schuß  j 
Amors    und    die  Anknüpfung    an    den  Typhoeusmythus    sein 
Werk.^)    Die  Tendenz  liegt  offen  zutage:  Annäherung  an  das/ 
Epos.     Die  Szene  zwischen  Venus  und  Amor  hat  ihre  näch- 
sten Vorbilder  bei  VirgiP)  und  ApoUonios;  erhabener  als  bei 
diesen  wird  das  Eingreifen  der  Göttin  durch  den  Wunsch  be- 
gründet,   ihre    Macht    auch   über  die  Unterwelt  auszudehnen./ 
Der  Räuber  selbst  erscheint  in  der  ganzen  Majestät  des  tyran- 
nus  der  Unterwelt;    um   dur.ch  Kontrast  zu  wirken,  sind  bei 
Proserpina   geflissentlich   die  noch  kindlichen  Züge  betont.^) 
Das    Blumensuchen  ist  dagegen  hier  sehr  viel  kürzer  behan- 
delt   als    in   den  Fasten.     Da  verweilt  der  Dichter  lange  bei 


i)  Mat.ten  (a.  a.  0.  519.  532)  nimmt  das  alles  für  Ovids  Autor  in 
Anspruch.  Aber  gerade  wenn  dies  Kallimachos  war,  traue  ich  dem 
feinen  Künstler  nicht  zu,  daß  er  den  Eingang  seiner  Elegie  mit  einer  * 
weit  ausholenden  Szene  beschwert  hätte,  die  für  den  Kern  des  Gedichts  ^ 
bedeutungslos  war.  Für  die  Met.  ist  sie  als  Übergang  ganz  am  Platze, 
und  die  Haupterzählung  schließt  unmittelbar  an:  nach  der  Ortsbe- 
schreibung führt  V.  391  den  Bericht,  der  384  abbrach,  weiter:  396  usque 
adeo  est  propcratus  amor.  Der  breit  ausgeführte  Eingang  der  Fasten- 
erzählung würde  jene  Götterszene  unliebsam  isolieren.  —  Daß  Venus 
373  fg.  fürchtet,  Proserpina  werde  immer  Jungfrau  bleiben,  ist  kein 
glücklicher  Einfall  Ovids,  der  damit  nur  die  Hauptperson  schon  hier 
einführen  will:  das  Mädchen  ist  ja  noch  ein  halbes  Kind,  und  zudem 
kann  der  Liebesgöttin  nichts  daran  liegen,  daß  Proserpina  wider 
ihren  Willen  Gattin  Plutons  wird. 

2)  An    dessen  Verse  Aen.  I  664    Ovid  sich  v.  365  fg.  unmittelbar 
anlehnt. 

3)  ludit;  puellari  studio  (so  Fast.  433  von  den  comi'es);  aeqiiales 
certat  superare  legendo;  tayitoque  simpUcitas  piierilibiis  adfuit  imnis. 


8  Kicii  \i;ii  IIkin/k:  [71, 7 

dem  lieblichen  Bilil  (4,^1—444),  wie  uaclilier  bei  dein  idyl- 
lisch-rilhronden  Gomiilde  des  armen  Celeus  uud  der  Seinen: 
das  würde  /iir  Erlinbenlieit  der  Metainorpliosenerziililuni:  nieht 
stimmen.   / 

Eini<re  Einzelheiten  raupen  das  Gesamtbild  des  Gegen- 
satzes ergänzen.  In  den  Fasten  hat  Arethusa  die  himmlischen 
matns  /um  Schmaus  ^'eladen;  auch  Ceres  nimmt  daran  teil, 
und  so  ist  die  Tochter  unl)e\vacht  zu  Uau.s  geblieben.  Dies 
Motiv  aus  bürgerlicher  Sphäre  verschmäht  lUis  Epos;  es 
vevzichtct  lieber  darauf,  die  Abwesenheit  der  Ceres  während 
des  Raubes  zu  motivieren.  —  Als  Ort  des  Kaubes  nennen 
die  Metamorphosen  den  tiefen,  waldumschatteten  See  Pergus, 
hatid  procul  Hennaeis  a  moenihus;  dies,  man  möchte  sagen 
feierliche  Bild  wird  noch  gehoben  durch  den  von  Ovid  gewiß 
erfundenen  Zug,  daß  die  Wellen  des  Sees  Schwäne  singen 
hören  so  zahlreich  wie  der  Caystrus;  perijctuum  ver  est  schließt 
die  Schilderung  hyperbolisch;  wie  im  goldenen  Zeitalter  ver 
erat  aeternum  Met.  I  107.  In  den  Fasten  wird  nicht  das  Bild 
der  ummauerten  Stadt  Henna,  sondern  das  der  fruchtbaren 
Landschaft  erweckt  (culto  fertUis  Henna  solo),  und  den  Ort 
des  Raubes  beschreibt  der  Dichter,  soviel  wir  wissen,  ohne 
jeden  Anhalt  an  der  Tradition,  als  in  einem  schattigen  Tal 
gelegen,  wo  das  zerstäubende  Naß  fallenden  Wassers  einen 
reichen  Blumenflor  sprießen  läßt:  ein  idyllisches  Plätzchen, 
wie  es  die  Elegie  zu  schildern  liebt.  ^)  —  In  den  Fasten  ist 


i)  Auch  hier  kann  ich  Malten  nicht  folgen  (a.  a.  0.  526),  wenn 
er  Ovids  Quelle  durch  Kombination  der  beiden  Fassungen  rekonstruiert. 
Die  Ortsschilderung  Diodors  V  2,  von  der  Malten  ausgeht,  ist,  durch 
Schuld  des  Schriftstellers  oder  der  Abschreiber,  völlig  verwirrt  (s.  0. 
Rossbach,  Castrogiovanni  [Lpz.  1912]  15).  Die  Topographie  der  Met.  — 
Hain  {ex  Hennensium  nemore  Cic.  Verr.  IV  106)  am  Pergussee  unweit 
Henna  —  entspricht  der  durch  Timaios  übei'lieferten  Lokaltradition 
(nur  daß  diese,  wie  es  scheint,  den  See  erst  nach  dem  Baube  ent- 
stehen ließ,  Cic.  107);  der  See  ist  etwa  2  Stunden  von  Heuua  entfernt, 
natürlich  nicht  auf  der  Stadthöhe  gelegen.  Die  Tüi>ographie  der  Fast«n 
ist  ganz  konventionell.    Was  Ovids  poetische  Quelle  bot,  läßt  sich  nicht 


sagen. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  9 

reichlicher  Gebrauch  von  direkter  Rede  gemacht,  auch  abge- 
sehen von  dem  Gespräch  der  Ceres   mit  ihren  Gastfreunden; 
wir  hören  die  Worte,  mit  denen  Proserpina  ihre  Gespielinnen 
zu   den  Blumen   ruft,    ihre    Klage    bei    der    Entführung,    die 
suchenden  Rufe   der  Mädchen,    den    ersten   Schmerzensschrei 
der  Ceres,    ihre  Rufe  nach   der  Tochter,    ihre   Frage    an  die 
Begegnenden.  All  diese  eingestreuten,  die  Erzählung  beleben- 
den,   aber    feierlich  gehaltenem  Tone    nicht  gemäßen   Stücke 
und  Stückchen  direkter  Rede  fehlen  in  den  Metamorphosen;^ 
hier  beschränkt  sich  der  Dichter,   im   Stile  Virgils,    auf   die 
beiden    beschwörenden    längeren  Reden    der  Cyane   und  Are- 
thusa  und  auf  die  oben  analysierte  Verhandlung  mit  Juppiter; 
selbst   bei   der  Ascalabusmetamorphose   ist   auf  die    so   nahe- 
liegende Einführung  direkter  Rede  verzichtet.  —  Die  Tendenz 
bringt  es  in  den  Fasten  mit  sich,   daß   die  Erzählung  mehr- 
fach unterbrochen  wird  durch  die  ätiologischen  Anmerkungen 
des  Dichters:  494  hinc  Cereris  sacris  nunc  quoque  taeda  datur; 
504  ülud  (saxum)  Cecropidae  nunc  quoque  triste  vocant;  535  quae 
quia  principio  posuit  ieiimia  noctis,  tempus  lidbent  mysiae  sidera 
Visa  cibi;    dazu  kommt,  mit  sententiöser  Einleitung  507  fors 
sua   cuique   loco   est:   quod  nunc  Cerialis  Eleusin  dicitur,   hoc 
Celei  rura  fuere  senis.    In  seiner  poetischen  Quelle  wird  Ovid 
noch    mehr    dergleichen    Hinweise    gefunden   haben,    die    er 
unterdrückt   hat:    an    die  Erwähnung  der  Schweine,    die  die 
Fußspuren  der  Proserpina  unkenntlich  gemacht  haben  (466), 
war  gewiß  eine  Bemerkung  über  die  Schweineopfer  im  Ceres- 
kult geknüpft;    Ovid  hat  dies  früher   (I  34g)   schon    anders 
motiviert    und    wohl   deshalb   hier  auf  den  Zusatz  verzichtet. 
Mit  dem  Mohn  (532.  547)  und  den  Schlangen  (497)  mag  es 
ähnlich    stehen.     In   den  Metamorphosen   fehlen    solche  dem 
echt  epischen  Stil  nicht  gemäße  Unterbrechungen;    auch  die 
Form    der  praeteritio  dicere  longa  mora  est  463    ist    weniger 
subjektiv  gefärbt    als    die  entsprechende  der  Fasten  573  quo 
feror?    immensum   est   erratas  dicere  terras.  —  Endlich  mag 
noch    als    für    den    Stil    charakterisch    der  häufige  Gebrauch 
der  Apostrophe  in  den  Fasten    erwähnt    werden:    außer    bei 


lO  RiciiAun  IIkinze:  [7Ii7 

i 

Ortsnainou  (,458.  468.  470.  499.  500.  502  und,  mit  Bozujr  iuil" 
des  Dichters  Gegenwart  572  ie,  future  pamis  Tliyl>ri  poicntis 
aqiuie)  noch  439  has  In/acinthe  ivnes,  illas  amiirnntc  moraris 
uud  548  papavera  .  .  dat  tibi  .  .  hihcnda  imcr.  In  der  Meta- 
niorpbosenerzählung  niclits  dorgleiclien. 

Wir  dürfen  nach  dem  allen  zusammenfassend  sagen:  Ovid 
hat  in  den  hoiden  Kedaktionen  seiner  Gescliichte  Beispiele 
zweier  Typen  der  poetischen  Erzählung,  offenl)ar  mit  vollem 
Bewußtsein,  einander  gegenübergestellt.  In  der  Metamorphosen- 
erzählung herrschen  starke  aktive  Affekte,  jähe  Liebe  und 
jäher  Zorn,  in  der  Fastenerzählung  weichere  Empfindungen, 
schmerzliche  Klage  und  Mitleid.  In  den  Metamorphosen  ist 
die  göttliche  Majestät  der  Personen  geflissentlich  gesteigert; 
in  den  Fasten  wird  die  Gottheit  vermenschlicht.  Die  Schil- 
derung der  Metamorphosen  bevorzugt  das  Grandiose,  die  der 
Fasten  das  idyllisch  Anheimelnde.  Der  Stil  der  Erzählung 
wahrt  in  den  Metamorphosen  eine  gewisse  feierliche  Würde; 
der  der  Fasten  ist  lebendiger,  beweglicher^);  jener  hält  streng 
fest  an  der  Objektivität  der  Rhapsoden;  die  Fasten  lassen  die 
Persönlichkeit  des  Erzählers  und  seinen  Gegeuwartsstand- 
punkt  mehr  hervortreten. 

Ist  der  geschilderte  Unterschied  der  beiden  Erzählungen 
ein  genereller  Unterschied  zwischen  Metamoi^phosen  und 
Fasten?  und  dürfen  wir  sonach  den  Erzählungsstil  der  Fasten 

I  als  elegischen    dem  epischen    der  Metamorphosen  gegenüber- 

isteUen? 

2, 

Es  ist  oft  ausgesprochen  worden,  daß  den  ovidischen 
Göttern  Erhabenheit  und  Würde  fehle.  Im  Vergleich  etwa 
mit  den  virgilischen_ trifft  dies  Urteil  ohne  Zweifel  zu,  aber 
nicht  für  alle  Werke  Ovids  in  gleichem  Maße.  An  die  Rea- 
lität der  mythischen  Götter  glaubt  der  eine  Dichter  ebenso 
wenig  wie  der  andere;  aber  während  der  Dichter  der  Aeneis 
sie  als  Vertreter  der  nicht  sichtbaren  und  nicht  dai-stellbaren 


i)  Über  den  Spracbstil,  den  ich  vorläufig  beiseite  lasse,   s,  unten 
im  Abschnitt  8. 


71,7]  Ovms  ELEGiscHt:  Erzählung.  ii 

einen  Gottheit,  an  die  er  glaubte,  in  einem  Abglanz  der 
dieser  wahren  Gottheit  zukommenden  Erhabenheit  sah  und 
darstellte,  bedeuteten  sie  für  Ovid  nichts  als  ein  poetisches 
Spiel^  das  mit  den  Gottheiten  des  römischen  Kultus,  an  dessen 
Nützlichkeit  er  glaubte,  nur  durch  ein  loses  Band  verknüpft 
war.  Die  Frage,  wie  diese  mythische  Götterwelt  im  Gedicht 
darzustellen  sei,  ist  für  ihn  keine  Glaubens-,  sondern  eine 
Stilfrage,  und  er  hat  sie  für  die  Metamorphosen  anders  be-  ' 
antwortet  als  für  die  Fasten:  dieser  Unterschied  hat  bisher, 
soviel  ich  sehe,  keine  Beachtung  gefunden. 

In  den  Metamorphosen  ist  Ovid  sichtlich  bestrebt,  die 
Götter,  soweit  und  sooft  es  sein  Stoff  irgend  gestattet,  mit 
einer  Majestät  zu  bekleiden,  wie  sie  nach  seinem  Stilgefühl 
der  Würde  epischer  Dichtung  zukommt;  Virgil  ist  dabei  sein 
Führer  gewesen.  Er  eröffnet  die  eigentlich  mythische  Er- 
zählung mit  einem  concilium  deorum  eigner  Erfindung  (1 162  ff,), 
das  er  mit  aller  Würde,  die  ihm  zu  Gebote  steht,  ausmalt, 
und  in  dem  insbesondere  Juppiter,  der  zürnende  Rächer,  eine 
nach  des  Dichters  Begriffen  höchst  majestätische  Rolle  spielt. 
Wenn  freilich  sonst  irdische  Majestät  sich  durch  eine  An- 
leihe bei  der  himmlischen  zu  erhöhen  sucht,  so  steht  es  hier 
umgekehrt:  das  Idealbild,  das  dem  Dichter  vorschwebt,  ist 
das  einer  Senatssitzuug  im  Kaiserpalast,  in  der  Augustus  den 
patres  die  Entdeckung  einer  gegen  sein  Leben  gerichteten 
Verschwörung  kundtut.^)    Ovid  hält  darauf,  den  Götterkönig 

i)  In  Lucilius'  concilium  deorum  wirken  die  Reminiszenzen  an  den 
römischen  Senat  absichtlich  parodisch;  Ovid  meint  den  Olymp  zu  T 
ehren,  wenn  er  ihn  dem  Palatin  angleicht.  Daß  Lykaon  den  Plan-' 
faßt,  Juppiter  bei  Nacht  zu  ermorden  —  eine  künstlerisch  recht  schwache 
Dublette  zu  dem  auch  von  Ovid  beibehaltenen  traditionellen  Frevel  — 
ist  nur  erfunden  als  Gegenbild  zu  dem  denkbar  höchsten  Frevel  auf 
Erden,  dem  Attentat  auf  die  geheiligte  Person  des  princeps.  Die  letzte 
Szene  der  Metamorphosen  spielt  gleichfalls  im  Olymp;  da  ist  der 
Gegenstand  der  Verhandlung  die  geplante  Ermordung  Cäsars.  Auch 
sie  wird  gerächt  werden:  aber  der  Rächer  ist  hier  nicht  Juppiter,  son- 
dern der  von  ihm  zu  diesem  Amt  bestellte  Augustus  (XV  821).  Juppi- 
ter mußte  einst  das  sündige  Menschengeschlecht  vertilgen;  Augustus 
wird  es  durch  sein  Beispiel  bessern  (834).  '  \ 


12  IJiciiAHi)  Hi;rN/K:  71  7 

bei  diesem  seiueu  ersten  Aui'treteu  aucli  ixls  den  uin  »las 
Wohl  der  Welt  besorgten  llerrselier  und  Erlialter  zu  kenn- 
i/XMchnen*);  aber  das  tritt  /uriiek  hinter  dem  Amt  des  Kücliens 
und  Strafeus,  in  dem  sich  für  Ovid  die  göttliche  Majestät 
am  mächtigsten  und  erliabensten  dartut.  Das  Motiv  der 
ira  iicorum  war  freilich  durch  den  Stolf  der  Metamorjdiosen 
nahegelegt;  aber  Ovid  verwendet  es  offenbar  mit  beson- 
derer Vorliebe  und  weiß  es  oft  genug  wirklich  grandios  aus- 
zuführen; wenn  er  dabei  den  Frevel  der  dem  göttliclien 
Zorn  Verfallenen  geflissentlich  steigert,  so  soll  dies  da7Ai 
dienen,  in  der  Strafe  das  erhabene  Walten  göttlicher  Ge- 
rechtigkeit deutlicher    fühlen    zu    lassen.'^)     Aber  Ovid   sucht 

1)  cuncta  prius  temptata  (raan  sieht  nicht  recht,  was  das  ge- 
wesen sein  soll),  sed  inmedicdbilc  corpus  esse  recidcndum,  ne  pars  sin- 
cera  trahatur.  Es  wirkt  ungewollt  komisch,  daß  Juppiter  sodann  seinen 
Vernichtungsplan  mit  der  Sorge  um  die  seviidei  auf  Erden  motiviert, 
die  vor  den  bösen  Menschen  geschützt  werden  müßten;  aber  das  Motiv 
stimmt  durchaus  zum  Ganzen  der  Metamorphosen,  in  denen  überwiegend 
Yerschuhlung  gegen  die  Götter,  impietas,  gestraft,  Frömmigkeit  be- 
lohnt wird:    beides   in  ganz  anderem  Sinne  verstanden  als  bei  Virgil. 

2)  Dahin  gehört  die  neue  Fassung  des  Lykaonfrevels,  s.  Ehwai.d  zu 
I  226.  Weitere  Beispiele:  Erysichthon  ist  bei  Kallimachos  (Hymn.  in 
Dem.)  ein  roher  junger  Bursch,  der,  um  sich  einen  neuen  Speisesaal 
zu  bauen,  im  heiligen  Hain  der  Demeter  Bäume  fällen  läßt  und  die 
Priesterin  Nikippa  (in  deren  Gestalt  die  Göttin  warnend  zu  ihm  tritt) 
mit  brutaler  Drohung  abweist.  Bei  Ovid  (VIII  738  ff.)  wird  er  von 
Toruherein  als  Verächter  der  Götter  (wie  Virgils  Mezentius)  eingeführt; 
als  die  Knechte  zögern,  den  heiligen  Baum  zu  fällen,  greift  er  selbst 
zur  Axt  und  spricht  lästerliche  Worte  gegen  die  Göttin;  aus  den  Wun- 
den des  Baumes  fließt  Blut  (wie  in  Virgils  Poljdorosepisode) ;  auch  das 
macht  den  Frevler  nicht  in-e,  er  erschlägt  mit  eigener  Hand  seinen 
Warner  und  führt  das  Werk  durch,  trotzdem  nun  die  klagende  Stimme 
der  Dryade  aus  dem  Baum  tönt  und  ihm  Strafe  prophezeit.  So  ist 
Erysichthon  nicht  nur  gottlos,  sondern  doppelter  Mörder,  des  Menschen 
und  der  Nymphe:  diesem  Motiv  zuliebe  läßt  Ovid  Ceres  selbst  bei  der 
Tat  nicht  auftreten,  sondern  er.=it  nachher  durch  die  Nymphen  um  Be- 
strafung des  Frevlers  gebeten  werden.  (Lafaye  hat  in  seinem  ausführ- 
lichen Vei'gleich  der  beiden  Erzählungen,  Les  metamorphoses  d'Ovide 
et  leurs  modeles  grecs,  Paris  1909,  S.  132  ff.,  das  Entscheidende  nicht 
erkaniit,  daß  eben  Ovid  die  kallimacheische  in  primitivem  Märchenton  , 


71 ,  7j  OVIDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNO.  ^  3 

die  Erhabenheit  des  Göttlichen  nicht  ausschließlich  in  ihrer 
Strafgewalt;  ich  erinnere  nur  an  die  regia  Solis  (II  i  ff.)?  den 
Hymnus  auf  Bacchus  (III  uff-),  die  Apotheose  des  Herakles 
(IX  239  tf.),  die  Einholung  des  Asclepius  (XV  622  ff.);  in  die- 
sem letzten  Stück  hat  der  Dichter  die  schwierige  Aufgabe, 
die  Schlange  als  Inkarnation  des  Gottes  empfinden  zu  lassen 
und  im  Leser  etwas  wie  einen  horror  sacer  zu  erwecken, 
meisterlich  gelöst.^) 

gehaltene    Geschichte    ins   'Epische'  übersetzt.     Darum   fällt  weiterhin 
alles  realistische  Detail  weg  —  die  Ausflüchte    der    Mutter,    die    Auf- 
zählung   der  von    dem  hungernden   verzehrten  Tiere  — ;    darum    darf 
nicht  Ceres  selbst  den  Hanger  senden,    sondern    muß,    nach   dem  epi- 
]schen  Schema,  eine  Botin  an  den  Dämon  Farnes  abordnen  und  diesen 
'mit  der  Strafe  beauftragen;  die  '^yitpgaaig  der  Farnes  nach  dem  Vorbild 
von  Virgils  Fama.     Demeters  Worte  Kall.  t.  63  fg.  mit  ihrem  bitteren 
Witz  und  dem  Schimpfwort  xvov  würden  in  Ovids   Stil  nicht  passen.) 
—  Die  GeBchichte  von  Latona  und  den  groben  lykischen  Bauern  (über 
die   jetzt    im    Hermes    53,    1918,   236  ff.    Kurioses    zu   lesen  steht)    hat 
Ovid  VI  331  dem  Nikander  (bei  Antonin.  Lib.  35)  nacherzählt,  verein- 
fachend und  nach  seinem  Geschmack  verbessernd:    bei  Nikander  will 
Latona  ihre  Kindlein  in  der  Quelle  Melite  baden,  Hirten  verjagen  sie, 
um  ihre  Rinder  zu  tränken.     Bei  Ovid  ist  Latona    auf  der  Flucht  vor 
Juno,  verschmachtet  vor  Durst  und  will  nur  einen  Trank  aus  dem  Teich 
tun,    an   dem  die  Bauern  Rohr  und  Schilf   sammeln:    sie    wehren   der 
Armen    und,    als  sie  flehentlich  bittet,    drohen  sie  und  schimpfen  und 
springen  ins  Wasser,  um  es  zu  trüben:  also  gemeine  Bosheit  und  Grau- 
samkeit dazu.    (Die  Metamorphose  ist  bei  Ovid  sehr  viel  hübscher  ein- 
geführt;   die  Frösche,    die  im  Wasser  springen  und  schimpfen,    setzen 
fort,    was   die    Bauern    getan    hatten.     Nikanders  Arjrco  .  .  liQ-ca  xQu^^st 
xvTtxQvau   xcc  växa  xai  toi'S  wfioug  v.axi^ulz  nävxag  slg  x)]v  v.Qrivi]v    ist 
einer    ovidischen    Göttin    unwürdig.)    Dann    vergißt    die    Göttin    ihren 
Durst  über  dem  Zorn  und  hebt  sich  zu  rächender  Größe;  bei  Nikander 
nimmt  sie  erst  nach  der  Rückkehr  vom  Xanthos  Rache:  das  mußte  das 
Pathos  des  aufbrausenden  Zorns  schwächen.  —  Das  gleiche  Verfahren 
ist  z.  B.  bei  Niobe  sehr  wahrscheinlich,  aber  nicht  sicher  nachzuweisen. 
I)  Der  Vergleich  mit  der  in  manchem  nahe  verwandten  Fastener- 
zählung von  der  Einholung  der  Magna  Mater  (IV  249  ff.)  ist  lehrreicii: 
da  ist  gar  kein  Versuch  gemacht,  die  religiöse  Bedeutung  des  Vorgangs 
und  die  Erhabenheit  der  großen  Göttin  wirklich  fühlen  zu  lassen;  das 
Interesse  liegt  wesentlich  auf  der  Claudia-Episode,    also   dem  mensch- 
lichen Beiv.erk. 


( 


14  Kit  II  \i{i>  IfKiN/.n:  [71,  7 

Restlos  lioli  sii'li  mm  IVeilioli  ^['\v^^'  Subliinii-rung  nic-lit 
durchführen,  weder  für  die  olympischen  Untertanen  Juppiters 
noch  für  diesen  selbst.  Eine  böse  Kli])pe  waren  vor  iilleui 
die  nach  dem  Plan  des  Gedichts  unvermeidlichen  Liebesaben- 
teuer der  Götter,  zu  deren  Darstelhnif^^  es  den  Dichter  ^cwiü 
im  Grunde  besonders  7.o>^,  und  die  doch  mit  vielem  Takt 
behandelt  sein  wollten.  Zwar,  daß  Götter  zu  irdischen  Frauen 
in  Liebe  entbrennen  und  sich  ihrer  bemächti^'on,  war  ein  in 
der  mythischen  Dichtun<r  jeden  Stils  so  allgemein<,ailtiges 
Motiv,  daß  Ovid  nicht  entfernt  daran  denken  konnte,  hieran 
Anstoß  zu  nehmen.  Aber  wenn  es  nun  galt,  diese  Abenteuer 
in  dem  ganz  auf  Detailzeichnung  angelegten  Stil  der  Meta- 
morphosen zu  erzählen,  so  lag  die  Gefahr  nahe,  die  göttliche 
Würde  dadurch  zu  beeinträchtigen,  daß  sie  der  Dichter  einer 
Leidenschaft  erliegen  ließ,  die  er  selbst  so  oft  und  mit  sol- 
cher Virtuosität  als  Schwäche,  ja  als  Krankheit,  und  dann 
wieder  in  leichtfertigen  Elegien  als  nequitia  besungen  hatte. 
Beide  Auffas-sungen  waren  nach  Ovids  Empfinden  im  Grunde 
der  göttlichen  Hoheit,  wie  sie  dem  Epos  ansteht,  nicht  würdig. 
So  erscheint  denn  göttliche  Liebe  zumeist  einfach  als  herri- 
sches Verlangen,  das  ohne  Werbung  zum  Ziel  führt.  Auch 
wo  es  anders  steht  —  und  die  feststehende  Sage  nötigte  dazu, 
solche  Ausnahmen  zuzulassen  —  ist  es  unverkennbar  Ovids 
Bestreben,  möglichst  wenig  von  der  göttlichen  Erhabenheit 
aufzuopfern.^)  Vollends  die  burleske  Darstellung  göttlicher 
Liebe  bleibt  dem  Epos  fern.  Zwar  erzählt  eine  der  Minyaden 
IV  171  — 189  die  lustige  Geschichte  vom  Ehebruch  des  Mar.s 
und  der  Venus  —  nicht  um  ihrer  selbst  willen,  sondern  als 
Einleitung  zu  der  Geschichte  von  Sols  Liebe  zu  Leucothoe"), 


i)  S.  den  ersten  Anhang. 

2)  Diese  Liebe  flößt  ihm  Venus  ein,  um  ihn  für  sein  indicium 
zu  strafen;  Strafe  aber  ist  nicht  eigentlich  die  Liebe,  sondern  ihr  für 
den  Gott  so  bitter  schmerzlicher  Ausgang,  der  gleichfalls  durch  das 
indicium  (237.  257)  einer  dritten  Person  herbeigeführt  wird.  So  wird 
der  Gott  mit  der  eigenen  Waffe  verwundet,  und  die  so  heiter  begin- 
nende Geschichte  endet  tragisch. 


7f,7j  OviDS    ELEGISCHE   ErzÄIILUKG.  I5 

und    daher   nicht   in   der  breiten  Ausführung   einer  Haupter- 
erzählung  — ;  aber  dieser  StojBt'  ist   durch  die  Odyssee  sozu- 
sagen episch  legitimiert;    und    vergleicht   man  die  Paralleler- 
zählung ars  am.  II  561 — 590,  so  sieht  man,  was  dem  Elegiker 
erlaubt  schien  und  was   der  Epiker    sich    versagte:    die    Er- 
zählung der   ars   ist   durchaus  frivol,    auch    in    der  Tendenz, 
am  frivolsten  das,  was  der  Dichter  in  eigener  Person  575  fg. 
anmerkt;   die  der  Metamorphosen  demgegenüber,   soweit   das 
ein  so  heikler  Stoff  zuläßt,  zurückhaltend  und  ehrbar;  sie  ver- 
weilt nicht  bei  dem  Bild  des  ertappten  Paares,   sondern  nur 
bei    der   Schilderung    der   zauberhaften    Kunst  Vulcans,    und 
wenn    auch    die    lustige  Klausel    der  homerischen  Erzählung 
nicht  ganz  fehlt,  ist  sie  doch  mit  aliquis  de  dis  non  tristihus 
optat  sie  fieri  turpis  so   dezent  wie  möglich  wiedergegeben.*] 
Die  Fasten  wollen  ein  nationales  und  religiöses  Gedicht 
sein;    sie   dienen,    wie   der  Verherrlichung  Roms   und   seines 
Herrscherhauses,  so  der  seiner  Sacra;  die  Götter  sind  in  erster 
Linie    die    des    römischen    Kults,   und    demgemäß    sind  denn 
Gebete  und  Götterhynmen    über    das    ganze  Werk    verstreut. 
Aber  wer  nun  etwa  erwartet,  in  dem  Gedicht  die  erhabenen 
Schauer  der  religio  zu  finden,    wird    enttäuscht  sein.     Schon 
die  Art,    wie  der  Dichter  selbst   mit   den   ihm    erscheinenden 
Göttern  verkehrt,  hat  hie  und  da  etwas  Vertrauliches,  um  nicht 
zu  sagen  Familiäres;  und  wenn  nun  die  Götter  als  Personen 
der  erzählten  Sagen,    griechischen    wie   römischen,    auftreten, 
so  ist  der  Dichter  nicht,  wie  in  den  Metamorphosen,  darauf 
bedacht,  ihre  suhlimitas  fühlen  zu  lassen.    Was  erlauben  sich 
nicht   die    Fasten    im   Punkte   derb    erotischer  -Götterkomik: 
Priapus    und  Lotis   (I  393),    Faunus   und  Omphale  (II  305), 
Priapus  und  Vesta  (VI  319);  dann,  weniger  obszön,  aber  doch 
auch  für  den  hohen  Gott   recht  beschämend,    die  Täuschung 
des  verliebten  Mars  durch  Anna  Perenua  (III  677).    Juppiter, 
iindomiio  luturnae  captns  amore,  muß  es  sich  gefallen  lassen, 
daß  ihm  die  schnelle  Geliebte  immer  wieder  entwischt  {multa 

i)  a.  a.  585  hie  aliquis  ridens:  in  vte,  fortissime  Mavon^,  si  tibi  sunt 
overi,  vincula  trcnsfer,  ait. 


l()  lin  iiAKU  Hkinzk:  l7'.7 

iulit  f't)i(()  non  2)atimil(i  tleo  II  5H6\  uiul  sieht  sich  <jftMii>tiR-t, 
au  lue  HtMliilte  der  NynipluMi  des  Landes  zu  appcUicien.  Die 
verliebte  Fortuna  pliej^l  uaohts  durch  ein  eii^'es  Fenster  zu 
ihrem  Scliat/  einzustoii^en  (VI  577),  schämt  si(^h  freilich 
nachträglich  rcchtschaÜcn  der  Verirrung.  Und  wie  ganz 
menschlich  ist  es  geilacht,  wenn  .lanus'  (VI  105)  Doppel- 
köpfigkeit  die  List  der  Crane  zuschandcn  macht,  die  versucht 
hatte,  ihn  so  gut  wie  ihre  früheren  Liebliaher  zu  übertölpeln: 
ein  anderer  Gott,  muß  inan  sich  denken,  der  nur  über  einen 
Kopf  verfügte,  wäre  dem  nicht  entgangen.  Auf  nicht  eroti- 
ßchem  Felde  haben  wir  den  Schwank  von  Silen  und  den 
Bienen  (III  737);  der  gleichen  j;ZeAs  dcoriim  wie  Silen  gehören 
Faunus  und  Picus  an,  die  der  weise  Numa  trunken  macht 
(III  295);  aber  auch  Juppiter  läßt  sich  dann  vom  selben 
1  Numa  wenigstens  scheinbar  überlisten  (337).  Die  Situation, 
in  der  wir  V  531  Juppiter,  Neptun  und  Merkur  sehen  (jmdor 
est  ulferiora  loqui),  wäre  in  den  Metamorphosen  kaum  denk- 
bar. Merkur  als  Rinderdieb  begegnet  auch  dort  (II  685):  an 
dieser  durch  älteste  Poesie  geheiligten  Vorstellung  nahm  auch 
der  hohe  Stil  keinen  Anstoß;  aber  der  Übermut,  mit  dem 
nun  auf  Grund  dieser  Sage  der  Gott  als  Patron  des  Betrugs 
und  Meineids  in  dem  vertrauensvollen  Gebet  des  Kaufmanns 
fast.  V  681  aufgefaßt  wird,  stünde  dem  Epos  nicht  au.  Die 
ira  deorum  spielt  in  den  Erzählungen  der  Fasten  eine  sehr 
kleine  Rolle;  eigentliches  Thema  einer  Geschichte  ist  sie  nur 
in  dem  cdrtov  der  ludi  Florales  V  2970".:  aber  wenn  sich  die 
liebenswürdige  Göttin,  gleichsam  um  sich  zu  rechtfertigen, 
auf  die  Fälle  beruft,  in  denen  Diana  und  Venus  Vernachlässi- 
gung grausam  straften,  so  hat  sie  es  selbst  doch  weitaus 
nicht  so  bös  gemeint:  zwar  hat  sie  ihr  Amt  nicht  versehen 
und  die  Blüten  sind  verdorben,  aber:  nee  volui  fieri  nee  sunt 
crudelis  in  ira,  cura  repellendi  sed  mihi  nulla  fuit:  man  sieht, 
es  ist  mehr  ein  Schmollen  als  ein  Grollen.  —  In  den  Meta- 
morphosen sind  es  die  frechen  Pieriden,  die  von  der  Furcht 
der  Götter  vor  Typhoeus  singen  (V  318)  —  der  Inhalt  des 
Liedes  wird  nur  kurz  wiedergegeben  und   der  Dichter  deutet 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   EkZÄHLUNG.  17 

an,  daß  die  Verkleinerung  der  Götter  böswillige  Lüge  ist  — ; 
in  den  Fasten  erzählt  Ovid  (II  459)  ganz  unbefangen  selbst 
von  der  Flucht  der  Venus,  ihrer  zagen  Ängstlichkeit,  ihrem 
Erschrecken  vor  dem  Rauschen  des  Laubes:  sie  fleht  die 
Nymphen  um  Hilfe  an,  springt  ins  Wasser  —  und  wäre 
wohl  crar  mitsamt  dem  göttlichen  Sohne  ertrunken,  wenn  die 
mitleidigen  Fische  sie  nicht  gerettet  hätten. 

Das  alles  lehrt:  die  Elegie,  selbst  so  ernster  Tendenz, 
wie  es  die  Fasten  sind,  verzichtet  in  der  Behandlung  des 
Göttlichen  auf  die  epische  Erhabenheit  und  neigt  dazu, 
den  Abstand  zwischen  Gott  und  Mensch  aufzuheben  oder  zu 
verrino-ern.  Wie  dieser  Höhenunterschied  bis  in  Einzelheiten 
des  Ausdruckes  wirkt,  mag  man  aus  der  Form  ersehen,  die 
ein  und  dieselbe  Rede  eines  Gottes,  die  Bitte  des  Mars 
um  die  Apotheose  des  Romulus,  in  beiden  Gedichten  an- 
nimmt.   In  den  Met.  heißt  es  (XIV  805): 

occiderat  Tatius  pojndisque  aequata  duobus 

Uomule  iura  dahas,  posita  cum  casside  Maiors 

talibiis  adfatur  divumque  hominumqiie  parenfem: 

'tempüs  adcst,  genifor,  quoniam  fundamine  magno 

res  Romana  vdlet  nee  praeside  pendet  ab  uno, 

praemia  —  sunt  lyromissa  mihi  dignoqiie  nepoti  — 

solvere  et  ablatum  terris  inponere  caelo. 

tu  mihi  concilio  quondam  praesente  deorum 

—  nam  memoro  memorique  animo  pia  verba  noiavt  — 

''unus  erit  quem  tu  tolles  in  eaerula  caeli" 

dixisti:  rata  sit  verborum  summa  tuorum.' 

In  den  Fasten  dagegen  (II  481): 

nam  pater  armipotens  postquam  nova  moenia  vidit 

midtaque  Bomulea  bella  peracta  manu 
'Lqypiter'  inquit  'habet  Bomana  potent ia  vires: 

sanguinis  officio  non  eget  illa  mei. 
redde  patri  notum:  quamvis  intercidit  alter. 

pro  se  proque  Remo  qui  mihi  restat  erit. 
"ünus  erit  quem  tu  tolles  in  eaerula  caeli" 
tu  mihi  dixisti:  sint  rata  dicta  lovis.' 

Phil.-hist.  Klasse  1919.  Bd.  LXXI.  7.  2 


l8  IvKMivKi)  Hkinzk:  r7',7 

Dort  episch  j)omphafte  Einführung  der  Hede;  hitM-  oeuiii>t 
das  einfache  itu/uit]  die  Kode  selbst  dort  zwei  viorzcilige  l'e- 
rioden,  hier  drei  zweizeilige,  die  nocli  dazu  in  zwei  selbständig 
geformte  Kola  zorfalleu;  dort  feierlichste  Berufung  auf  das 
feierlich  gegebene  Versprechen,  hier  einfach  tn  mihi  dixisti] 
dort  die  eindrucksvollen  Metaphern  fioiilaminc  maijno  res  llo- 
niaiia  rald  und  ncc  pracside  pendet  ab  uno,  hier  die  schlichten 
Wendungen  habet  lloniiuia  polcnlia  vires  und  stnu/uinis  offi- 
cio non  vget  illa  mci^  endlich  dort  die  Auffassung  der  Apo- 
theose als  eines  Lohnes  der  Heldentaten,  den  der  Götterkönig 
verleiht,  hier  der  Anspruch  des  Vaters  auf  den  einen  Sohn, 
der  «ihm  auch  den  anderen  gefallenen  ersetzen  soll.  Man 
meint  dort  einer  Staatsaktion,  hier  einer  Familienszene  bei- 
zuwohnen. Die  beiden  Reden  des  Mars  verhalten  sich  zu- 
einander ganz  ähnlich  nvie  die  beiden  Reden  der  Ceres,  die 
wir  oben  nebeneinander  hielten. 

Ein  Unterschied  des  Stils,  nicht  des  Glaubens  liegt  auch 
in  der  Stellung  vor,  die  der  Dichter  in  beiden  Werken  zum 
Wunderbaren  einnimmt.  Die  Metamorphosen  erzählen  selbst- 
verständlich, wie  es  das  Epos  (von  ganz  seltenen  Ausnahmen 
abgesehen)  tut,  ohne  einem  Zweifel  des  Dichters  am  Wunder 
Raum  zu  geben.^)  Auch  die  Fasten  hüten  sich  wohl,  die  alten 
Sagen  zu  rationalisieren  oder  in  ihrer  Glaubwürdigkeit  zu 
erschüttern:  aber  auffallend  häufig  betont  doch  hier  der 
Dichter,  daß  er  etwas  Verwunderliches^)  oder  kaum  Glaub- 
liches^) nach  der  Tradition  berichte,   oder  lehnt   die  Verant- 


i)  Wo  Zweifel  angedeutet  werden  (wie  gelegentlich  auch  bei  Yir- 
gil,  V.s  epische  Techn.  '243),  geschieht  dies,  wenn  ich  recht  beobachtet 
habe,  nur  bei  flüchtiger  Erwähnung  wunderbarer  Sagenzüge,  nicht  in 
der  eigentlichen  Erzählung :  III  3 1 1 ,  XIII  733 ;  dann  im  Vortrag  des  Pytha- 
goras  XV  282. 

2)  U  413  venu  ad  expositos  (mirum)  lupa  fela  gcmellos.  III  370 
crcdite  dicenti:  mira  sed  acta  loquor.  IV  267  7nira  canum:  longo  trenm- 
it  cum  murmure  tellus.  326  mira,  sed  et  scaena  testificata  loqimr. 
VI  612  mira  quidem,  sed  tarnen  acta  loqiiar. 

3)  IV  203  luppiter  ortus  erat  —  pro  magna  teste  vctustas  creditur, 
acceptam  parce   movere   fidem    —    veste    latens   saxuni   caelesti   gutture 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  iQ 

/  wortimg  für  diese  ab^),  oder  erklärt  gar,  das  Überlieferte 
selbst  nicht  glauben  zu  können.^)  Zu  dieser  Haltung  stimmt 
es  denn  auch,  daß  Ovid,  der  in  den  Metamorphosen  unbe- 
denklich Wunder  auf  Wunder  häuft,  in  den  Fasten,  die  so 
viel  rein  Historisches  zu  berichten  haben,  auch  in  Mythus 
und  Legende  das  Wunderbare  oder  Märchenhafte  gelegentlich 
abschwächt.  Daß  in  Ovids  Umformung  der  virgilischen  Er- 
zählung von  Hercules'  Kampf  mit  Cacus  (I  545  ff-)  sich  mehr- 
fach das  Streben  zeigt,  'aus  der  Sphäre  des  Märchens  etwas 
mehr  auf  den  Boden  der  Wirklichkeit  zurückzukehren',  hat 
MüNZER^)  bemerkt.  Cacus  ist  kein  wirkliches  monstrum  mehr, 
kein  halb  tierisches,  halb  menschliches  Fabelwesen,  sondern 
ein  vir  heroischer  Art;  aus  dieser  verschiedenen  Grundan- 
schauung ergeben  sich  weitere  Modifikationen  der  Erzählung, 
z.  B.  Ovids  Verzicht  auf  den  von  Virgil  erfundenen  zauber- 
haften Verschluß  der  Höhle.  —  Bei  Plutarch  (Num.  1 5)  macht 
Numa  die  Waldgötter  trunken,  indem  er  —  man  sieht  nicht 
recht  wie  —  die  Quelle,  aus  der  sie  zu  trinken  pflegen,  mit 
Wein  und  Honig  mischt;  bei  Ovid  (HI  301)  geht  das  sehr 
natürlich  zu:  pleyia  odorati  disponit  pocula  JBacchi.  —  Bei 
Philemon  und  Baucis  (met.  VHI  679)  manifestieren  sich  die 
besuchenden  Götter  durch  das  Wunder  des  immer  neu  von 
selbst  sich  füllenden  Weinkrugs;  bei  Hyrieus  (fast,  V  513) 
durch  Merkurs  Worte  da  nunc  hihat  ordine  Iwppiter:  wie 
wenn  hohe  inkognito  Reisende  sich  durch  unbedachte  Namens- 
nenuung  verraten. 

3- 
In  der  Erzählung  der  Fasten  war  Ceres,  wie  wir  sahen, 
vornehmlich  als  die  leidende  und  klagende  Mutter,  in  der  der 

sedit.    VI  631    inter  cineres  öbsceni  forma  virilis  aut  fuit  aut  visu  est, 
sed  fuit  ilJa  magis. 

1)  I  469  orta  prior  luna  (de  se  si  creditur  ipsi)  ..  tellus. 

2)  II  113  inde  (fide  maiusj  tergo  delphina  recurio  se  memorant 
oneri  subposuisse  novo.  551  vix  equidevi  crcdo:  busiis  exisse  feruniur 
.  .  avi. 

3J  Cacus  der  Rinderdieb,  Progr.  Bas.  191 1,  S.  54. 


\ 


20  KiClIAKD    HkIN/.K.  [71,7 

Rletamorpliosen  als  dio  beleidigte  uiul  züriieudf  Ciöltin  dar- 
gestellt. Dort  ist,  Ulli  es  scharf  weim  aiu-h  eiusoitig  zu  tbr- 
iiiuliereu,  der  Naehdruck  auf  das  fXeftvüv,  liier  auf  das  öfivov 
gelegt.  Dieser  Ciegeusatz  gilt,  so  ausgeprägt,  natürlich  uicht 
für  die  beiden  Werke  durchweg.  Auch  in  den  MetanK)r]>ho8en 
fehlt  es  nicht  an  Darstellungon  /tiefen,  seelischen  Scliiiierzes, 
mitleiderregendeu  Schicksals.')  ^Aber  das  sind  doch  gnißen- 
teils  Leiden,  die  durch  den  starken  aktiven  Aflekt  einer  an- 
deren Person,  etwa  den  Zorn  einer  Gottheit,  herbeigeführt 
Averdeu;  oder  es  sind  seelische  Schmerzen,  die  zur  iiaserei, 
zum  Selbstmord  trci])eu,  so  gewaltsam  auftreten,  daß  sie  da- 
mit selbst  wieder  gleichsam  zu  aktiven  Affekten  werden,  die 
nicht  reines  Mitleid,  sondern  Furcht  und  Mitleid  wecken. 
Und  daneben,  wie  viele  Schilderungen  alfektischer  Verbrechen, 
heroischer  Taten,  auch  gewaltiger  elementarer  Ereignisse! 
Selten  Erzählungen  nicht  patlietischen,  ganz  selten  solche 
heiteren  Charakters.  In  den  Fasten  fanden  wir  die  letzteren 
bereits  bei  den  Göttergeschichten  reichlich  vertreten;  das 
Pathetische  herrscht  weitaus  nicht  so  unbedingt  wie  in  den 
Metamorphosen;  bevorzugt  wird  unter  seinen  Erscheinungs- 
formen durchaus  das  slssivöv.  Alles  Heroische  im  Leiden  und 
vor  allem  im  Tun  wird  eher  vermieden  als  gesucht. 

Ich  suche  das  an  zwei  Gruppen  von  Erzählungen,  den 
Aeneas-  und  den  Romulussagen,  zu  veranschaulichen.    Inhalt- 

I)  Die  berühmteste  dieser  Geschichten  ist  wohl  die  von  Ceyx  und 
Alcyone  XI  410 — 749,  ein  Prunk-stück  ovidischer  Erzählungskunst.  Es 
ist  lehrreich  zu  seTien,  wie  Ovid  diese  riihrende  Geschichte,  die  zu 
schlichter  elegischer  Darstellung  wie  geschaffen  wäre,  episch  stilisiert: 
eine  leidenschaftlich  bewegte  Rede  der  Alcyone,  um  den  Gatten  von 
der  Reise  zurückzuhalten;  die  sehr  ausgeführte  ^xqpoacits  des  Seestur- 
mes, nach  besten  epischen  Vorbildern;  Junos  Auftrag  an  Iris  —  episch 
konventionell;  die  £y.cpQcc6ig  der  Höhle  des  Schlafgotts  und  der  Traum- 
dämonen; die  pathetische  Traumerscheinung;  der  Monolog  der  Alcyone 
mit  dem  Entschluß  zum  Selbstmord;  ihr  furchtbares  Erschrecken,  als 
sie  in  dem  angespülten  Leichnam  den  Gatten  erkennt.  Die  wesentlichen 
Züge  dieser  Erzählung  verdankt  Ovid,  wie  es  scheint,  dem  Nikander 
(WiLAMowiTz,  Herm.  18  [1883],  418  tf);  aber  von  der  pathetischen  und 
ekphrastischen  Ausgestaltung  wird  vieles  auf  seine  Rechnung  kommen. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZAHLUXG.  2  1 

liehe  Analyse  ist  dabei  nicht  ganz  zu  umgehen;  es  kommt 
mir  nicht  sowohl  darauf  an,  Ovids  Quellen  zu  benennen  — 
was  selten  genug  gelingt  —  als  nach  Möglichkeit  Ovids  eigne 
Arbeit  an  der  Gestaltung  der  Mythen  festzusteUen;  das  ist 
für  die  Erkenntnis  seiner  künstlerischen  Tendenz  wichtig. 

Aus  dem  Kreise  des  Aeneas  ist  ausführlich  erzählt  nur 
die  rührsame  Novelle  von  der  Anna  Perenna  III  545 — 656'), 
in  der  die  Mitleid  erregenden  Momente  stark  betont  sind:  zu 
Anfano"  die  Erinnerung  an  die  miserahilis  Dido.  dann  Annas 
tränenvoller  Abschied  von  der  Heimat  und  der -Asche  der 
Schwester;  das  Leid  der  zum  zweiten  Male  Vertriebenen  und 


i)  Gar  zu  gern  wüßte  man,  wer  diese  Novelle  erfunden  hat.  Daß 
es  nicht  Naevius  ist,  wie  Maäss  vermutet  hatte,  habe  ich  Virg.  ep. 
Techn.'  115,  i  gezeigt  (vgl.  Leo,  Rom.  L.  G.  82,  8).  Nachvirgilischer  Ur- 
sprung stünde  ja  außer  Frage,  wenn  wir  wüßten,  daß  erst  Virgil  den 
Aeneas  zu  Didos  Liebhaber  gemacht  hat;  aber  der  zuletzt  von  Dessau 
Herm.  49  (1914),  508;  52  (1917),  470  hierfür  versuchte  Nachweis  schei- 
tert schon  daran,  daß  eine  (von  Dessau  517  evident  falsch  datierte) 
Schrift  des  Ateius  Philologus  die  Frage  behandelt  hat  an  amaverit 
Didun  Aeneas.  Es  bleibt  also  die  Möglichkeit,  daß  auch  die  Anna- 
geschichte schon  vorvirgilisch  ist  (freilich  nicht  varronisch:  Yarro  ließ 
Anna  auf  dem  Scheiterhaufen  sterben):  dann  aber  nicht  in  der  ovidi- 
schen  Fassung,  die  aufs  engste  an  Virgil  anschließt.  So  ist  das  auf- 
fallende Motiv,  daß  Pygmalio  um  Annas  willen  dem  Battus  von  Malta 
mit  Krieg  droht,  klärlich  aus  Virgila  quid  bclla  Tyro  svrgentia  dicam 
germaniqiie  minus  IV  43  herausgesponnen;  die  Rede  des  Aeneas  setzt 
nicht  nur  seine  von  Virgil  erfundene  Begegnung  mit  Dido  in  der  Unter- 
welt voraus,  sondern  ist  deutlicher  Reflex  der  dort  gesprochenen  Worte 
VI  456  ff.  Die  Ausführung  mindestens  ist  also  weitgehend  Ovids  Eigen- 
tum: es  ist  ganz  die  Art,  wie  er  im  14.  Buch  der  Metamorphosen  die 
Aeneis  benutzt  und  an  ihren  Motiven  weiterdichtet.  Nun  scheint  mir 
aber  auch  die  Etymologie  des  Namens,  offenbar  doch  der  eigentliche 
Keim  der  Erfindung  (amne  perennc  latens  Anna  Perenna  vocor)-,  so  dilet- 
tantisch —  denn  sie  rechnet  weder  mit  den  Tatsachen  des  Kults  noch 
vor  allem  damit,  daß  Anna  diesen  Namen  doch  schon  bei  Lebzeiten 
trug  —  daß  ich  sie  keinem  Grammatiker,  wohl  aber  Ovid  zutraue:  in 
dem  wir  also  doch  vielleicht  den  Erfinder  der  ganzen  Novelle  zu  sehen// 
haben.  Silius  Italicus  VIII  28  ff.  ist  zweifellos  von  Ovid  abhängig;  die 
von  AusT  Myth.  Lex.  III  477  gebilligte  gegenteilige  Behauptung  Cauers 
ist  mir  unbegreiflich. 


22  l\i('iiAiin  Hkin/k:  [7^,7 

die  ToiU'suugst  tlor  VVeiuciulou  beim  Seesturiu  (der  ganz  knapp, 
ohne  anl"iT«:;oudt'  i-xq^QciOt^,  erzählt  wird);  die  Bege^nunjjf  mit 
Aeneas,  dem  die  Eriunoinng  an  Diclo  Tränen  entlockt  (er 
lustwandelte  mit  dem  treuen  Achates  nackten  1^'ußes  auf  ein- 
samem Strandweg:  der  epische  Held  gcdit  überhaupt  nicht/ 
spazieren);  endlich  die  Trauuierscheinuug  der  S(jiialr)ifi  D'uh 
sayujHiuühnta  conin,  deren  Worte  die  kaum  erst  beruhigte 
i^chwester  in  lunie  Furcht  stürzen  und  zu  l)esinnungsloser 
Flucht  treiben;  nur  ein  Schlußdistichon  gibt  an,  wie  alle 
diese  leidvollen  Begebenheiten  schließlich  zu  der  Froudenfeier 
führten,  die  das  Vorbild  des  ausgelassen  lustigen  Volksfestes 
am  Tiberufer  sein  soll.  —  Im  übrigen  tritt  Aeneas  in  den 
P'asten  nur  noch  einmal  auf,  in  der  an  die  Viualia  des  2^.  April 
(statt  an  die  Vinalia  rustica  des  19.  August)  geknüpften  Er- 
zählung aus  den  Kämpfen  in  Latlum  (IV  87g).  Ovid  denkt 
nicht  daran,  den  Aeneas  als  Heros  zu  zeigen:  er  gewinnt 
durch  das  Gelübde  des  neuen  Weines  den  Beistand  des  Jup- 
piter  gegen  I^Iezentius,  der  sich  die  Weinernte  der  Itutuler 
als  Preis  seiner  Bundesgenossenschaft  hatte  versprechen  lassen: 
der  Kampf,  in  dem  Mezentius  lallt,  wird  in  einem  Distichon 
erledigt;  der  Kern  der  Erzählung  ist  bei  Ovid  die  Rede  des 
Mezentius,  der  sich  darin  auch  weniger  als  Helden,  denn  als 
beredten  und  geschickten  Diplomaten  zeigt,  den  Wert  seiner 
Leistung  hervorhebend,  den  Wert  der  Gegenleistung  herab- 
drückend.^) 


i)  Daß  Ovid  die  beiden  Vinalia  verwechselte,  hat  Peter  gesehen 
und  Fast.  IP  p.  72  gegen  andere  Meinungen  verfochten.  Diese  Ver- 
wechslung geht  aber  nicht  auf  Verrius  Flaccus  zurück  (so  Franke,  de 
Ov.  Fast,  fontibus  capp.  tria^  disa.  Hai.  1909,  39):  die  fasti  Praenestini 
{lofvij  . .  m  . .  ded  . .  [Vini  0)iniis  twvi  Uhamenhim  lovi  consecratum 
[est,  cum  Latini  hello  premejrentiir  ah  Rxitulis,  quia  Mezentius  rex 
Etrus[co]rum  paciscehatur,  si  subsidio  venisset,  omnium  annoriim  vini 
fritctum)  haben  zwar  zum  23.  April  die  Geschichte  erzählt,  aber  offen- 
bar nur  um  den  Brauch  der  libatio  an  Juppiter,  die  an  diesem  Tage 
stattfand,  zu  erklären,  nicht  um  das  Gelübde  zu  datieren,  das  Verrius 
in  de  signif.  verb.  richtig  auf  den  19.  Aug.  gesetzt  hat  (Fest.  265). 
Üvids  Irrtum  erklärt  sich  aber  leicht  aus  flüchtiger  Einsicht  in  eine  so 


71,7]  OviU.S   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG  2^ 

Ebenso  deutlich  tritt  die  Eigenart  der  elegischen  Er- 
zählung in  der  Auswahl  und  Behandlung  der  Romulusge- 
schichten   zutage.")     Im  Beginn   des  dritten  Buches   soll   der 


kurze  Notiz  wie  clie  der  fasti,  und  ebendaher  wohl  auch,  daß  er  der  Ge- 
Bchichte  die  Spitze  abbricht  —  was  wie  es  scheint  noch  nicht  bemerkt 
ist,    so    oft    auch   neuerdings    darüber  gehandelt  ist    (außer  Franke  s. 
RiTTEK,    de  Varrone  Vergilii   .  .   auctore,    diss.  Hai.  XIV  340 ;    Schür, 
Aeneassage  i.  d.  späteren  röm.  Litt.,  Diss.  Straßburg  1914,  77).     Diese 
Spitze  besteht  darin,  daß  die  Latiner  dem  Juppiter  eben  das  geloben, 
was  Mezentius   für  sich  beansprucht  hatte;    so  daß  der  Gott  veranlaßt 
wird,  mit  Mezentius  zu  konkurrieren.    In  der  ältesten  uns  kenntlichen 
Fassung,  bei  Cato  (orig.  fr.  12  P.),  hat  Mez.  von  den  Rutulern  die  pri- 
mitiae  aller  Früchte  verlangt,    die  sie  sonst  den  Göttern  weihten  (dar- 
aus  hat  Virgil   seine  Konzeption   des   contemptor  deorum);    die  Latiner 
fürchten  das  gleiche  für  sich  und  geloben  diese  Erstlinge  dem  Juppiter, 
'si  tibi    magis   cordi  est  nos  ea  tibi  dare  potius   quam  Blezentio.''     Bei 
anderen  bedingt  sich  Mez.,  sei  es  von  den  Rutulern  als  Preis  der  Hilfe 
(Yarro;  fast.  Praen.),  sei  es  von  Aeneas  (Plutarch)  oder  Ascanius  (Dio- 
nys)  in  den  Friedensverhandlungen,  die  latinische  Weinernte  des  lau- 
fenden Jahres  (Varro)  oder  aller  Jahre  (Dionys;  fast.  Praen.)   aus,   und 
das  Gelübde  der  Gegenseite  bezieht  sich  auf  das  gleiche   (die   Spezia- 
lisierung auf  den  Wein  ist  offenbar  erst  eingeführt,    als    man  die  Ge- 
schichte mit  den  Yinalia  in  Verbindung  brachte).     Ovid   dagegen  läßt 
den  Mez.,    viel    weniger  heroisch,   weder  Götterehren  noch   einen   Teil 
der  Beute  beanspruchen,  die  er  selbst  erst  erkämpfen  muß,  noch  harte 
Friedensbedingungen   stellen,   sondern    sich    einfach    die    Hilfeleistung 
durch   rutulischen  Wein  bezahlen,    worauf   denn  Aeneas,   viel  weniger 
gut    motiviert,    mit    dem    Gelübde    des    latinischen   Weines    (vielmehr 
Mostes:  Ovid  denkt  sich  die  Lösung  des  Gelübdes  im  Herbst,  weiß  also 
gar  nichts    von    der   Erstlingsspende   des  jungen  Weins  im  Frühjahr) 
antwortet.   Die  Fassung  der  fasti  Praen.  kann  dahin  mißverstanden  wer- 
den; gemeint  ist  da  aber  gewiß  beide  Male  der  latinische  Wein. 

I)  Ovid  hat  fast  den  ganzen  Stoff  der  Romulussage  für  die  erste 
Hälfte  seines  Werks  verbraucht;  nur  die  Aufnahme  der  Zwillinge  durch 
Faustuius  und  der  Raub  der  Sabinerinnen  blieb  für  die  zweite  übrig. 
Auch  die  übrigen  Gebiete  der  altrömischen  Ursprungs-  und  Königssage 
sind  in  I— VI  so  ausgeschöpft,  daß  man  schon  suchen  muß  nach  wei- 
teren Episoden,  die  sich  zu  elegischer  Darstellung  eigneten.  Nimmt 
man  hinzu,  daß  auch  die  Monatsnamen  Juli  bis  Dezember  nicht  ent- 
fernt so  viel  Möglichkeiten  zur  Anknüpfung  von  Erörterung  und  Er- 
zählung boten  wie  Januar  bis  Juni   (der  Juli  und  August   hätten  nur 


^4  HiOHAUD  Hk.inze:  |7i,7 

.McniiitsMiinu'  Mdtiius  diiuius  erklärt  wordi'U,  daß  Ivoinulii.s, 
der  er.sto  Ordner  des  römischen  Jahres,  ihirch  diese  Benen- 
nung des  ersten  Monats  seinen  Vater  Mars  geehrt  habe:  so 
ist  es  in  der  Ordnung,  daß  zunächst  erzälilt  wird,  wie  Mars 
der  Vater  des  Roniuhia  ward.  Diouys,  der  uns  außer  Ovid 
die  einzige  ausführliche  Darstellung  des  Hergangs  überliefert 
(l  77),  erzählt,  daß  der  llia  im  heiligen  Hain  des  Ares,  in  dem 
sie  Wasser  zum  Opfer  holen  wollte,  von  dem  (jotte,  der  ihr 
in  übermenschlich  großer  und  schöner  Gestalt  erschien,  Ge- 
walt autretan  sei;  dann  habe  er  sie  über  das  ihr  widerfahrene 
Leid  getröstet,  indem  er  sich  als  Mars  bekannt  und  ihr  ge- 
sagt habe,  sie  werde  Zwillinge  gebären,  die  an  kriegerischer 
Größe  alle  Sterblichen  übertreffen  sollten;  hierauf  sei  er,  in 
eine  Wolke  gehüllt,  gen  Himmel  gefahren^).    Eine  Erzählung, 


Gelegenheit  zu  panegyrischen  Tiraden  gegeben),  so  fragt  mau  sich, 
ob  Ovid  die  Bücher  VII— XII  wohl  je  ausgeführt  hätte,  auch  wenn  er 
in  Kom  hätte  bleiben  dürfen. 

1)  Die  Erfindung  steht  dem,  was  die  Odyssee  X  248  ff.  den  Po- 
seidon beim  Scheiden  zu  Tyro  sagen  läßt,  so  nahe,  daß  man  sie  dem 
Manne  zuschreiben  möchte,  der  die  ßornulussage  nach  dem  Vorbild  der 
Tyrosage  (Trikber,  Rh.  M.  43,  1888,  570)  zuerst  novellistisch  ausgestal- 
tet hat,  also  Diokles  (s.  Krampf,  Die  Quellen  der  röm.  Gründungssage, 
Diss.  Lpz.  191 3,  3  ff.).  Fabius  Pictor,  dem  Plutarch  folgt  und  den 
Dionys  erst  c.  78  als  seine  Quelle  für  die  Geschichte  der  Zwillinge  nach 
der  Geburt  nennt,  hat,  was  bei  dem  Römer  sehr  begreiflich  ist,  auf 
dies  iivd-o)öiGTaTov  verzichtet  (wir  begegnen  der  Erfindung  außer  bei 
Dionys  und  der  aus  Dionys  schöpfenden  Origo  gentis  Rom.  22  nur 
noch,  bei  Konon  48,  der  sich,  wie  manche  Abweichungen  seines  weite- 
ren Berichts  von  Dionys  und  Plutarch  lehren,  au  Fabius  jedenfalls 
nicht  ausschließlich  gehalten  hat).  Zur  Beglaubigung  der  Vaterschaft 
des  Mars  (diesem  Zweck  dient  eigentlich  die  Erfindung,  s.  Dionys  I  78, 
4.  5)  scheint  dem  Fabius  die  wunderbare  Hilfe  von  Wölfin  und  Specht, 
den  heiligen  Tieren  des  Mars,  genügt  zu  haben  {oütv  ovx  rj^nota  nlcTiv 
itGxsv  ri  TfKOüea  rä  ßgitpr}  rsKStv  i'g  "Agsag  Plut.  Rom.  4,  ähnlich,  aber 
ohne  den  Specht,  Augustin  c.  d.  XVIII  21);  der  Specht  fehlt  bei  Dionys 
und  sonst  zumeist,  Fabius  erwähnte  ihn  {et  simul  vklebant  picum  Mar- 
timn  fr.  ann.  lat.  3  P.,  aus  Buch  I).  Ovid  hat  beides  vereinigt;  der 
Traum  deutet  der  llia  das  voraus,  was  ihr  bei  Dionys  Mars  prophe- 
zeit;   verstehen  wird  sie  ihn  freilich   erst    später    und   dann   erkennen. 


71,7]  OviDs  ELEGISCHE  Erzählung.  25 

die  sich  in  allem  sehr  wohl  zur  epischen  Darstellung  eignen 
würde.  Ovid  führt  einen  Zug  ein,  der  uns  literarisch  sonst 
nicht,  wohl  aber  durch  zahlreiche  bildliche  Darstellungen 
überliefert  ist:  Mars  sieht  die  Vestalin  schlafend.  Das  ge- 
staltet der  Dichter,  mit  liebevoller  Ausführung  des  einzelnen, 
zum  idyllischen  Bilde  eines  Flußufers  mit  schattigen  Weiden, 
Voo-elo-esans:  und  leis  murmelnden  Wellen,  die  das  ermüdet 
niedersitzende  Mädchen  in  Schlaf  wiegen;  er  vergißt  nicht 
hinzuzufügen,  daß  sie,  um  sich  vom  Winde  kühlen  zu  lassen, 
das  Gewand  von  der  Brust  verschoben  hatte.  Statt  hemsch 
zu  fordern  und  sich  dann  als  Gott  zu  offenbaren,  beschleicht 
Mars  die  Schläferin  und  verbirgt  divina  ope  seine  Tat:  als 
Silvia  erwacht,  weiß  sie  nicht,  was  ihr  geschehen  ist  (so  daß 
denn  jeder,  auch  der  leiseste  Verdacht  von  Schuld  schwinden 
muß).  Die  Voraussage  des  Gottes  aber  wird  zum  Traum 
umgewandelt,  den  Silvia  sich  dann,  während  sie  ihre  Urne 
füllt,  monoloo-isch  ins  Gedächtnis  zurückruft:    in  anmutigem 


flaß  er  wirklich  gottgesandt  war  (an  somno  clarius  illud  erat  v.  28).  Auf 
Mars  deutet  darin  das  Eingreifen  von  Wölfin  und  Specht,  der  aus- 
drücklich als  Martia  avis  bezeichnet  wird ;  auch  die  weitere  Erzählung 
nennt  ihn  (v,  54,  nicht  der  ausführlichere  Bericht  II  413  ß"-)-  —  I^^  ^^" 
merke  nebenbei,  daß  Ovid  ebenso  wie  Plutarch  (qu.  Rom.  21  öqvoko- 
/.ÜTttris  ri-s  inicfoix&v  iipmuit^v,  noch  ausführlicher  de  fort.  Rom.  8)  aus- 
drücklich sagt,  der  Specht  habe  die  Kinder  gefüttert:  nicht  gut,  denn 
die  Neugeborenen  brauchen  keine  Speise  außer  der  Milch.  Dem  ur- 
sprünglichen steht  wohl  näher,  was  Serv.  Dan.  zu  Aen.  I  275  berichtet: 
cum  eos  Faustulus  animadvertissct  mitriri  a  fera  et  picum  parraiiiqiie 
circumvolitare.  Die  parva  hat  nichts  mit  Mars  zu  tun,  aber  sie  ist,  wie 
der  Specht,  ausgesprochen  ein  "Weissagevogel,  unter  Umständen  glück- 
bedeutend im  altrömischen  wie  im  umbrischen  Ritual  (_s.  zu  Hör.  od. 
III  27,  i).  Nun  zeigt  der  Spiegel  von  Bolsena,  der  die  alimonia  Remi 
et  Romuli  darstellt  (abgebildet  z.  B.  Mjth.  Lex.  IV  207),  auf  dem  Baum 
zwei  Vögel,  von  denen  der  eine  deutlich  eine  kleine  Eule  ist:  das 
könnte  sehr  wohl  die  parra  sein,  deren  Natur  ja  noch  strittig  ist,  die 
aber  aus  anderen  Gründen  auch  schon  als  Schleiereule  aufgefaßt  wor- 
den ist.  Dann  hätten  die  beiden  Vögel  ursprünglich  nur  augurale  Be- 
deutung gehabt,  und  erst  um  die  nähere  Beziehung  zu  Mars  einzu- 
führen, hätte  man  (Fabius?)  die  parra  beseitigt  und  den  Specht  neben 
der  Wölfin  zum  Ernährer  gemacht. 


26  K'iciiAKi»  Kkin/j;:  |7',7 

Hilde  ist  daiiu  die  Geburt  der  Zwillinge  und  ihre  Hetlniii; 
vor  des  Oheims  iniirderischer  Absieht  sowie  die  eiii.sti<;e  Uröüe 
des  Roinulus  voriredeutct.  Die  Anref^unjjf  zu  dieser  Erlmduug 
wird  aus  Enuius'  Traum  der  Ilia  stamiiien  (ann.  35  fg.);  die 
Erfindung  selbst  geh()rt  vermutlieli  Ovid  ganz  zu  cigeu.  Er 
hat  naeh  Mögliehkeit  alles  vermieden,  was  Silvia  als  die 
unter  göttlieher  Willkür  Leidende  zeigen  künnie:  auch  im 
folgenden  ist  von  ihren  aej'umnae,  die  ilir  bei  Eunius  der 
Traum  kündet,  nichts  gesagt:  es  soll  keine  Ilühi'ung  erweckt, 
sondern  die  göttliche  Abstammung  des  Romulus  besungen 
werden,  und  das  geschieht  in  dem  der  Elegie  gemäßen  Stil. 
Die  Aussetzung  der  Zwillinge  und  ihre  Rettung  durch 
die  säugende  Wölfin  berichtet  Ovid  II  383  ff.  nach  der  durch 
Eabius  festgelegten  Tradition,  die  mit  geringen  A])weichun- 
gen  bei  Dionys,  Plutarch  (Romulus),  Livius  vorliegt.  Aber 
er  hat,  angeregt  wohl  durch  eine  abweichende,  uns  durch 
Plutarch  (fort.  Rom.  8)  und  Konon  überlieferte  Fassung  einer 
Einzelheit'),    die  fabianische  Erzählung   bereichert  durch   die 

i)  Bei  Fabius  eoUon  die  Zwillinge  im  Flusse  ausgesetzt  werden; 
der  ist  über  die  Ufer  getreten,  bo  daß  die  Diener  an  die  eigentliche 
Strömung  nicht  herankönnen  und  die  Wanne  im  flachen  Wasser  aus- 
setzen: das  ist  die  Rettung  der  Kinder.  Bei  Plutarch  und  Konon  soll 
der  Diener  die  Kinder  töten  (wie  Harpagos  den  kleinen  Kyros),  bringt 
das  aber,  als  iXst'jfiav  xccl  (ptXävd-Qconos.,  nicht  übers  Herz,  sondern  setzt 
die  Wanne  im  Tiber  aus.  Die  erstere  Fassung  erweist  sich  auch  sach- 
lich als  die  echte:  der  Sinn  des  Befehls  ist  ja  offenbar  (wenn  das  auch 
von  keinem  unserer  Berichterstatter  ausdrücklich  gesagt  wird),  das  Land 
von  der  Befleckung  durch  die  sündige  Geburt  dadurch  zu  reinigen,  daß  das 
fiLaßncc  fließendem  Wasser  überantwortet  wird:  nur  darum  müssen  die 
Diener  von  Alba  hundertundzwanzig  Stadien  weit  zum  Tiber  herab- 
steigen. So  werden  Zwittergeburteu  meist  zwar  ins  Meer  geworfen 
(lebendig  in  einer  Kiste  verschlossen :  Liv.  XXVII  37),  aber  gelegentlich 
auch  androgynus  in  flumen  deiectus  Jul.  Obs.  a.  133;  so  der  Vatermörder 
devehatur  in  profluentetn  Auct.  ad  Her.  I  23  {voluerunt  in  fhimen  deici 
Cic.  pro  Rose.  Am.  70),  mit  gleichem  Ausdruck  Livius  I  4  pneros  in 
profluentem  aijuam  mitti  iuhet  und  imperavit  deportari  ad  aquam  pro- 
ßuentcm  atqiie  eo  ahici  orig.  gent.  Rom.  22:  deportare  Terminu.s  der 
Prodigiensühnungen.  —  Daß  übrigens  Ovid  sich  nicht  etwa  ausschließ- 
lich  an  Livius   gehalten    hat,    lehrt    eine    unscheinbare,    aber  beweis- 


I 


71,7]  üviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  27 

rührselige  Schilderung  der  mit  der  Aussetzung  beauftragten 
ministri,  die  sich  nur  widerwillig  zur  Ausführung  der  iussa 
lacrimosa  entschließen,  am  Ort  der  Tat  zärtliche  Worte  über 
die  Kleinen  und  ihre  unglückliche  Mutter  sprechen  und  end- 
lich mit  nassen  Wangen  heimkehren:  ein  echt  elegisches  Mo- 
\tiv,  durch  das  statt  des  öelvöv  des  Mordbefehls  vielmehr  das 
/  i/isstvöv  des  Hergangs  in  den  Vordergrund  tritt. 

Die  Aufnahme  der  Zwillinge  durch  Lareutia  und  Faustu- 
lus  sollte  bei  den  Larentalia  im  12.  Buch  erzählt  werden: 
aus  der  Ankündigung  III  55  fg.^)  ist  zu  schließen,  daß  wir  eine 
Schilderung  des  ärmlichen  Haushaltes  des  Ehepaares  erhalten 
haben  würden,  dessen  Gegensatz  zur  göttlichen  Abkunft  und 
künftigen  Größe  des  Komulus  betont  worden  wäre,  also  ein 
Gegenstück  zur  Aufnahme  der  Götter  bei  Hyrieus  oder  der 
Ceres  bei  Celeus. 

Den  Brauch,  daß  bei  der  Feier  der  Lupercalia  die  Lu- 
perci  nackt  laufen,  erklärt  Ovid  II  361  ff.  durch  eine  Ge- 
schichte, die  in  eigentümlicher  Weise  Motive  der  verschiede- 
nen uns  sonst  bekannten  Ätiologien  in  sich  vereinigt.  Die 
eine  Gruppe  der  Erklärer  schrieb  die  Einführung  des  Festes 
dem  Euander  zu  und  bezeichnete  die  Riten  als  arkadisch^), 
die  andere,  wie  es  scheint  ältere  Lehre  faßte  die  Lupercalia 
als  einheimisch  römisch  und  führte  ihre  Stiftung  auf  Romu- 

kräftige  Abweichung :  Livius  läßt  die  Kinder  (wie  auch  Plut.  fort.  Rom. 
8)  beim  ruminalischen  Feigenbaum  aussetzen;  bei  Ovid  werden  sie, 
wie  bei  Varro  1.  1.  V  54,  Konen  u.  a.  von  der  sanften  Strömung 
zu  jenem  hingetragen.  Das  ist  gewiß  das  Echte:  der  Diener  glaubt 
seine  Pflicht  erfüllt,  als  er  die  Wanne  wegschwimmen  sieht,  und  küm- 
mert sich  nicht  um  das  weitere. 

i)  non  ego  te,  tantae  nutrix  Larentia  gentis  nee  taceam  vestras 
Faustule  pauper  opes. 

2)  So  Q.  Aelius  Tubero  (bei  Dionys.  I  80),  der  hierin  wohl  seinem 
Zeitgenossen  Varro  folgte:  de  gente  pop.  Rom.  III  29  Fracc.  (=  Augu- 
stin. c.  d.  XVIII  16)  Fomanos  etiam  Lupercos  ex  illorum  mysteriorum 
(nämlich  der  arkadischen  Lykaiosfeier)  semine  dicit  exortos.  Fabius 
Pictor  dürfen  wir  zu  dieser  Gruppe  nicht  zählen;  die  Notiz  bei  Dionys 
I  79,  8  ist  keineswegs  mit  Sicherheit  auf  ihn  zurückzuführen.  Nach 
Tubero  Livius  I  5. 


28  Richard  IIkinzk:  |7',7 

Ins  und  Kemus  zurück;  man  erzählte  entweder,  die  Brüdir 
seien  einst  liäubeni,  die  ihre  Ilordou  entiTihrt  hatten,  nackt, 
um  im  Lauf  nicht  behindtM't  zu  sein,  Uiich^esetzt');  oder  man 
führte  das  Fest,  um  seinen  ausgelassen  lustigen  Charakter  zu 
motivieren,  auf  ein  Sieges-  oder  Freudenfest  zurück,  das  die 
Brüder  nach  dem  Sturz  des  Amulius  begangen  hätten^);  aus 
dem  Übermut  der  Festfreude  leitete  man  auch  den  Brauch 
ab,  daß  die  Luperci  die  Begegnenden  mit  Riemen  schlugen: 
das  ließ  sich  in  jene  andere  Ätiologie  nur  sehr  gezwungen 
einführen.  Bei  Ovid  feiern  die  Brüder  mit  ihrer  turhu  dem 
Faunus  in  althergebrachter  Weise  ein  Opferfest  —  dies  be- 
steht also  bereits  und  gilt  nach  v.  277  ff.  als  von  Euander 
eingeführt  —  und  vergnügen  sich,  während  die  exta  braten, 
nudi  an  fröhlichen  Spieleu  (jjcr  lusus:  das  geht  au'f  die 
Lustigkeit   der   Luperealien  )^);    da  wird   der   Raub    gemeldet 


i)  So  unser  ältester  Gewährsmann  C.  Acilius  (bei  Plut.  Rom.  21): 
als  die  Herde  des  Romulus  (noch  vor  der  Stadtgründung)  abhanden 
gekommen  ist,  beten  er  und  seine  Leute  zu  Faunus  und  laufen  dann 
nackt,  oncog  vnb  tov  lögwtog  uij  ivo^J^oivro,  auf  die  Suche.  Ganz  ähn- 
lich Servius  Dan.  aon.  VIII  343:  den  Brüdern  wird  gemeldet,  daß  Räu- 
ber ihr  Vieh  wegtreiben ;  illos  togis  positis  cncurrisse  caesisque  obvvs 
(dies  das  atriov  für  die  Riemenschläge)  jiectts  rccupcrosse. 

2)  So  der  ätiologische  Dichter  Butas  (der  P'reigelassene  des  jün- 
geren Cato?)  bei  Plut.  Rom.  21 :  die  Brüder  laufen  ^lstu  x<^Q^s  nach 
gelungenem  Handstreich  auf  Alba  zum  Lupercal;  daraus  entsteht  die 
jährliche  Feier  als  ry  Xvy.cävj]  x<^QiaTriQi<x  ^al  rgofftla  xal  oom'iQic'.  'Pa- 
livXov.  In  der  gleichen  Richtung,  wenn  auch  im  einzelnen  stark  di- 
vergierend, liegen  die  Erklärungen  des  Valerius  Maximus  II  2,  9  (der 
das  Freudenfest  durch  die  von  Numitor  gegebene  Erlaubnis  zur  Stadt- 
gründung motiviert)  und  der  Origo  g.  R.  22. 

3)  Dies  künstlerisch  sehr  glückliche  Motiv  hat  wohl  erst  Ovid 
eingeführt,  der  sich  die  Hirten  nicht,  wie  Valerius,  als  togati  denken 
mochte,  und  dem  es  mißfiel,  daß  die  reisigen  Brüder  sich  davor  ge- 
scheut haben  sollten,  beim  Lauf  in  Kleidern  zu  schwitzen.  Daß  Ovid 
dem  Romulus  und  Kemus  gymnastische  Spiele  griechischer  Art  (Faust- 
kampf!) zuschreibt,  kann  auffallen;  aber  auch  Ennius  hatte  die  caeatus 
bei  den  Spielen  erwähnt,  die  er  den  Romulus  nach  der  Einweihung 
des  Tempels  des  Juppiter  Feretriua  abhalten  läßt  —  falls  der  Notiz 
der  schol,  Bern,  zu  georg.  II  384  (ann.  I  fr.  LI  V.)    ganz   zu   trauen  ist. 


71,7]  OVIDS   ELEGISCHE   EuZÄHLUNG.  2g 

und  die  beiden  laufen  nackt  wie  sie  sind  (lonr/mn  erat  ar- 
mari)  nach  verschiedenen  Seiten  auf  die  Suche.  Daran  schließt 
sich  eine  sonst  nirgends  überlieferte  Erzählung,  daß  Remus 
und  seine  Fabier,  vom  Glück  begünstigt,  als  Sieger  zuerst 
heimsrekehrt  seien  und  sich  zur  Belohnung  die  inzwischen 
gebratenen  exta  zu  Gemüte  geführt  hätten^):  liaec  certe  non 
nisi  Victor  edef.  Romulus,  der  bei  der  Rückkehr  mit  seinen 
Quinctiliern  die  Tische  leer  und  die  Knochen  abgenagt  findet^), 
faßt  es  nicht  tragisch  auf,  daß  er  außer  dem  Ruhm  auch 
um  den  Festtagsbraten  gekommen  ist:  risit  et  incloluit.  Die 
RoUe,  die  der  Heros-Stadtgründer  in  dieser  lustigen  Ge- 
schichte spielt,  kann  uns  nicht  wundernehmen,  da  doch  in 
der  Elegie  selbst  die  Götter  es  sich  gefallen  lassen  müssen, 
zum  besten  gehabt  zu  werden.  —  Das  ahiov  für  die  Riemen- 
schläge der  Luperci,  von  denen  die  Frauen  Fruchtbarkeit  er- 
hofften, trennt  Ovid  geflissentlich  von  dem  eben  besproche- 
nen, räumlich  wie  auch  zeitlich  und  sachlich^).     Er  schreibt 

i)  Das  ist,  wie  man  längst  gesellen  hat,  der  Geschichte  von  den 
Potitii  und  Pinarii  beim  Herkulesopfer  nachgebildet  (Liv.  I  7,  I3).  Es 
ist  sehr  wohl  möglich,  daß  dem  collegium  der  Luperci  Fabiani  bei  der 
Feier  ein  Vorrecht  zukam,  zu  dessen  Erklärung  dies  alriov  dienen  soll 
(es  mag  nur  darin  bestanden  haben,  daß  die  Fabiani  zuerst  liefen,  die 
Quinctiliani  in  einem  gewissen  Abstand  folgten:  rmv  «fiqpt  'Pcoavlov  rs 
Kai  aXXcov  varsQi^ovrcov.  tql^'^  yaQ  sveve^rivTO  xal  #x  diccöf^iiaros  ^&eov 
Tubero  bei  Dionys  I  80);  für  denkbar  halte  ich  aber  auch,  daß  Ovid  ganz 
auf  eigne  Faust  den  Zug  aus  der  Herkuleslegende  übernommen  oder 
doch  umgebildet  hat,  um  seiner  Erzählung  einen  lustigen  Abschluß 
zu  geben. 

2)  men^as  ossaque  nuda  videt:  es  ist  also  gemeint,  daß  er  über- 
haupt nichts  vom  Opferschmaus  bekommt  (die  exta  im  eigentlichen 
Sinne  haben  keine  Knochen),  während  Livius  a.  a.  0.  die  exta,  die  den 
Potitii  vorbehalten  blieben,  von  den  cetera  daps  unterscheidet  —  viel- 
leicht nur  aus  Mißverständnis  jener  weiteren  Anwendung  des  Wortes. 

3)  Die  oben  erwähnten  Datierungen  des  Ursprungs  der  Luperca- 
lien  in  die  Zeit  vor  der  Stadtgründung  hatten  das  Mißliche,  daß  die 
Bedeutung  der  Schlä^re  als  Fruchtbarkeitszaubers  dabei  keine  Stelle 
finden  konnte:  römische  Frauen  gab  es  ja  damals  noch  nicht.  Man 
half  sich  entweder  damit,  daß  man  die  Schläge  von  Anfang  an  an  alle 
'Begegnenden'  austeilen  ließ  (so  Butas  u.a.),  oder  indem  man  —  so  Ovid 


30  RiCHAiiD  IIkinze:  [7i,7 

die  Kiutuliruiig  zwar  aucli  Koinulus  /u,  aber  dorn  Ktlnig  Uo- 
mulus;  er  führt  sie  auf  ein  Orakel  der  Juno  zurück,  und  man 
vermißt  in  seiner  Erzähluni^  jeden  Zusammenliau«^  mit  der 
Luperealienfeier. ^)  So  wird  die  Geschichte,  ganz  in  der  Art 
so  vieler  Fastenerzählungen,  zu  einer  Aretalogie  der  Juno 
Lucina  verselbständigt,  au  die  sich  das  Schluügobet  11  451 
wendet:  dieser  Tendenz  dient  die  Ausmalung  der  verzweifel- 
ten Lao-e,  in  die  Rom  durch  die  Unfruchtbarkeit  versetzt  ist: 
schon  bereut  Romidus,  dessen  Klagen  wir  hören  —  als  Heros 
erscheint  er  auch  hier  nicht  — ,  den  Raub  der  Sabineriunen; 
Männer  und  Frauen  beten  kniefällig  im  heiligen  Ilain  der 
Juno:  da  vernimmt  Juan  ihren  Rätselspruch,  den  erst  ein 
glücklicherweise  anwesender,  aus  Etrurien  vertriebener  Seher 
löst:  auch  dies  ein  l)eliebtes  ovidisches  Motiv^),  das  den 
glücklichen  Ausgang  als  solchen  stärker  empfinden  läßt. 

Die  Erzählung  von  der  Gründung  Roms  (IV  807 — 862)  ist 
im  wesentlichen  nur  versifizierte  Geschichte  mit  panegyrischer 
Tendenz:  es  ist  beim  Augurium  sowohl  wie  dann  bei  Remus' 

—  eine  Teilung  der  Ätiologien  vornalim.  Der  für  die  citsarische  Zeit 
bezeugte  Brauch  (s.  die  Stellen  bei  Otto  R.  E.  VI  2067),  alle  'Be- 
gegnenden' zu  schlagen,  mag  jene  erstere  Fassung  gestützt  haben;  aber 
es  ist  mir  sehr  zweifelhaft,  ob  jener  erweiterte  Gebrauch,  wie  Otto 
a.  a.  0.  annimmt,  der  ursprüngliche  ist  und  die  Zeremonie  allgemein 
als  ßeinigungszauber  zu  gelten  hat  (zweifelnd  auch  Dkubnku,  Arch.  f. 
Rel.-W.  XIII  495);  es  ist  doch  zu  beachten,  daß,  wie  aus  Plut.  Rom.  21 
Caes.  61  zu  schließen,  nur  die  jungen  Frauen  sich  den  Schlägen  frei- 
willig darboten,  also  Segen  von  ihnen  erhofiten.  Daß  die  Riemen,  wenn 
sie  einmal  geschwungen  wurden,  spaßeshalber  auch  Männer  und  Kinder 
trafen,  ist  auch  ohne  religiösen  Hintergi'und  begreiflich  genug.  Den 
Versuch  Ungers,  aus  unserer  Überlieferung  das  Riemenschlagen  als 
eine  im  3.  Jahrh.  erfolgte  Erweiterung  des  Ritus  zu  erweisen,  hat  Otto 
a.  a.  0.  mit  Recht  abgelehnt;  s.  auch  Wissowa,  Kel.  d.  R.  210,  5. 

i)  In  den  Worten  der  Juno  Italidas  matres  sacer  hircus  inito 
eine  Hindeutung  auf  des  Faunus  Namen  Inuus  zu  sehen,  liegt  freilich 
nahe;  aber  Ovid  hat  diesen  Namen  vorher  nicht  erwähnt;  auch  läßt 
er  dem  Faunus  keinen  Bock,  sondern  eine  Ziege  opfern  (v.  361)  und 
sagt  kein  Wort  von  der  Umgürtung  der  Luperci  mit  dem  Fell  des 
Opfertiers. 

2)  IV  261.  668.  VI  389. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  31 

Tod  nach  Möglichkeit  alles  beseitigt  oder  gemildert,  was 
einen  Schatten  auf  den  Geburtstag  der  Stadt  Rom  fallen 
lassen  könnte.^)  Poetisch  gestaltet  ist  erst  der  Schluß  der 
Erzählung:  wie  Romulus  die  Trauer  über  den  Verlust  des 
Bruders  mannhaft  bezwingt,  ganz  nur  König;  wie  aber  dann, 
beim  Leichenbegängnis,  die  unterdrückte  Empfindung  der 
brüderlichen  Liebe  sich  doch  gewaltsam  Bahn  bricht,  Faustu- 
lus  und  Acca  sich  mit  ihm  in  Klage  vereinen.  Hier  hat  Ovid 
in  eigentümlicher  Weise  sich  die  seltsame  Erfindung  zunutze 
gemacht,  die  wir  bei  Dionys  I  87  lesen:  Romulus  habe,  in 
Trauer  und  Reue  über  den  Brudermord  (Remus  ist  hier  in 
der  Schlacht   gefallen),    am  Leben   verzweifelt    und    sei    erst 

i)  Bei  Livius  entzweit  regni  cupido  die  Brüder,  atque  inde  foedum 
certamen  coortum  a  satis  viiti  principio  (I  6);  bei  Dionys  (I  85  fF.)  ent- 
steht gleichfalls  der  Streit  um  den  Ort  der  Stadtgründung  aus  Herrsch- 
sucht, i/.  J&  ri]g  (ptlovSLY.iag  ravtr]g  ccv.oivmvritog  sv&vg  inttdrilovxo  (pil- 
uQXicc,  Numitor  beschwichtigt  die  ordcig  durch  den  Rat  zum  Aug-u- 
rium,  auf  das  die  beiden  sich  bei  Livius  und  Plutarch  (Rom.  1 9)  selbst 
einigen.  Bei  Ovid  sehr  harmlos  amhigüur,  moenia  ponat  uter,  und  so- 
dann Romulus,  versöhnlich  und  verständig,  'non  opus  est  certamine 
ullo:  magna  fides  avium  est,  experiamtir  aves'.  Sodann  nichts  von  Streit 
über  die  Deutung  des  Augurium  (Livius,  Dionys)  oder  gar  von  Betrug 
des  Romulus  (Dionys,  Plut.),  was  dann  zu  blutigem  Kampfe  führt; 
sondern  das  Augurium  entscheidet  unzweideutig  und  unbestritten: 
pado  Statur,  et  arhitrium  Eomulus  urbis  habet.  Remus  springt  über 
die  Mauer,  nicht  um  den  Bruder  und  seiu  Werk  zu  verhöhnen  (Liv., 
Plut.,  Dionys.),  sondern  um  zu  zeigen,  daß  die  Mauern  zu  niedrig  sind, 
um  das  Volk  zu  schützen  Qiis  piopiüns  tutus  erit?),  ohne  zu  wissen, 
daß  Romulus  solches  Tun  mit  dem  Tode  bedroht  hatte.  Celer,  der 
Bauführer  des  Romulus,  nicht  Romulus  selbst,  tötet  den  Remus:  Ovid 
entscheidet  sich  (wie  Dionys)  für  die  mildere  der  beiden  überlieferten 
Fassungen  (Plut.),  während  zumeist  (Cic.  off.  III  41,  der  die  Tat  aus 
Romulus'  Herrschsucht  herleitet,  das  Vergehen  des  Remus  als  schlecht 
gewählten  Vorwand  bezeiöhnet;  Livius;  Horaz  ep.  7,  17  u.  a.)  nur  Ro- 
mulus genannt  wird;  aber  auch  Celer  ist  durch  jenes  Gebot  des  Ro- 
mulus, der  natürlich  an  Remus  dabei  nicht  denken  konnte,  entschul- 
digt; so  erscheint  der  scelus  fraternae  necis  hier  als  eine  Reihe  ver- 
hängnisvoller Zufälle  (mehr  noch  als  in  der  Erzählung  Diodors  VIH  6, 
der  die  ovidische  am  nächsten  steht;  dort  hat  Romulus  seine  allge- 
meine Warnung  doch  schon  im  Zorn  über  Remus'  Spott  gegeben). 


32  T\i('ii\i!i)  TTi.in/.k:  [7',7 

durch  das  trr)stliehe  Zuroden  der  Larontiii  wiedoi-  uuigt'ricliti't 
worden.  Be/eielmeud,  daß  Ovid  g(M"adc  dies  Motiv  für  die 
Kle«j;ie  brauchbar  fand:  die  Wendun^^,  die  er  ilmi  {.jil)t,  zeijjjt 
friMÜch  den  Koinulus,  in  dem  die  Meuschliclikeit  über  starre 
llerrscherpHicht  siegt,  in  ungUich  liel)ens\vürdigeror,  wenn  auch 
keineswegs  heroischer  Beleuchtung. 

Die  unniittelbai"  anschließi'nde  Fortsetzung  lesen  wir  V^ 
451 — 484,  wo  die  Leniuria,  i'rüher  Heniuria,  als  Stiftung  des 
Koniulus  zu  Ehren  des  Bruders  erklärt  werden.  Dies  cciriov 
ist  schwerlich  Ovids  Erfindung:  die  Ausführung  aber,  ganz 
im  Stile  der  Fastendichtuug,  wird  ihm  geliören.  S(!rvius 
(zu  Aeu.  I  276)  weiß  von  einer  Pest,  die  nach  liemus'  Ermor- 
dung ausgebrochen  sei;  ein  Orakel  habe  geraten,  die  zürnen- 
den Manen  des  Remus  zu  versöhnen:  das  sei  dadurch  ge- 
schehen,  daß  Romulus  bei  allen  Regierungshandlungen  einen 
zweiten  Thron  mit  den  Königsinsignieu  neben  dem  seine)i 
aufstellen  ließ,  ut  imriter  imperare  vidercntur.  In  dieser  Ge- 
schichte, die  mir  gar  nicht  nach  dem  billigen  Autoschediasma 
eines  leichtsinnigen  Scholiasten  aussieht,  sind  uns  die  Haupt- 
motive, Rache  eines  ungerecht  Getöteten  und  Versöhnung  der 
Seele  auf  Geheiß  des  Orakels,  aus  griechischen  Heroenlegen- 
den wohl  vertraut^);  für  die  seltsame  posthume  Ehrung  da- 
gegen kenne  ich  als  Analogon  nur  den  Beschluß,  der  zu 
Ehren  des  verstorbenen  Germanicus  gefaßt  wurde  (Tac.  ann 
H  83):  bei  allen  Sitzungen  der  sodales  Augustales,  zu  denen 
Germanicus  seit  Begründung  des  Kollegiums  gehört  hatte, 
sollte  ihm  eine  sella  curulis  mit  dem  Eichenkranz  aufgestellt 
werden.  In  Rom  ist  dies  höchstwahrscheinlich  der  erste  Fall 
dieser  Art   gewesen,    und    denkbar    ist,    daß    der   Thron   des 


i)  Beispiele  genug  nennt  Denekens  Artikel  'Heros'  in  Roscheus 
Myth.  Lex.,  besonders  p.  2488  fg.  2520.  Auch  die  von  Virgil  am  Schluß 
der  Georgica  erzählte  Orpheus-Aristaeusgeschichte  ist  nach  diesem 
Muster  erfunden;  die  (unorganische)  Einführung  der  Nymphen  als  der 
unmittelbaren  Senderinnen  des  Unheils  (IV  532)  erklärt  sich  wohl  dar- 
aus, daß  die  dem  Heroenglauben  zugrunde  liegende  religiöse  Yor- 
stellunsf  römischem  Denken  fremd  ist. 


71,7]  OVIDS   ELEGISCHE   ErzÄHLUNG.  '  33 

toten  Reinus  nach  diesem  Vorbild  erfunden   ist^);    aber  man 
muß  auch  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  die  Ehrung  des 

i)    Der   Erfindung  Hegt  die  Vorstellung    zugrunde,    daß    Remus, 
-n^enn  er  am  Leben  geblieben  wäre,   ein  Anrecht   auf  die  Königswürde 
neben  Romulus  gehabt  hätte :    dieselbe  Vorstellung,    die  wir  u.  a.  bei 
Cicero  a.  a.  0.  finden.     Ihre  Voraussetzung  wieder  ist,  daß  das  Augu- 
rium  sich  nicht,  wie  bei  Ennius,  auf  die  Frage  bezog,  wer  in  der  neuen 
Stadt  herrschen  solle  (oder,  was  auf  dasselbe  hinausläuft,  wer  sie  grün- 
den und  nach  seinem  Namen   taufen  solle:    denn   die   Unterscheidung 
des  Dionys,  der  durch  das  Augurium  nur  die  jjysfiovia  der  neuen  Ko- 
lonie, nicht  aber  die  Regierungsform  der  neuen  Stadt  entschieden  sein 
läßt,  ist  offensichtlich  seine  eigene  aus  Freude  an  staatsrechtlichen  Fi- 
nessen geborene  Erfindung),  sondern  auf  die  Frage,  wo  die  neue  Stadt 
gegründet    werden    solle:    aus   deren  Beantwortung    sich  freilich  dann 
weiter  ergab,  daß  Romulus  den  Stadtbau  in  die  Hand  nahm,  aber  nicht, 
daß   er  ihr  Alleinherrscher   wurde.     Wenn  Virgil  Aen.  I  276  im  neuen 
Rom   des   Augustus    Remus    mit    Romulus   gemeinsam    herrschen    läßt 
(wobei  jeder  Gedanke   an  Augustus  und  Agrippa  fernzuhalten  ist),    so 
bedeutet    das    die    Beendigung    des    durch   Herrschsucht    verursachten 
Bürgerkrieges,  als  dessen  Prototyp  der  Kampf  der  Brüder  gilt.     Nach 
der   älteren    (enuianischen)   Legende   dagegen    gilt    die  Herrscherfrage 
als  durch  das  Augurium  zweifellos  in  dem  Sinne  entschieden,  daß  Ro- 
mulus, nicht  Remus  König  wird;    der  Tod  des  Remus  hat  also  staats- 
rechtliche Folgen  nicht  mehr;  Moilmsens  Deutung  (Hist.  Sehr.  I  18),  daß 
diese  Legende  an  die  Spitze  der  Königsgeschichte  analog  dem  Konsu- 
lat die  DoppelheiTschaft  eines  fungierenden  und  eines  nicht  fungieren- 
den Königs  habe  stellen  wollen,  findet  in  der  antiken  Tradition  keine 
Stütze  (und  damit  fällt  seine  Auffassung  des  Remus  als  einer  'staats- 
rechtlichen Personifikation').  Die  Nachricht  des  Cassius  Hemina  (fr.  1 1 P.) 
pastormn    vulgus   sine   contentione   consentiende  praefecerunt  aequaliter 
impeno  Eemum  et  JRomulum,   ita  ut  de  regno  pararent  inter  se,   offen- 
bar der  eigentliche   Ausgangspunkt    für   Mommsens  Konstruktion,    soll 
nur   den    angesichts    der  späteren  Königswahlen  auffallenden  Umstand 
motivieren,    daß  nicht  das  Volk  den  einen  der  Brüder  zum  König  be- 
stimmt, sondern  es  ihnen  überlassen  bleibt,  die  Entscheidung  zu  finden, 
nämlich    durch    das    zwischen    ihnen    vereinbarte    Augurium    (was  die 
Stiftung  des  Heiligtums  der  'grunzenden  Laren',  von  der  anschließend 
die  Rede  ist,  mit  der  Königsfrage  zu  tun  hat,  wissen  wir  freilich  leider 
nicht);    dem  Ergebnis  dieser  Entscheidung  hat  sich  das  Volk  im  vor- 
aus unterworfen,    also    auf  sein  Wahlrecht  nicht  prinzipiell  verzichtet. 
—  Übrigens  bemerke  ich,  daß  Keetschmers  (Glotta  I  301)  Ableitung  der 
Legende  von  Remus'  Tod  aus  der  Sitte  des  *■  Bauopfers'  sich  weder  auf 

Phil.-hiat.  Klasse  1319.    Bd.  LXXJ.  7.  3 


34  HicnAKi)  Hf.inze:  l7'.7 

Germiinicus  helleiustisi'he  Vorffi'mger  luittf.  In  den  »^rioclü- 
jscheu  ljt>gendt.'n  wiitl  ilcr  Heros  gewöhnlich  durch  Stiftung 
eines  Kults  fnit  jährlich  wiederkehrendem  Opfer  versöhntrj 
darauf  eben  läuft  die  ovidiscbe  Er/ählung  hinaus.  Die  Trauiu- 
erseheinuug  des  getöteten  Kemus  dagegen  ist  ein  rein  poeti- 
sches, nicht  eigentlich  legendäres  Motiv  (Patroklos — Culex, 
um  zwei  sehr  disparate  Beispiele  zu  nennen :  da  bittet  die 
Seele  um  Bestattung  des  Leichnams;  in  jenen  Legenden  tut 
sich  die  Macht  des  Heros  kund  ganz  in  derselben  W^eise  wie 
sonst  der  Zorn  einer  Gottheit);  seine  Einfüiirung  ist  dem 
etymologisierenden  Antiquar,  der  das  alriov  der  Lemuria  er- 
fand, schwerlich  zuzutrauen,  sehr  wohl  aber  dem  Ovid.  Fand 
dieser  bei  seinem  Gewährsmann  die  Pest  und  das  Orakel'), 
so  ist  es  sehr  begreiflich,  daß  er  dem  die  Traumerscheinung 
substituierte:  das  ist  ganz  im  Stil  seiner  elegischen  Dichtung. 
Das  nächstliegende  wäre  ja  gewesen,  daß  der  Schatten  des 
Remus  dem  Romulus  selbst  erschiene,  der  über  die  Erfüllung 
seines  Wunsches  zu  befinden  hat;  aber  rührender  ist  die  Vor- 

Properz'  Wendung  (III  9,  50)  caeso  moenia  firma  licmo  noch  auf  irgend 
sonstige  antike  Tradition  berufen  darf;  Properz  meint  nur,  daß  die 
Festigkeit  der  Mauern  insofern  durcli  Remus'  Tod  gewälirleistet  ist, 
als  jeder  Angreifer  nun  weiß,  was  er  zu  gewärtigen  hat.  An  die  sanc- 
titas  der  Mauern,  die  für  den  römischen  Bürger  Geltung  hat  (Pompon. 
Dig.  18,  11),  denkt  also  Properz  so  wenig  wie  Ovid  {'sie  meos  muros 
franseat  hostis^  848),  und  es  ist  mir  sehr  zweifelhaft,  ob  der  Erfinder 
der  Geschichte  anders  gedacht  und  die  Unverletzlichkeit  des  Mauer- 
rings im  Gegensatz  zu  den  Toren  hat  symbolisieren  wollen  (Mommse.\, 
p.  19  nach  ScHWEGLEK  Pi.  G.  I  348,  wo  die  antiken  Vertreter  dieser  Auf- 
fassung zitiert  sind). 

i)  An  welche  Fassung  der  Legende  vom  Tod  des  Remus  sich 
diese  Erfindung  ursprünglich  anschloß,  bleibt  dahingestellt.  Servius 
läßt  (zu  Aen.  I  273.  VI  779)  Remus  in  dem  Kampfe  fallen,  der  infolge 
der  zweifelhaften  Entscheidung  des  Auguriums  entstand,  und  lehnt  die 
(ovidiriche)  Version,  daß  Remus  wegen  des  Mauersprungs  getötet  wurde, 
als  fabulosum  ab;  damit  ist  noch  nicht  gesagt,  daß  dies  auch  der 
Standpunkt  dessen  war,  der  die  Sühnungsgeschichte  erfand.  Aber  die 
Einführung  des  allgemeinen  Sühnefestes  der  Lemuria  erscheint  aller- 
dings besser  motiviert,  wenn  nicht  ein  einzelner,  sei  es  Romulus  oder 
Celer,  für  den  Tod  verantwortlich  ist. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  ErzÄHLUXG.  ;^ ^ 

Stellung,  daß  das  greise  Paar  der  Adoptiveltern,  die  soeben 
heiße  Tränen  über  der  Asche  des  Sohnes  geweint  haben,  nun 
den  blutigen  Schatten  sehen,  und  die  pietas  des  Königs  Ro- 
mulus,  die  der  getötete  Bruder  anerkennt,  tritt  in  noch 
helleres  Licht,  wenn  sie  sich  auch  der  Fürbitte  der  Eltern 
gegenüber  bewähren  kann. 

Aus  dem  Sabinerkrieg,  der  sich  an  den  Raub  der  Jung- 
frauen anschloß  —  dieser  selbst  sollte  bei  den  Consualia  zum 
21.  August  berichtet  werden  (III  199)  —  erzählt  Ovid 
I  263—276  die  Episode  von  der  Errettung  Roms  durch  Janus, 
der  den  Feinden  das  Eindringen  in  ein  durch  Juno  geöif- 
netes  Tor  verwehrt,  indem  er  eine  heiße  Quelle  hervor- 
sprudeln läßt  und  so  den  Weg  versperrt.  ^)  Das  ist  ein  knapper, 
schmuckloser  Bericht,  bei  dem  wir  nicht  zu  verweilen  brauch- 
ten: aber  lehrreich  für  den  Abstand  des  epischen  Stils  ist 
die  Umgestaltung,   die  dieser  Bericht  in  den  Metamorphosen 

i)  Die  älteste  erreichbare  Form  der  von  den  Historikern  nicht  er- 
wähnten Geschichte  liegt  bei  Macrobius  sat.  I  9,  19  vor.  Da  ist  sie 
das  ai'riov  für  die  öffnung'der  Januspforten  im  Krieg,  bei  Ovid  da- 
gegen für  die  besondere  Heiligkeit  des  Janus  Geminns,  in  dem  allein 
der  Gott  ein  Standbild  hat:  jenes  offenbar  das  Ursprüngliche,  denn  das 
geöffnete  Tor  steht  ja  im  Mittelpunkt  der  Geschichte.  Mit  dieser  Ab- 
weichung hängt  die  veränderte  Auffassung  von  Janus'  Tat  zusammen: 
bei  Macrobius  ist  Janus  ein  kriegerischer  Gott,  der  den  Römern  zur 
Hilfe  kommt  (ea  re  placitiim,  ut  belli  tempore  velut  ad  urhis  auxiUum 
profccto  deo  fores  reserarentur)  und  dessen  heißer  Quell  ganze  Scharen 
der  anstürmenden  Feinde  vernichtet;  wenn  das  Tor  sich  auf  geheim- 
nisvolle Weise  immer  wieder  von  selbst  öffnet,  so  ist  klärlich  gemeint, 
daß  Janus  selbst  das  bewirkt,  um  sich  jenen  Angriff  zu  ermöglichen. 
Für  Ovid  dagegen  ist  Janus  ein  Hüter  des  Friedens  {nü  mihi  cum 
hello:  pacem  postesqiie  tuebar  253:  das  gilt  nicht  nur  für  die  Vergan- 
genheit, denn  Ovid  fährt  fort  et  clavem  ostendens:  haec  ait  arma  gero, 
und  betet  dann  zum  Gott  um  ewigen  Frieden  287).  Da  ist  die  Bedeu- 
tung maßgebend,  die  das  Symbol  der  Schließung  des  Janustempcls  in 
Augustus'  Friedenspolitik  gewonnen  hat.  So  greift  denn  auch  Janus 
bei  Ovid  die  Feinde  nicht  an,  sondern  versperrt  nur  (als  Hüter  der 
Tore)  den  Weg;  und  somit  kann  er  nicht  selbst  das  Tor  geöffnet 
haben:  an  seine  Stelle  tritt  Juno.  Der  Ersatz  der  ursprünglichen  Spitze 
der  Geschichte  durch  eine  andere  war  hiermit  gefordert. 

3* 


36  KiciiAui)  IIkin/.ic:  [71.7 

XU'  778  —  804  erführt.  Dim-  Unterschied  lie^t  nicht  nur  in 
der  «größeren  Ausiuhrlichkeit  nnd  darin,  (h\Ü  die  Metamor- 
phosen statt  dos  im  Grunde  auf  cinon  einzigen  Moment  he- 
^^ehriinkten  Berichts  eine  reich  o;(;gliodertc  l'ortschreitoude 
lluudhing  geben;  es  linden  sich  uucli  sachliche  Abweichungen. 
Um  in  die  Metamorpliosen  zu  passen  ((^vid  hält  es  offenbar 
für  angezeigt,  irgend  etwas  aus  dor  Hegierungszeit  des  ersten 
römischen  Königs  zu  erzählen),  mußte  die  Legende  auf  eine 
'Verwandlung'  hinauslaufen;  es  hätte  dem  die  Verwandlung 
des  Orts  genügt^);  Ovid  läßt  vielmehr  die  Nymphen  einen 
eiskalten  Quell,  der  schon  früher  hier 'taute',  in  einen  glühend 
heißen  Fluß  verwandeln.  Die  Nymphen,  nicht  Janus,  zu  dessen 
Wesen  sich  solches  Tun  nicht  in  Beziehung  setzen  ließ^); 
aber   die  Nymphen    nicht  aus   eignem  Antrieb,    sondern    auf 


i)  Fast.  274  quae  fuerat,  tuto  reddita  forma  loco  est. 

2)  Fast.  268  ipse  nieae  movi  callidus  artis  opua,  oraque,  qua  pollens 
ope  sum,  fontatia  reclusi.  Ich  «glaube  nicht,  daß  Janus  hier  als  'Quellengott' 
erscheint  (Pktek)  :  lediglich  das  reciudcre  ist  ars  und  oj^s  des  schlüssel- 
tragenden  Gottes.  —  Wicueks  (Qaaestiones  Ovidianae,  Diss.  Gütt.  19 17, 
61  fg.),  der  die  Unterschiede  der  beiden  Erzählungen  schärfer  ins  Auge 
gefaßt  hat  als  seine  Vorgänger  (freilich  ohne  an  den  Gegensatz  von 
Elegie  und  Epos  zu  denken),  findet  in  den  Metamorphosen  nur  eine 
Umformung  der  älteren  Fastenerzählung.  Ganz  so  einfach  liegt,  meine 
ich,  die  Sache  nicht.  Die  Erzählung  der  Met.  enthält  Züge,  die  in  den 
Fasten  fehlen,  aber  zum  vollen  Verständnis  der  Geschichte  unerläßlich 
sind :  nur  die  Met.  erklären,  wie  die  Feinde  unbemerkt  ans  Tor  ge- 
langen, nur  sie  verdeutlicheu  das  puhis  Sabinis  der  Fasten;  nur  sie 
deuten  aber  auch  durch  die  Bezeichnung  der  Sabiner  als  sati  Curibus 
an,  wie  das  Eingreifen  Junos  zu  verstehen  ist,  die  nämlich  nicht  eigent- 
lich als  Feindin  Roms,  sondern  als  luno  Curitis  den  Sabinern  zum 
Sieg  verhelfen  will:  daß  Ovid  hiervon  weiß  (obwohl  er  fast.  266  durch 
das  visidiosa  das  Verständnis  eher  verschleiert),  geht  aus  fast.  VI  49 
hervor,  wo  der  senex  Tatius  neben  den  lunonicolae  Faliaci,  neben  Kar- 
thago und  den  griechischen  Lieblingsstätten  der  Göttin  genannt  wird 
als  ein  Feind  Roms,  dessen  Niederlage  geduldet  zu  haben  sie  nicht 
bereue.  Das  alles  führt  zu  der  Annahme,  daß  dem  Dichter  eine  Er- 
zählung vorlag,  in  der  die  Umgestaltung  der  bei  Macrobius  erhaltenen 
ursprünglichen  bereits  vollzogen  war:  aus  ihr  hat  er  in  den  Fasten 
den  Janus  und  das  aitiov,  in  den  Met.  andere  Züge  beibehalten. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  37 

Bitten  —  wieder  nicht  des  Janus,  was  sehr  wohl  möglich 
gewesen  wäre  —  sondern  der  Venus.  So  gewinnt  Ovid  den 
im  Epos  traditionellen  Gegensatz  der  Venus  zu  Juno,  und  zu- 
gleich das  beliebte  epische  Motiv,  daß  eine  olympische  Gott- 
heit sich  der  Hilfe  untergeordneter  göttlicher  Wesen  bedient. 
Epischer  Tradition  (Troja)  entspricht  auch  der  Eingang  der 
Erzählung,  die  Überrumpelung  der  schlafenden  Stadt,  und 
echt  episch  läuft  sie  aus  in  eine  Kampfschilderung,  über  die 
sich  die  Elegie  mit  einem  Wort  {pidsis  Sahinis)  hinwegsetzt, 
und  noch  eine  charakteristische  Kleinigkeit:  in  beiden  Fällen 
ist  die  Erzählung  an  den  Verrat  der  Tarpeia  angeknüpft;  in 
den  Fasten  heißt  es  {rettulit)  nt  levis  custos,  armillis  capia,  Sa- 
hinos  ad  summae  tacitos  duxerit  arcis  ifer,  in  den  Met.  arcis- 
que  via  Tarpeia  reclusa  dignam  animam  poena  congestis  exuit 
armis:  dem  Elegiker  schwebt  die  leichtsinnige  Tat  des  ver- 
liebten Mädchens,  dem  Epiker  die  blutige  Sühne  des  Verrats 
vor  Augen. 

Wie  die  geraubten  Frauen  den  Frieden  zwischen  Römern 
und  Sabinern  vermittelt  haben,  läßt  Ovid  III  179  —  228  den 
Mars  erzählen.  Die  direkte  Quelle  läßt  sich  nicht  feststellen^); 
trenugf,  daß,  wie  uns  die  Parallelberichte  erkennen  lassen,  alle 
wesentlichen  Züge  der  ovidischen  Erzählung  —  der  Plan 
des  Jungfrauenraubes  als  Eingebung  des  Mars  (Cn.  Gellius 
fr.  15  P.),  die  Versammlung  der  Frauen,  die  führende  Rolle 
der  Hersilia  (Dionys.  11  45),  das  Mitnehmen  der  Kinder  zur 
Vermittlung  —  nicht  von  Ovid  erfunden  sind;  aber  die  Art 
der  Verwendung  scheint  doch  weitgehend  sein  Eigentum  zu 
sein.  Um  zu  erklären,  warum  die  Matronae  die  Erinnerungs- 
feier an  ihre  Tat  gerade  am  i.  März  begehen,  berichtet  Mars, 
daß  er  dem  Romulus  zum  Raube  geraten  habe,  und  um  hier- 
für die  nötige  Grundlage    zu   schaffen,  wird  auf  der  Notlage 


i)  AufVarro  scHießt  Samter,  Quaestiones  Varronianae  (Diss.  Berl. 
1891),  52  ff.,  für  mich  nicht  überzeugend;  ich  würde  eher  an  einen 
Annalisten  denken.  Für  die  Einleitung  (179 — 196)  hat  vielleicht 
Livius  einige  Anregung  gegeben  (Sofee,  Livius  als  Quelle  von  Ovids 
Fasten,  Progr.  Wien  1906,  12  fg.);  doch  ist  auch  das  ganz  unsicher. 


38  KicuAKi)  Hkinzi::  [7',7 

ilcr  iVauoulosPu  Köiuor  lanjfo  \ ciwi'ilt :  ilie  senlinieutalo  Sohil- 
(lünmj^  der  Annlicliktnt  und  Kleinheit  Urroius  ist  ein  Lieb- 
liiii^siuotiv  der  Fasten.*)  In  der  Er/ilhlung  stdbst  ist  das 
wichtigste  Novum  Ovids  dies:  wählend  die  \'ulgat!i,  der  Li- 
vius  und  Phitarch  folgen,  die  Frauen  «ich  zwischen  die 
kämpfenden  Heere  werfen  läßt"),  i>itir  (cht  volantia,  diä  räv 
onXcov  (ffQÖ^iei'Ki  xcd  tüv  i'fXQÜv  ojgTCfi)  i/.  ^tov  xdroxoi 
(Plut.  Koui.  19),  verzichtet  Ovid  auf  die  pathetisch-heroische 
Szene;  er  vermeidet  es  überhaupt,  von  einem  Kampf  zu  er- 
zählen, indem  er  den  Aufzug  der  Frauen  erfolgen  läßt,  während 
die  Heere  einander  gegenüberstehen  und  auf  das  Signal  zum 
Angriff  warten.  Er  verzichtet  auch  darauf,  die  Frauen,  wie 
Livius  und  Plutarch,  reden  zu  lassen  (damit  Hersilia,  die 
iiunts  3Iartis,  nicht  zu  kurz  kommt,  hat  er  sie  vorher  in  der 
Frauenversammlung  das  Wort  iühren  lassen):  rührender  als 
die  rührendste  Rede  ist  es,  wenn  die  Kleinen,  die  nun  hier 
die  Hauptrolle  spielen,  die  Armchen  nach  den  Ihren  aus- 
strecken und  den  Großvater  rufen;  und  wenn  schließlich  der 
harte  Sabiner  den  Enkel  im  Schilde  wiegt,  so  ist  das  ein 
gemütvoll  genrehafter  Zug,   der   der  Elegie  trefflich  ansteht. 


i)  Bei  Livius  I  9  lehnen  die  Nachbarn  das  conubium  ab,  teils  aus 
Furcht  vor  der  wachsenden  Macht  Roms  —  das  würde  in  Ovids  Bild 
nicht  passen  — ,  teils  aus  Verachtung  gegen  das  im  Asyl  zusammen- 
gelaufene Gesindel  —  das  wäre  dem  Ovid  in  diesem  Zusammenhange 
(anders  III  432)  zu  despektierlich:  er  läßt  die  Römer  als  einstige  Hirten 
und  arme  Leute  verachtet  werden. 

2)  Dionys,  der  solche  tgaycoSiu  aus  anderem  Grunde  als  der  ele- 
gische Dichter  nicht  schätzt,  läßt  alles  sehr  diplomatisch  zugehen:  die 
Frauen  fassen  in  einer  Versammlung  den  Beschluß,  einzugreifen,  wen- 
den sich  dann  an  den  römischen  Senat,  der  mit  kluger  Verklausulie- 
rung die  Gesandtschaft  an  die  Sabiner  genehmigt,  ziehen  dann  zum 
Lager  der  Feinde,  wo  sie  vor  König  und  Senat  vorgelassen  werden 
und  Hersilia  eine  lange  Rede  hält;  dann  werden  sie  abgeführt  und 
der  Senat  berät  über  den  Antrag,  der  schließlich  angenommen  wird: 
das  alles  trägt  so  deutlich  den  Stempel  des  dionysianischen  Geistes, 
daß  ich  es  (gegen  Samter  a.  a.  0.)  im  wesentlichen  dem  Rhetor  zu- 
schreibe, der  eine  ältere  annalistische  Fassung  (vgl.  Cn.  Gellius  a.  a.  0.) 
in  seiner  Weise  umformte. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  39 

Endlich  die  Apotheose  des  Romulus  fast.  II  481 — 512, 
die  Ovid  auch  met.  XIV  805 — 828  erzählt;  die  beiden  Reden 
des  Mars  habe  ich  schon  oben  S.  17  verglichen.  Auch  die 
folo-enden  Erzählungen  weisen  bei  aller  Identität  des  Wesent- 
liehen^)  charakteristische  Unterschiede  auf.  In  den  Fasten 
bricht  die  olympische  Szene  mit  Juppiters  gewährendem 
Nicken  ab  und  die  irdische  setzt  mit  est  locus,  antiqui  Ca- 
preae  dixere  paludem  neu  ein,  führt  zu  Romulus  und  schildert 
dann  das  Unwetter,  während  dessen  rex  patriis  astra  petebat 
equis;  Mars  tritt  nicht  mehr  handelnd  auf.  Die  Metamor- 
phosen halten,  echt  episch,  auf  Kontinuität  der  Handlung: 
Juppiter  nickt  Gewährung  und  erregt  ein  gewaltiges  Un- 
wetter, in  dem  Mars  das  Signal  zur  Entführung  erkennt:  er 
besteigt  den  Wagen,  fährt  zur  Erde  herab  und  entrafft  den 
Romulus,  der  eben  dem  Volke  Recht  sprach:  dessen  Ver- 
wandlung in  den  Gott  wird  dann  beschrieben.  —  In  den 
Fasten  behält  Ovid  das  traditionelle  Lokal,  den  'Ziegeusumpf 
bei:  für  das  Epos  ist  das  nicht  erhaben  genug,  hier  tritt  der 
'Gipfel   des    bewaldeten    Palatium'   an    die    Stelle.  —  In  den 


i)  Die  Entrückung  durch  Mars  wird  Ennius  berichtet  haben  (vgl. 
Quirinus  Martis  equis  Acheronta  fugit  Hör.  od.  III  3,  15);  aber  sie  war 
auch  bei  den  Historikern  zu  finden:  7tsTti6xsv-/.a6iv  inb  xov  TtazQbg 
"AQSog  xbv  ccvÖQcc  avr]Q7tdc9ai  Dionys  II  56,  2.  Im  übrigen  sehe  ich  keinen 
Grund  zu  der  Annahme,  daß  Ovid  sich  näher  an  Ennius  hält  als  an 
die  historische  Yulgata,  und  glaube  auch  nicht,  daß,  wie  es  Ehwald 
(ad  hiatoriam  carminum  Ovidianorum  recensionemque  symbolae,  Progr. 
Gotha  1892,  II  ff.)  oft  nachgesprochen  worden  ist  (nur  Vahlen  äußerte 
sich  mit  berechtigter  Zurückhaltung,  Ennius*  p.  LXII),  die  Überein- 
stimmung Ovids  mit  Livius  auf  gemeinsame  Benutzung  des  Ennius  zu 
deuten  sei.  Livius'  Erzählung  hat  in  der  Anlage  wie  in  Einzelheiten 
die  größte  Ähnlichkeit  mit  der  Plutarchs,  so  daß  mir  für  beide  eine 
und  dieselbe  Quelle  sicher  steht,  die  dann  gewiß  nicht  Ennius  ist 
(hübsch  ist  es,  wie  der  Grieche,  dem  römischen  Militarismus  abhold, 
die  Forderung  des  neuen  Gottes  rem  müitarem  colant  umbiegt  zu  cta- 
(fQOGvvriv  (let  avögsiccs  aaxovvrsg).  Auch  die  einleitende  olympische 
Szene  Ovids  wage  ich  nicht  für  Ennius  in  Anspruch  zu  nehmen;  eher 
dagegen  als  dafür  spricht  es,  daß  dem  Mars  ein  ennianischer  Yers  aus 
einem  früheren  concilium  deorum  in  den  Mund  gelegt  wird. 


40  KiCHAKu  Hkinzk:  f7'.7 

Fast(Mi  wird  die  Eutf"iihrun<j;  selbst  mit  wenigen  (oben  zitier- 
ten) Worten  erledigt;  die  Metamorphosen  verweilen  auf  dem 
Hilde  des  y.ur  Erde  herabfahrenden  Kriegsgottes:  es  ist  das- 
selbe Verhältnis,  das  wir  bei  der  Fahrt  l'lutos  in  der  l'ro- 
serpinageschichte  beohaehteten.  —  Die  Fasten  erzählen,  wieder 
der  Tradition  folgend,  die  Bestätigung  von  Romulus'  Gött- 
lichkeit dureli  das  Zeugnis  des  Proculiis  Julius:  im  Epos 
Avürde  dies  irdische  Nachspiel  die  Erhabenheit  des  Vorgangs 
beeinträchtigen;  es  bleibt  weg.  Gerade  hier  zeigt  sich  wieder 
die  Eigenart  der  elegischen  Erzählung  in  der  Ausmalung 
von  Julius'  Begegnung  mit  dem  neuen  Gott:  daß  der  Wan- 
dernde  von  Alba    zurückkehrt M    und    keine    Fackel    braucht, 


i)  Proculus  Longa  veniebat  IuUuk  Alba:  der  Ursprung  dieses  con- 
cetto  ist  der,  daß  die  Historiker  von  dem  Manne  wußten,  er  war  zwv 
tili  "AXßrig  irroUwv  (Plut.  28)  und  zmv  &n'  yic-naviov  (Üionys.  II  63,  3}, 
was  sieb  übrigens  bei  einem  Julius  von  selbst  versteht.  Ovids  Aus- 
druck kann  freilich  auch  meinen,  daß  Julius  ein  Albaner  ist,  der  als 
Gast  nach  Rom  kommt,  indessen  spricht  das  folgende  nicht  dafiir 
(richtig  ScHWEGLEE,  R.  G.  I  537);  auch  wäre  dann  Ovid  der  einzige, 
der  mit  Rücksicht  darauf,  4aQ  die  Übersiedelung  der  Julii  nach  Rom 
erst  unter  TuUus  Hostilius  erfolgt  sein  sollte,  den  Proculus  noch  Alba- 
ner sein  läßt.  Denn  ich  kann  MCnzek  (R.  E.  X  112)  nicht  zugeben,  daß 
diese  Annahme  in  augusteischer  Zeit  feste  Tradition  ist:  sie  wird  nir- 
gends ausdrücklich  erwähnt,  obwohl  es  doch  bemerkenswert  genug 
wäre,  daß  Romulus  einem  Nichtrömcr  seine  Gottheit  manifestiert  hätte. 
Livius  faßt  den  Proculus  zweifellos  als  Römer,  wenn  er  von  consilium 
unius  viri  spricht  und  ihn  sagen  läßt:  liomulus  parens  urbis  huius.  Bei 
Dionys  ist  es  ein  yscoQyimg  &v^q  {liomo  agrestis  bei  Cicero):  der  Zweck 
dieser  Erfindung  ist  bei  ihm  ganz  deutlich:  Proculus  ist  nicht  bei  der 
contio  gewesen,  sondern  kommt  i|  äyQov  und  sieht  den  Romulus  öcTt- 
lovxa  iv.  xf]g  jtoXsag,  also  unmittelbar  nach  seinem  Verschwinden;  das 
Zeugnis  värd  dadurch  (und  auch  weil  Proculus  rbv  ßiov  aviTiiXi]Tttog 
ist,  wie  ein  rechter  Landmann)  vertrauenswürdiger.  Bei  Plutarch  ist 
dann  vollends  Proculus  ein  Patrizier,  der  sich  durch  den  gegen  die 
patres  herrschenden  Verdacht  mit  beschwert  fühlt.  Übrigens  setzt  die 
Erfindung  der  Geschichte  entweder  die  Gleichung  Romulus— Quirinus 
v#raus,  oder  —  was  mir  namentlich  durch  die  älteste  erhaltene  Fassung 
(bei  Cicero  de  rep.  II  20)  sehr  wahrscheinlich  wird  —  sie  diente  dazu 
eben  diese  Gleichung  einzuführen.  Denn  wenn  sich  der  Gott  seinem 
Volke  offenbart,    ist  doch  die  notwendige  Folge  die  Verehrung  dieses 


71.7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  4^ 

weil  der  Mond  hell  scheint,  daß  Romulus  nicht  vom  Himmel 
herabsteigt,  sondern  zur  Linken  aus  der  den  Weg  einrahmenden 
Dornenhecke  tritt,  das  sind  Einzelheiten,  offenbar  von  Ovid 
erfunden,  die  im  Epos  nicht  am  Platze  wären.  Im  übrigen 
ist  auch  hier  wieder  die  patriotisch-panegyrische  Tendenz 
Ovids  sehr  deutlich:  im  Gegensatz  zu  den  Historikern  läßt 
er  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  Argwohn  der  Ermordung 
des  Romulus  durch  die  Patrizier  falsch  ist  (falsaeque  patres 
in  crimine  caedis),  und  gibt  dem  Zeugnis  des  Proculus  ein 
ganz  anderes  Gewicht,  indem  er,  wieder  als  einziger,  die  Be- 
gegnung selbst  erzählt,  nicht  nur  den  Proculus  berichten 
läßt.O 

4- 
Der  Überblick  über  die  Gestaltung  der  Romulussage 
lehrt  uns,  daß  die  heroischen  Züge  im  Bilde  des  Stadtgrün- 
ders durchaus  zurücktreten.  Als  Kriegsheld  vor  allem  lebt 
Romulus  in  der  Tradition:  aus  den  Fasten  würde  man  das 
nicht  entnehmen  können,  keiner  seiner  Siege  wird  erzählt' 
oder  verherrlicht.  Besonders  auffällig  ist,  wie  Ovid  selbst  den 
Gründimgstag  des  Tempels  des  Juppiter  Stator  nicht  zum 
Anlaß  nimmt,   von  dem  Kampf  gegen  die  Sabiner  zu  reden, 


Gottes;  einen  Romuluskult  hat  es  aber  nie  gegeben.  Man  braucht  nur 
den  Inhalt  der  OflFenbarung  bei  Cicero  mit  der  bei  Livius  (der  bezeich- 
nenderweise von  Romulus— Quirinus  schweigt)  zu  vergleichen,  um  zu 
erkennen,  wo  das  Ursprüngliche  liegt.  Leider  wissen  wir  nicht,  wie  alt 
jene  Gleichung  ist;  aus  Ciceros  Äußerungen  entnehme  ich  nicht  (was 
ich  wegen  Wissowa,  Rel.  d.  R.  156,  5  bemerke^  daß  er  sie  für  jungen 
Datums  hält  (eher  das  Gegenteil),  sondern  nur,  daß  er  sie  als  fabula 
einschätzt. 

i)  Der  Skeptizismus  des  Livius  dagegen  sagt  et  consilio  etiam 
unius  hominis  addita  rei  dicitur  fides  .  .  mirum  quantum  Uli  vivo 
nuntianti  haec  fides  fucrü  (vgl.  auch  Plut.  Num.  2).  Cicero  behauptet 
sogar  geradeswegs,  Romulus  habe  inpidsu  patriim,  quo  Uli  a  se  invi- 
diam  interitus  Romuli  pellerent,  seine  Aussage  gemacht  (de  rep.  II  20). 
Begreiflich,  daß  diese  einen  homo  agrestis  vorschieben,  der  nicht  in  den 
Verdacht  kommen  kann,  im  Interesse  seines  Standes  zu  lügen,  s.  vor. 
Anmerkung. 


,2  IxicMAun  TTr.iN/K:  l7'i7 

obwohl  ilocli   tliis  Gebet  dos   Köni«rs  uiul   »Ici-  durcb  .luppitiMs 
Krhöniug  l)0\virkto  i>löt/lit'lio  Umschwung,  der  das  Schicksal 
des  Tages  entschied,  /.u   poetischer  Diirstellung  reizen  konnte 
—  Ovid   l)egiiügt  sich  (VI  793  ff-)  uiit  der   Angabe,    daß   l{o- 
niuhis  den  Tempel  ante  Paliti»!  rondidit  ora  inf/i.     Dies  Aus- 
weichen vor  der  Kampfschilderung  beschränkt  sich  aber  nicht 
auf  die  Homnlussnge,  sondern  geht  durch  die   Fasten   durch: 
so    oft    auch   Gedenktage    römischer    Siege    oder   Niedeilagen 
aus    nltou    oder  neueren  Zeiten    erwähnt   werden,    regelmäßig 
bleibt   es   bei  der  bloßen  Erwähnung.     Um  dies  zu  erklären, 
genügt    es    nicht,    auf   die   pazifistische   Tendenz   der   Politik 
des   Augustus    zu    verweisen,    denn  Augustus   selbst   hat  nie- 
mals vergessen  oder  vergessen  lassen  wollen,  daß  der  Friede, 
der   die  jetzt   römische  Welt  beglückt,    die   Frucht    der  von 
ihm  und  früheren  Triuraphatoren  errungenen  Siege  war,  und 
hat  daher  die  VerheiTlichung  dieser  Siege  in  bildender  Kunst 
und  Dichtung   viel   eher  befördert   als  gehemmt.     Auch  per- 
sönliche Abneigung  Ovids  gegen  Szenen  blutiger  Gewalt  kann 
nicht  entscheidend    gewesen    sein.     Die   Metamorphosen    ent- 
halten zwar  keine  Kampfschilderungen  homerisch  virgilischcr 
Art  —  der  Plan   des  Gedichts    legte    solche   nicht   nahe  — ; 
aber  wo  sich  die  Gelegenheit  bietet,   Käm]>fe   märchenhaften 
Charakters  zu  beschreiben,   tut  es  Ovid  mit  großer  Ausführ- 
lichkeit und  sichtlicher  Freude:  so  den  Kampf  der  Zentauren 
und  Lapithen  (XII  210—535),    des   Perseus    gegen   Phineus, 
in  dem   das  versteinernde    Medusenhaupt   die  letzte  entschei- 
dende Waffe   ist    (V  1—235),    cles   Achill  gegen  den   unver- 
wundbaren Cygnus  (XII  64—145),  auch  Kämpfe  der  Helden 
gegen  Ungeheuer  und  wilde  Tiere,    des   Cadmus    gegen    den 
Drachen  (III  28  —  98),    des  Perseus   gegen   das  Meerungetüm 
(IV  663—752),    die  Jagd   auf   den   calydonischen  Eber  (VIII 
260 — 444).   Die  Fasten  bieten  an  vergleichbarem  nur  die  kurze 
Schilderung  von  Hercules'  Kampf  mit  Cacus  (I  543  —  584,  wo 
der  eigentliche  Kampf  15  Verse  beansprucht),  die  eng  in  die 
von  Ovid  geflisf^entlich   in   den  Vordergrund   geschobene  Eu- 
andersage    verflochten    und    auch,    als   ui'riov    des    römischen 


71,7]  OviDS    ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  43 

Herculeskult?,  vom  Standpunkt  des  Fastendichters  aus  unent- 
behrlich schien.  Wenn  Ovid  Schlachtberichte,  die  ihm  sein 
Gegenstand  oft  nahelegte,  vermied,  so  ist  der  Grund  gewiß 
der,  daß  die  elegische  Dichtung  prinzipiell  solche  Schilde- 
run o-en  ablehnt:  das  war  recht  eigentlich  die  Domäne  des 
Epos,  und  das  Unvermögen  des  Elegikers,  gerade  in  diesem 
Punkte  über  die  der  Gattung  gesetzten  Schranken  hinauszu- 
gehen, wird  von  Ovid  wie  von  Properz  oft  genug  betont. 

Eine  Ausnahme  nur  macht  Ovid:  den  Auszug  der  Fa- 
bier  gegen  die  Yejenter  und  ihren  ruhmvollen  Untergang 
am  Cremera  erzählt  er  II  195 — 241.  Für  diese  Ausnahme 
bedarf  es  einer  Erklärung,  die  in  einer  sachlichen  Nötigung, 
gerade  diese  Episode  dem  Kalendergedicht  einzufügen,  nicht 
gefunden  werden  kann.^)  Ein  persönlicher  Anlaß  dünkt  mich 
wahrscheinlicher.  Ich  sehe  in  der  Einlage  eine  Huldigung 
des  Dichters  an  seinen  vornehmen  Freund  und  Gönn,er 
Paullus  Fabius  Maximus,  zu  dessen  Hause  er  auch  durch 
seine  Frau  in  naher  Beziehung  stand  (ex  P.  I  2,  138).  Fabius 
war  vermählt  mit  Marcia,  einer  Kusine  des  Augustus  (Ovid 
hat  den  Hymenaeus  für  das  Paar  gedichtet,  ebd.  133):  auch 
diese  wird  in  den  Fasten  in  ganz  einzigartiger  Weise  ge- 
ehrt, indem  der  Dichter  VI  797  ff.  die  Wiederherstellung  der 
aedes  Herculis  Musarum  durch  ihren  Vater  Marcius  Philip- 
pus  zum  Anlaß  nimmt,  das  Lob  der  Dame  in  hohen  Tönen 
zu  singen.^)     Auch   ihr,    der  Patronin  von  Ovids  Gattin  (ex 


i)  Eltee  (Cremera  und  Porta  Carmentalis,  Bonner  Progr.  1910, 
p.  SsfiF.)  meint  freilich,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  der  Brauch,  nicht 
durch  die  porta  Carmentalis  zu  gehen,  sei  für  Ovid  der  Anlaß  ge- 
•wesen,  die  Fabiergeschichte  zu  erzählen.  Aber  auf  solche  Bräuche,  die 
nicht  an  bestimmten  Tagen  haften,  geht  Ovid  sonst  nirgends  ein, 
während  er  historische  Gedenktage  öfters  bezeichnet,  auch  wenn  sie 
kalendarisch  keine  Rolle  spielten. 

2)  In  der  Verbannung  hat  Ovid  auf  die  Fürsprache  des  Fabius 
bei  Augustus  große  Hoffnungen  gesetzt  (ex  P.  I  2 :  das  Gedicht  ist  auch 
durch  die  Stellung,  als  erstes  nach  dem  Widmungsgedicht,  hervorge- 
hoben; III  3,  107),  die,  wife  er  später  überzeugt  ist  (IV  6,  9),  nur  an 
dem  vorzeitigen  Tode  des  Gönners   gescheitert  sind.     I  2,  3  ff.  erinnert 


44  RiciiAiJu  11i;in/.k:  [71,7 

1'.  1  J,  137;  111  1,  73),  mußte  der  Kulim  der  gens  Kiihiii 
lieblich  in  den  Olirou  klinoon.  Und  :ils  lUilimcstiit  der  Fahler 
vielmehr  denn  iils  rüniisehe  Niederhigc  hnt  Ovid  die  Ge- 
schichte berichtet,  indem  er  aus  der  Erzilhhmg  des  Livius 
—  daß  er  diesem  hier  fol<j;t,  scheint  mir  unbestreitbar')  — 
geschickt  alles  wegläßt,  was  das  Verdienst  der  Fabicr  schmä- 
lern kann:  die  große  Sciilacht,  an  der  die  Legionen  des 
L.  Aemilius  teilnahmen  (Liv.  II  49,  10)  mul  der  darauf  ge- 
schlossene Friede  wird  nicht  erwähnt,  und  aus  den  Schar- 
mützeln, die  dann  die  Fabicr  gegen  die  Vcjenter  (sine  ullo 
fnaioris  hcUi  upparatu  Liv.  50,  i)  siegreich  bestanden,  wird 
eine  Angriti'sschlacht,  die  sich  an  die  Lagerung  am  Cremera 
unmittelbar  anschließt;  die  Niederlage  selbst,  an  der  nach 
Livius  das  durch  die  Feinde  geschickt  genährte  Vertrauen 
der  Fabier  auf  die  eigene  Unüberwindlichkeit  schuld  war^), 
wird  bei  Ovid  zum  Ruhmestitel,  indem  die  ehrliche  und  arg- 
lose virtus  der  feindlichen  perfidia  erliegt.^)  Aber  wichtiger 
als  diese  panegyrische  Umformung  ist  für  unsere  F'rage  dies, 
daß  Ovid  hier,  wo  er  ausnahmsweise  die  der  Elegie  gesetzten 


er  an  den  Untergang  der  Fabier  und  zitiert  dabei  den  Fastenvers 
11  236.  Man  könnte  vermuten,  daß  er  die  auf  die  Fabier  und  auf 
Marcia  bezüglichen  Stücke  der  Fasten  erst  in  der  Verbannung  zuge- 
dichtet hat,  um  sich  der  Gunst  des  Paares  zu  versichern.  Das  würde 
voraussetzen,  daß  Ovid  schon  bevor  er  nach  Augustus'  Tod  die  Um- 
arbeitung der  Fasten  in  Angriff  nahm,  die  einzelnen  Bücher  von  Tomis 
aus,  wenn  auch  nicht  eigentlich  veröffentlichte,  so  doch  seinen  Freunden 
zugänglich  machte  oder  machen  wollte,  und  ich  kann  in  der  Tat  nicht 
daran  glauben,  daß  er  auf  dies  vorzügliche  Mittel  zur  Rehabilitierung 
seiner  Poesie  ganz  verzichtet  haben  sollte.  Aber  unentbehrlich  ist  jene 
Annahme  nicht.  —  Der  Fabii  Maximi  wird  übrigens  auch  fast.  I  605 
in  höchst  ehrender  Weise  gedacht. 

i)  SoFER  a.  a.  0.  5  ff.  Das  Datum  des  13.  Februar  hat  Ovid  aller- 
dings aus  anderer  Quelle;  darüber  gute  Bemerkungen  bei  Elter 
a.  a.  0.  19  ff. 

2)  50,  5  iamque  Fabii  adeo  contempserant  hostem,  ut  sua  invicta 
arma  neque  loco  neque  tempore  ullo  crederent  sustineri  posse. 

3)  Das  liegt  ganz  auf  der  Bahn  patriotisch-römischer  Geschichts- 
fälschung, s.  Virgils  ep.  Techn.'  10,  2;  31,  i. 


7',  7]  OviDS   ELEGISCHE   ERZÄHLUNG^  45 

stoffliclien  Schranken  überschreitet,  auch  in  der  Form  osten- 
tativ episiert:  nicht  weniger  als  drei  Gleichnisse,  alle  aus 
dem  Epos  wohlbekannt^),  sind  in  dem  kurzen  Stück  ange- 
bracht, während  die  Erzählungen  der  Fasten  sonst  diesen 
spezifischen  Schmuck  des  Epos  sehi'  sparsam  verwenden,  fast 
nur  um  rührende  Momente  zu  vertiefen.") 

In  ganz  anderer  Weise  hat  Ovid  des  Livius  Erzählung 
von  der  Vertreibung  der  Tarquinier  (I  53 ff.)  ins  Elegische 
übersetzt  (II  685 — 852).  Die  Komposition  des  Ganzen  ist 
eigentümlich  und  nicht  wohlge Inneren:  statt  sich  auf  die 
Lukreziageschichte  und  ihre  politischen  Folgen  zu  beschrän- 
ken, schickt  Ovid  zwei  selbständige  Erzählungen  voraus,  um 
die  männlichen  Hauptpersonen  der  Hauptaktion,  die  Tarquinier 
und  Brutus,  zu  charakterisieren:  die  erste,  die  Einnahme  von 
Gabii  durch  Sextus'  List,  als  einen  Rückblick  auf  Vergange- 
nes, gleichsam  parenthetische  Erläuterung  zu  vir  iniustus,  fortis 
ad  arma  tarnen  (ceperat  hie  . .  urhes  et  Gdbios  fecerat  . .  suos)-^ 
hieran  ist  erst  ecce  nefas  visu  yii  als  anschließend  gedacht, 
womit  Ovid  zu  der  nur  eben  skizzierten  Geschichte  vom 
Orakel  des  Apollo  und  seiner  klugen  Deutung  durch  Brutus 
übergeht.  Wenn  Ovid  dann  721  fortfährt  cingitur  interea 
Bomams  Ärdea  signis,  so  ist  das  nicht  schlechter  als  Livius' 
Übergang  reditum  inde  Homam,  ubi  adversus  Rutulos  bellum 


i)  209  die  Löwen,  die  die  Herde  überfallen:  21  352  (Wölfe);  219 
der  Sturzbach:  E  87;  231  der  Eber  und  die  Hunde:  M  146, 

2)  Ich  zähle  nur  13  Gleichnisse  (gegen  c.  200  der  Meiamoriihosen), 
meist  ganz  kurz,  so  daß  ein  Distichon  Verglichenes  und  Gleichnis  um- 
faßt, keines  sonst  so  ausgeführt  wie  hier  v.  219 — 222  und  231 — 233. 
Offenkundige  Homerimitation  nur  noch  in  parodischer  Absicht  H  341 
nach  r  33.  Über  den  'Schwanengesang'  Arions  II  109  s.  Crusius  Rh. 
M.  47  (1892),  70.  Der  Vergleich  der  Habsucht  mit  der  Wassersucht 
I  215  ist  aus  der  Popularphilosophie  wohlbekannt.  —  Die  fleißige  Ar- 
beit von  Washietl,  de  similitudinibus  imaginibusque  Ovidianis  (Diss. 
Wien  i88j)  behandelt  ihr  Thema  nur  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Abhängigkeit  Ovids  im  einzelnen  von  Früheren;  eine  Vorstellung  von 
der  Rolle,  die  das  Gleichnis  in  Ovids  Poetik  überhaupt  und  in  den 
verschiedenen  Dichtgattungen  spielt,  ist  nicht  daraus  zu  gewinnen. 


^ü  liRiiAui»  Hkinzi::  l7'.7 

sii))u>i<t  ri  panihittur.^)  —  In  der  ersten  Erzilhlung  sind  d'iv 
politisdion  Aktionen,  Sextus'  Wirkeif  in  Gal)ii  vor  und  nach 
der  Botschaft  au  dt'U  Vater,  mit  eini-in  Wort  {potcus)  und 
einem  Vers  al)geiuaclil;  den  Dichter  interessieren  nur  zwei 
ansehauliclie  8/enen  (der  Illustrator  der  Geschichte  würde 
ganz  ebenso  verfahren):  die  Einfiiiirung  des  Sextus  bei  den 
Gabinern  und  die  Botschaft  an  den  König.  Die  erstere  muü 
er  freilich  erst  aus  der  unanschaulicluMi  Darstellung  des  Li- 
vius  heiuusgestalteu,  der  uns  gar  nicht  nicht  sagt,  wo  und 
wie  und  wann  sich  Sextus  den  Feinden  gestellt  hat 2)-,  nur 
seine  Rede  wird  ziemlich  ausführlich  (indirekt)  wiederge- 
«reben.^)  Ovid  begnügt  sich  für  die  Rede  mit  einer  Anleihe 
bei  Virgils  Sinonszene^),  läßt  den  Sextus  die  Wahrheit  seiner 
Worte  durch  die  Spuren  der  angeblich  vom  Vater  erhaltenen 
Hiebe  erhärten  —  die  sachgemäß  abgeschwächte  Wiederholung 


1)  Über  das  überleitende  interea  e.  Virg.  ep.  Techn.^  388,  2.  456. 
Auch  nach  oben  ist  Livius'  Verknüpfung  mit  liaec  agcnti  portentum 
terribih  visitm  (vorher  ist  von  Tarquinius'  Bauten  und  der  Aussendung 
von  Kolonien  die  Rede  gewesen)  recht  locker:  mau  sieht,  er  hat  die 
eigentlich  an  keinen  bestimmten  Zeitpunkt  der  Regierung  geknüpfte 
Geschichte  schlecht  und  recht  vor  der  Katastrophe  eingefügt.  Dionys  gibt 
sie  als  Exkurs  vor  des  Brutus  entscheidendem  Auftreten  (IV  69:  statt  des 
Schlangenpiodigiums  eine  Seuche,  die  den  ungewöhnlichen  Schritt  der 
Befragung  des  delphischen  Orakels  besser  zu  motivieren  schien);  an 
der  Stelle  der  livianischen  Geschichte  (IV  63)  erzählt  er  ein  Vorzeichen 
für  des  Tarquinius  Sturz. 

2)  I  53  transfugü  ex  composito  Gabios,  patris  in  se  saevitiam  into- 
lerabilem  conquerens. 

3)  Zur  Beglaubigung  des  Sextus  dient,  außer  der  inneren  Glaub- 
würdigkeit seiner  Klagen,  nur  dies,  daß  er  droht,  falls  ihn  die  Gabiner 
nicht  aufnehmen,  flugs  eine  andere  Rom  feindliche  Stadt  aufzusuchen. 
Dem  Dionys  (IV  55)  genügte  die  simple  Erzählung,  die  er  in  seiner 
Quelle  fand,  nicht,  und  er  erdichtet  wieder  eine  große  Haupt-  und 
Staatsaktion. 

4)  occidite  inermem:  hoc  cupiant  fratres  Tarquiniusque  pater;  Virg. 
II  103  iamdiidum  siimite  poenas:  hoc  Ithacus  velit  et  magno  mercentur 
Atridae.  —  ignari  heißen  die  Gabiner  v.  700,  die  Troer  ignari  scelerum 
tantorum  106. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZAHLUNG.  47 

eines  Zuges  aus  Herodots  Zopyrosgeschichte^)  — ,  vor' allem 
aber  stellt  er  ein  Bild  (m  medios  hostes  node  silente  venu,  nu- 
darant  gladios  .  .  lima  fuit),  und,  was  für  die  Elegie  wichtig 
ist,  sorgt  für  Rührung:  wenn  die  guten  Gabiner  über  das 
erlogene  Leid  des  Sextus  weinen,  so  erregt  das  des  gefühl- 
vollen Lesers  Mitleid  mit  ihnen  selbst.  —  In  der  Szene  des 
Königs  und  der  Boten  hat  sich  Livius'  hortus  aedium  ent- 
wickelt zu  einem  Jiortus  odoratis  cultissimus  herlis,  den  ein 
leis  rauschender  Bach  durchschneidet;  der  Mohn  der  über- 
lieferten Geschichte  hat  sich  in  Lilien  verwandelt.  Ovid  hat 
hier  nicht  unbedacht  geändert  —  wenn  jemand  in  einem 
wohlgepflegten  Ziergarten  die  höchsten  Lilien  köpft,  so  ist 
das  noch  sicherer  bedeutungsvoll,  als  wenn  er  in  einem  be- 
liebigen hortus  Mohnköpfe  abschlägt  — ,  aber  die  Ausführung 
der  axfpQaöLg  ist  ganz  konventionell,  was  dem  Ovid  nicht  leicht 
begegnet:  seine  roTCo&s^Cai  sind  zu  allermeist  in  jedem  Zug 
darauf  berechnet,  Stimmung  zu  vermitteln,  soweit  sie  nicht 
zur  Erklärung  der  Handlung  dienen.  An  unserer  SteUe  aber 
hat  der  Vers  sectus  humum  rivo  lene  sonantis  aqiiae  keinen 
anderen  Zweck,  als  das  Distichon  auszufüUen.  Ovid  hat  in 
den  Fasten  streng  daran  festgehalten,  der  roico^adCa  nicht 
mehr  als  ein  Distichon  zu  widmen,  aber  dies  auch  ganz:  sie 
soll  als  kleines  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes    erscheinen.^) 

i)  ctnoxsitmv  iavxov  tj]v  qiva  v.a\  xa  wxcc  -nal  xr]v  HOftTjv  ■xccy.mg 
TtsQLKsiQcag  Kai  naoxiymaas  fil&s  Tcagä  ^agstov  III  154.  Die  Geißelung 
spielt  auch  bei  Dionys  eine  Rolle:  aber  er  ist  nicht  so  naiv,  den  Ga- 
binem  zuzumuten,  daß  sie  einen  Schwindel  wie  den  ovidischen  glauben 
sollten,  sondern  ctnqTttsxccL  öiarpoQCCv  ngbg  xbv  naxigcc  tcsqI  xfjg  -naxa- 
Xvasag  xov  noX^^ov  ^laaxiycü&Hg  S'  in'  avxov  QaßSoig  iv  ccyogä  yial  xc'dXu 
nsQtvßQia&sig,  wgxs  nsQißörixov  ysvie^ai  xb  ngäy^a,  knüpft  er,  zu- 
nächst durch  Getreue,  Verhandlungen  mit  Gabii  an.  Ich  halte  das  für 
reine  Erfindung  des  Dionys. 

2)  n  215.  315.  435.  III  263.  IV  495.  649.  V  149.  VI  9.  495-  Zwei 
Distichen  nur  III  295;  ein  paarmal  schließt  sich  an  die  eigentliche  xo- 
«o^föi'a  noch  eine  Ausführung  in  einem  Distichon  an:  I  555  und,  schon 
durch  das  Tempus  {suberant,  vorher  est)  abgehoben,  IV  429.  Nicht  mit 
dem  Hexameteranfang  beginnt  die  Beschreibung,  die  dann  das  Disti- 
chon ausfüllt,  nur  II  165, 


48  h'icuMti)  Hi;iN/i;:  l7»,7 

Das  letztere  häiiu,t  mit  der  (liirchi^elieiuUMi  disticliisclieu  Glie- 
derung der  elogisclicn  Er/.iUiiuii«;  /usaninien,  über  die  weiter 
unten  /u  reden  ist.  Gegenüber  der  in  den  Fasten  geübten 
Besehrünkung  lint  sieh  Ovid  in  dt-n  IMetaniorjiliosen  viel 
mehr  l\aum  i'ür  die  Ortsbesehreibnng  gegc'innt:  da  l)egeguen 
fx(fQä<S{tg  von  7,  8,  9  Versen'),  kaum  je  unter  4-).  In  die- 
sem Unterschied  wirkt,  meine  ich,  die  Tatsache  nach,  daß 
die  OrtBl>eschreibung,  so  gut  wie  die  fxq^QaOig  von  Kunst- 
werken oder  bildhaften  Vorgängen  (Seesturni  u.  dgl.)  dem  alten 
Epos  entstammt;  der  elegische  Erzähler  dagegen  steht  von 
vornherein  gleichsam  seinen  Menschen  zu  iialie,  als  daß  er 
die  Muße  hätte,  bei  objektiv  schildernder  Beschreibung  von 
Gegenständen  lange  zu  verweilen.^) 

Zurück  zur  Erzählung  des  Begifugium.  Die  Geschichte 
vom  delphischen  Orakel  hat  Ovid  bis  zur  Unverständlichkeit 
verkürzt:  kein  Leser  kann  ahnen,  daß  unter  der  turha  v.  716 
die  beiden  Königssöhue  zu  verstehen  sind:  vielmehr  schließt 
das  quisque  siiae  niatri  jene  überlieferte  Fassung  aus,  ohne 
daß  wir  eine  neue  dafür  erhielten-,  und  jeder  müßte  ainiehmen, 
daß  das  Orakel  die  Antwort  auf  die  Frage  wegen  des  Prodi- 
giums  ist,  Avähreud  uns  die  Historiker  darüber  aufklären,  «kß 


1)  z.  B,  III  155.  V.  385.  XI  229. 

2)  Dies  nur  in  sehr  lebhaft  dramatischer  Erzählung-,  in  der  ein 
ruhig  betrachtendes  Verweilen  unmöglich  wird:  III  708  (Pentheus),  IV  525 
(Ines  Wahnsinn). 

3)  Die  ars  amandi  gibt  dagegen  eine  ausführlichere  Ortsbeschrei- 
bung in  der  Erzählung  von  Cephalus  und  Procris,  III  687—694;  diese 
iiKpQuaig  steht  nicht,  wie  die  oben  aus  den  Fasten  aufgeführten,  im 
Zuge  der  Erzählung,  sondern  eröffnet  diese  mit  einem  stimmungsvollen 
Eingangsbild;  daraus  könnte  sich  die  Abweichung  erklären.  Aber  auch 
Properz  legt  sicli  in  der  Ortsbeschreibung  keine  Beschränkung  auf 
(I  20,  33—38;  IV  9,  24.  27—30),  so  daß  es  fraglich  ist,  ob  Ovid  die 
Technik  der  Fasten  seinen  unmittelbaren  Vorgängern  in  der  elegischen 
Erzählung  verdankt  oder  sie  älteren  Vorbildern  abgelernt  hat.  —  Be- 
schreibungen von  Bauten  (wie  die  regia  Solis  met.  II  i)  oder  Kunst- 
werken (wie  der  eurnis  Solis  ebd.  106  oder  der  Mischkrug  des  Aeneaa 
XIII  685)  finden  sich  in  den  Fasten  nicht,  obwohl  die  Tempel  Roms 
imd  ihre  Kunstschätze  doch  Gelegenheit  genug  geboten  hätten. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   EuZAHLUNG.  '  49 

es  auf  eine  private,  nach  Erledigung  ihres  Auftrages  getane 
Frage  der  Prinzen  erfolgt.  Das  Prodigiuni  selbst  hat  Ovid 
umgestaltet,  nach  dem  Muster  anderer:  vielleicht  nur,  weil 
ihm  das  livianische  nicht  schreckhaft  genug  erschien.^)  Von 
spezifisch  elegischem  Stil  weist  dieser  zweite  Teil  der  Er- 
zählung nichts  auf.  Um  so  mehr  der  dritte  und  Hauptteil, 
die  eigentliche  Lukreziageschichte.^)  Schon  Schwegler  (R.  G. 
776,  5)  hat  Ovids  Darstellung  ganz  richtig  als  'sehr  fein  und 
kunstvoll,  aber  fast  modern  sentimental  und  von  versteckter  1 
Lüsternheit  nicht  frei'   bezeichnet;    dann  hat  Pokrowskij^)' 


i)  Bei  Livius  befallen  den  König  Sorgen  um  die  Zukunft,  unguis 
ex  eolumna  lignea  elapsus  cum  terrorem  fugamque  in  regia  fecisset;  bei 
Ovid  mediis  altaribus  unguis  exit  et  extinctis  ignibus  exta  rapit,  womit 
Schwegler  R.  G.  I  774,  3  vergleicht  Liv.  25,  16  Graccho  sacrificanti  triste 
prodigium  factum  est.  ud  exta,  sacrificio  perpetrato,  angues  duo  ex  oc- 
culto  adlapsi  edere  iecur,  conspectique  repente  ex  oculis  abierunt,  was 
sich  dann  noch  einmal  wiederholt  und  von  den  Haruspices  auf  eine 
Gefahr  gedeutet  wird,  die  dem  Imperator  ab  occultis  Jiominibus  consul- 
tisque  droht.  Möglich  immerhin,  daß  Ovid  an  diese  Deutung  gedacht 
hat;  wahrscheinlich  nicht.  —  Mit  ecce  führt  Ovid  zumeist  nicht  ein  im 
Lauf  der  Geschichte  überraschend  eintretendes  Ereignis  ein  (so  I  433), 
sondern  beginnt  etwas  Neues,  öfters  so,  daß  vorher  der  Zustand  ge- 
schildert wird,  den  das  Ereignis  voraussetzt:  I  543.  III  285.  741 ;  so  hier, 
anknüpfend  wie  oben  gesagt  an  v.  689  fg. 

2)  Wenn  Cassius  Die  fr.  11,  13  wirklich,  wie  u.  a.  Schwartz  R.  E. 
III  1692  ff.  versichert,  von  Livius  unabhängig  ist,  so  folgt  daraus,  daß 
dieser  sich  hier  sehr  eng  an  seinen  Gewährsmann  gehalten  hat;  und 
daß  er  das  certamen  muliebrc  mit  dem  ersten  Besuch  bei  Lukrezia  (von 
dem  die  aus  älterer  Quelle,  wohl  Fabius  Pictor,  fließende  Darstellung 
des  Diodor  und  Dionys  nichts  weiß)  nicht  selbst  erfunden  hat,  würde 
man  allerdinge  von  vornherein  annehmen.  Aber  die  Anklänge  an  Li- 
vius sind  bei  Ovid  so  stark,  daß  man  mit  der  Möglichkeit,  Ovid  habe 
den  Autor  des  Livius  benutzt  und  verdanke  ihm  einen  Teil  dessen, 
was  er  mehr  bietet,  nicht  zu  rechnen  braucht.  Der  einzige  Zug,  den 
Ovid  mit  Dio,  nicht  auch  mit  Livius  gemeinsam  hat,  ist  v.  788  der 
Hinweis  auf  die  Verwandtschaft  mit  Sextus,  als  ihn  Lukrezia  aufnimmt 
(so  auch  Diodor);  aber  darauf  kann  Ovid,  der  ja  wußte,  daß  CoUa- 
tiuus  ein  Tarquinier  war  (Liv.  57,  6),  von  selbst  verfallen  sein. 

3)  Neue  Jahrbb.  1902,  258  ff.,  mit  nicht  wenigen  Mißverständ- 
nissen in  den  Einzelheiten. 

PhU.-hist.  Klasse  1019.    Bd.  LXXI.  7.  4 


50  IJirnAUi)  Ilr.iN/.F.:  [7',7 

auf  luam-he  /Aigv  liiii^cwioBon,  die  Livius  fienul  sind,  abor 
in  Ovids  Eroticis  oder  in  dcM-  ludlcnistisohen  Poesie  Entspre- 
chunnj  finden.  Sie  liegen  so  klar  7,ula<ve,  ilnß  ich  darauf  nicht 
eingehen  will;  nur  einiges  hislicr  meist  Übersehene,  das  für 
unseren  Zweck  wichtig  ist,  hebe  ich  heraus. 

Die  pflichttreue  und  keusche  Lukrczia  des  Livius  genügt 
Ovid  nicht;  sie  muß  sich  als  liebende  Gattin  zeigen,  damit 
ihr  Unglück  und  ihr  Tod  recht  rührend,  die  Tat  des  Sextus 
dementsprechend  frevelhaft  erscheine.  Zu  dem  Ende  wird 
glv?ich  anfangs  der  Wettstreit  nicht  wie  bei  Tiivius  ganz  all- 
gemein auf  die  ingenia  der  Ehefrauen  gestellt,  sondern  er 
spitzt  sich  auf  die  Liebe  zum  Ehemann  zu:  ccquid  coninf/ibiis 
nostris  midua  cnra  sumus?  Dafür  ist  noch  nicht  entschei- 
dend, daß  Lukrezia  mit  ihren  Mägden  bis  tief  in  die  Nacht 
bei  der  Arbeit  sitzt:  sie  muß  ihre  Gefühle  äußern  und  tut 
das  in  einer  kleinen  Rede,  die  zwar  sehr  geschickt  durch  Auf- 
forderung und  Frage  eingeleitet  wird,  aber  freilich  durch 
ihre  Inszenierung  dramatische  Motive  (Lauschszene;  Über- 
raschung; Umschwung  vom  Schmerz  zu  Jubel)  in  die  ruhige 
livianische  Erzählung  hineinträgt.  Ovid  weiß  in  Lukrezias 
Worte  sehr  hübsch  einzuflechten,  daß  sie  als  echte  römische 
Matrone,  wie  lanifica,  so  auch  domiseda  ist^);  aber  im  übrigen 
steht  ihm  ihr  Bild  wie  das  der  verlassenen  Gattinnen  elegi- 
scher Poesie  vor  Augen,  die  ängstlich  um  den  im  Felde 
stehenden  Mann  bangen  und  seine  Tapferkeit  fürchten,  die 
Penelope  der  Heroide  oder  Properzens  Arethusa;  ja  Lukrezia 
spricht  kläglicher  als  sie  alle  mens  dbit  et  morior,  qnotiens 
pugnantis  imago  me  subit  et  gelidum  pectora  frigus  habet.  Die 
Empfindungsweise  selbst,  menschlich-natürlich  wie  sie  ist, 
teilt  auch  Homers  Andromache  (dai^övis,  tp^Cön  6s  rö  6bv 
fisvog^  ovd^  sXsaiQSig  Ttaldd  rs  vr^nlaxov  xal  s^  äufioQOV  . .  akX 
ays  vvv  sltaiQS  xal  avro&i  aiav  in}  TtvQya)-^  aber  seit  die 
heldischen  Mädchen  und  Frauen  der  Tragödie  den  Typus 
weiblicher  Größe    in  Aufopferung    und    kühner    Tat    geprägt 

i)  747  quid  tarnen  auditis?   nam  phira  audire  potestis.    quantum 
de  hello  dicitur  esse  super? 


71,7]  üviDs  ELEGISCHE  Erzählung.  5^ 

hatten,  rezipiert  ihn  das  Epos;  Dido,  die  Stadtgründerin  und 
kraftvolle  Herrscherin,  Amata,  die  Kriegsfurie,  Camilla,  die 
schlachtenfrohe  Jungfrau,  Juturna,  die  reisige  Schwester  des 
Turnus,  stehen  im  Vordergrunde  der  Frauenwelt  der  Aeneis, 
und  die  Matronen  von  Lavinium  eilen  auf  die  Mauern  der 
bedrängten  St&dt  2)ri7naeque  mori  pro  moenibus  ardent  (XI  895). 
Im  historischen  Epos  steht's  nicht  anders:  die  Terentia  Cice- 
ros,  die  den  Gatten  in  der  Entscheidungsstunde  zur  heroischen 
Tat  anspornt^),  Lucans  Marcia,  die  bei  Kriegsausbruch  sich 
wieder  zu  Cato  gesellt  {da  mihi  castra  sequi  II  348),  werden 
keine  Ausnahmen  gewesen  sein.  Von  ihnen  und  ihresgleichen 
hebt  sich  die  Lukrezia  des  elegischen  Dichters  aufs  entschie- 
denste ab.  Die  Lukrezia  des  Livius  hätte  sich  sehr  wohl 
nach  der  heroischen  Seite  ausgestalten  lassen;  es  brauchten 
nur  die  dafür  geeigneten  Züge  in  der  Erzählung  ihrer  letzten 
Augenblicke  betont  und  weiter  entwickelt  zu  werden.  Ovid 
geht  hierin  aber  genau  den  entgegengesetzten  Weg.  Nicht 
weniger  als  dreimal  mahnt  Livius'  Lukrezia  in  ihren  kurzen 
Worten  zur  Rache  am  Übeltäter;  bei  Ovid  scheint  sie  gar 
nicht  daran  zu  denken,  ganz  zerknirscht  im  Bewußtsein  ihrer 
Schmach:  erst  als  dann  Brutus  seinen  Racheschwur  leistet, 
ist's,  als  nickte  die  Sterbende  ihm  Beifall.  Livius'  Lukrezia 
denkt  bei  ihrem  Selbstmord  an  die  Folgen,  die  ihr  Schicksal 
für  die  Zukunft  haben  könnte,  wenn  sie  am  Leben  bliebe, 
und  scheidet  scharf  zwischen  Schuld  (von  der  sie  sich  frei 
spricht)  und  Strafe  (die  sie  auf  sich  nimmt)  —  wie  denn 
ihre  Worte  überhaupt  für  eine  altrömische  Matrone  reichlich 
viel  Gewandtheit  des  Denkens  und  Redens  zeigen;  aber  der 
kühnen  Entschlossenheit  ihrer  Tat  entspricht  auch  die  Ent- 
schlossenheit ihrer  Worte;  auf  die  erste  Frage,  die  der  Gatte 
an  die  Weinende  richtet,  sagt  sie  alles  gei-ade  heraus.  Ovids 
Lukrezia  zögert  nicht  mit  der  Tat,  wohl  aber  mit  dem  Wort-): 


i)  S.  zuletzt  E.  Heikel,  adversaria  ad  Ciceronis  de  consulatu  suo 
poema  (diss.  Helsingf.  19 12)  p.  49  ff. 

2)  Es  ist  lehrreich,  aus  dem  Epos  Myrrha  zu  vergleichen,  der  die 
Scham  über  ihre  frevelhafte  Liebe  den  Mund  schließt  und  von  der  es 

4* 


52  RiCHAKP  IIkin/k:  [7'.  7 

der  Dichter  hiit  gemeint,  die  pmiicHia  damit  zu  botonon,  aber 
/ugloich  gewinnt  die  Szene  :ui  rührendem  I'atlios:  /u  dt'ni 
Mitleid  mit  Ijnkre/.iii  kommt  das  mit  Gatten  und  Vater  {hinc 
paiir,  hinc  coniunx  l<icn'))ias  solanlur  ff  orant  indicrt,  et  cacco 
flrnlquc  pavcntque  incfu):  die  ersten  durcli  die  Seelenpein  aus- 
gepreßten Worte  der  Liikrezia  (hoc  quoque  Turquinio  debchi- 
mus'f'  cloquar  infcUx  dvdecns  ipsn  mcum?)  sagen  ihnen  frei- 
lich im  (»runde  alles,  aber  doch  nur  so  weit,  daß  sie  um  so 
mehr  nach  weiterer  Aufklärung  verlangen  müssen:  in  diese 
ängstliche  Spannung  soll  sich  der  Leser  hineindenken.  Wie 
Ovid  diesen  Stoff  im  epischen  Stil  behandelt  haben  würde, 
mag  man  etwa  aus  der  Geschichte  von  Tereus  und  Procne 
abnehmen:  die  hinge,  Wut  und  Rache  schnaubende  Rede  der 
Vergewaltigten  (met.  VI  533 — 548)  hätte  mutandis  mutatis 
recht  wohl  ein  Seitenstück  in  Lukrezias  Rede  an  die  Ihren 
finden  können.  Und  mit  der  Schilderung  der  Liebe  des  Te- 
reus (455 — 466;  479  —  482)  mag  man  auch,  mangels  einer 
besseren  Analogie,  die  Schilderung  der  Empfindungen  des 
Sextus  Tarquinius  zusammenhalten,  um  auch  hier  den  Ab- 
stand des  genus  grande  von  den  elegi  zu  bemerken:  beide 
Male  die  frevelhafte  Begierde  eines  Gewaltmenschen,  aber 
dort  gleichsam  als  elementare  Katastrophe  gefaßt,  hier  mit 
eingehender  Zergliederung  des  Reizes,  den  Lukrezia  übt,  und 
mit  wohlberechuetem  Fortschreiten  von  der  bei  der  ersten 
Begegnung  entzündeten  Begierde  zum  frevelhaften  Entschlüsse 
nicht  anders  erzählt,  als  ob  es  sich  um  eine  Begebenheit  aus 


ganz  ähnlich  wie  von  Lukrezia  heißt  (met.  X  420)  conataque  saepc  fateri 
saepe  tenet  vocem  pudibundaque  vestibus  ora  texit  et  '0'  dixit  'felicem 
coniuge  matrem\  hactemis,  et  gemuit.  Aber  die  Ähnlichkeit  ist  doch 
nur  äußerlich:  denn  hier  kämpft  die  Scham  mit  der  sündhaften  Be- 
gierde. Und  man  lese  die  ganze  Szene  nach  dem  Selbstmordversuch, 
um  des  Kontrasts  zur  Lukreziaszene  inne  zu  werden:  schon  die  Figur 
der  leidenschaftlich  bewegten  nutrix  gibt  dem  Ganzen  einen  völlig  an- 
deren Charakter,  dazu  der  jähe  Umschlag  in  Myrrhas  Haltung  (exiluit 
gremio  furibiindu  410)  nach  der  sorgfältig  entwickelten  allmählichen 
Beschwichtigung  (389.  393.  402.  406),  die  ganz  Ovida  epischer  Erzählungs- 
art entspricht. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   EPvZAMLUNG.  53 

des  Dichters  Umgebung  handelte.  Wie  Sextus  sich  in  der 
Erinnerung  Lukrezia  vergegenwärtigt,  zeigt  Ovid  nicht  durch 
einen  Monolog,  sondern  durch  gleichsam  direkte  Wiedergabe 
der  Gedanken:  da  ist,  wie  Peter  bemerkt,  Vorbild  die  Schil- 
derung des  ApoUonios  (III  453  ff.)  von  dem  Eindruck,  den 
lason  auf  Medea  hinterläßt.  Diese  Schilderung  erhebt  sich 
zum  Monolog  (464 — 470),  und  auch  Ovids  epischem  Stile 
wäre  hier  ein  Monolog  gemäß,  der  zum  Entschlüsse  führen 
würde:  die  Elegie  gibt  uns  in  direkter  Rede  nur  gleichsam 
die  Quintessenz  des  letzten  Teiles  eines  solchen  Monologs, 
ein  paar  kurze  Kommata  (481 — 483).  —  Das  Regifugium 
selbst,  nach  dem  doch  der  Tag  heißt,  und  überhaupt  den 
Verlauf  der  Revolution  erledigt  Ovid  in  drei  Distichen:  das 
ist  eine  aövi^i^EXQla,  die  sich  der  Epiker,  wenigstens  der 
Epiker  virgilischen  Stils,  nicht  erlauben  würde ^),  und  die 
sich  Ovid  selbst  in  den  Metamorphosen  nicht  erlaubt. 

5. 
Das  Recht  der  aöv^iisxQia  hat  Ovid  in  den  Fastener- 
zählungen öfters  namentlich  bei  den  Katasterismen  in  An- 
spruch genommen.  Er  pflegt  den  Sternmythen  nicht  viel 
Raum  zu  gönnen,  da  die  nationalen  Sagen  in  seinem  Buche 
überwiegen  sollen;  und*  eine  knappe,  aber  gleichmäßig  aus- 
führliche Erzählung  läuft  Gefahr,  zur  versifizierten  Handbuchs- 
erzählung zu  werden:  welcher  Gefahr  Ovid  z.  B.  beim  Stern- 
bild der  Zwillinge  (V  699 — 720)  nicht  entgangen  ist.  In  an- 
deren Fällen  hat  er  in  seine  kurze  Erzählung  wenigstens  einige 
auf  Rührung  berechnete  Züge  eingefügt^),  oder  er  hat  —  und 


1)  S.  Virg.  ep.  T.  ="359. 

2)  Die  Geschichte  von  Phrixoa  und  Helle  (Sternbild  des  Widders) 
erzählt  Ovid  (III  853 — 876),  wie  Rehm,  Mythogr.  Unters,  über  griech. 
Sternsageu,  Münch.  Diss.  1896,  34  bemerkt,  nach  einer  der  Fassung 
Apollodors  I  80  ff.  sehr  nahe  stehenden  Quelle,  in  der  nur,  abweichend 
von  Apoll.,  aber  übereinstimmend  mit  anderen  mythographischen  Ex- 
zerpten aus  gleicher  Vorlage,  die  Opferung  beider  Geschwister  ge- 
fordert wurde.    Die  Gefühlsmomente  sind  bei  Ovid  betont:  stant  simul 


54  Ki(  iiAKi>  Hkin/.i::  [71,7 

(lies  mit  \'i)rliel>e  —  «Gewisse,  iler  Elegie  besonders  geniilße 
Einzelheiten  der  Geschielito  herausgehoben  und  iuil'  Kosten 
der  übrigen  Partien  ausgestaltet. 

Im  airtoi'  des  Orion  (V  4951}".)  berichten  42  Verse 
von  der  merkwürdigen  Geschichte  seiner  Geburt,  die  den 
Namen  erklärt;  der  Rest  von  8  Versen  kommt  auf  Tod  und 
Verstirnung;  alles  übrige,  was  die  reiche  Sage  von  Orions 
Leben  berichtete,  bleibt  weg,  und  kann  auch  beim  xaraörs- 
Qt6fiö^  recht  wohl  fehlen:  a])er  das  gilt  mit  noch  größerem 
Rechte  von  der  Geburtsgeschichte.  Hier  ist  nun  die  Aus- 
führung, wie  ich  meine,  im  wesentlichen  Ovids  Eigentum. 
In  den  Grundzügeu  deckt  sich  seine  Fassung  der  Sage  mit 
der  im  Scholion  IL  27  486  wiedergegebenen  (die  lateinischen 
Ausschreiber  der  Katasterismen,  Rob.  p.  164  ff.,  haben  Ein- 
zelheiten verschoben  und  verschlechtert).  Es  fohlt  da  die 
ganze  bei  Ovid  so  liebevoll  ausgeführte  Schilderung  der  Auf- 
nähme  und  Bewirtung  der  Götter:  die  hat  aber  Ovid  nicht 
einer  ausführlicheren  Darstellung  entlehnt,  sondern  selbst  hin- 
zugefügt^)   und    damit   die    Verwandtschaft,    w^elche    die   Ge- 

atite  aras  mnctaque  fata  yemunt,  und  nach  Helles  Sturz :  paene  siinul 
periit,  dum  vult  succurrere  lapsae  .  .  flebat,  ut  amissa  gemini  consorte 
pericli,  vor  allem  aber  die  Empfindung  der  Mutter:  aspieit  hos,  ut 
forte  pependerat  aethere  (nämlich  als  Nscpsli])  mater,  et  fcrit  attonita 
pectora  niida  manu:  bei  Apo)l.  nur  NifpiXr]  fistä  r^g  Q-vyaTQog  aitbv 
<tvi]Q7taae.  —  In  der  Fabel  von  den  Fischen  (II  459 — 474,  Kehm 
32  tf.)  stammt  die  Flucht  der  Venus  vor  Tjijhon  aus  der  einen,  die 
Lokalisierung  am  Euphrat  aus  einer  zweiten,  die  Rettung  durch  den 
Fisch  aus  einer  dritten  (auf  Aphrodites  Tochter  Derketo  bezüglichen) 
Version  der  Sternsage;  eigene  Zutat  Ovids  ist  die  Beteiligung  des 
kleinen  Cupido,  und  eigene  Arbeit  die  Ausschmückung,  insbesondere 
die  Schilderung  der  Vegetation  am  Flußufer.  Das  Ergebnis  eine 
rührende  Szene:  s.  ob.  S.  17. 

i)  Richtig  Rehm,  a.  a.  0.  25  ff.,  gegen  Schultz'  Euphorionhypo- 
these.  Castiülioxi  hat  dann  wieder  behauptet  (Studi  intorno  alle  fonti 
e  alla  composizione  delle  metamorfosi  di  Ovidio,  Pisa  1906,  264  ff.), 
Ovid  sei  für  die  Theoxenia  sowohl  des  Hyrieus  wie  des  Philemon  aus- 
geführten Darstellungen  der  beiden  Sagen  gefolgt,  die  ihrerseits  sich 
an  die  Hekale  angelehnt  hätten:  aber  nach  Beweisen  sucht  man  in 
dem  langen  Kapitel  vergebens. 


71,7]  OVIDS   ELKGISCHE    ErZÄHLUNG.  55 

schichte  bei  ihm  mit  der  des  Theseus  bei  Hekale  und  der 
Götter  bei  Philemou  und  Baucis  hat,  erst  hineingetragen. 
Keiner  unserer  Zeugen  für  die  Geburtssage  des  Orion  weiß 
«twas  davon,  daß  Hyrieus  ein  armer  alter  Bauer  gewesen  sei 
und  den  Göttern  seinen  einzigen  Pflugochseu  geopfert  habe-, 
der  Sohn  des  Poseidon  und  der  Atlastochter  braucht  nicht 
gerade  ein  "^König'  zu  sein,  wie  ihn  einige  Exzerptoren  der 
Katasterismen  bezeiclinen  (Rehm  a.  a.  0.  19),  aber  sicher  war 
er  kein  angusti  cultor  agelli.  Es  ist  auch  gar  nicht  im  Stil 
dieser  Geschichten,  daß  die  Götter,  nachdem  sie  sich  zu  er- 
kennen gegeben  hatten,  das  große  Opfer,  das  ihnen  Hyrieus 
bringen  will,  annehmen  und  den  Ochsen  schlachten  lassen: 
es  kann  ihnen  doch  nur  auf  den  guten  Willen  des  frommen 
Mannes,  nicht  auf  den  Rinderbraten  ankommen.  Viel  besser 
paßt  das  für  den  wohlhabenden  Mann,  der  durch  das  Opfer 
nach  der  Gastfreundlichkeit  auch  seine  Frömmigkeit  bewährt: 
das  können  sich  die  Götter  gefallen  lassen.  Aber  dieses 
Thema  war  künstlerisch  wenig  ergiebig:  Ovid,  der  die  Ge- 
schichte von  Philemou  und  Baucis  wahrscheinlich  bereits 
geschrieben  und  der  auch  in  der  Celeusepisode  der  Ceres- 
geschichte (IV  507  ö.)  die  Einkehr  der  Gottheit  in  ärmlichem 
Hause  dargestellt  hatte,  führte  das  Motiv  hier  von  neuem 
«in,  offenbar  in  dem  Gefühl,  daß  Gutherzigkeit,  Frömmig- 
keit, Ärmlichkeit  vereint  dem  Stoffgebiet  der  Elegie  wohl 
anstehe.  Natürlich  ist  die  Schilderung  der  Zurüstungen  zum 
Mahle  und  des  Mahles  selbst  sehr  viel  knapper  behandelt 
als  in  den  Metamorphosen,  wo  der  epische  Stil  behaglichstes 
Verweilen  auf  den  Einzelheiten  gestattete,  und  es  findet  sich 
nichts  von  der  parodisch-humoristischen  Färbung,  die  dem 
Ovid  unerläßlich  schien,  um  einen  solchen  Stoff  des  Epos 
würdig  zu  machen.^)  —  Gern  wüßte  man,  ob  Ovid  die  hüb- 


i)  Am  deutlichsten  v.  668  post  haec  caelatiis  eodem  sisti- 
tur  argento  crater  fabricataque  fago  pocula,  qua  cava  sunt,  flaventibus 
inlita  ceris  (vgl.  Fast.  v.  522  terra  rubens  crater,  pocula  fagus  eranf), 
aber  auch  sonst  vielfach  unverkennbar.  In  den  entsprechenden  Frag- 
menten der  Hekale  empfinde  ich  das  nicht.    Wilamowitz  sagt,  'die  He- 


56  RiCHAui»  Hkinzk:  [71,7 

sehe  Motivionuig  iKt  Kiiulorlosigkoit  des  llyriens  —  or  luit 
in  juugon  .Iiihroii  seine  Frau  verloren  und  hatte  ihr  ver- 
sproehen,  nicht  wieder  zu  heiraten  —  seihst  aus  einem  ein- 
lachen (hsxvog  lov  seiner  Vorlage  entwickelt  hat:  ich  möchte 
es  glauben,  da  der  so  gewonnene  neue  Charakterzug  des 
Helden  so  wohl  zu  dem  von  Ovid  neu  goschallenen  I^ilde  paßt 
und  in  der  treuen  Gattenliebe  des  Paares  Philenion  und  liaucis 
ihr  Analogon  findet.  —  Auch  der  Schluß  der  Erz;ihluii»j,  der 
Tod  des  Orion,  weicht  von  unserer  sonstigen  Überlieferung 
ab:  der  Skorpion  tötet  den  Orion  (was  bei  der  Kürze  des  Be- 
richts gar  nicht  einmal  ausdrücklich  gesagt  wird),  während 
dieser  Leto  vor  seinem  Angriff  beschützt:  zum  Lohn  dafür 
versetzt  ihn  die  Göttin  in  den  Himmel.  Ist  diese  Aufopfe- 
rung des  Orion  Ovids  Erfindung,  was  ich  für  wahrscheinlich 
halte  ^),  so  hat  er  den  Sohn  die  pietas  des  Vaters  erben  lassen 


kale  transponierte  das  heroische  Epos  geflissentlich  ins  Idyllische'; 
sollte  man  nicht  lieber  sagen,  daß  Kallimachos,  statt  wie  üblich  im  Ho- 
mer nur  die  heroischen  Partien  als  maßgebend  für  das  Epos  zu  emp- 
finden, geflissentlich  die  nicht-heroische  homerische  Poesie  —  Empfang 
des  Odysseus  bei  Eumaios  —  in  seiner  Art  fortsetzte? 

i)  Rehm  (a.  a.  0.  26)  sieht  in  diesem  Zuge,  'den  Ovid  nicht  kann 
hinzuerfunden  haben',  den  entscheidenden  Beweis  dafür,  daß  dem 
Dichter  eine  ausführlichere  Wiedergabe  der  hcsiodischen  Version  der 
Sage  vorlag,  d.  h.  daß  er  nicht  die  Katasterisuien,  sondern  die  Kata- 
loge des  Eratosthenes  benutzt  habe.  Aber  ursprünglich  kann  m.  E.  die 
Version  Ovids  nicht  sein,  weil  sie  den  eigentlichen  Sinn  der  Sage  ver- 
dirbt: welcher  doch  wohl  darin  zu  suchen  ist,  daß  Gaia  auf  die  frevle 
Drohung  des  unwiderstehlichen  Jägers,  er  wolle  alles  wilde  Getier  der 
Erde  ausrotten  (als  gewaltiger  Helfer  der  Artemis  nämlich),  damit  ant- 
wortet, daß  sie  ihn  durch  den  winzigen  Skorpion  fällt.  Aber  weder 
hat  es  Sinn,  daß  dieser  von  Gaia  gegen  Orion  entsandte  Skorpion  die 
Göttin  Leto  angreift,  noch  ist  das  Tierchen  überhaupt  gefährlich,  so- 
bald es  bemerkt  ist.  Die  Katasterismen  sagen  ckoqtcIov  fv/tfyc'O'Tj,  ganz 
gut,  denn  je  größer  der  Skorpion,  desto  giftiger  ist  er,  und  ein  Riese 
wie  Orion  kann  viel  Gift  vertragen;  der  Germanicusscholiast  hat  das 
schon  mißverstanden,  wenn  er  sagt  scorpioncm  immnni  magnitudine. 
—  Warum  in  der  alten  Version  neben  Artemis  auch  Leto  eingeführt 
war  {difjys  y.vprjysrmv  atva  yi(iriiLi8og  Ttagovai^g  nai  Tjjg  AriTovg  und 
dann  ^2'  roTg   uarQOig  avrbv   i'^?j"/fv   6   Zivg  vno  kQxiynSog   ^al  Arirovg 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  57 

in  entschiedenstem  Gegensatz  zu  einer  anderen  Version,  die 
den  Orion  zur  Strafe  für  einen  frevelhaften  Angriff  auf  Arte- 
mis getötet  werden  ließ,  und  hat  damit  die  Tendenz  der  ge- 
samten Erzählung  vereinheitlicht. 

Nicht  ganz  so  ins  Auge  fallend,  aber  immerhin  stark 
oenug  ist  die  Asymmetrie  in  der  K  a  1 1  i  s  t o  geschichte  (II 
j^^ — 192),  die  Ovid  bereits  viel  ausführlicher  in  den  Meta- 
morphosen erzählt  hatte  (II  401 — 530)^);  in  der  Fassung  der 
Sage  schließt  er  sich  an  seine  eigene  frühere  Darstellung^) 
an.  Aber  während  die  in  den  Metamorphosen  sehr  ausführlich 
behandelte  erotische  Szene  hier  mit  einem  Distichon  erledigt 
wird  {de  love  crimen  habet  ist  alles,  was  wir  von  dem  Her- 
gang erfahren),  auf  die  Metamorphose  nur  zwei  Distichen 
entfallen  und  selbst  die  Schlußszene  nebst  Verstirnung  nur 
drei  Distichen  einnimmt,  widmet  Ovid  sechs  Distichen  der 
Entdeckung  von  Kallistos  Schuld  und  ihrer  Verstoßung  durch 
Diana:    also    einem  Vorgange,    der    sachlich    für  die  Absicht 


ä^ico&sig),  kaun  ich  freilich  nicht  sagen;  vielleicht  nur,  um  die  Er- 
füllung der  Bitte  durch  Zeus  besser  zu  motivieren. 

i)  In  der  Gestaltung  der  Sage  gibt  Ovid,  wie  es  scheint,  beson- 
ders viel  Eignes  (s.  darüber  den  zweiten  Anhang);  eben  deshalb  halte 
ich  seine  epische  Erzählung  für  die  ältere:  ich  glaube  nicht,  daß  er 
sich  für  die  kurze  elegische  in  so  viel  Unkosten  der  Erfindung  ge- 
stürzt hätte. 

2)  Neu  ist  in  den  Fasten  nur  eine  Einzelheit:  der  Schwur  der 
Keuschheit,  den  Kallisto  beim  Bogen  der  Diana  leistet;  nicht  Erfindung 
Ovids:  uvrri  GvvdTfQog  kgri^iiSos  ovaa  ..  cö^ioasv  avrfj  nslvcci  Ttccg&ivog 
ApoUod.  III  100.  Vielleicht  fand  Ovid  in  einer  Darstellung,  die  (wie 
ApoUodor)  Kallisto  durch  Artemis'  Pfeile  sterben  ließ,  auch  schon  den 
Schwur  beim  Bogen:  demselben,  der  dann  den  schuldlosen  Eidbruch 
rächt.  Diese  Beziehung  fällt  ja  bei  Ovid  fort;  bei  ihm  hat  der  Schwur 
nur  die  mehr  formale  Bedeutung,  die  ersten  Szenen  der  Geschichte 
fester  zur  Einheit  zusammenzufassen,  indem  der  Schluß  {periura  Ly- 
caoni)  darauf  zurückverweist  und  das  Thema  der  Jungfräulichkeit 
(virginitas  158,  virgo  Tegeuea  167,  falso  virginis  sono  168,  virgineos 
coetus  desere  173)  durchgeführt  wird;  der  zweite  Teil  der  Geschichte 
knüpft  mit  quae  fuerat  virgo  credita  176  daran  an,  matcr  erat  geht  es 
weiter:  das  ist  das  Stichwort  dieses  Teils,  v.  184.  1S6. 


^8  RiciiAui)  IIkinzk:  f7',7 

der  gauzoii  Erziililuiig  von  j;rerinjjfer  Bedeutung  ist.  Freilich 
hat  Ovid  hier  —  zuerst  liir  die  Metamorphosen  —  die  ihm 
überlieferte  Version  umgestultet;  aber  die  Begegnung  zwischen 
I^Iutter  und  Solm  hat  er  sogar,  wie  es  scheint,  ganz  neu  ge- 
staltet und  in  den  Fasten  doch  zurücktreten  lassen.  V]b  muß 
also  doeh  wohl  so  liegen,  daß  ilnn  die  idyllische  Szenerie 
—  der  kühle  Quell  im  schaltigen  Fiehenhain  —  und  der 
Vorgang  —  das  Bad  der  Diana  und  ihrer  Nymphen  —  ele- 
gischer Erzälilung  gemäßer  zu  sein  schien  als  die  Vergewal- 
tigung des  Mädchens,  die  brutale  Tvachctat  der  Juno  oder 
selbst  die  pathetische  Schlußszene  mit  ihrer  dramatischen  Zu- 
spitzung. 

Beim  Sternbild  des  Stiers  hat  Ovid  aus  der  ja  sehr 
bekannten  Europageschichte  nur  eine  Szene  herausgegriffen 
und  durch  ein  einleitendes,  zwei  abschließende  Distichen  um 
rahmt  (V  605 — 618):  Europa  auf  dem  Stier  übers  Meer 
fahrend.  Dieselbe  Szene  läßt  er  Arachne  in  ihrem  gewebten 
Katalog  der  erotischen  Göttermetamorphosen  als  erste  dar- 
stellen (met.  VI  103 — 107):  der  Dichter  wetteifert  mit  der 
bildenden  Kunst,  die  ja  diese  Szene  der  Europageschichte 
stark  bevorzugt  hat.  In  Ovids  ausführlicher  Erzählung  dieser 
Geschichte  met.  II  736 — 875  ist  gerade  diese  Szene  vernach- 
lässigt: ein  paar  Verse  nur  beschreiben  recht  nüchtern  die 
Haltung  der  Europa:  sie  genügen  hier,  um  im  Leser  die  Er- 
innerung an  zahlreiche  und  oft  gesehene  Kunstwerke  zu  er- 
wecken.^)    In  den  Fasten  ist  die  Schilderung  dagegen  stark 


i)  Natürlich  berührt  sich  diese  Beschreibung  mit  der  des  Moschos 
(v.  125  — 130)-,  aber  wie  sollte  das  anders  sein!  Gerade  die  frappanteste 
Ähnlichkeit  {tremulae  sinuantur  flamine  vestes  KoXnw&t]  3'  wftoKJt  neiiXog 
ßa9vg  EvQanelrig)  ist  auch  in  den  Gemälden  begreiflicherweise  fast 
stets  zu  finden  (xal  t]v  ovrog  avB^og  rov  Jojypaqpov  sagt  hübsch  Achilles 
Tat.  I  i).  Also  aus  dieser  Ähnlichkeit  läßt  sich,  da  es  die  einzige  er- 
heblichere ist,  nicht  (mit  Vollgraff,  de  Ovidi  mythopoeia  quaest.  sex 
Diss.  Berl.  1901,  S.  62)  schließen,  daß  Ovid  des  Moschos  Gedicht  ge- 
kannt habe,  und  noch  weniger  beweiskräftig  dafür  ist,  was  Pressler, 
Quaest.  Ovid.  capita  duo,  Diss.  Hall.  1903,  61  aus  den  Fasten  anführt. 
Von  vornherein  aber  ist  das  wahrscheinlich,  und  dann  sehr  bemerkens- 


71,7]  OVIDS   ELEGISCHE    ErZÄHXUNG.  59 

gefühlsbetont:  der  Dichter  vertieft  sich  gleichsam  in  den  An- 
blick des  schönen  Mädchens,  mit  dessen  Gewand  und  Haar 
der  Wind  spielt,  et  fhnor  ipse  novi  causa  decoris  erat;  ein  ovi- 
discher  Gemeinplatz,  wie  auf  die  Furcht,  so  auf  Trauer  u.  dgl. 
angewandt^),  der  eigentlich  nur  da  Sinn  hat,  wo  die  Wir- 
kung auf  den  Beschauer  in  Frage  kommt:  hier  aber  ist  der 
Dichter  der  einzige  Zuschauer,  und  indem  ihm  das  einfällt, 
sagt  er  —  so  lebhaft  versetzt  er  sich  in  die  Situation  — 
Sidoni,  sie  fueras  adspicicnda  lovi!  —  worauf  er  in  der  Schil- 
derung der  Furcht  und  der  Art,  wie  der  verliebte  Gott  sie 
sich  zunutze  macht,  foi-tfährt. 


wert,  wie  geflissentlich  er  sich  von  seinem  Vorgänger  emanzipiert.  Bei 
Mosches  löst  sich  die  Erzählung  in  eine  Folge  von  Beschreibungen 
oder  Zustandsschilderungen  auf:  Traum  der  Europa  (i  — 15),  Blumen- 
korb (37—62),  Anthologie  (63—71),  der  Stier  (80—88),  Fahrt  übers 
Meer  (115— 130);  dann  drei  längere  Reden  oder  Monologe  der  Europa 
(21 — 27;  102 — 107;  135 — 152).  Bei  Ovid  ist  von  Beschreibungen  nur 
die  —  unerläßliche  —  des  Stiers  geblieben  (in  allen  Einzelheiten  von 
Moschos  abweichend  und  ganz  darauf  berechnet,  das  Entzücken  und 
Zutrauen  der  Europa  zu  erklären);  im  übrigen  ist  alles  Handlung,  die 
darauf  ausgeht,  das  schließliche  Wagnis  des  Mädchens  und  das  Ge- 
lingen der  Entführung  begreiflich  zu  machen.  Sehr  mit  Bedacht  (und 
keineswegs  nur,  um  durch  Einführung  des  Merkur  eine  Anknüpfung 
an  die  vorige  Geschichte  zu  gewinnen)  hat  Ovid  den  Zeusstier  sich 
unter  die  königliche  Herde  mischen  lassen,  die  er  an  den  Strand 
treiben  läßt;  und  dann  wartet  er  artig,  bis  Europa  sich  das  Herz  faßt, 
an  ihn  heranzugehen.  Bei  Moschos  'kommt  er  auf  die  Wiese',  stellt 
sich  vor  Europa  auf  und  leckt  ihr  die  Haut:  ein  recht  täppisch  zu- 
dringlicher Liebhaber,  wird  Ovid  gedacht  haben.  —  Das  Ganze  ist 
sehr  charakteristisch  für  Ovids  epische  Erzählung:  er  vermeidet  zwar 
sKcpQaang  keineswegs,  verwendet  vielmehr  große  Kunst  auf  ihre  Aus- 
gestaltung; aber  er  venneidet  es  durchaus,  die  Erzählung  in  Schilde- 
rung aufzulösen,  hält  vielmehr  streng  auf  fortschreitende  Handlung, 
und  zwar  nicht  sprunghaft,  sondern  sehr  stetig  fortschreitende  Hand- 
lung, in  der  ein  Glied  am  andern  hängt.  Das  gilt  wie  für  die  äußere 
Handlung,  so  auch  ganz  besonders  für  seelische  Entwickelungen.  (In 
Peters'  Dissertation  Symbola  ad  Ovidii  artem  epicam  cognoscendam 
[Gott.  1908]  findet  sich  nichts  hierüber.) 
i)  Ehwald  zu  met.  I  527. 


6o  Richard  IIkinze:  [7',  7 

Der  Verstiriuiug  der  Krone  der  Ariadm-  (lli  461 — 516) 
bat  Ovid  eine  ueue  Wendung  gegeben,  iiulcm  er  sie  nicbt, 
wie  in  sonstiger  Überlieferung,  einfacb  bei  der  lloeb/.eit  mit 
Baccbus  stattiinden  ließ,  sondern  eine  Novelle  erfindet'): 
Baccbus  bat  die  Gattin  auf  Naxos  verlassen,  um  gegen  die 
Inder  zu  zieben;  unter  den  Gefangenen  bringt  er  die  indische 
Köuigstocbter  mit  beim,  auf  die  Ariadne  mit  Grund  eifer- 
sücbtig  ist,  also  eine  Situation,  wie  die  der  Deianeira  bei  He- 
rakles' Heimkehr  von  Oichalia.  Hau))tstüek  der  Erzählung, 
döv^i^iETQag  weit  über  das  sachlich  Erforderte  hinausgehend, 
ist  der  Klagemouolog  der  Ariadne  471 — 506,  der  von  dem  Un- 
getreuen belauscht  wird,  sein  Gewissen  rührt  und  ihn  zur  Er- 
fülluug  des  Versprechens  der  Apotheose  führt,  mit  der  sich 
die  Verstirnung  der  Krone  verbindet.  Der  Monolog  ist  neben 
dem  der  Ilia  (ob.  S.  25)  der  einzige  in  den  Pasten;  er  unter- 
scheidet sich  aufs  deutlichste  von  den  Monologen  der  Meta- 
morphosen.^) Während  diese  an  Vorbilder  des  Epjos  und  vor 
allem  der  Tragödie  anknüpfen  und  mit  ganz  seltenen  Aus- 
nahmen dazu  dienen,  eine  Handlung  der  Redenden  zu  moti- 
vieren, gibt  sich  der  Ariadnemonolog  durch  die  einleitenden 
Verse  als  eine  Replik  der  catuUischen  Klage  der  Ariadne  zu 
erkennen,  die  nichts  weiter  bezweckt,  als  ein  rührendes  Bild 
der  Verzweiflung  zu  zeichnen,  in  die  Theseus'  Abfahrt  die 
Verlassene  versetzt  hat;  die  Haltung  ist  durchaus  lyrisch, 
und  wenn  Ovid  das  epische  Stück  Catulls  in  Elegische  trans- 
poniert, so  gibt  er  der  Elegie  wohl  nur  das  zurück,  was  von 


i)  Haupt  opusc.  11  71.  Die  ÜberliefeniDg  kennt  Ariadne  entweder 
als  die  irdische  Gemahlin  des  Dionysos,  nach  deren  Tode  der  Gott, 
um  ihr  Andenken  zu  ehren,  ihre  Krone  verstirnt,  oder  als  die  vergött- 
lichte  Gemahlin,  deren  Erhebung  zur  Göttlichkeit  durch  das  Sternbild 
bezeichnet  wird.  Ovid  kombiniert  beide  Auffassungen,  indem  er  Ariadne 
erst  auf  Naxos  des  im  Krieg  abwesenden  Gatten  warten  und  dann  mit 
ihm  in  den  Himmel  eingehen  läßt.  Wenn  er  die  Krone  der  Yergött- 
lichten  als  monimenta  (513)  bezeichnet,  so  geht  auch  das  wohl  auf  jene 
andere  Auffassung  zurück. 

2)  S.  den  dritten  Anhang. 


7  ) ,  7]  OVIDS   ELEGISCHE    EuZÄHLUNG,  6  I 

Rechts  wegen  ihr  gehört.^)  Echt  elegisch  ist  bei  Ovid  im  Ein- 
gang die  Anrede  an  Wellen  und  Strand;  ebenso  entspricht 
es  der  elegischen  Haltung,  wenn  sich  die  Rede  von  v.  479 
ab  an  den  als  abwesend  gedachten  Geliebten  richtet:  daß  die- 
ser in  Wahrheit  anwesend  ist  und  so  die  Vorwürfe  und 
Klagen,  statt  imaginär  zu  bleiben,  wirklich  ans  Ziel  gelan- 
gen, ist  ein  Motiv,  das  in  Ovids  elegischer  Lukreziaerzählung 
seine  nächste  Analogie  findet  und  das  hier  fast  komödienhaft 
anmutet.  ^) 

6. 
In  der  Erzählung  vom  Raube  der  Proserpina  fanden  wir 
den  rein  epischen  Bericht,  bei  dem  die  Persönlichkeit  des 
Erzählers  gänzlich  verschwindet,  unterbrochen  durch  ätiolo- 
gische Bemerkungen,  die  auf  die  Gegenwart  Bezug  nehmen; 
außerdem  nur  durch  eine  lebhaft  subjektiv  gefärbte  Form  der 
praeteritio.  In  anderen  Fastenerzählungen  tritt  das  subjektive 
Element  in  anderer  Weise  und  sehr  viel  stärker  hervor.  Die 
Geschichte  von  der  Aussetzung  des  Romulus  und  Remus  ist 
auch  abgesehen  von  den  ätiologischen  Zwischenbemerkungen 
Qiic  ubi  nunc  fora  sunt  Untres  errare  videres;  arhor  erat  —  re- 
manent  vestigia  — ,  quaeque  vocatur  Rumina  nunc  ficus,  Romula 
ficus  erat)  ganz  durchsetzt  mit  Bemerkungen  der  Subjektivität 


i)  Vorher  v.  463  heißt  es,  in  der  Fassung  ganz  ovidisch,  fast 
skurril  und  jedenfalls  epischer  Haltung  zuwider:  sorte  tori  gaudens: 
'quid  fleham  rustica?'  dixit  'utiUter  nobis  perfidus  üle  fuit.' 

2)  Ich  würde  es  ohne  Bedenken  als  Erfindung  Ovids  ansprechen, 
wenn  nicht  auch  bei  Nonnos  Bakchos  die  klagende  Ariadne  belauschte 
(47,  419),  hier  natürlich  bei  der  ersten  Begegnung.  Hält  man  neben 
die  in  vor.  Anm.  zitierten  Worte  Ovids  aus  Bakchos'  Rede  bei  Nonnos 
444  oXßir],  oxxi  Unovea  xiQsiova  @ri6ecog  ivvijv  Ssiiviov  i^SQOsvrog  iß- 
cc9Qt]6£ig  Jiovvaov,  und  vergleicht  v.  511  tu  mihi  iuncta  toro  [mihi 
iuncta  vocabula  surnesj  . .  sintque  tiiae  tecum  faciam  monimenta  coronae 
mit  451  &XXcc  aot,  ccatBQOsv  rsUaco  arscpog,  mg  -nsv  anova^g  evvEtig  . . 
Jioviaov,  so  kann  man  vielleicht  auf  eine  hellenistische  Ariadhe-Elegie 
als  Quelle  schließen,  dieselbe,  der  einige  dem  CatuU  mit  Nonnos  ge- 
meinsame Züge  (Maass  Herm.  24  [1889]  527)  entstammen  würden.  Sicher 
ist  das  freilich  keineswegs. 


62  l\irii.Mii>  ÜKiN/.i::  l7'.7 

des  Erzählers,  die  seine  U^bhuftt'  Aiiteilimhine  au  dem  (Je- 
schehenden  iiusdrückeu  oder  den  Hörer  zu  solcher  anregen. 
Dazu  gehören  schon  \N'endungen  wie  viujiorunt  amho  pariier: 
scnsisse  putares  uml  Marie  safos  scires:  iimor  nfuii;  für  die 
Auffassung  des  Erzählers  wird  dem  Hörer  der  Weg  gewiesen 
in  den  Versen: 

vciiit  ad  exjwsitos  (miriuu)  lupa  fcta  gcmellos: 
quis  crcdat  pueris  non  nocuisse  fvram! 

non  nocuisse  partim  e^t:  prodrst  quoque:  quos  lupa  vrnirit 
perdere  cognatae  sustinuere  manus, 

nnd  in  dem  Ausruf  heu  quantum  fati  parva  tahdla  tulit.  Oder 
der  Dichter  denkt  sich  —  so  lebhaft  vergegenwärtigt  er  sich 
den  Vorgang  —  als  anwesend  und  redet  den  Handelnden  an: 
quid  facis?  ex  istis  Ilomidus  alter  crit  —  als  ob  er  die  Tat 
noch  verhindern  könnte.  So  in  der  Kallistofabel  (II  178)  an 
Juno:  quid  facis?  invito  est  pectore  passa  lovem;  in  der  Arion- 
geschichte  (II  10 1): 

quid  tibi  cum  gladio?  duhiam  rege  navita  puppern/ 
non  haec  sunt  digitis  arma  tenenda  tuis; 

in  der  Fabiergeschichte  (II  225)- 

quo  ruitis,  generosa  domus?  male  creditis  hostif 
Simplex  nohilitas,  perfida  tela  cavef 

in  der  Lukreziaerzählung  (II  811): 

quid  Victor  gaudes?  haec  te  victoria  perdet  : 
heu  quanto  regnis  nox  stetit  una  tuis; 

an  Europa,  die  der  Stier  trägt  (V  610): 

Sidoni,  sie  fueras  aspicienda  lovi; 

ganz  besonders  markant,  indem  die  Begebenheit  gleichsam 
vor  den  Augen  des  Erzählers  fortschreitet^),  in  der  Fabel  von 
Janus  und  Carna  VI  123: 

i)  So  auch  in  der  elegischen  Erzählung  a.  a.  0.  III  735  quid  facis, 
infelix?  non  est  fera,  supprime  tela!  nie  miserum,  iaculo  fixa  puella  tuo 
est  (vorhergeht  713  ff.  quid  tibi  mentis  erat,  cum  sie  male  sana  lateres. 


7ij7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  63 

stulta,  videt  lanus  quae  post  sua  terga  gerantur: 

nil  agis,  et  laichras  respicit  ille  tiias. 
nil  agis  —  en,  dixi,  nam  te  suh  rupe  latentem 

occiipat  amplexii  . . 

Auch  die  Metamorphosen  enthalten  sich  dieses  Mittels 
der  Vergegenwärtigung  nicht  völlig;  aber  es  lassen  sich  doch 
aus  den  fast  12000  Versen  nur  drei  Fälle  vergleichen^):  die 
Anrede  an  Narcissus  III  432: 

credule,  quid  frustra  simulacra  fugacia  captas  ? 

quod  petis,  est  nusquam;  quod  amas,  avertere,  perdes!  usf. 

in  der  Iphismetamorphose  (IX  790),  eine  Apostrophe,  wie  sie 

sonst  oft  begegnet,  fortsetzend: 

nam  quae 
femina  nuper  eras,  pner  es.    date  tnunera  templis, 
nee  timida  gaudete  fide!  dant  munera  templis, 

ebenso  in  der  Myrrhageschichte  (X  315): 

undique  lecti 
te  cupiunt  proceres,  totoque  Oriente  iuventa 
ad  thalami  cetiamen  adest.    ex  omnibus  unum 
elige  MyrrJia  virum:  dum  ne  sit  in  omnibus  unus! 

In  den  beiden   letzten   FäUen    haben    wir  es  mehr  mit  Fort- 
führung einer  Redefigur  als  mit  einem  durch  lebhafteste  Teil- 


Procri,  quid  aitoniti  pectoris  ardor  erat?  Bezeiclmend,  daß  diese  Imi- 
tation einer  von  Virgil  auf  dem  Höhepunkt  der  Didogeschichte  ge- 
wagten Apostrophe  —  VI  405  quis  tibi  tum  Dido  cernenti  talia  sensus, 
qicosve  dabas  gemitus,  cum  .  .  —  sich  bei  Ovid  in  der  elegischen,  nicht 
in  der  epischen  Erzählung  findet);  II  575  quam  mala,  Sol,  exempla  mo- 
ves?  pete  munus  ab  ipsa,  et  tibi,  si  taeeas,  quod  dare  possit  habet. 
I  303  quo  tibi  Pasiphae  pretiosas  sumere  vestes?  illa  tuus  nullas  sentit 
adulter  opes.  quid  tibi  cum  speculo  usf.  I  691  quid  facis,  Äeacide?  . . 
reice  succinctos  operoso  stamine  fusos! 

I)  Das  häufigere  quid  faciat?  (I  617.  II  187.  356.  III  204.  VI  572) 
steht  dem  äußerlich  nahe;  aber  es  versetzt  mehr  in  die  Seele  des  Han- 
delnden, als  daß  es  die  Handlung  als  gegenwärtig  empfinden  ließe. 
Auch  Virgil  kennt  das  schon:  Aen.  IV  383.  IX  67.  599.  XII  486. 


64  KiciiAKU  IIkinze:  [7'i7 

nalimo  an  der  voUkomiuen  vorgegemvärtigten  llaiuUuuij;  mo- 
tivierten Eingreifen  iles  Dichters  zu  tim.  Die  Fignr  der  Apo- 
strophe selbst  drückt  eine  solche  Vorgegenwärtigung  nicht 
notwendig  aus;  auch  wo  sie,  ihrem  eigentlichen  Sinne  gemäß, 
ein  näheres  Verhältnis  des  Dichters  zum  Angerodeten,  zumeist 
Mitgefühl  oder  Bewunderung  bekundet,  hebt  sie  doch  das 
Gefühl  der  Distanz  nicht  auf,  das  der  epische  Erzähler  seinen 
Personen  gegenüber  fester  hält  als  der  elegische.  Das  Vorbild 
Homers  hat  die  Apostrophe  auch  für  den  streng  epischen 
Stil  legalisiert,  und  die  römischen  Epiker  haben  sich  des 
Kuustmittels  bedient,  um  der  Erzählung  pathetische  Färbung 
zu  geben:  sind  freilich  —  schon  Virgil,  und  in  steigendem 
Maße  die  jüngeren  —  darüber  hinausgegangen  und  haben  es 
zur  bloßen  Redefigur  degradiert,  die  der  metrischen  Bequem- 
lichkeit oder  dem  Abwechselungsbedürfnis  dient.')  Dement- 
sprechend ist  auch  in  den  Metamorphosen  die  Apostrophe 
häufig:  erheblich  häufiger  in  den  Erzählungen  der  Fasten^), 
und  daß  Ovid  eine  Empfindung  dafür  hat,  daß  die  Figur  dem 
elegischen  Stil  eigentlich  gemäßer  ist  als  dem  epischen,  dar- 
auf mag  hindeuten,  daß  von  den  beiden  gleichsam  paradigma- 
tischen Parallelerzähluugen  vom  Raub  der  Proserpina  die  ele- 
gische besonders  häufig,  die  epische  niemals  apostrophiert. 
Ich  bemerke  gleich  hier,  daß  auch  Kallimachos,  wie  das  neue 
Kjdippestück  (v.  40.  44.  53)  lehrt,  in  der  elegischen  Erzählung 
reichlich  von  der  Apostrophe  Gebrauch  gemacht  hat.  Der 
Vers  KciXh%ÖQ03  STtl  cpQrjrl  xad'E^eo  naiöog  anvörog  (fr.  469), 
der  wohl  auch  apostrophierend  erzählt,  mag  aus  Ovids  Vor- 


i)  Endt,  Der  Gebrauch  der  Apostrophe  bei  den  lateinischen  Epikern, 
Wiener  Stud.  27  (1905),  106  flf.  und  (ohne  Kenntnis  dieses  Vorgängers) 
E.  Hampel,  de  apostrophae  apud  Romanorum  poetas  usu,  Diss.  Jena  1908. 

2)  Nach  Hampel  p.  41  in  je  120  Versen  der  Met.,  in  je  50  Versen 
der  Fasten  einmal:  aber  in  den  Met.  sind  die  ausgedehnten  Reden  für 
sich  zu  betrachten,  in  den  Fasten  die  Erzählungen  von  den  übrigen 
Partien  zu  sondern.  Für  die  Erzählungen  stellt  sich  nach  meiner 
Rechnung  das  Verhältnis  so,  daß  die  Fasten  reichlich  doppelt  so  oft 
Apostrophe  haben  wie  die  Met. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  65 

läge  für  die  Fastenerzählung  stammen.^)  Linos  wird  ange- 
redet (fr.  127)  ÜQvsg  TOL,  gpi'/lf  y.ovQS^  6vvijXi,XEg,  ccqvs^- 
axalQOi  aöxov.  Etwas  anders  ist  es  aufzufassen,  daß  die 
lange  Heraklesgeschichte  in  den  Aitia,  von  der  wir  jetzt 
Stücke  besitzen,  als  Anrede  an  den  Gott  geformt  war; 
sie  schloß  mit  dem  Gruße  xcclqs  ßuQvöy.CTcav,  und  wir 
haben  hier  also  Imitation  des  Hymnenstils,  der  die  apostro- 
phierende Erzählung  liebt.  Solche  lang  ausgedehnte  Apo- 
strophen hat  Ovid  in  den  Fasten  nicht,  wohl  aber  in  den 
Metamorphosen,  nicht  nur  bei  Göttern,  wie  in  der  Erzählung 
Ton  Apollo  n  676 — 683,  von  Sol  III  192 — 203,  sondern  ganz 
beliebig  auch  sonst  (z.  B.  IX  447 — 453.  X  120 — 125.  XI 
236  —  244);  das  wird  er  auf  die  Autorität  Virgils^)  hin  als 
episches  Kunstmittel  gerechnet  haben. 

7- 
Die  Proserpinaerzählung  der  Fasten  unterscheidet  sich, 
wie  wir  sahen,  sehr  merklich  von  der  der  Metamorphosen  in 
der  Verwendung  der  direkten  Rede:  beide  haben  gemein  die 
Rede  der  Ceres  vor  Juppiter  und  dessen  Erwiderung,  aber 
in  den  Metamorphosen  war  beides  auf  einen  höheren,  pathe- 
tisch-rhetorischen Ton  gestimmt;  die  Fasten  haben  außerdem 
noch  eine  große  Zahl  von  Aufforderungen,  Fragen,  Ausrufen 
in  direkter  Rede,  ferner  ein  vielteiliges  Zwiegespräch,  was 
alles  in  den  Metam.  fehlt.  Diese  Unterschiede  gelten  für  die 
beiden  Gedichte  als  Ganze  nicht  durchweg.  Auch  die  Meta- 
morphosen weisen  sonst  fast  überall  kurze  direkte  Reden  von 
einigen  Worten  oder  ein,  zwei  Versen  auf,  sehr  viel  mehr  als 
die  Aeneis,  die  solches  nicht  vermeidet,  aber  doch  sparsam 
und  fast  nur  in  lebhaftest  erregter  Handlung,  zumal  den 
Kampfszenen  anwendet.  Man  darf  annehmen,  daß  Ovid  sich 
dieser  Beschränkung  des  hohen  epischen  Stils  bewußt  war 
und  in  der  epischen  Proserpinaerzählung,    die   im   Gegensatz 

i)  Malten  a.  a.  0.  (ob.  S.  2)  546,   der  aber  Kci^i^Bo  als  Imperativ 
versteht. 

2)  Aen.  VII  1—4;  X  324—327;  391—396;  XII  542—547.     ■ 
Phil.-hist.  Klasse  1919.   Ed.  LXXI.  7.  5 


66  RiciiAiin  Hein/k:  [71,7 

z\ir  FusteiuMziihlun^  ein   Muster  dieses  Stils  geoen  sollt»-,  mit 
Absicht  daniuf  ver/ichtet.     Ein  Gespräch  freilich,  wie  es  die 
Fasten  111  ^a — 346  zwischen  Ndnia  und  .luppiter,  V  235 — 254 
zwischen  Flora  und  Juno  oder  IV  512 — 527  zwisclien  ('eres, 
Celeus  und  seiner  Tochter  teils  in   direkter  Kede,    teils    refe- 
rierend   fjfeben,    wird    man    in    d<>n    Metamorphosen   so  weni«' 
wie    in   der   Aeneis    tinden,    und    man    wird    auch    bemerken, 
daß    die    erwähnten  kurzen   Reden    der   Metam.    überwieo'end, 
mehr  als  in  den  Fasten,  zur  Illustrierung  des  starken  n-«»h>^ 
c<der  des  vipog  dienen.')     Vielleicht   noch    Größen-    und   deutli- 
cher ist  der  Abstand  in  den  längeren  Reden.    Daß  solche  in 
den  Fasten  überhaupt  selten  vorkommen,   kann   man  auf  die 
Kürze    der    meisten    ErzähUmgen    schieben;    aber    auch    die 
wenigen,  die  begegnen,  wird  man  kaum  j(^  versucht  sein  als 
orationcs,  als  anfein  bestimmtes  Ziel  gerichtete  und  also  natur- 
(i-emäß  'rhetorisch'  angeleojtc  Reden  zu  bezeichnen.  Man  denke 
an  die  Worte  der  Lukrezia  II  745—754,    die    Monologe    der 
llia   III  27 — 38    und  der  Ariadne  III  471—506,    die  Bittrede 
der  Ceres  vor  Juppiter  IV  587  —  596,    die   Klage   des  Remus 
y  45g — 474;  überall  lyrische,  nicht  episch-rhetorische  Haltung, 
Die  Worte,    die  Aeneas  III  613—624   zu  Anna   spricht,    er- 
innern —  wohl  absichtlich  —  an  des  Aeneas  Rechtfertigung 
vor  Dido  Aen.  IV  T,T,i — 361:   aber  der  Epiker  gibt  eine  den 
Gegenstand  nach  allen  Seiten  erschöpfende,  wohl  disponierte 
Rede,    der  Elegiker    beschränkt    sich    auf   wenige   Verse,    in 


i)  Z.  B.  ist  der  Vergleich  der  Hyrieusgeschichte  der  Faäten  V 
495  ff.  mit  der  Erzählung  von  Philemon  und  Bauci.s  met.  VIII  018  if. 
auch  hier  lehrreich:  die  Fasten  geben  in  direkter  Hede  die  Einladung 
des  Hyrieus  —  ganz  unpathetisch  —  und  die  Worte  Neptuns  da  nunc 
bibat  ordine  luppiter;  die  Metam.  lassen  zuerst  Juppiter  mit  voller 
göttlicher  Autorität  reden  689  ff.;  die  Freistellung  des  Wunsches  ist 
beiden  Erzählungen  gemeinsam  ebenso  wie  der  Wunsch  selbst;  aber  man 
vergleiche  fast.  523  verba  fuere  lovis:  siquid  fert,  impetus,  npta;  omne 
feres  mit  met.  703  talia  tum  placido  Saturnius  edidit  ore:  dicite  iusfe 
senex  et  feniina  coniuge  imto  digna  quid  optelif;,  und  ebeneo  die  Ant- 
worten des  Hyrieus  und  des  Philemon,  um  den  «reiten  Abetand  des 
Tons  zu  empfinden. 


7^,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  67 

denen  die  Motive  nur  eben  angeschlagen  werden.  Die  lange 
Rede  der  Carmentis  I  509—536  besteht  ans  dem  Gebet  an 
die  Götter  der  neuen  Heimat  und  dem  vatieinium,  das  deut- 
lich dem  der  Sibylle  in  Tibulls  Elegie  II  5  nachgebildet  ist-, 
ähnlich  das  vaticinium  derselben  VI  541 — 548.  Mit  den  ge- 
nannten sind  die  Fälle  erschöpft,  in  denen  sich  direkte  Rede 
iu  den  Fastenerzälüungen  über  drei  Disticha  ausdehnt;  nur 
zwei  bleiben  noch,  die  für  sich  stehen. 

Ein  merkwürdiges  Stück  ist  die  Trostrede,  die  Ovid  I 
479 — 496  Carmentis,  der  Mutter  des  aus  der  Heimat  vertrie- 
benen Euander,  in  der  Mund  legt:  die  einfache  Yersifizierung 
einiger  Tojrot  Ttsgl  g>vyi]g'^),  ganz  ohne  individuelle  Züge.  Es 
ist  nicht  abzusehen,  was  den  Dichter  bewogen  haben  kann, 
die  gottbegeisterte  Seherin,  deren  enthusiastische  Fropheten- 
gabe  vorher  und  nachher  so  stark  betont  wird,  hier  iu  der 
RoUe  der  verständigen  philosophischen  Beraterin  auftreten  zu 
lassen^):  es  müßte  denn  sein,  daß  Ovid  —  freilich   unglück- 

i)  Wünsch,  Rh.  M.  56  (1901),  398  ff.  Das  'Schema  der  ßhetoren- 
schule'  kann  ich  freilich  als  Quelle  nicht  anerkennen,  da  ich  nichts 
davon  weiß,  daß  ein  solches  existiert  hätte;  die  Popularphilosophie 
aber  hat  über  das  Thema  genügend  oft  gebandelt,  so  daß  ihre  Ge- 
meinplätze dem  Ovid  bekannt  sein  mußten.  Über  Euander  bei  Seneca 
ad  Heiv.  VII  6  urteilt  Wünsch  unrichtig. 

2)  Die  Vermutung,  daß  wir  es  mit  einem  Zusatz  aus  Ovids  Exils- 
zeit zu  tun  haben,  ist  von  Peteh  (z.  öt.)  für  v.  481 — 486  mit  Hinweis 
auf  ex  Ponto  I  10,  42  Caisaris  offensum  dum  milii  numen  erit  ausge- 
.sprochen,  von  Knögkl  (de  retractatione  fastorum  ab  Ovidio  Tomis  insti- 
tuta,  Diss  Münst.  1885,  p.  15)  auf  die  ganze  Rede  ausgedehnt  worden. 
Bemerkenswert  ist  in  der  Tat,  daß  nur  Ovid  die  mwiipüs  im.  als  Ver- 
bannuugsgrund  angibt,  und  daß  er  voraussetzt,  Euander  habe  sich 
diesen  Zoi-n  der  —  nicht  genannten  —  Gottheit  ohne  eigene  ."-'chuld 
zugezogen.  Wenn  ich  trotzdem  jene  Vermutung  nicht  annehme,  so  be- 
stimmen mich  dazu  weniger  die  von  Winthkr  (Woch.  f  kl.  Ph.  i886, 
328)  und  Wünsch  a.  a.  0.  vorgebrachten  Gründe,  als  der  umstand,  daß 
die  Stellung  Ovids  zu  seiner  eignen  Verbannung  der  hier  von  Car- 
mentis empfohlenen  entgegengesetzt  ist;  der  Vers  540  felix,  exilium  cui 
locus  nie  fuit,  den  auch  ich  als  späteren  Zusatz  ansehe  (vgl.  VI  966  und 
IV  83  fg.),  widerspricht  stracks  den  Worten  der  Carmentis  493  if.  Aber 
ich  wünschte  dies  Argument  widerlegt  zu  sehen:     uann  lipße  t-ich  die 


Ö8  KiiuiAiiu  1Iiux/,k:  |7',7 

lieh  genug  —  versucht  hätte,  an  der  'Sängerin'  xar  ii,oyriv  — 
er  leitet  ja  den  Namen  von  Carmen  ab  —  den  Satz  zu  illu- 
strieren, daß  die  votes  von  Urzeit  an  auch  Lehrer  der  Weis- 
heit und  Tugend  gewesen  sind.  Jedenfalls  hält  er  sicli  mit 
seiner  consolatio  ganz  im  Ralimen  der  elegischen  Stoffe,  mag 
man  nun  an  die  Trauer-  und  Trostgedichte  z.  B.  des  Properz 
oder,  was  stilistisch  näher  liegt,  an  die  alte  gnomische  Elegie 
denken. 

Anders  steht  es  um  den  zweiten  noch  zu  erwähnenden 
Fall,  die  llede  des  Mars  im  Götterrat  VI  355 — 374.  Das  ist,  ganz 
im  Gegensatz  zu  desselben  Mars  Anrede  an  Juppiter  II  483  ff., 
eine  als  solenne  iudignatio  stilisierte  Rede,  in  fünf  Doppel- 
distichen gegliedert,  voll  bitterer  Ironie  und  emjiörten  Vor- 
wurfs, gemahnend  an  epische  Vorbilder,  wie  die  indignationes 
der  Juno  und  die  Rede  der  Venus  im  Götterrat  von  Aen.  X. 
Auch  die  weitere  Erzählung  arbeitet  mit  dem  epischen  Götter- 
apparat: nachdem  noch  Venus,  Quirinus  und  Vesta  'viel'  für 
die  Römer  gesprochen  haben,  verheißt  Juppiter  die  Niederlage 
der  Gallier,  gibt  der  Vesta  einen  Auftrag,  erscheint  den  römi- 
schen Führern  im  Traum  und  gibt  einen  Befehl  in  dunkler 
Orakelsprache:  das  alles  führt  zu  nichts  anderem  als  der 
Kriegslist,  durch  die  den  Galliern  die  Hoffnung  genommen 
wird,  die  Besatzung  des  Kapitels  durch  Hunger  zur  Über- 
gabe zu  zwingen:  die  Römer  werfen  Brote  unter  die  Feinde. 
Über  den  Erfolg  berichtet  Ovid  kurz  und  unklar:  hoste  repulso 
wird  dem  Juppiter  Victor  ein  Altar  errichtet.  Dies  aiZLov, 
das  uns  nur  Ovid  überliefert,  ist  schwerlich  von  ihm  erfun- 
den; dann  muß  sein  Gewährsmann  auch  die  Kriegslist  auf 
den  Rat  Jnppiters  zurückgeführt  haben.  Natürlich  mußte 
dann  auch  der  List  ein  entscheidender  Erfolg  beigelegt  werden; 
die  Fassung  des  Livius  V  48,  wonach  die  List  eine  bloße 
Episode  ist  und  schließlich  doch  die  Hungersnot  die  Römer 
zu  schimpflichen  Übergabeverhandlungen  zwingt,  war  damit 
unvereinbar.     Vielmehr   müssen    die    Gallier    durch    die    List 


merkwürdige    Einlage  befriedigender  erklären,    als   ich    es    oben    ver- 
sucht habe. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErzÄHLUNG.  69 

bewogen  worden  sein,  sich  auf  Yerliandluiigen  einzulassen, 
wie  dies  Valerius  Max.  VII  9,  3  erzählt,  und  dies  muß  — 
anders  als  in  der  Erzählung  der  jüngeren  Annalisten  von 
Camillus'  Eingreifen^)  —  die  Kettung  Roms  vom  Untergange 
bedeutet  haben.  Ovids  hoste  repidso  bedeutet  also  eine  schlechte 
Verbindung  zweier  Versionen,  durch  die  er  einerseits  die 
Wirkung  der  List  aufrecht  zu  erhalten,  andererseits  die  römi- 
sche Waffenehre  zu  retten  sucht.  Das  ccitlov  selbst  ist  ihm 
aber  offenbar,  da  es  ja  an  die  größte  Katastrophe  der  alt- 
römischen Geschichte  anknüpft,  zu  kleinlich  erschienen,  und 
er  hat  es  durch  Anleihen  beim  Epos  zu  einer  olympischen 
Haupt-  und  Staatsaktion  aufgebauscht  —  unglücklich  genug 
denn  das  Motiv  des  consiliurn  deorum  ist  hier,  wo  alle  Götter 
einig  sind,  übel  am  Platze,  und  die  Erfindung,  daß  Juppiter 
zuerst  dem  Mars  das  Wort  erteilt,  auf  dessen  Wunsch  —  so 
muß  man  sich's  doch  denken  —  die  Versammlung  einberufen 
ist,  widerspricht  aller  guten  epischen  Tradition.")  Auch  der 
Schluß  von  Mars'  Rede,  so  heroisch  er  klingt,  ist  der  Situa- 
tion schlecht  angemessen:  es  hindert  ja  niemand  die  Römer, 
einen  Ausfall  zu  machen,  um  Sieg  oder  Tod  zu  suchen.  — 
So  werden  wir  die  vom  elegischen  Stil  abweichende  Haltung 
der  Marsrede  auf  eine  Linie  mit  dem  episierenden  Aufputz 
der  Fabiererzählung  (ob.  S.  44)  zu  stellen  und  sie  als  Fremd- 
körper in  der  elegischen  Erzählung  aufzufassen  haben. 

Daß  im  Gegensatz  zu  den  Fasten  die  Metamorphosen 
auch  in  der  Verwendung  der  hochgestimmten  pathetischen 
langen  Rede  die  epische,  speziell  virgilische  Tradition  fort- 
setzen, bedarf  nicht  des  Beweises.  Ovid  geht  dabei  über 
seinen  großen  Vorgänger  weit  hinaus.    Auch  Virgil  empfindet 


i)  Die  aber  nicht  selbst  jungen  Ursprungs  gewesen  sein  muß: 
MüNZEK,  R.-E.  VII  331  ff. 

2)  Wenn  Ribbeck  der  Gütterrat  ''wie  eine  Parodie'  erschien  (Gesch. 
der  röm.  Dicht.  11  279),  so  ging  er  von  einem  richtigen  Empfinden  aus, 
aber  es  ist  natürlich  ganz  ausgeschlossen,  daß  Ovid  wirklich  an  Paro- 
die in  der  Art  des  Lucilius  gedacht  habe,  wo  die  Rettung  Roms  aus 
höchster  Not  in  Frage  steht. 


"JO  KirRAUD  FTrinzk:  [7 ',7 

63   stetd    niu-]\,    wie    sich    dio    Ereignisse    in    der  Seele  seiner 
Persüiien  wideri5pie«]feln;  aber  er  befi^nüfi^t  sioh  zumeist  damit, 
(   das  durch  dio  l'ürbuuiv  seiner  Erzähhiupc  anzudeuten;  nur  in 
I   der  Did(>p;eschiehtc  läßt  er  dio  direkte  liodc  und  drn  Monolog 
1  in  größerem  Unilange  eintreten,  um  den  Seoleuznstand  seiner 
Heldin  in  foitschreitendcr  Enhvieklung  zu   malen.    Dem  Ovid 
stellt   dio   diskrete    iüiiisl    d(>r    ieinabgetönten  P^rzählung  viel 
weniger  zu  Gel)ote:  oi't  erzählt  ei*  auödriieklieh  von  der  Stim- 
mung   .meiner   Personen,    uoeh    lieber    wählt   er   direkte   Rede 
oder  Monolog  zur  Schilderung   der  Seelenvcriasfeung.    in    die 
irgendeine  uugcwölmliclie  Lebenslage  seine  Personen  versetzt 
hat;  ja   er   erfindet  wohl   gar    solche  Lagen  eigens,    um  Ge- 
legenheit zu  solcher  Äußerung  zu  geben.  ^)     Er  hält  zumeist 
(und  besonders  in  den  Monologen)  darauf,  daß  die  Handlung 
epischem   Gesetz  gemäß   durch  die  Rede  weitergeführt  wird; 
fiber   er    dehnt   die   Rede    doch   oft   weit   über  das  durch  die 
Handlung  Geforderte  aus,  um  die  Stimmung  des  Handelnden 
allseitig  zu  erschöpfen.^)     Nach   der  jetzt  herrschenden  Auf- 
fassung   sind    das    alles    einfach    rhetorische    :rQoaco^o7Coiiat: 
Ovid  hätte  danach  als  Epiker  die  Progymnasmen  der  Rheto- 
renschule  weiter  kultiviert.     Das  scheint  mir  eine  oberfläch- 
liche Erklärung,    die    zudem    nicht  damit  rechnet,    daß    auch 
Theon  noch  in  seinen  Vorschriften  für  das  TtQoyv^vua^c^.  der 
Prosopopoie  offenbar  an  Stoffe  wie  die  der  ovidischeu  Reden 
nicht    denkt    (Rh.  Gr.  H  iisSp.).     Ich  sehe  vielmehr   in   der 
ovidischen  Art  eine  konsequente  Weiterentwicklung  der  vir- 
gilischen.  auf  die  freilich  in  der  Ausgestaltung  des  einzelnen 
die  moderne  Richtung   der  Beredsamkeit  auf  sentenziöse  Zu- 
spitzung, geistreiches  Gedankenspiel  und  psychologische  Ana- 

1)  So  I651 — 663,  \s'o  luacliuä  die  lange  vermißte  Tochter  als  Kuh 
•doch  nur  wiedersehen  muß,  um  dem  Dichter  Gelegenlieit  zu  geben, 
■durch  eine  Hede  auszudrücken^  was  etwa  ein  Vater  in  solcher  gewiß 
sehr  ungewöhnlichen  Lage  empfinden  mag. 

2)  Su  Fentheub"  cohortatio  III  531 — 562,  oder  Niobes  Trutzrede 
n  170—202  oder  Philomelas  Anklage-  und  Drohrede  VI  533— 5+8  oder 
Medeas  Gebet  VII  192—219  usf. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   EUZÄHLUNG.  7I 

lyse  starken  Einfluß  geübt  Lat.  Virgil  legt  sehr  viel  größe- 
res Gewicht  auf  die  Schilderung  der  seelischen  Vorgänge  als 
der  äußeren  Ereignisse;  die  Anschaulichkeit  und  der  quellende 
Reiclituni  sichtbaren  Geschehens,  der  dem  alten  Epos  eignet, 
hat  dabei  sichtlicli  verloren.  Ovid  mit  seiner  lebhafteren  Phan- 
tasie, seiner  Freude  an  der  Bewegung  und  den  Farben  des 
bunten  Lebens  ist  viel  reicher  als  Virgil  an  sinnlichen  Ein- 
drücken und  hat  viel  mehr  den  Trieb,  sich  selbst  und  dem 
Hörer  sichtbare  Bilder  vor  Augen  zu  führen.  In  seiner  ele- 
gischen Erzählung  tritt  das  freilich  ganz  zurück;  aber  in  den 
Metamorphosen  schwelgt  er  in  der  Erfindung  und  Ausmalung 
solcher  Bilder.  Aber  er  ist  keineswegs  gesonnen,  darum  auf 
die  virgilische  Eroberung  des  seelischen  Lebens  für  die  epi- 
sche Erzählung  zu  verzichten.  Im  Gegenteil:  er  ist  unersätt- 
lich im  Aufspüren  und  nacherlebenden  Genießen  immer  neuer 
Nuancen  und  AVaudlungen  der  Affekte  —  in  der  Bevorzugung 
atfektischer  Seelenzustände  stimmt  er  ganz  mit  Virgil  über- 
ein — ,  dankbar  für  die  Fülle  wunderbarer  oder  doch  außer- 
gewöhnlicher Geschehnisse,  wie  sie  ihm  der  Schatz  griechi- 
scher Mythen  bot,  vor  allem  deshalb,  weil  jedes  solche  Ge- 
schehnis einen  Seelenzustand  voraussetzt  oder  hervorruft,  den 
es  zu  entdecken,  zu  enthüllen  gilt.  Er  hält  sich  auch  nicht, 
wie  Virgil,  an  die  einfacheß,  ungebrochenen  Affekte;  so  wenig 
er  solche  verschmäht,  so  sehr  reizt  ihn  doch  andererseits 
das  Komplizierte,  Schillernde,  ja  das  Perverse.  Er  ist  in  dem 
allen  so  recht  das  Kind  seiner  Zeit,  der  eigentlichen  Blüte- 
zeit der  'Deklamation'.  I/Denn  wer  etwa  glaubt,  das  Wesen 
dieser  neuen  Kunstgatiung  von  formalen  Gesichtspunkten  aus 
erschöpfen  zu  können,  irrt  sehr;  es  steckt  auch  in  jenen 
Suasorien  und  Kontroversien  eine  FüUe  von  psychologischer 
Beobachtung  und  psychologischer  Phantasie,  die  noch  ganz 
der  Würdigung  harrt.  Man  kann  es  nur  bedauern,  daß  die 
Zähigkeit  der  literarischen  Formen  dazu  geführt  hat,  daß 
all  dies  Können  sich,  statt  etwa  im  psychologischen  Zeit- 
roman, gerade  in  fingierter  Beratungs-  und  Gerichtsrede 
äußern  mußte.    Freilich  dem  Dichter  hohen  Stil  standen  Tra- 


72  KniiAKij  IIkin/.r:  [7 '.7 

•^ödie  und  Epos  zu  Geliote;  nur  niuBto  er  daim  auf  die  Dar- 
stellung dos  gegen  wärt  i^'t'U  Lebens  verzichti'n,  in  dem  er  doch 
mit  allen  Fasern  wurzelte.  Ovid  traute  es  sicli  zu,  den 
Heroen  und  Heroinen  inmitten  ihrer  zeitlosen  |diantastischen 
Wundeiwclt  Seelen  zu  geben,  die  alle  Regungen  des  zeitge- 
nössisi'hen  Seelenlebens  widerspiegeln  sollten,  und  in  denen 
der  psychologisehe  Feinsebmccker  sein  (ieniigi'  linden  konnte. 
Kein  Wunder,  daß  der  Anaclironismns,  die  unvermeidliche 
Folge  dieses  Strebens,  sich  uns  oft  genug  in  unerfreulicher 
Weise  fühlbar  macht;  die  Zeitgenossen  werden  das  sehr  viel 
weniger  empfunden  haben  als  wir.  Es  ist  aber  klar,  daß  die 
pathetische  Rede  für  Ovids  Zwecke  das  vornehmste  Mittel 
sein  mußte:  in  der  objektiven  Schilderung  der  Stimmungen 
und  Atfekte  war  man  noch  wenig  erfahren;  dagegen  war  es 
/.ur  täglichen  Übung  geworden,  solche  psychologische  Fiktio- 
nen durch  fingierte  Rede  zu  veranschaulichen.  In  diesem 
Sinne  wird  man  denn  auch  vom  Epiker  Ovid  als  dem  Zög- 
ling der  Rhetorenschule  reden  können;  die  Deklamation  hat 
ihm  den  Weg  geebnet,  den  er  in  der  Nachfolge  Virgils,  sei- 
nem Genius  und  dem  der  Zeit  gehorsam,  gehen  mußte.  Das 
ist  doch  etwas  sehr  anderes,  als  wenn  man  die  ovidischen 
Reden  als  versifizierte  Schulexerzitien  auffaßt  und  in  den 
rhetorum  praecepta  den  eigentlichen  Quell  seines  SchaflFens 
sieht. 

Daß  nun  die  elegische  Erzählung  für  solche  Leistungen 
ein  sehr  viel  ungünstigerer  Boden  sein  mußte,  leuchtet  ein; 
sie  erstrebt,  wie  uns  weiterhin  noch  klarer  werden  wird,  in 
erster  Linie  nicht  die  Vertiefung  in  absonderliche  fremde 
Schicksale  und  Empfindungen,  sondern  den  Ausdruck  von  des 
Dichters  eigener,  jedem  Mitfühlenden  leicht  zugänglicher  Emp- 
findung; sie  wird  also  weniger  als  die  epische  Erzählung  die 
unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Affekte  oder  die  durch  ganz 
singulare  Erlebnisse  erzeugte  Eigenart  eines  Affekts  zu  zeigen 
berufen  sein.  Sie  steht  in  allem  der  Wirklichkeit  sehr  viel 
näher  als  die  epische  Erzählung  und  bedarf  schon  darum  viel 
seltener  derjenigen  Kunstmittel,  die  den  Hörer  über  die  Wirk- 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  73 

lichkeit  in  eine  Phantasiewelt  hinausheben.  Sie  verzichtet 
im  allgemeinen  auf  das  'Erhabene',  auf  den  heroischen  Affekt, 
und  kann  also  der  gewaltsam  pathetischen  Rede,  die  das 
Hauptausdrucksmittel  solchen  Affekts  ist,  entraten. 

8. 

Nach  allem  bisher  Festgestellten  wird  man  erwarten, 
daß  auch  die  sprachliche  Form  der  elegischen  Erzählung 
sich  durch  größere  Schlichtheit  und  Natürlichkeit  von  der 
epischen  unterscheidet.  Der  Vergleich  bestätigt  diese  Erwar- 
tung durchaus.  Nicht  als  ob  die  Elegie  auf  poetischen  Schmuck 
verzichtete  und  die  Sprache  des  Alltags  redete;  gerade  die 
Proserpinaerzählung  mit  ihrem  vergleichsweise  hohen  Ton 
weist  kaum  einen  Satz  auf,  den  der  Prosaiker  so  hätte 
schreiben  können.  Aber  doch  ist  die  Metamorphosenerzählung 
reicher  einerseits  an  kühnen  Umschreibungen,  andererseits  an 
pointierten  Formulierungen,  die  den  Gedanken  zusammen- 
raffen: der  Stil  hat  im  ganzen  mehr  Energie  und  mehr 
Größe;  auch  spezifisch  poetische  Worte  und  lexikalische  Neu- 
bildungen sind  dort  viel  häufiger.  Ich  stelle  ein  paar  Wen- 
dungen nebeneinander,  die  dies  Verhältnis  unmittelbar  veran- 
schaulichen: Fast.  IV  493  illic  accendit  geminas  pro  lampade 
pinus;  met.  V  441  duahus  flanimiferas  pinus  manihus  suc- 
cendit  ah  Aetna  perqiie  pruinosas  tulit  inreqiiieta  tenebras.  — 
Fast.  574  praeter itus  Cereri  niillus  in  orhe  locus;  met.  463 
quaerenti  defuit  orhis.  —  Fast.  445  Jianc  videt  et  visam  patruiis 
velociter  aufert;  met.  395  paene  simtd  visa  est  diledaque  rap- 
taque  Diti.  —  Fast.  447  illa  quidem  clamdbat  'io,  carissima 
mater,  auferor\  ipsa  siios  aVscidcratque  sinus;  met.  396  dea 
territa  niaesto  et  matreni  et  comites,  sed  matrem  saepius,  ore 
damat,  d  ut  summa  vestem  laniarat  ah  ora  ...  —  Fast.  584 
nupta  lovis  fratri  tertia  regna  tenet;  met.  507  sed  regina  ta- 
rnen, sed  opaci  maxima  mundi,  sed  tarnen  inferni  pollens  ma- 
irona  tyranni.  Einige  parallele  Wendungen  aus  den  beiden 
Fassungen  der  Kallistogeschichte:  Fast.  II  163  mille  feras 
Phoehe   silvis   venata  redihat;    met.  441    Bictynna  per   altum 


74  fdrjtAKH  IIkin/.k:  I7't7 

}fti«nal<ii>    int/tu (ilci/s   rt  cacde  supeiha   femruni.     -    Fiust.   104 
(tut  plus  ai(t  medium  solc  (cm-ntr  i/irni:   iiiel.  454   cum  den  vc- 
natii  fnttcrnis  liUKju'nUt  jlnrnmis.  —  Fast.  i()5   tU  tt'fiffit  ha  um 
(dcnsa  nifjcr  Hier  Inrus,  in  »icdin  (jcliddr  /ntis  cral  nl(i(S  aiiiiae); 
inet.  455    n(i<l(i   ))rmiis   <ielidum,    de  (jko  citin  mioniurc  lahms 
ih(d  et   (ittrifns   versidiaf   rivus  liuroias.  —  Fast.  168  hie,  ait, 
in  Silva,  cinjo  Tvgenea,  lavcmar:  niel.  458  jirocid  csf,  ait,  arhiter 
ouniis:  nuda  sapcrfusis  tiiujnmus  corpora  lymphis.  -  -  Fast.  171 
iiiiri    »imiifesfd    iumorc   pmditur    indicio    pondcns   ipsa    sin; 
niet.  402    niido  jxdnit  mm   corpore  crimen .  —   Fast.  183  iam 
frin   liisfrd   pncr  fnrto   eonceptus  agehal;    met.  497    Lyeaoniae 
prolcs  ignara  ^)r/>'(?«^/6'.   Areas  adcst  (er  quimjxc  ferr  )Hitalihus 
actis.  —  Fast.  185    illa  qiiidcm ,   tamqu<(m,  cognosccrcl,   adstitit 
amcns:  met.  500  quae  restitit  Ärcadc  viso  et  cognoscenti  similis 
fiiif.   —    Fast.   187    JiaiiC  puer    ignarus    iacido   fixissct   aciito; 
luct.  504   vulnifico  fiiercd  fiocurus  peciora  telo.  —  Fast.  188  ni 
foret  in  supcras  rapfus  uterquc  domos;  met.  506  2)<^^'itcr  raptos 
per  inania  vento  inposvit  caelo.  —  Fast.  192  Maentdiam  toctis 
ne  lavet  Arcton  aquis]    met.  530  ne  puro  tingatur  in  aequore 
paclcx. 

Der  Spraclistil  der  Metamorphosen  hält  sich  nicht  durch- 
weg auf  gleicher  Höhe:  Ovids  Takt  in  stilistischen  Dingen 
läßt  das  nicht  zu.  AVo  Götter  und  Heroen  nicht  mitsj)iclen, 
starke  aktive  Affekte  nicht  erregt  Averdeu,  bequemt  sich  die 
Sprache  dem  an  und  nähert  sich  der  elegischen  Haltung. 
Lehrreich  hierfür  ist  der  Vergleich  der  Daedaluserzähluug 
VUI  1 83  ö'.  mit  der  elegischen  Darstellung  desselben  Stoö'es 
tu's  am.  H  21  ff'.  Hier  bildet  die  Erzählung  einen  Teil  des 
ProoemiumSj  erhebt  sich  daher  über  den  gewohnten  elegi- 
schen Ton  und  nähert  sich  also  ihrerseits  dem  ejiischen.  So 
hat  denn  Ovid  hier  —  was  in  den  Parallelerzähl ungeu  der 
Met.  und  Fasten  nie  begegnet  —  eine  Anzahl  von  Versen 
ganz  oder  fast  ganz  unverändert  in  das  Epos  übernehmen 
können,  und  wo  der  Ausdruck  variiert,  ist  der  epische  dem 
elegischen  vielfach  nicht  überlegen.  Immerhin  begegnen  doch 
selbst    hier    Fälle,    in    denen   das   Epos    eine   Erhöhung  ver- 


71,7]  OVIDS   ELEGISCHE   ERZÄHIiUNG.  75 

langte:  a.  a.  65  dum  nionet,  aptat  opus  puero;  raet.  208 
pariter  praecepta  volnndi  tradit  et  iynotas  umcris  accommodat 
alas.  —  a.  a.  66  erudit  inftrmas  ut  sua  mater  aves;  met.  213 
v'iut  (des,  ah  alto  qiiae  teneram  prolcm  produxit  in  aera  nido. 
—  H.  a.  7  5  ff.  83  ff.  iamquc  novum  deledat  iter,  positoque 
timore  Icarus  audaci  fortius  arte  volat  .  .  cum  puer,  incautis 
nlmiuui  temer ar ins  annis,  altius  efjit  iter  deseruitque  pafrem; 
met.  22^  cum  puer  audaci  coepit  gaudere  volatu  deseruitque 
ducem  caeliqiie  cupidine  tractus  (doppelte  Alliteration,  und 
die  Unvorsichtis^keit  des  Knaben  durch  den  Di-antr  nach 
himmlischen  Höhen  ersetzt)  altius  e(/it  iter.  —  a.  a.  85  vincta 
labant  et  cera  dco  propiore  liqucscit ;  met.  225  rapidi  vicinia 
solis  mollit  odoratas,  pennarum  vinnda,  ceras. 

Unter  den  für  den  Gesamteindruck  Ausschlag  gebenden 
stilistischen  Momenten  habe  ich  eines  noch  nicht  berührt: 
die  Periodisieruug.  Und  hier  nun  spielt  das  Metrum,  von 
dem  wir  bisher  keine  .Veranlassung  hatten,  zu  reden,  eine 
sehr  wichtige  Rolle.  Das  elegische  Distichon,  metrisch  eine 
in  sich  geschlossene  Einheit,  strebt  immer  und  überall  auch 
nach  syntaktischer  Geschlossenheit:  V bei  Ovid  ist  das  Penta- 
raeterende  weitaus  überwiegend  auch  Satzende.  Innerhalb  des 
Distichons  wieder  kontrastieren  Hexameter  und  Pentameter 
üo  sinnfällig,  daß  sie  dazu  neigen,  sich  auch  syntaktisch  von- 
einander abzuheben;  man  kann  in  den  Fasten  wie  in  Ovids 
übrigen  elegischen  Dichtungen  lange  Reihen  lesen,  in  denen 
das  Prinzip  durchgeführt  ist,  an  den  Hexameterschluß  auch 
Kolonscbluß  zu  setzen,  oder,  was  nur  geringen  Unterschied 
macht,  das  Kolon  des  Hexameters  nur  mit  einem  Worte  in 
den  Pentameter  übergreifen  zu  lassen.  Der  Bau  größerer  Pe- 
rioden ist  durch  diese  Gepflogenheit  zwar  nicht  unmöglich 
gemacht,  aber  behindert.  Die  elegische  Erzählung  wird  da- 
durch zu  einer  Schnur  von  lauter  gleichlangen  Einzelteilchen, 
die  kleine  Ganze  für  sich  bilden.  Die  epische  Erzählung  ist 
von  dieser  Fessel  frei.  Zwar  liebt  Ovid  lange  Perioden  auch 
hier  nicht,  am  wenigsten  solche,  die  durch  syntaktische 
Unterordnung    entstehen;    aber    es   steht  doch  in  seinem  Be- 


76  Ki(  iiAi!!)   lli:iN/.i::  [7'.  7 

lieben,  solche  zu  Inldeu,  so  oft  der  liiluilt  es  wünschenswert 
macht  ;  und  so  oft  auch  Versschliiß  uiul  Kohmschluli  ziisiinimen- 
falh'u,  so  oft  sich  ferner  zwei  Verse  zusiininienschließcii,  so 
ist  doch  die  Einförmigkeit  des  Baues  nicht  annähernd 
so  ijroß  wie  in  (kr  Elcorie.  Neben  dem  Versschluß  ist  die 
Cäsurstolle  als  syntaktischer  Kuhej)unkt  sehr  beliebt,  und  die 
distichischen  luiihcn  w»rden  immer  wieder  durch  Monosticha 
und  Tiisticha,  seltener  Tetrasticha  unterbrochen.  Diese  Frei- 
heit des  Periodeubaus  ist  für  die  Haltung  der  Erzählung  von 
größter  Bedeutung:  sie  ermöglicht  es  dem  Erzähler,  sich  vom 
Gegenstande  fortreißen,  sich  vom  Fluße  der  Ereignisse  tragen, 
den  tiefgeschöpfteu  Atem  ausstrihncn  zu  lassen.  Im  Vergleich 
damit  hattet  der  elegischen  Erzählung  etwas  von  Kurzatmig- 
keit an;  sie  geht  mit  gleichmäßigen  Sclirittchen,  sie  eilt  nicht, 
fliegt  nicht. 

Es  liegt  nach  allem  früher  Gesagten  auf  der  Hand, 
warum  Ovid  sich  dieser  Beschränkung  ohne  Widerstreben 
fügt:  er  empfindet  als  elegischer  Erzähler  gar  nicht  das  Be- 
dürfnis 7iach  weiter  ausholendem  Schritt,  weil  er  sich  selbst 
nicht  durch  erhabene  Konzeptionen  oder  starke  Afiekte  hin- 
gerissen fühlt. 

9- 

Ovid  fand,  als  er  an  die  Fasten  herantrat,  einen  fest  aus- 
gebildeten Stil  der  elegischen  Erzählung  bereits  vor:  das  lehrt 
deutlich  sein  unmittelbarer  Vorgänger  Proper z.  Unter  den 
aetia  Romana,  die  dieser  in  sein  viertes  Elegienbuch  auf- 
nahm, sind  ganz  verschiedene  Formen  der  ätiologischen  Dich- 
tung vertreten:  der  Vertumnus  legt  die  Erklärung  des  Namens 
und  damit  der  Bedeutung  des  Gottes  diesem  selbst  in  den 
Mund:  Ovid  hat  das  Motiv  in  den  Fasten  wiederholt  verwen- 
det, aber  auch  in  den  Met.  XIV  623  ff.  sehr  liübsch  gezeigt, 
wie  sich  jene  Erklärung  in  Erzählung  umsetzen  läßt.  Der 
Apollo  PalaUnus  ist  ein  Festgedicht  wie  TibuU  H  i,  der 
Hymnus,  den  der  celebrierende  Dichter  singt,  preist  die 
aQsry]  des  Gottes;  es  wird  nicht  eigentlich  der  Verlauf  der 
Schlacht  bei  Actium  geschildert,  sondern  die  Schilderung  der 


I 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE    EllZÄHLL'NG.  77 

beiderseitigen  Streitkräfte  vor  der  Schlacht  und  des  Ergeb- 
nisses der  Schlacht  rahmen  das  Auftreten  des  Gottes  ein; 
seine  Rede  an  Augustus  (37 — 547)  ist  der  Kern  des  ganzen 
Gedichts,  im  wesentlichen  eine  Verherrlichung  des  Augustus 
selbst.  Der  luppiter  Feretrins  umschließt  drei  kurze  Berichte 
von  18,  16  und  6  Versen,  in  denen  die  Eigenai-t  der  elegi- 
schen Erzählung  sich  nicht  voll  entfalten  kann;  aber  auch 
hier  treffen  wir  schon  auf  Züge,  die  uns  aus  Ovid  vertraut 
sind.  Wenn  irgendwo,  so  schien  hier  der  Stoff  —  die  Gewin- 
nung der  spolia  opima  —  Kampfschilderung  zu  fordern:  Pro- 
perz  entzieht  sich  dem  fast  vöUig;  nur  je  ein  kurzer  Satz 
ist  dem  Kampf  und  Sieg  selbst  gewidmet.  Der  Bericht  über 
Romulus  ist  der  strikte  Gegensatz  einer  chronologisch  fort- 
schreitenden epischen  Erzählung.  Er  konstatiert  zunächst, 
daß  Romulus  der  erste  war,  der  die  spolia  opima  errang,  und 
nimmt  dann  in  der  Form  der  Zeitbestimmung  (tempore  quo) 
den  Hauptinhalt  der  Erzählung  vorweg;  über  die  Art  des 
Kampfes  erhalten  wir  nur  hier  eine  Andeutung  (portas  Cae- 
ninum  Äcronta  p>etenteni  victor  in  eversiim  cuspide  fimdis  equum). 
Sofort  schweift  der  Dichter  ab  zu  dem  Gedanken,  wie  klein 
einst  Rom  war  —  wir  kennen  das  aus  Ovid  zur  Genüge  — , 
daß  selbst  ein  Acron,  König  von  Caenina,  ihm  Schrecken  ein- 
jagen konnte:  daran  schließt  sich  der  Kontrast  zwischen  den 
verwegenen  Hoffnungen  des  Acron  und  seinem  blutigen  Aus- 
gang :  zum  zweiten  Male  das  Resultat  des  ganzen  antizipierend. 
Dann  endlich,  nur  gleichsam  als  Erklärung  des  letzten  Disti- 
chons, in  zwei  Distichen  die  Schilderung  des  Hergangs:  aber 
das  Wesentliche  hierbei  ist  Romulus'  Gelübde  an  Juppiter; 
vom  Kampfe  hören  wir  nur  das  eine  Wort  corruit,  das  Ro- 
mulus' corruat  bestätigt.  Drei  abschließende  Distichen  verherr- 
lichen in  Romulus  die  ärmliche  Einfachheit  des  mannhaften 
alten  Rom,  ohne  nahen  Bezug  auf  die  hier  zu  feiernde  Tat: 
der  Dichter  hängt  den  Gedanken  nach,  die  dei-  Kontrast  des 
Einst  zum  Jetzt  in  ihm  erweckte.  —  Ähnlich  setzt  der  Be- 
richt über  Cossus  gleich  mit  der  caedes  Veientis  Tolumni 
ein,    um    daran    sofort    eine  Betrachtung    über    die    winzigen 


78  RiciiAKi)  übinzk:  [71,7 

Geüjner    des    alten    Iidih    —    Veji,    Nonientuin,    Com  zn 

knüpfen  niul  sodann  zu  einer  getülilvollen  Ajio.str()j)he  an 
das  einst  mächtijjfe  und  Mühende,  jetzt  verödete  Veji  iibzu- 
sclnveifen:  der  (Jodiinke  an  die  Verffän^lichkeit  alles  Großen 
auf  Erden  drän«^te  sich  vor  den  eit^entliehen  (ie<(eustand.  Als 
wollte  sich  iler  Dichter  st'll)st  zur  Sache  rufen,  setzt  dann 
unvermittelt  der  I^ericht  ein,  der  nicht,  wio  bei  Livius  von 
einer  Schlacht,  sondern  nur  von  einem  Zweikampf  der  Führer 
weiß,  bei  dem  die  Ehre  der  Herausforderung  dem  Römer  zu- 
fällt; aber  nicht  der  I\amj)f  selbst  wird  geschildert,  sondern 
nur  der  Ausgang  berichtet:  desevta  Tolnmni  cervix  Rommios 
sanguine  lavif  equos.  —  Der  dritte  Bericht  über  Claudius  Mar- 
cellus  uiul  Virdomarus  beschränkt  sich  auf  vier  Distichen,  die 
dem  Dichter  zwar  Gelegenheit  geben,  den  wüsten  Gegner 
bis  auf  seine  gestreiften  Hosm  zu  schildern  —  hier  tritt 
im  Gegensatz  zu  den  beiden  ersten  Fällen  der  Römer  ganz 
zurück  — ,  aber  von  Erzählung  nichts  bieten  als  die  Tat- 
sache, daß  der  Feind  an  der  Kehle  gctrofl'en  wurde.  Es 
entspricht  ganz  der  Zurückhaltung,  die  Ovid  in  den  Fasten 
gegenüber  den  historischen  Begebenheiten  jüngerer  Zeit  übt, 
wenn  Properz  die  dritte  und  jüngste  Heldentat  am  flüchtig- 
sten behandelt;  hier  fiel  der  Gegensatz  des  Einst  zum  Jetzt 
weg,  der  den  Elegiker  gern  auf  den  Zeiten  des  alten  Rom 
verw^eilen  ließ;  der  fremdartige  Aufzug  des  Barbarenfürsten 
mußte,  so  gut  es  ging,  den  sozusagen  märchenhaften  Reiz  der 
alten  Geschichten  ersetzen. 

Wirklich  ausgeführte  ätiologische  Erzählungen  bietet 
Properz  nur  zwei:  die  Tarpeia  und  den  Hercules  Victor.  Hier 
tritt  denn  die  Analogie  zu  Ovid  auch  besonders  deutlich  zutage. 

Die  Sage  von  der  Tarpeia  ist  bei  Properz  aus  einer 
Episode  der  römischen  Geschichte  zu  der  ganz  auf  individu- 
elles Erlebnis  gestellten  Erzählung  eines  sqcotlxov  ^c(i)i]ti,a 
geworden.  Das  Historische  tritt  o-anz  in  den  Hintergrund: 
die  Kenntnis  der  politischen  Situation  wird  vorausgesetzt; 
der  historische  Vorgang  selbst,  die  Eroberung  des  Kapitols 
durch  die  Sabiner,  wird  nur  eben  gestreift,  um  die  Grundlage 


7',  7]  OviPS   ELEGISCHK   ErzÄHLUNG.  79 

für  die  Erzählung   von   Tarpeias  Tod   zu  scliaÖ'en   (87  prod't- 
derat  portneqiic  fidem  patrlomf/ue  iacenteni)-^  die  Folgen  der  Tat 
für    Rom    bleiben    ganz    außer    Betracht.     Alles    konzentriert 
sich  auf  die  Person  der  Tarpeia;  aber  auch  von  ihr  wird  er- 
zählt eigentlich  nur  das,  was  auf  ihre  Liebe  und  die  grausame 
Enttäuschung  ihrer  Hofinung  Bezug  hat;  daß  sie  Vestalin  ist, 
haben    wir    aus    der    Erzählung    zu   erschließen;    daß    sie  die 
Tochter  des  Tarpeius  ist  und  dieser  die  Burg  befehligt,   soll 
der  Leser  wissen;  ja  selbst  wie  sie  den  Verrat  ausführt,  wie 
das  Einverständnis  mit  Tatius  erreicht  ist,  bleibt  im  Dunkel, 
und  nicht  minder  die  Chronoloo-ie:    welcher  Zeitabstand  zwi- 
sehen    dem    Monolog    der  Tarpeia    und    der   Ausführung   des 
Verrats  iiecjt,  wird  als  unwesentlich  für  des  Dichters  Absicht 
übergangen.^)     Durch  dies  Abstreifen   alles   dessen,    was   für 
den  Historiker  ni(;ht  nur,  auch  für  den  Epiker  das  wichtigste 
gewesen    wäre,    erzielt   der    Elesjiker    eine    Konzentration  auf 
den   reinen   Gefühlsgehalt   seiner    Geschichte,    die   seiner  Auf- 
fassung der  Elegie  als  poetischer  Gefühlsäußerung  entspricht. 
Und  zwar  erotischer  Gefühlsäußerung:  die  wichtigste  Neuerung 
des  Properz  ist  ja  die,   daß   er   das  altüberlieferte  Motiv  des 
Verrats,  das  Verlangen  der  Tarpeia  nach  den  goldenen  Arm- 
spangen der  Sabiuei-,  durch  die  Liebe  zum  feindlichen  Führer 
ersetzt    und    damit    die    altrömische    Legende    den    von    der 
hellenistischen    Poesie    behandelten    Geschichten    der    Scylla, 
Nanis  (Hermesianax  bei  Paithenios  22)  u.  a.  angleicht.-)    Die 


i)  Mit  RoTHSTKiN  halte  ich  pugHahitnr  v.  47  für  richtig  überliefert; 
danach  kann  v.  73  nicht  den  Tag  meinen,  dessen  bevorstehenden  An- 
bruch V.  63  ff.  schildern.  Übrigens  würden  wir  sonst  auch  einen  Uber- 
orano-  erwarten,  nicht  den  neuen  Einsatz  iirhi  festus  trat  .  .  die.'-: 
Aber  die  'Unklarheit  in  der  Chronologie  wie  den  Einzelheilen'  ist  nicht 
etwa,  Avie  Eothstein  meint,  'beabsichtigt,  um  diese  Erziihluugsweise  von 
der  prosaischen  zu  scheiden'  —  ich  würde  noch  eher  sagen  'von  der 
epischeu'  — ;  sie  stellt  sich  vielmehr  als  eine  nicht  absichtlich  ge- 
miedene Folge  der  elegischen  Erzählungsweise  ein. 

2)  Ob  er  darin  einen  Vorgänger  an  dem  griechischen  Klegike;* 
Simylos  hatte,  der  die  Tarpeiageschichte  aus  dem  Sabinerkrieg  in  den 
Gallierkrieg    versetzte    und   Tarpeia    aus  Liebe   sündigen   ließ,    könntu 


8o  RiciiAKi)  Hkin/.e:  I7'i7 

Traditi<Hi,  daß  'rarpcia  Vestaliii  ^^oweseii  sei,  konnte  den  Pro- 
porz  von  seiner  Fiktion  nicht  abliiilten:  im  (}(';^fenteil,  sie  er- 
gibt ihm  eine  sehr  willkommene  Steig-erung  des  Frevels,  zu 
dem  die  Liehe  zwinget.  Daß  Tarpeia  durch  ihre  Liebe  das 
Keusehheitsgelübdc  verhetzt,  ist  die  wiehtigsto  und  iolgen- 
sehwerste  ihrer  Verfehlungen:  denn  nun  ist  es  Vesta,  die 
jungfräuliche  Göttin  selbst,  die  ihre  Dienerin,  um  ilir  den 
verdienten  Untergang  zu  bereiten,  tiefer  in  Schuld  verstrickt 
um!  zur  Ausführung  des  Vorrats  treibt  (6ylf.):  eine  übei-aus 
kühne  Erfindung,  durch  die  Properz  seinem  Gedichte  den 
religiösen  Gehalt  gibt,  den  er  seiner  ätiologischen  Dichtung 
überhaupt  zugedacht  hat:  ganz  wie  Ovid,  dessen  Fasti  ja 
vorwiegend  ein  religiöses  Gedieht  sein  sollten.  Gerade  über 
den  religiösen  Frevel  spricht  denn  auch  der  Dichter  in  eig- 
nem Namen  seine  tiefe  Entrüstung  aus:  et  satis  una  malae 
potnit  mors  esse  imellae,  quae  voluit  fhimnias  faJlerc,  Vesta, 
tuus?  (17  ff.).  Damit  ist  der  subjektive  Standpunkt  des 
Dichters  ijegenüber  der  Geschichte  gegeben:  ein  für  die  ele- 
gische  Haltung  sehr  wesentliches  Moment.  —  Im  Mittelpunkt 
des  Ganzen  steht  der  große  Monolog  der  Tarpeia  (v.  31 — 66): 
kein  Handlungsmonolog,  wie  ganz  überwiegend  die  der  ovi- 
dischen  Metamorphosen  —  der  Dichter  stellt  sich  nicht  die 
Aufgabe,  das  Werden  des  Entschlusses  vorzuführen,  vielmehr 
tritt  der  Gedanke  an  Verrat,  der  einmal  auftaucht,  am  Ende 
hinter  anderen  Möglichkeiten  der  Vereinigung  mit  dem  Ge- 
liebten zurück  — ,  sondern  ein  typischer  Zustandsmonolog, 
der  lediglich  die  Empfindungen  der  Redenden  in  ihrem  Auf 
und  Ab  vor  Augen  fülirt,  wie  die  Monologe  der  Fasten 
(ob.  S.  60).  Eingeleitet  ist  das  Ganze  durch  eine  idyllische 
Naturschilderung,   die  für  die  folgende  Erzählung  sehr  uner- 


wir  leider  nicht  feststellen,  da  die  Zeit  des  nur  von  Plutarch  Rom.  17 
zitierten  Simylos  nicht  näher  zu  bestimmen  ist.  Die  Übertragung  des 
Motivs  lag,  wenn  einmal  die  Sage  elegisch  behandelt  wurde,  so  nahe, 
•  daß  sehr  wohl  auch  zwei  Dichter  unabhängig  voneinander  darauf  ver- 
fallen konnten.  —  Die  Eigentümlichkeiten  der  properzischen  Erzählung 
hat  übrigens  Rothstein  bereits  hervorgehoben;  aber  s.  u.  S.  99  \ 


1 


71,  7j  OVIDS   ELEGISCHE   EllZÄHLUNa.  8l 

heblich  ist,  aber  dazu  dient,  von  vornherein  elegische  Stim- 
mung zu  erwecken.')  Kaum  hat  dann  ein  Distichon  berich- 
tet, daß  die  Sabiner  vor  Rom  ihr  Lager  aufgeschlagen 
haben,  so  ergeht  sich  der  Dichter  wieder  einmal  in  Betrach- 
tungen über  den  Gegensatz  des  Einst  und  Jetzt:  quid  tum 
Borna  fait  usf.  Mit  v.  15  ist  er  zu  Tarpeia  gelangt,  um  bei 
ihr  zu  verweilen;  nur  einmal  noch  schweift  er  ab,  um 
(73 — 78)  die  Feier  der  Parilia  zu  schildern,  die  damals  noch 
ein  Hirtenfest  waren:  auch  hier  ist  an  den  Gegensatz  des 
'Jetzt'  gedacht. 

Die  Gründung  der  Ära  Maxima  durch  Herkules  und  ihr 
Anlaß,  der  Sieg  über  Cacus,  durfte  in  einer  Sammlung  römi- 
scher ai'xia  nicht  fehlen.  Aber  sie  war  zu  allgemein  bekannt, 
als  daß  ihr  Properz  eine  Elegie  eigens  hätte  widmen  mögen; 
es  wird  mitgesprochen  haben,  daß  er  als  Elegiker  in  der  Dar- 
stellung eines  Kampfes  mit  dem  Epiker  Virgil  nicht  wett- 
eifern mochte-).  Er  zieht  es  vor,  eine  atQLJtrog  lötoqCu  in 
den  Vordergrund  zu  stellen:  seine  Elegie  hat  zum  eigentlichen 
Vorwurf  die  Erklärung  des  Brauches,  daß  Frauen  beim  Her- 
kulesopfer nicht  zugelassen  waren;  einleitungsweise  wird 
v.  I  — 15  die  Geschichte  vom  Rinderdiebstahl  und  die  Bestra 
fung  des  Cacus  berichtet,  der  Kampf  selbst  gar  nicht  eigent- 
lich erzählt,  sondern  nur  sein  Resultat  erwähnt  —  Maenalio 


i)  Die  Umstellung-  der  Verse  3—6  nach  11,  die  Bähkens  vorschlug 
und  die  auch  neuerdings  Verteidiger  gefunden  hat  (Butleh  in  seinem 
Kommentar  Lond.  1905;  P.  I.  Enk,  Ad  Propertii  carmina  commentarius 
oriticus,  Zutphaniae  I9ii,p.  311),  an  sich  ein  sehr  erwünschtes  Mittel, 
um  die  topographische  Unklarheit  der  Schilderung  zu  beseitigen  (mit 
der  Änderung  montem  statt  fontem  in  v.  6),  scheitert  schon  daran,  daß 
die  Erzählung  unmöglich  mit  dem  Präsens  historicum  praecingit  v,  6 
einsetzen  kann. 

2)  Als  Properz  sein  IV.  Buch  veröffentlichte,  lag  die  Aeneis  be- 
reits vor;  daß  er  ihr  VIII.  Buch  bereits  kannte,  als  er  seine  Elegie 
schrieb,  ist  höchst  -wahrscheinlich,  wenn  es  sich  auch  aus  dem  Gedichte 
selbst  m.  E.  nicht  sicher  beweisen  läßt.  S.  über  die  Frage  Münzek 
Cacus  der  Rinderdieb  (Progr.  Basel  1911)  S.  8  ff.  32.  40,  der  (wie  auch 
Rothstein)  bei  Properz  Hinweise  auf  Virgils  Darstellung  findet. 

PMl  -hisr.  Klasse  1910.   Bd.  LXXI.  7.  <> 


82  Rk'haud  IIkinzk:  71,7 

iondt  pidsus  tria  tcmpora  rmno  — ,  um  in  den  Worten  dos 
siegreichen  lloldtMi  an  die  wieder<^e\vonnenon  lünder  die  — 
wohl  von  Proporz  s(>ll)st  erfundene  —  Ktyni()K)<ifie  des  Namens 
fomni  hoiirium  zu  j^eben;  ihinn  setzt  v.  21  die  llaupter/.iihhing- 
ein.  Erst  spät  wird  «^anz  beililuliij;  das  als  getan  erwiilint,  was 
für  den  Historiker  die  Hauptsache  gewesen  wäre,  die  Stiftung 
der  .Im  Muxima  (v.  67).  Die  Erzählung  seihst  gestaltet  eine 
Tradition  über  den  Ursprung  jenes  Kultbrauehes,  die  Projiorz 
wohl  bei  Varro  gefunden  hatte,  in  ganz  freier  Weise  aus.') 
Nach  dem  heißen  Kampf  von  Durst  gei)lagt,  findet  der  Held 
kein  Wasser;  da  hört  er  Mädchcnlachen  aus  einem  Heiligtum 
der  Bona  Dea  —  dies  Heiligtum,  ein  schattiger,  quelldurch- 
flossener  Hain  mit  seinem  halbverfallenen  sacellum  wird  nun 
in  idyllischen  Farben  ausgemalt,  selbst  die  Singvögel  im 
Pappellaubc  nicht  vergessen,  für  die  Herkules  gewiß  damals 
kein  Ohr  gehabt  hat.  Es  ist,  als  wollte  der  Elegiker  absicht- 
lich ein  Gegenstück  zu  der  virgilischen  excpQaöig  der  schauer- 
lichen Mörderhöhle  des  Cacus  liefern.  Herkules  fleht  in  lan- 
ger Rede  vergebens  um  Einlaß  —  minora"  deo  sind  seine 
Worte;  er,  der  Allesüberwinder,  muß  um  einen  Trunk  Wasser 
betteln  und,  um  Zutrauen  zu  erwecken,  selbst  an  seine  ärgste 
Schmach,     den    weibischen    Dienst    bei    Omphale,     erinnern. 


i)  Varro  hatte  (nach  Macrob.  sat.  I  12,  28)  erzählt,  eine  Frau  habe 
dem  dürstenden  Herkules,  cum  boves  Geryonis  per  agros  Italiae  duceret, 
einen  Trunk  Wassers  verweigert,  quod  feminarum  deae  celebraretur 
dies,  nee  ex  eo  apparatu  viris  gustare  fas  esset.  Properz  setzt  diesen 
örtlich  und  zeitlich  nicht  näher  beatimmteu  Vorfall  nach  Rom  und  auf 
den  Zeitpunkt  nach  dem  Cacussieg,  und  läßt  dem  Herkules  nicht  einen 
Trunk  vom  apparatus  des  Frauenfestes,  sondern  den  Zutritt  zum  Heilig- 
tum der  feminea  dea  und  den  Trunk  aus  der  den  puellae  vorbehaltenen 
Quelle  verweigern.  Die  ünwahrscheinlichkeit  dieser  Erfindung  ist  arg 
genug:  Rom  liegt  ja  doch  in  keiner  wasserlosen  Wüste  (vgl.  noch 
dazu  V.  5  ff.),  und  wo  ein  Heiligtum  der  Bona  Dea  steht,  müssen  auch 
andere  Ansiedelungen  sein;  zu  den  Frauen  gehören  Männer,  von  denen 
das  Gedicht  schweigt,  während  in  den  sonstigen  Erzählungen  des 
Cacusabenteuers,  auch  abgesehen  von  Euander,  die  Eingeborenen  nicht 
fehlen. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  83 

Vergebens  —  dro  Priesterin  weist  ihn  warnend  ab.  Da  er- 
grimmt  der  Gepeinigte,  erbricht  die  Pfosten  und  löscht  seinen 
Durst;  dann  spricht  er  sein  rächendes  Verdikt,  mit  den  trüben 
Worten  beginnend:  angulus  hie  niundi  nunc  me  mea  fata 
trahentem  accipit:  haec  fesso  vix  mihi  terra  patet.  Dieser 
Herkules  ist  nicht  der  strahlende  begnadete  Heros  und  künf- 
tige Gott,  den  der  Epiker  Virgil  feiert,  sondern  der  mühselig 
Beladene,  der  als  Inhalt  seines  Lebens  wirklich  nennen  konnte 
öi^vv  elxov  ajieiQeöCrjv,  wie  Herakles'  Schatten  in  Homers 
Nekyia  es  tut;  ein  freilich  Bewunderung,  vor  allem  aber 
Mitleid  erweckender  Mensch,  dem  das  Schicksal  selbst  die 
einfachste  Labung  nach  vollbrachter  Großtat  nicht  kampflos 
gönnt.  Herkules  nimmt  sich  das  Versagte  allen  sakralen  Be- 
denken zum  Trotz  —  wie  sollte  er  sich  vor  dem  Zorn  der 
Bona  Dea  scheuen,  er,  der  die  Unterweltsgötter  geschreckt, 
den  Dreifuß  des  Apollo  geraubt  und  Helios  mit  seinem  Bogen 
bedroht  hatte?  —  aber  er  nimmt  es  nicht  mit  lachender 
Unbekümmertheit,  sondern  mit  Grimm  und  Bitterkeit  gegen 
sein  Schicksal;  die  Verkündung  der  tristia  iura,  durch  die  er 
sich  an  den  Frauen  rächt,  ist  danach  seine  erste  Tat.  — 
Diese  Auffassung  des  Herakles  wird  Properz  aus  hellenisti- 
scher Dichtung  zugeflossen  sein;  man  darf  z.  B.  an  das 
Epyllion  'Megara'  (Mosch.  4)  denken,  in  dem  die  Frauen,  die 
dem  Helden  am  nächsten  stehen,  ihn  weinend  beklagen,  rov 
ovxig  ysvEx  ciXXog  aTtoriiörsQog  ^aovrcov:  wenngleich  es 
doch  noch  anders  wirkt,  wenn  der  Held  selbst  in  jener  Be- 
leuchtunff  auftritt,  als  wenn  er  uns  durch  die  Reden  der 
Frauen  gezeigt  wird.  Daß  Properz  gerade  diese  Auffassung 
wählte,  die  zum  Kult  des  Victor  an  der  Ära  Maxima  im  Grunde 
so  wenig  stimmte,  dazu  hat  ihn  die  Empfindung  geführt,  daß 
gerade  sie  elegischer  Darstellung  besonders  gemäß  sei.  —  Die 
Person  des  Dichters  tritt  in  dieser  Elegie  nirgends  ausdrück- 
lich hervor,  bis  auf  das  Schlußgebet,  in  dem  Herkules  er- 
sucht wird  —  nicht,  wie  man  erwarten  könnte,  dem  'Lied' 
oder  der  'Arbeit'  des  Poeten  seine  Gunst  zu  leihen  —  son- 
dern 'glückbringend  in  sein  Buch  einzugehn':  so  offenherzig 


84  Kiilivup  Hkinzk:  f7i,7 

wit^   hier   die  Elogio    würde    das   Epos    sich   schworlich   jo  als 
'Iluchpoosie'  zu  tM'konnen  ^eben. 

Außer  diesen  rein  er/,ilhUmd(Mi  Eh\i;ieii  hat  I'ropci/,  noch 
/weimal  ausgeführte  mythische  Er/ählung  in  Eleoicn  eiiige- 
tugt:  und  hier  treten  die  liosonderlioiten  des  elegischen  Er- 
/ählungsstils  ganz  l)esouders  deutlich  zutage.  Der  II j las 
(I  20^  gibt  sich  als  Warnung  an  Freund  Gallus,  seinen  Lieb- 
ling wohl  zu  hüten,  auf  daß  ihn  nicht,  wie  einst  den  Knaben 
des  Herakles,  die  Nvni])hen  raul)en:  im  Grunde  nur  eine  für 
Gallus  schmeichelhafte  Galanterie  gegen  den  mit  Hylas  ver- 
glichenen.- Ganz  anders  also  als  in  Theokrits  Hylas,  dessen 
Thema  die  Lielie  des  Herakles  ist,  liegt  bei  Properz  der 
Nachdruck  auf  der  Person  des  Hylas,  und  die  Erzählung 
richtet  sich,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  öx^miETQia  und  VoU- 
.ständigkeit,  darauf,  den  Reiz  des  noch  halb  kindlichen  Knaben 
zu  verdeutlichen:  darum  die  seltsame  Episode  von  den  Bo- 
readen, die  die  kurze  Trenming  des  Hylas  von  Herakles  be- 
nutzen, um  ihn  liebend  zu  bedrängen^);  darum  die  anmutige 
Schilderung  des  am  Weiher  tändelnden  Knaben,  der  über  den 
Blumen  seinen  Auftrag  vergißt  und  sich,  unerfahren  wie  Nar- 
cissus,  im  Anblick  seines  eigenen  schönen  Ebenbildes  ver- 
liert, das  ihm  der  stille  Spiegel  zeigt;  und  um  diese  Episode 
einzuführen,  die  verweilende  Schilderung  des  lieblichen  Stückes 
Natur. ^)  Der  Raub  selbst  wird  ganz  kurz,  das  weitere  nur 
mit  flüchtigster  Andeutung  berichtet:  wie  dem  Herakles  die 
Kunde  des  Raubes  wird,  erfahren  wir  nicht  ^),  und  von  seinem 


i'.  Sie  wollen  ihn  nicht  etwa  rauben:  dagegen  hätte  er  sich  mit 
dem  ramus  nicht  wehren  können.  Daß  die  Episode  ohne  Folgen  bleibt, 
wäre  im  Epos  nicht  statthaft;  in  der  Elegie  ist  das  ganz  in  der  Ord- 
nung: sie  hat  als  solche  den  Zweck,  die  Schönheit  des  Hylas  empfinden  zu 
lassen,  besser  erfüllt,  als  es  die  Schilderung  dieser  Schönheit  vermöchte. 

2)  Diese  —  erheblich  kürzer  —  auch  bei  Theokrit  40  ff.,  aber  nicht 
mit  Beziehung  auf  Hylas,  sondern  um  den  Quell  als  Wohnort  und 
Tanzplatz  der  Nymphen  einzuführen. 

3)  Gemeint  ist  gewiß,  daß  Herakles  den  Fall  des  Körpers  hört  — 
tum  sonitum  rapto  corpore  fecit  Hylas  ist  klangmalend  —  aber  es 
verschlägt  kaum  etwas,  ob  der  Leser  das  bemerkt  oder  nicht. 


71,7]  OviDS   KLEGISCHE   EkZÄHLUNG.  85 

Schmerz  und  dem  unablässigen  Suchen  war  schon  in  der 
voraufgehenden  Warnung  au  Gallus  (13  ff-)  genug  gesagt, 
daß  ^ie  Erzählung  nicht  darauf  zurückzukommen  braucht. 
Die  teilnehmende  Empfindung  des  Dichters  ist  in  dem  Verse 
32  ah  dolor,  ihat  Hißas,  ihat  Hamadryasin  ausgedrückt:  er 
genügt,  um  dem  Ganzen  die  sentimentale  Färbung  zu  geben, 
die  der  elegischen  Erzählung  ansteht. 

Antiope  dient  in  der  Elegie  III  15  als  mythisches  exem- 
plum  für  die  zu  Unrecht  von  der  eifersüchtigen  Geliebten  be- 
argwöhnte und  mißhandelte  Lycinna.  Die  Fabel  wird  als  be- 
kannt vorausgesetzt  —  z.  B.  muß  der  Leser  wissen,  wer  der 
senex  ist,  der  v.  36  die  Erkennung  herbeiführt,  und  die  Vor- 
geschichte wird  aus  der  Erzählung  selbst  nicht  klar  — ; 
aller  Nachdruck  liegt  auf  der  Schilderung  von  Autiopes  Leiden, 
die  geflissentlich  durch  die  rührende  Schilderung  ihrer  angst- 
vollen und  beschwerlichen  Flucht  (2  5  ff.)  gesteigert  werden  und 
an  denen  der  Dichter  innigen  Anteil  nimmt:  ganz  in  der  Art 
des  Elegikers  Ovid  (s.  ob.  S.  62)  versetzt  sich  Properz,  hin- 
o-erissen  durch  sein  nachempfindendes  Gefühl,  so  lebhaft  in 
die  Situation,  daß  er  in  die  Handlung  selbst  eingreifen  möchte: 
luppiier,  Antiopae  numquam  succurris  habenfi  tot  mala?  corrum- 
pit  dura  catena  manus,  und  entsprechend  nach  der  glücklichen 
Lösung  Äntiope,  cognosce  lovein ;  tibi  gloria  Dirce  ducitur  usf. 

Die  aufgezeigten  Eigentümlichkeiten  erklären  sich  iu 
Hylas  und  Antiope  ohne  weiteres  daraus,  daß  der  Dichter  die 
Geschichte  nicht  um  ihrer  selbst  willen  erzählt,  sondern  um 
auf  den  Angeredeten  dadurch  zu  wirken,  daß  der  Dichter 
seiner  eigenen  Empfindung  —  dort  der  sorgenden  Bewunde- 
rung des  schönen  Knaben,  hier  dem  sorgenden  Mitleid  mit 
der  armen  Lycinna  —  deutlicher  und  anschaulicher  Ausdruck 
verleiht,  als  es  die  unmittell-are  Äußerung  des  Gefühls  ver- 
möchte.^)    Die    elegischen   Erzählungen    des    vierten   Buches 

i)  Sehr  nahe  stehen  diesen  beiden  Erzählungen  die  des  Horaz  in 
od.  ni  II  (Hypermestra)  und  III  27  (Europa),  beide,  wie  ich  meine, 
Übertragungen  der  elegischen  Erzählung  ins  Lied.  Aber  über  die  ly- 
rische Erzählung   des  Horaz  wäre  nach  den  anregenden  Ausführungen 


86  RicHAUD  Heinzb:  f?',? 

sind  um  ihrer  selbst  willen  da;  sio  haben  zur  Person  des 
Erzählers  keine  innere  Heziehun«^:  wenn  sie  die  Ei<:;enart 
jener  anderen,  al)geschwächt  aber  unverkennbar,  i^leiclifalls 
aufweisen,  so  darf  man  vermuten,  daß  in  dieser  Ähnlichkeit 
des  Stils  die  Entstehun«^  der  'objektiven'  ele<,nsehen  Er/.iihliinj^ 
aus  der  subjektiven  naehwirkt. 

lO. 

Die  Annahme,  daß  Properz  seinen  Stil  der  clecjischen 
Erzählung  nicht  neu  geschaffen,  sondern  griechischen  Mustern 
nachgebildet  hat,  liegt  sehr  nahe.  Wir  wissen  ja,  daß  die 
Elegie  in  hellenistischer  Zeit  neben  dem  Epos  dauernd  den 
hervorragendsten  Platz  als  Form  der  mythischen  Erzählung 
innegehabt  hatte,  und  werden  geneigt  sein,  eine  gewisse  Kon- 
tinuität des  Stils  bis  zu  den  hellenisierenden  Römern  anzu- 
nehmen. Auch  wird  bei  llylas  und  Autiope  niemand  den 
Eindruck  haben,  daß  hier  die  Situation  oder  das  eigenste 
Empfinden  des  Dichters  zur  Neuschöpfung  einer  stilistischen 
Form  gedrängt  habe.  Der  strikte  Beweis  für  die  Annahme 
der  Abhängiskeit  ist  freilich  bei  dem  Zustande  unserer 
Kenntnis  der  hellenistischen  Elegie  schwer  zu  führen. 

Der  evgerrjg  der  elegischen  Erzählung  ist  Antimachos. 
Es  war  ein  Schritt  von  größter  Tragweite,  daß  er,  statt  wie 
frühere  Elegiker  die  Erzählung  nur  gelegentlich  als  ausge- 
führtes Beispiel  zu  verwenden,  sie  in  seiner  Lyde  zum  Haupt- 
inhalt eines  großen  elegischen  Gedichts  machte.  Dies  war 
(nach  Plut.  consol.  ad  Apoll,  q)  als  7iKQU(ivd-LOV  rijg  kvjirjg 
konzipiert:  um  sich  über  den  Verlust  seiner  Geliebten  zu 
trösten,  hat  er  ras  rjQaLxäg  öv^cpoQäg  dargestellt,  nicht,  wie 
n.an  nach  Plutarchs  Ausdruck  i^agid-^rjödfisvog  denken  könnte, 
nur  in  katalogartiger  Aufzählung,  sondern,  wie  die  aus  der 
Darstellung  der  Argonautensage  erhaltenen  Notizen  beweisen 
und  ein  wörtliches  Zitat  (fr.  3  B.  aus  der  Oedipusgeschichte) 


Reitzessteins  (Gott.  Gel.  Anz.  1904,  956)    manches   zu  sagen,   was  hier 
zu  weit  führen  vmrde. 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  87 

bestätijijt,  wenigsteus  teilweise  in  großer  Ausführlichkeit.  Es 
brauchen  keineswegs  alles  Liebesgeschichten  gewesen  zu  sein; 
aber  das  nächstliegende  waren  allerdings,  angesichts  des  Au- 
lasses der  Dichtung,  SQCjrixä  Ttad-rj^ara.  So  hat  Antimachos 
stofflich  der  erzählenden  Elegie  nach  zwei  Richtungen  den 
Weg  gewiesen:  auf  erotische  Themata  einerseits,  traurige  Be- 
o-ebenheiten  andererseits.  Wieviel  der  Dichter  von  eigenem 
Erlebnis  und  eigenem  Empfinden  geboten  hat,  können  wir 
nicht  sagen ^);  aber  es  scheint  fast  undenkbar,  daß  das  eigene 
Erlebnis,  welches  die  Wahl  der  Stoffe  bestimmte,  nicht  auch 
die  Behandlung  der  Stoffe  bis  zu  einem  gewissen  Grade  be- 
einflußt haben  sollte.  Wie  dem  auch  sei,  die  Idee  der  er- 
zählenden Elegie  bei  Antimachos  war  jedenfalls  verschieden 
von  der  der  epischen  Erzählung,  die  von  der  Persönlichkeit 
des  Dichters  ganz  unabhängig  sich  bestrebt,  dem  Stoff  als 
solchem  gerecht  zu  werden.^)  Es  fragt  sich,  ob  und  wann 
diese  Idee  verwirklicht  worden  ist. 


i)  Daß  die  Sage  den  alleinigen  Inhalt  der  Lyde  ausgemacht 
habe,  ist  eine  -willkürliche  Behauptung  Jacobys,  Rh.  M.  60  (1905),  46. 

2)  Vgl.  RoHDE  Gr.  R.  ^150  ff.,  der  den  Unterschied  der  beiden  Er- 
zählungstypen so  formuliert :  im  Epos  behaglich  sich  ausbreitende  Dar- 
stellung und  anschauliche  Schilderung  sichtbarer  Vorgänge  der  äuße- 
ren Tat,  in  der  Elegie  ''sprungartig  vorrückende  Darstellung'  und  Kon- 
zentration auf  die  Gefühlsbewegungen.  Er  leitet  diese  Eigenart  der 
Elegie  aus  ihrer  ursprünglich  musikalischen  Natur  ab;  gerade  in  der 
Erzählung  habe  sie  'ein  gewisses  latentes  musikalisches  Element'  am 
sichersten  bewahrt:  da  kann  ich  nicht  folgen,  auch  abgesehen  von  der 
Unwahrscheinlichkeit,  daß  jene  zum  mindesten  sehr  problematische 
'ursprünglich  musikalische  Natur'  der  Elegie  bei  Antimachos  oder  gar 
bei  den  hellenistischen  Dichtern  noch  nachgewirkt  hätte.  Die  lyrische 
Erzählung  hat  allerdings,  wie  wir  ja  nun  durch  Bakchylides  viel  klarer 
sehen,  einigermaßen  ähnlich  der  elegischen  auf  vollständige  und  gleich^ 
mäßige  Behandlung  eines  Sagenstoffs  verzichtet,  Einzelszenen  heraus- 
gehoben: entweder  weil  nur  diese  dazu  dienen,  das  zu  illustrieren, 
was  der  Dichter  im  Auge  hat,  oder  weil  es  die  poetischen  Höhepunkte 
Bind,  auf  die  sich  der  erzählende  Lyriker  beschränken  muß:  der  Ge- 
sang setzt  immer  eine  gewisse  Exaltation  voraus,  mit  der  sich  nicht 
jeder  beliebige  Vorgang  vereint.  Ein  kenntlicher  Zusammenhang  aber 
mit  dem  persönlichen  Seelenerlebnis  des  Dichters  besteht  nicht.  —  Ich 


88  KiciiAKi»  Hkinzk:  [71, ; 

Unser  Mjiteri;il  7.1  ii-  lioaiitwortmi«;"  dieser  Frage  ist  leider 
wie  beknnut  sehr  dürltig  und  läßt  uns  gonide  in  einigen 
Fällen,  die  für  uns  sclir  \vi(ditig  wären,  fast  ganz  im  Stich.') 
Aus  dem  Elegien/.yklus  des  Ilerniesianax,  den  dieser  nach 
seiner  Geliebten  Leontion  benannte  und  in  dem  wir  also  eine 
subjektive  Haltung  der  Erzählung  erwarten  dürften,  besitzen 
wir  nur  einen  Katalog  der  verliebten  Dichter  und  PhilDSophcn, 
in  dem  es  zu  wirklicher  Erzählung  fast  gar  nicht  kommt; 
niemand  wird  glauben,  daraus  Schlüsse  auf  die  Art  ziehen 
zu  können,  wie  der  Dichter  etwa  die  Geschichte  von  der  sün- 
digen Liebe  des  Leukipjios  (Parthenios  5)  erzählt  hat.  Immerhin 
sieht  man,  auch  jener  Katalog  ist  mit  Rücksicht  auf  die 
Liebe  zu  Leontion  (die  mehrfach  augeredet  wird)  zusammen- 
gestellt, nicht  etwa  aus  dem  sachlichen  Interesse  an  ^berühni- 
ten  Liebespaaren';  nur  wissen  wir  leider  nicht,  welchen  An- 
laß Hermesianax  nahm,  um  der  Geliebten  die  Macht  der  Liebe 
über  die  GocpoC  aller  Zeiten  (zu  denen  er  selbst  ja  zählt)  zu 
beweisen.  Denn  darauf  kommt  es  an'-):  aus  dem  Tun  und 
Dichten  der  großen  Sänger,  wo  es  möglich  ist  aus  beiden, 
wird  bewiesen,  daß  sie  schwer  verliebt  waren;  darum  wird 
mit  Vorliebe  auf  den  Mühen  und  Beschwerden  verweilt,  denen 
sie  sieh  um  der  Geliebten  wiUen  unterzogen  haben;  und 
darum  wird  in  dem  einzigen  etwas  ausführlicher  behandelten 


glaube  nicht,  daß  die  elegische  Erzählung  von  der  lyrischen  gelernt 
hat:  ihre  Eigenart  erklärt  sich  restlos  aus  der  Eigenart  der  Elegie 
selbst. 

i)  Aber  dazu  reicht  unser  Material  doch  aus,  um  eine  Behaup- 
tung wie  die  von  Jacoby  (a.  a.  0.  51'),  daß  die  alexandrinische  Sagen- 
elegie 'eigentlich  weniger  erzählte  —  was  sie  hätte  erzählen  können, 
setzt  sie  meist  voraus  —  als  schilderte'  als  falsch  zu  erweisen. 

2)  Nicht  etwa,  wie  Ellenberger  (quaestiones  Herraesianacteae, 
Dias.  Gieß.  1907,  62.  67)  behauptet,  auf  eine  Sammlung  leidvoller  Liebes- 
geschichten, aus  denen  der  Dichter,  wie  Antimachos,  Trost  über  den 
Verlust  der  eigenen  Geliebten  hätte  schöpfen  wollen.  Dafür,  daß  die 
Leontion  ein  ini-/.riSeiov  gewesen  sei,  spricht  gar  nichts,  dagegen  mit 
Entschiedenheit  die  Art  der  Anrede;  z.  B.  yivma-Acig  ctiorca  v.  17  zu 
einer  Verstorbenen  gesagt  ist  undenkbar. 


7^7]  OviDS   ELEGISCHE   ERZÄHLUNG.  89 

Falle,  dem  des  Orpheus  (v.  i  — 14)  nicht  etwa  von  seiner  Ver- 
zweiflung nach  dem  Tode  oder  nach  dem  zweiten  Verlust 
der  Gattin  gesprochen  —  beides  bleibt  ganz  beiseite,  nicht 
einmal  die  Tatsache  des  zweiten  Verlustes  wird  erwähnt  — , 
sondern  von  seiner  Fahrt  in  die  Unterwelt  und  ihren  Schrecken. 
Und  wenigstens  dies  können  wir  aus  dem  für  unsere  Zwecke 
sonst  so  unergiebigen  Stück  verwerten:  als  ein  Beispiel  für 
die  WiUkür,  mit  der  der  elegische  Erzähler  den  Punkt  einer 
vielteiligen  Handlung  herausgreift,  auf  den  es  ihm  persönlich 
ankommt,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  ein  Leser  etwa  die 
ganze  Handlung  kennen  zu  lernen  wünscht.  —  Bemerkens- 
wert ist,  daß  Hermesianax  v.  35  ff.  die  Elegie,  die  Erfindung 
des  Mimnermos,  als  ')]dvg  r]Xog  •xal  iiaXaxov  nvsv^  dnb 
TCevxaaixQOv  bezeichnet.  Damit  will  er  augenscheinlich  nicht 
etwa  die  Eigenart  der  Elegie  des  Mimnermos  im  besonderen, 
sondern  der  Elegie  überhaupt  charakterisieren,  und  zwar  im 
Gegensatz  zum  Epos,  von  dem  vorher  die  Rede  war.  Diese 
Charakteristik  trifft  gar  nicht  auf  so  hervorragende  Vertreter 
der  Gattung  wie  Kallinos  und  Tyrtaios  und,  wie  wir  wissen, 
auf  die  Poesie  des  Mimnermos  nicht  im  vollen  Umfanse  zu. 
Sie  gibt  aber  offenbar  die  zu  Hermesianax'  Zeit  herrschende 
Auffassung  wieder  und  ist  also  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß 
die  von  Antimachos  eingeschlagene  Richtung  damals  als  maß- 
gebend galt:  für  die  elegische  Erzählung  gewiß  nicht  minder 
als  für  die  übrigen  Verwendungen  des  Metrums. 

Wir  wissen  von  keiner  anderen  erzählenden  Elecfie  oder 
Elegiensammlung,  die  wie  die  Lyde  und  die  Leontion  vom 
eigenen  erotischen  Erlebnis  des  Dichters  ausgegangen  wäre.*) 


i)  Die  Behauptung  Jacobys,  daß  die  Bittis  des  Philitas  ein  Kata- 
loggedicht in  der  Art  der  Lyde  gewesen  sei  (a.  a.  0.  47.  SS'*),  schwebt 
ganz  in  der  Luft.  Ovid  stellt  trist.  I  6,  i  nicht  die  beiden  Gedichte, 
sondern  die  beiden  Personen  zusammen:  das  ist  ein  erheblicher  Unter- 
schied. Aus  der  Art,  wie  Hermesianax  von  der  Bittis  spricht,  würde 
ich  eher  mit  Pohlenz  {Xägirig  für  F.  Leo  iii)  schließen,  daß  das  Ge- 
dicht subjektiv,  also  subjektiv-erotisch  war.  Daß  Bittis  vermutlich  die 
Gattin,    nicht   die    Mätresse   des  Philitas    war,    also  die  Erotik  andere 


9©  KiciiAUP  Hr.iN/K:  l7i,7 

Möglich,  (laß  AlexiuuliM-  der  Aetolcr  in  seinem  'Ai)(>llün' 
das  Motiv  von  der  eit^onen  l*orson  auf  den  Gott  übertragen 
uml  ihn  (>t\va  zum  Trost  in  eigenem  Liebesleid  (man  mag 
an  llyakintlios  oder  Daphne  denken)  eine  Reihe  von  leid- 
vollen  Liebesgeschiehten  hat  erzählen  lassen:  nur,  wie  es 
sich  für  den  wahrsagenden  tJott  ziemt,  nicht  als  Bericht,  son- 
dern in  der  Form  der  Prophezeiung,  also  i'uturisch.  Das 
einzige  erhaltene  Stück  daraus  (bei  Parthen.  14)  behandelt 
die  verschmähte  Liebe  der  Gemalilin  des  Phobios  zu  dem 
schönen  Antheus,  ihre  Kache  und  ihren  Selbstmord;  das  ist 
versifizierte  Prosa  und  kommt  für  den  Stil  der  elegischen 
Erzählung  nicht  in  Betracht.  —  Über  den  Rahmen,  in  dem 
Phanokles  seine  elegischen  Erzählungen  von  geliebten  Knaben 
(^'EQCOTEg  rj  KaXoC)  zusammenfaßte,  wissen  wir  nichts;  das  ein- 
zige erhaltene  Stück  (bei  Stob.  LXIV  47)  deutet  nichts  dar- 
über an.  Es  geht  aus  von  der  Liebe  des  Orpheus  zum  Bore- 
aden Kalais  —  der  alte  heilige  Sänger  ist  hier  gewiß  zuerst 
als  schmachtender  Liebhaber  eingeführt  worden  (Ovid  hat 
das  in  seinem  Epos  X  83 ff.  nicht  nachzubilden  gewagt)^)  — , 
verbreitet  sich  aber  dann  über  die  Ermordung  des  weiber- 
feindlichen Sängers  durch  die  Tbrakerinnen  und  das  wunder- 
bare Schicksal  seines  abgeschlagenen  Hauptes  und  seiner  Leier: 
daraus  ergibt  sich  das  ulxlov  für  die  lesbische  Lyrik;  das 
alriov  für  die  'noch  jetzt'  übliche  Tätowierung  der  thraki- 
schen  Frauen  schließt  die  Erzählung  ab.  Diese  ätiologischen 
Bemerkungen,  die  den  Gegenwartsstandpunkt  des  Dichters 
bekennen,  sind  der  elegischen  Erzählung  durchaus  gemäß, 
während   sie    im    Epos   z.  B.   des   ApoUonios  als    Stilwidrig- 


Farbe  trug  als  die  des  Properz,  macht  für  das  yivog  so  wenig  einen 
Unterschied  wie  der  Unterschied  der  satirischen  Polemik  des  Horaz 
von  der  des  Lucilius. 

i)  Peeller,  Ausgew.  Aufsätze  371  fF.  verstand  die  Verse  5 — 6  da- 
hin, daß  Orpheus  um  den  Verlust  des  Knaben  klage;  davon  ist  nicht 
die  Rede,  und  Virgil  hat  die  Worte  noXXätii  dl  a-Aisgolaiv  iv  aXasaiv 
f^sT  ccsläcov  bv  7t6&op  ganz  richtig  verstanden,  wenn  er  sie  auf  seinen 
verliebten  Corydon  übertrug  (buc.  2,  3). 


71,7]  OVIDS   ELEGISCHE    ErZÄHLÜNG.  QI 

keit  erscheinen  und  so  auch  gewiß  von  der  feinfühligen  alex- 
andrinischen  Kritik  aufgefaßt  worden  sind.  ^)  Die  innere 
Teilnahme  des  Dichters  an  den  Vorgängen  ist  zwar  aus  den 
Versen  über  Orpheus'  Liebe  und  über  die  Wunderklänge  der 
Leier  deutlich  herauszuhören,  aber  nicht  ausdrücklich  bekun- 
det. Nach  diesem  Stück  zu  urteilen  (und  unsere  sonstigen 
Angaben  über  die  von  Phanokles  behandelten,  wie  es  scheint, 
nicht  selten  erfundenen  Geschichten  weisen  nach  derselben 
Richtung)  ist  das  ganze  Gedicht  auf  den  Ton  weicher  und 
schwermütiger  Klage  gestimmt  gewesen:  worin  ich  weniger 
mit  Preller  eine  ^abmahnende'  Tendenz  als  die  Meinung  des 
Dichters  erkenne,  so  dem  Gesetz  der  Gattung,  das  von  ihrem 
Archegeten  Antimachos  abstrahiert  war,  am  besten  zu  genügen. 
Am  wertvollsten  wäre  es  uns  natürlich,  über  das  Ver- 
halten des  Philitas  und  des  Kallimachos  unterrichtet  zu  sein, 
der  beiden  anerkannten  Koryphäen  der  Elegie,  deren  Kenntnis 
und  Schätzung  für  die  römischen  Elegiker  feststeht.  Über 
Philitas  läßt  sich  leider  recht  weniges  zuversichtlich  sagen. 
Aber  es  wird  doch,  nach  allem,  was  ich  bisher  ausführte, 
nicht  als  Zufall  zu  betrachten  sein,  daß  die  wenigen  aus 
der  Elegie  'Demeter'  erhaltenen  Verse  —  drei  Distichen  — 
gerade  von  dem  Leid  der  Göttin  handeln,  das  eine,  wie  es 
scheint,  einer  Klage  der  Leidenden  selbst  entnommen.^)  Das 
trifft  also  ganz  mit  dem  zusammen,  was  wir  in  Ovids  elegi- 
scher Cereserzählung,  im  Gegensatz  zur  epischen,  als  vorherr- 
schend fanden.  —  Etwas  besser  sind  wir  über  Kallimachos 
unterrichtet,  und  auch  über  ihn  erst  dank  den  neueren  und 
neuesten  Funden.  Wir  besitzen  jetzt  den  Schlußteil  der 
'Kydippe'^)  und  wissen  nun,  daß  Dilthey  mit  vollem  Recht 
Aristänets  Brief  als   eine   freie  Paraphrase  der  Elegie  aufge- 


i)  S.  Virg.  ep.  Techn.*  373. 

2)  S.  PoHLENz  a.  a.  0.  109  ff.  —  Daß  das  Gedicht  an  Bittis  kein 
im-nridiiov  war,  sondern  der  Lebenden  galt,  hat  Pohlenz  mit  vollem 
Recht  aus  der  Art  geschlossen,  wie  Hermesianax  davon  spricht. 

3)  Am  bequemsten  zugänglich  in  Brinkmanns  Abdruck,  Rh.  M.  72 
(1918)  477. 


92  Richard  Hkinzk:  [7»,  7 

faßt  und  zur  Rekoiistiuktion  im  wcsentliehou  riclitis:  ver- 
wertet  luit;  daß  er  andererseits  /u  Uiirecht  gemeint  hat,  über 
den  (ianj^  der  Erzählung  weiteres  aus  den  ovidisclien  Episteln 
erseliließen  zu  können:  endlich  liejjjt  nun  hhuy.  klar  vor 
Augen,  daß  weder  das  hocligesteigerte  Pathos  noch  die  emp- 
tindsame  Sinnlichkeit  dieser  Episteln  ein  reines  Echo  kalli- 
macheischer  Art  ist.  Sehr  viel  deutlicher  als  früher  ist  uns 
aber  auch  das  Verhältnis  geworden,  in  dem  die  Erzählungs- 
weise der  Fasten  zu  dem  der  Aitia  steht:  das  ist  für  unse- 
ren Gegenstand  der  erheblichste  Gewinn. 

Vor  allem:  der  Elegiker  Kallimachos  hat  so  erzählt,  daß 
der  Leser  die  Person  des  Erzählers  über  der  Geschichte  nie- 
mals vergißt^).  Er  fällt  sich  selbst  ins  Wort,  als  ihn  seine 
TCoXvidQSit]  dazu  verleiten  wollte,  von  Hera  etwas  zu  erzählen, 
das  die  Göttin  lieber  in  Vergessenheit  fallen  sähe.  Er  ver- 
wirft als  aufgeklärter  Mann  die  übliche  Bezeichnung  der 
Krankheit,  die  Kydippe  befiel,  als  einer  lsqij.  Er  zitiert  am 
Schlüsse  seine  Quelle,  die  keische  Mythologie  des  alten  Xe- 
nomedes.  Da  spricht  überall  der  Schriftsteller,  der  in  seinem 
Stotf  nicht  völlig  aufgeht,  sondern  ihn  wirklich  als  Stoff 
empfindet  und  empfinden  läßi,  den  er  für  den  Leser  her- 
richtet; und  so  hat  er  an  anderen  Stellen  der  Aitia  dem 
Leser  zugemutet,  sich  selbst  das  zu  denken,  was  er  der  Kürze 
halber  nicht  ausführen  will  (WiL.  a.  a.  0.  224),  oder  es  abge- 
lehnt, über  irgendeinen  Gegenstand  seinen  ganzen  Wissene- 
sack  auszuschütten  (fr.  177).  Etwas  anders,  aber  doch  auch 
aller  epischer  Objektivität  entgegengesetzt  ist  es,  wenn  er, 
statt  des  Akontios  Hochzeitsnacht  zu  schildern,  zugibt,  er 
wisse  davon  nichts  und  könne  nur  vermuten,  daß  der  junge 
Gatte  sein  Glück  nicht  um  die  Schnelligkeit  des  Iphikles  oder 
die  Schätze  des  Midas  hingegeben  hätte  —  'wie  mir  alle  be- 
zeugen werden,  die  den  schlimmen  Gott  kennen':  auch  das 
spricht  der  Schriftsteller,  der  vom  Verlauf  der  Hochzeitsnacht 


i)  S.  WiLAMovriTz,  Neues  von  Kallimachos  II   (Berl.  Sitzuugsber. 
1914),  241  ff. 


7 hl]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  93 

begreiflicherweise  keine  Kunde  haben  kann  und  nichts  Unbe- 
zeustes  singen  will:  wie  zuverlässig  muß  der  Mann  in  allem 
sein,  was  er  als  geschehn  berichtet! 

Diese  Spezies  der  elegischen  Erzählung  ist,  soviel  wir 
sehen,  von  Kallimachos  erfunden.  Der  Unterschied  von  der 
antimacheischen  liegt  auf  der  Hand;  aber  die  generelle  Gleich- 
artigkeit ist  doch  auch  nicht  zu  verkennen.  Antimachos  ging 
aus  von  dem  eignen  seelischen  Erleben,  Kallimachos  von  gei- 
stigem Erlebnis-,  jenen  hat  die  Leidenschaft,  diesen  die  Forsch- 
begier zu  den  Musen  gewiesen;  bei  Antimachos  durfte  — 
wenn  anders  das  Motiv  durchgeführt  war  —  der  Leser  nie 
vergessen,  daß  der  unglückliche  Freund  der  verstorbenen  Lyde 
erzählt;  bei  Kallimachos  soll  der  Leser  nicht  vergessen,  daß 
der  gelehrte  und  geistreiche  Herr  Kallimachos  von  Kyrene 
erzählt.  Für  das  Epos  wäre  eine  solche  Vortragsweise  mon- 
stös,  und  bei  dem  stilsicheren  Künstler  Kallimachos  undenk- 
bar. Die  Reste  der  Hekale  weisen  keine  Spur  davon  auf, 
und  wir  dürfen  mit  Bestimmtheit  annehmen,  daß  das  kein 
Zufall  unserer  fragmentierten  Überlieferung  ist. 

Es  steht  nun  aber  doch  nicht  so,  daß  Kallimachos  seine 
elegischen  Geschichten  mit  der  trockenen  Sachlichkeit  des 
Antiquars  berichtet  und  sie  nur  mit  gelehrten  Anspielun- 
gen gewürzt  hätte.  Die  wiederholten  Apostrophen  des  Akon- 
tios,  die  hier  nicht  bloße  Redefigur  sind  (s.  ob.  S.  64)  lassen 
empfinden,  daß  der  gelehrte  Dichter  unvermerkt  sich  für  sei- 
nen Helden  erwärmt  hat  und  an  seinem  Schicksal  inneren 
Anteil  nimmt  ^);  würde  auch  sonst  seine  Phantasie  dem  Akon- 


i)  Wir  nennen  das  Gedicht  'Kydippe',  und  die  Figur  des  Mäd- 
chens hat  sich  schon  für  Ovid  in  den  Vordergrund  geschoben,  wenn 
er  sagt:  CalUmachi  numeris  non  est  dicendus  Achilles,  Cydippe  non  est 
oris  Homere  tili  rem.  am.  391;  Kallimachos  würde,  wenn  er  seiner  Elegie 
einen  Sondertitel  gegeben  hätte,  sie  zweifellos  'Akontios'  getauft 
haben.  Auf  das  noch  zu  des  Dichters  Zeit  in  Julis  auf  Keos  blühende 
Geschlecht  der  Akontiaden  weist  der  Schluß  hin,  der  T/ifpog  des  Akon- 
tio8  {oivq  ^Qcog  75)  wird  dann  als  Thema  des  Gedichts  genannt;  Ky- 
dippe  ist  offenbar  nur  als  Gegenstand    dieses   T^isqos,    nicht    um  ihrer 


94  Ku  uAiu)  IIhinzk:  [71,7 

tios  ins  Braut<:remaoh  folgen  V  und  aufs  feinsto  deutet  dabei 
der  Erzähler  an,  daß  eij^ne  Liebescrlahrung  ihm  den  Griffel 
führt.  Ähnlich  mag  es  bei  der  Schilderung  der  verliebten 
Sehnsucht  des  Akontios  gewesen  sein;  die  hat  der  Dichter 
—  das  können  "wir  zuversichtlich  Aristänets  durch  wtirtliche 
Zitate  gestützter  Paraphrase  entnehmen  —  mit  zärtlichen 
Farben  ausgemalt,  und  gerade  diese  Partie  scheint  es  gewesen 
zu  sein,  die  dem  Gedicht  zu  seiner  13eliebtheit  bei  Späteren 
verhalf.  Sie  hat  offenbar  nicht  kontinuierliche  Erzählung  in 
der  Art  des  Epos,  sondern  zusammenfassende  Schilderung 
gegeben.  Gegipfelt  hat  diese  in  Akontios'  Monolog,  der  kein 
Handluugs-,  sondern  ein  echter  Zustandsmouolog  gewesen  sein 
muß^):  eines  der  Vorbilder  für  Ovids  elegische  Monologe, 
für  Properz'  Tarpeia  und  viele  andere.  Das  mag  für  Kalli- 
machos'  Zeit  ein  Neues  in  der  elegischen  Erzählung  gewesen 
sein;  ohne  eine  gewisse  eigene  Sentimentalität  konnte  der 
Dichter  nicht  darauf  verfallen.  Freilich,  von  einer  so  auf- 
dringlichen Bekundung  dieser  inneren  Anteilnahme,  wie  wir  sie 
gelegentlich  bei  den  römischen  Elegikern  fanden,  zeigt  sich 
bei  Kallimachos  keine  Spur,  und  wir  würden  sie  ihm  auch 
wohl  am  wenigsten  von  den  hellenistischen  Elegikern  zu- 
trauen. —  Der  sentimentale  Ton  war  übrigens  keineswegs 
durch  das  ganze  Werk  festgehalten,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht und  wie  uns  die  Reste  der  Geschichte  von  Herakles 
und  Theiodamas^)  aufs  beste  bezeugen:  da  streifte  die  Dar- 
stellung ans  Burleske;  der  Held,  der  sich  den  geraubten 
Ochsen  nur  um  so  besser  schmecken  läßt,  weil  ihn  der  geschä- 
digte Bauer  greulich  verflucht,    muß   es   sich  gefallen  lassen, 


selbst  willen  in  Betracht  gekommen:  wir  wissen  ja  nun,  daß  sie  den 
Akontios  vor  der  Hochzeit  gar  nicht  gekannt,  also  auch  nicht  geliebt  hat. 

i)  DiLTHEYs  Vermutung,  daß  der  Monolog  dazu  gedient  habe, 
Akontios'  Entschluß  zur  Fahrt  nach  Athen  herbeizuführen,  ist  nun 
mit  der  Annahme  dieser  Fahrt  überhaupt  (und  mit  der  Lokalisierung 
der  Geschichte  in  Athen)  durch  den  Fund  des  Originals  widerlegt 
worden. 

2)  WiLAMowiTZ  a.  a.  0.  227  ff. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  95 

vom  Dichter  an  seinen  erfolglosen  Musikunterricht  beim  alten 
Limos  erinnert  zu  werden.^) 

Endlich  noch  eines:  Die  Hekale  hat  mit  großer  und  so 
weit  wir  urteilen  können  gleichmäßiger  Ausführlichkeit  die 
Geschichte  von  Theseus'  Einkehr  bei  den  armen  Alten,  sei- 
nem Kampf  mit  dem  Stier  und  seiner  Rückkehr  berichtet, 
liebevoll  verweilend  auch  bei  den  unscheinbaren  äußeren  Ge- 
schehnissen, dazu  in  den  umfänglichen  Reden  und  Gesprächen 
eine  Fülle  von  Stofi  einführend,  der  zur  Haupthandlung  nur 
in  loser  Beziehung  stand.  Die  elegischen  Erzählungen  waren 
an  sich  auf  knappere  Darstellung  angewiesen;  aber  die  Ky- 
dippe  lehrt  uns  nun,  daß  Kallimachos  hier  die  Kürze  keines- 
wesrs  so  gleichmäßig  durchgeführt  hat  wie  dort  die  Breite. 
Das  Orakel  des  ApoUon  füllt  acht  Distichen:  der  Gott  spricht 
mehr  wie  ein  freundlich  plaudernder  Berater  als  wie  ein  er- 


i)  Warum  hat  Kallimachos  für  das  'Bad  der  Pallas'  elegifsche, 
nicht  epische  Form  gewählt?  Vergleichen  läßt  sich  eigentlich  nur  der 
Demeter-*'Hymnus',  der  sich  ebensowenig  wie  die  Aovtqoc  als  Hymnus 
wibt;  in  beiden  'spricht'  Xtyst  der  Erzähler,  um  die  Wartenden  erbaulich 
zu  unterhalten,  die  Hymnen  i — 4  dagegen  uSovxai  oder  viivovvxcii;  in 
beiden  ist  dementsprechend  die  Diktion  erheblich  einfacher  als  in  jenen 
(auch  die  Gelehrsamkeit,  die  bei  Kallimachos  mit  der  Feierlichkeit 
wächst,  sparsamer  zugemessen).  Aber  im  Demeterhymnus  erzählt  der 
Dichter  doch  mit  der  Miene  ernster  Ergrififenheit  eine  grausige  Ge- 
schichte von  der  furchtbaren  Rache  einer  freventlich  gekränkten  Gott- 
heit, die  sich  in  voller  Majestät  strafend  offenbart;  Pallas  wird  beim 
Bad,  das  sie  mit  einer  guten  Freundin  zur  Mittagszeit  im  stillen  Walde 
nimmt,  von  dem  Sohn  dieser  Freundin,  dem  arglosen  Jäger  Teiresias 
erblickt  —  eine  Szene  wie  aus  dem  bürgerlichen  Leben  gegriffen  — , 
und  als  der  Jüngling  darauf,  dem  ehernen  Gesetz  gemäß,  nicht  aber 
(wie  bei  Kallimachos'  Gewährsmann  Pherekydes)  durch  den  Willen  der 
Pallas,  erblindet,  gibt  sich  die  Göttin  die  größte  Mühe,  die  vorwurfs- 
vollen Klagen  der  Freundin  abzuwehren  und  zu  beschwichtigen,  indem 
sie  dem  Unglücklichen  eine  glorreiche  Zukunft  als  Seher  verspricht  und 
ihm  schließlich  noch  außer  einem  langen  Leben  einen  großen  Stock 
schenkt,  seine  blinden  Schritte  zu  leiten.  Wahrlich  eine  sehr  humane 
Göttin,  die  man  herzlich  lieb  gewinnen  muß.  Hat  also  nicht  schon 
Kallimachos  über  den  Unterschied  zwischen  elegischer  und  epischer 
Darstellung  des  Göttlichen  ähnlich  gedacht  wie  Ovid? 


q6  Kiciiauu  Hkin/k:  I71,  7 

biibcner  l*ropbet  uiitl  ist  keineswegs  auf  majestätische  Wort- 
kargheit  bedacht.  Dage<^en  iiarliher  keiu  Wort  darüber,  wie 
und  von  wem  Akontios  die  Botschaft  erliält,  die  ihn  /,ur 
Hochzeit  nach  Naxos  ruft,  keiu  Wort  auch  vou  seinem 
Wiederseheu  mit  Kydippe  oder  deren  Empfindungen;  der  Er- 
zähler, der  bei  dem  Liebeslcid  des  Helden  so  ausgiebig  ver- 
weilt hatte,  führt  seine  Geschichte  im  Geschwindschritt  /u 
Ende.  Das  ist  eine  ccöva^ETQCa,  auf  die  nur  der  Elegiker, 
nicht  der  Epiker  ein  Recht  hat.  —  Das  Verhältnis  der  Fasti 
zu  den  Aina  läßt  sich  vorläufig  etwa  so  bestimmen:  in  der 
Gestaltung  des  Kahmons  hat  üvid  die  kalliniachcische  Form 
insofern  beibehalten,  als  er  in  eignem  Namen  spricht,  Per- 
sönliches einflicht  und  sehr  häufig,  statt  als  vates  einfach  das 
Vergangene  zu  künden,  die  Herkunft  seines  Wissens  angibt. 
Das  geschieht  freilich  überwiegend  in  der  Form,  daß  ihm 
irgendeine  Gottheit  seine  Zweifel  löst  oder  seine  Fragen  be- 
antwortet^) —  eine  Form,  die  Kallimachos,  wenn  überhaupt, 

i)  Die  Stellen  bei  Peter  Einl.  S.  15.  Ovid  bestrebt  sich,  diese 
Form  über  die  eines  konventionellen  Kunstmittels  hinauszuheben,  iiv- 
dem  er  das  Äußere  des  Gottes,  die  Begleitumstände  seiner  Erscheinung, 
seine  eignen  Empfindungen  u.  dgl.  schildert;  er  erhärtet  sogar  die 
Wahrheit  dieser  Erscheinungen  im  Proömium  des  sechsten  Buches 
gegenüber  Skeptikern  durch  philosophische  Begründung:  v.  5  est  (hus 
in  nobis;  agitante  calescimus  illo,  imjjetus  hie  sacrae  seniina  mentis  ha- 
bet, vgl.  Cic.  de  div.  I  iio  (nach  Poseidonios)  divinatio  naturalis  . .  phy- 
sica  dispiUandi  subtilitate  referenda  est  ad  naturam  deorum,  a  qua,  ut 
doctL^simis  sapientissimisque  placuit,  liaustos  uninios  et  Ubatos  habemus; 
cumque  omnia  completa  et  referta  sint  aeterno  sensu  et  mente  divina, 
necesse  est  cognatione  divinorum  animorum  animos  humanos  commoveri ; 
ebd.  129  animi  hominum,  cum  aut  somno  soluti  vacant  corpore  aut  mente 
permoti  per  se  ipsi  liberi  incitati  moventur,  cernunt  ea,  quae  permiocti 
cum  corpore  animi  videre  non  possunt.  Zu  dem,  was  der  Geist  im 
Traume  'schaut',  gehören  bekanntlich  vor  allem  die  Götter  selbst; 
dem  begnadeten  vates  wird  im  Wachen  zuteil,  was  anderen  nur  im 
Traum.  Ovid  hat  ein  doppeltes  Anrecht  auf  solche  Gnade,  da  er  nicht 
nur  vates  ist,  sondern  auch  sacra  canit  (v.  7.  8);  Juno  bestätigt  ihm  das 
in  der  gleich  folgenden  besonders  sorgfältig  ausgemalten  Epiphauie 
V.  21 — 24  (zu  der  Lokalisierung  im  nemus  arboribus  densum  vgl.  Cic. 
ja.  a.  0.  114   mulios   nemora   silvaeque  .  .  commovent  quorum  furibunda 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  97 

80  wohl  nur  ganz  ausnahmsweise  verwendet  hatte ^);  es  fehlt 
aber  auch  nicht  an  Fällen,  wo  Ovid,  wie  Kallimachos  in 
dem  neuesten  Aitienfragment  bei  dem  Fremdling  aus  Ikos, 
so  bei  Menschen,  die  er  triffl  oder  aufsucht,  Erkundigung 
einzieht^)  —  womit  dann  immer  die  Schilderung  einer  Si- 
tuation aus  dem  Leben  des  Dichters  verbunden  ist:  freilich 
ist  diese  Schilderung  niemals  annähernd  so  ausgeführt  wie 
das  Gastmahl  des  Pollis  bei  Kallimachos.  Im  übrigen  beruft 
sich  Ovid  wohl  einmal  unbestimmt  auf  die  antiqui  senes 
(II  584)  oder  sagt,  er  habe  eine  Geschichte  schon  als  Knabe 
gelernt  (VI  917),  oder  kündigt  die  Erzählung  einer  alten  fa- 
btda  an  (II  304.  III  544.  V  604.  VI  320),  oder  erklärt  (ähn- 
lich wie  Kallimachos  ob.  S.  92)  im  voraus,  daß  er  eine  um- 
fängliche Geschichte  kurz  zusammenziehen  wolle  (VIsSsfP.): 
aber  so  weit  geht  er  nicht  im  Geständnis  seiner  Bücherweis- 


inens  videt  ante  multo  quae  sint  futura).  Sehr  hübsch,  wie  Ovid  seine 
Glaubwürdigkeit  dadurch  stützt,  daß  er  in  einem  bald  folgenden  Falle 
(253)  ausdrücklich  erklärt,  die  inspirierende  Gottheit  (Vesta)  nicht  ge- 
sehen zu  haben:  lügen  wolle  er  nicht,  wie  die  anderen  vates  (mißver- 
standen von  Peter  z.  St.),  übrigens  ist  der  Dichter  taktvoll  genug, 
um  die  Gottheiten  nur  zu  bemühen,  wo  wirklich  eine  Aporie  der  rö- 
mischen Sakrallehre  zu  lösen  ist;  ganz  ausnahmsweise  wird  VI  697  ff. 
die  Erzählung  eines  Katasterismus  dem  Merkur  in  den  Mund  gelegt, 
während  sonst  der  Dichter  die  Stemsagen  wie  überhaupt  die  griechi- 
schen Sagen  in  eigenem  Namen  berichtet.  —  Die  Epiphanie  der 
Gottheit  wird  öfters  ersetzt  durch  das  an  sie  gerichtete  Gebet  um  Bei- 
stand oder  Belehrung:  I  467,  II  269.  359,  UI  261.  714,  17  723.  808,  VI 
483;  vgl.  Kallim.  hymn.  I  7.  III  186. 

i)  V.  Arnim  hat  (Wiener  Sitzungsber.  19 10  p.  9)  in  dem  Sprecher 
der  letzten  Verse  der  Aitia  (vor  dem  Schlußdistichon)  Zeus  vermutet; 
dann  liegt  die  Annahme  nahe,  daß  dieser  dem  Dichter  irgendein  auf 
das  Herrscherhaus  bezügliches  aixiov  offenbart  bat. 

2)  S.  darüber  jetzt  Malten,  Hermes  53  (1918),  175;  zu  den  drei 
von  ihm  aufgeführten  Fällen  (IV  377  der  Veteran  von  Thapsus,  Ovids 
Nachbar  im  Zirkus,  938  ein  Flamen  beim  Robigalienopfer;  VI  399  eine 
alte  Frau  bei  den  Vestalien)  kommen  noch  IV  687  der  Gastfreund  in 
Carseoli,  bei  dem  Ovid  auf  der  Reise  nach  Sulmo  einkehrt,  und  VI  226 
die  Flaminica,  die  ihn  über  den  rechten  Zeitpunkt  für  die  Hochzeit 
seiner  Tochter  berät. 

Phil  -hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  7  ^  7 


98  Richard  Hkinzk:  l7«,7 

heit,  daß  er  wie  Kallimachos  einen  Autor  zitierte.  Er  scheut 
sich  nicht,  eine  Erziilihiujiij  zu  unterbrechen,  um  auf  ein  späte- 
res Buch  zu  verweisen  (IV  55,  Tgl.  iqq,  wo  der  Hinweis  ge- 
schickt in  die  Kede  des  Mars  verflochten  ist);  er  versagt 
sich,  wie  Kallimachos  in  der  Kydippe,  Mitteilungen,  die  dem 
jnus  vates  nicht  gestattet  sind  (III  ^^2;^  ff.,  vgl.  VI  325);  ja  er 
bemerkt,  während  er  die  Geschichte  vom  Palladion  erzählt, 
daß  er  scl))st  den  Pallasterapel  in  llion  besucht  habe  (VI 
423).  Die  ätiologischen  Einlagen,  die  wie  bei  Kallimachos 
immer  wieder  den  Leser  auf  den  Gegenwartsstandpunkt  des 
Erzählers  zurückrufen,  sind  bei  beiden  durch  den  Stoff  ge- 
boten; an  Stelle  des  rein  gelehrten  Interesses  tritt  freilich 
bei  Ovid  die  sakrale,  nationale  und  höfische  Tendenz,  die 
jenen  Beziehungen  auf  die  Gegenwart,  aber  auch  vielfach  der 
Gesamthaltung  der  Erzählung  den  Stempel  aufdrückt.  Aber 
sie  hält  sich,  auch  wo  sie  von  Göttern  handelt,  geflissentlich 
unterhalb  des  Niveaus  epischer  Grandezza:  auch  Kallimachos 
hat,  wie  es  scheint,  die  Schilderung  göttlicher  und  heroischer 
Erhabenheit  der  Elegie  nicht  für  angemessen  erachtet.  Die 
Freiheit,  die  sich  der  Elegiker  Kallimachos  in  bezug  auf  die 
övupsxQCa  der  Erzählung  nahm,  hat  sich  Ovid,  wie  auch  Pro- 
perz,  weitgehend  zunutze  gemacht.  Ob  der  Aitiendichter 
aber  hierbei  das  Gewicht  so  stark  wie  die  beiden  Römer  auf 
das  gefühlsmäßige,  auf  rührende  und  sanftpathetische  Momente 
der  Erzählung  gelegt  hat,  ist  keineswegs  sicher;  wir  müssen 
uns  hüten,  den  Fall  des  Akontios,  in  dem  sich  die  övfiTcdd^sia 
des  Erzählers  oflFen  bekundet,  zu  verallgemeinern.  Ebenso- 
wenig sicher  ist  es,  daß  Kallimachos  in  der  Auswahl  und 
Gestaltung  der  erzählten  Sagen  das  Rührend-Pathetische  so 
geflissentlich  gesucht  hat  wie  Ovid  und  Properz;  gefehlt  hat 
es  jedenfalls  auch  bei  ihm  nicht  ^),  und  inhelles,  wie  die  rö- 
mischen  Elegien,  sind  die  seinen  gewiß  auch  gewesen.    Aber 

i)  So  hat  Knaack,  Analecta  Graecoromana  (Dias.  Grfsw.  1880),  die 
rührende  Geschichte  der  verlassenen  Phyllis  mit  großer  Wahrachein- 
lichkeit  auf  die  Aitia  zurückgeführt,  um  von  anderen  minder  sicheren 
Vermutungen  zu  schweigen. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  99 

unwahrscheinlich  ist,  daß  auf  Kallimachos  die  überschweng- 
lich sentimentale  und  bis  zur  Fiktion  unmittelbarer  Teil- 
nahme an  der  Handlung  gesteigerte  Haltung  zurückgeht,  die 
wir  in  zahlreichen  elegischen  Erzählungen  der  Römer  fanden. 

Diese  letztgenannte  Eigenheit  findet  nun  aber  ihre  deut- 
lichste Entsprechung  in  einer  poetischen  Gattung,  die  wir 
bisher  ganz  beiseite  gelassen  haben:  im  römischen  'Epyllion'. 
Ich  brauche  nicht  auszuführen,  wie  Catulls  Hochzeit  des  Pe- 
leus  und  die  über  dreißig  Jahre  jüngere  Ciris  in  diesem  Punkte 
übereinstimmen:  sie  sind,  in  striktem  Gegensatz  zur  epischen 
Objektivität,  ganz  getränkt  von  der  überschwenglich  gefühl- 
vollen Teilnahme  des  Dichters  am  traurigen  Schicksal  seiner 
Personen;  einer  Teilnahme,  die  sich  nicht  nur  im  ganzen 
Ton  der  Erzählung,  sondern  in  pathetischen  Ausrufen,  An- 
reden, Betrachtungen  kund  tut.  Und,  einmal  auf  diese  Pa- 
rallele aufmerksam  geworden,  wird  man  leicht  sehen,  daß 
auch  anderes,  das  wir  bisher  dem  elegischen  Erzählungsstil 
zuwiesen,  ebenso  dem  Epyllion  eignet:  die  Ungleichmäßigkeit 
der  Behandlung,  die  sachlich  Wichtiges  mit  äußerster  Kürze 
nur  eben  andeutet,  um  desto  länger  auf  anderen  Punkten  zu 
verweilen;  die  Bevorzugung  der  gefühlsbetonten  Momente  der 
Handlung,  und  die  Verwendung  des  'Zustandsmonologs'  zur 
Schilderung  des  seelischen  Leides,  insbesondere  Liebesleides. 
Liegt  es  also  nicht  vielleicht  so,  daß  die  elegische  Erzählung 
der  Römer  sich  am  alexandrinischen  Epyllion  gebildet  hat?') 

Zunächst:  vom  'alexandrinischen'  Epyllion  wird  man 
hier  nur  mit  wesentlicher  Beschränkung  reden  können.  Wir 
haben  ja  Epyllien  genug  aus  älterer  hellenistischer  Zeit,  um 
deren  Stil  beurteilen  zu  können.  Die  Kleinepen  des  Theokrit 
und  Moschos,  sowie  die  in  der  Bukolikersammlung  mit 
ihnen  vereinigten  uns  unbekannter  Verfasser,  die  uns  bis  tief 
ins  zweite  Jahrhundert  hinabführen,  zeigen  von  der  halblyri- 
schen Art  der  Römer  noch  kaum  eine  Spur;  durchweg  halten 

i)  R0TH8TEIN  zu  Properz  IV  4:  'Die  Sage  von  dem  Verrat  und 
der  Bestrafung  der  Tarpeia  erzählt  diese  . .  Elegie  in  der  Weise  eines 
alexandrinischen  Epyllions'. 

7* 


lOO  RlCHAKD   HlilNZE:  [7'i7 

sie  sich,  mit  sichtlicher  llomoriiuitation  in  vielen  Einzelheiten, 
au  den  echt  episclien  Ton  der  Erzilhlun<^.  Etwas  weiter  führt 
nur  das  einzige  dieser  Gedichte,  das  einen  erotischen  Stoff 
behandelt'),  Moschos'  Europa:  der  Monolog  der  Heldin,  zu 
dem  sie  ihr  Traum  anregt,  und  die  ängstlich  klagenden 
Worte,  die  sie  spricht,  während  sie  der  Stier  davonträgt, 
klingen  wie  eine  Vorahnung  der  jüngeren  Manier,  wie  auch 
die  stark  zur  excpQaöig  neigende  Art  der  Erzählung  und  die 
Einflechtung  einer  verwandten  Sage  in  Form  der  Beschreibung 
eines  Kunstwerks  die  Vorstufe  dessen  sind,  was  wir  bei  CatuU 
ausgebildet  finden:  der  Abstand  ist  noch  groß  genug.  Nach 
ganz  anderer  Richtung  weicht  die  Megara  von  der  altepi- 
schen Weise  ab:  dies  tränenreiche  Zwiegespräch  zwischen 
Gattin  und  Mutter  des  Herakles,  ein  sehr  merkwürdiger  Ver- 
such die  Kehrseite  heldischen  Ruhms  in  der  Wirkung  auf 
die  Angehörigen  zu  zeigen,  opponiert  freilich  ostentativ  gegen 
die  Freude  der  epischen  Sänger  an  heroischer  Tat  und  weist 
mit  seiner  Versenkung  in  die  Frauenseele  auf  die  Bahn,  die 
dann  die  Römer  mit  Vorliebe  gegangen  sind;  aber  stilistisch 
hält  das  Gedicht  die  epische  Tradition  durchaus  aufrecht. 
Der  Umschwung  zur  'lyrischen'  Epik  muß  also  in  späthelle- 
nistischer Zeit  erfolgt  sein;  ich  meine,  die  hochgesteigerte 
und  aufgeregte  Pathetik  Bions  (im  Adonis)  und  seines  Schü- 

i)  Der  Kyklop  und  der  Hylas  des  Theokrit  sind  freilich  auch 
?«r],  aber  die  Anrede  an  Nikander  und  die  Anknüpfung  der  Erzählun- 
gen an  Persönliches  (ganz  wie  im  Hylas  des  Properz)  lehnen  von  vorn- 
herein jeden  Gedanken  an  Homer  ab.  Der  Kyklop  gehört  ganz  zur 
'bukolischen'  Dichtung  —  wieviel  er  dem  Philoxenoa  verdankt,  wissen 
wir  nicht,  aber  die  Anregung  ist  jedenfalls  von  der  Lyrik  gekommen; 
die  Stimmung  das  Gegenteil  von  Sentimentalität  (Virgil  hat  dann  in 
seinem  frühesten  Bukolikon  mit  wenig  Glück  Motive  des  Gedichts  in 
ganz  andere  Stimmung  zu  übertragen  versucht).  Auch  den  Hylas  haben 
die  Alten  nicht  ohne  Bedacht  zu  den  ßovKoXiKa  gestellt  (Wilamowitz, 
Textgesch.  der  Bukol.  174);  aber  trotz  alles  Unhomerischen  und  trotz 
der  Beschränkung  auf  das  für  die  persönliche  Absicht  der  Erzählung 
Wichtige  ist  das  Gedicht  nichts  weniger  als  modern  im  Sinne  der 
römischen  vswtsqoi:  der  Vergleich  mit  Properz  lehrt  das  besser  als 
jede  Stilanalyse 


71,7]  OVIDS    ELEGISCHE   ErZÄHLUNG.  lOI 

lers  (im  Epitaphios)  gibt  für  die  Zeitbestimmung  einen  Fin- 
gerzeig.^) Es  ist  bedauerlich,  aber  lehn-eicli  für  die  Vorsicht, 
die  man  bei  Schlüssen  ex  silentio  auf  die  griechischen  Vor- 
bilder der  römischen  Dichtung  cäsarischer  und  augusteischer 
Zeit  zu  beobachten  hat,  daß  die  griechischen  Epyllien  spur- 
los verschwunden  sind,  die  dem  Catull,  dem  Virgil  in  der  Ari- 
staeusgeschichte  und  noch  dem  Cirisdichter  als  vorbildlich 
galten. 

Nun  läßt  sich  natürlich  die  Möglichkeit  einer  Entwicke- 
lung  des  Epyliions  ganz  aus  sich  selbst  heraus  a  priori  nicht 
bestreiten.  Aber  sehr  viel  wahrscheinlicher  dünkt  mich  die 
Einwirkung  der  erzählenden  Elegie.  Gerade  in  den  Haupt- 
punkten —  persönliche  Teilnahme  des  Dichters  an  der  Hand- 
lung, Zurückdrängung  alles  rein  Tatsächlichen,  Hervorhebung 
des  Gefühlsmäßigen,  Vertiefung  in  die  nicht  heroischen,  son- 
dern rein  menschlich  rührenden  Ttd&rj  —  in  allen  diesen 
Punkten  ist  die  Priorität  der  Elegie  deshalb  wahrscheinlich, 
weil  in  ihr  die  Erzählung  ja  eben  ursprünglich  an  das  see- 
lische Erlebnis  des  Dichters  unmittelbar  anknüpft,  gleichsam 
aus  ihm  heraus  gestaltet  wird.  Wenn  die  Annahme  richtig 
ist,  daß  die  elegische  Erzählung,  auch  als  sie  von  dieser  Moti- 
vierang  absah,  den  ursprünglichen  Charakter  nur  wenig  ab- 
geschwächt beibehielt,  so  liegt  auch  die  andere  Annahme  sehr 
nahe,  daß  die  epische  Erzählung  im  Laufe  der  Zeit  immer 
mehr  an  sie  heranrückte,  bis  der  Unterschied  der  inneren 
Form  völlig  verschwand. 

Ich  hoffe,  daß  neue  Forschungen  oder  noch  besser  neue 
Funde  die  Konstruktion,  die  ich  versuchte,  bestätigen  oder 
durch  eine  bessere  ersetzen  werden.  Das,  was  ich  als  das 
wesentliche  Resultat  meiner  Untersuchung  betrachte,  wird  da- 
durch nicht  berührt:  mir  lag  vor  allem  daran,  zu  zeigen,  daß 
und  wie  Ovid  den  elegischen  Erzählungsstil  der  Fasten  von 
dem  epischen  der  Metamorphosen  differenziert  hat-,  damit  ist, 
hoffe  ich,  für  das  Verständnis  der  Kunst  Ovids  etwas  gewonnen. 

i)  S.  den  Anhang  IV. 


I02  Richard  Heinze:  [7».  7 

A  u  h  ä  n  g  e. 

I  (zu  S.  14). 

Göttliche  Erotik  der  Metaiuoiphoseu. 

Ovid  pflegt  in  den  erotisclien  Giitterniythen  einfach  zu 
berichten,  daß  die  Scliöuheit  eines  Mädchens  den  Gott  zur 
Begierde  entflammt;  eingehende  Schilderung  dieser  Leiden- 
schaft, für  die  Ovid  sonst  so  große  Vorliebe  hat,  wird  ver- 
mieden. Pktkus^)  hat  das  richtig  bemerkt,  aber  nicht  richtig 
daraus  erklärt,  daß  die  Göttergeschichten  aus  vorhellenistischer 
Zeit  zu  stammen  pflegen,  die  sich  auf  die  Psychologie  der 
Liebe  noch  nicht  recht  verstanden  habe.  Es  wäre  ja  Ovid 
ein  leichtes  gewesen,  gerade  in  diesem  Punkte  die  etwa  sei- 
nen Vorgängern  anhaftende  primitive  Einfachheit  durch  mo- 
dernes Raffinement  zu  ersetzen.  Vielmehr  ist  er  der  Gefahr, 
die  göttliche  Hoheit  herabzuziehen,  indem  er  sie  in  mensch- 
liche Schwäche  verstrickt  zeigt,  dadurch  entgangen,  daß  er 
die  'Liebe'  einfach  konstatiert,  ohne  bei  der  psychischen 
'Seite  des  Affekts  zu  verweilen:  er  schildert  weder  sein  all- 
mähliches Werden  und  Wachsen,  noch  bringt  er  je  einen 
Gott  in  den  Konflikt  der  Liebe  mit  anderen  Empfindungen, 
der  ihm  in  den  Liebesgeschichten  der  Menschen  so  erwünschte 
Gelegenheit  zu  pathetischer  Seelenmalerei  bietet. 

Die  ovidischen  Götter  leiden  nicht,  wie  die  Menschen, 
unter  unerlaubter  oder  unglücklicher  Liebe.  Die  Schönen  | 
der  Erde  gehören  ihnen,  und  dadurch  nicht  in  letzter  Linie 
sind  sie  gewiß  nach  Ovids  Meinung  heati.  Von  Werbung  ist  j 
nicht  viel  die  Rede.  Es  wird  wohl  hie  und  da  in  kurzen 
Worten  erzählt,  daß  die  Geliebte  in  jungfräulicher  Scheu  die 
Bitte  eines  Gottes  abweist^);  dann  erliegt  sie  der  Gewalt  — 
falls  nicht  eine  andere  gnädige  Gottheit   sie  durch  Verwand- 

i)  a.  a.  0.  (ob.  S.  58  ')  70.  73. 

2)  Pan-Sphinx  I  699;  Neptun-Corona  II  574;  Boreas-Oreithyia  VI 
684  (quid  ..  admovi  preces,  quarum  me  dedecet  usus?  689);  Juppiter-Io 
I  588 


7I>7]  OVIDS   ELEGISCHE   EkZÄHLUNG.  IO3 

lung  rettet.  Eine  Ausnahme  bildet  die  erste,  reich  ausgestal- 
tete erotische  Erzählung,  Apollo  und  Daphne  (I  452 — 567)^). 
Auch  sie  ist  nach  jenem  Schema  angelegt:  Bitten  des  Gottes, 
die  nicht  erhört  werden;  Verfolgung;  Rettung  im  letzten 
Augenblick  durch  Verwandlung.  Aber  hier  ist  die  Glut  der 
Leidenschaft,  das  Entzücken  des  Gottes  beim  Anblick  des 
Mcädchens,  seine  trügende  Hoffnung  wortreich  geschildert; 
hier  wird  die  Werbung  in  langer  Rede  vorgeführt,  und  der 
Gott  klagt  selbst  über  seine  Schwäche  (519 — 324).  Diese 
Ausnahme  ist  sorgfältig  motiviert.  Geflissentlich  zeigt  uns 
der  Dichter  zunächst  in  seiner  ganzen  Erhabenheit  den  Python- 
töter  Apollo;  im  vollen  Hochgefühl  des  Sieges  reizt  er,  der 
Liebe  noch  unkundig,  den  in  seiner  Weise  gleichfalls  allbe- 
zwingenden Gott  Amor,  und  dieser  rächt  sich  durch  seinen 
Pfeil;  so  wird,  was  alltägliche  Liebesgeschichte  sein  könnte, 
zur  Geschichte  des  Wettstreits  zweier  großer  Gottheiten,  und 
Apollo  erliegt  nicht,  wie  irgendein  Sterblicher,  dem  Reiz 
eines  hübschen  Mädchens,  sondern  der  saeva  Cupidinis  ira. 
Das  in  der  hellenistischen  Poesie  so  trivialisierte  Motiv  des 
unfehlbaren  Liebespfeils  gewinnt  hier,  in  diesem  xriXKvyes 
7Cq66g37Cov  aller  erotischen  Verwandlungsgeschichten,  gleich- 
sam wieder  seine  ursprüngliche  Größe.  Und  auch  darauf 
ist  der  Dichter  bedacht,  Daphnes  unbezwingliche  Sprödigkeit 
nicht  als  eine  Niederlage  des  werbenden  Gottes  empfinden 
zu  lassen,  die  ihm  zur  Unehre  gereichte;  er  erfindet  das  neue 


i)  Die  Erzählung  hat  nach  anderen  Castiglioni  a.  a.  0.  (ob.  S.  54^) 
117  fF.  eingehend  bekandelt;  er  ßucht  in  scharfsinniger  und  gelehrter 
Analyse  nachzuweisen,  daß  sie  (abgesehen  von  der  einleitenden  Szene, 
die  VoLLGKAFF,  Nikaudet  und  Ovid  I  [Groningen  1909]  68  mit  unzu- 
reichenden Gründen  gleichfalls  auf  Ovids  Quelle  —  angeblich  Nikander- 
zurückführt)  sich  eng  an  eine  hellenistische  Dichtung  anlehne.  Ich 
halte  diesen  Nachweis  für  mißlungen.  Aus  C.s  Zusammenstellungen  er- 
gibt sich  nur,  was  kaum  des  Beweises  bedurfte,  daß  Ovid  hellenisti- 
sche Motive  verarbeitet.  Für  verfehlt  halte  ich  es  auch,  wenn  Petees 
a.  a.  0.  54,  I  die  Anstöße  in  Ovids  Erzählung  durch  Ineinanderschieben 
zweier  Fassungen  der  Sage  zu  erklären  sucht;  dabei  ist  Ovids  Arbeits- 
weise viel  zu  mechanisch  aufgefaßt. 


I04  KiciiAUL)  Ueinze:  7',  7] 

Motiv  des  stumpfen  Bleipfeils,  der  dem  Mädchen  Abscheu 
treuen  alle  Liebe  einflößt,  und  hiilt  darauf  —  zum  Schaden 
der  Komposition  und  des  künstlerischen  Eindrucks  — ,  das 
so  durch  Gottes  Willen  erweckte  Verlangen  nach  lebenslanger 
Jungfräulichkeit  vor  der  Liebesszene  eingehend  zu  schildern. 
Darum  darf  denn  auch  Daphne  nicht  etwa  erst  die  Werbung 
anhören  und  dann  fliehen  —  wodurch  der  (Jott  beschämt 
würde  — ,  sondern  sie  flieht,  sobald  Apollo  sie  erblickt,  und 
dieser  muß  nun  —  wieder  zum  Schaden  der  Erzählung  — 
seine  Werbung  vorbringen,  während  er  der  Fliehenden  folgt. 
Er  folgt  ihr  zunächst  nur,  um  sie  zum  freiwilligen  Einhalten 
zu  bewegen;  er  verfolgt  sie  erst,  als  sie  nicht  hören  will, 
und  als  die  Flucht  ihren  Reiz  und  damit  sein  Verlangen  er- 
höht. Dieser  Verfolgung  wäre  das  Mädchen  natürlich  bald 
erlegen,  ohne  die  rettende  Verwandlung:  bei  der  nun  wieder 
ein  Gott  des  Gottes  Wunsch  durchkreuzt. 

Ein  beliebtes  Motiv  des  alten  Mythus  ist  es,  daß  ein  Gott 
sich  der  Geliebten  in  Tiergestalt  oder  anderer  nicht-mensch- 
licher Vermummung  bemächtigt.  Eine  ganze  Reihe  solcher 
Geschichten  ist  VI  103  ff.  aufgezählt-,  es  sind  die  Bilder,  die 
Arachne  den  Göttern  zum  Hohn  in  ihr  Gespinst  wirkt  — 
man  sieht,  Ovid  hat  dergleichen  als  Verstoß  gegen  göttliche 
Würde  empfunden.  Die  (ganz  kurz  berichtete)  Geschichte 
von  Juppiters  Verwandlung  in  einen  Adler  beim  Raub  des 
Ganymedes  legt  er  Orpheus  in  den  Mund  (X  155 — 161),  der 
seinen  Preis  der  Knabenliebe  nicht  wirkungsvoller  eröffnen 
kann,  als  indem  er  zeigt,  welcher  Erniedrigung  sich  um  sol- 
cher Liebe  willen  der  höchste  Gott  unterworfen  habe  {nulla 
tarnen  alite  verti  dignatur,  nisi  quae  posset  sua  fulmina  ferre: 
das  klingt  wie  eine  Polemik  gegen  andere  Verwandlungssagen). 
In  eignem  Namen  erzählt  Ovid  nur  eine  einzige  von  all  diesen 
Verwandlungen,  obwohl  er  damit  auf  so  vielbehandelte  und 
dankbare  Stoffe  wie  den  Schwan  der  Leda  und  den  Goldregen 
der  Danae  verzichten  muß.  Jene  einzige  Ausnahme  ist  die 
Europageschichte  (U  833),  bei  der  doch  der  Anstoß  wegfällt, 
daß    der  Gott    sich   in  Tiergestalt  der  Geliebten  bemächtigt; 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   ErzÄHLUNG.  IO5 

alles  Gewicht  ist  darauf  gelegt  zu  zeigen,  wie  der  Gott  auch 
in  der  Verwandlung  so  bezwingend  wirkt,  daß  das  scheue 
Mädchen  sich  ihm  anvertraut.  Und  dem  unvermeidlichen  Be- 
denken begegnet  der  Dichter  von  vornherein  dadurch,  daß 
er  selbst  betont,  non  hene  conveniunt  nee  in  una  sede  morantur 
maiestas  et  amor:  man  soll  sehen,  daß  er  sich  des  Abfalls 
von  epischer  Höhe  bewußt  ist.  Die  Verwandlung  der  Götter 
in  menschliche  Gestalt  ist  dagegen  durch  die  vielen  homeri- 
schen Beispiele  als  gut  episch  autorisiert  und  dient  bei  Ovid, 
wie  anderen  Zwecken,  so  auch,  wenngleich  selten,  den  Liebes- 
abenteuern: als  altes  Mütterchen  verschafft  sich  Apollo  Zu- 
tritt zu  Chione  (XI  710),  Sol  in  Gestalt  ihrer  Mutter  zu  Leu- 
cothoe  (IV  2 ig),  die  dann,  als  er  in  veram  rediit  speciem, 
sich  ihm  ergibt;  wie  auch  Pomona  des  Vertumnus  Liebe  er- 
widert (XIV  771),  als  er  die  Maske  der  anus  abwirft  und  in 
göttlicher  Schönheit  vor  ihr  steht  .^)  Zur  Überlistung  des 
Mädchens  dient  nur  Juppiters  Verwandlung  in  Diana,  als  er 
der  Kallisto  naht.  Diese  ganz  singulare  göttliche  Maske  ist 
nicht  epische,  sondern  Komikererfindung,  aber  von  Ovid  dem 
Amphis  natürlich  nicht  direkt  entlehnt.  Die  eigentlich  komi- 
sche Wendung,  daß  nämlich  die  unschuldige  Kallisto  meint, 
wirklich  von  Diana  schwanger  geworden  zu  sein  und  ihr  das 
nach  der  Entdeckung  ins  Gesicht  sagt  (Eratosth.  catast. 
p.  50  R.),  hat  Ovid  natürlich  aus  dem  Epos  ausgeschlossen, 
so  daß  denn  bei  ihm,  epischem  Stil  zuliebe,  der  Geschichte 
die  eigentliche  Pointe  fehlt;  die  Geschichte  selbst  war  ihm 
als  Variante  der  sonst  so  gleichförmigen  Begebenheit  er- 
wünscht. 


i)  Der  Grund  dieser  und  anderer  Verwandlungen  der  liebenden 
Götter  ist  also  nicht,  wie  Peters  a.  a.  0.  78  meint,  daß  die  sterblichen 
Frauen  den  unverhüllten  Anblick  der  Götter  nicht  zu  ertragen  ver- 
möchten. Wenn  es  von  Merkur,  der  um  der  Herse  willen  zur  Erde 
hinabsteigt,  heißt  nee  se  dissimulat:  tanta  est  fiducia  formae  (II  73 1)1  ^^ 
ist  gemeint,  daß  der  Gott,  seines  Eindrucks  im  voraus  sicher,  darauf 
verzichtet,  in  irgend  einer  Verkleidung  sich  mit  List  der  Geliebten  zu 
bemächtigen. 


io6  l^ciiAKD  Hkinzk:  (7',7 

Die  Trauer  der  Götter  um  den  Verlust  der  Geliebten  hat 
Ovid  sich  nicht  <:^escheut  im  Epos  zu  schildern.*)  Hier  leiden 
die  Götter  zwar,  aber  Trauer  ist  ein  weit  edlerer  Affekt  als 
eehnsüchtit'e,  uubefrieditjte  Liebe. 

•  II  (zu  S.  57). 

Kallistü  bei  Ovid. 

Bei  Ovid  wird  die  unsschuldige  Kallisto  für  den  Verlust 
ihrer  Jungfräulichkeit  zweimal  bestraft:  sie  wird  von  Diana, 
nachdem  diese  beim  gemeinsamen  Bad  die  Schwangerschaft 
entdeckt  hat,  aus  ihrem  Kreise  gestoßen  und  von  Juno  nach 
der  Geburt  des  Arkas  in  eine  Bärin  verwandelt.  Sie  lebt  als 
solche  einsam  in  den  Bergen;  als  sie  nach  langen  Jahren 
dem  Sohn  begegnet,  läuft  sie  Gefahr,  von  diesem  getötet  zu 
werden:  um  das  zu  verhindern,  erhebt  Juppiter  beide  unter 
die  Gestirne.  Juno  erbittet  von  Okeanos  und  Tethys,  daß 
das  neue  Gestirn  der  Bärin   niemals   ins   Meer   tauchen  darf 

Das  Verhältnis  dieser  Darstellung  zu  den  früheren,  die 
umgestaltende  Tätigkeit  Ovids  läßt  sich,  meine  ich,  schärfer 
und  richtiger  erfassen,  als  es  in  den  bisherigen  Behandlungen 
der  Sage  geschehen  ist.     Drei  Punkte   kommen  in  Betracht: 

I.  Die  älteren  Sagenformen  lassen  Kallisto  von  Artemis 
erschossen  oder  verwandelt  werden.  Hellenistische  Dichtung 
hat  die  eifersüchtige  Hera  eingeführt;  sie  ist  es,  die  Kallisto 
verwandelt  und  dann  durch  Artemis  erschießen  läßt  —  als 
Gewährsmann  dieser  Fassung  nennt  das  schol.  II.  2J  478  den 
Kallimachos^)  — ;  oder  Zeus  verwandelt  die  Geliebte,  um  sie 


i)  Apollo  (Coronis)  11  621,  (Cyparissus)  X  141,  Sol  (Leucothoe)  IV 
245,  Besonders  pathetisch  Apollos  Klage  um  Hyacinthus  X  162:  die 
singt  Orpheus  (vgl.  ob.);  und  Venus'  Klage  um  Adonis  X  721. 

2)  Ob  wir  diesem  sehr  unzuverlässigen  Zeugnis  glauben  und  die 
andere  Fassung  als  Variante  eines  Mythographen  auffassen  sollen  (mit 
Franz,  de  Callistus  fabula,  Lpz.  Stud.  XII  [1890]  2850".),  ist  mir  zweifel- 
haft. In  der  'kallimaeheischen'  Fassung  ist  die  zwiefache  Rache  der 
Hera  anstößig.  In  der  anderen  (bei  Apollodor  III  100  ff.)  ist  es  sehr 
gut   erfunden,    daß    Hera,    die    (wie  bei  lo)  die  Verwandlung  bemerkt 


71,  7J  OviDS   ELEGISCHE  ErzÄHLUNG.  IO7 

vor  dem  Zorn  der  Hera  zu  bergen,  und  diese  veranlaßt  Ar- 
temis, die  Bärin,  unkundig  der  Verwandlung,  zu  erlegen.  Ovid 
nun  kombiniert  das  Motiv  der  Arteraisstrafe  mit  dem  der 
Herastrafe  und  läßt  infolgedessen  die  erstere  lediglich  in  der 
Verbannung  aus  der  Göttin  Nähe  bestehen  (wovon  keine 
sonstige  Überlieferung  etwas  weiß).  Dabei  muß  motiviert 
werden,  warum  Juno  ihre  Rache  so  lange  verschiebt;  466 
senserat  hoc  (nämlich  daß  Kallisto  ihre  paelex  ist)  olim  magni 
matrona  Tonantis,  distuleratque  graves  in  idonea  tempora  poe- 
nas.  causa  morae  nidla  est  (da  nämlich  Diana  jetzt  ihre  Hand 
von  KaUisto  abgezogen  hat)  et  iam  puer  Areas  —  id  ipsum 
indoluit  luno  —  fuerat  de  paelice  natus:  die  Geburt,  so  müssen 
-wir  verstehen,  lenkt  Junos  Blick  wieder  auf  die  Verhaßte  und 
veranlaßt  sie  zum  Vollzug  der  lange  verschobenen  Strafe. 
Das  ist  freilich  durch  id  ipsum  indoluit  nicht  ganz  deutlich 
ausgedrückt;  aber  es  ist  durchaus  begreiflich,  warum  Ovid 
die  Geburt  vor  der  Verwandlung  erfolgen,  also  Juno  nicht 
unmittelbar  nach  der  Verstoßung  eingreifen  läßt:  so  gewinnt 
er  das  erregende  Moment  für  Junos  Tat  und  ihre  gehässige 
Rede  (47 1  ff.)  und  erspart  zudem  sich  und  dem  Leser  die 
fabelhafte  Tatsache,  an  der  ältere  Dichtung  keinen  Anstoß 
genommen  hatte,  daß  die  Bärin  ein  Menschenkind  zur  Welt 
bringt  (ganz  Verfehltes  über  diesen  Punkt  bei  Pressler  a.  a. 


hat,  nun,  um  nicht  selbst  Haud  an  die  Verhaßte  zu  legen  und  dadurch 
Zeus'  Zorn  zu  erregen,  die  Jägerin  Artemis  auf  die  Spur  der  Bärin 
bringt:  eine  neue,  feinerdachte  Motivierung  der  alten  Sagenform,  daß 
Artemis  die  Kallisto  getötet  habe.  Es  ergibt  sich  dann  ein  Spiel  und 
Gegenspiel  von  Zeus  und  Hera,  Zug  um  Zug:  i.  Zeus'  Untreue.  2.  Ent- 
deckuug  durch  Hera.  3.  Verwandlung  der  Kallisto  durch  Zeus.  4.  Tö- 
tung durch  Hera- Artemis.  5.  Verstirnung  durch  Zeus.  Daran  würde 
sich  6.  der  nur  bei  Ovid  erscheinende,  aber  gewiß  hellenistische  Zug 
aufs  beste  anschließen,  die  letzte  Rache  der  Hera  an  der  Verstirnten. 
(Das  Gestirn  des  Arktophylax  scheidet  hier  ganz  aus:  Arkas  wird  auf 
Zeus'  Geheiß  aus  dem  Leib  der  getöteten  Mutter  gerettet  und  der 
Mala  in  Pflege  gegeben.)  Mir  scheint  die  'kallimacheische'  Fassung 
eine  offenkundige  Verschlechterung  der  so  rekonstruierten;  ob  diese 
dem  Kallimachoä  zuzutrauen  ist,  lasse  ich  dahingestellt. 


io8  Richard  Heinze:  [71,7 

0.  [ob.  S.  58*]  56).  So  ist  denn  die  tiberleitung  zwar  nicht 
ganz  einwandfrei  gelungen,  aber  doch  verständlich.*)  —  Ob 
Ovid  diese  Kombination  der  beiden  Bestrafungen  (und  die 
Form  der  ersten)  selbst  erfunden  hat,  läßt  sich  natürlich 
nicht  mit  absoluter  Sicherheit  entscheiden;  aber  ich  halte 
es  (mit  EiiWALD  Komm.^  S.  96)  für  sehr  wahrscheinlich: 
solche  Bereicherung  durch  Verbindung  mehrerer  Versionen 
der  Sagen  ist,  wie  wir  bei  Gelegenheit  der  Fasten  gesehen 
haben,  für  Ovids  Mythopoiie  charakteristisch.  —  Die  Juno- 
szenen eigneten  sich  vortrefflich  für  die  epische  Darstellung: 
die  Gewaltsamkeit  der  von  Eifersucht  und  Haß  erfüllten  Göttin; 
ihr  Bittgang  zu  den  nichtolympischen  Gottheiten^);  ihre  große 
indignatio  512 — 526  (mit  deutlicher  Reminiszenz  516  an  die 
indignatio  Virgils  Aen.  I  48)  —  das  alles  sind  echt  epische 
Motive.  In  den  Fasten  ist  die  Rolle  der  Juno,  wenn  auch 
sachlich  gleichen  Inhalts,  so  doch  in  der  Darstellung  stark 
komprimiert  (auf  nur  drei  Distichen  im  ganzen). 

2.  Eine  zweite  wichtige  Neuerung  Ovids  —  das  kommt 
in  den  bisherigen  Erörterungen  gar  nicht  zur  Geltung  —  ist 
die  Szene  der  Begegnung  zwischen  Mutter  und  Sohn  und  da- 
mit die  Motivierung  des  Katasterismus.  Das  Gestirn  des 
Arktophylax  ist  natürlich  einst,  wie  sein  Name  besagt,  der 
Bärin  Wächter    gewesen,    wenn    das    auch  in  den  übel  zuge- 


i)  Mißverstanden  z.  ß.  von  Wicheks  a.  a.  0.  (ob.  S.  36  ^  54ff-,  der 
daraus  auf  die  Priorität  der  Fastenerzählun^  schließt,  wo  jede  Moti- 
vierung für  den  Aufschub  der  Rache  fehlt.  Auch  der  Anstoß,  den 
WicHEES  an  T.  454  nimmt,  wo  die  Entdeckung  in  den  neunten  Monat 
der  Schwangerschaft  gesetzt  wird,  ist  unberechtigt:  das  entspricht  ja 
genau  dem  initoxov  ijSr]  ovaav  des  Eratosthenes.  Die  Geburt  erfolgt 
natürlich  im  zehnten  Monat  (VIII  500.  IX  286.  X  296.  479.  fast.  II 
175  u.  0.). 

2)  Ich  glaube  nicht,  daß,  wie  Wichers  S.  59  meint,  erst  Ovid 
diese  Schlußaktion  von  Artemis  auf  Hera  übertragen  habe.  Der  Arte- 
mis fehlt  die  Beziehung  zu  dem  greisen  Paar  der  Meerestiefe  (das  Hera 
auch  D.  S  200  besucht),  und  die  unersättliche  Rachsucht  ist  gewiß  ein 
für  die  beleidigte  Ehefrau,  nicht  für  die  enttäuschte  Freundin  erfun- 
dener Zug. 


71,7]  OVIDS    ELEGISCHE    ErzÄHLUNG.  I  OQ 

richteten  eratosthenischen  Katasterismen,  die  wir  besitzen, 
nicht  klar  ausgedrückt  wird  (p.  52  ff.  Rob.).  Als  solcher 
läuft  er  der  Bärin  (die  er  nicht  als  seine  Mutter  kennt)  un- 
bedacht in  das  Heiligtum  des  Zeus  Lykaios  nach,  das  ein 
ccßarov  ist,  und  da  nun  beide  wegen  Übertretung  des  heiligen 
Gebotes  von  den  Arkadern  getötet  werden  sollen,  rettet  sie 
2eus  durch  Yerstirnung.  ^)  Die  Situation,  in  der  Ovid  die 
Verstirnung  erfolgen  läßt,  paßt  zum  Namen  Arktophylax  gar 
nicht:  darum  traue  ich  keinem  hellenistischen  Dichter  die 
Erfindung  zu.  Aber  mit  ihrem  gesteigerten  Pathos  und  der 
raffiniert  erdachten  Seelenqual  —  die  Mutter  muß  fürchten, 
vom  eigenen  Sohn  getötet  zu  werden,  den  sie  erkannte,  dem 
sie  sich  aber  nicht  zu  erkennen  geben  kann  —  liegt  sie  ganz 
auf  der  Bahn  ovidischen  Dichtens. 

3.  Endlich  ein  drittes,  sachlich  weniger  wichtiges,  aber 
doch  für  Ovid  charakteristisches.  Die  Eratosthenesepitome 
(Hesiod)  und  die  Aratscholien  erzählen  einfach,  Artemis  habe 
die  Schwangerschaft  entdeckt,  als  sie  die  Kallisto  einmal 
Xovo^Bvriv  gesehen  habe;  die  lateinischen  Berichte  erweitern 
das  zu  lavacro  partum  accelerans  (Germanicusschol.)  oder  prope 
diem  partus  in  flumine  corpus  exercitatione  fessmn  cum  recrearet 
(Hygin):  d.  h.  sie  verstehen,  gewiß  ganz  richtig,  daß  die  Ba- 
dende von  Diana  überrascht  worden  sei.  In  der  'kaUimache- 
ischen'  Version  findet  die  Entdeckung  nicht  statt.  Nur  Ovid 
erzählt  von  dem  Bad  der  Diana  und  ihrer  Schar  und  von 
der  erzwungenen  Entkleidung   der  Kallisto.      Seine   sinnliche 


i)  Die  Geschichte  ist  vielfach  (so  von  Feanz  und  Pressler)  miß- 
verstanden worden;  von  einer  feindlichen  Absicht  des  Arkas  ist  hier 
gax  nicht  die  Rede.  In  diese  Fassung  haben  dann  lateinische  Mytho- 
graphen  (p.  76 ff.  Rob.)  die  ovidische  Fassung  interpoliert:  Arkas  trifft 
auf  der  Jagd  in  den  Bergen  die  Bärin  und  verfolgt  sie  in  den  heiligen 
Bezirk:  also  Verdoppelung  der  Todesgefahr  für  die  Bärin  und  Verzicht 
auf  einen  Sinn  des  Namens  Arktophylax.  Der  Erfinder  der  eratosthe- 
nischen Version  (gewiß  nicht  Eratosthenes  selbst)  hat  vermutlich  der 
Bärin  (die  auch  hier  ihr  menschliches  Bewußtsein  behielt,  ayvorlaaaav 
rov  vönov)  die  Absicht  zugeschrieben,  den  Zeus  in  seinem  Heiligtum 
um  Erlösung  zu  bitten. 


iio  Richard  Hkinze:  |7',7 

Phantasie  freut  sich  an  dem  Bilde;  aber,  was  ihm  docli  noch 
mehr  bedeutet,  er  ji;ewinnt  so  eine  Gelefrenheit,  die  seelische 
Verfassung  der  Kallisto  zu  Bebildern  {eruhuit  .  .  moras  quaerif-, 
dubitanti  vestis  adcmpia  est  .  .  attonitae  manihusque  utrrum  cc- 
hirc  volenti).  Aus  dem  gleichen  Grunde  hat  er,  gewiß  ans 
eigner  Erfindung,  die  Geschichte  um  die  (für  die  Handlung 
ganz  folgenlose)  Szene  des  ersten  Wiedersehens  mit  Diana 
nach  Juppiters  t'berfall  (441 — 452)  bereichert. 

Und  dies  ist  nun  überhaupt  das  Wichtigste,  wichtiger 
als  alle  sachlichen  Neuerungen:  ganz  anders,  als  wir  es  z.  B, 
für  die  oben  rekonstruierte  hellenistische  Erzählung  voraus- 
setzen müssen,  ist  bei  Ovid  Kallistos  seelisches  Erleben  und 
Erleiden  in  den  Mittelpunkt  gerückt:  man  überblicke  nur 
daraufhin  die  Erzählung  von  neuem,  und  man  wird  staunen 
über  die  Fülle  von  wechselnden  psychischen  Zuständen  und 
Vorgängen,  die  uns  der  Dichter  malt. 

m  (zu  S.  60). 

Die  Monologe  der  Metamorphosen. 

Die  Monologe  der  Metamorphosen  sondern  sich  deutlich 
in  mehrere  Gruppen: 

1.  Monologe  der  Entrüstung  und  Drohung:  Juno  (vor 
der  Rache  an  Semele)  III  262—272;  (vor  der  Rache  an  Ino) 
IV  422 — 431;  Boreas  (vor  der  Entführung  der  Orithyia)  VI 
687 — 701;  kürzere  Drohreden:  Juno  (an  Echo)  III  366  ff.; 
Minerva  (vor  der  Bestrafung  der  Arachne)  VI  2  ff.;  Diana 
(gegen  Oineus)  VIII  279ff.;  Canens  (gegen  Picus)  XI  355 — 357; 
auch  Junos  Drohrede  an  Kallisto  II  471 — 475  ist  wohl  al» 
affektischer  Monolog,  nicht  als  wirkliche  Anrede  zu  fassen. 
—  Das  Vorbild  dieser  Monologe  sind  die  großen  indignationes 
der  Juno  bei  Virgil  (Aen.  I  37 ff.;  VII  293ff.),  die  ihrerseits 
an  Poseidons  Monologe  bei  Homer  (s.  Virg.  Ep.  Techn.^  428) 
anknüpfen. 

2.  Die  ultima  verha  vor  dem  Tod,  insbesondere  vor  dem 
Selbstmord,    der    monologisch    motiviert    wird:    Pyramus  IV 


71,7]  OviDS   ELEGISCHE   EuZÄHLUNG.  III 

io8 — 115-,  Thisbe  IV  148 — 171 ;  Alcyone  XI  684 — 707  (zu- 
näclist  Antwort  auf  Fragen  der  Amme,  dann  ganz  als  affek- 
tiscber  Monolog  an  den  toten  Gatten  gerichtet,  auslaufend  in 
den  Entschluß  zu  sterben:  der  freilich  noch  nicht  sogleich 
ausgeführt  wird);  Aias  XIII  387 — 390;  Iphis  XIV  718 — 732. 
—  Hier  standen  Ovid  mannigfache  Vorgänger  zu  Gebote:  das 
Drama  (besonders  Aias'  letzte  Worte  bei  Sophokles),  helleni- 
stische Dichter  (den  Abschiedsworten  des  Iphis  steht  Theokrit 
XXIII  sehr  nahe),  Virgils  Didomonologe.  Es  ist  anzunehmen, 
daß  in  den  hellenistischen  Erzählungen,  die  im  Selbstmorde 
unglücklich  Liebender  gipfelten,  diese  ultima  verha  selten  ge- 
fehlt haben. 

3.  Die  Totenklage:  ApoUo  über  Hyacinthus  XI  778 — 782 
(auslaufend  in  den  Entschluß  der  posthumen  Ehrung);  Venus 
über  Adonis  X  724 — 731  (die  Metamorphose  vorbereitend); 
Hecuba  über  Polyxena  XIII  494 — 532  (der  Schluß  führt  die 
Erzählung,  die  sonst  der  Dichter  selbst  hätte  geben  müssen, 
frostig  genug  in  Hecubas  Worten  weiter);  Aesacus  über  He- 
speria  XI  778—782  (endet  mit  dem  Entschluß  zum  Selbst- 
mord). —  Auch  dies  seit  langem  feststehende  Form-(Virg.  ep. 
T.^  430);  Ovid  hat  aber  die  rein  lyrische  Monodie  dem  Epos 
nicht  angemessen  gefunden,  sondern  die  Klage  stets,  indem 
er  sie  in  einen  Entschluß  münden  ließ,  zum  Teil  der  Hand- 
lung erhoben. 

4.  Eigenartiger  und  von  Ovid  offenbar  mit  besonderer 
Vorliebe  und  Aufgebot  aller  seiner  Kunst  behandelt  ist  eine 
Gruppe  von  großen  Monologen,  die  den  Widerstreit  zweier 
Mächte  in  der  Seele  des  Redenden  schildern.  Bei  aller  Ähn- 
lichkeit im  wesentlichen  sind  die  Unterschiede  in  Anlagre 
und  Durchführung  so  groß,  daß  sich  Einzelbetrachtung  lohnt. 

Medea  (VII  11 — 71)  wird  sich  ihrer  Liebe  zu  lason  be- 
wußt, indem  sie  ihr  Unvermögen  feststellt,  dem  Geheiß  des 
Vaters  zu  folgen  (11 — 21).  Und  nun  stellt  sie  sich,  indem 
sie  Einwendungen  der  eigenen  ratio  widerlegt,  in  vier  Ab- 
schnitten das  Kommende  in  zeitlicher  Folge  vor  Augen:  die 
Gefahr    des  lason,    in  der    ihm    nicht    beizustehen    grausam 


112  RiCHAKi)  IIkinzk:  [7if7 

wäre  (21 — 38)0;  das  Verhalten  lasons  nach  der  Kettung: 
er  wird  sie  nicht  im  Stich  hisssen  (39 — 50);  das  Verhissen 
der  Heimat  und  der  Ihren:  sie  wird  Besseres  dafür  eintau- 
schen (51 — 61);  die  Gefahren  der  Fahrt:  vereint  mit  dem  Ge- 
liebten wird  es  ihr  eine  Lust  sein,  sie  zu  bestehen  (62 — 68). 
Unerwarteterweise  trägt  in  einem  kurzen  Schhißstück  (69—71) 
doch  für  diesmal  noch  die  Pflicht  den  Sieg  über  die  Liebe 
davon-),  damit  der  Dichter  im  folgenden  den  sieghaften  Ein- 
druck des  Wiedersehens  mit  lason  schildern  und  so  einen 
letzten  dramatischen  Umschwung  einführen  kann.  —  Es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  Ovid  die  Medea  des  Apollonios  vor  Augen 
hatte,  als  er  seinen  Monolog  dichtete;  der  große  Abstand  ist 
nicht  minder  klar.  Apollonios'  Heldin  ist  das  keusche,  zag- 
hafte Mädchen,  in  dem  das  Gefühl  jungfräulicher  Scham  und 


i)  Das  Motiv  kehrt  wieder  im  Monolog  der  Atalante  vor  dem 
Wettlauf  mit  Hippomenes  (X  611  —  635),  in  dem  Ovid  versucht  hat, 
anders  als  im  Medeamonolog,  die  ihrer  selbst  noch  nicht  bewußte  Liebe 
{ignorans  amat  et  non  sensit  amorem)  im  Kampf  zu  zeigen  gegen  den 
Vorsatz,  unvermählt  zu  bleiben  (der  hier  durch  ein  unheilkündendes 
Orakel,  nicht  durch  freien  Entschluß  des  Mädchens  motiviert 
ist).  Auch  dort  stehen  der  Schönheit,  von  der  Atalanta  nicht  be- 
rührt zu  sein  sich  einredet,  aetas  et  genus  et  virtns  (615 — 617)  ge- 
genüber; freilich  kommt  die  Liebe  des  Hippomenes  (618.  627)  hinzu. 
Es  ist  nicht  ganz  klar,  ob  und  wie  in  der  hesiodischen  Version  der 
Sage,  der  Ovid  im  übrigen  folgt  (Robert,  Herrn.  22  [1887]  448),  die 
Liebe  der  Atalanta  (die  Ovid  jedenfalls  nicht  selbst  erfunden  hat, 
Theokr.  HI  40)  mit  dem  Motiv  der  ihren  Lauf  hemmenden  Äpfel  der 
Aphrodite  verbunden  war;  bei  Ovid  ist  in  der  Erzählung  vom  Wettlauf 
der  Liebe  nicht  mehr  gedacht,  obwohl  der  Wunsch  utinam  velocioi' 
esses  (629)  ihre  Mitwirkung  vorzubereiten  scheint.  Aber  Ovid  hat  wohl 
gemeint,  durch  die  Schlußworte  des  Monologs  (quodsi  felicior  essem 
nee  mihi  coniugium  fata  importuna  negarent)  den  Entschluß  der  Ata- 
lanta, fest  zu  bleiben,  genügend  ausgedrückt  zu  haben.  Dann  ist  frei- 
lich das  Liebesmotiv  sachlich  überflüssig  und  von  Ovid  wohl  nur,  um 
den  Monolog  resp.  die  psychologische  Verwicklung  anbringen  zu  können, 
aus  anderer  Quelle  in  die  hesiodische  Version  eingeführt. 

2)  coniugiumne  putas  speciosaque  nomina  culpae  inponis  Medea 
tuae?  nach  Virgils  Dido  IV  172  coniugium  vocat,  hoc  praetexit  nomine 
culpam. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  113 

Sittsanikeit  mit  der  Liebe  kämpft;    noch   in  der  entscheiden- 
den Zusammenkunft  mit  lason  denkt  sie  nicht  daran,  ihm  als 
Gattin  zu  folgen-,  daß  er  sie  nicht  undankbar  in  der  Heimat 
vergessen  möge,  ist  alles,  was  sie  wünscht.    In  Ovids  Medea 
kämpfen   nicht   zwei  Gefühle  miteinander,   sondern  ratio  und 
furor  (v.  10},   mens  und  cmj>w7o   (19),   und   die  Folgen  ihres 
Entschlusses,  die  Flucht,  die  Ehe,  die  Vorzüge  des  zivilisierten 
Griechenlands  vor  ihrer  barbarischen  Heimat  stehen  ihr  klar 
vor  Augen,  ehe  noch  lason  Gelegenheit  gehabt  hat,  ihr  auch 
nur  von  der  Möglichkeit  zu  sprechen,  daß  sie  ihm  folge.    So 
handelt  sie  nicht  in  dumpfem  Drange,    sondern    mit   klarem 
Bewußtsein  des  Ziels  und  der  Wege,  die  zu  ihm  führen;  der 
Monolog  drückt  das  aufs  durchsichtigste  aus.    Man  mag  diese 
Intellektualisierung    seelischen    Erlebens    als   'rhetorisch'  be- 
zeichnen;   aber  man  sollte  nicht  meinen,    die   unleugbar  vor- 
handene Verwandtschaft  der  ovidischen  Poesie    mit  der  zeit- 
genössischen Rhetorik,  eine  Erscheinung,  deren  Wurzeln  tief 
in  der  Lebensauffassung  der  ovidischen  Generation  liegen,  be- 
quem auf  ein  paar  Schulregeln  und  deklamatorische  Rezepte 
zurückführen    zu    können.     Medeas    Monolog    ist  weder  eine 
suasoria  —  bei  welcher   der  Redner  doch   vor  allem  genau 
wissen  muß,  was  er  will  —  noch  gar  eine  thesis  —  welcher 
allgemeingültige  Satz  würde  denn  hier  erwiesen?  — ,  und  für 
das  Verständnis  des  Stückes  ist  gar  nichts  gewonnen,  wenn 
man  an  seine  Einzelteile   die  Etiketten   der  rshxä  xsqiäkccia 
heftet.^)     Aber  sehen  wir  erst  weiter,   um    uns   die  Mannig- 
faltigkeit der  gleichartigen  Stücke  zu  vergegenwärtigen. 

i)  Als  hiesig  hat  den  Monolog  der  Medea  wie  die  anderen  im 
folgenden  behandelten  zu  analysieren  versucht  Brück,  de  Ovidio  scho- 
lasticarum  declamationum  imitatore  (Diss.  Gießen  1909)  19  ff-:  ein  Ver- 
such, der  recht  geeignet  ist,  die  Unfruchtbarkeit  solcher  äußerlicher 
Betrachtungsweise  zu  illustrieren.  Wenn  sich  Medea  einzureden  sucht, 
auch  ohne  zu  lieben  müsse  sie  den  unschuldigen,  den  schönen,  adligen, 
tapferen  Jüngling  retten,  um  nicht  grausam  zu  sein,  so  heißt  das  eine 
Xvais  Karu  t6  dixcciov,  wenn  sie  sich  die  Gefahren  der  Fahrt  vorhält, 
80  ist  das  eine  &vri&£eig  i%  xov  xaXsnov  usf.:  soll  man  denn  wirk- 
lich glauben,  Ovid  sei  von  diesen  Kscpälaia  ausgegangen,  die  so  wenig 

Phil.-hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  7  8 


114  KiCHAUij  HciN/ac:  [71, 7 

Der  Monolog  der  Scylla  (VIII  44 — 80)  soll  zeigen,  wie 
das  verliebte  Mädchen  zu  dem  gnuisigeu  Entschlüsse  gelangt, 
ihrer  Liebe  das  Haupt  des  Vaters  /ura  Opfer  zu  bringen. 
Hier  steht  nicht  von  vornherein  das  Ziel  fest,  und  es  handelt 
sich  nicht  darum,  die  Leidenschaft  gegen  die  Einwürfe  der 
Vernunft  oder  des  Pflichtgefühls  zu  verteidigen.  Scylla  heftet 
den  Blick  auf  das  schimmernde  Kriegszelt  des  Minos:  sie 
denkt  zunächst  nur  an  den  Krieg,  der  ihr  Schmerz  und 
Freude  zugleich  gebracht  hat:  Schmerz,  da  der  Geliebte  ein 
Feind  ist,  Freude,  da  sie  ihn  kennen  gelernt  hat  (43 — 46). 
Aber  der  Schmerz  hätte  ja  schon  enden  können,  wenn  Minos 
sie  selbst  als  Geisel,  als  Unterpfand  des  Friedens  annähme 
(47.  48;  hier  schwebt  die  Möglichkeit  der  friedlichen  Überein- 
kunft vor;  der  Gedanke  an  das  Verbrechen  liegt  noch  weit 
ab).  Diese  Vorstellung  erweckt  neu  das  sehnsüchtige  Ver- 
langen nach  dem  schönsten  Manne:  daraus  entspringt  .der  zu- 
nächst ganz  phantastische  Wunsch  {prnnis  lapsa  per  auras), 
selbst  die  Verhandlung  mit  dem  Feind  führen  zu  können: 
alles  würde  sie  ihm  zugestehn  —  nur  nicht  den  Verrat  der 
Vaterstadt  (48 — 56).^)  Kaum  ist  der  Gedanke,  daß  Minos 
diese  fordern  könnte,  in  ihr  aufgetaucht,  da  muß  sie  ihm 
nachhängen  und  sucht  sich  einzureden,  daß  das  vielleicht  so- 
gar ein  Glück  für  die  Vaterstadt  wäre:  unterliegen  muß  diese 
doch  schließlich  —  warum  soll  dann  nicht  Minos  ihrer  Liebe, 
statt  seinen  Waffen  den  Erfolg  verdanken?  Unwillkürlich 
schiebt  sich  wieder  der  Geliebte  in  den  Vordergrund  der  Er- 
wägung: ihm  würde  dann  nicht  länger  Gefahr  drohen.  Das 
gibt  den  Ausschlag:  der  Verrat  ist  beschlossene  Sache  (57 — 68). 


zur  Ausführung  stimmen?  Und  wenn  das  sclilechterdings  nicht  anzu- 
nehmen ist,  was  soll  dann  die  Etikettierung?  Die  wirklich  von  Ovid 
gegebene  Ordnung  der  Gedanken,  wie  ich  sie  oben  kurz  angedeutet 
habe,  wird  bei  solcher  'Analyse'  natürlich  nicht  bemerkt. 

i)  In  den  Versen  44 — 54  sollen  wir  nach  Brück  21  ein  prooemi- 
um  a%  iy^a^iLov  erkennen  (Theon  prog.  p.  121,  2);  das  ist  ebenso  schief 
wie  die  Inhaltsangabe  des  ganzen  Monologs  deliberat  illa,  an  patrem 
prodat  Minoique  adsit  stumpf. 


71,  7j  Ovros  ELEGISCHE  ErzÄhlung.  115 

Aber  seine  Ausfülarung?  jetzt  erst  denkt  sie  an  den  Vater: 
er  allein  steht  im  Wege;  der  frevelhafte  Wunsch  di  facerent 
sine  pafre  forem  drängt  sich  auf  die  Lippen.  Vom  Wunsch 
zum  Entschluß,  ihn  selbst  zu  erfüllen,  ist  nur  ein  Schritt  (die 
pietas  kommt  gar  nicht  zu  Worte):  sie  redet  sich  ein,  daß  es 
ignavia  sei,  die  Erfüllung  von  den  Göttern  zu  erwarten,  for- 
titudOf  der  Liebe  Hemmnis  zu  beseitigen,  und  wie  leicht  ist 
ihr  das  gemacht:  sie  braucht  ja  nur  die  Locke  des  Vaters  zu 
rauben:  dann  hat  sie  das  höchste  Lebensglück  in  der  Hand 
(69 — 80).  Torbild'  Ovids,  sagt  man,  sei  der  Monolog  der 
Tarpeia  bei  Properz  IV  4:  von  den  regellos  flutenden  Träu- 
mereien der  Tarpeia,  die  schon  von  vornherein  den  Verrat 
der  Scylla  und  der  Ariadne  ganz  begreiflich  findet  und  am 
Schluß  ihres  Monologs  nicht  weiter  ist  als  am  Anfang,  unter- 
scheidet sich  die  zielbewußt  foi-tschreitende  Gedankenfolge 
Ovids  so  stark,  wie  das  in  der  Behandlung  zweier  nahe  ver- 
wandter Vorwürfe  überhaupt  möglich  ist.  Tarpeias  Monolog 
gibt  ein  lyrisches  Bild  der  fessellosen  Leidenschaft,  Scyllas 
Monolog  führt  die  Genesis  eines  Entschlusses  vor,  ist  also 
ein  Stück  Handlung,  fortschreitender  epischer  Erzählung  in 
Monologform.  Daß  Scylla  sich  über  den  Verrat  der  Vater- 
stadt mit  einem  billigen  Sophisma  weghilft,  vor  dem  Ver- 
brechen gegen  den  Vater  gar  nicht  zurückschaudert,  ist  von 
Ovid  wohl  erwogen:  ganz  anders  als  die  Scylla  der  Ciris,  die 
nach  langem  Ringen  der  von  göttlichem  Zorn  über  sie  ver- 
hängten Leidenschaft  erliegt,  ist  seine  Scylla  wirklich,  wie 
der  iustissimus  Minos  sie  nennt,  eine  infamia  saecli  (97).^) 

i)  Dem  entspricht  ganz  die  weitere  Erzählung.  Statt  der  rühren- 
den Klagen  und  Bitten  der  von  Minos  ans  Schiff  gebundenen  Scylla 
der  Ciris  hat  Ovid  108 — 142  den  Zornausbruch  vor  der  Abfahrt  des 
Minos,  consumptis  precibus  violentam  transit  in  iram  (nicht  Monolog, 
sondern  an  Minos  gerichtet),  in  dem  sie  sich  selbst  des  scelus  schuldig 
bekennt  und  nur  nicht  begreift,  daß  Minos,  der  durch  ihr  Verbrechen 
gesiegt  hat,  sich  nicht  dankbar  zeigt:  sie  sieht  darin  nur  seine  feritas. 
Sie  wird  auch  nicht,  wie  in  der  sonstigen  Überlieferung  durchweg 
(außer  bei  Hygin  fab.  198,  bei  dem  mir  aber  trotz  Knaack  Rh.  M.  57 
[1902],  220  Entlehnung  aus  Ovid  wahrscheinlich  ist),    von   Minos    ans 

8* 


ii6  Richard  Heinze  [7»i7 

Der  Monoloj;  der  Byblis  (IX  474 — 516)  zeigt,   wie  die 
Liebende  zu  dem  imerbörten  Entschlüsse  gelaugt,  sich  selbst 
dem    Bruder    als    Geliebte    anzutragen.     Hier  handelt  es  sich 
nicht,    wie    bei    Medea,    um    einen    Kampf   der    Leidenschaft 
gegen  die  Vernunft,  nicht  wie  bei  Scylla  um  das  allmähliche 
Wachsen    eines   verbrecherischen    Planes,    den    die    Sophistik 
der  Liebe  beschönigt;  Byblis  verhehlt  sich  noch  bis  vor  dem 
Entschluß  nicht,  daß  es  Sünde  ist,  was  sie  begehrt:  aber  sie 
kann    dem    sündigen    Begehren    nicht    widerstehen,    das    sich 
ihrer   Phantasie   bemächtigt  hatte,    noch  ehe    sie    sich   selbst 
ihre  Liebe   mit   klarem   Bewußtsein   eingestehen    wollte.     Sie 
freut  sich  des  Traums,  der  ihr  die  Vereinigung  mit  dem  Bruder 
vorspiegelt,    während    sie    noch   den   Gedanken    an  wirkliche 
Vereinigung  weit  von  sich  weist;  aber  die  Vergegenwärtigung 
der  erträumten  Lust   treibt   sie   doch   schon   weiter,    zu    dem 
Wunsche,  daß  sie  dem  Caunus  nicht  verwandt  wäre,  um  seine 
Gattin  werden  zu  können:  damit  ist  die  bis  dahin  geleugnete 
Liebe,  wenn  auch  noch  nicht  ausdrücklich,  zugegeben;    aber 
noch  steht  die  Unmöglichkeit  der  Erfüllung  fest  (492—494). 
Wieder    kehrt    sie    zu    ihrem    Traum    zurück,    in    ähnlichen 
Worten  wie  zu  Beginn   des  Monologs,    aber    doch   spielt  sie 
schon  mit  der  Möglichkeit,  daß  das  Gesicht  Wahrheit  werden 
könnte  {an  habent  et  somnia  pondus)  —  um  das  dann  gleich 
selbst  entsetzt  abzulehnen:    di  melius!   und   auch  den  an  die 
Nennung  der  Götter  angeknüpften  Einfall,    daß    Geschwister- 
ehen ja  im  Olymp  bestehen,  verwirft  sie  sofort,  um  sich  in 
dem  Entschluß   zu  festigen,   die  verbotene  Liebe  —  hier  ist 
der  ardor  endlich  offen  eingestanden  —  aus  dem  Herzen   zu 
reißen;  wo  nicht,  so  betet  sie  um  den  Tod:  der  Bruder  wird 
dann  die  auf  dem  torus  Ausgestreckte  küssen:  man  sieht,  wie 
die    verliebte    Phantasie    selbst    den  Todesgedanken   in  ihren 
Bann  schlägt.     Und  jetzt   denkt   sie^  zum  ersten  Male  daran, 

Schiff  gebunden  —  das  könnte  Mitleid  erwecken  — ,  sondern  springt 
dem  fahrenden  Schiffe  nach  ins  Meer,  erreicht  es  faciente  cupidhie 
vires  und  haeret  comes  invidiosa  carinae:  das  ist,  meine  ich,  Erfindung 
Ovids,  in  der  er  seiner  Auffassung  der  Scylla  treu  bleibt. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  117 

wie  denn  der  Bruder  ihre  Wünsche  ansehen  würde ^):  gewiß 
als  Verbrechen!  Freilich  die  Aoliden  dachten  nicht  so  —  sie 
erschrickt  vor  sich  selbst,  daß  ihr  dies  Beispiel  sogleich  zu 
Gebote  steht,  und  weist  zum  letzten  Male  die  ohscenas  flammas 
von  sich.  Aber  schon  hat  sich  die  Phantasie  des  Gedankens 
an  den  Entschluß  des  Bruders  bemächtigt  und  wendet  ihn 
nach  der  anderen  Seite:  ja  wenn  er  und  ich  die  Rollen  ge- 
tauscht hätten,  er  um  mich  würbe  —  dann,  das  gesteht  sie 
sich,  könnte  sie  vielleicht  erliegen;  und  kaum  ist  dieser  starke 
Schritt  vorwärts  getan,  reißt  es  sie  weiter:  das  ipsa  petam 
tritt  ihr  vor  die  Seele,  sie  malt  sich  die  Begegnung  mit  dem 
Bruder  aus,  weiß,  daß  die  Liebe  alle  Scham  überwältigen 
wird:  und  nun  dünkt  es  sie  ein  leichtes,  wenigstens  im  Brief 
ihre  Liebe  zu  gestehen.  —  Wie  hier  der  Traum,  in  dem  die 
Hemmungen  des  wachen  Bewußtseins  wegfallen,  die  geheimen 
Wünsche  zur  Reife  bringt,  wie  dann  die  erwachte  Byblis 
meint,  gefahrlos  mit  der  Traum  er innerung  spielen  zu  dürfen, 
bis  diese  schließlich  volle  Macht  auch  über  ihr  Handeln  ge- 
winnt —  das  ist  mit  einem  erstaunlichen  psychologischen 
Raffinement,  freilich  auch  mit  erstaunlicher  Kühnheit  darge- 
stellt: die  Szene  v.  470  fi^.  ist  wohl  das  Gewagteste,  was 
auf  erotischem  Felde  in  den  Metamorphosen  begegnet.  Der 
Gedanke  an  die  Rhetorenschule  als  die  Mutter  solcher  Leistung 
ist  hier  ganz  unmöglich.  Die  Entwicklung  geht  wieder  ihren 
sicheren  Schritt:  jedes  Glied  der  Kette  fest  mit  dem  vorher- 
gehenden und  dem  folgenden  verbunden.^) 


i)  et  tarnen  arbitrium  quaerit  res  ista  dtiorum:  finge  placere  mihi, 
scelus  esse  videbitur  Uli;  d.  h.  'und  auch  abgesehen  von  dem  zuletzt 
Gesagten  (diese  Bedeutung  von  et  tarnen  'übrigens  auch'  wird  immer 
•wieder  verkannt,  vgl.  V  373.  IX  6oi.  fast.  IIT  79.  IV  699),  d.  h.  von  mei- 
nem Entschluß:  es  haben  hier  ja  zwei  zu  entscheiden;  und  selbst  wenn 
ich  wollte,  der  Bruder  täte  es  gewiß  nicht'. 

2)  Sehr  viel  geringer  in  Erfindung  und  Durchführung  ist  der  einen 
ähnlichen  Vorwurf  (Liebe  der  Tochter  zum  Vater)  behandelnde  Mono- 
log der  Myrrha  X  320 — 355.  Schon  die  Einführung  in  die  Handlung 
ist  nicht  einwandfrei:  die  Situation,  in  die  der  Monolog  gestellt  ist  — 
Entscheidung    unter  den  Freiern,   s.  315.  356  —   berührt  dieser  selbst 


ii8  RiCHAKi)  Hkinze:  l7',7 

Einen  nicht  orotisclion  Seelenkanipf,  den  Koutiikt  zwi- 
schen schwesterlicher  und  nüitterlicher  Liebe,  stellt  der  Mo- 
nolog der  Althuoii  (Vlll  481 — 551)  dar:  Eutschlußmonolog 
in  doppeltem  Sinne,  indem  er  über  den  Tod  des  Meleager 
und  den  Selbstmord  der  Althaea  entscheidet.  Die  duhii  aff'cc- 
tus  sind  schon  vorher  (402 — 477)  ausführlich  geschildert; 
der  Monolog  führt  eigentlich  nur  nochmals  dramatisch  vor 
Augen,  was  vorher  episch  dargestellt  war;  man  sieht,  wie 
Ovid  das  l^roblem  in  jeder  Weise  auszuschöpfen  sich  bemüht. 
Das  eigenartige  des  Falles  ist,  daß  hier  nicht  Affekt  gegen 
Vernunft    oder    Pflichtgefühl    oder    Vorsatz,    sondern    Affekt 


mit  keinem  Wort.  Myrrha  hält  sieb  zunächst  an  die  kynisch-stoischen 
Argumente  für  die  Verwandtenehe  {damiiare  ncgatur  hanc  venerem 
pietas,  also  Berufung  auf  andere),  den  Brauch  der  Tiere  und  die 
v6ni^a  ßccQßuQfKä,  Diogenes  bei  Dio  Chr.  X  p.  305  R.  gegen  Oedipua' 
Beschränktheit:  yJyai'axTet  kccI  ißöcc  (leyccXa,  ort  rcöv  avr&v  narriQ  ^''^^ 
na\  adeXcfbg  xal  T^g  avrf)g  yvvaixbs  &vrjQ  kccI  vlog  (tune  soror  nati  ge- 
netrixque  vocabere  fratris?  348)*  01  dt  aXtKZQvövig  ovx  &yavay.tov6iv  inl 
TovToig  oväh  oi  tivvsg  ovöh  xäv  övwv  ovdilg,  ovSh  ol  üigcaL'  yiuitoi 
doxovöi  räv  xarä  ri}v 'Aaiav  agiaroi  (vgl.  Zenon  beiSext.  Emp.  Pyrrh. 
hyp.  III  246)  Der  zweite  Versuch,  ihr  Recht  auf  die  Liebe  zum  Vater 
zu  erweisen  (337 — 340,  ebenso  wie  der  vorhergehende  und  folgende 
von  Brück,  dem  leider  Ehwald  folgt,  p.  24  besonders  verständnislos  be- 
handelt) —  quin  iam  mens  est,  non  est  meus?  usf.  —  ist  wirklich 
nichts  anderes  als  eine  schlechte  Deklamatorensentenz;  der  Anschluß 
von  V.  341  unklar:  eine  Seltenheit  bei  Ovid.  Dann  345—353  eine  wenig 
überzeugende  Selbstinvektive,  mit  offenkundiger  Anleihe  bei  einer  be- 
rühmten Invektive  Ciceros  {quot  confundas  et  iura  et  nomina,  sentis: 
tune  eris  et  matris  paelex  et  adultera  patris  etc.:  Cic.  pro  Cluent.  199 
atque  etiam  vomina  necessitudinum,  non  soJum  naturae  nomen  et  iura 
mutavit:  uxor  generi,  noverca  filii,  filiae  paelex.  So  auch  Sen.  contr. 
VI  6  generi  adultera,  filiae  paelex)  und  einer  Warnung  vor  der  Strafe 
der  Erinyen,  die,  was  ich  sonst  nicht  kenne,  auch  Gedankensünden 
strafen.  Daß  die  Heiligkeit  des  naturae  foedus  hier  proklamiert  wird, 
überrascht  nach  dem  Satze  (330)  quod  natura  remittit,  invida  iura  ne^ 
gant:  es  ist,  als  wollte  Ovid  zeigen,  wie  sich  solche  Argumente  nach 
beiden  Seiten  wenden  lassen.  Der  Schluß  (354 ff.),  eine  mattere  Wieder- 
holung der  Überlegung  der  Scylla  IX  505  ff.,  bereitet  die  folgende  Szene 
vor:  wir  sollen  wissen,  mit  welchen  Wünschen  im  Herzen  Myrrha  dem 
Vater  gegenübertritt. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  119 

gegen    Affekt    streitet.     Die   bisher    besproclienen    Monologe 
hoben,  vergleichsweise  ruhig,  mit  dem  Dilemma  an;  Althaea 
beginnt,  mit  Anrufung  der  Erinyen,    in  vollster  ira   (474); 
klarer  Entschlossenheit  zum  scelus  und  nefas  des  Opfers,  das 
sie   den   Manen    der   Brüder   darbringen   will.     Aber    wie    sie 
das  accipite  inferias  spricht,  das  Scheit  ins  Feuer  legen  will, 
versagt  die  Hand  den  Dienst:    der  gegenteilige  Affekt  wirkt, 
wider  ihren  Willen.    Sie  bäumt  sich  gegen  ihn  auf,  resuscitat 
iram  durch  die  Vorstellung  der  Folgen,  die  ihre  Schwachheit 
haben  t^ürde,  und  gelangt  von  neuem  zum  pereat  sceleratus: 
aber  indem  sie  in  neuer  Verblendung  über  die  Folgen  dieses 
Untergangs  für  Vater  und  Vaterland  triumphiert  —  spemque 
patris  regnumque  trahat  patriaeque  ruinam  —  empfindet  sie, 
daß  doch  auch  ihre  Hoffnung,  die  sie  einst  zehn  lange  Monate 
getragen,  damit  für  immer  hinsinkt,  und  alle  Freude,  die  ihr 
der  heranwachsende  Sohn  gespendet  hat:   wäre  das  verhäng- 
nisvolle Scheit   doch^leich  nach  der  Geburt  verbrannt:  wie- 
viel leichter  hätte  sie  damals  den  Verlust  getragen!    Aber  ge- 
rade   der  Gedanke,    der  sie   noch  eben  von   der  Tat  zurück- 
hielt, soll  ihr  jetzt  die  Kraft  dazu  verleihen:    hat    sie  ihrem 
Sohn  zweimal  das  Leben  gegeben,    so   mag   er    es    nun   zum 
Lohn  für  seine  Verbrechen  ihr  zurückgeben:    so  scheint    ge- 
rade sie,  als  Mutter,   zur  Tat  berechtigt,  der  Konflikt  damit 
gelöst.    Und  doch  folgt  dem  redde  animam  noch  immer  nicht 
die  Ausführung:  et  cupio  et  nequeo.  So  scheint  ein  toter  Punkt 
erreicht:    sie    wird   sich  —  hier  erst  —  über  das  furchtbare 
Dilemma    völlig  klar.     Da   zeigt    sich   plötzlich  ein  Ausweg. 
Die  Brüder  sollen  ihr  Recht  haben,  aber  sie  selbst  wird  ihr 
Opfer    nicht    überleben:    so  büßt    sie  die   Schuld    gegen   den 
Sohn,    und    beide   affedus,    die   sich  auszuschließen   schienen, 
siegen. 

Die  besprochenen  Monologe  sind  keineswegs  —  das  ist 
wohl  deutlich  geworden  —  nach  eiuer  Schablone  gearbeitet; 
aber  sie  vertreten  doch  alle  einen  und  denselben  Typus  des 
pathetischen  Monologs,  der  eine  zerrissene  Seelenstimmung,  das 
Sichdurchringen  zu  einer   Entscheidung  zwischen  widerstrei- 


120  Richard  HiiiNZE:  [7'i7 

tenden  soclisclien  Mächten  vorführt:  uusniihmslos  sinkt  die 
Wagschale  der  sündigen  oder  frevelnden  Leidenschaft.  Woran 
hat  Ovid  hier  angeknüpft?  Zunächst:  gewiß  nicht  an  rheto- 
rische Übung.  Die  fraglichen  Monologe  haben  mit  den  For- 
men der  Suasoria  und  der  Thesis  nichts  zu  schaffen;  es  ist 
aber  auch  für  ihr  Verständnis  nicht  das  geringste  gewonnen, 
wenn  man  sie  als  TCQOöcoTtojtoiCai  oder  rj&ojtotCaL  bezeichnet. 
Dies  n.Qoyv^vaö^a,  —  von  dem  es  übrigens  sehr  zweifel- 
haft ist,  ob  es  in  der  Khetorenschule  frühaugusteischer  Zeit 
schon  eingeführt  war  —  umfaßt  ja  doch  alle  Reden,  die  nicht 
vom  Redner  in  eigenem  Namen  gesprochen  gedacht  sind» 
sondern  irgendeiner  sei  es  nur  generell  charakterisierten,  sei 
es  individuell  bestimmten  Person  bei  irgendeiner  bestimmten 
Gelegenheit  in  den  Mund  gelegt  werden;  Theon,  unser  älte- 
ster Zeuge,  nennt  (Rh.  Gr.  II  115)  als  Beispiele  'Abschieds- 
worte eines  Abreisenden  an  seine  Frau',  oder  'Worte  des 
Datis  an  den  Großkönig  nach  der  Schlacht  bei  Marathon* 
(an  Monologe  denkt  er  gar  nicht).  Einwirkung  dieser  Übung 
auf  Ovid  könnte  höchstens  darin  gefunden  werden,  daß  dieser 
öfter  als  die  früheren  Epiker  seine  Personen  ihre  Gefühle  in 
längerer  Einzelrede  (nicht  im  Pialog,  sondern  in  Ansprache 
oder  Monolog)  äußern  läßt.  Aber  die  Neigung  hierzu  sehen 
"wir  doch  schon  in  hellenistischer  Poesie  und  dann  in  Rom 
ganz  unabhängig  von  der  Rhetorik  (man  denke  an  Catull 
64)  im  Wachsen  begriffen.  Und  sodann:  jene  Einwirkung 
selbst  zugegeben,  so  bliebe  die  Frage  nach  der  Herkunft  der 
einzelnen  Formen  immer  noch  offen:  sie  wäre  dann  nur  für 
die  rhetorischen,  statt  für  die  poetischen  Trosopopoiien'  zu 
stellen.^)   In  dem  Falle,  der  uns  hier  zunächst  angeht,  können 


i)  Wenigstens  solange  man  es  nicht  für  möglich  hält,  daß  lite- 
rarische Kunstformen  durch  elementare  Anfängerübungen  erzeugt  wer- 
den. Aber  gegen  eine  solche  Annahme  verliere  ich  keine  Worte;  so 
■wenig  -wie  es  mir  einfallen  kann,  gegen  die  kuriose  Annahme  zu 
streiten,  daß  der  griechische  Liebesroman  aus  den  Progymnasmen  her- 
ausgewachsen sei.  In  diesem  Punkte  stimme  ich  ganz  mit  Reitzkn- 
STEiN  Hellenist.  Wundererzählungen    169    überein;    seine  eigenen  Ver- 


71,  7j  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  121 

wir  jedenfalls  von  der  Rhetorik  ganz  absehen:  nicht  die 
leiseste  Spur  führt  darauf,  daß  Ovid  für  seine  pathetischen 
Entscheidungsmonologe  in  der  Rhetorenschule  etwas  anderes 
hätte  lernen  können  als  ganz  allgemein  die  Kunst  der  Rede, 
die  Zuspitzung  des  Gedankens  in  treffsicheren  Worten.^) 

Leo  zieht  eine  Linie  von  den  ovidischen  Monologen  zu  Me- 
nander.  'Die  Monologe  der  liebenden  Frauen  in  Ovids  Metamor- 
phosen stellen  diesen  von  der  Komödie  ausgegangenen,  durch 
die  hellenistische  Poesie  gegangenen  Liebesmonolog  am  reich- 


mutungen  über  den  Einfluß  der  Progymnasmen  auf  die  römische  Elegie 
muß  ich  freilich  auch  ablehnen.  Ein  ngärov  'xptvSos  scheint  mir  dies: 
wenn  Theon  für  ein  paar  Einzelheiten  der  Lehre  von  der  äiijyr]aig  Bei- 
spiele aus  Menander  zitiert,  und  Cicero  als  Beispiele  für  gewisse  Er- 
zählungagattungen  terenzianische  narrationes  anführt  (wie  für  eine  an- 
dere ein  Stück  Eunius),  so  sieht  Reitzenstein  darin  ausgedrückt,  daß 
es  ein  ngayviLvac^un  war,  'eine  jener  kurzen  Komödienerzählungen,  sei 
es  in  Poesie,  sei  es  in  Prosa,  nachzubilden':  wovon  ich  weder  bei 
Theon  noch  bei  Cicero  ein  Wort  gesagt  finde.  Daraus  folgert  Reitzen- 
sTEiN  weiter ,  daß  z.  B.  Ovid  am.  I  8,  die  Rede  der  Kupplerin,  eine 
rhetorische  itQoaa-jionoda  sei,  in  Anlehnung  an  Menander  (Plaut,  most. 
I  3).  Nun  ist  aber  weder  die  nQoaaTtonoda  eine  Erzählung,  noch  sehe 
ich  ein,  warum  wir  des  Umwegs  über  die  Prosa  bedürfen,  um  Ovid 
(oder  seinen  elegischen  Vorgänger)  an  Menander  anzuknüpfen:  zumal 
da  eben  von  jener  angeblichen  Übung  der  Rhetorenschule  nichts  über- 
liefert ist.  Gleich  schwere  Bedenken  habe  ich  gegen  die  bei  Reitzeh- 
9TETN  folgende  Behandlung  tibuUischer  und  properzischer  Gedichte; 
doch  brauche  ich  darauf  hier  nicht  einzugehen. 

i)  Bhück  meint  freilich  (p.  75)  für  Ovids  Lehrmeister  Porcius 
Latro  eine  Neigung  zu  solchen  Schilderungen  bezeugt  zu  finden:  Sen. 
contr.  VII  I,  20  Latro  illum  introduxit  colorem  rectum  in  narratione, 
quo  per  totam  actionem  usus  est:  non  potui  occidere.  et  cum  descrip- 
sisset  ingenti  spiritu  titubantem  et  tnter  cogitationem  fratris  occidendi 
c(mcidentem ,  äixit:  noverca,  aliud  quaere  in  privignum  tuum  crimen; 
hie  parricidium  non  potest  facere.  Man  braucht  nur  zu  lesen,  was  Se- 
neca  aus  dieser  Deklamation  des  Latro  vorher  17  zitiert:  volui  fra- 
trem  occidere,  non  potui.  ohortae  sunt  subito  tenebrae,  diriguit  animus, 
sublapsum  est  intercepto  spiritu  corpus,  non  possum  fratrem  occidere  — 
um  zu  sehen,  daß  hier  einfach  das  Versagen  der  Nerven,  kein  Seelen- 
kampf geschildert  war:  an  einen  Monolog  vollends  ist  gar  nicht  zu 
denken. 


122  KiCHAiiD  Heinze:  [71,7 

liebsten  und  deutlichsten  vor  Augen,  wie  er  einerseits  in  dem 
Streit  von  Vernunft  und  Leidenschaft  sein  altes  dramatisches 
Element  wieder  aufgenommen,  andererseits  gerade  die  Behand- 
lung dieses  pathetischen  Stoffes  durch  die  rhetorische  Technik 
schematisiert,  durch  die  rhetorische  Praxis  gesteigert  und 
amplifiziert  hat'.*)  Ich  glaube,  hier  ist  die  literarhistorische 
Bedeutung  der  Komödienmonologe  überschätzt.  Einerseits 
habe  ich  Bedenken  dagegen,  aus  ihnen  den  Monolog  der  er- 
zählenden Elegie  abzuleiten.  Der  Komödiennxonolog  bewegt 
sich  in  weitaus  der  Mehrzahl  der  Fälle  unterhalb  der  Sphäre 
des  Affekts;  er  vermeidet  diesen  nicht,  aber  er  kennt,  von 
ganz  wenigen  für  sich  stehenden  Fällen  abgesehen,  nicht  das 
liebevolle  Verweilen,  das  Sichvertiefen  in  die  Darstellung  des 
Affekts  um  seiner  selbst  willen.  Der  Komödienmonolog  hat 
aber  andererseits  auch  mit  den  ovidischen  Monologen,  die 
uns  beschäftigen,  keine  andere  Ähnlichkeit,  als  die  vergleichs- 
weis  geringfügige,  rein  technische,  daß  es  sich  in  beiden 
Fällen  um  wirkliche  Selbstgespräche  handelt,  bei  denen  keine 
andere  Person  neben  der  redenden  anwesend  ist.  Im  wesent- 
lichen aber,  nämlich  in  der  seelischen  Haltung  und  dem  po- 
etischen Gehalt,  sind  beide  voneinander  so  verschieden  wie 
möglich:  der  Komiker  sucht,  auch  in  den  seltenen  Fällen, 
wo  er  monologisch  nad^r}  darstellt,  doch  keine  öv^Ticc&eia  zu 
erwecken,  so  wenig  er  selbst  solche  empfindet;  er,  und  folge- 
richtig auch  der  Zuschauer,  sieht  vielmehr  dem  Affektsaus- 
bruch seiner  Personen  mit  einer  gewissen  ironischen  Belusti- 
gung zu,  oder  gar  mit  einer  Art  von  moralischer  Schaden- 
freude, wenn  etwa  der  Schelm  oder  der  Schurke  in  Angst 
und  Zorn  vergeht.  Diese  Haltung  disponiert  gar  nicht  dazu, 
in  die  Geheimnisse  der  psychischen  Entwickelungen  und  der 
Kämpfe  einzudringen,  die  einen  bedeutsamen  Entschluß  her- 
beiführen; nicht  verfolgt  wird  das  Ziel,  die  Notwendigkeit 
eines  solchen  Entschlusses   dem  Hörer    aufzuzwingen,    indem 

i)  Der  Monolog  im  Drama  (Abb.  d.  Gott.  Ges.  d.W.  N.  F.  X,  1908) 
ii7fF.  Zusammenhang  der  ovidischen  Monologe  mit  der  hellenistischen 
Elegie:  ebd.  6. 


7 1,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  123 

ihn  der  Dicbter  in  die  Seele  des  mit  sich  selbst  ringenden 
hineinversetzt,  so  daß  er  vermöge  der  6viindd-Eia  das  be- 
greift, vras  dem  nüchtern  erwägenden  Verstände  unbegreiflich 
wäre.  In  diesem,  dem  wichtigsten  Punkte,  haben  die  ovidi- 
«chen  Monologe  vielmehr  ihr  einziges  Gegenstück  in  der  Tra- 
gödie. Es  verschlägt  gar  nichts,  daß  der  Monolog  im  stren- 
gen technischen  Sinne  der  Tragödie,  die  das  Alleinsein  einer 
Person  fast  nur  vor  der  TiccQodoi  kennt,  so  gut  wie  ganz  versagt 
ist;  die  Surrogate  des  Monologs,  das  affektische  Sprechen 
ohne  Beachtung  der  Anwesenden,  das  pathetische  Gebet,  auch 
-die  Anrede,  bei  der  der  Angeredete  nicht  eigentlich  das  Ziel 
der  Worte  ist  —  all  dies  steht  in  Wahrheit  mit  dem  Mono- 
log poetisch  ganz  auf  einer  Linie.  Eine  Tragödie  vor  allem 
ist,  meine  ich,  für  die  Entwicklung  des  pathetischen  Mono- 
logs von  größter  Bedeutung  geworden:  die  Medea  des  Euri- 
pides.  Ihre  beiden  großen  Q^Geig  v.  364 — 409  und  1019 — 1080 
werden  in  Anwesenheit  des  Chors,  die  zweite  z.  T.  auch  in 
Anwesenheit  der  Kinder  gesprochen;  in  Wahrheit  sind  es 
Entschluß monologe,  von  denen  der  erste  die  Anwendung  des 
Oiftzaubers,  der  zweite  den  Mord  der  Kinder  herbeiführt; 
der  erste,  wenngleich  aus  starkem  Pathos  gesprochen,  doch 
mehr  überlegend,  der  zweite  aber  den  Kampf  der  Rachsucht 
Tind  der  Mutterliebe  unmittelbar  vor  Augen  stellend.  Merk- 
"würdifT  genug,  daß  Euripides  selbst  den  hier  betretenen  Weg 
nicht  entschlossen  weiter  verfolgt  zu  haben  scheint:  in  den 
erhaltenen  Tragödien  findet  sich,  wenn  auch  manches  Ver- 
wandte^), so  doch  nichts  völlig  Gleichartiges.  In  keiner  frei- 
lich wird  auch  ein  Entschluß  gefaßt,  der  dem  Medeas  gleich- 
stände; die  Ermordung  der  eigenen  Kinder  —  Euripides  hat 
empfunden,  daß  ein  so  Furchtbares  der  Mutter  nicht  von  an- 
deren nahegebracht,  daß  sie  sich  nicht  von  anderen  dazu 
überreden  lassen  kann:  auf  solch  widernatürlich  frevelhaftes 
Tun  kann  nur  ein  von  wahnwitziger  Wut  und  Rachsucht  aus 

i)  Z.  B.  die  qfißts  Ions  (369  ff.),  in  der  er  zum  Entschluß  kommt, 
das  Kästchen  zu  öffnen  (1385  xa/roi  xi  rcÜ6%(o\  die  Abkehr  von  einem 
Entschluß  zum  anderen). 


124  RiciiAiiD  Hioinzk:  [71, 7 

der  Bahn  geworfenes  Gemüt  verfallen;  und  die  Ausführung 
eines  solchen  Entschlusses  wäre  trotz  allem,  was  vorgegangen 
ist,  nicht  glaublich,  wenn  uns  nicht  gezeigt  würde,  wie  die 
natürlichste  Empfindung,  die  Mutterliebe,  sich  zwar  dagegen 
aufbäumt,  aber  schließlich  doch  unterliegt.  So  hat  das 
Problem,  ein  einzigartiges  Tun  begreiflich  zu  machen,  zu  der 
uns  vorliegenden  Lösung  geführt.  Die  ovidischen  Fälle  aber 
stehen  dem  der  Modea  nahe,  auch  die  ovidischen  Heldinnen 
ringen  mit  dem  Entschluß  zu  widernatürlichem  Verbrechen: 
Incest  mit  Bruder  oder  Vater,  Verrat  an  Vater  und  Vater- 
stadt, Hinopferung  des  erwachsenen  Sohnes:  das  sind  Taten, 
die  nach  gleichem  Gesetz  vorbereitet  werden  wollen  wie  die 
der  Medea  des  Euripides.  Der  Entschluß  der  ovidischen  Me- 
dea,  dem  Fremden  gegen  den  Vater  zu  helfen  und  mit  ihm 
Vaterhaus  und  Heimat  zu  verlassen,  scheint  nicht  ganz  auf 
gleicher  Linie  zu  stehen:  aber  gerade  hier  hat  Ovid  zweifel- 
los das  euripideische  Vorbild  vor  Augen  gehabt,  ja  seine 
Leser  durch  Übernahme  einer  markanten  euripideischen  Wen- 
dung an  jenes  Vorbild  erinnert.^)  Nun  wissen  wir  ja,  daß 
das  Medeaproblem  vor  anderen  den  Ovid  gereizt  hat;  seine 
Tragödie  wird  es  gewiß  nicht  versäumt  haben,  in  jener  Szene 
vor  dem  letzten  Entschluß  mit  Euripides  zu  wetteifern:  wir 
ahnen  einen  Monolog,  der  der  unmittelbare  Vorgänger  der 
Metamorphosenmonologe  gewesen  sein  kann.^)  Es  ist  sehr 
wohl  denkbar,  daß  die  nacheuripideische  Tragödie  dem  euri- 
pideischen Beispiele  bereits  gefolgt  war  und  Ovid  für  die  eine 
oder  die  andere  seiner  monologisierenden  Heroinen  direkte 
Vorbilder  hatte;  die  Erzählung  hellenistischer  Zeit,  die  ältere 

i)  Am  Schluß  der  einleitenden  Perikope:  aliudque  cupido,  mens 
aliud  suadet:  video  meliora  proboque,  deteriora  sequor^  am  Schluß  der 
euripideischen  pjjöj? :  xal  iiard-ccva  (isv  ola  Sqüv  (i^X7.oa  xaxa,  ^v^iog  dh 
yiQsLeewv  Tcör  ifi&v  ßovXev(idto)v. 

2)  Seneca  hat  sich  dies  Hauptstück  natürlich  nicht  entgehen 
lassen:  Med.  893—977.  —  Verwandten  Inhalts  ist  bei  Ovid  der  nur 
skizzierte,  nicht  vollständig  wiedergegebene  Moöolog  der  Deianeira,  der 
Ovid  auch  den  Gedanken  zur  Ermordung  der  Nebenbuhlerin  zuschreibt 
(IX  143 — 151):  auf  diesem  Höhepunkt  des  Pathos  bricht  der  Monolog  ab. 


71,7]  OviDS    ELEGISCHE   ErzÄHLUNG.  I25 

wie  die  durch  die  Römer  für  uns  repräsentierte  jüngere, 
liefert  uns  nichts  Vergleichbares,  und  so  wenig  das  bei  der 
Dürftigkeit  unseres  Materials  einen  sicheren  Schluß  gestattet: 
sehr  wohl  möglich  ist  es  immerhin,  daß  Ovid  auf  den  Ge- 
danken, tragische  Monologe  in  das  Epos  einzuführen,  aus  eige- 
nem gekommen,  nicht  durch  hellenistische  Epiker  geführt 
worden  ist.  Die  Tragödie  Senecas  zeigt  uns  den  Typus  als 
ganz  feststehend;  wahrscheinlich  ist  auch  hier  nicht  das  Epos 
Ovids,  sondern  die  nacheuripideische  Tragödie  maßgebend  ge- 
wesen. ^) 

5.  Den  zuletzt  besprochenenen  Monologen  nahe  stehen 
zwei  andere,  in  denen  nicht  eigentlich  ein  seelischer  Kampf 
vor  Augen  geführt  wird,  aber  doch  eine  sozusagen  zerrissene 
Seelenstimmung,  nämlich  eine  Liebe,  die  sich  ihres  eigenen 
Widersinns  bewußt  ist;  der  Monolog  der  Iphis,  die  vor  der 
Hochzeit  mit  einem  geliebten  Mädchen  steht  (IX  726 — 763), 
und  des  Narcissus,  der  vor  seinem  Spiegelbilde  zur  Einsicht 
iommt,  daß  er  sich  selbst  liebt  (III  442 — 473).  Das  Thema 
des  Iphismonologs  gibt  Ovid  selbst  an  (724):  Iphis  amat,  qua 
jßosse  frui  desperat,  et  äuget  hoc  ipsuni  flammas.  Die  Verse,  in 
denen  sie  sich  selbst  ermahnt,  von  ihrer  Liebe  zu  lassen 
(745 — 750),  rücken  diesen  Monolog  der  soeben  besprochenen 
Gruppe  nahe;  im  übrigen  deklamiert  Iphis  lediglich  über 
die  Widernatürlichkeit  (726 — 737)  und  Hoffnungslosigkeit 
(737 — 750)  ihrer  Liebe,  und  der  Dichter  hat  wirklich  ver- 
sucht zu  zeigen,  wie  dies  flammas  äuget:    indem   sie   sich  in 


i)  Leo  bezeichnet  S.  90  als  nächstes  Vorbild  für  die  Monologe 
Senecas  Ovids  Metamorphosen;  aber  S.  118  sagt  er  'wie  Ovid  von  Me- 
nander,  so  kommt  in  einer  durch  die  Rhetorik  gebrochenen  Linie 
Seneca  von  Euripides  her';  von  der  Rhetorik  habe  Seneca  'sowohl  die 
Vorliebe  für  monologische  Äußerung  des  Affekts'  (was  ich  für  ganz 
unbeweisbar  halte)  'als  die  Technik  der  Ausführung,  besonders  die  zu- 
gespitzte Argumentation  der  Leidenschaft'  (was  cum  grano  salis  richtig 
Bein  mag,  nur  -wissen  wir  gar  nicht,  wieviel  'Rhetorisches'  schon  die 
lacrimosa  poemata  Pupi  und  andere  hochpathetische  Tragödien  augu- 
steischer Zeit  {an  tragica  desaevit  et  ampullatur  in  arte?  Hör.  epp.  I  3, 
J4)  enthielten,  an  die  Seneca  unmittelbar  angeknüpft  haben  wird). 


126  RiciiAHi)  Hkinzk:  [71.7 

den  Widerspruch  ihres  scheinbaren  Glückes  mit  der  Unmög- 
lichkeit, dies  Glück  zu  genießen,  vertieft  (750 — 763)  und  sich 
ausmalt,  was  ihr  boschieden  wäre,  wenn  sie  das  wäre,  wofür 
sie  sich  ausgibt,  steigt  ihre  Leidenschaft;  in  dem  Schlüsse 
iam  7nea  fid  lanthe  ncc  mihi  contingd  sollen  wir  die  Ver- 
zweiflung hören.  Zu  einem  Entschlüsse  kann  nach  Lage  der 
Dinge  dieser  Monolog  nicht  führen.  —  Der  Monolog  des 
Narcissus  beginnt  ganz  in  der  Weise  der  elegischen  Liebes- 
klage mit  einer  Apostrophe  der  silvae,  die  er  zu  Zeugen  seines 
Leids  anruft;  aber  der  Dichter  verweilt  nicht  lyrisch  auf  der 
Klage,  sondern  führt  im  Monolog  die  Handlung  episch  weiter: 
indem  Narcissus  die  Übereinstimmung  der  Gesten  des  ver- 
meintlichen anderen  mit  seinen  eigenen  im  einzelnen  be- 
merkt, wird  er  sich  der  Identität  inne  (iste  ego  sunt  463)  und 
damit  zugleich  der  Unerfüllbarkeit  seines  Wunsches;  dabei 
fühlt  er,  wie  seine  Kräfte  bereits  von  der  Sehnsucht  verzehrt 
werden,  wie  er  der  Auflösung  nahe  ist:  die  Metamorphose 
bereitet  sich  vor.  —  Li  beiden  Fällen  hat  des  Dichters  Inter- 
esse für  die  psychische  Abnormalität  zum  Monolog  geführt; 
die  Liebe  der  Iphis  und  des  Narcissus  sind  'Fälle',  an  sich 
wohl  vergleichbar  denen  der  Scylla  und  Byblis,  die  gleich- 
falls im  Banne  einer  naturwidrigen  Liebe  stehen:  aber  der 
große  Unterschied  ist  der,  daß  hier  der  Monolog  ein  festes 
Ziel  hat  und  die  Liebe  zur  Tat  treibt,  während  Iphis  und 
Narcissus  in  passiver  Gefühlsäußerung  verharren.  In  diesem 
Punkte  haben  beide  Monologe  unverkennbare  Ähnlichkeit  mit 
dem  elegischen  Monolog,  der  Narcissusmouolog  auch  in  der 
Art  der  Einkleidung.  Man  wird  diesen  geradezu  als  einen 
Versuch  bezeichnen  dürfen,  den  elegischen  Monolog  durch 
Einführung  eines  Fortschritts  der  Handlung  zu  episieren;  beim 
Iphismonolog  ist  selbst  dieser  Versuch  unterlassen. 

6.  Isoliert  steht  der  mit  einer  Anrufung  der  Juno  ein- 
geführte Monolog  des  dem  Tode  verfallenen  Hercules  IX 
176 — 204.  Hier  ist  an  der  Herkunft  kein  Zweifel:  Ovid  hat 
ein  Stück  der  großen  Qf^ßig  des  Herakles  in  den  Trachinie- 
rinnen  (1085 — 11 06)    in    seinen  Stil  übertragen,    im  Anfang 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  127 

das  Stoßgebet  an  Zeus  um  raschen  Tod  durch  die  gleiche 
an  Juno  gerichtete  haßerfüllte  Bitte  ersetzt,  dann  statt  des 
Bophokleischen  Rückblicks  auf  die  a^Aa  eine  sehr  viel  voll- 
ständigere Liste  gegeben  und  mit  der  witzigen  Pointe  ge- 
schlossen, daß  der  Heros,  der  unmittelbar  vor  der  Erhebung 
zum  Gotte  steht,  an  der  Existenz  der  Götter  zweifelt. 


IV  (zu  S.  100). 

Zur  Entwicklung  der  'subjektiven'  Elegie. 

Ich  halte  es  für  wahrscheinlich,  daß  in  derselben  Zeit, 
wo  das  Epyllion  die  beschriebene  Wandlung  erfuhr,  auch 
die  subjektive  Elegie,  an  deren  dauernde  Pflege  bei  den 
Griechen  ich  glaube,  die  Wendung  zum  Übergefühl voUen 
und,  wie  gleichfalls  das  Epyllion,  zur  Verkünstelung  der 
Komposition  und  Überladung  des  Inhalts  genommen  hat,  die 
uns  bei  Catull  (68)  begegnet:  die  Elegie  an  Allius  wird  zu 
einer  frühhellenistischen  in  ähnlichem  Verhältnis  gestanden 
haben  wie  die  Hochzeit  des  Peleus  zu  einem  Epyllion  Theo- 
krits.  Cornelius  Gallus  ist  wahrscheinlich  bereits,  wie  dann 
TibuU  und  Properz,  in  der  Komposition  zur  älteren  Einfach- 
heit zurückgekehrt  (falls  sie  nicht  auch  darin  an  Jüngere 
anknüpfen  konnten;  denn  es  ist  ja  nicht  ausgemacht,  daß  die 
Weise  von  Catull  68  zur  allein  herrschenden  geworden  war), 
während  sie  in  der  pathetisch-sentimentalen  Haltung  modern 
blieben.  Wie  eine  'subjektive'  Elegie  kallimacheischer  Zeit 
ausgesehen  haben  mag?  Etwa  wie  die  'Locke  der  Berenike'. 
Dieses  Gemisch  von  Enkomion,  Klage,  Betrachtung  und  in 
Empfindung  aufgelöster  Erzählung  kann  als  Vorstufe  der 
Alliuselegie  mit  ihrem  noch  bunteren  und  doch  durch  eine 
Stimmung  zusammengehaltenen  Inhalt  gelten;  ich  gestehe, 
daß  mir  z.  B.  die  Verse  43 — 50  mit  ihrer  Verwünschung  der 
Erfinder  des  Stahls  erst  recht  wirkungsvoll  scheinen,  wenn 
ich  mir  vorstelle,  daß  in  ähnlichen  Tönen  'subjektive'  Elegi- 
ker,  nicht  nur  die  Personen  elegischer  Erzählungen,  über  die 
Trennung  vom  Freund  oder  von  der  Geliebten  geklagt  haben. 


128  KicHAui)  IIkinze:  l7',7 

Jacohys   vii'ldiskutierter  Autsatz  'Zur  Entsteliuii»;   der  römi- 
sclien  EU'gie'  (Uh.  M.  60,  1902)  hiit  das  Verdienst,   die  Vor- 
stellun«^  eudjjjüUig  als  unbegründet  erwiesen  zu  haben,  als  sei 
die  römische  Elegie  ein  Abkhitsch    von  entsprechenden    etwa 
des  Kallimachos  und  l'hilitas,    weil    IVoperz    diese   als    seine 
Vorbilder    nennt;    ich    gebe    ihm    auch    darin    recht,    daß    es 
trotz  aller  Mühe  nicht  gelungen  ist,  für  irgendeine  tibullische 
oder  properzische  Elegie  die  Existenz  eines  griechischen  Vor- 
bildes etwa  in  dem  Sinne  nachzuweisen,  wie  ein   archilochi- 
scher  lambus   das  Vorbild   für  Horaz   ep.  10  war.     Aber  die 
These  'die  römische  Elegie  ist  erwachsen  aus  dem  erotischen 
Epigramm'  scheint  mir  wie  Leo^),  Rkitzknstkin,  Poiilenz 
u.  a.  unhaltbar.     So  sicher  die  Römer  epigrammatische  Motive 
in  der  Elegie  übernommen  haben  (woran  auch  Leo  natürlich 
nicht  gezweifelt  hat),  und  so  gern  ich  glaube,  daß  kein  Grieche 
jemals    seine    eigene    unglückliche   Liebe    mit  einem  Nimbus 
umgeben  hat,  wie  die  Römer  es  tun,  so  unabweislich  scheint 
mir   auch    für   hellenistische   Zeit    die  Existenz   einer   ausge- 
prägten  elegischen,    von  der  epigrammatischen  trotz  vorhan- 
dener   Übergangsglieder  wohl  zu  scheidenden  Form,  die  den 
verschiedensten    Gefühlsinhalt,    wenn  auch  vielleicht  mit  Be- 
vorzugung ernster  oder  gar  trauriger  Stimmungen,  aufnehmen 
konnte    (wie  sie   es   bei  den  Römern  auch  tut),    Beileid    und 
Mitfreude,    Totenklage    und    Festesjubel,    Freundschaft    und 
Liebe  —  ja  auch  Haß-,  dies  scheint  sich  freilich  nur,  originell 
wie  immer,  und  zwar  in  einer  Art  von  Opposition  gegen  die 
Liebeselegie,    Kallimachos    im    Ibis    erlaubt    zu    haben.     Die 
Existenz  dieser  Form  gewährleistet  mir,  um  von  anderem  zu 

i)  Leo  hat,  wieseine  Bemerkung  Plaut.  Forsch.*  144,  i  besagt,  an 
seinei  Überzeugung  von  der  Existenz  einer  hellenistischen  erotischen 
Elegie  trotz  des  Widerspruches  von  Wilamowitz  und  Jacoby  festge- 
halten; seinen  Vorsatz,  auf  die  Frage  zurückzukommen,  hat  er  leider 
nicht  mehr  ausführen  können.  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  das, 
was  er  etwa  mündlich  über  seine  Gründe  geäußert  hat,  bekannt  ge- 
geben würde.  Durch  die  neueren  Arbeiten,  die  er  a.  a.  0.  zustimmend 
zitiert,  bekenne  auch  ich  mich  sehr  gefördert,  wenngleich  mir  vieles 
dort  Vorgetragene  nicht  beweiskräftig  erscheint. 


71,7]  OviDS  ELEGISCHE  Erzählung.  i2g 

schweigen,  was  weitläufiger  Ausführung  bedürfte,  eben  Catulls 
Alliuselegie:  die  verkünstelte  Form  setzt  die  einfachere  vor- 
aus, so  gut  wie  wir  mit  Sicherheit  aus  CatuU  64  auf  die 
Existenz  einfacher,  geradliniger  Kleinepen  schließen  würden, 
auch  wenn  uns  nichts  davon  überliefert  wäre.  Die  'subjektiv- 
erotische' Elegie  aber  ist  keine  Gattung  für  sich  (und  gar 
mit  Jacob Y  von  einem  'Zwang  der  Gattung'  zu  reden,  der 
den  TibuU  veranlaßt  hätte,  seine  bukolischen  Gedichte  zu 
verderben,  ist  ein  verhängnisvoller  Irrtum),  so  wenig  wie 
die  erotische  Ode  des  Horaz;  Tibulls  Quis  fuit  horrendos  pri- 
mus  qui  protulit  enses  würde  doch  gewiß  auch  ohne  den  ero- 
tischen (aber  nicht  subjektiv- erotischen)  Schluß  nicht  nur 
für  antikes,  sondern  auch  für  unser  Empfinden,  ganz  zu 
schweigen  von  der  literarischen  Terminologie,  zur  selben 
Gattung  gehören  wie  Castra  Macer  sequitur:  tmero  quid  fid 
Amori?  Die  stofi'liche  Einschränkung,  die  in  der  sehr  starken 
Bevorzugung  des  Erotischen  liegt,  ist  ein  Vorgang,  der  in 
die  Geschichte  nicht  der  poetischen  Formen,  sondern  des 
seelischen  Lebens  gehört  (und  hier  fi'eilich  ein  sehr  merk- 
würdiges und  wichtiges  Ereignis  ist)-  Ähnlich  wie  die  Frage, 
warum  Kallimachos  keine  Liebeselegien  gedichtet  hat,  eine 
psychologische,  keine  formengeschichtliche  Frage  ist. 


Phil-hiat.  Elasge  1919.  B<L  LXXI.  7. 


13» 


Stclleuverzoichni^  zu  Ovid. 

(Nach  den  Aniangsvereen  der  Erzählungen. ) 


arii  am.  II  21 : 

74 

561: 

'S 

III  687: 

48, 

3 

fast.  I  263: 

35 

479: 

67 

545: 

19- 

42 

II  153: 

57. 

73- 

100 

195 

43 

361. 

27 

383 

26 

45y 

17 

481 

17- 

39- 

685 

45 

in  II: 

24 

179 

37 

461 

60 

545 

21 

«53 

:  53, 

2 

IV  249 

:  13, 

I 

417 

:  I  und 

pas3. 

807 

:  30 

879 

:  22 

V  297 

:  16 

451 

:  32 

495 

:  54. 

66, 

I 

inst.  V  605 

VI  355 

797 

met.  I  162 

452 

11  401 

736 

lU  442 

IV  171 

V341 

VI  831 

VIT  11: 

vni  44: 
183 

481 

738 

IX  176 

474 

726 

X  320 

611 

XI  410 

XIV  778 

805 

XV  r,2  2 


10<i 


58 

6S 

43 
1 1 

57- 

5« 

»25 

M 

I   und 

12,  2 
II  i 
114 

74 

118 

12,    J 

120 

116 

125 
117,   2 
122,    I 
20,    I 
36 

•7-  3'i 
•'3 


.USd 


Cbf^m'eic/it  vnm  Verfasser 

Berichte  über  die  Verhandlmigen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Pliilologiscli-liistoriscli.e  Klasse 

71.  Band.     igig.     8.  Heft 


Bruno  Keil 


Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags 


Leipzig 
Bei  B.  G.  Teubner 

IQ20 


k 


SU  HSISCHK  AKVDEMIK  DER  WISSENS(^11AFTEN 
-——===  /r  l.ElPZKi  


IMMloloiiisch-liistorisclie  Klasse. 

Von  Druckscbriften  der  Akademie  sind  separat  erschienen: 

Klassisclie  I'hiloloi^ic: 

a)  Aus  den  Abha  ndluii<,'en: 

E.  Bethe,  Hektors  Abschied.     XXVII  (1909),  12 M.    1.20 

A.  Ebert,  Tertullians  Verhältnis  zu  Älinucius  Felix,  nebst  einem  An- 
hang über  Connnodian's  Carmen  apologeticuni.     V  (1868),  5   .    .    .      „     1.40 

G.  Goetz,  Der  Libor  Glossaniu).    ]\Iit  einem  Facsimile.    XIII  (1891),  2  „  1.50 
Zur  Würdigung  d.  grammatischen  Arbeiten  Varros.  XXVlI(i909),  3  „  i. — 

B.  Hcinze,  Ciceros  politische  Anfänge.     XXVII  (1909),  27     ...    .  „  2.60 
R.  Hirzel,  l4)'ßag-09  a^'o;lOb^     XX  (1900),   i „  3  — 

Die  Strafe  der  Steinigung.     XXVII  (1909),  7 >     '-^o 

Der  Name.     Ein  Beitrag  zu  seiner  Geschichte  im  Altertum  und 

besonders  bei  den  Griechen.     XXXVI  (1918),  2   .........    .     „      480 

F.  Hultsch,  Scholien  zur  Sphaerik  des  Theodosios.    Mit  22  Figuren. 

X  (1887),  5 "     '-^o 

Die  erzählenden  Zeitformen  beiPolybios.    Ein  Beitrag  zur  Syntax 

der  gemeingriechischen  Sprache.  I.     XIII  (1891),    i     .......  „ 

II.     XIII  (1892),  4 1. 

III.     XIV  (1893),  I „ 

Die  Elemente  der  ägyptischen  Teilung-srechnung.  I.  XVII  (1895),  i  „ 

Die  Gewichte    des  Altertums   nach   ihrem  Zusammenhange  dar- 
gestellt.    XVni  (1898),  2 ■ , 

Die  ptolemäischen  Münz-  und  Rechnungswerte.     XXII  (1903),  3  ,■< 

J.  llberg,  DasHippokrates-Glossar  des  Erotianos  und  seine  ursprüng- 
liche Gestalt.     XIV  (1893),  2 „     i.— 

Die  Überlieferung  der  Gynaekologie   des  Soranos  von  Ephesos. 

Mit  6  Lichtdrucktafeln.     XXVIII  (1910),  2 „     5-— 

L    Lano-e,  Der  homerische  Gebrauch  der  Partikel  si.   I.     Einleitung 

und  El  mit  dem  Optativ.     VI  (1872),  4 „     2. — 

n.    fi  xav  (ti  UV)  mit  dem  Optativ  und  d  ohne  Verbum  finitum. 

VI  (1873),  5 • " 

Die  Epheten  und  der  Areopag  vor  Solon.     VII  (1874),  2    .    .    .      „ 

H.  Lipsius,  Zum  Recht  von  Gortyns.     XXVII  (1909).  n '»     ^-^ 

E.  Martini,  Textgeschichte  der  Bibliotheke  des  Patriarchen  Photios 
von  Konstantinopel.  I.  Die  Handschriften,  Ausgaben  und  Über- 
tragungen. Mit  8  Tafeln  in  Lichtdruck.  XXVIII  (1911),  6  .  .  .  „  7.— 
R.  jM  ei  st  er.  Die  Mimiamben  des  Herodas.  Herausgegeben  und  er- 
klärt, mit  einem  Anhange  über  den  Dichter,  die  Überlieferung  und 
den  Dialekt.     XHI  (1893),  7.     [Vergriffen] 


3-50 

2.— 

1.80 

8.— 

IG. — 

2.40 

I. — 

I. — 


I 

ABDRUCK 
AUS  DEN  BEKICHTEN  DER  PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN  KLASSE 
DER     SÄCHSISCHEN     AKADEMIE     DER    WISSENSCHAFTEN     ZU 

LEIPZIG.     BAND  LXXI. 

SITZUNG  VOM    14.  NOVEMBER  igiQ- 


Unsere  Kenntnis  der  Verfassungseiurichtungeu  der  athe- 
nischen Kommunen  und  ihrer  Entwickelung  unter  römischer 
Oberhoheit  ist  ebenso  lückenhaft  wie  unsicher.  Zu  den 
wenigen  gesicherten  Tatsachen  ans  dieser  Verfassungsperiode 
orehört  die  Hebungr  der  staatsrechtlichen  Stellung  des  alten 
aristokratischen  Rates  der  Areopagiten.  Die  Demokratie  des 
5.  Jahrh.  v.  Chr.  hatte  ihm  alle  politischen  Kompetenzen  ge- 
nommen, nur  richterliehe  und  polizeiliche  Funktionen  be- 
lassen; spätestens  seit  dem  Ausgange  des  2.  Jahrh.  v.  Chr.  tritt 
er  neben,  ja  selbst  vor  die  beiden  Körperschaften,  in  welchen 
sich  die  Souveränität  der  demokratischen  Polis  einst  darstellte. 
Bule  und  Ekklesie.  Die  veränderte  Stellung  des  Areopags 
in  dem  Staatsorganismus  zeigt  sich  besonders  in  folgenden 
drei  Punkten.  Einmal  erscheint  sein  Obmann,  der  x^^u|  rr^' 
«I  'AotCov  Tidyov  ßovXfis,  neben  dem  GTQCiTrjybg  STti  tä  Ö7t?M, 
der  vielleicht  schon  in  vorrömischer  Zeit  zum  eigentlichen 
Präsidenten  der  athenischen  Republik  aufgerückt  war.  Zweitens 


\ 


[Die  hier  veröffentlichte  Abhandlung  hat  sich  in  den  nachgelasseneu 
Papieren  Bkuxo  Kkils  gefunden.  Der  laufende  Text  kommt  so  zum 
Abdruck,  wie  ihn  Ivku.  selbst  niedergeschrieben  hat;  einige  kleine  Ver- 
sehen sind  stillschweigend  geändert  worden.  Die  Anmerkungen  hatte 
Keil  nur  zum  kleineren  Teil  ausgearbeitet;  im  übrigen  mußte  ich  hier 
aus  Notizen  und  fi'üheren  Entwürfen  das  Material  sammeln,  welches 
Ketl  in  diejenigen  Anmerkungen  verarbeitet  hätte,  die  er  nicht  mehr 
hat  fertigstellen  können.  Die  so  entstandenen  Anmerkungen  sind  in 
eckige  Klammern  gesetzt;  diese  besagen  also,  daß  zwar  der  Inhalt  der 
Anmerkungen  von  Keil  stammt,  daß  sie  von  ihm  aber  noch  nicht  in 
die  endgültige  Form  gegossen  sind.  Keii.  hätte  sicherlich  hier  noch 
mancherlei  hineingearbeitet;  ich  selbst  habe  mich  jeder  sachlichen  Er- 
gänzung enthalten,  um  Ki:ils  Ansicht  ungetrübt  hervortreten  zu  lassen. 

RiCHAKU    LaQCKL'K.] 
Phil.-hi8t.  Klaäse  1919.   Kd.  LXXJ.  i.  I 


2  Bkuno  Kkii.:  [71, 8 

lautet  die  amtliche  Adresse  an  den  athcnisi-lieu  Stiiat:  t/)  f'^ 
■igsiov  rtäyov  ßovk]]  xul  zfj  ßovXfi  xcd  rrJ  dtj^co.  Kiidli(;li  — 
und  «lies  ist  das  Beweisendste  -  kann  jetzt  der  Arcopag  als 
souveräno  Körpersehat't  allein  oder  in  Ubereinstimninnjj;  mit 
Rat  und  Volk  auf  einem  bestimmten  Keelits^ebiete  Beschlüsse 
fassen,  die  früher  diesen  i)eiden  die  Souveränität  allein  re|)rä- 
sentierenden  K()rperschat"ten  vorbehalten  waren.  Die  amtliche 
Hezeichinmg  eines  solchen  Areo))a<^besch]usses  gibt  Cicero  an 
bekannter  Stelle  (ad  fam.  Xlll  i,  5;  vgl.  ad  Att.  V  11,  6): 
decrotum  illud  Areopagitarum,  quem  v:ionv)^iuiti6pi6v  illi 
vQcant.  Der  Brief  stammt  ans  dem  J.  31  v.  Chr.;  andere 
literarische  Zeugnisse  für  den  athenischen  Terminus  hnoavy]- 
uaTLöuo^  fehlen.  In  den  attischen  Inschriften  erscheint  er 
erst  auf  einer  Weihung,  die  nicht  in  vorflavische  Zeit  fallen 
kann  (!(».  III  806),  und  ist  mit  den  einigermaßen 'datierbaren 
Belegen  (IG.  III  903  a;  772  b)  bis  in  die  zweite  Hälfte 
des  2.  Jalirh.  /ai  verfolgen.  Das  Wort  erscheint  hier  aus- 
schließlich in  der  mehr  oder  minder  variierten  Formel  xai)"^ 
v7CO}ivr}uccTi6^iov  TTig  i^  l^QSiov  jiäyov  ßovlf^g.  Wie  diese 
kahlen  Belege  an  sich  nicht  zahlreich  sind,  .so  bieten  die 
attischen  Stenie  kein  einziges  Beispiel  eines  vjtoavrjfianöuog 
in  extenso.  Erhalten  ist  aber  ein  solcher  auf  einem  epidau- 
rischen  Steine,  der  auch  den  letzten  Bearbeitern  späterer 
athenischer  Verfassungseinrichtungen  entgangen  ist,  nicht  zum 
Vorteile  der  Sache.  Denii  das  einzigartige  Dokument,  auf 
das  Ad.  Wilhelm  jüngst  hingewiesen  hat  und  das  ich  schon 
mehrfach  verwertet  hatte,  wirft  klärendes  Licht  auf  das  Wesen 
und  die  Stellung  des  von  Rom  reorganisierten  Areopags.  Das 
soll    die   folgende   Erläuterung   der   Inschrift   zeigen. 

Es  handelt  .sich  um  den  zuerst  von  Kavvadl4.s,  Fouilles 
d'Epidaure  I  205 — 207  herausgegebenen  und  von  Fr.Xnkel 
mit  einigen  Verbesserungen  wiederholten  Stein  IG.  IV 
936 — 938.  Vom  athenischen  Staate  waren  dem  als  Knaben 
gestorbenen  T.  Statilius  Lamprias,  dem  Sprößling  eines  über 
Athen,  Epidauros,  Argos,  Sparta  verbreiteten,  im  i.  Jahrb.  v. 
Chr.  blühenden  Adelsgeschlechies,  drei  Statuen  —  auf  der  Akro- 


71,8]  Beiträge  ZUR  Geschichtk  DES  AuEOPAG.s.  3 

polis,  iu  Eleusis  und  im  Asklepiosbezirk  in  Epidauros  — 
gesetzt  worden.  Zu  dem  epidaurisclien  Exemplar  gehörte  der 
Stein  als  Basis.  Er  trägt  drei  Inschriften^),  die  sich  auf 
diese  Ehrung  beziehen.  Erstens  die  eigentliche  Unterschrift 
für  das  Standbild,  die  als  solche  auch  durch  die  weit  gesperrten 
Schriftzeichen  charakterisiert  ist.  Dieselbe  Unterschrift  tragen 
einst  die  beiden  athenischen  Exemplare.  Ich  setze  die  Zeilen 
her  (n.  936) : 

{]  l^  'AqeLov  Ttdyov  ßovXt)  xcd  >")  ßov- 
A»)  ribv  e^axoöLUJV  xal  ö  djjuo[g] 
Titov  EzaTsiXiov  EraxuXiov 
viov  TeLuoy.QÜxovg  yla^iZQiav 

darunter  in  engerer  Schriftgebung  der  vjcofivriucitLöfiog  des 
Areopags  (n.  937)  —  als  solcher  in  dem  Schriftstück  selbst 
(Z.  12)  bezeichnet  —  und  endlich  das  ipi^cpKj^a  der  Bule  und 
Ekklesie  (n.  938),  durch  welche  die  Ehrung  des  Verstorbenen 
bestimmt  worden  war.  Die  beiden  Aktenstücke  sind  durch 
die  Jahresdatierung  (937,  i;  938,0  -^^'  Uszovvdov  cigyovTog 
xcd  isQsojg  ^qovöov  vTidrov  nach  Kavvadias'  einleuchtender 
Begründung  auf  die  Zeit  66 — 68  n.  Chr.  datiert.  In  vor- 
hadrianeische  Zeit  weist  ja  ohne  weiteres  die  ßovh)  töv 
i^axoöiojv. 

Das  Psephisma,  mit  welchem  sich  der  vnoiivri^atLöaög 
seinem  Zwecke  nach  völlig  deckt,  gehört  zu  der  Klasse  jener 
rhetorischen  Beileidsadressen,  die  nach  verbreiteter  spät  helle- 
nistischer Sitte  seitens  griechischer  Gemeinden  an  die  Hinter- 


i)  Im  ganzen  vier  Inschriften,  denn  die  Basis  stammt  aus  dem 
Ende  des  4.  Jabrh.  v.  Chr.  und  trägt  auf  der  ursprünglichen  Vorderseite 
die  alte  Weihung  IG.  IV  iioo;  bei  seiner  zweiten  Verwendung  haben 
n-  936.  937  auf  der  alten  Rückseite  und  938  auf  der  linken  Querseite  Platz 
gefunden.  P'benso  ist  für  die  weiter  unten  erwähnten  spartanischen 
Inschriften  (n.  939.  940)  eine  ältere  Basis  verwendet  worden,  deren  ur- 
spüngliche  Inschrift  (n.  iioi)  dem  Schriftcharakter  nach  in  die  Zeit 
um  300  V.  Chr.  gehört. 

I* 


4  liiuNo  Kkm.:  [7>.  8 

bliebenen  vou  Veistorbenen  vornchint'r  Kftmilicu  «jjerichtet 
wurden.  Im  vorliocroiideu  Falle  ergeht  der  Boileidsausdruck 
Athens  an  die  Eltern  und  den  Großvater  des  Laniprias,  die  in 
E{>idauro3  lebten.  Eine  gleichartige  Adresse  hat  aucli  Sparta 
an  die  Eltern  nach  Epidauros  gerichtet,  zugleich  der 
Schwester  des  Laniprias,  Pasicliareia,  nebst  ihrem  Manne 
Pratolaos,  sowie  dem  Onkel  Aristokrates,  die  ihren  Wohnsitz 
in  Sparta  iiatteu"),  persönlich  (xaro:  7tq6(Sco:tov)  durch  eine 
f)e})utation  das  Beleid  der  Gemeinde  ausdrücken  lassen  und 
weiterhin  Athen  noch  insofern  überboten,  als  es  dem  jungen 
Manne  vier  Staudbilder  verschiedener  Art,  je  zwei  in  Sparta 
und  Epidauros,  errichtete.  Hierüber  unterrichtet  die  Basis, 
welche  zu  der  im  epidaurischen  Ilieron  aufgestellten  Statue 
gehörte,  und  die  wie  der  athenische  Stein  außer  der  Unter- 
schrift aucli  das  die  Beileidsadresse  enthaltende  Psephisnia 
trägt  (Kavvaüias  a.  a.  0.  208.  209;  IG.  IV  939.  940).  Auch 
im  Tenor  ihrer  Adresse  haben  die  Spartaner  die  athenische 
in  Schwulst  und  Übertreibung  merklich  überboten,  so  daß 
hier  der  Typus  dieser  :iaQa^vQ^rjrixoc  noch  schärfer  heraus- 
kommt. Man  darf  von  ihm  aus  auf  die  Fassung  des  Be- 
schlusses vou  Epidauros  zurückschließen:  denn  für  die  Wohn- 
sitzgemeinde der  Eltern  sind  entsprechende  Maßnahmen  — 
wohl  auch  für  Argos^)  —  ohne  weiteres  vorauszusetzen, 
auch  wenn  kein  Stein  darüber  berichtet,  und  neben  dem 
Mezzoforte  und  Forte  Athens  und  Spartas  wird  hier  das 
Fortissimo  erklungen  sein. 

K.  BuRESCH  hat  diese  Urkunden  unter  dem  Titel  „Grie- 
chische Trostbeschlüsse"  im  Rhein.  Mus.  1894  IL  424 ff.  einer 
Besprechung  unterzogen,  die  dem  fruchtbaren  Thema  leider 
schon  damals  in  vielfacher  Hinsicht  nicht  gerecht  wurde. 
Besonderes    Unglück    hat    er    mit    der    Besprechung    unserer 


2)  Den  Stammbaum  darin  habe  ich  im  Zusammenhange  mit  den 
athenischen  Steinen  GGN.  19 12,  18  f.  erläutert. 

3)  Der  arcrivische  Zweig  der  Familie  begegnet  in  TG.  IV  590,  einer 
Ehreninschrift  für  T.  2^TaTiXiov  ylaunQinv  vov  TtfiaKgärr]  Msfifiicevov, 
IIsQO^og  y.ai  ^lOGy.ovotov  &nöyovov. 


71, 8J         ~  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags.  5 

athenischeD  Dokumente  gehabt.  Er  bemerkt  (S.  453  f-)  über 
das  Verhältnis  des  vTcouvrj^uTiöuöi^  (n.  937)  zum  4'i](pi6(itt 
(938):  'nicht  nur  den  förmlichen  Volksbeschluß  der  Athener 
teilt  .  .  die  epidaurische  Basis  mit,  sondern  auch  den  Vor- 
beschluß des  Areopags  .  .  .  v7Convi]^iaTL6u6g  genannt.  .  . 
den  später  zürn  Volksbeschluß  erhobenen  Antrag  betreffs  des 
verstorbenenen  Lamprias  offenbar  im  ersten  ganz  flüchtigen, 
schlecht  und  völlig  uulapidar  stilisierten  Entwurf.  Also  der 
v:toavi]naxi6^6g  ein  Vorbeschluß  für  das  ijjriCpiGua.  BuRESCH 
hat  einfach  die  Präskripte  nicht  gelesen.  Auf  die  Jahres- 
angaben folgen  in  beiden  Dokumenten  die  Tagesdaten;  da- 
nach hat  der  Areopag  getagt  ^r]vbg  BoridQouLon'og  :cB^i7iTr] 
«.Ttdi^TO^  d.  h.  am  26.  Boedromion,  die  Volksversammlung 
f'jrt  rfig  'E^sx^^t'dog  x^Ctr^g  TCQVTavsCag^  f]  llQX'cXuog  AvGi- 
udxov  MaQCcd^cyviog  efgau^idtevei'  "  BotjdQOuiojvog  öydor^  ecrl 
Ötxa,  öydöri  xal  ÖExaTtj  T>Jg  TtQvravsCag  d.  h.  am  18.  Boedro- 
mion, volle  acht  Tage  vor  dem  Areopag.  Mithin  kehrt  sich 
die  Sache  geradezu  um:  das  ipijcpiö^iK  ist  eher  ein  Vor- 
beschluß, der  vTto^vr^aarLG^iog  der  endgültige  Beschluß.  Das- 
selbe lehrt  das  Q-egeuseitige  Verhältnis  der  drei  Aktenstücke. 
Ich  will  für  die  weitere  Untersuchung  hier  gleich  den  Text 
der  beiden  Beschlüsse  nebeneinander  stellen.*) 

Areopag:  a^j^  aar>]?.Xux6rog  Ekklesie:  a)*^  £;r£tdj)  öv^ße- 
tv  'EnidavQOi  vsavCov  öiaör^^o-  ß)\yitv  AauTiQiuv  Tsi^ozQdrovg 
TfiTOi^l,  Bvysvdai  iit%Qr^ubvov  ev  ^E^iiöavQCii  nQO  togag  xelsv- 
iTil   ccTcäoijg  rr,s  'EXXäöog  ri^öat,    V£a\viav     y.ööULOv     xal 

öu)(f(iova  xal  7iic6)^i  ccQSxiji  ev 
TTjt  7CQ(oz)ii  ■r]liy.Cai'-')  xov  ßCov 
xcix'  d^iuv  I  x7]g  xCov  TtQoyovav 
(3ü^7jS  x£y.o6fir,n£vov 

4)  So  kanu  auch  die  fortlaiU'ende  Gesamtdar.-5telluug  von  deu  Einzel- 
benierkungen  beireit  werden,  deren  mehrere  Stellen  der  Texte  zu  ihrer 
Erläuterung  bedürfen. 

5)  Die  Worte  iv  rij  nQwty  r,Xty.ioi  sind  au  dieser  Stelle  eigentlich 
unverständlich;  in  richtigem  Zusammenhange  stehen  sie  in  der  Areo- 
pagurkunde    {a.^),    identisch   mit  noö   o>oag  der    vorhergehenden    Zeile. 


6  Bri'no  Kkii,:  [?'.  8 

b)  ano  TS  Tb)V  nag'  1)1111'  hi-        h)  fxtyfVflcu  xf  xi]Ll4di]vyi(!iv 

(pttVfÖTCTCi}!'    CCl'fdQOiV  CC7C0      tCoV    \    CtQlu{MV     Xul      JTpo)- 

TOii'      ch'diiäv'^),      legeojv     xaJ 
TToXecoa  ^Yi-ov  xal\^^  'uoorpccvri- 

yVljdLOV^)   VTTciQXOVTCi^ 

Einen  Sinn  kann  man  liineinzwängen,  wenn  mau  vor  ihnen  den  Aus- 
full  eines  steijjformlen  ijArj  oder  eines  hescliränkendon  iiaor  annimmt. 
Has  letztere  würde  dem  panegyrischen  Ton  des  l'^ephisnui  aber  nicht 
entsprechen.  Ich  bin  vielmehr  geneigt,  darin  eine  Korrektur  zu  Trpo 
mgccg  zu  sehen,  die  der  Steinmetz  an  falscher  Stelle  einsetzte;  den 
gleichen  Vorgang  habe  ich  bei  Pkkiskskb,  Sammelbuch  griech.  Urkunden 
aus  Aeg.  n.  286  aufgewiesen. 

6)  Fkänkei.  bemerkte  zu  Kp;jaici)i':  viroruni  ex  antiquis  gen- 
tibus  ortorum,  das  heißt  die  Worte  völlig  verkennen.  Die  Worte 
iBQBcav  xßi  IsQsiäiv  —  &10V  sind  die  erklärende  Apposition  dazu,  wie  das 
Asyndeton  und  das  danach  neu  einsetzende  Kolon  y.al  —  vnäQxovtcc  be- 
weisen. Die  'iBQSua  sind  die  der  ^J^^7]) ■«  Uolidg,  deren  Priestcrtum  be- 
kanntlich im  Geschlecht  der  Eteobutadeu  erblich  war  (z.  B.  Töi-kek, 
Att.  Genealogie  S.  127  ff.).  Wie  gleich  darauf  mit  den  oixot  isQocpuvzLnol 
"Kol  Sa8ov%iv.oi  die  Herkunft  von  den  Evtiof-itiSca  und  Kr'jQ^'Ksg  —  in 
der  spartanischen  Inschrift  (940,  4)  daher  ano  utv  twv  !-id'rivwv  (?) 
TÖ  ivSo^ötuTov  KiiovKcov  yivog,  cqp'  01»  Suäovxovaiv  01  bv^svioraroi.  —  be- 
zeichnet wird,  so  hier  die  von  den  'EvfoßovTädui.  Stutzig  macht  nur 
einen  Augenblick  das  nackte  hgicov;  denn  das  Priestertum  des  Poseidon 
war  im  Eteobutadengeschlecht.  erblich.  Entweder  ist  also  rov  Iloaei- 
öcbvog  ausgefallen  oder  mit  Absicht  ausgelassen,  weil  hier  die  Betonung 
nicht  nur  auf  der  Bezeichnung  der  eponymen  Göttin  der  Stadt  liegen, 
sondern  nuch  ein  Gegensatz  zu  Eleusia  herauskommen  sollte.  Die 
Statuen  der  Athenapriesterinneu  hatten  ihren  Platz  auf  der  Akropolia, 
die  der  Daduchen  und  Hierophanten  in  Eleusis:  auf  der  Burg  und  in 
Eleusis  soll  ja  ein  Staudbild  des  jungen  Lamprias  aufgestellt  werden. 
Sind  mit  jenen  Worten  zweifellos  die  Eteobutaden  bezeichnet,  so  wird 
der  Stammbaum  hier  auf  Erechtheas,  den  Sohn  der  Ge  ([Plut]  v.  x.  or. 
843),  zurückgeführt,  somit  auf  die  Autochthonie  der  Athener  hingedeutet: 
das  bedeutet  uQ%ciiwv  xorl  TtQcoTojv  avÖQcbv.  Die  Bestätigung  enthält 
die  spartanische  Inschrift,  nach  welcher  die  epidaurische  Linie  des 
Geschlechtes  sich  auf  Inachos  zurückführte. 

7)  Dies  Adjektiv  scheint  sonst  nicht  belegt.  Der  Verfasser  hatte 
eben     mit    ütio    rön>    Ko-^cdmv    xrZ.    die    übliche    Ausdrucksweise    ver- 


71,8]  Beitiügk  zur  Geschichte  des  Areopags.  7 

c)  xal  a:tb  räv  evdo^ordrcjv       c)  ov  ^6vov  dh  rfiL'^d-ijvrjßiv  \ 
iv  xriL  'Ellddi  nökecov  svysvsCai^)  xal  la^jiQÖrrjri  xa- 

xo6ui}nii>ov^  dkXä  xal  iv  rartf 
ivöoh,oxdraig  xccl  evyEveörcc-  \ 
raig  rijg  'EkXudog  nöXeöi^ 
Aay.eöatfiovc  xal  "A^yai  xal 
xfi  IsQca  'ETiiöttVQCp^  ovdai'bg 
otxov  öav\taQov  yavoiistfov, 


l'raucht;  so  vermied  er  sie  jetzt:  ruv  anb  SkSovxcov  IG.  III  137.  Dittkn- 
BEKGKH,  Syll.*  872  lind  IG.  III  915  t)  ano  6abov%(ov  xar/  ysvovg  anii 
Il£Qiy,Xsovg  xcä  Kövavog  xarä  3i  Maxsdövfg  (so)  ccno  'Alf^dvSgov,  was 
ich  als  Parallele  zu  der  Leitung  des  epartanischen  Zweiges  der  Lamprias 
über  Lysandros  anführe  (GGN.  a.  a.  0.). 

8)  Fhankel  bemerkt:  necessario  significat  eognatum  und  notiert, 
daß  ein  so  frühes  Vorkommen  dieser  byzantinischen  Bedeutung  des 
Wortes  bisher  nicht  bekannt  war.  Aber  der  Stammbaum  soll  ja  den 
Lamprias  nicht  als  eognatum,  sondern  als  echten  Sproß  dieser  Adels- 
geschlechter erweisen.  Es  ist  eben  ^■nyovov  zu  ergänzen,  und  daß 
/VT^cio?  ßo  ohne  Bxyovov  gebraucht  werden  konnte,  dafür  genügt  es 
auf  Demosth.  IX  30  zu  verweisen:  öacc  niv  vno  AaxEÖccniovlav  1]  vcp' 
Tj^öjv  inaaxov  oi  " EXXr]vsg,   aXX    ovv   vno   yvrialcov  yovroiv  r^g  'ElXddog 

TjdiKOVVTO. 

9)  Das  Psephisma  ist  von  einem  rhetorisch  ungewöhnlich  schleclit 
geschulten  Manne  stilisiert,  der  nicht  der  Antragsteller  Timosthenea 
selbst  gewesen  zu  sein  braucht.  In  den  vier  Z.  8  — 11  hintereinander 
svysvsiK  —  svysvfiK  —  nvyBvsGTdtaig  ebenso  7 — 11  Koauiov  —  x£xo- 
6\imLkvov  —  xExoöf^rJf^e'^'o^^  Dabei  steht  das  erste  dieser  Partizipia 
UTto  yioivov  zu  dem  weit  vorhergehenden  Ttdaij  ägstfi  und  zu  dem  un- 
mittelbar folgenden  eiysvtia;  das  würde  in  aristotelischer  Diktion  oder 
auch  iu  der  Sprache  der  Nomoi  nicht  eben  auffallen,  aber  hier,  in 
rhetorischer  Satzgliederung  beleidigt  es  deshalb  jedes  stilistisch  ge- 
geschulte Ohr,  weil  xExoffftTj^trov  so  scharf  als  Abschluß  des  Kolons 
gestellt  ist,  daß  man  am  Schlüsse  des  folgenden  Kolons  ein  entsprechendes 
Keagens  für  die  Substantive  erwartet,  wie  tsriitriiisvov  oder  besser  noch 
üianQiTtovxu,  mit  dem  ganz  rhetorisch  im  nächsten  Kolon  xc<J  —  vTtdg- 
Xovxa  korrespondieren  würde;  statt  dessen  verläuft  das  mit  cvytviioc 
einsetzende  Glied  im  Sande.  Man  sage  nicht,  der  Verfasser  habe  die 
Sätze  eben  nicht  rhetorisch  halten  wollen;  das  widerlegen  schon  die 
folgenden  reimenden  Partizipia  xtxoaiirjiisvov  —  yevoiisvov  —  TtriftTj- 
(livov,   widerlegen   auch   stilistischen   Künsteleien.     So    ist  evysvsia  kocI 


8  Hurso  Kkii,:  [7',  K 

duiuovog  1^  ((710  aeyi'(ST(oi' 
tÄnidcov  f'r  rf;/  7TQ(ÖT)]1  tov  ßioi' 
))kixiai 

(1)    (fehlt.)  (DtCQÖc  Tt  TOVTOl^TfTfliniflE- 

l'OV     T))t     iityCöxr^i     xal     TraQoc 

XaiiTTQOTtjt  ein  ?«■  diu  dvotv,  denn  es  «toht  für  ytrort;  XufiTTfiÖTrjrt, 
wie  Hn  rKNiiKuaKK,  Syll.  '  809,  20  zoi^'cn  kann.  Audi  die  Verl)in- 
duuLT  TOD  ^vytvt6TäTalg  mit  Trdifff«  beweißt  rhetoriecbe  Aspiration; 
«leno  80  redet  Nero  in  seinem  Erlaß  (DiTTKNnKiioi;i!,  Syll.  ''  814,  1)  an 
die  Hellenen :  Ti}v  siyevsatÜTip'  'KXXüda,  und  dies  Schriftstück  stammt, 
wie  sich  von  selbst  versteht  und  jeder  Satz  boweist,  aus  hober  rheto- 
rischer Werkstatt.  Jicovo\iur,aivos  14  ci<:fnet  seit  Isokrates  dem  litera- 
risichen.  nicht  dem  Urkundenstil.  Kar  &^iuv  riyg  —  «^ö^'/S  füi'  '•^'•^^  gewöhn- 
liche ali'wg  ist  ebenfalls  prcziös.  Indem  der  Verfasser  das  terminolofjische 
i7rwvv\Log  zu  vermeiden  sucht,  greift  er  zu  dem  mißverständlichen  —  bisher 
übrigens  nur  hier  sich  findenden  —  TTQooöivi'iiog.  Vollends  aufs  Glatteis 
gerät  er,  wo  er  die  aus  Herodoi  I  23  den  Späteren  bekannte  und  bei  ihnen 
nicht  unbeliebte  Wendung  ovöevog  divregog  anbringen  will.  Gesagt 
sollte  da  werden:  er  stammte  aus  einer  Familie,  die  in  Argos  usw. 
hinter  keiner  zurückstand.  Das  hätte  ergeben:  o/'vior  oidsvog  {oi'xov) 
dfvtigov  ysvo^tvov.  Die  Doppelfunktionen  der  Genetive,  des  Genetivs 
der  Provenienz  und  des  komparativischen  Genetivs,  verwirrte  ihn;  so 
gab  er  ovdsvog  oI'-kov  öevtsqov  ytvo^evov,  womit  dann  der  Gedanke 
sauv.  schief  herauskam:  er  stand  hinter  keiner  Familie  zurück.  Und 
doch  hätte  er  sich  so  einfach  helfen  können:  ovösvog  oi'y.o&ev  ÖBvxtQov 
ytvimtvov.  Der  Stein  hat  nur  O 7 JvO/  erhalten;  ich  habe  mich  gefragt, 
ob  man  danach  ot'xoi  lesen,  und  unter  Annahme  einer  Vertauschung  der 
Ortevorstellung,  wie  sie  ja  im  Griechischen  häufig  ist,  oiy,oQ^tv  verstehen 
solle.  Allein  diese  Vertauschung  wäre  doch  zu  grob,  um  nicht  unwahr- 
scheinlicher als  die  Annahme  des  Unvermögens  des  Verfassers  zu  .sein. 
Hingewiesen  sei  noch  auf  das  grundprosaische  und  auch  logisch  schiefe 
TTiV  dvruTiji'  Tiifirjv  23  im  Sinne  von  'die  allein  noch  für  Verstorbene 
mögliche  Ehrung';  vielleicht  soll  rotg  ret^Xtvtriiiöai,  das  ja  von  nuQi-xo- 
uivT)  abhängt,  auch  dazu  gezogen  werden.  Stilistisch  unsauber  ist  die 
notwendige  Ergänzung  von  ccvSQiävrsg  in  dem  Relativsatz  ov  —  &v- 
d-AiiVTca  14  f.  aus  ävögiccvra.  Anderes  in  den  folgenden  Anmerkungen. 
Doch  den  in  schriftlich  schon  verhältnismäßig  früh  auftretenden  Dual 
raiv  &salv  (Meisteruaxs-Schwyzkk  *  123,  1 13)  darf  man  nicht  anrechnen; 
ihn  hat  auch  ein  Purist  wie  Aristides  (XXII  §  4  K.);  diese  Form  war 
damals  sakral. 


71,8]  BBiTRÄ<iK  ZUR  Geschichte  des  Areopags.  9 

TiäöLV      liVxfQaxoiQ     duovofia- 
G^idvr}  'Pcoualav  TCoXiteCui  ' 

g)     iXißd^CU     uhv    KlQfÖlV    Tt)v 

xoQev&i]\'oo^£vy]v  y.ai  Ttccgccf-ix)- 
9ri6ousvr,v  ror?  rt  yovstg  avxov 

AOcl    TOV    TfliTCnOV 

e)  (\v(i{)nv(a  ^  81  y.ul  av-  e)  deÖöx^ai  rf]i  ßoidfit  xca 
ÖQKivrccs  avTov  sv  rT/t  ^")  äxQo-  tcol  drj^ai.  dvad-ell^^vai-  avtov 
:töX6i  xui  ev  ry  fi'  'EXevölI-  ävÖQiavra  ev  äxQOTCÖkti  xcd  sv 
VI  civXfiL^^)  TcaQii  rolg  \^  :iQO-  'EXsvöstvt,  iv  Tf,c  isgca  avXfii 
yövoig  xal  iv  'ETiLÖavQcoi  ri]i  raiv  d^saiv,  ov  xal  \  tüv  tcqo- 
iSQäi  iv  xäi  xeuivti  rov  \46-  yövcov  avrov  äväxsivxai.,  xal 
xXrjTVtov  xr^v  eniyQacpijV  |^°  iv  'ETnöavgcoi  xfji  UQdi  sv  xon 
f'XOVTicg  •  rsusvsL    TOü    ^AGxXipLOv  I  xriv 

STtiyQacpijV  iiovrag  ' 

f)  'H  sl  'Jqbi'ov  :iäyov  ßovXi]  iYH  ßovXr}  ij  il  'JqsCov  ndyov 
xal  i]  ßovXi)  xibv  ei,(ixo6tG)v^^ )  xal  i)  ßovX))  xcöv  itaxoeCcov  xal 
xcd  odriiios  Tixov  Zxa\^^X£iXiov  6  ö>"JiUoj  1  Ttxov  ZxaxsUiov 
ZxuxsiXiov  xnöv  TsipoxQaxovg  TCxovHxaxsLXCovTti^oxQKXovg 
Auu.7CQLav  r,Qm:\  vibv   AccuzQiav  uQSxijg  evsxsv. 

g)  oben  vor  e).  g)  iXiö^ca  \  8e  xal  TCQSößsCav 

xijv  ÖLuxo^iovöuv  fig  'E%idav- 
Qov  xöSe  xo  xl'tjcpiö^cc^  i^xig  xal 
:raQuuv\^^&)](}£xaL  anb  xov 
xfig    ütöXecog  övo^uxog^^)    xovg 

10)  Der  Artikel  in  dieser  Formel  ist  jünger,  wenn  auch  sclioii  seit 
355  tlG  II  -  133,  17  =  *  69)  belegt.  Das  Psepbisma  ebenso  wie  das 
srleicbartige,  etwas  spiiter  fallende  IG.  11  -  1072  =  111  '  2  wahrt  also 
hier  die  alte  Tradition. 

11)  Die  Ortsbezeichnung  ungenauer  als  im  Psephisma;  man  er- 
wartet iv  (rw)  'EXtvaivia,  weil  'iBQa  bei  avlrj  hier  fehlt.  Übrigens  ein 
guter  Beleg  dafür,  wie  überflüssig  Korais"  Änderung  ^Eksvoirim  bei 
[Flut.]  V.  X.  or.  838  iv  'EXsvalvi.  sUmv  .  .  .  iiiitQ06&ei>  tov  Ttgoataov  ist. 

12)  Frä.nkkl  in  der  Umschrift  versehentlich  k'^uxtaxdiav. 

13)  Ein  starker  Hellenismus;  Diod.  XVIII  57,  3  ygccipag  inLoroXriv 
i-A  TOV  twr  ßaadtav  ovö^atog;  60,  6  (Steph.  Thes.).  Vgl.  aus  l'apyri: 
TtciQtßyov   äno  Xöyov  ÖTquociov  =  vnsQ  örmoGiov  (Klhkinu,  De  praepos. 


lO 


Uruno  Kkm,:  [7^,^ 

yovtii:  avrov    TfiuoxQnTtp'  xa! 
Ttiuood^fi'iiice  j  x«)  TOI'  :t(i:i7roi' 
AciiLTcgiiiV 
h)  (fehlt.)  \i)  iV«  Tovrcov  :TQUTTo^ievoj}> 

(p(n'vi]Tui     (pai'fQa^^)    jiüaiv    rj 

atjdev)  xKiQiö  IvXiiTCovaa  nQO(i 


Graec.  in  cbartis  Aegypt.  neu,  Bonn  1900,  p.  29),  wie  liier  ano  —  öi-d- 
\iiXTog  =  VTCSQ  r;"/s  nölnai.  Die  Umsehreibung  mit  ufOftu  stammt  aus 
dem  Geschäftsverkehr;  Beispiele  bei  ruEisuiKK,  Giroweseu  im  <^riech. 
Ägypten,  Index  11.  d.  W. 

14)  VerballhoniuDg  einer  typischen  Formel,  die  auch  den  athenischen 
Psephisnion  der  Kaiserzeit  nicht  fremd  war:  IG.  II  *  1072  (oben  Anm.  lo) 
c:va6ra9f]tcu  iv  &XQon6Xsi,  aQStfjg tvtxa,  o^rwgai'  toÜtwi'  TtQc:rro(iBVO}  v 
■f]  T^s  noXstog  q)iXc(v9QC07citt  TOig  xa-Xotg  y.uyad'oig  r&v  &vdQÖi>i'  (^derselbe 
Genetiv  wie  oben»  vnägyovai  cfccvFQU  Tcäni  ytivqrui.  Der  Verfasser 
konnte  hiernach  schreiben:  Iva  -  ;ivr\Ti:i  (pavega  näsiv  ii  Md-rivaiav 
yvioiiT]  tXXfiitovöu  xtX.  oder  mit  den  rarallelformen  Tva  (puivrirai  17  r.  'A. 
yvcüfii],  nicht  aber  durfte  er  beide  Formeln  vermischen.  Er  tat  es,  weil 
er  die  yrco^tj  selbst  verherrlichen,  sie  selbst  als  eine  qparspa  hinstellen 
wollte,  wie  es  Iv.  Priene  114,  7  ^furf^üv  (^h  •/.«/  i-v  rtd-i-lg  tliv  nro/.ii'  ge- 
schieht. Dadurch  wurde  nun  nicht  bloß  der  Ausdruck  —  cpaveQCi 
tpaivriTai,  nebeneinander  —  verdorben,  sondern  auch  der  (iedanke.  Denn 
wie  in  den  vielen  Parallelen  sollte  natürlich,  was  die  Partizipia  iii]di:v 
iXXsiTtovea  —  (tt]6E  ansXovßa .  —  naQf:Xo\iivi]  besagen,  von  der  noXig 
ausgesagt  werden:  l'vt:  1)  JioXtg  (fuvBQCc  yivijict  —  illtiTiovcu .  Indem 
nun  die  -/rcburj  vorgeschoben  wird,  gebt  alles  auf  diese;  da  hätte  er 
sich  doch  leicht  mit  der  gleichfalls  typischen  Formel  i'vcc  17  yvwfir]  (pu- 
vBQo.  ylvrtTCii,  ort  j'j  TFoXig  —  na^tx^tca  helfen  können.  So  geben  ihm 
also  zunächst  zwei  Gedanken-  und  Stilwendungen  durcheinander:  ivu 
i]  TtoXig  (puvsga  7.  —  nuQ'cXOnivr]  und  iva.  rfig  nÖKsüig  tj  -/Wj/at]  qpßi-. 
yivrjc:i  ort  k&rivaioi  7tuQf'/,ov%ci  \  mit  ihnen  die  Verselbständigung  der 
yvio^i]  in  Einklang  zu  bringen,  war  er  nicht  imstande,  obwohl  doch 
eine  Verbindung  wie  ivc<  i]  kür^vcätov  yrrnfir]  ^■x(pavi\g  yivr\Tc».i  v.cd  (fci- 
vr]tai  Tj  nöXig  —  Ttaosxontvtt  nicht  gar  fern  lag.  Die  Armseligkeit  seines 
Wortschatzes  (Anm.  9}  und  sein  stilistisches  Unvermögen  wiesen  ihn 
eben  auf  die  Formeln  an;  an  sie  klammerte  er  sich  in  seiner  Hilf- 
losigkeit so  ängstlich,  daß  er  selbst  den  Ausdruck  von  Gedanken,  die 
in    ihnen   nicht  vorgeprägt  waren,   ans   ihnen    zu   bestreiten  versuchte. 


71»  8]  Beiträge  zur  Geschichte  des  Akeopags.  ii 

iv  riji  'Ek\lddt,  ccvÖQäv  firjö' 
iv  tutg  tOLavtttLg  üviKpogais 
a^eXovda,  ccl}.ä  ttjv  re  dvvcctr}v 
^£^,a^)v  |  rolg  rstaXsvrtjXüöi  xal 
:tccQcc}ivd^Cav  rotg  ^ojdi  y.a\  r)ri'- 
XrixÖ6L  TcaQsyonsv}]. 
i)  xov  dl  y.rJQvxa  JvöLadiiv^^)       i)  (fehlt.) 

ygcil^'xijca  ti}i  'Emdavoicov  tto- 

Xsi  xal  dia:tty,tpcc6&ai.  rbv  vtco- 

Ör}u.oGCai  örfQaysldi. 

k)  xccT6örd&t]  a'iQeaig  Tai-  k)  j'"  jrotößsig  eigs^rjöai' 
pL06d^svrjs  Kakki6To^d\^^yov  Tsi^oöd^ivrjg  KaVu6tofi«xov 
^yivacpXvötiog,  KaXXvdTÖ^Kxog  Avacplvönog^  Kukkiöxouaypg 
K(i?J.t6Tou<xxov   'JvacplvöTtog.    K(xkXiöto\[.i,dxov    'Ava(pXv6riog. 

N^GxroQ  Jiooa&svovg  0).vsvg. 

Ohne  weiteres  springt  in  die  Augen,  daß  die  Weih- 
inschrift (o.  S.  3)  nicht  nach  der  Fassung,  die  im  Psephisma 
vorliegt,  ausgeführt  wurde,  sondern  nach  dem  Areopagbeschluß 
(/");  sie  bietet  mit  diesem  17  f|  Aq.  tt.  ßovXi)  gegen  i]  ßovXij  1) 
s^  Aq.  :i.,  läßt  mit  ihm  das    Pränomeii  des  Vaters   T/tov  aus 


15)  FkXnkkl  in  der  Uiusclirift  AvÖiäöriv  (und  dabor  leider  im 
Index  nominum),  obwohl  sein  Majuskeltext,  wie  auch  Kavvadias  gibt, 
das  zweifellos  richtige  AveiäSriv  bietet.  Jener  fehlt  der  attischen 
Namengebung  ganz,  er  scheint  überhaupt  ausschließlich  in  Megalopolis 
heimisch  (IG.  V  2  Index);  Av6iäSr}g  dagegen  ist  mindestens  seit  dem 
5.  Jahrb.  vielfach  aus  Athen  belegt  (KiRcnNER,  Pros.  Att.  9333 — 9348,  vgl. 
9332a;  SuNDWALL,  Nachtrüge  /..  Pros.  Att.  S.  i2of.),  seit  dem  i.  Jahrb. 
bis  in  das  2.  Jahrb.  n.  Chr.  hinein  gerade  aus  den  vornehmsten  Familien. 
Zu  Ciceros  Zeit  ist  ein  Aveiädrts  Areopagit  (Cic.  Phil.  V  13.  Pros.  Att. 
9337,  dazu  SuNDWAi-L  a.  a.  0.);  er  kann  sehr  wohl  zu  der  seit  der 
frühen  Kaiserzeit  blühenden  Daduchenfamilie  der  Ti.  Claudii  aus  Melite 
gehören,  deren  Stemma  Dittenbekg  er  zu  IG.  III  676  aufgestellt  hat 
Die  zeitlichen  Verhältnisse  würden  gestatten,  in  Ti.  Claudius  Lysiades  I 
den  Keryx  unserer  Inschrift  zu  suchen.  KfiQv^  r.  f|  A.  ß.  [A]v6idd[rii 
IG.  III  1012  ist  dagegen  sicher  um  zwei  Generationen  jünger,  beweist 
aber  doch  die  Vornehmheit  des  Namens. 


12  Hiu:n<»  Kkil:  [71,  8 

uud  stellt  sii-h  vor  allem  zu  ilim  dureh  »las  Srlilubwort  i',(jcoc(, 
wofür  (las  l'sephisnia  ü^tTt]^  n'fxfv  bietet;  das  hat  auch 
HüKKSCii  (S.  455,  i)  heuu'rkt,  «»iiiie  stutzig  zu  werden; 
FkäNKKL  suchte  über  die  Schwierii^keit  mit  der  Anuahine 
hinwPü;zugleiteii,  daU  der  epidaurische  Steinmetz  die  gewcihn- 
liche  Formel  ageTt]^  {'rtxfv  für  das  seltene  j^pw«  eingesetzt 
habe;  als  oh  »iQcnu  etwas  Seltenes  in  liasenaufschriften  fiir 
Verstorbene  wäre.  Beiden  hat  die  unbedachte  N^eniaclilässigung 
lies  Taszesdatums  die  einfache  Erkenntnis  verschlossen,  daß 
der  AreopagbeschluB,  nicht  das  Psej)hisnia  in  diesem  I 'unkte 
zur  Ausführung  gekommen  ist.  Die  Autorität  des  Areopags 
steht  eben  über  der  der  beiden  demokratischen  Kc'irperschaften. 
Die  Antwort  auf  die  sich  geradezu  aufdrängende  Frage, 
warum  der  Areopag  die  Schlußformel  des  Psephisma  ver- 
schmähte, ist  leicht  gegeben.  Der  Knabe  starb  ^qo  cooui;,  tv 
Tf}  rrpwTj/  TOI'  ßioT'  rilixCa,  das  bedeutet,  da  er  die  civitas 
Romana  besaß  (d),  vor  Anlegung  der  toga  virilis;  die  An- 
leoruuüT  fand  in  der  Kaiserzeit  durchschnittlich  im  15.  ])i8 
16.  Jahre  statt.^^)  Dieses  Alter  hatte  also  der  junge  Lamprias 
nicht  erreicht.  AVenn  einen  solchen  Knaben  das  Psephisma 
:r«ff/j  c.Qtxi]  .  .  '/.uz  ai^Cuv  ri]g  xCov  :iQoy6viov  Öd^7/g  -Atzo- 
öyLr^iüvov  in)  nennt,  so  ist  das  eine  unerträgliche  Übertreibung; 
diese  hat  der  Areopag  nicht  mitmachen  wollen  und  statt  ihrer 
die  für  einen  hoffnungsvollen  Knaben  angemessenere  Wendung 
ifQ'xaöatvov  . .  a-xh  ^eyiötoyv  sknCöcov  (a^)  gebraucht.  Die  Wen- 
dung ist  sicher  stereotyp  gewesen  (Ttaldcc  tÄTCidoiv  ayad-Cjv 
(iVTS/6ii£vov,  I.  Pont.  Eux.  26,  17),  aber  hier  ist  sie  richtig 
angewendet  und  zweifellos  mit  der  Absieht,  die  widersinnige 
Fassung  des  Psephisma  zu  korrigieren.  Sie  'für  eine  jiuthe- 
tische  Floskel'  zu  erklären,  wie  Bikesch  es  tat,  die  eigentlich 
keinen  Raum  in  dem  überknappen  Stil  des  vTiouvriuariöuög 
habe,  heißt  die  Verhältnisse  völlig  verkennen.  Gerade,  weil 
die  AVendung  eine  Korrektur  sein  sollte,  mußte  sie  voll 
gegeben  werden.  Es  leuchtet  nun  vollends  ein,  wie  unzutreffend 


16)  Übersieht  bei  MÄK(vrAKDi,  Privatleben  d.  Römer  I  '   i28tf. 


71,8]  Beiträge  zuk  C4eschichtk  des  Aueopags.  i,> 

es  von  Fkänkel  war,  für  die  Einset-zung  der  Formel  aQsriig 
fvexsv  den  epidaurischen  Steinmetzen  verantAvortlich  zu  machen. 
Die  ägarij  hier  ist  ja  durch  jene  Phrase  :i(x6i}  agerij  —  xexo 
6fii](isvov  bedingt;  wer  diese  strich,  mußte  auch  das  ägsriig 
£V£X£V  beseitigen.  Das  verständige  Urteil  der  Areopagiten 
hat  daher  einfach  iJQaa  'den  Verklärten'  eingesetzt;  verständig 
war  das  V^erfahren  schon  deshalb,  weil  die  Formel  ccgstii^ 
evr/.Ev  gerade  auch  für  Weihungen  zu  Ehren  Lebender  im 
Gebrauche  war,  also  nicht  erkennen  ließ,  daß  es  sich  hier 
um  eine  Ehrung  post  mortem  handelte. 

Die  falsche  Auffassung  des  zeitlichen  Verhältnisses  der 
drei  Inschriften  ist  lediglich  durch  ihre  Reihenfolge  auf  der 
Basis  veranlaßt;  und  doch  ist  es  bei  Ehreninschriften  eine 
sewöhnliche  Erscheinuno-,  daß  aus  einer  Anzahl  von  sachlich 
zusammengehörenden  Dokumenten  dasjenige  die.  erste  Stelle 
erhält,  um  dessentwillen  die  andern  entstehen  mußten.  So 
steht  aus  dem  fünf  athenische  Urkunden  umfassenden  Akten- 
bündel (IG.  II  ^  360  =  n  1  5,  179b)  das  jüngste  vom 
J.  2>2  5:2^  vor  den  andern,  die  selbst  wieder  gruppenweise 
der  Zeit  nach  rückwärts  geordnet  sind.^')    Nimmt  man  nun  zu 

17)  Nicht  ganz  zutreffend  war  es,  wenn  Dittesbergkk,  Syll.  ■'  304 
o-erade  zu  dieser  Inschrift  bemerkte,  daß  jene  Anordnung  für  alle  Ehren- 
dekrete  gelte.  Bei  nur  zwei  Inschriften  steht  natürlich  die  Weihinschrift 
Tor,  hier  handelt  es  sich  um  eine  größere  Anzahl  von  Aktenstücken, 
die  insgesamt  in  zeitlich  aufsteigender  Abfolge  stehen.  Dieses  Zurück- 
gehen von  der  letzten  Gegenwart  in  die  Vergangenheit  erschwert  das 
Verständnis  der  Genesis  des  jüngsten  Aktes,  um  dessentwillen  die 
übrigen  Urkunden  doch  mitgeteilt  werden.  Zur  psychologischen  Erklä- 
rung hierfür  wird  man  an  den  auch  in  der  Sprache  hervortretenden 
Grundzug  griechischer  Anschauung  erinnern  dürfen,  die  'das  ngörsQov 
nghg  ijii&s  so  häufig  dem  iiqÖtsqoi'  t))  rpveei  [d.  i.  zugleich  tcÖ  XQOvm] 
vorangehen  liißt',  wie  C'lasskx  den  Vorgang  in  seinen  Betrachtungen 
über  den  Hora.  Sprachgebrauch  S.  200  formuliert  hat,  einem  Buche, 
welches  sehr  zum  Schaden  solider  Sprachkenntnis  —  nicht  nur  der 
epischen  Sprache  —  und  exakter  Interpretation  die  jüngere  Philologie 
dem  Staub  der  exilierten  Bücherreihen  zu  überlassen  scheint.  Stilästhetik 
nennen  sie,  was  auf  dem  Felde  der  homerischen  Probleme,  gepflegt 
von  bequemem,  dünkelhaftem  Besserwissenwollen,  an  mehr  oder  weniger 


14  Bruno  Kkii,:  |7',  8 

«lein  y.eitlichen  V»Mhältnis,  in  dem  das  xjjycpnJ^iu  zu  dem  vno- 
(^itnjt.iiCT(ö^ög  stellt,  die  oben  vorgeiülirten  formulen  Unter- 
jschiede  /wischen  den  beiden  Urkiniden  hinzu,  so  wird  man 
geneigt,  den  Satz  von  liruKSCii  umzukehren,  also  das  il^t'jqjLOua 
als  nQoßovXsv^ci  für  den  vTto^ivtiUaTiauoi^  auzusj)rechen;  doch 
darüber  wird  noch  zu  reden  sein.  Es  gilt  zunächst,  den  Akt 
des  Areopags  genauer  ins  Auge  zu  fassen. 

Der  vnoi-iinjnur lOuos. 
.Die  griechischen  Termini  vTCoiivij^uiTiö^oL;  oder  vzofivrj- 
^u(T((  geben  in  der  Amtssprache  der  Kaiserzeit  das  römische 
commentarii  wieder.  \V  esen  und  Einrichtung  dieser  Urkunden- 
gattung hat  WiLCKEN  ^'^j  an  der  Hand  ägyptischer  Papyri 
zu  lebendiger  Anschauung  gebracht.  Es  sind  die  amtlichen 
Tagebücher  römischer  Magistrate,  in  welche  die  einzelnen 
Amtshaudlungen  und  Amtsentscheide  des  betreffenden  Magi- 
strates in  der  Abfolge  des  Datums  eingetragen  oder  vereinigt 
wurden;  auch  fremde  Aktenstücke,  welche  sich  auf  die  gebuchten 
Amtshandlungen  bezogen,  konnten  Aufnahme  finden.  Die 
Eintragungen  in  die  Amtstagebücher  haben  entweder  die  Form 
kurzer  j>rotokollarischer  Notizen,  oder  sie  waren  in  ausführlicher 
liedc  gehalten.*^)    Der  Beamte  beglaubigte  sie  jeweils  einzeln 

dilettantischen  Betracbtungeu  und  Beobachtungen  da  em])orschieüt,  weil 
aus  Mangel  au  jiositiven  Kenntnissen  und  an  kritischer  Fähigkeit  oder 
Energie  der  Boden  liir  exakte  Forschung  zu  mager  ist. 

i8)  Fhilolog.  1894  LIII  80  tf.;  derselbe  verzeichnet  (irundziige 
u.  Chrestomathie  der  Papyruskunde  1  2,  59  die  an  jenen  Aufsatz  sich 
anschließende  neuere  Literatur,  aus  der  der  austukrliche  und  urteilsvoUe 
Artikel  von  A.  v.  Pkkmekstein:  Commentarii,  Reahnc.  IV  726  besonders 
genannt  sei.  WiLfKEN  (Philol.  a.  a.  0.  S.  112)  hat  die  Tagebücher  des 
Ptolemaios  Philadelphos  eine  Mischung  von  Geschäfts-  und  Hofjournal 
genannt.  Die  Fiktion  des  Pseudolnkian  (Demosth.  laud.  26),  bei  dem  es 
heißt  May.edovLxoTi  ivw^ojv  rfn-  ßccciXiKfig  oiMiag  vnoiivrmaGL  beruht 
auf  dem  Vorha)idensein  von  Tagebüchern  dieser  Art. 

19)  Die  Inschrift  von  Skaptopara  (Ath.  Mitt.  1891  XVI  2G7 ; 
CILUI  12336;  Dittkkbeeqkk;  Syll.  ^  888,  abgedruckt  auch  I.  Imp.  Rom.  I 
674)  ist  für  das  Wesen  der  Commentarii  doch  nur  mit  Vorsicht  zu 
verwenden.     Ich    finde    die   zugrunde   liegende   Situation   verwickelter, 


71,8]  Beiträgk  zur  Geschichtk  uks  Arropags.  15 

oder    suinmarisch    in   bestimmten   Zeitabschnitten   durch   sein 

als  die  von  Mommskn  begründete  Auffassung  sie  erscheinen  läßt.  Ist 
der  in  dem  leider  verstümmelten  2.  Teile  (102  ff.)  Redende  (ßonsl  St  (loi) 
ein  Agent  der  Kommune  oder  ein  zu  dem  statthalterlichen  Forum  ge- 
hörender Advokat  und  der  Angeredete  (inl  ai)  der  Statthalter,  an  den 
der  Kaiser  die  Gemeinde  mit  ihrem  Bittgesuch  gewiesen  hatte,  so  muß 
das  Ganze  allerdings  eine  an  den  Statthalter  gerichtete  Eingabe  oder 
die  Aufzeichnung  eines  solchen  mündlichen  Vortrages  sein.  Ist  es  das 
erstere,  dann  begreift  man  nicht,  welche  Audienz  mit  iitl  Tr]v  kvtsv^iv 
Tuvrriv  gemeint  ist;  denn  sie  hat  zweifellos  bei  eben  diesem  Statthalter 
stattgefunden  und  bezeichnet  diejenige,  in  der  die  Gemeinde  ihr  Anliegen 
vorbrachte  und  ihre  Sache  durchfocht.  Davon  wird  wie  von  Ver- 
gangenem gesprochen.  Was  soll  hier  eine  spätere  Eingabe?  Die 
Wiedergabe  eines  mündlichen  Berichtes  kann  es  auch  nicht  sein.  Für 
wen  war  er  bestimmty  Doch  nicht  für  den  Statthalter;  denn  er  hatte 
die  Audienz  ja  selbst  erteilt  und  mit  eigenen  Ohren  {tfjg  nccgovcrig) 
das  Gutachten  des  Diogenes  mit  augehört.  An  die  Gemeinde?  Dazu 
stimmt  doch  die  Anrede  inl  oi  nicht.  Das  ravtiiv  am  Anfang 
zeict  daß  wir  einen  Ausschnitt  aus  einem  Schriftstück  haben,  und 
zwar,  wie  der  ganz  rhetorisch  gehaltene  Eingang  beweist,  aus  einem 
von  einem  berufsmäßigen  Rhetoren  verfaßten  Texte;  das  wird  auch 
durch  das  Gesuch  an  den  Kaiser  bestätigt,  das  gleiche  Arbeit  zeigt, 
doch  wohl  von  der  gleichen  Hand.  Ich  halte  das  Stück  für  einen  Aus- 
schnitt aus  einem  TtQ06(pMvrixivM<s,  den  die  Gemeinde  dem  Statthalter 
entweder  schriftlich  zugehen  oder  durch  eine  Deputation  halten  ließ, 
um  den  Dank  für  seine  Entscheidung  auszusprechen.  Darin  war  der 
Gang  der  Ereignisse  geschildert:  'Göttliche  Güte  hatte  zu  dieser 
Audienz  gerade  den  Diogenes  kommen  lassen,  ein  Gott  die  Abgabe 
des  Gutachtens  vorgesehen,  wie  es  denn  schon  ein  Werk  der  gnädigen 
Tyche  war,  daß  der  Kaiser  selbst  gerade  an  Dich  in  unserer  Angelegen- 
heit schrieb,  der  Du  vorla-r  schon  eingegriffen  hattest.  So  aber  lautete 
das  Gutachten.'  Der  Statthalter  hat  den  i'assus  der  Rede,  der  das 
Verfahren  schilderte,  mit  zu  den  Akten  gegeben.  Die  Rolle  des 
Diogenes  erhält  zunächst  eine  Parallele  aus  [lulian.]  ep.  35i  den  ich 
GGN.  a.  a.  0.  erläutert  habe.  Der  Sprecher  dieser  Rede  tritt  vor  dem 
römischen  Beamten  genau  so  für  die  Argiver  ein,  wie  hier  Diogenes 
für  die  Gemeinde  der  Pantalioten.  Allerdings  ließ  sich  die  Stellung 
jener  Sprecher  zu  den  Argivern  und  dem  Beamten  ebensowenig  er- 
kennen wie  bisher  die  des  Diogenes  zu  den  Pantalioten  und  dem 
Beamten.  Aber  ein  unterschied  ist  vorhanden,  der  weiter  hilft.  Die 
Sache  spielt  238/39,  also  nach  der  Constitutio  Antoniniana.  Em  Mann 
von    ersichtlicher  Autorität,    wie   dieser  Tyrier  Diogenes,   hat  also  die 


i6  .  Bkuno  Kkii,:  (71. 8 

KVf'yinov  (recoguovi).^")  Dadurch  irowanuen  sit«  urkunileii 
mäßii^e  iiechtskrat't.  zu^liMrh  aucli  Publizität,  sie  wurden  von 
Amts  wecren  verötfontlicht,  das  hieß  nQOTi&h'ca,  und  dann  in 
amtlichen  Archiven  deponiert*'),  so  daß  auch  für  privaten 
Gehraiu'h  Abschriften  von  ihnen  genomnieji  werden  konnten. 
Diesen  Aintstaoebücliern  der  einzelnen  Beamten  nicht 
gleich,  aber  analog  gebildet,  müssen  die  Amtsjournale  gewesen 
sein,  welche  in  röniisclier  Zeit  von  Gemeinden  —  richtiger 
von  bestimmten,  die  Gemeinde  repräsentierenden  Körper- 
schafte»! —  geführt  wurden  und  gleichfalls  den  Namen 
commentarii,  vTtofivyuaTia^oi'  trugen.     Ihre   Existenz  war  bi.-< 

Civität  gehabt,  während  sie  dein  Fürsprechfr  der  Argiver  .sicher 
fehlte.  Ich  möchte  also  Jioyivi]?  b  Tvgios  o  «[arpwv  (  fjfiMv]  zu  bedenken 
geben.  Das  sind  genau  soviel  Buchstaben  wie  Momm.skns  nlguynccrixb',-] 
und  das  Pränomen  ^/(«r  in  dem  im  Namen  der  Gemeinde  gehaltenen 
Prosphonetikos  zu  finden,  kann  nur  natürlich  er.scheinen. 

20)  Daher  konnte  Aristides  (L  §  78)  von  einem  Spruche  (yvwaig) 
des  Prokonsuls  Severus  schreiben:  ravt  slnt  drjuoaicc,  ravt  ivifQutit 
Toig  vTfoiivrniccair,  wenn  ivtyQccifis  natürlich  auch  nur  er  ließ  auf- 
nehmen' bedeutet.  Sehr  charakteristisch  ist  übrigens,  was  sich  aus 
dem  Traum  des  Aiistides  und  besonders  seinen  daran  geknüpften  Er- 
wägungen über  die  Möglichkeit  der  Fälschung  der  vTtouvrjuuriauoi  durch 
Bestechung  erschließen  läßt  (§  80 — 82);  höchst  verdächtig  ist  es  daher, 
wie  er  von  dem  ihm  hernach  sehr  gefälligen  legatus  iuridicus,  der 
dem  Prokonsul  fast  ein  ygaiiuaTivg,  Kabinettschef,  war,  den  Verdacht 
der  Bestechung  abwälzt  durch  Nachrechnung,  wie  teuer  ihm  die  ganze 
Sache  durch  laufende  Ausgaben  zu  stehen  gekommen  sei,  nämlich  etwa 
500  Drachmen,  gerade  die  Summe,  die  ihm  der  Gott  im  Traume  als 
Bestechungssumme  angegeben  hatte.  —  Übrigens  hatten  natürlich  die  Ent- 
scheidungen des  Beamten,  auch  wenn  sie  in  das  Amtstagebuch  auf- 
genommen und  veröffentlicht  waren,  nur  für  die  Zeit  seiner  Amtsführung 
Gültigkeit,  weshalb  sich  Aristides  §  83  Gedanken  macht.  —  Der  Grund, 
weshalb  Aristides  sich  an  jenen  mächtigen  Mittelsmann  wendet,  war 
einfach  der,  daß  dieser  curator  Smyrnae  war,  ijv  inl  xfjg  öioixrjaems  ttj? 
tcbqI  Zluvnvav.  und  Aristides  als  Smyrnäer  Atelie  erreichen  wollte. 
Übrigens  vermeidet  der  Redner  wieder  den  griechischen  Terminus 
Xoyiari^g  (Real-Enc.  IV  1807),  weil  er  noch  puristischer  als  Philostratos 
ist,  der  einfach  'Povcpoi  rohg  E[LVQvaiovg  iloyiavi-vs  (v.  a.  p.  19,  25)  sagt. 

21)  WiLCKEN,  Alexandrinischer  Antisemitismus  S.  49  (Abh.  Sachs. 
Ges.  d.  W.  1909  XXVII):  vgl.  Pkki.sigkk,  Girowesen  S.  283. 


71,8]  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags.  17 

zu  WiLCKEN.s  Untersuchuugen  nur  für  den  athenischen 
Areopag  bezeugt,  bis  Mommsen  bei  Wilcken  (S.  i  10)  aus 
der  Inschrift  C'ILXI  3614  das  Genieindetagebueh  auch  für 
das  municipium  Caere  für  das  J.  1 13/14  ö-  Chr.  nachwies: 
descriptum  et  recognitum  factum  in  pronao  aedis  Martis  ex 
conimentario  quem  iussit  proferri  Cuperius  Hostilianus  per 
T.  Rustium  Ljsiponum  scribam.  Die  Anführung  daraus  trägt 
nach  Vorausschickung  des  Jahres-  und  Tagesdatuins  die  Über- 
schrift: Commentarium  cottidianum  municipi  Caeritura, 
inde  pagina  XXVII  Capite  VI. 

Dem  Osten  gehört  der  aus  Puteoli  stammende  Beleg  vom 
J.  174/5    über   die   Aratstagebücher   der    Bule    von   Tyrus    an 

(CJG.    5853,  20  =  IG  XIV  830,  DITTENBEKGER  10.  595;    I  I^P- 

Rom.  421)  c<7cb  ay.rcov  ßovXfig  axd'sCör,g  xä  /ICov  xoi)  frot-j 
T.-'^)  Ein  weiteres,  aus  einer  reingriecliischen  Polis  stammendes 
Beispiel  bietet  die  bisher  hierfür  nicht  herangezogene  I.  v. 
Priene  n.  246,  die  dem  3.  Jhd.  n.  Chr.  anzugehören  scheint: 
'H  ka^Ttgorcai]  TTonivscov  'Icovcov  nöXig  xccl  fj  xQ^arCör^])  ßovXi] 
Httl  TÖ  (piXo6£ßcc6rov  övi'sÖQiov  Tijg  ysQovöi'ag  ixEi^r^öav  xaxcc 
rä  Tiolkuxig  vtio  uvtcov  sv  y.oiva  81  V7to[ivt]^dro3i^  loyi- 
GrtBVTa  ml  ßovXsy.xh'jöiäi'  xal  diä  t/;r/gpK?iiia'Twv  vTfSQ  öjv 
i7COii]6aro  diä  töjv  aQi&v  tisqI  trjv  TtoXiv  avaXco^drav  AL 
Ävq^ijIlov)  Taxiavbv  ß  xxL,  d.  h.  Volk,  Rat  und  Gerichte 
von  Priene  liaben  den  M.  Aurelius  Tatianus  II  in  ihren  zu 
wiederholten  Malen  protokollierten  Plenarbeschlüssen  der  Bul- 
ekklesiai^^)   und   in  Volksbeschlüssen  geehrt  für  die  Aufwen- 

22)  Herübernahme  des  lat.  acta  ist  mir  aus  Inschriften  und 
Papyri  sonst  nicht  begegnet.  Als  frühesten,  mit  dem  tyrischen  etwa 
gleichaltrigen  Beleg  führen  die  Wörterbücher  lustin.  apol.  I  35  au. 
ccxxÜQiog  (beim  Heere)  ist  für  143/4  durch  BGU.  HI  741,4  belegt;  für 
ccxxovöiQioi  weist  aus  späterer  Zeit  Wessely,  Wien.  Stud.  1902  XXIV  123 
noch  wenige  Stellen  nach.  Der  Beamtentitel  wurde  natürlich  leichter 
übernommen.  Zur  Zeit  des  M.  Antonius  scheint  in  Tyrus  noch  die  rein 
hellenistische  Ordnung  des  Urkunden wesens  bestanden  zu  haben: 
loseph.  Ant.  XIV319;  s.  A.  Wilhklm,  ßeitr.  z.  gr.  Inschriftenkunde  S.  245. 

23}  Über  die  sonst  unbelegte  ßovlsxxXrißlcc  eine  Vermutung  unten 
S.  33;  loyia^ivtci  heißt  '(ihm)  in  Anrechnung  gebracht',  dann  gebucht. 

Phil.-hist.  Klasse  1919.    IM.  LXXI.  3.  2 


1 S  BurNO  Ki-.ii.:  [71, 8 

«hiu^oD,  die  ergelcgi'ntlicli  seiner  Aniterverwaltunt^  (am  Sehlusse 
der  Insehrit't  spozitiziert)  tiir  dif  (leineiiide  o^eniiicht  hat. 
Hier  stehen  dii'  vTroinnjuccr«  der  Bidekklesiai  den  ilnjrpCönatcc 
iiatürlii'h  von  Kat  und  \'(>11\  genau  so  gegenüber,  wie  der 
v:joi.ivtjpic(Tiöu6i:  des  Areo])ag  neben  dein  ilni(pi()(.m  in  unserer 
Insclirilt  sti>ht.  Eine  anah)ge  Beobachtung  uiaclit  nian  end- 
lich auch  HU  den  Urkunden  des  Thessaliselien  Bundes  aus  der 
Zeit  nach  der  Neuoninuug  der  Provinzen  durch  Augustus. 
Hill-  wird  bei  (h'ii  Bescliliissen  der  Buiulesversamniluutr  der 
6in'£d()oi  zwischen  il.>t'j(pn)U«  und  vitonvifHixxKSaöi^  geschieden. 
So  bezeichnet  sich  der  lauge  Bundesbeschhiß  (Z.  i  ,s  iöoi.tv 
Toi^  ("JeeoaXaig)  aus  Larisa  IX  2,  507  seilest  als  i^>/'9nf?^a«'''j, 
dagegen  bietet  62 7  Xlxiov (^)  v[ibg  \  'jQiOto(p\  -**)  Yjqcog  j  xjard 
Tov  T(')[  j'  I  6]i'i'sdQioi>  [vTio  ij\rn]uaTial^m'  |  x(d  y.a\ru  rh.  Die 
beiden  Urkuudengattuugen  stehen  hier  nicht  wie  in  Athen 
zueinander.  In  Athen  werden  sie  von  verschiedenen  Körper- 
schaften ausgestellt,  Areopag  und  Ekklesie,  hier  von  einer  und 
derselben,  den  Syuedroi.  Die  letzte  Zeile  der  Inschrift  wird 
man  nach  athenischem  Muster  zu  ergänzen  hfiben:  hui  xcc\rcc 
rö  [ipy]\q:>i6{ia  rov  dj/uoi'  (vgl.  624  tljrj^töa^ivov  rov  dr'jixov) 
mit  oder  ohne  den  Zusatz  tov  jl(iQ(s)i.6uiu)i'  (vgl.  617.  618), 
so  daß  nun  das  Nebeneinander  von  v7rofivy]iiarujuöi;  des  Bun- 
des und  il)ri(piö^iu  der  Gemeinde  eine  noch  genauere 
Parallele  zu  Athen  bildet.    Der  Unterschied  ist  aber  der,  daß 

24)  Z.  33  [ävct  yg]d[ti}]ui  to  [ij))/ 9 ]'[<»."]"  [tovjto  sig  v.iova  Xi^i- 
vr][v],  die  Lesung  ist  an  sich  sehr  unsicher,  steht  in  ihrem  Tenor  aber 
völlig  fest,  besonders  auch  durch  die  Formel  si$  -tiiovu  Xid-ivT]v;  s.  u. 
S.   24. 

24a;  Kkkn  hat  'AQiCTO(p[wv  ergänzt,  allein,  wenn  das  von  ihm  ein- 
gesetzte vloa  richtig  ist,  hat  hier  der  eigentliche  griechische  Name  des 
Vaters  in  der  üblichen  Weise  als  Koguomen  nach  dem  römischen  Gen- 
tilicium  gestanden.  Die  Zeile  wird  dadurch  notwendig  etwas  länger 
als  die  vorhergehenden;  das  erklärt  sich  aber  aus  der  Absicht  des 
Steinmetzen,  vor  dem  zu  isolierenden  ijQas  mit  voller  Zeile  zu  schließen. 
Übrigens  handelt  es  sieb,  v.^enn  man  den  in  Thessalien  häufigen  Namen 
AgiaTO(p[iXov  einsetzt,  nur  um  eine  Stelle,  <lenn  Z.  5  steht  \uuv]  mit 
liXov]  auf  gleicher  Vertikale. 


71,8]  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags.  19 

sich  so  in  Thessalien  zwei  von  verschiedene)!  Instanzen,  Bund 
und  Gemeinde,  ausgehende  iffr^cpiaacctu  ergeben,  während  in 
Athen  anscheinend  dem  Volksbeschluß  nur  der  v:toav)]^ia- 
TLö^ög  des  Areopags  gegenübersteht.  Auf  die  Frage,  wie  nun 
die  beiden  Urkundenarten  des  Synedrions  formal  geschieden 
waren,  wird  weiter  unten  zurückzukommen  sein. 

Die  vorgeführten  lassen  eine  weitere  Verbreitung  der 
Führung  von  Amtstao-ebüchern  in  den  örtlichen  Verwaltungren 
zur  Kaiserzeit  erschließen,  als  unsere  epigraphische  Überlie- 
feruns: —  denn  die  literarische  zählt  hier  nicht  —  zu  er- 
kennen  gibt.  Die  Ursachen  ihrer  Unergiebigkeit  sind  das 
Festhalten  an  den  aus  der  Zeit  der  freien  Polis  überkommenen 
Beurkundungsformen  und  die  Spärlichkeit  umfangreicherer 
Aufzeichnungen  über  Handlungen  der  Gemeindeverwaltung 
überhaupt;  die  Steinurkunde  war  zu  kostspielig  für  die  ver- 
armten Gemeinden,  dazu  war  das  Beurkundungswesen  durch 
Anlage  staatlicher  Archive  seit  der  hellenistischen  Zeit  um- 
gestaltet, wodurch  für  die  Erhaltung  der  Urkunden  auf  andere 
Weise  als  durch  die  Dauerhaftigkeit  des  Beschreibmaterials 
vorsfesorgt  war.  So  ist  uns  vollends  eine  ins  einzelne 
gehende  Vergleichuug  der  Beamten-  und  Gemeindetagebücher 
versafft,  doch  läßt  die  athenische  Urkunde  in  zwei  wichtigen 
Punkten  Übereinstimmung  zwischen  den  beiden  Gattungen 
erkennen.  Ich  spreche  nicht  von  der  Datierung  —  sie  ver- 
steht sich  bei  Urkunden  von  selbst  — ,  sondern  von  der  wich- 
tigeren Tatsache,  daß  den  vTCot-ivriuaTLö^oi  des  Areopags  auch 
fremde  Aktenstücke  eingefügt  wurden  und  ihnen  Publizität 
zukam.  Den  Motiven  für  den  Areopagbeschluß  fehlt  jeder 
Eigenname,  der  erkennen  ließe,  auf  wen  der  Beschluß  sich 
bezieht.  Der  Geehrte  heißt  einfach  vsavucg  diccörjaöruTos,  als 
Adressaten  werden  allgemein  yovHg  und  TtccTtTCog  genannt; 
das  war  nur  möglich,  wenn  dem  v7toiivr]^aTi6uös  das  j^');g;t(?(ia 
beigelegt  war,  durch  das  er  veranlaßt  wurde.  Die  Weihinschrift 
selbst  wird  vollständig  gegeben,  aber  nicht,  um  die  Motive 
zu  ergänzen;  daß  sie  hierzu  tatsächlich  nicht  dienen  sollte, 
geht   einfach    daraus    hervor,   daß    sie   nicht   nur  den  Namen 


20  Bruno  Kkii,:  (71, 8 

der  Mutter  iiiclii  na('hl)riii<;t  —  der  wäre  bei  Nonuunjj;  des 
Vaters  vielleicht  zu  entbelireii  — ,  sondern  iiuch  den  des  (iroß 
Vaters  ausläßt,  so  daß  der  Ttdnjioi^  völlif^  unbestiinnit  bleibt. 
Der  vollständiü^e  Text  der  Weihuu^-  soliie  abtir,  wie  schon 
ge!=<agt,  die  Abweichunjjfen  von  der  im  Psephisnui  vor<^eschla- 
p;enen  Fassung-  festlegen.  Diese  Korrektur  setzt  also  ebenso 
wie  die  Uuvollstäudifrjieit  der  Motive  das  Vorhandensein 
eines  Selirit'tstückes  bei  den  Akten  voraus;  oImk;  dieses  wäre 
das  Fehlen  der  Namen  eine  nicht  «Geringere  urkundliche  Un- 
möglichkeit gewesen,  wie  es  die  Auslassung  des  Datums  sein 
würde.  Zweitens  die  Pu])lizität:  Dieses  skizzenliafte  Protokoll 
wird  von  den  leitenden  Beamten  des  Areoi)ags  auf"  ausdrück- 
lichen Beschluß  der  Körjjerschaf't  mit  dem  Staatssiegel  ver- 
sehen; das  entspricht  dem  dvsyi'coi'  oder  recoguovi  in  den 
V7iouv}j^aTiö(ioi  der  Beamten.  So  beglaubigt  geht  es  an  die 
Eltern,  uiid  die  Familie  darf  es  in  Stein  einbauen  lassen  und 
ötfentlich  ausstellen;  der  Areopag  übergibt  also  den  vno^vY 
fiatiöiiog  den  Interessierten  zum  jtQOTtd'i'vuL.  Das  ist  altgrie- 
chische Geptlogenheit.  Die  Mehrzahl  der  athenischen  Ehren- 
dekrete  ist  ja  auf  eigene  oder  so  gut  wie  auf  eigene  Kosten 
der  Geehrten  in  Stein  eingegraben  worden. 

Endlich  noch  eine  stilistische  Übereinstimmung,  die  sich 
bei  dem  Vergleich  der  syntaktischen  Form  der  beiden  athe- 
nischen Aktenstücke  aufdrängt.  Das  Psephisma  wahrt  die 
alte  Periode,  die  mit  dem  solennen  t^rsid)}  den  die  Motive 
gebenden  Vordersatz  einleitet:  iTisidij  6v^ß6lh]xsv  .  .  .  deÖö- 
yß-ai.  Der  v^toavriiiariöiiog  kleidet  dagegen  die  Motivierung 
in  die  kürzere  Form  des  Genet.  absol.  ^srrjX^axotos  .  ■  •  vecc- 
VLOv  .  .  .  ccvadstvai;  dem  Participium  ist  das  den  ganzen  Satz 
regierende  föol«  vorausgeschickt,  die  alte  feierliche  Periode 
also  gesprengt.  Die  in  Papyri  erhaltenen  v7to^vrj^uai(ipioC 
zeigen  zwei  Stiltypen.  Der  eine  ist  der  des  in  kurzen  Haupt- 
sätzen erzälilenden  Referates.  Er  findet  sich  bei  einfachen 
Angaben  über  laufende  Tagesereignisse  (z.  B.  Wilcken,  Grund  - 
Züge  I  2  n.  41J  und  in  den  Akten,  die  das  nackte  Protokoll 
der  Verhandlung  in  Frage,  Antwort,  Urteil  geben;  diese  Form 


71,8]  Beiträge  zi;u  Geschichte  des  Areopa(}S.  21 

ist  nach  dem  bisher  vorliegendeu,  nicht  kleinen  Beurteilungs- 
material   entschieden    selten.    Der    zweite  Typus    wird   durch 
das  Einsetzen  mit  einem  Genetivus  a))solutus   charakterisiert, 
in   dem   die   Nebenumstände   vorausgeschickt   werden.    Er  ist 
für  diese  Fälle  durchaus  als    der  normale  zu  bezeichnen,  zu- 
mal auch  jene  einfachen  Verhandlungsprotokolle  vielfach  mit 
dieser  Konstruktion    erööhet   werden.    Eine   ganze   Serie  von 
Mu.sterbeispielen  enthält  der  Pap.  Cattaoui  (Arch.  f.  Pap.  III  57) 
vom  ersten  Akt  an:  JovxCug  May.Qivug  Öiä   ^avsCov  yj/'ropog 
siTiovörjg  —  ylovTtog  siTcev,    und  selbst  mit  zweitem,  in  einen 
abhängigen.  Satz  eingeschobenem  Gen.  abs.:  Xgcöndos  dtä  (Pi- 
/.o^evov    QTjroQO^     einovör^g    —    övvsXrjlvd'svat   'löiötoQG)  .  .  . 
uEtcc  ruvza  Öh  6TQar6v6aj.Levov  ty.eivov  —  E6%ri'Ktvai  . . .,    dva- 
yvcoodsLöTii;  dia&i]X}]g  'lovXtov  .  .  .  AovTtog   laXi-jöag  .  .  .  alTCsv; 
dabei   hängt   von  siTtovörjg  eine  große  Periode,  mit  Infinitiv- 
und  0T< -Konstruktion,  sowie  einem   Relativsatz  ab,  so  daß  die 
ganzen  absoluten  Konstruktionen  slTtovörjg  —  ävccyvcjöd'scörig 
neun  Zeilen  (IV  2 — 10)  umfassen.    Noch  schlagender  ist  viel- 
leicht BGU.  136,50*.  BsQvtiziavov   QriroQog   eijiövrog  Ilsv^tu 
.  .  .  tsteXsvTiiy.svai,  hutu  ds  tovg  vöuovg  .  .  .  övvtETccxevat  .  .  ., 
(XTiod^ccvövTog  de  rovg   avriöCxovg  .  .  .  ivöeGiXSVta  .  .  .  civttXa^- 
ßavoatvovg  [i)]xE    Xoyovg  xetai&ai   fxrjre   yQa(fi]v  .  .  .   üuruxs- 
)[(OQiyJvaL  pLrjTE  tQoq^ug  .  .  .  xEyoQr^xivui  t  zliovvßCov  %aC  'Aqtio- 
'/iQCCTiGJVog  Qrjr(6Qoni)  ccjtozQivaasvcov  .  . .  TioXXä  y.araXsloiTctvui., 
t,riueCug  ovv  —  ai,LOvVj   et   ßovXsTUi  .  .  .  xara%£LV   rä   aargmu, 
7iaocc8oyJ]V    yareöd-UL  .  .  .,    ÖLaßsßcaov^avov   rov   IJaöCavog  ^lij 
yeyovevuL   tbv  TCureQCi  .  •  •  |  KluvÖiog  .  .  .:  '0  rov  vo^ov  xtA., 
wo  das  Verbum  finitum  slTtsv  ausgelassen  ist.    Ich  habe  diese 
lange,  über  lö  breite  Zeilen  umfassende  Periode  hier  im  Um- 
riß  ausgeschrieben,  um  zu  zeigen,  daß  gerade  wie  in  den  Pse- 
phismen    der    Vordersatz    mit    snatÖri   ins   Ungemessene    an- 
schwellen kann,  so  im  hypomnematischen  Stil  die  Partizipial- 
konstruktionen    außerordentlich   weite  Rahmen  für  Einschub- 
sätze jeder  Art  abgeben  können. 

Für  weitere  Beispiele  verweiseich  auf  POx.  40, 4 ;  2  3  7  VII 20 — 
25  ( Petition  der  Dionysia),  BGU.  36 1 II 1 2,PTebt.  2g  i ,  2.  Die  Vor- 


21  lliujNo  Kkii,:  [71, « 

lielje  für  (lif  l'artizipiulkonstruktioii  i^elit  so  woit,  ilaB  sio  selbst  in 
die  Sentenz  des  Kichters  Einlaß  eiliillt:  Arch.  f.  Pap.  III  ,)4i  'de- 
monstrnntae  (1.  -te)  sKscrpfo  fuo\  was  die  'fofnii'ft'u  mit  vno- 
ötxvvi'To^  Tov  vnl)  (Jov  lUn'ijyoQoi'f^ie'vov  wiedergibt  (.^22  n.  Chr.X 
während  der  Entscheid  natiirlieh  in  feierlicher  Korni  erfolgte,  wie 
PLips.  38  1  16  bestätigt,  wo  die  Sentenz  des  Präses  Thebaidos 
mit  sjidöi]  einsetzt.  Nirgend  bin  ich  einem  Eingiing  von 
Protokollen  mit  vollem  Nel)ensatz  begegnet.  Es  findet  sich  die 
Vermischung  l)eider  Typen  nnd  sie  ist  besonders  beweisend: 
BGU.  .H7  (=  Wti.ckkn,  (^ruudzüge  I  2  n.  76)  i]a7ia6c(To  (der 
Oberpriester^  roi'  Xa^iTtfjoTaTov  {jye^wva  x(d  ufrä  rccvra  .  .  . 
IlavecpQi'f^iUFi  .  .  .  :TQoaK'yay6i'Tog  .  .  .  xcd    a^uoduvTog  ...  a/'« 

öovrog  Tf   Tyv  .  .  .  f:tiöroXijV  .  .  .,   ejrvd-^ro  ...  fl Elit6v- 

Tcov  .  .  .  Hl'ui  I  OrA;r/(»s'|  .  .  ixelfvösi']  ebenso  geht  in  der  nicht 
mehr  sicher  zu  ergänzenden  Stelle  BGU.  5  II  18 — 22'-'")  die 
Konstruktion  von  einem  xaTy'ivrr^öav  in  ahriöaiievcjv  .  .  .  xcc\ 
TOV  "HQcovoi;  d^icböavrog  über.  So  fest  sitzt  eben  die  Parti - 
zipialkonstruktion  im  hyponmeuiatischen  Stil,  daß  die  Proto 
kollführer  unwillkürlich  in  sie  hinübergleiten.  Ein  inschrift- 
liches Beispiel  endlich  bietet  der  bekannte  v7rofivy]^ari.6^6^ 
des  Königs  Antiochos  —  welches,  steht  nicht  fest  —  in  Sachen 
des  Dorfes  Baitokaike^");  er  beginnt:  TtQoöavfx^^vTog  ^lot  :t£qI 
tfjg  ij'sgysLag  dsov  Zlihg  Baito\y.aiy.')}g\  izQid-i]  GvyiooQiid-fivai 
xtA.  Dies  Zeugnis  behält  seine  Kraft,  wie  man  auch  die  von 
Laqueuk  aufgeworfene  Echtheitsfrage  dieses  Dokuments-') 
beantworte;  denu  es  handelt  sich  hier  um  eine  Stileigentüm- 
lichkeit einer  Urkundengattung,  und  so  lange  diese  besteht, 
wird  jene  beobachtet  werden,  in  echten  Stücken  kaum  strenger 
als  in  unechten,  wenn  anders  dem  Fälscher  daran  liegen  muß, 
auch  durch  die  äußere  Form  seinem   Machwerke  den  Schein 

25)  Zur  Lesung  von  Z.  19  s.  Preisigkk,  Berichtigungsliste  der  griech. 
Pap.  S.  7. 

26)  DiTTENBERGER  10.  202;  Dkj^sau,  luscr.  Liit.  sel.  u.  540;  Ijeideg 
überholt  durch  LrcAs,  Griech.  u.  lat.  Tnschr.  aus  Syrien  usw.  S.  21 
(Sonderabdruck  aus  Byz.  Zschr.  1905,  XIV)  nach  neuer  Leauiig. 

27)  S.  den  Exkurs  u.  S.  96. 


71,8]  Bkitraüe  /jVR  Geschichtk  dks  Areopags.  2^ 

der  Echtheit  /u  gebeu.  Ich  habe  deshalb  auch  die  Papyrus- 
zeugnisse ohne  Datum  hissen  können;  sie  fallen  sämtlich  in 
die  Zeit  vom  1.  bis  4.  Jhd.  und  zeigen,  daß  der  Hypomnema- 
tismos  der  athenischen  Körperschaft  dem  des  römischen  Be- 
amten auch  in  stilistischer  flinsicht  entsprach.  Natürlich  ist 
die  absolute  Partizipialkonstruktion  als  Kürzungsform  der 
Hypotaxe  für  das  Protokoll  die  gegebene  Ausdrucksweise, 
aber  sie  ist  doch  nicht  die  einzig  mögliche,  wie  die  daneben 
stehende  seltenere  Parataxe  beweist.  Daher  mußte  auch  auf 
die  Übereinstimmung  zwischen  den  Dokumenten  aus  Athen 
und  Ägypten  hingewiesen  werden,  die  insofern  an  Bedeutung 
gewinnt,  als  die  Kechtsquelle  die.ser  Dokumente  eine  verschie- 
dene ist.  Das  führt  auf  die  Form  des  Zustandekommens  des 
areopagitischen  Hypomnematismos. 

Die  Rechtskraft  der  ägyptischen  Akte  dieser  Art  tließt 
aus  dem  Erkenntnis  oder  Befehl  (xQivsLv,  xelevscv^  Hytiv^ 
unocpaCvEöQ-ca )  des  einzelnen  Beamten  in  Ausübung  seiner 
magistratlichen  Potestas;  sie  sind  für  seinen  Amtsbereich  und 
zunächst  nur  für  seine  Amtszeit  bindend.  Der  athenische 
Akt  beruht  auf  der  Ausübung  des  verfassungsmäßigen  Rechtes 
der  Körperschaft,  entweder  selbständig  oder  in  Verbindung 
mit  anderen  staatlichen  Organen  für  die  (resamtgemeiude 
bindende  Bestimmungen  zu  treffen,  die  zeitlich  in  ihrer  Rechts- 
wirksamkeit nur  durch  Beschlüsse  der  gleichen  Instanzen  be- 
schränkt oder  aufgehoben  werden  könnnen,  falls  nicht  — 
das  ist  für  die  römische  Zeit  natürlich  hinzuzufügen  —  die 
Reichsregieruug  kraft  ihres  Souveränetätsrechts  eingriff.  Da 
der  Wille  einer  Körperschaft  nur  durch  Abstimmung  welcher 
Art  auch  immer  festgestellt  werden  kann  und  sich  in  der 
Form  eines  Beschlusses  darstellt,  ist  der  vTto^vriüurid^ög  des 
Areopags  ein  Beschluß:  föo^^t/  steht  da.  Also  ist  die  Bezeich- 
nung Ööyaa  in  der  Formel  '/mxdc  tu  do|arr«  reo  .  .  .  övveÖQCo) 
(rfj  si,  'J.  7t.  ß.);  {Totg)  'AtJEüTtayLtuig  oder  doyaccti  rCbv  .  . 
'AQeo:it<.yLTG}v  (tov  awsÖQiov)  terminologisch  durchaus  genau, 
dagegen  ist  festzuhalten,  daß  die  daneben  stehenden  Wen- 
dungen   ^//9^iö,u«Tt    TifS   £^  'A-  7f-  ß-  oder   i'ri(pL6au,hn]g  rfjs  i^ 


•^4  Hki:n<)  Kkil:  [7>,  ^ 

"./.  ,T.  ji.-^)  lormal  unrichtig'  sind,  «(.'im  sio  suclilieli  auch  ver- 
Btändlich  sind,  da  ja  jedes  Abstininu'n  in  einer  Körperseliaft 
zu  dieser  Zeit  mit  ^^((fnXtOdui  bezeielinet  werden  kann.  Schon 
weil  /,weifelh)s  «/'»/qpiö//«  dem  l'oiinelh^n  N'ollvHbeschlusse  vor- 
behalten war,  wird  diese  an  sicli  aucli  seiteuere  J^enennunüf 
eines  Areopagbeschlusses  uiclit  dem  amtliehen  Gebranclie  ent- 
sprechen. Man  darf  dessen  um  so  sicherer  sein,  als  döy^ia 
und  övvtd{)ioi'  seit  der  lielleuistischen  Zeit  zusammengehörig-e 
Bezeichnungen  sind  und  in  Athen  niemand  auf  die  Benennung 
6vveö^L0v  statt  des  uralten  und  stets  allein  oftizieil  gebliebe- 
nen ßoi'XYj  für  den  Areopag  kommen  konnte,  Avenu  nicht  in 
der  amtliehen  Bezeichnung  der  Beschlüsse  des  Areopags  als 
döyficcra  eine  Verleitung  zu  der  ungenauen  Benennung  der 
Körperschaft  selbst  gelegen  hätte.  So  heißt  es  denn  nie  ipritfiöafit- 
i'or>  Tof'  owaögCov  x.  J^.,  wohl  aber  xuxu  ri\  66i,avr(c  t/}  ,  .  . 
ßorkij.  Im  Thessalischen  Bunde  heißt  der  Beschluß  des 
ijvi'iÖQiov  allerdings  4'ijq)iöu«  (o.  S.  i8j;  allein  in  dieser 
Bundesverfassung  stand  neben  dem  övvsÖqlov  keine  ßovh'j^ 
die  zusammen  mit  einer  Ekklesie  auch  ein  in^cpia^u  beschlie- 
ßen könnte;  in  ein  und  demselbeu  Staate  Avar  die  Scheidung 
der  Terminologie  zwischen  zwei  bestehenden  Ratskörperschaf- 
ten geboten.  Der  Areopag  wird  es  gemeinhin  bei  einem  pro- 
tokollierten Beschluß,  also  bei  dem  vjionv)]^ariö^6g  haben 
bewenden  lassen,  zumal  die  Sparsamkeit  mit  inschriftlicher 
Dokumentierung  im  allgemeinen  Zuge  der  Zeit  lag;  daher 
haben  wir  keine  weiteren  Beispiele  erhalten,  wie  ja  auch  die 
Zahl  von  athenischen  Psephismeu  aus  römischer  Zeit  für  uns 
eine  äußerst  geringe  ist.  Sollte  aber  einmal  ein  Areopag- 
beschluß  in  feierlicher  Form  ausgefertigt  werden,  so  konnte 
es  nur  unter  dem  Namen  eines  döy^u  geschehen. 

Diese  Unterscheidung  zwischen  der  Terminologie  der  Ur- 
kunden der  beiden  athenischen  llatskörperschaften  wird  durch 
die  Sprache  des  Hypomnematismos  selbst  bestätigt.  Das 
Präskript  nach  dem  Jahresdatum  lautet:  ai]vbs  Bor]dQO^i(bvog 

28)  [Die  Belege  für  die  verschiedenen  Formulierungen  verzeichnet 
Larx^eld,  Handbuch  der  griechischen  Epigraphik  II  S.  86i.J 


7',^]  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags.  25 

TTf^^T)]  untovxog'  jQtiO'i  Tcdyog  sv  'Elevöslvi'  ?.öyovg  btioli']- 
6axo  Tet^oö&e'vrjg  Kakliöxo^dxov  'Ava(pkv6Ti,0£.  Das  einfache 
Tagesdatum  gegenüber  dem  doppelten  im  Psephisma  (o.  S.  5) 
ist  berechtigt;  für  den  Areopag  kommen  die  Prytaniemonate 
nicht  in  Betracht,  da  sie  auf  der  Geschäftsordnung  der  ande- 
ren Körperschaft  beruhen.  "AQSiog  Tidyog  iv  'EXsv^stvi  hat 
sein  Entsprechen  in  Psephismen,  besonders  hellenistischer 
Zeit:  ßovh)  ev  ßovXsvrrjQLC)  (xal  ix  tov  ßovXsvttjQCov  iv  tä 
EktvaivCa)  und  sxx?<.y]6ia  iv  TlfiQaist^  allerdings  weicht  die 
rein  geographische  Angabe  von  dem  älteren  Gebrauche  ab, 
der  iv  rä  'EXivöLvCa  forderte"");  aber  das  war  sicher  spätere 
Ausdrucksweise,  denn  so  steht  auch  in  dem  schon  oben 
( Anm.  10)  berührten  Psephisma  IG.  111  2,  (=  ed.  min.  1072  [hier 
falsch  ergänzt])  3  hadrianischer  Zeit:  ßovli]  Uqu  iv  'EXsvöeivi^ 
weil  der  Name  der  ehemals  eximierten  Polis  Eleusis  für  den 
Athener  nur  noch  den  Begriff  des  Isqov  erweckte.  Unerhört 
ist  aber  nicht  nur  in  athenischer  Amtssprache,  sondern  über- 
haupt für  die  Terminologie  der  Beschlüsse  griechischer  Kör- 
perschaften die  Formel  für  den  Antragsteller :  löyovg  ETCoirjöaxo. 
Das  stammt  aus  dem  Formular  des  römischen  Senatus  con- 
sultum,  ist  die  in  der  ViERECKschen  Sammlung  immer  wieder 
belegte  Übersetzung  von  verba  fecit  (fecerunt). 

Ganz  ebenso  unerhört  in  sonsticrer  griechischer  Amts- 
spräche  ist  die  Angabe  über  die  Wahl  der  Abordnung,  wel- 
che dem  Betroffenen  das  Beileid  der  Gemeinde  aussprechen 
soll:  y.ar^ördd-i]  uigsöLg  statt  der  im  Psephisma  gewahrten 
alten  Formel  TtQe'ößstg  tigi^riöav  (o.  S.  11).  Ich  habe  seit 
etwa  zwanzig  Jahren  auf  das  Vorkommen  von  aiQSöig  in  der 
Bedeutung  von  'Ausschuß'  oder  'Kommission'  geachtet  und 
nur  ein  Beispiel  gefunden,  auf  das  ich  bei  Immischs  Sonder- 
behandlung des  jjseudoplatonischen  Axiochos  aufmerksam 
Avurde^'^)  (367  A):  xul  nag  6  tov  ^siQaxCöxov  Tiovog  iörlv 
v:xb    6(0(pQ0VL6xäg    xul    ti]v    inl    tov?    viovg  aiQtijiv  xfig 

29)  [Andoc.  de  luysteriis  iii;  IG.  II  431  (==  ed.  min.  848),  30 — 31.] 
30    [Otto  Im.misch,  Philologische  Studien  zu  Plato,  I.  Heft:  Axiochus 
S.   i4f.] 


2b  ÜRUNO  Kkil:  l7«.*< 

f^  A^eiov  :inyi)V  ß o x' k yj •; .  also  von  eiiKMii  Ausschuß,  hier 
dem  Erziohuugsausschuß,  wieder  dos  atliouischeii  Areopa<>;s. 
Das  ist  kein  Zufall,  vielmehr  stellt  sich  aiQeßi^  in  dieser  Be- 
deutung als  ein  spezitischer  Terminus  aus  der  Geschät'tst)r(i 
iiung  und  Sprache  des  athenischen  Areopags  dar.  Die  Son- 
derbarkeit des  Ausdrucks  wird  noch  durch  das  Verb  erhöht; 
denn  auch  xcciftGrcivai  von  der  Bestellung  einer  (Gesandtschaft 
ist  der  Terminologie  der  alten  Polis  völlig  fremd.  Wenn  das 
Psephisina  die  alte  amtliche  Ausdrucksweise  wahrt,  der  amt- 
liche Hypomnematismos  dagegen  eine  andere  wählt,  so  liegt 
darin  ein  beabsichtigtes  Abweichen  der  Bureausprache  des 
Areopags  von  der  der  alten  Verfassung  uuverkennl)ar  ausge- 
sprochen. 

Als  die  Römer  dem  Areopag  erhöhte  Bedeutung  in  der 
athenischen  Kommunalverfassung  gaben,  haben  sie  zugleicli 
seine  Geschäftsführung  neugeordnet  und  umgestaltet.  Deu 
Beweis  liefern  dafür  das  romanisierende  löyovg  eTtoirjöuTo 
nicht  weniger  als  die  Einführung  der  Beurkundung  durch 
den  Hypomnematismos,  die  der  demokratischen  Verfassung- 
völlig  fremd  ist.  Das  führt  zum  dritten  Teile  der  Interpre- 
tation unserer  Urkunden,  der  die  aus  ihnen  sich  ergebenden 
Erkenntnisse  für  die  Organisation  Athens  zur  Rönierzeit  in 
die  bereits  bekannten  Tatsachen  einzureihen  liat. 

Verfassungsrechtliche  Folge  runden. 

Die  Darlegung  der  den  Urkunden  zugrunde  liegenden 
Voraussetzungen  oder  in  ihnen  enthaltenen  Angaben  über  die 
athenische  Kommunalverfassung  erfordert  eine  kurze  Revision 
unserer  Kenntnis  von  dem  gegenseitigen  Verhältnis  der  drei 
in  Athen  bestehenden  Körperschaften.  Vorweg  sei  bemerkt, 
daß  das  Material  für  verfassungsrechtliche  Untersuchungen 
des  römischen  Athen  besonders  unzulänglich  ist.  Einmal 
sind  die  auswertbaren  inschriftlichen  Zeugnisse  —  die  litera- 
rischen kommen  kaum  in  Betracht  —  an  Zahl  äußerst  ge- 
ring, zweitens  ist  ihre  Ausdrucks  weise  vielfach  ungenau,  ent- 
behrt   leicht    der    rechtlichen  Schärfe,    so    daß    man   die  vor- 


71,8]  Beituäge  zur  Geschichtk  des  Aueopags.  27 

kommenden  älteren  Termini,  namentlich  weiin  sie  vereinzelt 
auftreten,  nicht  pressen  darf:  hier  kann  nur  die  Masse  der 
Zeugnisse  beweisen.  Ferguson ^^)  hat  mit  der  Lässigkeit  in 
der  Ausdrucks  weise  dieser  späten,  dazu  meist  von  privater 
Seite  ausgehenden  Inschriften  nicht  genügend  gerechnet  und 
daher  auch  Verfassungsänderungen  aus  den  Inschriften  her- 
ausgelesen, deren  Annahme  einer  sonstigen  positiven  Beglau- 
bio-uno-  entbehrt  und  bei  richtiger  Auffassung  von  der  Stel- 
lung  der  drei  Körperschaften  -zueinander  überflüssig  erscheint. 
Er  berücksichtigt  auch  nicht,  daß  von  einem  Wechsel  zwi- 
schen Oligarchie  und  Demokratie  im  eigentlichen  Sinne  unter 
der  römischen  Oberhoheit  nicht  wohl  die  Rede  sein  kann. 
Die  römische  Regierung  hatte  die  Macht  und  nahm  sich  da- 
her das  Recht,  je  nachdem  die  Kompetenzen  der  kommunalen 
Yerfassuntjsorgane  zu  ändern,  zeitweise  zu  verkürzen  oder 
aufzuheben  und  wiederherzustellen.  Der  Grundcharakter  der 
Verfassung  bleibt  dabei  derselbe;  solche  Änderungen  sind  für 
diese  Zeit  einfache  Regierungsmaßnahmen. 

Athen  hat  eben  seine  demokratische  Verfassung  in  dem 
Augenblicke  eingebüßt  und  gegen  eine  timokratisch-oligarchi- 
sche  Ordnung  eingetauscht,  wo  die  Römer  den  alten  oligar- 
chischen  Rat  vom  Areopag  den  beiden  demokratischen  Kör- 
perschaften, der  Bule  und  Ekklesie,  nicht  bloß  an  die  Seite, 
sondern  vorangestellt  haben.  Ob  diese  beiden  zusammen  oder 
nur  einer  von  beiden  beschließt,  ist  für  das  eigentliche  Wesen 
der  Verfassung  gleichgültig:  denn  diese  ist  durch  die  führende 
Stellung  des  Areopags  ein  für  allemal  bestimmt.  Es  gilt 
eben,  sich  von  der  Vorstellung  freizumachen,  daß  die  In- 
schriften noch  wirkliches  Staatsleben  widerspiegeln.  In  ihrer 
politischen  Geschicklichkeit  haben  die  Römer  bei  aller  grund- 
sätzlichen Änderung  die  alten  äußeren  Formen  weiter  be- 
stehen lassen;  diese  Fossilien  sind  aber  nicht  mehr  auf  wirk- 
liches Leben  ausdeutbar.  So  muß  man  auch  die  Vorstellung 
aufgeben,  das  typische  Schema  des  gegenseitigen  Verhältnisses 

31)  [\Y.  Scott  Ferguson,  Klio  IX  (1O09)  S.  323  If.  und  Hellenistic 
Athens  London   191  i.J 


2  8  Bri'no  Kr.iL:  |7',  8 

der  beiden  diMiiokratischcn  Kör|)erschat'teii  habe  Geltung  für  die 
Könier/.eit  behalten.  Natürlich  ließen  die  Römer  Hule  und 
Ekklesie  wie  in  don  anderen  ^griechischen  Koninmnen  auch 
in  Athen  weiter  l)esteheu;  sie  <i;inifen  in  ihrer  Rücksicht  auf 
die  bestehenden  athenischen  Institutionen  sogar  so  weit,  daß 
sie  von  der  Eiuset/.ung  eines  eigentlich  regierenden,  von  ihnen 
dirigierten  Beanitenkollegiums,  dergleichen  andere  Politien 
ihnen  in  den  Synarchien  boten,  absahen;  denn  d.is  wäre  i'ih 
Athen  eine  tief  eingreifende  Änderung  gewesen,  weil  dessen 
Demokratie  eifersüchtig  das  Beamtentum  niedergehalten,  eine 
oligarchische  Beamtengewalt  nie  zugelassen  hat.  Sie  fanden 
statt  dessen  das  Organ,  durch  welches  sie  ihrer  Regierung 
den  nötigen  EinHuß  auf  die  kommunale  Verwaltung  sicherten, 
in  dem  alten  Areopag,  dessen  Zusammensetzung  von  ihnen 
derartig  geregelt  worden  sein  muß,  daß  er  das  gewollte  timo- 
kratisch-oligarchische  Element  in  die  Ordnung  trug,  dessen 
Machtbefugnisse  so  bemessen  gewesen  sein  )nüssen,  daß  er 
seinen  Charakter  der  ganzen  Verfassung  aufprägen  konnte, 
bei  dessen  altgeheiligter  Stellung  und  in  hellenistischer  Zeit 
allgemach  gewachseneu  Autorität  die  neue  Ordnung  als  wirk- 
liche Rückkehr  zur  nccxQLog  TtoXirtCu  ausgegeben  werden  durfte. 
Natürlich  ließen  sie  wie  in  den  übrigen  griechischen  Städten 
es  auch  darin  beim  alten,  daß  Bule  und  Ekklesie  noch  ge- 
meinsame Beschlüsse  als  xl^)](pi6iiaxa  im  Namen  der  TtoXtg 
fassen  konnten,  für  die  der  Rat  sein  :TQoßovXex)ua  an  das 
Volk  brachte.  Aber  die  Gleichheit  war  eine  äußerliche:  das 
Grundgesetz  der  demokratischen  Verfassung:  ovx  et,£6Tiv  ov- 
dhv  ÜTCQoßovXsvTov  .  .  .  ipijcpiöccöd'at  TW  Ör'i^co  (Aristot.  rp.  Ath. 
45,  4)  war  aufgehoben.  Der  alte  Geschäftsgang  konnte,  wie 
ich  sagte,  wohl  noch  befolgt  werden,  aber  er  mußte  es  nicht 
mehr.  Zu  Beginn  des  111.  Jahrhunderts^-)  lautet  ein  Präskript: 
«yaO'iJt  tvx)]i  di-d6%^ai  tdi  örjiKot]  daß  hier  ein  reiner  Volks- 
heschluß  ohne  Probuleuma  des  Rates  zustande  gekommen  ist, 
stellt  gegen  jede  Ausdeutelei  das  Postskript  fest:  ysvee&at  dh  ttjv 

32)  [IG.  III  5;  vollständiger  ed.  min.  1078;  Dittenbkbqer  Syll.-''  885.] 


71,8]  Bkitkäoe  zur  Geschichte  des  Areopags.  29 

yvG>^i^v  Tavniv  (pavsQccv  xccl  rrit  it,  ^AQfCov  näyov  ßovliit  xal 
Tijt  ßovlfji  T&v  (f  xccl  rät  iSQO(p(kvxt]L  xui  töl  yt'vii  tcöv 
EvuoXTttdöJi'.'^)  Die  Ekklesie  macht  also  von  ihrem  Beschluß 
nur  Mitteiluntf,  und  zwar  an  den  Rat  nicht  anders  als  an  die 
Eumolpiden,  die  doch  nie  in  einem  bedingenden  Verhältnis 
zu  der  reofierenden  Betätigung  der  Volksversammluno;  ge- 
standen  haben.  Und  dieser  Beschluß  der  Volksversammlung 
hatte  an  sich  bindende  Kraft  für  die  gesamte  Gremeinde; 
darüber  läßt  der  Ausdruck  cpavEQUv  ysveöd-ca  ebensowenig 
wie  die  Tatsache  seiner  Aufzeichnung  auf  Stein  einen  Zweifel 
aufkommen.  Umgekehrt  liegen  seit  dem  i.  Jahrh.  v.  Chr.  Zeug- 
nisse dafür  vor.  daß  die  Bule  für  sich,  ohne  Hinzuziehung 
des  Volkes  gleichfalls  Beschlüsse  fassen  konnte  [dEÖoyß'aL 
Ti]^  ßovliii),  die  dadurch  als  jl-'rjcpÜJaaTa  für  die  Gesamtge- 
meinde ausgewiesen  werden,  daß  sie  die  Unterschriften  )} 
ßovXrj  und  6  dfjfiog  tragen  oder  mit  'Jyad-fjt  rvxV'  ^^/^  ßov- 
Xiig  xal  tov  dtjfiov  tov  'Ad'iqvaCcav  beginnen.^*)  Ebenso  finden 
sich  zahlreiche  Zeugnisse  dafür,  daß  auch  in  der  Kaiserzeit 
die  Bule  allein  durch  ihren  Beschluß  Ehrungen  bestimmen 
oder  gestatten  konnte.  Klar  die  Ordnung  im  einzelnen  zi; 
durchschauen,  wird  nie  gelingen.  Die  Römer  haben  augen- 
scheinlich die  Kompetenzen  verschieden  zu  verschiedenen 
Zeiten  erteilt,  je  nachdem  die  beiden  Körperschaften  Ungefü- 
gigkeit  oder  Unfähigkeit  an  den  Tag  gelegt  hatten.  Da  die 
jeweiligen  Veranlassungen  zu  den  Änderungen  völlig  unbe- 
kannt sind,  ist   der  Wechsel  der  Verfügungen   völlig   unfaß- 


33)  [Ebenso  siud  Ehrungen  ganz  allein,  ohne  Mitwirkung  der  Bule, 
von  der  Ekklesie  zuerkannt  woi'den:  6  dfnt,o<s  UönXiov  Kogvrjliov  .  .  . 
&QSTi)s  s'vsKsv  IG.  III  591.  I;  ferner  588.  593.  601—3.  771.  785.  795. 
837.  865 — 7.  869.  873—877.  885  f.  Diese  Zeugnisse  gehören  allerdings 
sämtlich  der  Zeit  von  ca.  50  v.  —  50  n.  Chr.  an.  Es  scheint  demnach, 
daß  dem  Demos  die  selbständige  Zuerkennung  von  Ehren  genommen 
wurde,  augenscheinlich,  weil  er  in  ihrer  Zuerkennung  oder  Zulassung 
zu  freigebig  war;  daß  das  Recht  selbständigen  Beschließens  ihm  aber 
auf  anderen  (rebieten  blieb,  beweist  die  im  Texte  bebandelte  Inschrift.] 

34)  IG.  II  481  (=  ed.  minor  1039),  43;  60;  482  (=  1043;,  52;  480 
(=  1041),  7;  489'  (=  1046).] 


30  JJiJi'No  Kkii,:  I71, « 

bar,  im  übii;^en  «luch  zifinlic^li  gleichgültio-,  dn  es  sich  hei 
ihm  zumeist  nur  um  Verwuliunyfs-,  nicht  um  Verfnssiin<:sver- 
schieilenheiteii  hamlelt.  l)esh;ilh  eben  konnte  ihis  alte  Band 
zwischen  IJat  und  Volksversammlunsj;  so  oeh)ckert  werden,  daß 
beide  die  Möglichkeit  freien  Handelns  hatten. 

Bei  der  dritten  Körperschaft,  dem  Areojiaw;,  fehlt  so- 
«j;ar  die  Möglichkeit  verfassungsmäßigen  Zusammenwirkens 
mit  den  beiden  anderen  Versammlungen.  Die  Demokratie 
hatte  den  alten  aristokratisclien  Kat  herausgebrochen  aus  dein 
Organismus  der  Staatsmaschine;  die  Römer  mußten  um 
80  weniger  Veranlassung  versi)üren,  in  diesem  Punkte  zu 
ändern,  als  nur  die  Isolierung  des  Areopags  ihnen  diesen 
völlig  in  die  Hand  gab.  Eine  Bindung  an  die  Ekklesie 
auch  nur  durch  die  Möglichkeit,  einen  Areopagbeschluß  von 
dem  Entscheid  der  Ekklesie  in  probuleumatisclier  Form 
abhängig  zu  machen,  würde  zudem  unvereinbar  mit  der 
ganzen  Verfassungsänderung  gewescji  sein,  welche  dem 
Areopag  eine  überi'agende  Stellung  zu  geben  und  zu  sichei'u 
bezweckte.  Ebenso  lag  nicht  der  geringste  Grund  vor,  den 
alten  geschichtlichen  Gegensatz  zwischen  den  beiden  liats- 
Versammlungen  durch  eine  Geschäftsform  zu  überbrücken, 
welche  gemeinsames  Handeln  beider  bedingte.  Es  gibt  eben- 
sowenig ein  nQoßovXsvfic  des  Areopags,  wie  es  einen  Vor- 
beschluß des  Rats  für  den  Areopag  gibt.  Aber  seit  der 
Mitte  des  i.  Jahrh.  v.  Chr.  liegen  die  inschriftlichen  Beweise 
dafür  vor,  daß  der  Areopag  endgültige  Beschlüsse  ohne  Mit- 
wirkung der  anderen  Körperschaften  fassen  konnte.  Die  relative 
Selbständigkeit,  die  so  jeder  der  drei  Körperschaften  zuge- 
standen war,  bedeutete  tatsächlich  eine  Schwächung  zum 
mindesten  des  ßates  und  der  Volksversammlung.  Korn  verfuhr 
auch  hier  nach  seinem  alten  politischen  Grundsatz  des  'divide 
et  impera'.  Waren  die  Körperschaften  alle  oder  auch  nur 
zwei  von  ihnen  in  ihrem  kommunalpolitischen  Handeln  an- 
einander gebunden,  so  traten  sie  in  ihrer  Vereinigung  mit 
einer  Autorität  auf,  die  der  einzelnen  fehlen  mußte,  einer 
Autorität,    der    gegenüber   selbst   die   römische  Regierung  im 


71,  8]  Beitrage  '/.vn  Geschichte  des  Akeopags.  31 

Einzelfalle  sehr  wohl  Bedenken  tragen  mochte,  mit  dem 
rauhen  Griff  des  souveränen  Bestimmungsrechtes  das  Selbst- 
bestimmungsreeht  der  civitas  libera  et  foederata  Athen  bei- 
seite zu  schieben.  Jene  Isolierung  konnte  zudem  Zwie- 
spältigkeiten entstehen  und  zutage  treten  lassen,  und  sie  gaben 
der  römischen  Regierung  freie  Hand,  sich  auf  die  eine  oder 
die  andere  Seite  zu  schlagen.  Diese  Auffassung  bedeutet  kein 
Hineinklügelu  in  die  vorliegenden  Tatsachen.  Der  Grad  der 
Größe  einer  Ehrung  hängt  von  der  Höhe  der  Autorität  ab, 
die  sie  erteilt;  als  höchste  Autorität  aber  wird  nach  alter  demo- 
kratischer Auffassung  die  Gesamtheit  der  Gemeinde  gelten, 
wie  sie  sich  in  Rat  und  Ekklesie  darstellte.  Daher  die  Wen- 
dung y)  Ttöug  övvTiccöa  xhv  iavrrig  evegystriv  xei}uo6a  avBGtri- 
öev  (IG.  HI  709;  Mitte  des  3.  Jahrh).  Noch  höher  mußte 
in  der  oligarchischen  Verfassung  der  römischen  Periode 
natürlich  eine  Ehrung  gelten,  an  der  sich  auch  der  Areopag 
beteiligte:  1^  it,  'Jqsöov  nüyov  ßovli]  xal  i]  ßovh)  täv  %  (^) 
/.u\  0  drj.aos"*')  oder  in  ungewöhnlicher,  aber  für  uns,  wie  sich 
noch  zeigen  wird,  lehrreicher  Formel:  86y^axi  xov  öe^voxd- 
rov  (jin^aÖQiov  (d,  i.  Areopag)  x«t  xijg  TioXscog  (ivv7id6)]g 
(Id.  m  687«). 

Hiernach  ist  zu  bemessen,  was  die  Ehrung  des  jungen 
Lamprias  unserer  Inschrift  in  den  Augen  seiner  Eltern  und 
der  Mitwelt  bedeuten  sollte.  Eine  Steigerung  war  in  ganz  außer- 
ordentlichen Fällen  gelegentlich  möglich,  wie  das  Präskript 
für  den  Beschluß  über  die  Beglückwünschung  der  Ernennung 
des  Geta  zum  Mitregenten  seines  Vaters  Septimius  Severus  und 
seines  Bruders  Caracalla  lehrt  (IG.  HI  10  =  ed.  min.  1077; 
etwa  209):  diese  Steigerung  ist  aber  nicht  durch  eine  weitere 
beschlußfasseude  Autorität  erzielt  worden  —  denn  mehr  als 
drei  Körperschaften  waren  nicht  vorhanden  — ,  sondern  nur 
durch  eine  Verstärkung  der  Autorität  der  beantragenden 
Faktoren  und  durch  ein  exzeptionelles  Verfahren  für  die  Be- 
schlußfassung.     Jene    Verstärkung     bestand     darin,    daß    die 

35)  [IG.  III  578:  604;  807:  808.  678;  768;  901;  907;  weitere 
Stellen  bei  Laufklu  II  861.] 


3-'  Bkuno  Ki;ii.:  I71,  ^^^ 

beiden  ßorlui  sicli  zu  tleni  botreffeiulen  Vorschlair  veieinicrten: 
dv^yvcööi^t)  yvcöin,  nov  örn'fdgtiov  z.  7;  die  BesehlußlassuiiiTj  fand 
in  einer  Gesaiiitversaninilunjif  der  Iväte  und  des  Volkes  statt; 
diese  Versanunlunp;,  deren  Protokoll  dem  der  gewöhnlichen 
Ekklesie  entspricht,  heißt  ßovX)}  (z.  5  ßovh)  awrlx^Vt  ^^^ 
Tor^'  siHcyyfh'oii^).  Dies  hat  Swohoda  (Die  «];riechischen  Volks- 
beschlüsse) S.  191  f.  zutreti'end  gegenüber  Nkuuaukr  (Athe- 
niensiuni  reipublioae  quaenam  Romanorum  temporibus  fuerit 
coudicio,  Halle  1882)  festgestellt;  nicht  zutreti'end  ist  dagegen 
seine  Bezeichnung  TTQoßovlsviia  für  die  yvo)^r]  tö)v  dvveögicav, 
denn  der  Areopag  kann  verfassungsmäßig  ein  solches  gar 
nicht  fassen.  Womit  sie  vor  das  Volk  treten,  ist  eben  ihie 
yvco^u],  die  zu  Kecht  bestehen  wird,  ob  nun  die  Ekklesie  sie  sich 
zu  eigen  macht  oder  nicht.  Aber  es  kommt  darauf  an,  völlige 
Einigkeit  aller  Faktoren  nach  Rom  berichten  zu  können. 
Daher  jene  außergewölmliche  Versanimlung,  daher  auch  die 
Erwähnung  der  drei  höchsten  Beamten  des  ercorw^og^  öxqu- 
rijybg  s^l  rä  onka  und  y.iiQr''t.  xov  /iQsioTcdyov  im  Eingänge 
der  Vorlage.  Diese  Erwähnung  ist  völlig  singulär  und  wider- 
spricht der  Verfassung,  weil  die  aufgeführten  Beamten  unter 
dem  Gesamtbegriff  aQ^ovrig  zusammengefaßt  werden,  als  ob 
es  in  der  Organisation  des  athenischen  Kommuualverbandes 
eine  öwagy/a  wie  anderswo  gäbe.  Gemeinsame  Sitzungen 
von  Körperschaften,  die  sonst  nicht  zusammen  tagen  —  alt- 
griechisch  würde  man  sie  etwa  avlXoyog  genannt  haben  — 
sind  in  der  Kaiserzeit,  wo  die  ycQox^öCai,  neben  den  ßovkai 
wieder  zur  Geltung  kamen,  vielleicht  häufiger  vorgenommen 
worden.  Wenigstens  liefert  die  (S.  17)  herangezogene  In- 
schrift aus  Priene  ein  sicheres  Zeugnis:  dfjfiog,  ßovXij  und 
ysQovöCa  tagen  iv  xoLva  {övvrjid^i]  ßovAyj)-^  die  gefaßten 
Beschlüsse  werden  entweder  nur  protokoUieit  im  Amtstage- 
buch dt  v7ro^v)]UKtov  oder  zu  offiziellen  Beschlüssen,  öiä 
i^r^(pL6iio:x(o\>  erhoben.  Es  kann  keine  Fi-age  sein,  daß  die 
vzioiiviiauxa  Bekundungen  der  ßovXai  sind,  iptjcpLöaaxo:  Be- 
schlüsse, für  die  ein  TTQoßovXsxHici  der  ßov?.rj  an  den  ^rjuo^, 
wofür   hier   .ToAig   gesagt   ist,   eingebracht  war.     Das  an  sich 


7T,8J  UkitkÄgk  7.vn  Gkschichtk  dks  Areopags.  3,5 

völlig  rechtskräftige  v:i6uvrj^o:  der  ßovlij  konnte  natürlich 
auch  als  :X()oßov?.EV}iu  fungieren,  wenn  die  ßovhj  Wert  auf 
die  Zustimmung  des  dil^iu^  legte.  So  ergab  sich  neben  dem 
V7c6av)]na  ein  4.n\cpLöiLa\  der  schließliche  Endbeschluü  beruhte 
dann  formal  auf  diesen  beiden  Willensakten  zugleich.  Die 
Analogie  zu  der  athenischen  Gesamtsitzung  der  Körperschaften 
ist  also  eine  vollständige.  Die  beiden  Räte  treten  mit  ihrer 
yvä^u],  die  ohne  weiteres  Rechtskraft  besessen  hätte,  hervor, 
und  diese  yvco^r,  fungiert  wie  im  TtQoßoidsvfxa,  ohne  daß  .sie 
ein  solches  von  selten  des  Areopags  sein  konnte  oder  von 
Seiten  des  Rates  zu  sein  brauchte.  Dabei  ist  es  natürlich 
gleichgültig,  ob  die  yviöiiij  formal  ein  vnoavr^iii'.XLöaöq  oder 
ein  öoy^a  war:  die  allgemeine  Bezeichnung  verschleiert  die 
Art  der  Willeusbeurkunduug.  Der  Name  ßov}.ey.xh]öi(a.  den 
solche  Plenarsitzungen  tragen,  wird  nun  durch  die  athenische 
Analogie  klar:  es  sind  Zusammenberufungen  der  ßovkal  und 
6xxlr]6icc^  denn  die  ye^ovGia  ist,  wie  die  adjektivische  Bildung 
ihres  Namens  besagt,  eine  ßovhj. 

Wie  die  Miterwähnung  der  Beamten  und  die  Berufung 
der  Plenarsitzung  einzigartige  Erscheinungon  in  unserer  Über- 
lieferung sind,  so  auch  endlich  die  Sanktionsformel  (Z.  26 f. 
öedöxifcci'  tri  ^^  '^^QsCov  Tcdyov  ßovlfj  xal  tfj  ßovlTj  xCiv  <f 
xcd  XG)  öij^or,  sie  täuschten  ein  verfassungsmäßig  bedingtes 
Zusammenwirken  des  Areopags  mit  den  beiden  anderen 
Körperschaften  vor,  das  nicht  bestand,  auch  nicht  bestehen 
konnte,  wie  sich  weiterhin  noch  klar  hei-ausstellen  wird. 
Trotz  so  großer  formaler  wie  sachlicher  Abweichungen  von 
der  alten  Ordnung  der  V^äter  haben  die  V^erfasser  des  Akten- 
stückes üewacrt,  den  Eincrano"  mit  den  Worten  zu  schließen: 
yvtöiDiV  äjiocpaCvovGLv  xaxa.  xä  :TuxQiu.  Das  ist  ein  Schwindel, 
der  dem  gleichen  Zwecke  diente,  wie  jene  anderen  Unregel- 
mäßigkeiten, dem  Beschlüsse  größtmögliche  Autorität  in  den 
Augen  der  Kaiser  zu  oeben. 

Ich  habe  diese  athenische  Urkunde  hier  ausführlicher 
besprochen,  um  zu  zeigen,  welch  ungewöhnlicher  Maßregeln 
es  auch  für  eine  öffentliche  Sache  bedurfte,  um  eine  Autorität 

Phil.-hist.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  S.  3 


34  Hkind  Ki:il:  fyi,  8 

zu  !<cliaffon,  die  ilbiT  die  ln!unisf>;iii<4\  \vt»lt'lio  i'iir  l'rivat 
angelpi^eiiluMton  die  höchste  hleibcn  mußte,  näuilich  die  iihiM-- 
einstiinniondo  Erkoinitnis  vom  Areopag  und  den  beiden  denu>- 
kratisclion  Körj)ers(dmi't(Mi.  Es  iVaot  sich  nun,  wie  l)ei  der 
vorher  dargeh><^t<Mi  Isolierun«;-  der  drei  KörjjcrscharU'u  einn 
solche  Übereinstimmung  herbciiroffihri  werden  konnte.  l<'ür 
die  zwischen  Rat  und  Volk  war  der  alte  Weg  über  das  .-r^x)- 
ßovXfvua  immer  gegeben:  wie  aber  gelangte  man  zu  der 
zwischen  Areopag  und  diesen  beiden  Versanimlungen,  wofür 
doch  keine  verbindende  (Jeschäftsonlnung  von  alters  her  über- 
kommen  war?  Es  gab  zwei  Wege.  Den  einen  lernen  wir 
aus  den  Lainpriasurkuiulen  erst  kennen,  von  (h'.m  anderen 
reden  die  Inschriften  seit  langem,  doch  ist  ihre  Si)rache,  wie 
ich  glaube,  bisher  nicht  wirklich  verstanden  worden.  Den 
Antrag  auf  die  Ehrung  des  jungen  Lamprias  stellt  in  der  j 
Ekklesie  dieselbe  Person  wie  im  Areopag:  TeiaoO^^tvi^i;  | 
KtcXkiGrouüyov  AvatpkvOxio^.  Er  trägt  keinen  Amtstitel. 
Folgt  hieraus  einerseits  für  die  Ekklesie,  daß  Dittenueroeus 
Aufstellung^"),  in  nmiischer  Zeit  habe  nur  der  GxQaTyiyo^  ijil 
XU  ÖTiXu  allein  oder  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Beamten 
das  ins  ageudi  cum  populo  gehabt,  wenigstens  in  dieser  Form 
nicht  haltbar  ist,  so  erhebt  sich  andererseits  für  den  Areopag 
die  Frage  nach  dem  Antragsrecht  im  Areopag.  Es  scheint 
ausgeschlossen,  daß  dieses  Recht  in  einer  Körperschaft  so 
reservierter  Stellung,  wie  sie  der  Areopag  genoß,  andern  als 
Mitgliedern  der  Körperschaft  selbst  zugestanden  habe;  selbst 
der  axQarrjyo^  dürfte  es  nicht  besessen  haben,  wie  sich  aus 
der  weiterhin  zu  erörternden  gegenseitigen  Stellung  von 
Ekklesie  und  Areopag  ergeben  wird. 

Es  ist  hier  noch  nicht  der  Ort,  über  die  Zusammensetzung 
des  Areopags  in  römischer  Zeit  zu  sprechen,  so  viel  aber  wird 
ohne  weiteres  zugegeben,  daß  die  Areopagiten  den  ersten  Fami- 
lien der  Gemeinde  entstammten.   Dies  trifft  für  den  Antragsteller 

36)  [Hermes  12  S.  ijff  ;  Swoboda  (a.  a.  0.  S.  190)  diesem  zustim- 
mend. IG.  III  44  ist  unklar,  so  daß  sich  keine  Schlüsse  daraus  ziehen 
lassen.] 


7I,8J  BeITHÄOK   ZUlt   (i B.SCHICHTE   DES   ArEOPAOS.  35 

T€iy.oöfyevi]g  KuXhGTouüiov  \4v(i(fXv6Tiog  zu.  Schon  /.u  Ende 
des  2.  und  Anfang  des  i.  Jahrb.  v.  Chr.  werden  Mitglieder 
dieser  Familie  als  no^TCoötöloi  für  Dolos  von  dem  Priester 
des  Zeus  Polieus  und  Soter  sowie  der  Athena  Soteira  be- 
rufen: ViiQoöTQCixog  KalkiöToaä^ov  ''Ava(pXv6xiog  und  sein 
jüngerer  Bruder  KakXiöxonaiog  KalXidroyittyov  ^-^vacplv- 
öTLog^^),  als  ein  gleichnamiger  Vorfahr  des  mit  in  die  Kondolenz- 
deputation gewählten  Bruders  des  Antragstellers.  Das  Urteil 
über  die  soziale  Stellung  der  Familie  des  Timosthenes  ist 
um  so  sicherer,  als  diese  zweifellos  in  verwandtschaftlichem 
Verhältnis  zu  der  Familie  des  Lamprias  stand;  denn  dessen 
Schwester  hieß  Tfiiioa^svi's  (s.  S.  4).  Die  Brüder  Timo- 
sthenes und  Kallistomachos  stellen  eben  den  athenischen 
Zweig  des  großen  über  Sparta,  Argos  ijnd  Epidauros  ver- 
breiteten Geschlechtes  dar.  Deshalb  bemüht  sich  der  erstere 
um  die  Ehrung  des  jungen  Verwandten  bei  der  Ekklesie  und 
im  Areopag;  zugleich  tindet  die  Abordnung  der  beiden  Brüder 
als  Deputierte  aus  der  Geschlechtsverwandtschaft  ihre  natür- 
lichste Erklärung.  Die  Herkunft  des  Timosthenes  steht  also 
im  besten  Einklänge  mit  der  Annahme,  daß  Timosthenes  dem 
Areopag  angehörte  und  deswegen  in  diesem  als  Antragsteller 
auftreten  konnte.  Wenn  er  nun  in  gleicher  Eigenschaft  vor 
die  Ekklesie  treten  durfte,  andererseits  aber  das  ins  agendi 
cum  populo  nach  den  bisher  bekannten  Zeugnissen  nur  dem 
6TQ(cr7]yös  allein  oder  im  Verein  mit  den  anderen  Beamten 
zustand,  so  folgt,  daß  auch  die  Areopagiteu  das  Hecht  des 
Antragsteilens  beim  Volke  besaßen.  Diese  Kechtserstreckung 
auf  die  Mitglieder  gerade  des  Areopags  kann  nur  natürlich 
erscheinen,  weil  sie  rechtlicher  Konsequenz  nicht  entbehrt. 
Der  Areopag  setzte  sich  aus  früheren  Beamten  höchster  Rang- 
ordnung —  ich  spreche  absichtlich  so  allgemein  —  zusammen, 
die  einst  das  ius  agendi  gehabt  hatten.  Das  wurde  ihnen,  wenn 
sie  zur  Aufnahme  in  den  Areopag  gelangten,  belassen.  Die 
überragende   Stellung   der   Körperschaft    macht   diese    Bevor- 


37)  [ß.  C.  H.  26,  519  und  543.    Si'NDWAi.r.,  Nachträge  S.  44  und  107.] 


36  Ukuno  Kkii.:  [/'.  ^ 

rPfhtnn^  iluer  Mit^licdor  unmittelhar  bej^reiflich.  Dieses 
Kocht  eiößiiote  also  einen  We<j;,  auf  dem  wenigstens  ein 
paralleles  und  gleich^eiichietos  Ilandoln  von  Aieopa}^  unvl 
Ekkk'sie  oder  Bule  zustand«'  konunon  konnte,  unrichti<v  wäro 
es,  von  <j[oiueinsauieni  Handeln  der  KöipeiBclmt'ten  /u  sprechen. 
Denn  ein  solclies  Zusainnieuj^ehen  war  kein  organisches  Zu- 
samnienhaiuleln,  beruhte  nicht  auf  einer  /weiseiti«»"  bindenden 
Geschäftsordnung,  sondern  war  nur  durcli  das  Medium  einer 
rechtlich  besonders  beeioenschafteten  Persönliciikeit  eiraöglicht. 
Die  Gescliäftskreise  einerseits  des  Areopa^'S  und  andererseits 
der  Ekklesie  mit  der  Bule  berührten  sich  nicht.  Das  wird 
besonders  klar,  wenn  man  sich  vergegen  wärt  igt,  daß  das  Zu- 
sammengehen der  Körperschaften  keineswegs  wie  im  Falle 
des  Lamprias  an  die  Identität  der  Antragsteller  im  Areopag 
und  in  der  Ekklesie  gebunden  war;  es  ließ  sich  auch  da- 
durch erreichen,  daß  nach  persönlicher  Übereinkunft  zwischen 
einem  Areopagiten  und  dem  orQaTtjybi^  ml  rcc  o%Xa  oder 
einem  anderen  mit  dem  ius  agendi  ausgestatteten  Beamten 
je  in  der  betreffenden  K(")rperschaft  gleichlautende  Anträge 
gestellt  wurden.  Dieser  Fall  läßt  sich  aus  unserem  spärlichen 
Beobachtungsmaterial  nicht  belegen,  aber  es  liegt  in  der 
Natur  der  Dinge,  daß  er  einstige  Wirklichkeit  in  Betracht 
zieht.  Auch  hier  beruht  das  Zusammengehen  der  Körper- 
schaften nur  auf  persönlichen  Beziehungen,  nicht  auf  rechtlich 
geordneter  Haudlung.sgemeinschaft.  In  allen  Fällen  also,  in 
denen  die  Formel  )/  kt,  \4q6Cov  näyov  ßovXi)  xal  1)  ßovXri  xcov 
X  (^)  aal  Tov  dri^ov  erscheint,  liegt  die  Beurkundung  min- 
destens zweier  und  zwar  getrennt  zustande  gekommener 
Willensakte  vor:  das  der  areopagitischen  Bule  in  der  Form 
des  döyiia  oder  des  vnouvri^ariß^og  und  das  von  Bat  und 
Volk  in  der  Form  des  tyq:i6(^ia. 

Das  gleiche  muß  von  der  dritten  Form  einer  Willens- 
äußerung der  Körperschaften,  von  dem  en:aQ(öri]iia,  gelten, 
auch  da,  wo  die  Beurkundung  einen  einheitlichen  Akt  der 
Körperschaften  anzuzeigen  scheint.  Doch  der  Begriff  des 
ma^iorrina    selbst    verlaugt   erst   eine   Erklärung,    da   icli  ihn 


71,  8J  Bkiträgk  zur  Geschichte  des  Arkopags.  37 

nirifends  wirklich  erläutert  oder  gar  rechtlich  definiert  finde; 
in  einer  vermeintlichen  Selbstverständlichkeit  des  Terminus 
dürfte  aber  der  Grund  dieses  Schweigens  nicht  zu  suchen 
sein.  Ich  muß  also  die  voi-kommenden  Formeln  und  Ver- 
bindungen vorlegen.  Die  bloßen  Zahlen  gehen  auf  IG.  III, 
dessen  Indices  unvollständig  sind.  Den  Wechsel  zwischen 
xuru  TÖ  und  xkt'  £'-T£^07T);,u«  —  der  Terminus  kommt  nur  in 
dieser  ])räpositionulen  Verbindung  vor  —  notiere  ich  nicht; 
er  ist  ebenso  sleichg-ültio-  wie  der  zwischen  xard  töv  und 
xad-'  vnou  i>  t/UKTLöaov . 

1.  ejTSQvnrjUcc  tT/c  tt,  'Aq^lov  Ttcr/ov  ßoi'?S]g  731  (neue 
Lesung  Eph.  arch.  1894,  185).  908.  920.  924.  964.  965. 
965  a — c.  —  T(ov  'öeavordtcav  '^QeoTtayitav  Eph.  arch. 
1885,   145- 

2.  LrsQätijUtt  r))'^  ßov/Sjg  tlov  (p  607.   780b. 

3.  insQcÖTTjfiu  tC)1'  (<?£/< j'OTßTojv)  6vve8qicov  (d.  i.  Areopag 
und  Bule)^**)  747.  693. 

4.  bitCQ^rri^iCi  TT]g  ^^  'AqeCov  -t.  p'.  -/mI  T>/g  ßox}?Sjg  räv 
if,   y.cd  Tov  dyjfiov  (rov  'A^-iivaCcov)  67g.   716. 

5.  '/.a\xä  rbv  vjio[^n]^ci]ti6ubv  '^[  p£o:ra^]f iT(t-j)v  x[(d 
Tu  i:x£QC}]ryiua  rf/g  [/^otJ-liJ?]  twv  [. . .  |   832  a. 

Keiner  der  einigermaßen  datierbareu  Belege  ist  älter  als 
die  hadrianische  Zeit,  und  sie  bilden  die  Mehrzahl;  keiner 
der  undatierten  (832a.  920.  924.  965a — c)  Fetzen  widerstrebt 
der  Einreihuno-  in  die  Zeit  von  Hadrian  bis  in  die  Zeit  des 
Herennius  Dexippo?^,  in  welche  der  jüngste  der  datierten 
Texte  (716)  fallt.  Sämtliche  Belege  beziehen  sich,  soweit 
die  Überlieferung  es  erkennen  läßt,  auf  Ehrungen,  und 
zwar  auf  solche  ausschließlich  von  athenischen  Gemeinde- 
angehörigen. 

Der  Terminus  eTtEQcoräv  ist  inschriftlich  seit  der  ersten 
Hälfte  des  4.  Jahrh.  v.  Chr.  bezeugt.     Das  älteste  Bei^pieP^) 

38)  [So  auch  767  nach  DirrENBERaKK;  allein  es  ist  auch  xar«  [ro 
frrfptö]TTju[a  räv  6siivoTa]T(o[v  'AQSonayirwv  möglich. 1 

39)  [Favrk,  Thesaurus  verborum  quae  in  titulis  ionicis  leguntur, 
Ht'idelberg    1914,  p.  160   führt  aus  Thasos  S.  G.  D.  I.  5464,   f2:   13  an, 


38  HiuiNO  K'ku,:  (71,8 

stammt  aus  Amorgos  (Arkeaiiu':  Ki.  Xll  7,  .5,  23  ==  Dittkn- 
UKH(ii:K,  Syll.  ■  51 1)  ^iridl  jiQVTa\i'iii  ^JCiii'tjfpiXeTco  [.«»/dt  -too- 
TtO-fc'rci)  TC)t  d\}j^i(o  nr^dl  f;rf()a)|T«TO) ''*'),  wo/ii  sicli  aus  dem 
j.  .lahili.  aus  oincm  von  A.  VViiJiKLAi  vorütlciitlicliteii  He- 
scliluBse  der  attischen  7fT(«c;TcUftg  (^Eplioin.  arch.  1005,229,8) 
0T£  i-i7t[u^  xid\  LreQO)T>ja[c(i;  xaJ  irci^nicpiaa^  stellt.  Der 
g-leichen  Zt-it  gehört  ein  Dekret  aus  lasos  au  mit  dem  Ein- 
gang: :rQVT('<.vf(<iv  yvcou),'  JtfQl  lov  f7i)]Xd^oi'  of  v&iojtolai  i-:t€qo)- 
rCötneg  Tiiö^  dtl  x((\  n^öri-  tö  fxy.h](iia6Tr/ov  Öidövai.  (MicHKii, 
Rec.  4Ö6).  Gleichaltrig  dürfte  sein  das  Fsephisnia  aus  Sanio- 
thrake  mit  dem  belehrenden  Passus:  ()!Ö6i\yai  räi  d)\ubii 
Toi's  imarccrug  SjteQontiöccL  tijv  kxxXijOCav  xarä  rbv  vouov  ei 
doxsi  öovi'ut  nokiTtCtcu  Tltola^KdojL^^)  xal  iav  do|j/t,  6vv- 
rsXe'ßca  xal  rriv  ipy,(poq)OQC(cv  ev  tT,  xf<;a>iyXoi;o'»^t  hxxkridCui 
x,al  i.(cv  a7rni'}](piöd-i]  tirccL  avxovg  TtoXlxaq  (IG.  XIT,  8,  158). 
Ich  kauu  mir  zufällig  notierte  Belege  für  diesen  in  hellonisti 
seilen  Inschriften  mehrfach  begegnenden  Terminus  bringen, 
aber  sie  geniigen,  um  erkennen  zu  lassen,  daß  tTttQioTC.v  '^eine 
amtliche  oder  formelle  Anfrage  stellen'  bedeutet,  und  /.war 
ergeht  die  Anfrage,  um  eine  Antwort  zw  erzielen,  die  die 
TJbernahme  einer  rechtlichen  Verbindlichkeit  seitens  des  Ant- 
wortenden enthält.  Beamte  richten  die  Anfrage  an  eine  staat- 
liche Körperschaft,  deren  Antwort  Recht  schafft.  So  die 
technische  Bedeutung  des  Wortes  nach  den  Inschriften,  die 
nur  für  die  Sprache  des  öffentlichen  Rechts  zeugen.  In  der 
literarischen  Überlieferung  erscheint  das  Kompositum  vielfach 
im  Wechsel  mit  dem  Simplex  sqc3T(':v,  aber  auch  sie  läßt  er- 
kennen,  daß    IzaQinca'   neben   der   Bedeutung    des    einfachen, 


■welches  suiist  vielleicht  das  älteste  iuschriitliche  Beispiel  wäre.  In 
dem  1909  erschienenen  Heft  IG.  XII  8,  267  lauten  jedoch  die  Stelleu 
\ir(ti   iiTtüv  {ii'jT    i7tL-[X9'sT]v  .  .  .  jUyV  iniil!)]cpt6ai  und  iiTtrii  7)  ^n:f-'iO'jjj   1/ 

40)  [infQonÜTO)    ergänzte   Szanto,    Athen.  Mitt.    XVI,    1891,  37,   i 
(=  Ausgewühlte  Abhdl.  S.  169,  Anm.  2).] 

41)  [Dem  Ptolemaeus  war  vorher  die  Proxenie  verliehen  worden 
IG.  XII  8,   157.J 


71,8]  Beitrage  zur  Geschichte  des  Akeopags.  39 

nachträglichen,  wiederholten  Fragens  besonders  auch  die  der 
formellen  und  solennen  Anfrage  besitzt,  die  als  solche  dadurch 
charakterisiert    ist,   daß   sie   eine   sachlich  entscheidende  oder 
für  den  Frager  bedeutsame  Antwort  erheischt,  sei  es  daß  sie 
von  einer  autoritativen  Stelle  oder  an  eine  solche  gestellt  wird. 
Die  letztere  Eventualität  gilt  von  der  Befragung  von  Orakel- 
gottheiten;  daher   tTtEQCorüv   der   solenne  Ausdruck   für    diese 
Art  von  Anfragen  sowohl  in  der  Literatur  wie  auf  Inschriften, 
in    denen     allerdings     das    Simplex    auch    nicht    fehlt.      Für 
sntQcoxdv     als     Terminus     der    Fragestellung    seitens    einer 
Autorität    liegt    eine  Reihe    von  Zeugnissen    vor.     Weil    die 
Frage  des  Keryx  in  der  Volksversammlung  eine  amtliche  ist. 
sagt  Aischines  (I  23)  tTteQcotCa  6  xfjQx^^.    Demostheues  drückt 
sich    in    der    Kranzrede    (XYllI    170)    mit    tjQiorcc    ö    xfiQv^ 
weniger  formell  aus,  gerade  wie  er  in  der  Rede  gegen  Androtion 
(XXII   9)   von   den  Prytauen   und   dem  Epistates  der  Volks- 
versammlung i]QG)rcov  sagt,  unmittelbar  darauf  jedoch,  gleich- 
sam   sich   korrigierend,   von    ein  und  derselben  Fragestellung 
derselben  Beamten  ovÖ'  fTtfQOJväv  ^QOöijxev.    Soviel  ich  fest- 
stellen  kann,   kommt   cnrfpcjTijjia   in   attischer  Prosa   nur   bei 
Thukydides  in  der  Verhandlung  über  das  Schicksal  von  Plataiai 
vor.      Die    Spartaner    in   der    Rolle   der   verhörenden    Richter 
stellen     die    formelle     Frage,     an    deren    Beantwortung    das 
Schicksal    der   Platäer    hängt,    und    diese    wird   zweimal   mit 
i7CBQ(öry]nu   (III  53,  2;    68,   1),   einmal   mit  SQiorrj^a  (UI  6oj 
bezeichnet,   dem  ein  rjQatav  (III  52,  4)  entspricht.     Wo  im 
Plutos    des   Aristophanes    der   Jixcciog    wie    ein   Richter    das 
Verhör    des    Sykophanten    beginnt,    sagt    er    (902)    xul    ^n)v 
87ceQoott}'d-£L^    aTtöiiQcvut    ^lOi.      Der    Bericht    des    Aristoteles, 
(rp.  Ath.  55,  3 )  über  die  Dokimasie  der  athenischen  Archonten 
beginnt  i:i£Q(oxCi6iv  ö\  otav  doxi{iäL,o}6iv'^'),  und  das  Schlag- 
wort  ejreQcotä  kehrt   sogleich   (§  4)  in  der  formellen  Bedeu- 
tung  wieder.     Nach   athenischem  Gesetze  wird   von   dem  in- 


'o 


42)  [Bezeichend,  daß  iTTtgonav  von  Pollux  VIII  85  gewahrt  ist, 
im  Lex.  Cant.  das  einfache  igioT&v  erscheint  s.  Test.  ed.  Academ. 
ed.  Kbxvox.j 


4Ö  liiirNo  Ki;ii,:  [7',  ^ 

stniieroiideu  Kichter,  dem  ß«oi/.f-vg,  i'iir  d'\o  Zula8sun«r  zur 
ADkla«^eerhebung  auf  Moni  bei  der  Abnalinu'  des  I'arteieides 
das  fTTeQojTciv  ri  7i^o(Jy^x(oi'  /-»Jr;'  tjefordert  (|  Deinosth.  |  XliVII 
72).  So  liegt  durcliaus  alter  Sj)raeligebraiu'li  vor,  wenn  das 
von  dem  löniiscben  Beamten  und  dem  Oberpriester  mit 
(/hristus  vorgenommene  Verliör  in  de)i  Berichten  als  fTCfQOitC.v 
bezeichnet  Avird  (Mt.  27,  ii;  Mc.  14,  60.  61;  vgl.  AG.  5,  27). 
'H:Ti-Q(orüv  hat  also  die  Sonderbedeiitun<j;  dei"  Stelluii<r  einer 
Frage,  aus  der  sieh  reehtliehe    Konsequenzen   ergeben. 

Auch  diese  literarischen  Zeugnisse  /eigen  de)i  Terminus 
nur  im  öfleutlichen  Recht  verwendet;  für  sein  Vorkommen  auf 
dem  Gebiete  des  zivilen  Rechtes  finde  ich  in  vorrömischer  Zeit 
keine  sichere  Spur.  Das  ist  kein  Zufall.  Auf  dem  Gebiete 
dieses  Rechtes  hat  die  formelle  Frage  mit  rechtlich  bindender 
Antwort  ihre  eigentliche  Stätte  da,  wo  das  Obligationsrecht 
die  verborum  ol)ligationes  mit  ihren  verba  solemnia,  die 
stipulatio,  kennt.  Diese  war  abei-,  wie  seit  Gneist  bekannt 
ist,  dem  griechischen  Obligationsrechte  fremd-,  das  Fehlen 
von  Belegen  für  ijTFocoTiiV  in  ziviler  Kechtssphäre  beruht  also 
auf  einer  organischen  Eigentümlichkeit  des  griechischen 
Rechtes  überhau])t.  Das  wurde  anders,  als  zur  Kaiserzeit 
die  römische  stipulatio  im  hellenistischen  Osten  Aufnahme 
fand.  Seit  dem  2.  Jahrh.  n.  Chr.  weisen  die  ägyptisch- 
griechischen Papyri  nicht  nur  in  wirklichen  obligatorischen 
Verträgen,  sondern  auch  in  anderen  zivilen  Rechtsdokumenten 
die  Formel  i:rfQ(OTr]&£ig  Gvvco^iOAÖyriöa  u.  a.  auf*^)  als  Wieder- 
gabe des  römischen  inten-ogatus  (stipulanti)  spopondi.  ^EneQotav 
ist  jetzt  auf  dem  Gebiete  des  zivilen  Rechtes  in  seiner  tech- 
nischen Bedeutung  ebenso  richtig  verwendet,  wie  früher  auf 
dem  des  öffentlichen  Rechtes;  denn  die  Frage  der  einen 
Partei  und  die  entsprechende  Antwort  der  anderen  erzeugt 
ein  neues  rechtliches  Verhältnis.  Die  Übernahme  dieses 
Verbs  in  das  zivile  Recht  hat  schließlich  die  von  ihm  ab- 
geleiteten Substantive   e7ca()ioxi]6ig   und    t:ttQibxi]aa  noch  eine 

43)    [Belege    bei   Gkadknwitz,    P'infiihruno'   in    die  Papyruskunde 
S-   137-] 


71,  Sj  Hkiträge  züu  Gkschioute  dks  Aueüpags.  41 

aligeraeine  Bedeutung  gewinnen  lassen.  Aus  der  älteren 
griechischen  Kechtssprache  war  bei  dem  Fehlen  der  Institution 
der  stipulatio  die  bei  ihrer  Herübernahme  nötige  Benennung 
nicht  zu  entnehmen;  o^okoyia  hatte  einerseits  einen  zu 
weiten  Begriff,  andererseits  fehlte  ihm  das  ursprünglich 
sakrale  d.  h.  gerade  das  bindende  Element  der  sponsio.  Nicht 
von  der  die  Verpflichtung  angelobenden  Antwort,  dem  (Jrr'o/to- 
?.oyeh',  also  nahm  man  die  Benennung  für  das  neue  Recht, 
sondern  von  den  die  Verpflichtungsformel  hervorrufenden 
Fragen;  denn  ixegaräv,  t:TcQi>')r},6i,g  und  enegarr^u«  werden 
die  Übersetzung  von  stipulatio.'^) 

Ich  kehre  zu  dem  i-nsQiori]^a  r)]g  bt,  \-Jqhov  ■xäyov 
ßovXT]^  oder  rf/j  ßovXviS;  t&v  qp  zurück.  Die  Bedeutung 
stipulatio  ist  natürlich  ausgeschlossen,  ferner  sprachlich  wie 
saclilich  o'leich  unmöglich  die  Deutuuo^  auf  Anfrage  "^an'  den 
Rat;  also  besagt  jene  Formel,  daß  die  betretiiende  Körper- 
schaft eine  amtliche  Anfrage  an  eine  Pi-ivatperson  stellte,  um 
dieser  eine  Verpflichtung  aufzuerlegen.  Daß  sich  diese  Ver- 
pflichtung auf  die  Übernahme  der  Kosten  der  Ehrung  eines 
verdienten  Menschen  erstreckte,  folgt  aus  der  schon  hervor- 
o-ehobenen  Beschränkung  der  Formel  auf  das  Gebiet  der 
Ehrenbezeugungen.  Der  tatsächliche  Vorgang,  der  bei  den 
f3rfp«r);af<:- Urkunden  vorliegt,  ist  hiernach  leicht  vorzustellen, 
wenn  man  sich  gegenwärtig  hält,  daß  die  geldarmen  Staaten 
die  Aufzeichnung  der  Ehren beschlüsse  auf  Stein  ebenso  wie 
die  Errichtung  von  zuerkannten  Statuen  fast  durchgehends 
der  privaten  OpferwiUigkeit  der  nächstbeteiligten  Kreise  über- 
ließen. Von  Areopag  oder  Rat  wird  anerkannt,  daß  eine 
Persönlichkeit  öffentliche  Ehrung  verdient;  sie  wollen  den 
Staat  in  keiner  Weise  belasten,  halten  die  Persönlichkeit 
auch  nicht  für  so  bedeutend,  daß  sie  zum  Hypomnema  oder 
Dogma  hinaufgehen  wollen;  so  richten  sie  an  Verwandte  oder 
Freunde  die  Anfrage  von  Amts  wegen,  ob  diese  die  Aus- 
führung der  Ehrung  übernehmen  wollen.    Bejahende  Antwort, 

44)  [Belege  bei  Du  Cangk,  Glossarium  mediae  et  infimae  Grae- 
citatis  8.  v] 


i 


^2  lliu'No  Kk.ii,:  [71.  ^ 

deren  luaji  sii'li  vorhor  vor^ewissert  haben  wird,  imirlite  aus 
der  freiwillig  übernonnm'ueii  Leistunjj;  eine  rechtliehe  Ver- 
pHichtuuL!;-  So  der  äußere  Voroiuig.  Die  rechtiiclu'u  Ver- 
hältnisse sind  diese.  Die  Anfrage  setzt  einen  diese  begrün- 
denden Heschluß  der  betretfemlen  Körj)erselmft  voraus;  also 
stellt  «las  f:Tfnior),U(i  eine  vom  r.To/u'fiiiiarjü'udc,',  ööyfia  und 
i'il(pia}xci  unterschiedene  Art  der  Körpersehattsbcschlüsse  dar. 
Das  ijTSQiÖTyj^r.  tritft  keine  Verordnung,  daß  etwas  zu  ge- 
scludien  hat,  sondern  veranlaßt,  daß  etwas  geschieht,  indem 
es  die  freiwillige  Übernahme  einer  bindenden  Verpflichtung 
zu  einem  Handeln  im  Sinne  der  Aufrage  hervorruft.  Als  er- 
läuternde Bestätigung  dieser  Auflassung  ersclieint  nun  die 
Tatsache,  daß  der  f,Tf<>f6T)/U«-Beschluß  der  Ehrung  nur  von 
athenischen  Bürgern  gilt  (o.  S.  37);  natürlich:  eine  athenische 
Körporschuft  konnte  zur  Ehrung  eines  Nichtatheners  nicht 
wohl  unter  der  Bedingung  auffordern,  daß  dem  Staat  keine 
Kosten  dabei  erwuchsen.  So  gut  nun,  wie  jene  höheren 
Arten  von  Beschlüssen  von  den  einzelnen  Körperschaften 
in  völlio-er  Unabhängigkeit  voneinander  teils  gefaßt,  werden 
konnten,  teils  gefaßt  werden  mußten,  so  auch  der  iTcegonriua- 
Beschluß.  Daher  die  Formel  i  und  2  (o.  S.  37);  ebenso  lag 
die  Möglichkeit  vor,  daß  von  zwei  Seiten  gleichzeitig  ein 
sntQtoTriiiu  i)eschlossen  wurde;  das  beweisen  die  Formeln 
3  und  4,  die  eben  geradesowenig  auf  ein  organisches 
Kooperieren  der  beiden  Räte  oder  gar  des  Areopags  mit  Uut 
und  Volk  für  das  i:T£Qibzriiia  auszudeuten  sind,  wie  das  bei 
den  anderen  Beschlußarten  angängig  war.  Die  Selbständigkeit 
der  einzelnen  Beschlüsse  tritt  besonders  in  dem  Fall  5  hervoi-, 
wo  der  Rat  sich  mit  dem  insQÖjrrnia  begnügte,  während  der 
Areopag  zum  Hypomnematismos  hinaufgriff. 

Ehe  ich  dazu  übergehe,  das  hier  erörtei-te  Verhältnis 
der  athenischen  Körperschalteu  zueinander  auch  aus  dem 
gleichzeitigen  Beamtentum  zu  beleuchten,  muß  ich  die  in 
meinen  letzten  Worten  ausgedrückte  Graduierung  der  Be- 
schlußformen kurz  rechtfertigen;  es  lällt  damit  auch  ein 
Seiteulicht  auf  unsere  Lampriasinschrift. 


\ 


7 1,8]  Bkituäge  zur  Gkschichtk  dks  Akeopaos.  43 

Bei  deru  doy^ia,  i'>j(pi6ua,  vjTonvijfiatiöuög,  ineQbnvi^ia  lag* 
wenigstens  formell  die  Initiative  zu  einer  Ehrung  bei  einer 
der  staatlichen  Autoritäten;  auf  rein  privater  Seite  liegt  sie 
in  den  Fälleu,  wo  die  Formel  cdriiöä^ievog  (o.  ä.)  Tta^a  r/js'  f'l 
'AqsCov  Tcäyov  ßov?.i)g  oder  TtaQüc  r))g  ßovlr^g  rCov  cf  auftritt.  Von 
dieser  Seite  erfolgende  Errichtungen  von  Bildsäulen  an  öffent- 
lichen Stellen  —  denn  dieser  Standort  ist  die  Voraussetzuno- 
in  allen  jenen  Fällen  —  unterlagen  naturgemäß  der  Genehmi- 
gung der  zuständigen  Behörden;  als  solche  erscheinen  beide 
Uäte,  und  zwar  jeder  für  sich:  also  hat  jeder  für  seinen  Ver- 
waltungsbereich entschieden.  Eine  Abgrenzung  dieser  Bereiche 
ist  für  uns  nicht  möglich,  da  nur  zwei  Beispiele  einer  Ein- 
gabe an  die  ßovkri  rCov  (f  (IG.  III  822a.  836d)  bis  jetzt 
gefunden  zu  sein  scheinen.  Nun  ist  der  theoretisch  voraus- 
zusehende Fall,  daß  eine  Behörde  erst  durch  die  Eingabe  auf 
die  Notwendigkeit  oder  die  Berechtigung  einer  Ehren- 
bezeugung aufmerksam  gemacht  wird,  tatsächlich  eingetreten; 
da  eignet  sie  sich  das  Gesuch  als  Antrag  an  und  faßt  ihrerseits 
einen  positiven  Beschluß.  So  ist  IG.  III  704  zu  verstehen: 
döyauTi  \4QsoitayvxGiv  airriöafidi'ox^  tov  a:icovv^ov  i'.Qx^vxog 
xrX.;  daß  hierbei  die  hohe  amtliche  Stellung  des  Gesuch- 
stellers keine  Rolle  spielt,  beweist  der  auf  den  ersten  Blick 
widerspruchsvolle  Tenor  von  697,  xarcc  tö  ijtsfjcotij^uu  tfig 
ßov/Sfg  tüv  (f  —  aiT)j<5a^8vov  tov  (pCkov  Avq.  AlovvöCov 
OahjQtoig  y.xl.  Dionysios  hat  die  Erlaubnis  zur  Aufstellung 
der  Statue  seines  Freundes  nachgesucht;  der  Rat  erteilt  nicht 
einfach  diese  Erlaubnis,  sondern  sanktioniert  durch  einen 
f'nrf^okj^aa-Beschluß.  Dieser  Beschluß  ist  so  eiiie  reine  Form- 
sache, aber  er  hob  die  Errichtung  der  Bildsäule  doch  über 
die  Stufe  der  reinen  privaten  Ehrung,  auf  der  sie  bei 
schlichter  Erlaubniserteilung  verblieben  wäre;  natürlich  steht 
als  Ehrung  diese  Sanktionierung  durch  das  sTCSQcorrj^a  in  noch 
viel  stärkerem  Grade  unter  der  Erhebuno-  eines  Gesuchs  zum 
doy^a  des  Areopags  als  die  einfache  Genehmigung  unter 
dem  £7t£Q(orrjfia. 

Ich    habe    vorher    darauf  hingewiesen,   daß    die   Athener 

D  7 


i 


44  MiMNo  Kkil:  [7^,  8 

dieser  Spiitzeit  die  Hedeutuug  einer  Khrun^^  /.u  erlu'dicii 
snchtt-n.  indem  sie  m<)jj;liclist  iUl»'  staatlichen  Autoritäten  für 
tiie  Tereinten;  hier  halten  \y\v  dazu  das  KomphMnciit.  Nicht 
hloB  an  der  Zahl  der  Autoritäten  hinjjj  der  Wert  eiiiei-  Eiirung, 
fast  jihMche  Bedeutnu«'  muß  der  Form  «'c/ollt  worden  sein, 
in  welcher  die  Autoritäten  sich  an  der  Ehrung  heteilis^den. 
Gab  es  eiuen  rntcrsehied  zwischen  döy^ia  untl  v:Toui>i]u«rt6- 
U(>t:  des  Areopags,  und  galt  jenes,  wie  natürlich,  mehr  als 
dieser,  so  hat  der  junge  Lamprias,  ffir  den  der  Areopag  nur 
mit  dem  llypomnematismos  neben  das  l'.sephisma  trat,  noch 
nicht  die  höchste  Khrung  erfahren;  das  entspricht  ja  ganz 
dem  abdämpfenden  Verhalten  des  Areopags  in  dieser  Sache. 
Aber  es  gab  sehr  viel  mehr  Unterstufen:  Parallelbeschlüsse 
der  beiden  Räte,  Einzelbeschlüssc  der  Räte,  Psephisma  von 
Kat  und  Volk.  Die  Aveiteren  Abstufungen  durch  e7i{()iÖTrjfLu 
und  einfache  currt^i^  kannte  die  Ordnung  des  i.  Jahrh.  noch 
nicht.  Wie  das  eTTSQtörijua  erst  seit  Hadrian  auftritt,  so  be- 
gegnet die  Formel  mit  ulrrioäuevog  zuerst  im  3.  Jahre  nach 
der  STtidr^aCa  Hadriaus.^^)  Zu  den  mannigfachen  Veränderungen 
in  der  Organisation  und  Verwaltung  Athens,  die  dieser  erste 
Aufenthalt  des  Kaisers  veranlaBte"'),  gehört  auch  die  Einfüh- 
rung des  f,T£p(.jT);|UK-Beschhisses  und  der  uXrt]öig.  Durch 
Schaffung  dieser  Unterstufen  sollten  wohl  die  höheren  Ehrun- 
gen vor  der  Abnutzung  geschützt  werden,  die  Ijei  dem  eitel- 
holilen    Drängen    dieser    Generationen    drohte;    den    gleichen 

451  [d.  h.  126/7  bzw.  127/8,  je  nachdem  man  das  Jalir  des  ersten 
Aufentlialtes  mitrechuet  oder  nicht:  denn  die  Datierung  dieses  Auf- 
enthaltes ist  nun  entgegen  der  von  Otto  Tn.  Scmi.z  (Leben  d.  Kaisers 
Hadrian  1904)  S.  69  und  Koksemanx  (Kaiser  Hadrian  und  der  letzte 
große  Historiker  von  Rom  1905)  S.  50  gebilligten  An.setzung  von  Dlrb 
Reisen  des  Kaisers  Hadrian  1881)  S.  42ff.  auf  125/6  durch  das  vom 
Aug.  Sept.  in  Tibur  ausgefertigte  Sehreiben  Hadrians  bei  Bourglet, 
de  rebus  Delphicis,  1905,  82  3  auf  124  5  festgelegt,  wie  W.  Wkbki!, 
Untersuchungen  zur  Geschichte  des  Kaisers  Hadrian  S.  160  richtig 
gegenüber  Bolrguets  Komin-omißkritik  betont  hat.] 

46}  [Ich  verweise  auf  die  Zusammenstellung  von  Webki:  a.  a.  O. 
161  — 178,  ohne  ihm  in  allem  l^eizustimmen.] 


71,8]  Beitrage  zur  Geschichte  des  Areopaos.  45 

Trieb  suchte  die  Bindung  privater  Ehrungen  auf  ööentlicher 
Stätte  an  obrigkeitliche  Genehmigung  iu  ein  engeres  Bette 
zu  zwängen. 

Wie  im  Beginne  dieser  Darlegung  erwähnt  wurde,  hatten 
die  Römer  trotz  der  Isolierung  der  drei  Körperschaften  doch 
soviel  des  alten  Greschäftsganges  bestehen  lassen,  daß  Rat  und 
Volk  gemeinsam  }i-)](pi6iio.Tu  beschließen  konnten.  Es  blieben 
also  die  demokratischen  Versammlungen  gegenüber  dem  neu- 
gestalteten, aristokratischen  Areopag  iu  gewissem  Sinne  zu- 
sammengeschlossen. Dieser  steht  neben  jenen,  geht  keine  Ver- 
einiffuno;  mit  ihnen  ein;  die  Kommunalverfassung  des  römi- 
sehen  Athens  hat  ein  ausgesprochen  dualistisches  Gepräge. 
Auch  in  der  Organisation  des  Beamtentums  tritt  dies  zutage. 
Die  Römer  haben  die  bestehenden  Amter,  soweit  sich  ihre 
Beibehaltung  mit  der  veränderten  politischen  und  wirtschaft- 
lichen Lage  der  Stadt  vernünftigerweise  vereinigen  ließ,  nicht 
angetastet,  vieiraehr  die  ältesten  Ämter  gehoben;  das  ent- 
sprach ihrer  Politik,  der  Xeuordnung  die  Maske  der  :t(y.tQiog 
Ttolirsiu  vorzusetzen.  So  wird  das  Kollegium  der  9  Archon- 
ten  mitsamt  dem  ^ifiQvh,  des  Archou  und  dem  uvXriTr]g,  die 
beide  schon  von  Aristoteles  (rp,  Ath.  62,  2)  erwähnt  werden, 
beibehalten*'^),  ja  seine  Autorität  wird  gegenüber  seiner  poli- 
tischen Wichtigkeit  unter  der  Demokratie  dadurch  gehoben, 
daß  das  Amt  des  'Agycov  in  die  Reihe  der  höchsten  Kommu- 
nalämter aufrückte.  Fast  gleich  mit  ihm  rangierte  das  des 
ßa6ikavq. 

Anders  und  doch  auch  ähnlich  verfuhren  die  Römer  mit 
dem  Strateoenkolleurium.  Seine  Zusammensetzung  und  die 
Verteilung  der  Spezialressorts  in  der  Zeit  nach  307  kennen 
wir  nicht,  nur  so  viel  ergeben  die  Inschriften,  daß  die  Ressort- 
einteilung im  Verlaufe  der  Zeit  geschwankt  hat,  sowie  daß 
das  Kollegium  sich  bis  94  v.  Chr.  aus  mindestens  7  Mitgiie- 


47)  [Die  Archontenverzeichnisse  sind  von  Fimmkn  f  Athen.  Mitt. 
XXXIX,  1914,  S.  i3otf.)  zusammengefaßt.  Jüngstes  Verzeichnis  IG.  III 
1012  aus  der  Antoninerzeit.    \'gl.  jedoch  S.  64  ff.] 


4^  Bkuno  Kkif,:  I71,  f< 

(lern  ztisainineustt/.to  uinl  luclirgliedrig  auch  noch  in  tlen 
Jahren  von  83 — 78  war.  Als  Obmann  erscheint  deutlich  der 
öT()((Ttfyos  tnl  T((  o.tA«  (rovg  oTiXi'tug)***)  in  den  Jnschriften 
seit  c.  100  V.  Chr..  als  solcher  tritt  er  anch  darin  hervor,  dali 
er  aiiitlicli  einfach  n  lirfycat^yöi^  genannt  werden  kann,  wäii- 
rend  das  Kollegium  noch  heeteht,  allerdings  ist  er  einiger- 
maßen durch  die  Zusammenstellung  mit  dem  x»/(>t'^  rrjg  i^ 
AQfi'ov  :T(<yov  ßoi^Xijg  charakterisiert.''")  MaTi  sieht  die  Zeit 
nahen,  wo  das  Kollegium  eingegangen  ist  und  der  6T()UTy]ybg 
/>tJ  tu  ÖTrXtc  als  Einzelamt  allein  von  ihm  übrig  geblieben 
ist.  Das  ist  der  Zustand,  den  die  ganze  Kaiserzeit  aufweist""). 
Wann  diese  Veränderung  eingetreten  ist,  läßt  sich  aus 
unserem  Beobachtuugsmaterial,  soviel  ich  sehe,  unmittelbar 
weder  entnehmen  noch  folgern.  Der  früheste,  völlig  unan- 
fechtbare Beleg  für   das  Einzelamt   stammt  aus  der  Zeit  des 


48)  I  Variante  in)  toh-  orrAw}'  Posidouius  bei  Atheu.  \',  2130;  vgl. 
(hapot,  La  province  liouaaine  (1904)  S.  242,  wo  eiu  OTQUT)y/bs  M  t&v 
OTtXcov  für  Smyrna  belegt  vird.] 

49)  [Es  sind  belegt  oi  atgaDy/oi  durch  IG.  II  471  (==  ed.  minor 
1006),  95  für  123  I,  durch  IG.  II  470  (=  loii),  19  für  107/5.  Für  102/1 
biß  95/4  bezeugt  IG.  II  985  den  CTparrjyos  inl  tä  07rÄ.a,  zwei  tnl  t6 
vavrixbv,  einen  im  tijv  itttoacyisv^v  rriv  iv  aazsi;  dazu  kommen  für 
95/94  drei  üTgarriYol  inl  tov  neigcciü,  belegt  durch  IG.  II  1207.  Die 
Mehrzahl  ist  auch  noch  für  83--78  (Archen  Apollodoros;  vgl.  Kolbk, 
Archonten  S.  i4'4)  durch  IG.  11  481  (=  1039),  51  bezeugt.  Wenn  in  der- 
selben Inschrift  Zeile  63/64  neben  dem  x^pvl  ti]g  i^  'Aqbiov  iiäyov  ßov- 
Äjjc:  TÖv  arnciTTiyov  im  Singular  erscheint,  so  ist  dies  kein  Widerspruch, 
wie  NEt;BAUEn,  Atheniensium  ...  condicio  (1882)  p.  43 tf.  und  Hauvette- 
Besnaült,  Les  strateges  Atheniens  (1885)  p.  175  mit  Recht  bemerken, 
gegen  dei-en  Darlegungen  Gii.heets  Widerspruch  (Griech.  Staatsaltert.* 
I  181,  i)  nicht  in  Betracht  kommt.] 

50)  [DiTTENBKRQEK  zur  Sessclaufschrift  GrQaTrjyov  III  248.  —  Der 
neben  dem  aTQaTr,ybg  im  tu  onXa  in  der  Prytanenurkunde  III  1020 
(Ende  des  i.  Jahrh.  n.  Chr.)  erwähnte  argutiiyög  ist  ünterbeamter,  wie 
die  Abfolge  uvXrirrjc  —  n£Q'i  to  ßfjiicc  —  CTgarr^yog  —  XirovQybg  inl 
Tr]v  Ekiüöu  beweist.  Er  wird  wohl  so  etwas  wie  Polizeibeamter  ge- 
wesen sein.  Mau  vergleiche  damit  den  atQuxriybg  iirl  rfjg  f/ß^vTjs,  den 
vv>iT06ToaTTiy6g  bei  Chapot  a.  a.  0.  242,  oder  den  fftrparjjyos  tov  isoov  in 
Jerusalem  (Briess,  Wiener  Studien  XXXIV,  1912,  356).] 


71,8]  Beiträge  zur  Geschichte  des  Areopags.  47 

Tiberius  (IG.  III  651),  ist  also  von  dem  letzten  Zeugnis  für 
ilas  Kollegium  aus  den  Jahren  83  —  78  durch  das  Intervall 
eines  ganzen  Jahrhunderts  geschieden.  Für  die  Zeit  nach 
c.  80  V.  Chr.  bis  zum  Ende  des  Jahrhunderts  sind  nur  3  Ho- 
plitenstrategen  ^'),  kein  anderer  Stratege  belegt.  Das  Kollegium 
hat  also  die  sullanische  Verfassungsreform  nach  der  Erobe- 
rung im  Jahre  86  überlebt,  bald  darauf  versagen  die  Zeug- 
nisse für  sein  Bestehen. 

Man  wird  hiernach  annehmen  dürfen,  daß  das  Kollegium 
mit  der  Ordnung  Sullas,  die  es  beibehalten  hatte,  gefallen  ist, 
also  erst  nach  dem  Jahre  78.  Um  einen  schroffen  Bruch 
fiuch  in  diesem  Punkte  zu  vermeiden,  haben  die  Römer  die 
überkommene  Institution  zunächst  beibehalten,  sie  auch  über 
zwei  Generationen  bestehen  lassen,  außerdem  ihr  die  beson- 
dere Stellung,  die  sie  unter  der  Demokratie  besaß,  gewahrt, 
ja  diese  noch  gehoben.  Das  Strategenamt  war  seit  der  peri- 
kleischen  Zeit  unbedingt  das  wichtigste  politische  Amt,  weil 
ihm  das  ins  agendi  cum  populo  ohne  die  Zwischeninstanz  der 
Bule  zustand;  nun  erhält,  wenn  auch  noch  nicht  sogleich,  so 
doch  sicher  im  Beginne  der  Kaiserzeit,  spätestens  unter  Clau- 
dius der  OTQaTViybs  tnl  rä  oitka  allein^-)  die  Initiative  für  alle 
Anträge  und  Anliegen,  die  Rat  oder  Volk  angehen,  und  nur 
in  den  Areopagiten  konnte  er,  wie  gezeigt  (S.  35),  Konkur- 
renten finden.  In  der  offiziellen  Beamtenreihenfolge  gehört 
ihm  die  erste  Stelle  vor  den  Archonten.  Diese  Ordnung  be- 
gegnet sofort  in  dem  ältesten  einschlägigen  Zeugnis  (102/1 
V.  Chr.:  IG.  II  985)  und  es  liegt  kein  Grund  vor,  ihre  Ent- 
stehung erst  in  die  Zeit  dieser  Bezeugung  zu  setzen;  werden 
doch  auch  bei  der  Führung  der  delphischen  Pythiadentheorien 
Archon  und  Stratege  völlig  paritätisch  behandelt,  ^^j  Die 
Stellung   ist   den  Inschriften    nach    die  ganze  Kaiserzeit  über 


51)  [Übersicht    bei  Suxdwall,    r)fversigt    af    Finska  Vetenskaps- 
Societetens  Förhandlingar  L  (1907 — 8)  S.  10.] 

52)  [SwonoDA,    Yolksbeschlüsse    192.    Vgl.  Strklow,    Zapiski    der 
histor.-phil.  Klasse  Akad.  Petersburg  XLVIII,  1898,  304.] 

53_)  [Colin,  Le  culte  d'Apollon  Pythien  1905,  31  ff.;  9o).J 


48  Bkuno   Kkii.:  |7  I.  s 

die  «^(leiohe  geblieben,  wie  denn  uuch  l'hilostratos  an  oft  zi- 
tierter Stelle  bezeugt:  diiccn()£:rt)i;  dh  xal  tä  :TohTixa  yevöfte- 
roij  (^der  Sophist  iVpollonios  von  Athen)  .  .  .  h>  rt  keitovQ- 
yiai^a,  clg  ufyCöra^  \-id^tji'atoi  vo^iit.()vai,  r»^/-  ti-  /'ttcoi/j'/jo?'  xtn 
T>)i'  f-T<  Tc'iv  öttXo)!'  f:ieTQi'cZi]/^*)  Die  (lesrhicklichkeit  der 
Röraei'.  den  Scliein  {detätvoUer  Sehonung  altüberkoniuiener 
Einrichtungen  /u  wahren  unA  diese  doeh  für  ihre  Zwecke 
und  den  veränderten  äuüereu  Verliältnissen  giMnäli  umzugestal- 
ten und  zu  verwerten,  erfaßt  man  hier  nicht  weniger  deut- 
lich als  l)ei  der  Reorganisation  des  Areopags.  Die  Zusammen- 
ziehuiiiT  der  Kollegiums  auf  das  Einzolamt  ließ  sich  den 
Athenern  gegenüber  unmittelbar  durch  den  Hinweis  auf  die 
zusammengeschrumpfte  Verwaltung  und  die  zurückgegangene 
wirtschaftliche  Lage  der  Kommunalstadt  rechtfertigen.  Die 
Ausstattung  dieses  Amtes  mit  einzigartigen  Machtbefugnissen 
widersprach  nicht  der  athenischen  Tradition,  entsj)rach  aber 
dem  Drängen  der  hellenistischen  Zeit  nach  monarchischer  Zu- 
spitzung von  Stadt-  und  Bundesverfassungen.  Den  Zwecken 
der  römischen  Regierung  mußte  diese  Zuspitzung  in  beson- 
derem Maße  entgegenkommen,  denn  so  hatten  sie  eine  ver- 
antwortliche Stelle,  die  sie  stets  in  der  Hand  halten  konnten. 
Die  Stellung  des  Strategen  war  tatsächlich  schon  in  der 
I.  Hälfte  des  i.  Jahrh.  v.  Chr.  so  prominent,  daß  sein  Amt  als 
eponym  neben  dem  Archontat  sich  einzuführen  begann.  Man 
hat  die  Zeugnisse  dafür  fortinterpretieren  wollen ^'J,  tatsäch- 
lich ist  das  bei  einigen  die  richtige  Kritik  gewesen,  aber 
das  wächtigste  aus  Cicero,  wonach  ein  Hypomnematismos  in 
der  Zeit  vor  51  v.  Chr.  nach  dem  Strategen  (ad  Att.  V,  9  Po- 
lycharmo  praetore)  datiert  werden  konnte,  übersehen,  und 
dies   stützt  andere  angezweifelte  Belege. 

Daß    hier    ein    gewisser    Kompromiß    stattgefunden    hat, 
folgt  aus  der  in  der  beginnenden  Kaiserzeit  zuerst  auftreten- 


54)  [Leben  der  Sophisten  II  20,  i.] 

55)  [Gnaedingeu,  De  Graecorum  magistratibus  eponymis,  Diss. 
Straßb.  1892  p.  44sqq.  Der  Stratege  hat  aber  gar  nichts  mit  dem 
Areopag  zu  tun.] 


71,8]  Beiträgk  zuk  Geschichtk  des  Areopags.  49 

den^®)  Erweiterung  des  alten  einfachen  Archontentitels  zu 
ccQxav  inavvuog]  hierdurch  sollte  das  Vorrecht  der  Eponymie 
dieses  Beamten  gegenüber  dem  Strategen  gesichert  werden. 
Das  erschien  auch  als  ein  hutk  za  ndxQiK  TCohxsvsGQ'ia  und 
war  zugleich  eine  sehr  verständige  Maßregel,  da  sie  dem  Un- 
fug doppelter  Datieruugsweise  steuerte. 

Die  Würdigung,  die  diesen  zwei  Ämtern  Philostratos  (oben 
S.  48)  angedeihen  läßt,  fordert  Kritik  heraus;  ich  denke  dabei  in 
erster  Linie  nicht  an  den  y.fiQv^  des  Areopags  —  das  Ver- 
hältnis seiner  Stellung  zu  der  jener  beiden  Beamten  wird 
später  zur  Sprache  kommen  — :  Cassius  Dio  (LXIX  16)  redet 
richtiger,  wenn  er  das  epouyme  Amt  als  die  iieyiGtri  ciQxi'i^^^ 
bei  den  Athenern  bezeichnet.  Das  bezeugt  aus  den  Inschrif- 
ten mehr  als  ein  oursus  bonorum:  ausnahmslos  steht  'äQ^^a^ 
ri]v  {TTcbvvpiov  aQxrjv'  an  erster  Stelle ^^);  das  ergibt  sich  auch 
daraus,  daß  Kaiser,  Fürsten  und  Männer  fürstlicher  Stellung 
Eponymoi  Athens  haben  sein  mögen,  keiner  «Jr^^Tj/yö^  stcI 
tä  ojiXa.    Das  Archoutat  war  eben  im  wesentlichen  ein  Titu- 


56)  [Die  amtlichen  Archontenlisten  ergeben,  daß  bis  9  n.  Chr. 
iniovv[ios  fehlt.  Dies  zeigt  in  ihnen  IG.  III,  loii  mit  dem  Archon 
Metrodorus,  der  nach  allgemeiner  Auffassung  (Dittenisergek  zu  108  r 
in  das  Ende  der  Regierung  des  Claudius  gehört.  Hiernach  kann  auch 
die  Liste  1006  nicht  mehr  unter  Augustua  fallen.  Das  paßt,  da  Nlv.6.- 
v<oQ  viog  'OuriQog  als  Stratege  erscheint,  der  III,  i  erwähnt  wird. 
Diese  Inschrift  aber  hat  Neubai;ek,  Commentationes  epigraphicae  p.  147, 
in  die  Zeit  des  Claudius?  verlegt,  damit  allerdings  den  Widerspruch 
DiTTENBEKGERS  gcfundeu.  (Vgl.  jetzt  ed.  min.  1069  d.  Herausgeber.) 
IG.  in,  88  mit  der  einfachen  Titulatur  äQxcov  nolvv.lino?  stammt,  wi« 
die  delischen  Inschriften  gelehrt  haben,  aus  frühaugusteischer  Zeit, 
gehört  also  in  IG.  II  (Pros.  Att.  11  978 f.).  Theatersessel  254  kqxovxo^ 
muß  also  aus  früher  Kaiserzeit  stammen,  wenn  die  Inschrift  nicht 
mechanisch  erneuert  wurde.  Der  Sophist  Herennius  Dexippus  erscheint 
natürlich  mit  dem  einfachen  äoyoiv  (III  715).] 

57)  [Damit  deckt  sieb  das  Zeugnis  des  Trebellius  Pollio  Script, 
hist.  Aug.  vita  Gallieni  11,  3:  Gallienus  apud  Athenas  archon  erat,  id 
est  summus  magistratus.] 

58)  [Z.  B.  Ephem.  Archaeol.  1883,  139;  1885,  147  n.  25  (1.  Hälfte 
des  3,  Jahrb.);  1895,  iii  (=  Dittenbergek*  409)  im  Jahre  163.] 

Phil.-hiät.  Kls3äe  1910.   Brl.  LXXI.  S.  4 


so 


Um  NO   Kr.ii,:  \l^,^ 


larumt,  »las  des  Strategen  »mu  volles  Vorwnltmi«,'saiut.  Das 
alte  Amt  i:ai>  höhere  Ehre,  »las  jün«j;erf  des  Strategen  wirk- 
liehe  Maeht  und  durcligreifenden  Einfluß  in  der  VerwrtUung, 
/uinrtl  es  auch  wiederholt  hekleidet  Werden  konnte.  Das  ist 
aiudi  ein  Halancement.  Man  wird  hier  fragen:  was  wissen  wir 
von  den  Amtspfliehten  und  -l)el"ugnisscn  beider  Beamten? 
Die  Demokratie  hatte  die  Archonten  schon  völlig  aus  der 
HcLMeruniX  und  Verwaltung  ausgeschieden,  also  auch  von  den 
StratetJ-en  »>-esondert.  Es  ist  vorauszAisetzen,  daß  die  R(>mer 
bei  ihrer  Tendenz,  die  kommunalen  Faktoren  '/u  isolieren, 
nicht  da  eine  Verbindung  schufen,  wo  sie  keine  vorfanden. 
Tatsächlich  findet  sich  nicht  die  geringste  Si)ur  einer  ver- 
fassungsmäßig angeordneten  Kooperation  der  beiden  amtli(,'hen 
Stellen.^») 

Der  Amtskreis  des  Strategen  ist  im  einzelnen  füglich 
nicht  zu  bestimmen.  Da  durch  ihn  alle  Anträge  an  Hat 
und  \'(dk  ergehen,  ruht  in  letzter  Linie  die  ganze  Verwal- 
tung, soweit  sie  diesen  Versammlungen  gelassen  war,  in  sei- 
ner Hand.  Die  literarische  Überlieferung  setzt  ihn  mit  der 
Ephebie  in  Verbindung,  beschränkt  andererseits  seine  Tätig- 
keit auf  die  Fürsorge  für  die  Volksernährung.  ^'^)  Das  erstere 
bestätigen  die  Epbebeninschriften  seit  dem  i .  Jahrh.  v.  Chr., 
für  die  zweite  Angabe  zeugt  seine  Nennung  in  der  hadria- 
nischen  Verordnung  über  Ölverkauf*^\),  aber  falsch  ist  in  ihr 
ebenso  die  Beschränkung  auf  diese  Tätigkeit  wie  die  Auf- 
fassung, daß  dies  eine  Neuerung;  vielmehr  gehörte  die  Für- 
sorge für  Landesverpflegung  sicher  seit  dem  4.  Jahrh.  v.  Chr. 
zu   den   Pflichten   des   Strategenkollegiums.''-)     Beide    Betäti- 

59)  [Der  Antrag  von  Strateg  und  Archon  begründet  keine  Ausnahme; 
denn  niclit  als  Eponymus,  sondern  als  hoher  Beamter  kann  er  im  Ver- 
ein mit  den  Strategen  Anträge  stellen] 

60)  [Ephebie:  Plut.  quaest.  sym.  9,  i,  i  (737  D)  —  Volksernähruug: 
Philoßt.  vita  sophist.  I  23.  Das  Zitat  II  16  bei  Gilbert  P  182,  i  gehört 
nach  Smyma.] 

6i)'[IG.  III38,  50] 

62)  [Arietot.  noX.  'A&r,v.  43,  4=  y-««  ^tgl  citov  x«i  mgl  qpvÄax^g  tt/s 
^eöpa?  xoriUUTtifiv.    Die  Zusammenstellung  mit  (fv7.uy.fji  ißt  beweisend. 


71,8]  Beituäge  zur  Gkschichte  des  Areopags  51 

gungen  leiten  sich  ohne  weiteres  aus  dem  Wesen  des  Amtes 
her.  Von  der  amtlichen  Tätigkeit  des  Archonten  wissen  wir, 
soviel  ich  sehe,  nur  tlas  eine,  daß  zu  ihr  wieder  die  Leitung 
der  großen  Dionysien  gehörte,  die  der  Arehon  im  Jahre  307/6, 
wie  es  seheint,  an  einen  ccyavod-hrig  hatte  abgehen  müssen. 
Wann  die  Zurückweisung  dieser  Amtsohliegenheit  an  den 
Archen  erfolgte,  steht  nicht  fest;  wir  haben  dafür  überhaupt 
nur  zwei  Zeugnisse,  eine  Ehreninsehrift  aus  den  Jahren  90 
bis  100  uDd  die  literarische  Nachricht,  daß  Hadriau  als  Arehon 
die  großen  Dionvsien  geleitet  habe;  das  war  im  Jahre  1 1  i/i  2  ^^). 
Ein  sicherer  Analogieschluß  erlaubt  die  Betrauung  des  Archonten 
mit  der  Leitung  des  Festes  bis  an  das  Ende  der  2.  Jahrb. 
n.  Chr.  zu  verfolgen;  im  J.  192/3  hat  nämlich  der  Basileus 
noch  das  Parallelfest  der  Lenäen  geleitet  (IG.  III  11 60,  12  ff.) 
Das  Bestehen  der  Dionysien  ist  sicher  belegt  noch  für  die 
Zeit  um  220^);  da  eine  abermalige  Änderung  in  der  Fest- 
leitung nicht  wahrscheinlich  ist,  wird  diese  nicht  nur  auch  so 
lange  beim  Arehon  o-eblieben  sein,  sondern  bis  zum  Ein- 
gehen  der  pagaueu  Feste  in  Athen,  also  bis  in  den  Ausgang 
des  4.  Jhd.  Wenn  der  Basileus  wenigstens  im  i.  Jahrb.  v.  Chr. 
noch  die  Prozesse  dösßsfag  zu  instruieren  und  vor  die 
Richter  zu  bringen  hatte,  so  wird  dem  Arehon  seine  alte 
Gerichtsbarkeit,  d.  h.  also  auch  seine  Amtstätigkeit  auf  dem 
Gebiete  des  Familien-  und  Familiengüterrechts  bis  in  diese 
Zeit  belassen  worden  sein.  Ob  und  wie  weit  spätere  Ver- 
fügungen an  dieser  alten  Ordnung  geändert  haben,  entzieht 
sich  unserer  Kenntnis.  Wir  sind  über  diese  kommunalen 
Ämter  durchweg  ja  sehr  schlecht  unterrichtet,  aber  für  die 
beiden    wichtigsten    ergibt    sich    doch    das    eine    mit    Sicher- 

In  dem  getreidearmen  Attika  hatte  man  früh  gelernt,  was  der  jetzige 
Krieg  gelehrt,  daß  wirtschaftliche  Rüstung  neben  der  militärischen 
gtehen  muß.] 

63)  [Alte  Ordnung  Ariet.  noX.  56,  5.  Über  die  Zwischenperiode  vgl. 
Rki-!CH  bei  Pauly-Wissowa  I  875.  Zur  Agonothesie  der  Archonten  in  der 
Eaiserzeit  IG.  III  78;  Cassius  Dio  6y,  16.] 

64)  [Philostrat.  vita  Apoll.  4,  21.] 

4* 


52  BuiNi»  Kkti,:  [71,  ^ 

heit:  sie  stehen  in  verfa>suugsinäbigrr  (i<\sLhiedenheit  neben 
einander;  die  Befu»rnis8e  des  einen  sind  weder  !il)hiingi};'  von 
denen  des  anderen,  noch  sind  sie  weclisolseitig  verschränkt, 
noch  gar  einander  ungoglielien.  \)vr  Archon  bleibt  von  der 
gesamten  Koinnuuialverwallnng,  soweit  sie  der  Verwaltung 
der  ehemaligen  freien  Polis  entsprach,  ausgcschlossj-ii.  Die 
Initiative  auf  diesem  Gebiete  ist  in  die  (luusimonarchischc  Spitze 
des  Einzelbeamten  aus  der  früheren  kollegialen  oder  körper- 
schaftlichen Form  (lieser  staatsrechtlichen  llandlungsbefähi- 
guug  und  -betätigung  /usaramenge/ogon.  Äußerlich  betrach- 
tet war  fast  alles  wie  ehedem  und  der  Schein  konnte  um 
so  leichter  täuschen,  als  die  alten  mit  der  Initiative  ausge- 
statteten Gewalten,  die  Bule  und  die  Prytanen,  in  den  über- 
kommenen Formen   weiterarbeiteten. 

Als  eine  Neuerscheinung  in  dem  athenischen  Beamten- 
turne  führen  die  Inschriften  seit  dem  Ausgange  des  2.  Jahrh. 
v.  Chr.  den  xijgvt,  t);^  e^  'JoeCov  nüyov  ßov},f\g  ein,  in  den 
gleichen  Zeugnissen,  denen  wir  die  durch  die  Römer  verän- 
derte Stellung  der  Körj)erschaft  selbst  entnehmen.  Er  ist 
der  leitende  und  die  Körperschaft  nach  außen  vertretende 
Beamte  des  Areopags.  Es  fragt  sich:  ist  das  Amt  bei  der 
Neugestaltung  des  Areopags  erst  geschaffen  worden,  oder  hat 
wie  die  ganze  Körperschaft  in  der  Gesamtverfassung  so  das 
schon  bestehende  Amt  in  ihm  selbst  eine  Erhöhung  erfahren? 
Vorbedingung  für  eine  Antwort  wäre  die  Kenntnis  der  inneren 
Organisation  des  Areopags  in  vorrÖniischer  Zeit.  Davon  wissen 
wir  .schlechterdiuors  nichts.  Wir  wissen  nicht,  wer  ihn  zu- 
sammenberief  und  seine  Sitzungen  leitete,  falls  er  nicht  etwa 
als  Gerichtshof  konstituiert  wurde,  wo  natürlich  dem  Archon- 
Köuisr  die  Ladung-  und  der  Vorsitz  zustand,  wissen  nicht, 
unter  welchen  Formen  er  tagte  und  verhandelte,  wissen  nicht, 
welche  exekutiven  Orgaue  er  für  seine  Beschlüsse,  übei-  Nach- 
forschungen nach  öffentlichen  Vergehen,  Aussetzung  von  De- 
latorenprämien  usw.  hatte.  Der  Areopag  erscheint  stets  in 
einer  fast  mystischen  Abgeschlossenheit,  unter  deren  schauer- 
vollem   Nimbus   wie    bei    der    heiligen   Feme    Individuellem 


71,8]  Beitkäge  zur  Geschichte  des  Areopag.s.  ^^ 

versagt  ist  in  die  Erscheinung  zu  treten.  Wie  unpersönlicli 
sein  ganzes  Wesen  auch  geworden  sein  mag,  er  konnte  eines 
Organes,  durch  welches  er  seine  WiUensmeinung  kundtat, 
nicht  entbehren;  auch  Avenn  Avir  dem  y.f,Qv^  nicht  in  dem 
romanisierten  Areopag  begegneten,  müßten  wir  das  Vorhan- 
densein eines  solchen  Beamten  dieser  Körperschaft  als  prak- 
tisch unabweisbare  NotAveudigkeit  fordern.  Man  kann  also 
nicht  im  mindesten  daran  zweifeln,  daß  wie  es  stets  einen 
xf]Qv^  trjg  ßovXfjg  (später  :<cd  tov  d)/fiov)  gab,  so  in  vor- 
römischer Zeit  einen  TtijQv^  der  alten  ßovhj.  Diese  Auffassung 
hat  innere  Wahrscheinlichkeit  dadurch,  daß  sie  für  die  Be- 
handluno*  dieses  Amtes  seitens  der  Römer  genau  das  gleiche 
Verfahren  voraussetzt,  wie  es  hier  schon  so  oft  hat  hervor- 
gehoben werden  müssen:  sie  schufen  nichts  Neues,  sondern 
knüpften  wieder  an  Bestehendes  an,  wahrten  die  alte  Form, 
gaben  ihr  aber  einen  ihren  Zwecken  entsprechenden  neuen 
Inhalt.  Was  haben  sie  aus  dem  'Sprecher'  des  Areopags  ge- 
macht? Nicht  mehr  und  nicht  Aveniger  als  einen  Präsidenten 
des  Staates  neben  dem  6rQUX7]'yüg  s^l  tovg  b%Uxag.  Zweifelt 
jemand  daran,  unsere  Lampriasinschrift  enthält  den  urkund- 
lichen Beweis.  Nach  Aristoteles  (rp.  Ath.  44,  i)  hatte  der 
Tagespräsident,  der  sjCLöxdrrjg  räv  Trovravtcov  außer  den 
Schlüsseln  zu  den  Heiligtümern,  in  denen  die  Staatsgelder 
und  -akten  deponiert  waren,  auch  das  Staatssiegel  in  Ver- 
wahrung, Avas  für  seine  Zeit  durch  die  große  Inschrift  über 
der  isQ(c  oQydg  vom  Jahre  3521  (IG.  II  5,  104*  (=  ed.  min. 
204J,  40)  bestätigt  wird.  Es  liegt  nicht  der  geringste  Anlaß 
zu  der  Annahme  vor,  diese  streng  demokratische^)  Einrich- 
tung sei  in  A'orrömischer  Zeit  geändert  worden.*'*')  In  unserem 


65)  [Keil  bei  Gehcke-Nobdkn,  Einleitung  *III  377.J 

66)  [Durch   die   Ergänzung   Köhlers   IG.  II  443  (=  ed.  min.  1037) 
(ohne  Zeitangabe,   aber   nicht  zu  jung   ?Mr,  doch  A)  rovg  dh]  ctQa.rri- 

yovi  S^anf:u\^Ha  ävziyqufpov acpQayioa^svovg  rjj    driiio6l]ccU  a)(pQa' 

'/idi  darf  man  sich  nicht  täuschen  lassen.  Es  muß  asaijucca^hvov  heißen, 
übrigens  auch  nach  dem  festen  Sprachgebraucli  das  Medium  dtaiti^t- 
t^ae^ui  eingesetzt  werden,  j 


54  Ijruno  Kr.ii,:  [7^,^ 

Hypoiuuem.itismos  heißt   os  nhev.  röi'  de  xiJQvyiu   /Jvoiddiir 
■yQati'ai  rjj«  'E:TiÖcii'oii>)V  TtoXei  Kcd  ()t(cnei.nl-aoi}(((   top  vjto^vij 
fiaTLöubv    (5  t,  u  }]i>ä  u  f  i'o  1^    (^niclit    ()S(S}jftix>iun'()i')    rf^t    dtino- 
6  IUI    riq)Qa}'f.tdi. 

Also  in  neronisclier  Zeit  führt  der  erste  Beamte  des  Areo- 
pags  das  Staatssiepjel.  Was  hieraus  für  die  staatsrechtlicTio 
Stellung  des  Areupags  /u  f()l<»orn  ist,  wird  weiterhin  zur 
Sprai'lie  koninien,  für  die  Stellung  des  Keryx  hedeutet  es, 
daß  er  nach  plutarehischeni  Ausdruck  wirklich  die  iTCLGvcGia 
des  Areopags"')  hatte,  nicht  anders  als  der  Stratege  in  der 
Bule.  Daher  die  Tatsache,  daß  dies  Amt  in  der  ofliziellen 
Aufzählung  IG.  III  lo  (-=  ed.  min.  1077  f^ws  20Q/10)  mit 
dem  Epouymos  und  Strategen  unter  dem  Gesamttitel  oi  kq 
Xovteg  zusammengefaßt  ist  (o.  S.  32)  und  in  vollstiuidigeien 
Amteraufzählungen  auf  Ehreniuschriften  regelmäßig  neben 
ihnen  jjenaiint  wird.  Diese  Erscheinuucr  richtig  zu  werten, 
muß  man  das  ganz  vereinzelte  Vorkommen  des  Titels  ßadt- 
X(vg  zwischen  den  anderen  Ämtern  in  den  Ehreninschrif- 
ten dagegen  halten.  Der  ikcatkevg  gehörte  eben  juit  den 
Thesmotheteu  zusammen  in  die  jenen  drei  Amtern  nächst 
untergeordnete  Beamtenschieht.^**)  Eine  Rangfolge  zwischen 
den  drei  höchsten  Beamten  ist  nur  insofern  zu  beobachten, 
als  dem  Eponymos  stets  der  erste  Platz  zukommt  in  amt- 
lichen wie  in  privaten  Aufzeichnungen ^'■');  in  jenen  hat  ferner 
der  Orgarriyos  den  Vortritt  vor  dem  x)J()i'|;  aber  daß  in  dieser 
Reihenfolge  keine  Wertung  der  Amter  zu  suchen  ist,  zeigen 
einmal  die  Privatweihungen,  die  den  x^](>^'^  häutiger  dem 
öTQaTiiyüg  voranstellen,  und  ergibt  sich  aus  dem  Prinzip,  das 
äußerliche  Ansehen  der  alten  demokratischen  Institutionen  im 

67)  [au  seni  20,  794  B.] 

68)  [Ich  bin  geneigt,  das  äpfiaiaa  njv  toi  ßaadsoyg  iv  &iou.o9tTais 
uQxrfv  IG.  ni  716  so  zu  verstehen;  dem  Eponymus  stehen  die  anderen 
8  Archonten  als  O'ffffiottf'rat  gegenüber] 

69)  [Es  sind  keine  cursus  bonorum  in  römischem  Sinne;  denn  es 
fehlt  das  chronoiogisciie  Moment  des  Aufsteigens;  sonst  könnte  das 
höchste  Amt  nicht  regelmäßig  vorabstehen.] 


71,  8J  Bkitkäge  zur  Geschichte  dks  Aukoi'ags.  55 

iuuereu  Komraunallebea  nach  Möglichkeit  zu  wahren.  In  den 
drei  höchsten  Beamten  spiegelt  sich  die  Gesanitorgaiiisation 
der  athenischen  Verfassung  römischer  Zeit  in  ihrem  Dualis- 
mus und  ihre  äußerlich  festgehaltene  Einheit  wider.  Zwei 
Präsidenten  hat  die  Kommune  entsprechend  der  Zweiheit  ihrer 
beratenden  Organe:  der  Stratege  ist  der  der  alten  demokra- 
tischen Körperschaften,  der  Keryx  der  des  timokratisch-aristo- 
kratischen  Areopags.  Sie  führen  die  Geschäfte  jeder  in  den 
Grenzen  der  von  ihnen  geleiteten  Teile  des  kommunalen  Lebens, 
sind  die  höchsten  Verwaltungsbeamten.  Beide  hatten  ihren 
Ehrenplatz  im  Theater  Sitz  an  Sitz  (IG.  III  250),  wie  es  den 
gleichgestellten 'Präsidenten  gebührt.  Über  beide  erhebt  sich, 
ohne  an  diesen  Geschäften  irgend  teilzuhaben'^''),  allein  auf 
Grund  der  ihm  zuerkannten  Amtswürde  als  Ehrenpräsident 
des  Kommunalstaates  der  Archon  (Eponymos);  er  verkörpert 
die  Einheit  des  Gemeinwesens.  Das  Amt  des  Ehrenpräsidenten 
haben  die  Kaiser  und  niederen  Potentaten  anzunehmen  geruht, 
die  in  der  Liste  seiner  Eponymoi  zu  führen  Athen  sich  be- 
rühmen  wollte. 

Das  war  nur  eine  äußerliche  Überbrückung  oder  Ver- 
schleierung des  die  Verfassung  durchziehenden  Dualismus; 
aber  sie  erfüllte  ihren  Zweck.  Die  geschickte  Verkoppelung 
der  entkräfteten  demokratischen  Organe  mit  dem  wieder- 
belebten aristokratischen  Rate  war  tatsächlich  dazu  angetan, 
von  sophistischen  Lobrednern  Athens  als  eine  Verwirklichung 
der  seit  fast  einem  halben  Jahrtausend  gepriesenen  gemischten 
Verfassung  betrachtet  zu  werden,  einem  Manne  wie  Aristides 
das  Lob  der  athenischen  Verfassung  seiner  Zeit  als  glücklich- 
ster iili,tg  TtohtELüv  einzugeben.  Und  mit  dieser  Auffassung 
konnte  er  des  blinden  Beifalls  der  in  ihrer  Eitelkeit  so  gern 
sich  selbst  täuschenden  Athener  nicht  weniger  sicher  sein 
als  der  verständnisvollen  Zustimmung  der  zielbewußt  täuschen- 
den Römer. 

Der    Form    nach    w^ar    ein    Gleichgewicht    zwischen    den 


'o^ 


70,.  [Die  Archonten  erbitten  vom  Areopag  Aufstelluug  IG.  III  7iO-] 


56  Bkitno  Kkii-:  [71.8 

beiden  Seiten  der  Uei;ierun«^8gewalton  hergestellt  nud  mit  der 
Zuerkeunung  der  besonderen  Stellung  des  Arclionten  änßerlieh 
sogar  der  demokratischen  Tradition  ein  Privile^j;  erteilt;  in 
Wahrheit  stand  die  gesamte  Kegierung  vom  Areopag  in  Ab- 
hängigkeit, empfing  die  Verfassung  von  ihm  den  <  'harakter.  Es  ist 
erstaunlich,  daß  man  die  völlig  neue  Stellung,  die  der  Areopag 
seit  der  reimischen  Verfassungsänderung  einnahm,  lial  leugnen 
können.'*)  liaii/  al)g(>8ehen  von  direkten  Zeugnissen  beweist 
ein  Blick  in  die  Inschriften  den  Umschwung  unwiderleglich. 
In  den  vier  Bänden  der  IG.  II  ist  der  Areopag  nur  in  zwei 
der  voniimischen  Periode  angehörenden  Fällen  ötientlicher 
Maßnahmen  erwähnt.'')  Die  neue  Periode  wird  sofort  von 
dem  l)ekannten  Psephisraa  mit  der  Maß-  und  Gewichtsord- 
nung (IG.  11476=  1013)  eröÖ'net''^),  in  welchem  dem  Areo- 
pag ein  Beaufsichtigungsrecht  zugesprochen  wird.  A^om  i .  Jahrh. 
V.  Chr.  ab  bildet  der  Name  des  Areop;)gs  oder  seines  Keryx 
eine  der  häufigsten  Erscheinungen  in  den  Inschriften.  Gesetzt 
der  Areopag  hätte  in  römischer  Zeit  wirklich  keinen  faktischen 
Maclitzuwachs  erhalten,  so  würde  doch  aus  seinem  }tlötzlichen 
Auftreten  in  den  Urkunden  dieser  Zeit  zu  folgern  sein,  daß 
seine  formale  Stellung  in  dem  Staatsorganismus  eine  höhere 
geworden  war,  deren  rechtliche  Folge  eben  die  Notwendig- 
keit akteumäßiger  Erwähnung  war.  Allein  für  eine  starke 
Erstreckung  seiner  Kompetenzen  nach  außen  hin  wie  in  der 
inneren  Kommunalverwaltung  liegen  zahlreiche  Beweise  vor. 
Nach  außen:  durch  seinen  Obmann  führt  er  das  Staatssiegel, 
über  das  einst  die  Bule  durch  ihren  tTilöTKriqq  verfügte;  auf 
seine  Anordnung  entsendet  sein  Obmann  amtliche,  durch 
dieses  Sieorel  beo-laubiste  Schriftstücke  über  die  Grenzen  des 

71)  [Philipi'i,  Der  Areopag  und  die  Epheben  S.  309ff-J 

72)  [Besondere  Fälle:  Orejiasiiiechrift  II  5,  104*  (=  ed.  min.  204), 
IG  und  die  im  Duplikat  erhaltene  Inschrift  II  i,  252  und  252''  (=479, 
480)  au.s  dem  Jahre  305/4,  also  noch  vor  der  Einführung  der  gemäßig- 
ten Demokratie  im  Jahre  301,  vgl.  Fkrousox  Klio  V  (1905)  'SS^m 
Ed.  Meykr  ebda.  180  ff.] 

73;^  [S.  zuletzt  ViEDEBANTT.  Hemies  47  (19 12)  449 ff] 


71,8]  Beiträge  zuk  GKSciiumrE  des  Arkopags.  57 

Landes,  wie  es  einst  der  yQCi^nuTSvg  t^jj  ßovXfjg  getan  hatte. 
Also   der  Areopa«^   hat   eine   der   wichtigsten  Funktionen  der 
demokratischen  Bule  übernommen:  er  vermittelt  den  Verkehr 
mit  der  politischen  Außenwelt,  vertritt  den  Gesamtstaat  gegen- 
über den  Rechtsgebieten,  die  in  der  Zeit  der  freien  Polis  als 
Ausland  gelten.    So  liegt  auch  der  Verkehr  mit  der  römischen 
Regierung  zunächst  in  seiner  Hand;  daher  ist  er  die  Instanz, 
an  die  die  amtliche  Adresse  in  erster  Linie  sich  wendet:  Tiji  s^ 
^^QSt'ov  TTciyov  ßox'Xijc  y.td  rfj  ßovkru  rüv  %  (q))  xal  röt  drjiicoi. 
Ein  systematisch  gegliedertes  Bild  von  der  Beteiligung  des 
Areopags  an  der  inneren  Verwaltung  läßt  sich  aus  den  Mosaik- 
steincheu  der  uns  zufällig  erhaltenen  Tatsachen  nicht  zusammen- 
setzen.   Die  Lehrbücher  führen  die  Belege  für  seine  dauernde 
Beaufsichtigimg  der    staatlich   organisierten  Jugenderziehung, 
der  Ephebie,  an,  wobei  jedoch  die  Tatsache  bemerkenswert  ist, 
daß    in    den   Ephebeninschriften    der    römischen  Periode    der 
Areopag    als    solcher   nie    in   handelnder   oder  beschließender 
Weise  auftritt.'"^)    Die  Ephebie  ist  aus  der  Demokratie  über- 
nommen und  bleibt  unter  der  formalen  Verwaltung  der  Bule; 
daher  diese  die  Beschlüsse  über  sie  faßt,  daher  auch  die  Ar- 
chonten  in  den  Ephebenlisten  bis  in  das  3.  Jahrh.  Erwähnung 
finden  können.'^)    Gleichwohl  erscheint  der  Keryx  neben  dem 
Strategen  als  Exekutivbeamter  ^'');  darin  zeigt  sich  die  starke 
Ligerenz  des  Areopags  auf  die  Leitung  dieser  dem  römischen 
Athen    besonders    wichtigfen   Institution.     Die   ihm   im  Jahre 
352/1   V.  Chr.   für   alle  Zeit   übertragene  Beaufsichtigung   und 
Fürsorge  für  die  Heilicrtümer  hat  er  zweifellos  in    römischer 
Zeit   ausgeübt.     Mit   diesem    Ressort   ist   in   gewissem    Sinne 
seine  bekannte  Tätigkeit  nach  baupolizeilicher  Richtung  hin 
verbunden.    Ebenso  liegt  ein  sachlicher  Zusammenhang  zwi- 
schen der  schon  erwähnten  (o.  S,  56)  Teilnahme  an  der  Auf- 
sicht über  die  Maß-  und  Gewichtsordnung  und  der  schon  in 

74)  [IG.  III  1233  ganz  iinverwertbar.  —  1085  hat  mit  der  Verwal- 
tung nichts  zu  tun.] 

75)  [Belege  bei  Larfeld  S.  324 — 358.] 

76)  [Belege  aufgeführt  von  Dittenbekger  im  Index  IG.  III  2  p.  317.] 


,s8  HicUNi»   Kkil:  [71,  S 

den  Autung  des  .'.  -luhrli.  v.  Ohr.  lüimufgi'iR'udeu  Beteiligung 
des  Areopiigs  iin  iler  Kontrolle  über  die  Münzprägung  seihst 
voi-,  solange  den  Athenern  das  Kecht  seihstäiidiger  Münz- 
prägung von  der  römischen  Regierung  belassen  wurde.''') 
Darauf  wird  noch  /urüek/.ukonnnen  sein.  Auf  die  verschie- 
densten Zweige  der  Versvaltung  erstreckte  sich  die  Mitwirkung 
des  Areopags:  das  beweisen  diese  Beisj)iele.  Und  doch  ist 
unsere  Kenntnis  dieser  l^itsachen  notwendig  durchaus  lücken- 
haft; sie  beruht  zumeist  auf  /.ufälligcn  Eiuzelangaben,  die  fast 
ausschließlich  den  Inschriften  entstammen,  und  zwar  Inschrif- 
ten von  /..  T.  verzweifelter  Trümmerhaftigkeit.  Wäre  das  Be- 
obachtungsmaterial umfangreicher  und  ausgiebiger,  so  würde 
—  darüber  kann  kein  Zweifel  bestehen  —  die  Bedeutung, 
die  der  Areopag  für  die  innere  Verwaltung  hatte,  und  die 
Ingerenz,  die  er  auf  sie  ausübte,  um  vieles  ausgedehnter  und 
tiefgreifender  erscheinen.  Gleichwohl  tritt  diese  ganze,  viel 
verzw^eigte  Tätigkeit  der  Körperschaft  in  unserer  literarischen 
Überlieferung  völlig  zurück  gegenüber  seiner  Betätigung  als 
Gerichtshof.  Liegt  diese  Einseitigkeit  an  der  Eigenart  der 
literarischen  Überlieferung  als  solcher  oder  hat  sie  einen  tie- 
feren Grund?  Die  Antwort  hierauf  verlangt  die  Beantwor- 
tung der  Vorfrage:  was  wissen  wir  von  den  Kompetenzen 
und  der  Organisation  des  Areopags  als  Gerichtshof  in  der 
römischen  Zeit? 

Die  Gerichtsbarkeit  und  Gerichtsverfassung  der  griechischen 
Stadtgemeinden  unter  römischer  Herrschaft  sind  für  uns  in 
ein  besonders  tiefes  Dunkel  versunken,  so  daß  es  schwier  hält, 
auch  nur  die  gröbsten  Umrisse  zu  erfassen.  Die  Ursache  hier- 
für bildet  nicht  nur  die  Gerincrfügigkeit  historischer  Bezeu- 
guüg:  in  höherem  Grade  kommt  die  Lage  dieser  Institution 
zu  jener  Zeit  selbst  in  Betracht.  Die  römische  Regierung 
konnte  direkt  oder  durch  die  Beamten  von  dem  Rechte  der 
höchsten  Souveränetät  im  Reiche,  in  die  kommunale  Juris- 
diktion einzugreifen,  jederzeit  Gebrauch  machen,  und  sie  hat 

77)  [ScNDWALL,  öfversigt  of  Kinska  Vetenskaps  Societetena  För- 
haudlingar  L  S.  23.] 


71,8]  Beitraok  zur  Gbschichtk  des  Akeopags.  59 

davon  Gebrauch  gemacht,  wenn  sie  auch  ihrem  Prinzipe  uach 
auf  möglichste  Schonung  der  Autonomie  der  Griechenstädte 
bedacht  war.  Aber  die  Griechen  selbst  untergruben  die  Auto- 
rität ihrer  kommunalen  Kechtspflege  und  damit  die  Anerken- 
nung von  deren  Existenzberechtigung  durch  die  Sucht,  die 
Eechtsstreitigkeiten  möglichst  bis  vor  die  letzte  Instanz,  das 
Forum  des  Pi-ovinzialstatthalters,  zu  bringen.'*^)  So  wurden 
die  Grenzen  zwischen  der  kommunalen  Gerichtsbarkeit  und 
der  richterlichen  Gewalt  des  römischen  Beamten  fließend, 
verschoben  sich  also  im  Laufe  der  Zeit,  und  zwar  unter  den 
obwaltenden  Verhältnissen ,  naturgemäß  zu  Ungunsten  der 
lokalen  Rechtspflege.  Diesen  Wandlungen  zu  folgen  ge- 
stattet uns  die  Überlieferung  ebensowenig  wie  die  Ver- 
änderungen zu  erkennen,  welche  durch  die  Verschiebung 
der  Gerichtsbarkeit  in  den  kommunalen  Gerichtsverfassungen 
unausbleiblich  herbeigeführt  werden  mußten.  Das  gilt  auch 
von  unserer  Kenntnis  der  athenischen  Rechtspflege  zur 
Römerzeit. 

Die  civitas  libera  et  foederata  Athen  besaß  auf  Grund 
ihrer  Souveränetät  in  ihrem  Gebiete  Zivil-  und  Kriminal- 
gerichtsbarkeit.'^)  Wem  die  athenische  Gerichtsverfassung 
den  Zivilprozeß  in  die  Hände  gab,  ist  meines  W^issens  nirgend 
direkt  überliefert-,  dagegen  liegen  eine  Reihe  von  Zeugnissen 
über  die  Ausübung  der  Jurisdiktion  in  den  Grenzen  des 
öfl'entlichen  Rechtes  vor;  ihnen  zufolge  ruhte  die  Recht- 
sprechung auf  diesem  Gebiete  in  einem  Ausmaße  beim  Areo- 
pag,  welches  der  vorrömischen  Zeit  unbekannt  war  und  die 
konkurrierende  Jurisdiktion  anderer  Kommuualorgane  weit 
zurücktreten  ließ. 

Es  ist  bekannt,  daß  seit  der  Mitte  des  4.  Jahrb.  der  Areo- 
pag,  abgesehen  von  vereinzeltem,  durch  besondere  Zeitverhält- 
nisse bedinirtem  Hervortreten  unter  der  demokratischen  Ober- 
fläche  der  Verfassung  still,  aber  gleichmäßig  an  Einfluß  i-m 
Staatsorganismus  gewann.    Zwar  ging  seine  Rechtssprechung 

78)  [Plutarch  an  scui  Cap.  19,  794  a.] 

79)  [MiTTKis,  ReicliBrecht  und  Volkarecht  S.  86.] 


6o  Ituus"  Kt.ii,:  l?',!^ 

über  Ficvil  all  lieiligi-n  Ollfiimnen  etwa  /.wischen  390  (Lys. 
Vll)  und  .>30  ^^Aiistot.  rp.  Ath.  57,  2)  faktisd»  ein,  aber  die 
Stimniiin«;  u;t>g»'iiül)i'r  dem  ArcopaLi,-,  die  in  Isoknites  Areopa- 
ijitikos  ihi-i'ii  Ulassisi'ht'ii  Auadnu-k  t'aiid,  hatte  fast  gleich- 
zeitig (^^^52/1)  (Ich  praktischen  Kriolg,  »hiB  der  Aie()))ag  neben 
den  von  iViiher  veiorthieten  Ant'siehtsorganen  mit  der  Aul- 
sicht über  dio  Orgas  und  die  übrigen  luiligen  Ländereien  des 
Staates  betraut  ward.'*'^)  liier,  anf  dein  Gebiete  des  heiligen 
Hechts,  ilürfte  überhaupt  (he  gesetzliche  Erweiterung  der  Koni- 
]ieteir/.eu  des  Areopags  eingesetzt  uui\  schnellere  Entwicklung 
g.'fuuden  hal>en.  Das  ist  aus  dem  sakralen  Nimbus,  dessen 
ihn  auch  die  Demokratie  nicht  liatte  entkleideji  könnea,  an 
sich  l)egreifJich,  und  eine  llbei-leitung  l)ildete  stets  seine  enge 
Verbinchmg  mit  dem  Basileus;  dieser  hatte  ja,  abgesehen  von 
der  Leitung  der  Blutgerichtsbaikeit,  auch  die  Verpachtung 
der  iieiligen  Ländereien  (Aristot.  rp.  Ath.  47,  4J  zu  bearbeiten 
hatte  die  (xerichtsbarkeit  über  Priestertümer  und  Sportein, 
nahm  die  Anklagen  äöeßeiag  entgegen  (ebda.  57,  2).  So 
scheinen  die  Nachrichten  nicht  unglaublich,  nach  denen  die 
früher  vor  die  Heliasten  gehörenden  yQucpal  äöißtCus  in  den 
beiden  letzten  Dezennien  des  4.  .lahrh.  vor  dem  Areopag  zur 
Entscheidung  gelangten  (Diog.  L.  II  101.  iiö).  Im  übrigen 
zeugt  für  diese  Gerichtsbarkeit  der  Areopagiten  in  römischer 
Zeit  nieiit  bloß  Paulus  vor  dem  Areopag  (Act.  17,  19),  son- 
dern auch  die  Angabe  des  Origenes  (c.  Cels.  IV  67  [I  p.  337  Kö.] 
V  2of.  [II  p.  22])^  Sokrates  sei  vom  Areopag  verurteilt.  Der 
Schriftsteller  gibt  eben  der  'Apologie'  zum  Trotz  die  Ver- 
hältnisse seiner  Zeit  wieder;  und  sollten  jene  Nachrichten  über 
diese  Gerichtsbarkeit  am  Ausgange  des  4.  Jahrh.  v.  Chr.  wirk- 
lich nicht  zutreffen,  so  beweisen  sie  doch  in  der  gleichen 
Weise  wie  Origines  für  spätere  Zeit. 

Eine  starke  Erweiterung  der  Gerichtsbarkeit  wuchs  dem 
Areopag  auf  einer  anderen  Seite  des  Strafprozesses  zu  und 
zwar  hier  durch  eine  veränderte  Qualifizierung  von  Gesetze.s- 

80)  [h.  0.  S.  53.    IG.  II  5,  104*  (=  ed.  min.  204),  iCtf.] 


71,8]  Beitragk  zur  Geschichtk  di:s  Akeopaos.  6i 

Übertretungen.   xaxovQyoi  hießen  in  der  älteren  Reclitsspraclie 
die    gemeinen  Verbrecher,    Diebe,    Räuber    von    Sachen    oder 
Menschen,  Einbrecher ^^);  die  advokatische  Sophistik  hat  dem 
Begrifi*  der  xa/.ovQyCu  weitere  Ausdehnnno-  gegeben,  die  dann 
am   Ende  des   2.  Jahrh.  v.  Chr.  als   vom  Gesetzgeber   rezipiert 
erscheint.    Das  Fälschen    oder  Vernichten    von   Normalmaßen 
und    -gewichten    ist    ein    y.ay.ovQyfiv^-),    ebenso    ein     Verstoß 
o-eoren  das  Ölausfuhr-  und  Deklarationsgesetz  Hadrians^*);  ein 
weiteres   Zeugnis    aus   dieser   Zeit   wird    sogleich    erschlossen 
werden.    Auf  diese  xaxovQyoL  ist  nun  auch  in  römischer  Zeit 
das  Forum  des  Areopags  erstreckt  worden.    Und   gerade  wie 
in  dem  Psephisma  über  die  Orgas  wird    'auch  der  Areopag' 
mit   der  Almdung   der  Übertretuugen   des    Gesetzes   über    die 
Normalmaße  betraut  (Zeile  59),  also  neben  den  bisher  dafür 
bestehenden  Gerichten.  Hier  sieht  man  den  Weg,  auf  welchem 
dieser  Körperschaft  ihre  Kompetenzen  zuwuchsen.  Der  Areopag 
wurde  mitbeteiligt,  trat  konkurrierend  ne))en  die  älteren  Or- 
gane,   nicht    an    ihre   Stelle.    Allein    die  Autorität    des    alten 
Rates,  besonders  als  Gerichtshof,  war  eine  zu  große,  als  daß 
die   Konkurrenz   nicht   zu    einem    Übergew^icht    des   Areopags 
hätte  führen  müssen.  Tacitus  (ann.IIös)  erwähnt  aus  der  Zeit 
kurz  vor   18  n.  Chr.  einen  Fall,  welcher  einen  Areo   iudicio 
falsi    damnatum    betrifft.     Die    griechische    Rechtstermino- 
logie   hat   kein  Äquivalent    des  römischen  falsum;   was    nach 
Dig.  XLVIII  10,  1   darunter  zu  verstehen  ist,  würde  nach  alt- 
athenischer   Rechtssprache   je    nachdem    in    einer    ÖUri    oder 
yQdcpi]    y.axoTcyvi&v,    linouaQTVQiov ,    vielleicht    övußo).ccuov. 
7CccQaßo:6£(o^,   U^'Svdo^iicQTVQicbv^  äyQc:(piov,  xi^evdsyyQcccpfjg^  tl^sv- 
doxJ.r,rs{(cg,  auch  xaxdoöacoi^  zu  ahnden   gewesen  sein,  endlich, 
wenn   die  Sache   so  lag   oder  gewendet  wurde,  etwa  auch  in 
einer  döuyyEXiu.   Ich  glaube  aber  nicht  fehlzugehen,  wenn  ich 
in  dem  allgemeinen  römischen  falsi  damnatum  ein  xuxovq- 
yCag  xaxsyvcooueifog    wiedererkenne,   dessen    Begriff"  ja   eben- 

81)  Aristoteles  noL  'tdr,.  52,  i;  Lipsils,  Das  attische  Recht  S.  781". 

82)  [IG.  II  476,  56,  58,  59  (=io'3)-l 

83)  [IG  m  38  (=  iioo),  57.]- 


02 


Bhuno  Kkii,: 


7'.« 


fiiUs  weite  (iienzen  iiatte.  War  einmal  liue  (iattun^  der 
x((XO\'i)yoi  dem  Forum  des  AreopagB  zugewiesen,  so  erfol«ifte 
•1er  Analt)£jie  nach  nattirgemäÜ  eiue  Ausdehnuut^  d<'r  aicopa- 
^itischen  (ierichtsltarkoit  auf  weitere  Gattungen.  Ks  ist  klar, 
daß  bei  der  Dehnbarkeit  des  Beitrittes  'Gesetzüberiretnng'  der 
Areopai;'  dir  nuinni'^laehsten  Strafsachen  zugewiesen  erlialti'n 
oder  selbstämlig  an  sich  ziehen  konnte.  Ihnl  dafür  lieii  sich 
in  dieser  reaktionären  Zeit  ohne  weiteres  auf  die  alte  Stellung 
der  Kch'porsehaft  als  (pvka^  nov  )'(!«(.)!'  hinweisen.  Seine 
Kompetenz  in  Kriininalsadien  beleuchten  weiter  die  Reste 
von  drei  kaiserlichen  oder  prokousularischen  Erlassen  an- 
scheinend aus  der  Zeit  des  Sei)tiinius  Severn.s;  sie  lassen  trotz 
aller  Trünmierliaftigkeit  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  Areo- 
pag  auf  Ver))annung,  natürlich  nur  aus  dem  liechtsgebiet 
Athene,  erkennen  konnte.***)    Man  nehme  die  ihm  nie  bestrit- 


84)  IG.  III  46  (--=  II 18)  fr«.  (•   3   yu]{}ci  diiy/ii()evTai  u);v\vriv'^] 

4  ',ilpfioTf-'7£('ri;i?  roi's  cctt--;  zu  dem  von  mir  ergänzten  Kctd'a  vgl.  die 
folgenden  Inscbviften  ^^a  3,  h  4).  —  Das  Fragment  IG.  III  47  (=  1119) 
hat.  was  nicht  bemerkt  zu  sein  scheint  [jetzt  auch  Dkssau  zu  11 19], 
eine  Tarallele  gefunden  in  dem  Eph.  arch.  1894,  211  veröffentlichten 
Kragmeute,  so  daß  beide  sich  gegenseitig  ergänzen.  Ich  stelle  die 
Texte  nebeneinander,  so  daß  ich  zur  Kaumersparnis  die  Zeilen  für  die 
Ergänzungen  nicht  abbreclie;  beide  Steine  sind  rechts  vollständig.  Für 
die  nicht  aus  der  Parallelisierung  sich  ergebenden  Ergänzungen  ist  der 
Urheber  genannt. 


a  (IG.  III  47  =  II 19) 

2  Ol]  (WiTtoTi  ovv  [rgonov 

/jjcraO'/;    /)    xu&cc  t6   6vvfp[io  vtj^i: 
-fag  j]  icpi-vQr,u,äTcov   1]   d-irio  [riag 
5  -lov  uia&üaai  tolui^ari  xi] 

-teil  ri]v  Tf/g  rtrQai:Tia[g  \  uia&o)- 

atv  -  - 
7   fjTi]ri  oiv  Titioifdoit  )r(}),oäufvog 

(Dm.) 

s.Z.  II 


1)  fE)i}i.  arch.  1894,    211 
niiii.  1086) 


od. 


3     dl]Tto\T8    OVV    Tq6[7TOV 

y,\udo  cvfi(fü)  [vt]^cc   (Keil; 
5   7}  itptVQriU \Üto)v  fj   CHI  [raviccg 

Ti]v  rfjg  Tir(i«e]rißc  iu6d(o\aiv  - 

8  -CO   r^  -L'aÄcirfi,£[tJj'- 

Totg  dTiiito[7iQ(iTotg  (Kkii.) 
IG  Xa^ißcivitr  To 

xwTaJxßfTOJ'  (Kkil)    rotg  itfoo- 
crXiag  inirtulotg 


71,8]  Beitragk  /.IUI  Geschichte  des  AuEorAGs.  63 

tene  Blutgeriehtsbarkeit  hinzu,  um  das  Bild  von  der  über- 
ragenden Bedeutung,  ja  beherrschenden  Stellung  zu  vervoll- 
ständigen, die  der  Areopag  als  Gerichtshof  für  öffentliches 
Recht  einnahm. 

Allein  das  einzig  richtende  Organ  war  er  auf  diesem 
Gebiete  wenigstens  im  2.  Jahrh.  nicht.  Die  Verfolgung  von 
Übertretungen  des  hadrianeischen  Gesetzes  über  den  Olliandel 
ist  bis  zu  Unterschlagungen  im  Werte  bis  zu  500  Dr.  dem 
Rate,  darüber  liinaus  der  Ekklesie  zugewiesen.  Das  Verfahren 
leitet  folgerichtig  der  Präsident  dieser  Körperschaften,  der 
Stratefie,  ein.^^)  Dabei  ist  es  nun  von  weittragendem  Inter- 
esse,  ein  Strafprozeßverfahren  dem  Rate  und  der  Ekklesie 
zuerteilt  zu  sehen.    Einmal  wird  auch  hier  der  Charakter  der 


8  rov  'P]aii(iiü)v  aigagiov  xcci  i^faTca 

-ViV  Ttoiovßi  r)';i'  rsi^i^v  nig  | 
10  ?  7CQ0?  i]  ut  ai6T}-/i]6äuBvov  i  (Ditt.) 
rois  ifQOGvXias  \  \i7Tiruuoi.g\(Dnr.) 
12  TW  ' Pojua]ia>v  ulgagla  (pt'|[y7/r  Tic:-     12   rö  'P(o^ui]coi'    uioagim  (pv\yriv 

Ttyvwatisv-  xuTsyvtoGufv-  (Keil) 

ßovXi)  {-ff}  Tüiv  I  'AgtiOTiaystTwv  ßovXij  (-ff)  T]m'liQ£io:TayBi^[Töiv 

Ferner  ergänzt  man  b  17  ov  drjTiorB  ovv  tQ]6nov  «fra  [re-ö^T]  aus  a  3. 
fpv{yi]v  y.aTtayrioGiLBi-  nach  IG.  III  44  (=  1113),  8  -ov  (f>vyiiV  KarsyrcoGfiBv-, 
wo  im  Anfange  nach  dem  im  Texte  dargelegten  natürlich  ön-6  rfjs  ßovlfjg 
Tf]g  i^  'Aqbiov  Ttiiylov,  nicht  vnb  rov  Si]fi\ov  zu  ergänzen  ist.  Diea  ist 
dann  das  vierte  Zeugnis,  a  und  b  sind  deutlich  nach  demselben  For- 
mular verfaßt,  was  der  gleichartige  Inhalt  begreiflich  macht,  also  wohl 
auch  gleichaltrig.  Es  zeigt  sich,  daß  entgegen  Dittknbergkes  Vermu- 
tung III  47  (a)  nichts  mit  III  46  zu  tun  hat.  Das  Alter  der  beiden 
Fragmente  bestimmt  sich  also  nicht  nach  dieser  Inschrift,  die  Dittkn- 
BERGKK  unter  Septimius  Severus  setzte;  viel  jünger  können  sie  aller- 
dings auch  nicht  sein,  a  1 1  hat  Ditten-bkugku  unter  der  Voraussetzung 
ergänzt,  daß  die  Fragmente  der  Zuschrift  des  Statthalters  (oder  Kaisers) 
entstammen.  Das  scheint  sich  zu  bestätigen.  Denn  b  24  wird  doch 
vrohl  r]fifr  6vvy.Ti][c-  (dvva]nLv  Skias)  zu  ergänzen  sein,  und  34 
a]vBTfd-T]  iv  \  -  -  führt  darauf,  daß  die  vorliegende  Abschrift  der  In- 
schrift (35  ergänze  ich  8iay]Qdu^uTo[g.)  vermutlich  in  einem  Asklepios- 
heiligtume  (36  '^ffxJATjÄtw  Skias)  aufgestellt  wurde. 

85)  [IG.  III  38  (=  iioo),  51:  inävctyKsg  ö  argurriyög  rfj  f^f}e  r^Uga 


64  ÜKi  NO   l\Kii,:  I71,  -"^ 

römischen  ()rijjanisiitii»n  t"uül);ir:  wenn  zugleii-li  Jen  hoidfu 
demokratisrhou  KörjuMschiirteii  uuil  dem  Areopag  diese  liechts 
spreclumjj;  zuerkannt  \\  iitl.  ist.  darin  das  liestrel)en  einer  weni»; 
Bteus  äußeren  l?alanoierun<!;  der  ndu  iicinunderstehenden  ü«- 
walten  der  ilualistischen  Verfassung  ausgesprochen;  und  wenn 
die  Wirkimgssphäre  des  Areopags  hier  ersichtlich  die  weit 
umtassendere  und  tiefer  greifende  war,  so  entspricht  das  wie- 
der der  Verteilung  der  (»egierungsgewalt,  wie  sie  voiher  dar- 
gole<Tt  wurile.  Zugleich  tritt  ihu"  reaktionäre  Urundzug  der 
römischen  Organisation  scharf  hervor.  Die  demokratische 
Institution  xar'  tto/ijv  sind  die  Geschworenengerichte  ge- 
wesen-, ihnen  ist  in  all  den  aufgeführteu  Fällen  der  Strafprt)- 
zeß  orenorauieii  w^orden;  ihn  z.  T.  auch  der  Bule  und  Kkklesie 
creben,  hieß  auf  das  Hecht  und  die  Praxis  des  5.  Jahrh.  zu- 
rück"reifen.  Und  sollte  der  Fall  ein  vereinzelter  seinV  Das 
führt  zu  dem  zweiten,  wichtigeren  Punkte.  Was  kann  weiter 
bei  der  Jurisdiktion  des  Areopags  und  der  vielleicht  kom- 
plementären der  Bule  und  Ekklesie  im  <)ifeutlichen  \'erfahren 
den  Geschworenengerichten  überhaupt  geblieben  sein?  Jetzt 
erkennt  man,  daß  das  vorher  (S.  5g)  hervorgehobene  Fehlen 
von  Zeugnissen  über  die  Verteilung  oder  Zuteilung  der  Zivil- 
gerichtsbarkeit nicht  auf  Zufall  beruht.  Der  öffentliche  Pro- 
zeß welcher  Art  auch  immer  war  den  Gesell worenengerichten 
genommen;  einzig  geblieben  w^ar  ihnen  die  Zivilgerichtsbar- 
keit mit  dem  Privatprozeß.  Daher  fehlen  die  Zeugnisse.  Denn 
daß  von  ihm  in  den  wenigen  öffentlichen  Urkunden  und  der 
großen  Literatur  nirgends  die  Rede  ist,  liegt  in  der  Natur 
der  Sache.  So  also  stellt  sich  die  Gerichtsordnung  im  römi- 
schen Athen  wenigstens  im  2.  Jahrh.  dar;  Als  der  Gerichts- 
hof Athens  erscheint  der  Areopag,  denn  er  ist  in  erster  Linie 
das  Forum  für  öffentliche  Verfahren,  daneben  mit  Ausschluß 
der  Kapitalprozesse  der  Rat  und  die  Ekklesie;  auf  den  Zivil- 
prozeß sind  die  Geschw^orenengerichte  be.schränkt. 

Hier  ist  dann  der  Ort,  wo  man  fragen  muß,  ob  die 
unter  dem  Namen  der  Aichonteulisteu  gehenden  Verzeich- 
nisse, die  eben  Fimmen,  Athen.  Mitt.  ,S9,  1914,  i3öff...  zusara- 


71,31  Beituagk  zuii  Gbschichtk  dks  Areopags.  Ö5 


/', 


mengestellt    hat,   diese  Bezeichnung   mit  Recht    tragen.     Die 
feste  Abfolge    ist    diese:    aQxcov    {ijtb)v^>^ioc;)    —    ßa^ücv^  — 
:ioXi^iaQxog   —    O^fö/ioO^fcVfa    —    /.fiQvl    ti\t  Ji  'AgeCov    :idyov 
ßovkfiL  —  xijQv^    uQxovTi   —   avkrjt^g   —    IsnovQyög   {drjuo- 
6iog).    Was  in  aUer  Welt  hat  der  y.fjQvh,   mit  und  unter  den 
neun  Arehouten  zu  tun?    Eine  Archontenliste  ist  ein  solches 
Verzeichnis   mithin    schon    wegen    der   Aufnahme    dieses   Be- 
amten  nicht.    Also   etwa   ein  Verzeichnis   der  höchsten  athe- 
nischen  Beamten?    Und   dann   sollte   der  örQat7]ybg  ml  xovg 
oTTurag  fehlen?    Also  auch  diese  Auffassung  ist  ausgeschlos- 
sen.   Ich    frage    weiter:    wie  kann  dem  at)Qv^,  dem  Beamten, 
der    an  Rang    über    dem  Basileus    steht,    in    einer    offiziellen 
Liste  der  Platz  hinter  den  durchaus  nicht  hoch  eingeschätzten 
sechs  Thesmotheten    und    unmittelbar   vor  dem    Hilfspersonal 
des    Archontenkollegiums    angewiesen    werden?     Man    wende 
nicht  ein,  die  Archonten  bildeten  eben  ein  geschlossenes  Kol- 
legium,   daher   die  Einschiebung   des  xriQv^  nach  dem  uQxciv 
sich    verboten    hätte.    Als    ein  Neunerkolleg    hal)en    seit    der 
Demokratie  die  Archonten  bis  auf  eine  Ausnahme  nicht  fun- 
giert: der  uQiav  aber   nimmt   eine   so   exzeptionelle   Stellung 
ein,  daß  die  Einfügung  des  KXiQvi,  ebenso  wie  die  des  Strategen 
nach    ihm    sehr  wohl    möglich    war,    wenn    es  sich  allgemein 
um    ein  Verzeichnen    der   höchsten  Beamten   handelte.    Aber 
gerade  jene  Ausnahme  kommt  hier  in  Betracht  und  lehrt  die 
Natur  dieser  Kataloge  erkennen.    Li  der  Gerichtsorganisation, 
bei  der  Auslosung   der   Geschworenengerichtshöfe,  arbeiteten 
die  Archonten  als   Kollegium.    Der   Areopag   war   zur   wich- 
tigsten   Gerichtsbehörde    o-eworden;    ihm   gebührte   eine  Ver- 
tretung    in    der    richterlichen    Kommission,    die    bislang    von 
Archonten  gebildet  war.    So  verliert  nicht  nur  das  Auftreten 
seines  Obmannes    aii    sich  —  und  weiter   keines  Beamten  — 
in    einer    und    derselben  Liste    mit   den  Archonten   alles  Be- 
fremdliche, sondern  auch  die  ihm   zugewiesene  zehnte  Stelle. 
Er  war  eben  später  hinzugetreten.    Es  ist  sehr  wohl  möglich, 
daß    der  Kervx    bei    der  Bestellung    der    biy.a6xi\Qia  beteiligt 
war,  da  diese  noch  im  2.  Jahrh.  n.  Ohr.  bestan.den  und  Lukian 

Pliil.-liist.  Klaase  1919.    Bd.  LXXI.  «.  5 


66  Bkuno  Kkii.:  [71, 8 

iu  einer  zwar  karikiereiuluii,  aber  in  diesem  Punkte  unver- 
ränj^liclu'n  Sehil«lernn<^  das  r'7r<)xA»|<jorj'  T«  dixccönj^xn  an» 
Areojtiig-  i^eseliehen  liißt/*^)  .Itiic  Lislcii  ilürfen  idso  nidit 
als  Dokumente  ü))er  die  Ktimmunalverwaltung  oder  verfas- 
suujj;,  sondern  als  Zen«]jnisse  t'iii-  dii'  (}( riclitsverlasxun^  «be- 
wertet werden,  die  eine  nirlit  uirlir  test/ustellende  Beteilij^iinj; 
des  Areopajjjs  an  iler  Ziviljj^eriflitsbarkeit  Ix^kunden.  Und  viel- 
leicht •'im;  seine  Mitwirkun«»-  hier  noch   weiter. 

An  oft  herangezogener  SteUe  berichtet  (Jicero  (pio 
Balbo  30),  er  habe  in  Atlion  römische  Bürger  in  nurncro 
iudicum  at([ne  Areopagitar um  certa  tribu  certo  üu- 
mero  gesellen.  Der  certus  numerus  bezieht  sich  auf  die 
Ordnungsbuchstabeu  AK  (M)  der  i\.ichterabteilung(>n.  Dali 
die  Areopagiteu  je  iu  die  dixaöTtJQiu  gelost  wurden,  ist  aus- 
geschlossen; bei  Cicero,  der  aus  {Vi.scher  Erinnerung  spricht 
—  er  war  in  Athen  und  plädierte  für  Bulbus  65  —  eine  di- 
rekt falsche  Angabe  auzunelinum,  wird  man  sich  nur  ent- 
schließen, wenn  jeder  Erklärungsweg  abgeschnitten  ist.  Als 
solchen  verjuag  ich  nicht  die  Ausflucht  zu  betrachten,  daß 
Cicero  sich  lässig  ausgedrückt  hal)e  und  certa  tribu  certo 
numero  allein  auf  iudices  zu  beziehen  sei,  stelle  vielmehr 
folgendes  zur  Erwägung:  Nirgend  wird  bezeugt,  daß  die  in- 
struierende und  präsidierende  Richtertätigkeit  des  Verwaltungs- 
beamten der  alten  Polisverfassung  in  die  römische  Zeit  hin- 
übergenommen Avorden  sei.  .  Will  man  die  Erklärung  hierfür 
in  einem  zufälligen  Fehlen  von  Belegen  suchen,  so  lautet  die 
Gegenfrage,  ob  denn  die  alte  Institution  bei  der  Aufhebung 
einer  großen  Anzahl  von  Amtern  überhaupt  aufrechterhalten 
werden  konnte,  einer  Aufhebung,  die,  wenn  sie  die  Inschriften 
nicht    zu   einer    notorischen    machten,    aus    dem   Zurückgehen 

i>(>)  [Liikiau,  bis  acc.  12.  Im  l\'.  Jahrh.  und  später  entsprach  die 
Zahl  der  Richterabteiluugeu  oder  die  "Zahl  der  Mitglieder  der  Aus- 
losuugskommissiou  noch  den  Phyleii.  Das  ist  für  die  römische  Zeit  nicht 
mehr  nötig,  wie  es  auch  im  V.  Jahrh.  noch  nicht  der  Fall  war  (vgl.  die 
Literatur  bei  Keil  in  der  Straßburger  Festschrift  zur  46.  Philologen- 
versammlung 19ÜI  S.  135.    Daselbst  auch   zur  folgenden  Cicerostelle).] 


71,8]  BkitrÄ(;k  zur  Ukschichtf,  des  Aueoi'Aos.  67 

des  gesamten  politisclien  Lebens  wie  der  Einwohneranzalil  er- 
sehlossfu   werden  müßte.    Der  Dezentralisation    der  Bearaten- 
täticrkeit  der  Demokratie  tritt  in  der  nhnischen  Organisation 
der  athenischen  Verwaltung   doch   die  Konzentration  auf  mög- 
lichst wenige  Beamte  gegenüber,  und  die  Römer  knüpfen  da- 
bei an  bestehende  Einrichtungen  an.    Da  die  Thesmotheten  in 
der '  Demokratie    das    gerichtliche  Zentralorgan   waren,  ist    es 
mir  durchaus  wahrscheinlich,    daß   die   römische  Verfassungs- 
ordnung die  richterlichen  Funktionen   der  Einzelbeamten  auf 
dieses  Kollegium  zusammenzog,  ihm  aber   den   Keryx  beiord- 
nete zur  Mitwirkung  oder  richtiger  Kontrolle,  damit  bei  zwei- 
felhaften  Fällen  eine  widerrechtliche  Entziehung  oder  Zuwei- 
sung von    Prozessen    gegenüber    den    verschiedenen    Gerichts- 
orffanen,  Areopag  wie  Geschworenengerichten,  verhindert  werde. 
Doch   ob    diese  Vermutungen   über   eine  Beteiligung  des 
Areopags  an  der  Zivilgerichtsbarkeit  zutreffen  oder  nicht,  ist 
für  die  Einschätzung  seines  Einflusses   auf   das  gesamte  Ge- 
richtswesen Athens  und  der  Machtstellung  im  Staate,   die  er 
gerade   auch   durch    seine  richterliche  Kompetenzen  einnahm, 
ohne  Bedeutung.    Er   konnte   wie   die  gewöhnliche  Gesetzes- 
übertretung des  xaxovQyos  so  jede  Verletzung  der  Verfassungs- 
ordnung vor  sein  Forum  ziehen,  gleichviel  ob  sie  von  einem 
Beamten  oder  Privatmann  begangen  war,  da  er  die  Kriminal- 
gerichtsbarkeit in  den  Händen  hatte.    Damit  war  er  der  (pv- 
A«|    rcju    vö^ov,    hatte   die   Verfassung   selbst   in   der   Hand. 
Nimmt  man  seine  kommunalpolitische  Stellung,  wie  sie  vor- 
her   dargelegt  worden   ist,    hinzu,   besonders  sein  Recht,   das 
Staatssiegel   zu   führen   und  den  Verkehr  mit  dem  offiziellen 
Auslande    zu    unterhalteu:    war   er    nicht    die  erste  Macht  in 
Athen?    Und  dieser  faktischen  Machtstellimg  fehlte  es  nicht 
an  der  Krönung   durch   einen  Nimbus,   mit  dem  die  Mythen 
von  seiner  Begründung  und  die  von  abergläubischem  Schauer 
genährten    Vorstellungen    über    sein    geheimnisvolles    Walten 
ihn   umwoben ^'),   und   den    die  tatsächliche  Wertschätzung^^) 

87)  [Aristides,   Panathenaikos   p.  170 sq.:   Himerius   orat.  XXVIL] 

88)  [Vgl.  Lukian  bis  acc.  4.  i:.  14  | 


()8  I^KiNo  Ki:ii.:  |7',  •'^ 

bestiiti^te,  wolclir  vom  Beginn»'  dor  römischpu  Ohcrht-n- 
schait.  alt  mtch  ein  hall)Os  .Tahrtauseiid  ihm  einstimmig;  zollte. 
Als  dem  weisestt'ii  und  ^ertM'h tosten  (u'richto  wios  ihm  im 
i.lahrh.  v.Chr.  »»in  römischer  Statthalter  die  fxxAf/roj,'  <)t'}ci, 
über  einen  smyrnüischen  Uechtslall  /.u*"');  der  Sojjhist  um  das 
.lahr  300  heißt  ihn  das  dixaüTijotoi'  Tf}<  ()ti((aoOvvij<^  und  nennt 
ihn  mit  und  vor  Lykeioii  und  AkachMnie  als  die  athenischen 
Stätten,  die  kennen  zu  lernen  ein  Ziel  der  Sohnsucht  sein 
k(\nne''°i;  wo  der  Kaiser  lulianus  den  ujiheistechlichen  llichter 
fordert,  weiß  er  nichts  anderes  zu  sa<^en  als  ''/iQt.onayixi]'^  £6ro3 
xQiTr'jg.^^)  Es  war  eine  gleich  kurzsichtige  Kritik,  ('icero  der 
Übertreibnng  zu  zeihen ^^),  weil  ei-  den  Areopag  den  Lenker 
des  athouischen  Staates  genannt  hat"''),  oder  die.'^es  Urteil 
auf  die  zufällige  BeobachtuJiu;  vorübergehender  V'^erfassungs- 
phasen  während  der  beiden  athenischen  Aufenthalte  Ciceros 
zurückzuführen.''*)  Jenes  wird  durch  die  Tatsachen  widerlegt, 
dieses  traut  einem  der  kundigsten,  praktisch  und  theoretisch 
gebildeten  Staatsmänner  Roms,  abgesehen  von  einer  starken 
Obertlächlichkeit  der  Beobachtung,  auf  dem  ihm  eigenen  Ge- 
biete eine  unbegreifliche  Unkenntnis  zu.  Es  heißt  die  man 
nigfaltigste  und  fast  alltägliche  Verbindung,  die  seit  der  Sci- 
pionenzeit  zwischen  Athen  und  llom  bestand,  völlig  übersehen, 
wenn  man  Cicero  für  seine  Angabe  allein  auf  die  kurzen 
eigenen  Beobachtungen  augewiesen  sein  läßt.  Die  eigentlich 
regierende  Behörde  keiner  anderen  Stadt  kann  in  Roni  so 
allgemein  bekannt  gewesen  sein  wie  die  Athens.  Über  sie 
berichteten  die  römischen  Beamten,  mit  ihr  hatten  die  römi- 
schen Kaufleute  aus  Athen  und  Delos  zu  tun  gehabt^  von  ihr 

89)  [Valerius   Maximus  YIII,  i  amb.  2  =  Gelliu»    noctes    Atticiio 
XII,  7.] 

90)  [Alkiphron  2,  3;  Menander  pag.  92  §  8  Bursian.J 

91)  flulianuä  ed.  Hertlein  I,  77  Zeile  24. j 

92)  [Philippi,    Der  .\reopag  und   die  Epheben   S.  314;    Thalheim, 
R.  E.  II,  632.J 

93)  [Cicero  de  natura  deorum  II,  29,  74.] 
94';  [B'kkgi.-.'son,  Klio  IX    1909,  325.) 


71,8]  Bkituaüe  ZUR  Geschichtk  DES  Areopags.  O9 

erzählten  die  Reisenden  und  vielen  heimkehrenden  Stndenten, 
die  unter  der  Aufsicht  der  (XLQtöis  rijg  i^  yigeCov  näyov  ßovXi]g 
ijci  tovg  veovg  gestanden  hatten.  Fast  genau  zweihundert 
Jahre  später  ringt  dem  Rhetor  Aristides^^),  an  einer  Stelle, 
Avo  er  in  ersichtlich  archaisierendem  Bestreben  die  atheni- 
sche Verfassung  seiner  Tage  der  alten  Demokratie  nahe  zu 
rücken  sich  bemüht,  die  Wirklichkeit  doch  das  Geständnis 
ab:  wie  vorzüglich  auch  das  oligarchisch-aristokratische  P]le- 
ment  in  der  athenischen  Verfassung  sei,  ergebe  sich,  wenn  man 
vergleiche  rd  yf.  trjs  ßovkt^g  övve'öqiov  (d.  i.  Areopag)  nQog 
xä  tTtoiod-C  7COV  xvQLU  xttl  rjyov^ievtt.  Die  vollste  Bestäti- 
gung von  Ciceros  Athenieusium  rem  publicam  consilio 
resri  Ariopaffi.  Und  so  ist  es  sicher  bis  zur  diokletianischen 
Zeit  geblieben. 

Man  hat  mehrfach  Erörterungen  darüber  augestellt,  auf 
welchem  Wege  oder  durch  Avelche  Maßnahmen  der  Areopag 
in  der  Zeit  von  480 — 461  ohne  Änderung  seiner  verfassungs- 
mäßigen Stellung  innerhalb  des  demokratischen  Staatsorga- 
uismus  über  den  beiden  souveränen  Körperschaften  der  Bule 
und  Ekklesie  einen  bestimmenden  Einfluß  im  Staatsleben  habe 
ausüben  können.  Die  gleiche  Erscheinung  entwickelt  sich, 
zwar  zu  Anfang  anscheinend  in  geringerem  Maßstabe,  doch 
allmählich  deutlicher  hervortretend,  im  Verlaufe  des  3-  und  2. 
Jahrh.  v.  Chr.  Mit  welchem  Rechte  und  in  av eichen  Formen 
übte  also  der  Areopag  die  zuwachsenden  Funktionen  aus? 
Mit  welchem  Rechte:  In  der  Persernot  um  480  hat  er  die 
ihm  nötig  erscheinenden  Rechte  nach  Aristoteles'  Zeugnis 
(rp.  Ath.  23,  1)  einfach  okkupiert.  352/1  dagegen  wird  ihm 
die  Aufsicht  über  die  heiligen  Bezirke  auf  gesetzlichem  Wege 
durch  einen  Volksbeschluß  übertragen,  nicht  anders  als  in  der 
römischen  Epoche  die  Jurisdiktion  über  die  xaxovQyoi   (s.  o. 


95)  [I  315^-  Das  Bestreben,  die  athenische  Verfassung  möglichst 
der  alten  Demokratie  ähnlich  erscheinen  zu  lassen,  hat  schon  der 
iScholiast  klar  durchschaut  III,  335,  22:  tTttidi]  tt)?  dXi/ciQX't^e  ofojxa 
oix   rjv   xaXöv   naQußäAXsi.v  rij  'ATzi^y,   &vrl   tov  slnsiv  üliyao^iav  ßov- 


"jo  Ukuno  Kr.ii,:  [71,  S 

S.  ti).  DioBe  jj;esot/liche  Hejjfriiiuiuii«;  v\nvn  Kingioil'rns  dos 
Areopags  in  dio  Sphäre  der  amtlich  vororthuMuloii  Gewalten  als 
Heg.'l  für  ruhige  Zeiten  zu  hetrarhten,  zwingen  das  Psephisnia 
des  Teisainen()s  vom  .lahre  103  (Andok.  I  84)  sowie  neben 
einer  ausdrückliclien  Augahe  des  I  )ein:ireh«>s  (1  50)  eine  grö- 
ßere Zahl  von  ZongnisstMi  aus  dem  \.  Jahrh.'""'),  die  sich  aber, 
wie  hervorgehoben  zu  wercU-n  verdient,  sänitlicli  als  Mandate 
des  Volkes  für  Einzelfälle'"'),  nicht  als  genert'llc  Itechtsbe- 
trauungeu  des  Areopags  erweisen."^)  Zu  diesen  geht  eben  die 
hellenistische  Zeit  über,  womit  der  areopagitische  Hat  in  ge- 
wissen Grenzen  auf  legalem  Wege  als  Behörde  ne))eii  die  ver- 
fassungsmäßigen Amtsorganc  und  auf  (Usni  (iebiete  der  Ver- 
waltung neben  die  so  tief  in  dieses  hineinbezojienen  Rats-  und 
Volksversammluugen  rückt.  Der  Areopag  hatte  diese  Gewalten 
nicht  aus  ihrer  Sphäre  verdrängt,  sondern  war  selbst  in  diese 
Sphäre  eingedrungen  uiul  luitte  sicli  nach  vielen  Seiten  darin 
festgesetzt,  und  das  war  nicht  auf  revolutionärem  Wege  ge- 
schehen, sondern  allmählich.  Der  Areopag  hatte  die  Geduld 
und  die  Klugheit  abzAiwarten,  wie  ihm  die  wachsende  Un- 
fähigkeit und  t^berlebtheit  der  demokratischen  Institutionen 
eine  Berechtigung  nach  der  anderen  in  den  Schoß  fallen  ließ. 
Als  die  Kömei-  in  die  Verfassung  eingriffen,  war  an  den 
Grundzügen  der  demokratischen  Verfassung  Athens  äußerlich 

96)  Vgl.  Thai.hkim,  K.  E.  II  631!. 

97)  ■:xQ06Ti:t,uvT0i  tov  di]\Lov  Deinaich.  a.  a.  0.  u.  ö. 

98)  Es  ist  fest/uhalteu,  daß  ilie  Bezeugungen  von  sittcnpolizei- 
licliem  Eingreifen  des  Areopag.s  (vgl.  besonder.-;  Athen,  pag.  167  E.  168  A") 
keine  Be-weist;  für  «eine  staatsrechtliche  Stellung  sind.  Er  hat  wohl 
das  Recht,  aus  eigener  Initiative  oder  auf  Veranlassung  der  Regierung 
(Rat  und  Volk)  sich  mit  einschlägigen  Fällen  zu  befasf^en,  aber  er 
kann  keine  rechtsgültige  Entscheidung  treffen,  sondern  muß  die  Sache 
zur  Aburteilung  an  die  zuständigen  ordentlichen  Gerichte  abgeben,  die 
durchaus  nicht  an  seine  Beurteilung  gebunden  sind.  —  Ich  weiß  nicht, 
worauf  die  Angabe  bei  Schokmans-Lipsius,  Griech.  Staatsalt.  I  542  be- 
ruht, daß  durch  Demetrios  v.  Phaleron  dem  Areopag  wieder  die  Sitten- 
polizei übertragen  sei.  Das  steht  durchaus  nicht  mit  dessen  sonstigen 
Maßnahmen  in  Einklang;  die  yvvarAovöy,oi,  die  er  bekanntlich  einsetzt, 
sind  ja  gerade  eine  besondere  Behörde  auf  sittenpolizeilichem  Gebiete. 


71,8]  Beiträge  zur  Gkschichte  des  Arkopaos.  71 

fust  nichts  zerstört:  aber  darunter  war  in  aller  Stille  ein 
neues  Element  zu  stark  bestirameudem  Einfluß  tjelangt.  Die 
Römer  haben  die  Unklarheit  dieser  halben  Verhältnisse  be- 
seitigt einmal  dadurch,  daß  sie  auf  Grund  einer  revidierten 
Verfassung  den  Areopag  als  Regierungsbehörde  in  das  Re- 
gieruugswesen  selbst  einfügten,  ausgestattet  mit  völliger  Ini- 
tiative und  unabhängig  in  seinem  Handeln  von  den  daneben 
stehenden  alten  demokratischen  Regierungsfaktoreu,  weiter 
ihn  zu  einer  regelmäßig  mitarbeitenden  Verwaltungsbehörde 
erhoben,  endlich  als  höchste  Gerichtsbehörde  anerkamiten. 

Die  zweite  Frage  war,  in  welchen  Formen  der  Areopag 
seine  Funktionen  ausübte.  Ich  verstehe  darunter  die  Fracre 
danach,  ob  der  Areopag  seine  verschiedeneu  Tätigkeiten  als 
Gesamtkörperschaft  oder  durch  Mandatare,  also  durch  mehr 
gliedrige  Kommissionen  oder  Einzelkonimissare  ausübte,  und 
uml  zwar  in  den  drei  skizzierten  Epochen,  der  okkupierten 
Machtstellung,  der  niandierten  Einzel berechtigungen,  endlich 
des  verfassungsmäßigen  Regierungs-,  Verwaltungs-  und  Ge- 
richtsorgans. Als  Gesamtkörperschaft  trat  er  bis  zur  Römer- 
zeit sicher  in  seiner  Funktion  als  höchster  Blutserichtshof 
auf.  Das  läßt  nicht  nur  die  Überlieferung  erkennen,  die  nir- 
gend von  einem  aus  Areopagiten  zusammengesetzten  Gerichts- 
höfe, sondern  nur  von  dem  Areopag  spricht,  es  folgt  auch 
aus  der  Tatsache,  daß  bei  Stimmengleichheit  Freisprechung 
seitens  des  Areopags  erfolgte.'*'')  Bei  den  athenischen  Heliasteu- 
geriehten  war  der  Fall  der  Stimmengleichheit  durch  die  ge- 
setzlich bestimmte  ungerade  Zahl  der  Mitglieder  der  Richter- 
kollegien  (201,  401,  501,  looi)  ausgeschlossen;  konnte  er 
beim  Areopag  eintreten,  so  muß  die  Zahl  der  Richter  dem 
Zufall  ausgeliefert  gewesen  sein;  zufällig  war  aber  der  Mit- 
gliederbestand des  Areopags,  weil  abhängig  von  dem  laufenden 
Abgang  durch  Todesfälle  und  dem  jährlichen  Zugang  der  neu 

99)  Aeschyl.  Eum  753.  Die  Geltung  dieses  Prinzips  auch  noch 
für  die  2.  Hälfte  des  2.  Jahrh  n.  Chr.  bezeugt:  Aristid.  XXXVII  17  K 
xai  Toivvr  hi  rvv  ffcS^sj  nävTag,  iav  i'eai  yivavTat.  Über  die  spätere 
Zeit  8.  u.  S.  92. 


7 j  Hiu'Nii   Ki'.ii.:  17'-^ 

eiutretomlon  Mit«j;lioiloi-.     Als  Gesnintkörpersehaft  hat  iiatürlich 
der  Areopiig  auch   soiiu*    doyuar«,    v:rouiniUi(TnHLo{,    eTTegtorij 
uara    in    nnnischiT  Zi'it    lieschlosscii.     In    der    überwiegenden 
Zahl   (Um-  KäUe  aber  hat  der  Are()i)a^  mit  Kommissionen  oder 
Kin/elkommissarien  arbeiten  müssen.    Das  toIi^t  einl'acli  daraus, 
daß    ihm    ein    geschäftpführcnder  Ausschuß    wie   die    l'rytauen 
für  die  Bule   fehlt.     Es  mußten   also  jeweils   Dflej^ationen  für 
die    an    ihn    herantretenden    (jieschilfte    ansj^esondert    werden. 
Das  gilt  für  alle  Zeiten    und   für    das   gesamte  Tätigkeitsfeld 
der  Köiperschaft.  Ans  der  Zeit  ihrer  Vorherrschaft  im  5.  Jahrh. 
bringt  der  Bericht   des  Aristoteles    über   die  Arretierung  des 
Ephialtes  einen  Beleg;  die  Anekdote  ist  sicher  unhistorisch '°''), 
sie  beweist  aber  doch,  wie  man   zur  Zeit  ihrer  Ertindung  den 
Areopag  handelnd  dejiken  mußte,    und    sie    bravicht  durchaus 
nicht  erst  dem  4.  Jahrh.  anzugehören:  Themistokles  zeigt  dem 
Areopag  die  Verschwörer  an  und   führt  roüg  iciQt&tvro:s  tijg 
ßovXrtg^'^^)    an    den    Aufenthaltsort    des    Ephialtes '°2).     Eine 
Kommission  des  Areopags  konnte   auch   abgesondert  werden, 
\im  die  Entfernung   eines  heiligen  Ölbaumes  festzustellen. ^°*) 
Eine  Kommission,   nicht   der  Areopag  in  pleno,  ist  natürlich 
an    der    von    Aischines   geschilderten    Volksversammlung    des 
Jahres  ,^47/6^°^),   wo    sein    Sprecher  Autolykos  über  Baulich- 

100)  Zuerst  R.  Schokll,  i;eil.  Allg.  Ztg.  1891  u.  107.  108;  vgl. 
V.  WiLAMowiTz,  Aristot.  u.  Athen  T  i8uf.;  weitere  Literatur  bei  Bu.solt, 
Gr.  Gesch.  III  i,  29  Anm. 

101)  Der  Pap.  KcputQsd-ivTctc,  corr.  Kcnyon:  es  ist  eben  eine  ctigs- 
cig  des  Areopags. 

102)  Die  Anekdote  bietet  die  einzige  erhaltene  Schilderung  einer 
i(fi'iyi]6ig,  <lie  bei  Lipsus,  Att.  Recht  u.  Rechtsverfahren  337 f.  nachzu- 
tragen ist.  Es  ist  mir  eine  pietätvolle  Freude,  als  Urheber  dieser  Be- 
obachtung Adolf  Kiksslino  nennen  zu  können,  der  sie  mir  1891,  so- 
gleich nach  dem  Erscheinen  der  TtoX.  '.1&.,  mitteilte. 

103)  Ljs.  VII  22.  Die  Worte  tov^  ivvia  aQxovrag  t;  aXXovg  rirag 
T&v  f|  'Aqsiov  -xäyov  lassen  deutlich  erkennen,  daß  die  Feststellung  des 
Tatbestandes  stets  durch  eine  Kommission,  nicht  durch  einen  Einzel- 
kommissar erfolgte;  s.  0.  S.  74. 

104)  Aeschin.  I  81  f.  rjjg  -/uq  ßovXfjS  t;}c  iv  'Agsim  Ttäyat  nooaodov 
TtotovfiH'r,g   ngo;  lov   ofjuor   -/mtcc   to   xlTiCfiGj-ia  to  tovtov 7]v  fiev 


71,  SJ  Beitrage  7.v\i  (tes(  iuchte  des  Aueopag.s.  73 

keiten    .luf  der  Pnyx  referierte,   erschienen. ^^'')    Die   aus  dem 
4.  Jahrh.    bekannten    kriminalrechtlicheu    Voruntersuchungen, 


ö  TÖr  '/.oyor  '/.i--/oiv  ix  rtbv  '-iQsonayiXMV  AvröXvAO'i.  Die  Wendung  84  bI 
ovx  ccia^vvoivxo  ytltämg  7tagovcy]g  rfjg  ß.  r.  i^  'A.  n.  beweist  natürlich 
nicht  das  vollzählige  Erscheinen  der  Körperschaft;  die  Kommission  re- 
präsentiert sie. 

105)  Diese  Stelle  dürfte  eine  trefleude  Analogie  zu  den  Präskript- 
foruieln   der  Psephismen   aus  Mcthymna  und  Eresos  bieten,  die  jüngst 
Rehm  im  Miletwerke  H.  Ill  (Das  Delphinion  in  Älilet)  n.  152  veröifent- 
licht  hat:    1  =  18  TtiQl  6)V  ä  ßu'/.la  TiQotßovlsvai-  xal  0/   OTQCctayol  tiqo- 
Tii>s(Ct   xal    rä)j'    zi(iwx(ov   xai    ■nQSCßvxiQCov   vi   nagboirsg  i7n]liroi'  (Me- 
thymna),    vgl.  58  TztQi    wv    u    ßöllcc    ngosßoXXivai   y.ai  tcov  KQ^övrcor  01 
TTctgsovtsg    Ttgoti^siGi   v.al   intjld-ov   (Eresos).    Daß   die  Areopagiten   vor 
dem  Volke   erscheinen   können,   ist   durch   besonderen  Antrag   erwirkt, 
daher    ngoai-ld-Bii'.    Dasselbe    besagt   das   t7ir,lQ'ov   der   lesbischeu   Prä- 
skripte.    Deutlich  ist  in  Metliymna   das  gesetzlich   geforderte  TtQoßov- 
7.svBt.v   des  Kates  und   TtQOTi&ivat    des  Strategen  von   dem  fakultativen 
inaX^stv  gesondert.    Die  formelle  Antragstellung  ist  verfassungsmäßig 
den  Strategen   vorbehalten;   der  Antiag   geht  aber  eigentlich  von  den 
Tiniuchen  und  Presbyteroi  aus,  die  in  der  Ekklesie  erscheinen,  um  den 
Antrag  zu  motivieren,  d.  h.  ihre  Sache   zu  vertreten.    Es  erscheint  von 
ihnen  aber  nur  eine  Kommission,  wie  deutlich   der  partitive  Ausdruck 
Tür    r//u.');fwv   xai  TtQsaßvTBQav   oi   TiccQiovrsg  zeigt.    Sollte   die  Formel, 
wie  ÜEHM  meint,  dem  römischen  qui  adfuernnt  entsprechen,  müßte  es 
doch  wohl  V.UI  Ol  riuwxoi  x.  TtQBaßvTiQOi  TTCfjiovzh^  heißen.    Ich  bin  mir 
übrigens  nicht  sicher,  wie  man  ol  tut   y.ai  rrotoß.  verstehen,  d.  h.  ob  als 
eine  oder  zwei  Körperschaften  fassen  soll.    Müßte  es  im  letzteren  Falle 
nicht  TCOV  Till,  y.ai  xäv  ngscß.  heißen?    Auf  alle  Fälle  liegt  in  TCQsaßv- 
TBQwv   hier  wieder  aus  vorrömischer  Zeit  —  die  Inschrift  fällt  in  den 
Anfang   des  2.  Jahrh.  v.  Chr.  —    ein  Indiz  für   das   Bestehen   eines   er- 
sichtlich älteren  Faktors  neben  den  demokratischen  Regierung:?organen 
vor.  der  sich  unter  bestimmten  Bedingungen  und  Verhältnissen  neben 
diesen   geltend   machen   kann.    Hier   schimmert,    wie   in  Athen,   Argos, 
Ephcsos   und   sonst  eine   der  unter  der  Demokratie    eingeschrumpften 
älteren  Institutionen   durch,   die    später   wieder  zu  kräftigerem   Leben 
gelangten;  vgl.  Gercke-Nohden,  Einleitung  IIP  370 f.  —  Das  Präskript 
von  Eresos  ist  weniger   durchsichtig.    Vielleicht  bezieht  sich  das  ngo- 
ri&ti6t    nur  auf  die  eigentlich  mit  dem   ius  agendi  ausgestatteten  Be- 
amten, inr^l^ov  auf  andere  Beamten,  die  den  Antrag  unterstützten,  so 
daß   oi  TictQBovTBg    eigentlich    nur   auf  diese  geht,   aber  die   hierdurch 
bedingte  Genitivkonstruktion   im   Kurzausdruck   auf  das  Ganze  ausge- 
dehnt ist. 


^4  H»u  N(»  Kk.ii.:  [71.  ^ 

zu  denen  t-r  von  der  lu'gie'uuij  henmije/.oijon  wurde,  komit« 
die  Körperschaft  als  solche  nutürlich  nicht  durclit'iihren,  son- 
dern luuBtc  die  Nju'hforschunsj;en  eiiM>r  Koniniissinn  oder 
einem  einzelnen  ans  ihrem  Scholio  ill>ci  weisen.  ANenn,  wie 
gesajrt,  bei  Kaintalprozesscn  der  Areopau;  /.weitellds  in  seiner 
Gesamtheit  /.u  Gerielit  saß,  so  ist  gleiches  d(»ch  l>ei  seiner 
erweiterten  Gerichtsbarkeit  zur  b'ömerzeit  nicht  wohl  an/n- 
uehnien:  er  wird  sich  hier  in  kleinere  (Tcrichtshöfe.  d.  h.  rich- 
tende Kommissionen  gegliedert  haben,  die  für  die  einzelnen 
rhvlen  festgesetzt  waren.  So  kimnte  sich  Ciceros  Angabe 
erklären  i^o  S.  Ot>\  daß  er  in  Athen  Areopagiten  wie  lleliastcn 
certo  numero  oerta  trüm  gesehen  habe.  YiS  wird  auch  mit 
der  Krnenunnii  von  Einzelrichtcrn  zn  rechnen  sein;  der  t.it 
ueh,Ttjg  JijXov  ist.  wie  von  vcrsehiedciuMi  Seiten  zu  größter 
Wahrscheinlichkeit  erhoben*"^),  au^  den  Areopagiten  cTif- 
uomuicu,  und  Kechtsprechen  bildet  seine  Haui>ttätigkeit.'°') 
Abtresehen  von  solchen  richtenden  Kommissionen  und  Einzel- 
richtern,  die  selbständig  endgültige  Entscheidungen  treffen 
mußten,  haben  die  Mandatare  natürlich  an  das  Plenum  berichtet; 
als  Äußerung  des  Areopags  selbst  trat  an  die  Oilentlichkeit, 
was  jener  gebilligt   oder  sonst    für   richtig  befunden  hatte. "^'^') 

106^  SiNDw.vi.i..  Untor.-.'.u-bmi'.'eu  über  du-  att.  Müu/.en  neueren 
Stils  (Öfvorsigt  of  Fin.'ska  Vetonsk.  Soeietotens  FörhsniUhigar  1900/7 
XLIX)  S.  71,  wo  Literatur  und  Belege. 

107)  VON  ScHOKKFKit,  De  Deli  iusjulae  reV)Us  p.  201. 

loS")  TDie  einzelneu  .Xreopagiteu  können  natürlioli  für  sieli  Naih 
fersoliungen  anstellen;  erst  wenn  der  Areopag  auf  ihre  Mitteilunir'-n 
die  Sache  in  die  Hand  naliu).  begann  die  offizielle  kommissarischo 
Uutejsnchuug.  .Als  Areopagit  bat  in  ilor  oben  ^^vgl.  S.  72)  schon  lierau- 
gezogeneu  Anekdote  Themistokles  aus  eigener  Initiative  die  Anzeige 
gegen  Ephialtes  ei^-tattet.  Der  Areupag  nahm  die  Sache  offiziell  auf, 
indem  er  eine  Kommission  entsandte.  Wenn  der  Areopag  es  ablehnte. 
die  Sache  zu  verfolgen,  90  kann  der  Areopagit  auf  eigene  Gefahr  die 
Anzeige  bei  den  betreffenden  Instanzen  erstatten.  Die  Anzeige  und 
wenigstens  von  Dinarch  (I,  48  ff'  behauptete  Verwerfung  des  Areopa- 
•riten  Tisiias  bietet  ein  Beispiel.  Die  tintrierten  Situationen  der  Alki- 
pbroubriete  dürten  natürlich  tut-  die  Gesvinnung  wirklichen  Hechts 
ebensowenig  ausgenutzt   werden   wie    die    rhetorischen   Schuldeklama 


71,^]  BKiTRÄfiK  zru  GKscmciiTK  iJKs  Areopags.  75 

Die  Kommis-siorien  und  Einzelkommissare  treten  so  nicht  an 
die  Öffentlichkeit  und  hleiben  der  Überlieferung  unbekannt. 
Daher  sind  die  letzteren  noch  seltener  faßbar  als  die  Areo- 
pagkoinmissionen.  306/5  liefert  eine  Fünferkomniission  von 
Areopagiten  unter  Vorsitz  oder  Kontrolle  des  r</.(.iCag  räv 
öTQaxicoriXGJv  auf  Lemnos  und  Inibros  eingezogene  Gelder  an 
die  tu^Cca  'Ad-yjvaiug  xal  rav  aV.(ov  d-täv  ab.^''^)  Im  Anfang 
des  Jahres  221  wurde  eine  Kommission  zur  Herstellung  eines 
Anathems  aus  kleineren  Beständen  von  Edelmetallen  aus  3  Mit- 
gliedern ik  'A\yrivuC(av  aTcdimov  und  zweien  ^'i,AQi07tttyixG)v^^^) 
eingesetzt  Eine  zu  ähnlichem  Zwecke  ganz  ebenso  zusammen- 
gesetzte Kommission  ist  für  2 15 '16  bezeugt.^^^)  Als  Dele- 
gierten des  Areopags  hat  Sundwall  auf  Grund  prosopogra- 
phischer  Beobachtungen  das  seit  dem  Anfang  des  2.  Jahrh. 
in  den  Aufschriften  der  Münzen  neueren  Stils  erscheinende 
dritte  Mitglied  der  Münzkommission  erkennen  können *^^); 
daß  hiermit  die  Betrauung  des  Areopags  mit  dem  Schutze 
der  Xormalmaße  (o.  S.  56)  in  sachlichem  Zusammenhange 
steht,  liegt  auf  der  Hand,  und  die  Analogie  läßt  vermuten, 
daß  der  Areopag  auch  diese  Aufsicht  in  irgendeiner  Form  der 
Mandierung  ausübte. 

Die  Kommission    für  Jugenderziehung  (cdgeßig  inl  tovs 

tionen.  Wenn  sie  jedoch  zu  der  im  Texte  gegebenen  Aufstellung,  die 
ohne  jede  Rücksicht  auf  sie  gewonnen  wurde,  stimmen,  so  bieten  sie 
immerhin  eine  bestätigende  lUuBtration.  IIJ,  72:  Kleainetos  ist. als 
Vorsitzender  und  Referent  der  Kommission  für  die  in  Frage  stehenden 
Vergehen  bestimmt  Irccvxa  TiQmxivst  §  2) ;  er  berichtet  darüber  an  den 
Areopag.  —  Die  Stellung  auch  des  einzelnen  Areopagtten  beleuchtet 
ep.  III,  43:  er  kann  ohne  weiteres  die  Freilassung  bewirken.] 

109)  [IG.  II  737  und  Addenda  p.  508.  Vgl.  Fkankki.  zu  Bueckii, 
Staatshaushaltuug*  I  38  n.  237.J 

110)  [IG.  II  403  (==  ed.  min.  839J,  25;  4 7  ff.  Zeit  ist  fedtgelegt 
durch   DiTTENBEKGER,  SylL'  557  not.  8  (Archont  Thrasyphon).] 

111)  [IG.  II  839.  Zur  Zeit  des  Archon  Diokles  vgl.  Koluk,  Att. 
Archonten  S.  50  und  73. J 

112)  [Sundwall,  Untersuchungen  über  die  attischen  Münzen  de« 
neueren  Stils  (Öfversigt  of  Finska  Veteuskaps-Societetens  Förhandlingar 
XLI.\    S.  10;   69  ff).] 


/ 


t>  f^iUNo  Ki-ii.:  \7'<  ^ 


i'An'i:)  aus  dem  i.Jiihrli.  \ .  ('lir.  ist  schon  erwähnt  (o.  S.  26  u.0()); 
sie  beistand  auch  noch  im  Jahre  ()  i  n.  (Mir.,  nur  «hiB  sie,  wie 
es  sclieint,  in/wischen  durch  llinzu/iehung  vou  An«i;eh()rigen 
der  Khisse  der  yi'nvccüi(:i}xi><<>>  erweitert  worden  war."^) 
Cieero,  der  nach  FkicgUSON  nur  oltcnliin  inii  den  athenischen 
Verliältnissen  liekannt  gewesen  sein  soll,  wandte  sich  an  den 
Areopag,  um  den  Peripatetiker  Krati])))()s  für  Athen  /,u  er- 
halten: er  wollte,  daß  sein  Sohn  ihn  dort  im  Jahre  45  hören 
könnte.  Der  Areopag  faßte  einen  entsprechenden  Beschluß."'') 
Cicero  kannte  eben  den  vorschriftsmäßigen  ^^'eg,  wußte,  daß 
die  Sache  durch  die  „Universitätskommis.sioü'"  dieser  Körper- 
schaft ging.  Es  ist  füglich  nicht  zu  bezweifeln,  daß  der  Areopag 
in  dieser  Form  au  der  Beaufsichtigung  und  Leitung  des  Ejiheben 
iustitutes  bis  zu  dessen  Eingehen  in  der  s])äteren  Lebenszeit 
des  Herennius  Dexippos  beteiligt  blieb."'')  Ln  4.  Jahrb.  haben 
.sich  diese  Verhältnisse  geändert;  darüber  wird  noch  zu  handeln 
sein."")'     [Vou  Keil  nicht  mehr  dargelegt.    D.  Hrsg. | 

113'  [IG.  in  1085  folgt  auf  die  Liiate  derer  o'i  iyv^ivaGidg^riaav  die 
Rubrik  AQSonaysirui  avr  ro/t,'  yvfivaaiaQj^ixoig  oids.  Uiuichliu'  faßt 
Oehleu  K.  E.  V  2740  die  Areopagitcn  als  Ephebentitel.  Daw  wird  schon 
durch  YV(ircc6taQXi'>ioi  verboten;  von  dem  Titel  ruiißte  es  yvyi,vaciuQy^oi 
heißen.  (  ber  die  yvfiraetaQxixol  als  Miiuizipaladel  vgl.  Wilamowitz, 
Staat  und  (-ieselLschaft  der  (Jrieclien  S.  161  Phit.  Ant.  33  steht  nicht 
fiCTU  TcÖv  yviivuCiaQxiKcbi'  iv  i^uriw  ymI  rpaiy.ualoig  ttqoibi,  wie  Okiilkk, 
R.  E.  VII,  1987,  7  aussehreibt,  sondern  ui-ta  x&v  yvuvaancQ/iy.wv  ^äß- 
deov  .  .  .  TtQofiSi,  wodurch  der  athenische  Beleg  hinfällig  wird.  —  Auch 
IG.  III  3QOO  wird  nicht  yv^va]6iuQx{i^y.o[i.  sondern  yByvuva]aic(QyriK6[r  .  . 
zu  ergänzen  sein.] 

114)  [Plut.  Cic.  24:  dikitQä^aro  dh  rijv  i'^  .lotior  Tidyov  ßoiduv 
ipijqjiCacd'ai  y.al  d£ri&)'jvcii  utvsir  nvTOi'  (Kratippos)  tv  lid^qvuig  xc^rt  äiu- 
Xiyt6%cci,  Toig  vsoig.^ 

115)  [Die  letzte  einigermaßen  datierbare  Urkunde  IG.  III  1202 
fällt  spätestens  262/3;  sie  nennt  als  äg^oir  ^cf'i]ßo)f  den  Sohn  des  Ge- 
Echichtschreiber.-5.  Da  wir  im  3.  .Jahrh.  auf  je  3 — 4  .Jahre  eine  Ephe- 
benurkunde  erbalten  haben,  kann  das  Institut  schwerlich  lange  Zeit 
über  jenes  Jahr  hinaus  bestanden  haben.] 

116)  [Einzelmandate  lassen  sich,  wie  erwähnt,  schwer  nachweisen. 
Vielleicht  war  der  Pistias  ein  solcher  gewesen,  gegen  den  sich  der 
Haß    des  Sprechers  von  Diu.  1  5 3  ff .  wendet;    der    Areopag    hatte    sich 


7',^]  BeitrÄgk  zur  Gksghichte  des  Areopags.  77 

Wie  raaunigfncho  Kommissionen  auch  gebildet  werden 
mochten,  alles  was  sie  fanden,  befanden,  in  Vorschlag  brachten, 
bedurfte,  wie  schon  hervorgehoben,  der  Ratihabitation  des 
Gesamtrates  und  trat  als  dessen  einige  Willensmeinung  oder 
Erkenntnis  au  die  Ofleutlichkeit.  Man  kann  also  nicht  fragen, 
auf  welche  Weise  die  Kommissionen  Feststellungen,  Rat- 
schlätje,  Weisunofen  an  andere  staatliche  Organe  orelanffen 
lassen  konnten;  wohl  aber  muß  man  fragten .  welche  Weorp 
Gebrauch  oder  Gesetz  der  Gesamtköriierschaft  für  ihre  Äuße- 
rungen geöffnet  hatte.  In  die  vorrömische  Zeit  läßt  die  schon 
herangezogene  Aischinesstelle  (o.  Anm.  104)  einen  Blick  tun: 
der  Areopag  bestimmt  eines  seiner  Mitglieder  zum  Bericht- 
erstatter oder  Antragsteller  bei  der  Ekklesie.  In  gleicher  Weise 
bringt  ja  die  demokratische  Bule  selbst  Anträge,  die  aus  ihrem 
Schöße  hervorgehen,  durch  ein  dafür  bestelltes  Mitglied  vor 
das  Volk.  Es  ist  müßig,  für  diese  Zeit  eineu  anderen  Fall, 
wo  der  Bericht  nicht  an  Rat  oder'Volk  ging,  zu  konstruieren ; 
da  der  Areopag  in  der  vorrömischen  Epoche  jeweils  nur  als 
Mandatar  der  souveränen  Körperschaften  in  Tätigkeit  treten 
konnte,  hatte  er  über  diese  Tätigkeit  auch  nur  an  die  Man- 
danten zu  berichten.  Und  wo  er  mit  einzelnen  Delegierten  in 
gemischten  Kommissionen  vertreten  war  (o.  S.  75),  erfolgte 
Bericht  und  Rechenschaftsablage  seitens  der  Gesamtkommis- 
sion. Eine  Ausnahme  konnte  folgerichtigerweise  nur  eintreten, 
wenn  der  den  Areopag  heranziehende  und  beauftragende  Be- 
schluß die  Anweisung  enthielt,  sich  mit  einer  bestimmten 
Stelle  in  Verbindung  zu  setzen.  Das  wird  vielfach  bei  Be- 
auftragung mit  gerichtlichen  Voruntersuchungen  geschehen 
sein;  Zweckmäßigkeitsgi'ünde  müßten  ohne  weiteres  darauf 
führen,    in   diesen  Fällen    den    Areopagbericht    direkt    an  die 


seinem  Bericlat  und  seiner  Auffassung  nicht  angeschlossen;  daher  der 
Angriff  auf  ihn.  Das  Zuständliche  dürfte  auch  hier  Alk.  43  widerspie- 
geln, wo  eine  ä^rorycoyTj  optima  forma  geschildert  wird  {&7tc:x^^'^W^V'< 
dort  heißt  es  von  dem  Areopagiten:  avfm^ev  rifilv  tb  deauo)Ti,Qiov.  Der 
Mann  ist  eben  als  ein  mit  der  Tatersuchung  betrauter  Einzelkommissar 
zu  denken.] 


78  liuiNo  Kkti,:  [71, « 

insiruiereudon  Rieht«.!',  zumeist  also  uii  die  TheBinotheteii  zu 
verweisen.  Es  cntspriclit  iler  Slellimg  des  Areopii<^s  in  der 
Demokratie,  daß  die  oideni liehen  Gerichte  in  keiner  Weise 
an  seine  FeBtstellungen  oder  gutachtliehen  l>ats(dililge  gebun- 
den waren,  wenn  diese  im  Eiuzelialle  auch  immer  (his  Ge- 
wicht eines  autoritativen  Präjndizium  behielten.  Dinarcli 
(1  53  sqq.)  berichtet  ausdrücklieh  ülier  Fälle,  in  welchen  die 
demokratischen  Geschwonnen  das  Urteil  des  oligarchisehen 
Areopags  desavouierten. 

Eine  solche  Arbeitsorganisation  ist  bei  einer  Körperschaft, 
die  ebenso  eines  leitenden  Beamten  wie  ausführender  Organe 
entbehrte,  unmittelbar  verständlich.  Die  Neugestaltung  der 
^\•ri■asbung  in  römischer  Zeit  hat  an  dem  Prin/ipe  des  Ar- 
beitens  in  Kommissionen  nichts  geändert;  eine  grundsätzliche 
Neuerung  jedoch  war  die  Einsetzung  des  xfiQvi,  rfig  tt,  11q£iov 
aayo»'  ßoxf/.fjc;  als  eines  ständigen  Beamten  der  Körperschaft. 
Es  ist  schon  ausgeführt,  in  welcher  Weise  die  Schaffung  die- 
ses Amtes  den  Interessen  der  römischen  Regierung  diente; 
man  muß  aber  hinzufügen,  daß  die  neue  staatsrechtliche 
Stellung  des  Areopags  an  sich  das  Vorhandensein  einer  testen 
amtlichen  Stelle  erforderte.  Eine  solche  wurde  schon  durch 
den  geschäftlichen  Verkehr  bedingt,  in  den  die  neue  dritte 
souveräne  Körperschaft  mit  den  beiden  demokratischen  not- 
wendig treten  mußte.  Sie  war  eine  Notwendigkeit  angesichts 
des  ungeheuer  erweiterten  Geschättskreises  des  Areopags.  Der 
Bürger  mußte  ein  bestimmtes  Oro-an  kennen,  an  das  er  sein 
Anliegen  richten  konnte:  der  Areopag  selbst  konnte  seine 
Willensäußerungen  nicht  mehr  der  Mannigfaltigkeit  oder  for- 
malen üngenauigkeit  individueller  Fassung  aussetzen,  seitdem 
er  zu  einem  souveränen  Organ  erhoben  war.  Nur  die  Zen- 
tralisierunu"  des  ^cesamten  Geschäftsverkehrs  auf  ein  einheit- 
lieh  geleitetes  Bureau  konnte  den  Emanationen  des  Rates 
diejenige  Gleichartigkeit  und  rechtliche  ünantastbarkeit  der 
Form  geben,  wie  sie  bei  einer  souveränen  Körperschaft  unent- 
behrlich sind.  Und  als  Überraittler  der  Wllleusäußerungea 
des  Areopags   muß  er  jetzt   auch  Anordnungen,   Befehle  und 


71,8]  Bkiträok  zur  Gkschiohtk  dk.s  Areopa(js.  79 

Beschlüsse  dieses  Rates  direkt  an  die  ausführenden  Beamten, 
soweit  diese  uach  dem  Geset/  von  dorn  Areopag  Weisungen 
zu  empfangen  haben,  haben  gelangen  lassen;  denn  seit  der 
Areopag  selbst  souverän  geworden  war,  bedurfte  es  des  Um- 
weges über  die  beiden  anderen  Körperschaften  nicht  mehr. 
Endlich  konnte  der  Areopag  als  Körperschaft  in  dieser  Zeit 
eines  Kepräsentanten  nach  außfcJi  nicht  entbehren. 

Das  also  ist  das  Bild  des  Areopags  in  römischer  Zeit. 
Eine  Körperschaft,  die  sich  für  ihre  Betätigung  in  eine  grö- 
ßere Anzahl  von  Kommissionen  mit  jeweiligem  oder  auch 
dauerndem  Arbeitsanftrag  (cägsöLg  in\  rovg  t^eovg)  gliedert. 
Sie  bestimmt  sich  ganz  selbst,  ist  in  ihren  Beschlüssen  völlig 
souverän  innerhalb  der  Grenzen  der  Verfassung  und  des  Ge- 
setzes. Sie  besitzt  in  dem  xijQvt,  einen  geschäftsführenden 
Beamten;  durch  seine  Hände  geben  alle  Agenden  des  Plenums 
wie  der  Kommissionen;  er  gewinnt  so  eine  Geschäftskenntnis 
und  hat  damit  notwendig  einen  Einfluß  in  der  Körperschaft, 
wie  kein  anderes  Mitglied  sie  haben  kann.  Er  ist  faktisch 
der  primus  inter  pares,  wie  er  es  entsprechend  dem  Range 
seines  Amtes  in  der  Beamtenhierarchie  erscheint.  Ich  habe 
die  Züge  dieser  Korporationsorganisation  noch  einmal  kurz 
zusammensfefaßt,  um  so  die  Gleichartio-keit  einer  Parallelbil- 


*n^ 


dung  aus  unseren  Ta»en  eindringlicher  vor  Augen  zu  stellen. 
Diese  Parallele  bietet  die  Verfassung  und  Verwaltung  der 
englischen  Munizipalstädte  (Boroughs).  ^^')  Die  Vertretung 
der  Stadtgemeinde  bildet  der  durch  Wahl  aus  der  Gemeinde 
bestellte  Stadtrat  (^^Town  Council).  Für  die  Ver waltun gsge- 
schäfte  gliedert  er  sich  in  so  viele  ständige  Ausschüsse  oder 
Spezialausschüsse  i  Standing.  Special  Committees),  wie  nach 
Ansicht  des  Plenums  für  die  Verwaltung  nötig  sind;  ihre 
Tätigkeit  untersteht  der  Überprüfung  durch  das  Plenum  des 

117)  J.  Redlich,  Englische  Lokalverwaltuug  (Leipzig  1901),  S.  307  fF. 
338  ff.  Für  den  Hinweis  auf  das  Vorhandensein  einer  der  oben  darge- 
stellten Organisation  ähnlichen  Ordnung  in  der  englischen  Lokalver- 
fassung  sowie  auf  das  zitierte  Werk  bin  ich  meinem  Kollegen,  Herrn 
Prof.  RicH.  Schmidt,  zu   Dank  verpflichtet. 


8o  Pkino  Ki;ii.:  17',  ''^ 

Stadtiutes.  Das  Gesetz  Hißt  der  <Joineimle,  also  dym  Stadtrat, 
freii'  Hand  in  der  ScliatViinn'  von  Ivonununaliiintern,  sowie 
Bcstelluny:  oder  Entlassiin<f  von  KoiMinunalln'anitou:  nur  zwei 
Beanituugen  fordert  es  iu  jeder  (Temoinde,  den  Treasiirer  und 
Town  Clerc.  Dieser  wolint  allen  Sit/.uugen  des  Plenums  bei, 
ebenso  denen  der  Ausschüsse,  soweit  er  sich  in  diesen  niclit 
durch  Hilfskräfte  vertreten  läßt.  Alle  Fäden  der  GenitMnde- 
verwaltung  laufen  in  seinen  Händen  /usaiuinen.  Er  ist  der 
Chef  der  Stadtkan/lei,  ist  'der  Archivar  und  Registrator  der 
Gemeinde:  ihm  obliegt  die  Ausfertigung  aller  iiamens  der 
Gemeinde  ausgehenden  Schriftstücke  und  Urkunden,  sowie  der 
Verkehr  mit  den  Zentralbehörden'.  Durch  ihn  gelangen  der 
Regel  uacli  alle  Weisungen  der  einzelnen  Ausschüsse  an  die 
dem  Verwaltungszweic;  des  betreffenden  Ausschusses  dienen 
den  ausführenden  IJeamten.  'Der  Town  Clerc  stellt  ferner 
nach  außen  hin  die  Spitze  der  kommunalen  Beamtenschaft 
vor."  Das  Amt  selbst  gibt  seinem  Träger  eine  hohe  soziale 
Stellung;  es  wird  zurzeit  'fast  durchgehends  als  das  eines 
Gentleman  betrachtet'.  Es  ist  überflüssig,  die  Übereinstim- 
mungen in  der  Organisation  der  beiden  verglichenen  Körper- 
schaften und  zwischen  den  Amtern  des  Keryx  und  des  Town 
Clerc  im  einzelnen  herauszuhehen.  Einen  Vergleichspunkt 
will  ich  noch  hinzufügen.  Der  Stadtrat  wählt  aus  sich  aul' 
ein  Jahr  seinen  Präsidenten,  der  zwar  das  Recht  der  Berufung 
des  Stadtrates  hat,  sonst  aber  nur  der  höchste  Würdenträger 
ist.  Sein  Amt  ist  ein  repräsentatives,  das  den  Besitz  eines 
größeren  Vermögens  voraussetzt,  wie  denn  sein  Träger  das 
repräsentative  gesellschaftliche  Oberhaupt  der  Stadt,  Ehren- 
präsident aller  gesellschaftlichen  oder  gemeinnützigen  Bestre- 
bungen usw.  ist,  aber  nicht  das  verantwortliche  Haupt  der 
städtischen  Verwaltung,  'der  Bürgermeister'.  Man  vergleicht 
ohne  weiteres  das  Verhältnis  des  Town  Clerc  zum  Major  mit 
dem  des  xrjQvh,  r^g  it,  'Aq^iov  .rdyox^  (iov).i]<^  zum  uQyiir 
(i^oivv^og).  Endlicli  sei  noch  auf  die  Alinlichkeit  in  der  ver- 
fassungsmäßigen Stellung  der  verglichenen  Körperschaften  hin- 
gewiesen:   der  Areopag    römischer   Zeit    ist    eine  kommunale 


71,8)  Beiträgk  zur  Gescuiciitk  dks  Arkopags.  8i 

Körperschaft  wie  der  Town  Council  und  untersteht  der  römi- 
schen Zentralgewalt  zunächst  in  der  Person  des  Statthalters 
wie  der  Town  Council  mit  seinen  Beschlüssen  den  betreffen- 
den Zentralbehörden,  die  im  letzten  Grunde  Mandatare  des 
Parlaments  sind.  Daß  jeder  Vergleich  Ungleichheiten  unter- 
streicht, versteht  sich;  es  wäre  sonst  eine  Gleichung.  Doch 
die  Verschiedenheiten  verschwinden  hier  vor  den  Überein- 
stimmungen in  den  Grundlinien.  Es  genügt,  wenn  die  Par- 
allele meine  Darstellung  der  Organisation  des  Areopags  be- 
lebt hat;  ich  denke  aber,  sie  hat  noch  mehr  getan,  hat  ge- 
zeigt, daß  das  hier  entworfene  Bild  die  Züge  einer  in  der 
lebendigen  Wirklichkeit  bestehenden  rechtlich  gleichartigen 
Institution  trägt.^^^) 

Jetzt  ist  es  möglich,  der  Frage  nach  dem  Ergänzungs- 
modus des  Areopags  zur  römischen  Zeit  näher  zu  treten.  In 
der  ersten  Hälfte  des  4.  Jahrh.  werden  die  Areopagiten  vom 
proconsul  Achaiae  ernannt;  die  Dankrede  des  Himerios  au 
Skylakios  für  seine  Ernennung  zum  Areopagiten  ist  kurz  nach 
dem  Jahre  343  verfaßt.^'^)  Ich  habe  früher  diese  Bestelluugs- 
art  der  Areopagiten  auf  die  ganze  römische  Periode  ausdeh- 
nen zu  dürfen  gemeint,  dann  die  Frage  angesichts  des  Mangels 
direkter  Zeugnisse  oÖen  gelassen  ^-°);  bessere  Anschauung  von 
der  Stellung  des  Areopags  in  der  Kommunalverfassung  sowie 
das  Hinzutreten  indirekter  Bezeugungen  lehrt,  daß  man  auch 
hier  die  Zeiten  scheiden  muß.  Den  Schnitt  bringt  die  dio- 
kletianische Epoche.  Ich  spreche  also  zunächst  von  dem  Er- 
«ränzungsmodus  während  der  drei  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderte. 


11 8)  Ich  will  doch  ausdrücklich  hervorheben,  daß  ich  die  vorge- 
führte Organisation  und  Arbeitsart  des  Areopags  aus  den  zerstreut  über- 
lieferten Indizien  und  Zeugnissen  erschlossen  hatte,  ehe  mir  die  eng- 
lische Parallele  bekannt  wurde.  Meine  Auffassung  ist  also  völlig  unab- 
hängig von  dieser  entstanden,  keine  Konstruktion  nach  modernem  Muster. 

119)  [Himerios  or.  27  a.  E.  Zur  Zeit  vgl.  Skkck,  Briefe  des  Liba- 
nius  S.  270.] 

120)  [Gkrcke-Noudkn,  Einleitung  III  360  (Zweifel  dagegen,  doch 
ohne  Begründung,  äußerte  Swoboda,  Gr.  St.  177,  5)  und  *394  ] 

Phll.-hist.  Klasse  1910.  Bd.  LXXI.  3.  6 


82  Hni'No  Kkii,:  (71,  s 

Es  läßt  sich  niclit  iiiU'lnvcison  oder  iiucli  nur  iiU'Muhvic 
wahrscheinlicli  machen,  ihiß  der  Eintritt  in  den  Areopaji;  olnu* 
die  vorliorige  HckleidnnL»-  eines  Arclionteuamtes  in  dieser 
I'eriode  niö'ii'lich  gewesen  wäre:  umgekehrt  heweisen  die  In- 
schriften positiv,  daß  der  Keryx  stets  ein  soK-hes  Amt  inne- 
gehaht  liat.  Alh-rdiugs  ist  die  r)eol)aclitung  auf  diesen  einen 
Areopagiten  beschränkt,  da  ja  die  sonstigen  einzelnen  Mit- 
glieder des  Areo])ags  überhaupt  keine  amtliche  Erwähnung, 
kaum  eine  solche  in  einem  cursus  bonorum  finden;  allein  nur 
bare  ^^  illkür  kann  bestreiten  wollen,  daß  für  die  gesamten 
Mitglieder  des  Areopags  gilt,  was  für  den  Kerj'x  feststeht, 
daß  sie  Arcbonten  gewesen  waren.  Hiermit  ist  jedoch  nicht 
gesagt,  daß  mit  dem  Erwerb  der  Qualifikation  /um  Areopa- 
giten durch  Bekleidung  irgendeines  der  neun  Arclionten- 
ämter  auch  der  Anspruch  auf  einen  Sitz  im  Areopag  erwor 
ben  wurde,  wie  es  in  der  demokratischen  Zeit  der  Fall  war. 
Diese  Vorsicht  zu  üben  zwingen  die  Inschriften  mit  Angabe 
der  Amterlauf  bahnen,  deren  ältest»^  in  die  Mitte  des  1.  Jahrb. 
V.  Chr.  zu  fallen  scheint.^^') 

[  j    xt]QVXfv0uvxa   xcd  ■yi'HvaöLUQp'jöavTU  Öig,   ccyiovo- 

&tTrjöavTa.    öTQurijyijöavta    i%l   tuv^  (inlurac;  IGr.  111  722: 
Mitte   1.  Jahrb. ^*2) 

121)  [Ich  beschränke  mich  auf  die  gegebenen  cursus  bonorum;  es 
wird  sich  noch  für  einzelne  Beamte  aus  getrennten  Angaben  die  Lauf- 
bahn wiedergewinnen  lassen,  wie  z.B.  der  Archon  Epikrates  IG.  Ill  136 
mit  dem  Keryx  1013  identisch  sein  dürfte;  doch  bleiben  meist  Zweifel.] 

122)  Zeit  annähernd  bestimmt  durch  die  Erwähnung  der  yLbyäXcc 
KttiedQ)]a  Hsßaarä,  die  nicht  wohl  nachflavisch  sein  können,  und  die 
der  augusteischen  Zeit  besonders  eignende  Orthographie  -pTj«,  für  die 
IG.  III  652  (gerade  mit  Kaiaagijcov  UsßaeTcov)  aus  dem  Jahre  57  nach 
Mkisteuuans,  Gramm,  d.  att.  Inschr.^  48,  353  das  jüngste  Beispiel  liefert. 
—  Z.  3  ist  unleserlich,  auch  Z.  2  am  Schlüsse  vielleicht  nicht  ganz  ge- 
lesen. Ob  nach  dem  Namen  F.  Me^niiov  Zaßsl^rov  UaiGuvSQuv  noch 
der  Name  des  Vaters  folgte,  ist  unsicher;  sicher  daß  das  Archontat 
genannt  war.  Stand  der  Name  des  Vaters,  bleibt  nur  Raum  für  ßaai- 
'kiv6avxa\  fehlt  er,  so  lautete  3  aQ^avra  ttjv  inävvfiov  ägj^'^v.  Dies  hat 
nach  der  Sehriftverteilung  der  folgenden  Zeilen  die  Wahrscheinlichkeit 
für  eich. 


71,8]  Bkituäge  zur  Gkschicutk  dks  Areopags.  83 

ci(flavra  tijv  i:TCC3vv^ov  ccQX^iv^  xrjQ.  r^g  s^  'Jq.  7t.  ß..  xrJQvxa 
ßovXr}g  Kai  drßioi>  yfvöufvov,  f%Li.isXi]riv6avTi<  rrjg  ^ölscog., 
ayojv.,     yv}iv.,    argar.     BCH.    1895  XIX   11.3,     2.    Hälfte, 

^x.  xr]Q.   öTQccr.  aycor.  yvfivaff.  STti^skrjzrjv   yavo^uvov   riyg  7t6- 

Xsag  IG.  in  721:  kaum  nach   150.'^*) 
s:i.  öTQccT    ijtL^isXT]rrjV  yvuvuöLaQxiag  ^eov  'AÖQiavov,  äyavo- 

^ki]v   xQig   Eph.  arch.  1883,  77    (=  Dittenbergek,   Syll.^ 

872):   163/4. 
£.T.  '/.r]Q.    II 28,  8:    165/6. 
i:T.  :tavi]yvQiuQxri6avTog^  x}]q.  argtcT.  yv^iv.  aycov.  Dittenher- 

GER-''    869,  9. 

iTt.    %avriy.    xrjQ.    f(Qh,ciVTa,    Jt(ivi]y.    yv^v.    ebda.    Z.    13:    165 

bis   169. 
i7C.  öxQdx.  yvav.  xr^g.  Epli.  arch.    1897,  65:  Ende   2.  Jahrh. 
0T(}aT.   ßaöiXsvöuvrog  xt^q.  IGr.  III  680:  dgl. 
£X.    xtjQvxsvöavtog     t6     ß,    aytav.    axoar.    Eph.    arch.     1883, 

139,  13-'^^) 

123)  Zeit  durch  die  eponyme  Priesterin  Flavia  Laodamia  (IG.  III 
895)  angezeigt.    Der  Vater  des  Tißsgiog  Kkavöiog  .  .  KcdkiKgaridov  Tql- 

I  xsQvcios    ist    identisch   mit   dem    durch   IG.  III  648—650  als  atgctzriyög 

int  xovs  OTtXsirag,  Panegyriarch  und  KfiQv^  rfjg  ßovlfig  y.al  tov  öijilov 
bezeugten  Kcdliy.QuriSrig  ZvvSqohov  TQi-xoQvoiog,  wie  das  Demotikon 
zeigt.  Yorhadrianisch :  ßovXij  rmv  i^ay.oauov.  Derselbe  wohl  der  aQx<av 
KüUiKQaridrig  1082  klaudiacher  Zeit.  Die  relative  Chronologie  bestä- 
tigt: c.  55  Vater  Archon,  in  nachflavischer  Zeit  der  Sohn  am  Ende 
seiner  Laufbahn. 

124)  Die  iTTm^Xrital  ri'ig  nöXswg  lassen  sich  nicht  über  die  hadria- 
nische  Zeit  hinab  nachweisen;  Literatur  und  neuer  Beleg  bei  A.  Wil- 
HKLM,  Ost.  .lahresh.   1909  XII  148. 

125)  TOB  für  einfaches  B,  d.  h.  3ig,  wie  Z.  24  atQCiTTjyjjGuvrog .  .  . 
TÖ  [^?].  —  Zeit:  die  Geehrte,  Aelia  Kpilampis,  ist  Nichte  {ävh^iä)  so- 
wohl des  Ardys,  Archon  150/1  (IG.  III  U2u),  der  noch  als  uQiisQBvg 
xmv  2:£ßccezüv,  d.  h.  des  Marcus  und  Verus  (161  —  169)  bezeichnet  wird, 
wie  des  Aelios  Gelos,  Archon  165/6  (ebda.  1128).  Der  Stein  von  dem 
Enkel  der  Epilampis  während  seines  Amtsjuhres  als  Eponym  gesetzt.  — 
Übrigens  ist  Z.  29  das  N  nach  dem  Namen  dieses  Enkels  o  trrwvv/tog 
agxtov  n.  iIo(i(3tflbvtos)  'Hyiag  ^alf]Qsvg  als  v{iwTfQOs),  nicht  als  N{ov- 
ftfQiog)  zu  verstehen;    der   Zusatz  war  nötig,   weil   sein   gleichnamiger 

C* 


84  Hkiku  Kkii,:  [71,8 

f.-T.  ifTQUT.  x}jQ.  ccycov.  ebdii.  Z.   18:   um    Joo.**^) 
/,T.  ßai-si)..  (»TpfiT.  yviw.  xi}Q.    Epli.  ;iicli.  1H85,   148,  25:   Anfang- 
3.  Jahrli. 

Nirgend  treten  hier  aus  der  Neunzahl  der  Archonten  der 
Polemarch  und  die  Thesniotheten  :int'  Die  beträclitliche  An- 
zahl der  sich  iil)er  mehr  (hiin  aiiderthalh  Jahrhunderte  ei'- 
streekenden  Heispiele  schlielit  liie  Austlucht  aus,  diese  Er- 
Rcheiuunjj^  auf  die  Zufälligkeit  unserer  Uherlieferun«»-  zurück- 
zuführou.  Hätten  die  Polemarchie  und  Thesmothesie  den  Ein- 
tritt in  den  Areopag  eröltuet,  müliten  sie  in  diesen  Äniter- 
aiifzählungen  irgendwann  sich  zeigen.  Die  Inschriften  sagen 
also  aus:  von  der  Mitte  des  l.  .lalirh.  alt  können  aus  den 
jährlich  abtretenden  Archonten  nur  die  beiden  höchsten,  der 
Eponvmos  und  Basileus  in  den  Areopag  gelangen.  Hier  greifen 
nun  die  beiden  literarischen  Zeugnisse  ein.  Da  iiire  Beweis- 
kraft für  eine  gegen  früher  veränderte  Bestellungsart  des 
Areopag  nocli  jüngst  l)estritten  worden  ist'-^),  kann  ich  sie 
nicht  ohne  eingehendere  Interpretation  lassen.  Scr.  r.  A.  vita 
Gull.  II,  3  heißt  es:  Gallienus  apud  Athenas  archon  erat,  id 
est  summus  magistratus,  vanitate  illa,  qua  et  civis  adscribi 
desiderabat  et  sacris  omnibus  interesse;  quod  neque  Hadrianus 
<^nisi)>  in  summa  felicitate  neque  Antoninus  nisi  adulta  fecerat 

Vater,  der  immittelbar  vorher  genannt  ist,  ebenfalls  Eponymos  war. 
Man  unterscheidet  in  dieser  Zeit  die  homonymen  Archonten  nicht  mehr 
wie  früher  mit  o  uträ So  folgt  aus  der  Datierung  des  Todes- 
jahres des  Proklos  (Marinus  v.  Procl.  36)  ägxovTog  kd'jjvrioi  Nikuyoqov 
Toß  vtMTtgov,  daß  für  das  frühere  5.  Jahrh.  u.  Chr.  noch  ein  Eponym 
Nikagoras,  vermutlich  der  Vater  des  jüngeren,  in  unserer  Archonten- 
liste  nachzutragen  ist. 

126)  Die  Geehrte,  F.  Aelia  Herennia,  ist  Tochter  dcd  P.  Aelius 
Apollonios,  der  mit  dem  in  der  Liste  IG.  III  1030,  13  (aus  den  Jahren 
165  —  1851  aufgeführten  Epheben  als  identisch  zu  betrachten  ist;  ihr 
Großonkel  (:TpoO'6<o?;  vgl.  CIG.  3936),  der  Daduch  P.  Aelius  Diouy- 
sios,  dürfte  der  Ephebe  gleichen  Namens  der  Liste  11 20  vom  Jahre 
150/1  sein. 

127)  Ln'.sm.i,  Att.  Recht  u.  Rechtsverfahren  S.  122.  Fekgi;80n,  Klio 
1909  IX  328 f. 


71,8]  BeitkÄgk  ZUR  Geschichte  DES  AuEOPAus.  85 

pace  ...  5  Areopagitannn  prneterea  cupiebat  ingeri  n\imero 
fontempta  fere  republica.  Uabefangene,  d.  h.  uicht  durch  die 
Kücksicbt  auf  die  ältere  Ordnung  beeintlußte  Interpretation 
muß  die  Möu'liehkeit  anerkennen,  daß  hier  der  Eintritt  in 
den  Areopag  als  ein  von  der  Erreichung  des  Bürgerrechts 
und  des  Archontates  sowie  von  der  Einweihung  in  die  eleu- 
ßinischen  Mysterien  ^^^)  gesonderter  Akt  dargestellt  ist, 
der  nicht  als  selbstverständliche  Konsequenz  aus  der  Beklei- 
dung des  Archontates  folgte.  Dadurch,  daß  sich  aus  den  In- 
schriften eine  Veränderung  in  der  Areopagitenbestellung  er- 
schließen ließ,  ist  jene  Möglichkeit  zur  Glaubwürdigkeit  gestei- 
gert worden.  Natürlich  erlaubt  der  Wortlaut  des  Berichtes 
nicht,  ein  Hervorgehen  der  Areopagiten  aus  den  Archonten- 
kollegien  überhaupt  zu  leugnen  und  eine  von  der  früheren 
völlig  verschiedene  BesteUungsart  anzunehmen;  nur  das  er- 
geben sie,  daß  eine  Veränderung  stattgefunden  hatte.  Und 
das  war  ja  anch  der  Fall,  wenn  der  Areopag  sich  nur  noch 
den  beiden  höchsten  Archonten  öffnen  konnte  —  konnte, 
nicht  mußte;  denn  das  muß  man  allerdings  daraus  entnehmen, 
daß  der  nun  beglaubigte  Bericht  die  Erlangung  der  Areopa- 
gitenwürde  von  der  des  Archontates  handgreiflich  scheidet. 
Das  zweite  Zeugnis  liefert  Plutarch  (Per.  9):  avtai  yccQ  ul 
uQ%a\  (die  Q  Archonten)  '>iXi]Q(x3raC  rs  i](3av  £x  TcaXaiov  xal 
ÖL  ^"')  avxCov  ol  öo/iLnuad^'cVTS^  dvsßaipov  elg  'Aqsiov  Ttäyov. 
Daß  hier  das  Präteritum  infolge  logischer  Attraktion  an  die 
vorhergehende  präteritale  Darstellung  (ou  ^isTulxe)  nach  grie- 
chischer Ausdrucksweise  stehen  kann,  ist  unbestreitbar;  allein 


128)  Daß  diese  vor  allem  unter  den  eacra  zu  verstehen  sind,  ist 
ohne  weitere«  klar  und  wird  durch  den  Hinweis  auf  Hadrian  und  Mar- 
cus bestätigt.  Für  die  Weihung  des  Hadrian  die  Belege  bei  Webkr, 
Unters,  z.  (Jesch.  d.  Kaisers  Hadrian  168  ff.;  zu  den  Zeugnissen  für 
Marcus  in  R.  E.  I  2301,  54!".  noch  Dittexbkroer,  Syll.'  872.  Übrigens 
hatte  auch  L.  Veras  die  Weihen,  Eph.  arch.  1895,  in  (=  Dittenbergek 
869)  ebenso  Commodus:  a.  a.  0.  1883,  77  (=:  Dittenbkrgkr  872). 

129)  Diese  Präposition  verstehe  ich  nicht;  es  ist  eher  Dittographie 
nach  KAI  als  Verschreibung  aus  i^. 


86  I)Ui;no  Kkii.:  [71, 8 

zu  (lieser  Erkliiniu>:<  greift  man  docli  nur,  wenn  sidi  keine 
Mögliehkfit  l)i«'tet.  solch«'  Worte  in  dem  aifh  uiunittelhnr 
bietenden  Sinne  zu  verstellen;  iliese  Möglichlieit  besteht  aber 
hier,  da  nichts  als  liistorisch  beeinflußte  l'^rklärung  die  Auf 
fassung  verhindert,  daß  Plutareli  durch  diesen  Zusatz  sein<> 
Leser  über  die  alte  Ordnun«;  lielehren  zu  müssen  '•laubte, 
weil  diese  eben  zu  seinen  Zeiten  nicht  mehr  bestand.  Man 
wird  jetzt  diese  näclistliegende  h]rklärung  in  ihr  Kecht  ein- 
setzen. Ks  war  schon  immer  bedenklicli,  die  beiden  vonein- 
ander völlig  unabhängigen  literaris(;hen  Zeugnisse  beiseite  zu 
schieben,  wo  sie  sich  doch  gegenseitig  stützten.  Dabei  über- 
sah man  außerdem,  daß  für  den  einen  Teil  der  plutarchischen 
Worte  der  Gegensatz  von  ehedem  und  jetzt  tatsächlich  zum 
Ausdrucke  kommt.  Daran,  daß  in  der  timokratisch-oligarchi- 
schen  Verfassung  der  Kaiserzeit  die  Arcbonten  gewählt,  nicht 
erlost  wurden,  bezweifelt  wohl  niemand  mehr;  darum  setzte 
Plutarch  das  Kh]Qcor(d  re  i]6av  hinzu,  das  den  Gegensatz  zum 
Jetzt  enthält.  Und  das  auf  das  engste  hiermit  verbundene 
xal  —  avhßaivov  soll  man  danach  verstehen,  als  ob  ein  log; 
hl  xa)  vvv  dabeistünde?  Was  die  Verwerfer  des  Zeugnisses 
verstehen,  käme  somit  nur  klar  zum  Ausdruck,  wenn  Plutarch 
etwa  geschrieben  hätte:  xXrjQcotcd  i]6uv  ex  otalaiov,  äveßaii'ov 
df,  cjg  tri  xal  vvv,  avtciv  01  öoxLnaöd^tvxEg  xxX.  Die  Aus- 
drucksweise des  Schriftstellers  wird  nur  konzinn,  wenn  beide 
Satzteile  die  gleiche  Perspektive  haben,  entweder  besagen:  so 
wie  heut,  oder:  anders  als  heut.  Da  jenes  durcli  x).i]qo}t«l 
ausgeschlossen  ist,  bleibt  nur  dieses,  und  Plutarch  bezeugt 
für  seine  Zeit,  daß  wie  für  das  Archontat  die  Losung  abge- 
schafft war,  so  auch  der  Eintritt  in  den  Areopag  eine  Ände- 
rung erfahren  hatte. 

Die  kombinierten  Zeugnisse  der  Inschriften  und  Schrift- 
steller ergeben  also,  daß  überhaupt  eine  Änderung  in  diesem 
Punkte  stattgefunden  habe;  weiter  ließen  die  Lischriften  er- 
schließen, daß  die  Veränderung  in  der  Beschränkung  der 
Kandidatur  füi-  den  Areopag  auf  den  Eponymos  und  Basileus 
bestand.    Es  gilt  jetzt  zu  prüfen,  ob  diese  Ordnung  mit  dem 


71,8]  Beitragk  zun  Geschichte  dks  Aueopags.  87 

Chariikter  der  Verfassimg  zur  Römerzeit  und  der  Stellung 
des  Areopags  in  ihr  in  Einklang  steht.  Die  Prüfung  wird 
diese  Übereinstimmung  ergeben  und  damit  den  äußeren  Zeug- 
nissen die  wichtigere  innere  Beglaubigung  hinzufügen. 

Die  timokratisch-oligarchische  Verfassung  band  natürlich 
den  Zutritt  zu  den  höheren  Amtern  an  bestimmte  Zensus- 
stufen. Das  Archontat  war  demgemäß  nur  einer  beschränkten 
Anzahl  von  Bürgern  zugänsflich.  Wir  kenneu  die  Zensus- 
zahlen  nicht;  aber  die  Geldspenden  und  sonstigen  freiwilligen 
Leistungen  der  Beamten,  auf  deren  Munitizenz  die  arme  Ge- 
meinde rechnete,  erforderten  immerhin  große  Vermögen.  Der 
Archon  Tib.  Claudius  (Anm.  123J  gab  eine  ÖLdSoöi.<^  von  einem 
Medimnos  und  15  Drachmen,  derselbe  als  yfja^^atsv':;  ßovkrjg 
xul  di'juov  2  Denare,  vermutlich  für  jeden  Bürger.^^°)  Die 
Largitio  stuft  hier  deutlich  die  Würde  der  beiden  Amter 
ab.  Für  den  Eponymos  war  ein  höheres  Vermögen  als  für 
den  Grammateus  erforderlich;  danach  wurde  gewählt.  Der 
öTQatip/ös,  der  die  cura  annonae  hatte  (o.  S.  501,  muß  stets 
ein  recht  wohlhabender  Mann  gewesen  sein;  das  beweisen  die 
freiwilligen  Spenden  und  die  :taQajiQäöeig^^^\  der  Agoranomen 
der  anderen  Staaten,  deren  Funktion  eben  der  Stratege  in  Athen  im 
wesentlichen  ausübte.  Um  Athen  mit  billigem  Getreide  zu 
versehen,  richtiger  vielleicht,  weil  in  dieser  Zeit  des  tiefsten 
wirtschaftlichen  Ruins  sich  kein  Athener  zu  dieser  kost- 
spieligen   Liturgie   bereit    fand,    hat   noch   Kaiser  Konstantin 


130)  [B.  C.  H  XIX  1895,  113  ()'  4  inl  usdi(ipcp  neu  dtytuTTh'te  öoo:- 
Xuoil?,  6  iTTi  drivagioig  SvaL  Die  Berechming  nach  den  verschiedenen 
Nominalen  fällt  auf,  da  doch  der  Denar  und  die  attische  Drachme 
sonst  gleich  gesetzt  werden.  Die  Spende  von  15  Drachmen  war  bei- 
spiellos hoch;  denn  es  wird  kein  Unterschied  gemacht  wie  gelegent- 
lich bei  Stiftungen  zwischen  Beamten  und  Bürgei'n  (Laum,  Stiftungen 
I  93).  Die  Inschrift  fällt  etwa  in  dieselbe  Zeit  wie  III  69,  in  welcher 
nach  MoMMSENS  Darlegungen  die  athenische  Drachme  als  '/^  Denar  be- 
rechnet ist;  das  ergäbe   dann  hier  2'/^  Denare   neben  den  2  Denaren.] 

r3i)  [WiLUKLM,  Arch.  Epigr.  Mitteil.  1897  XX  77;  besonders  illu- 
strierend noch  J.  V.  Magnesia   179,  20,  25.J 


88  Bruno  Keii,:  I71, 8 

das  athenische  Strategenanit  übernommen.*^')  Wie  groß  soll 
man  sioli  t'igentlidi  die  Zalil  so  begiiterter  Biir»>;rr  in  doin 
Terarniten  Athen  denken,  das  mit  seinem  liürf^erreclii  Schacher 
trieb ''•'),  bis  die  römisclie  K'egierung  einschritt,  nnd  Inseln 
die  ganzen  .Tahrhunderte  hinihirch  erbettelte,  um  seinen  Fi- 
nanzen aufzuhelfen y"**)  Wir  kennen  ja  die  ))ürgerliche  Ein- 
wohnerzahl Athens  in  dieser  Zeit  nicht.  Hklocii  hat  aus 
Ephebenlistcn  für  die  Zeit  der  AntoniJie  einen  Bestund  von 
annähernd  4000  wohlhabenden  Bürgern  berechnet '■'"'),  wohl- 
habend doch  in  dem  beschränkten  Sinne,  daß  ihr  Einkommen 
ihnen  erlaubte,  ihren  Söhnen  die  gymnasiale  Bildung  der 
Ephebie  angedeihen  zu  lassen;  Vermr)gen  zur  Bestreitung  der 
großen  Liturgien  waren  das  natürlich  zum  allergeringsten 
Teile. 

132)  [lul.  I  p.  9  Hertl.;  Koustantiu  erhielt  dafür  eine  Stiitue  iu 
der  Amtstracht  des  Strategen  roiavTris  Bi^övog  Tvy%dv(av  atr'  ini- 
ypaHfiaros.] 

133)  [AugiistuH  verbot  den  Athenern  firiätv«  TtoXiTi^v  ö-p/vp/ov  not- 
ficd-ctt  (Dio  Cass.   LIV  7).J 

134)  [Den  luselschacher  betrieben  die  Athener  von  Augustus'  Zeit, 
wo  Nikanor  ihnen  das  verpfändete  Salamis  znrückkanfte,  bis  Julian, 
dem  Himerios  in  Grallien  ein  paar  Inseln  abbettelte.] 

135)  [Die  einzige  feste  Zahl  aus  der  römischen  Zeit  (Ephera.  Arch. 
18.S4,  167)  bietet  die  Angabe  der  Stimnienzahl  in  einer  Volksversamm- 
lung: 3461  Stimmen  mit  ja,  155  mit  nein.  Also  waren  in  der  Volks- 
versammlung 3616  Anwesende.  Da  lange  nicht  alle  Bürger  erschienen, 
muß  die  Gesamtzahl  der  Bürgerschaft  sich  reichlich  auf  5000  erhoben 
haben.  Soviel  hatte  Beloch  (Bevölkerung  d.  griech.  röm.  Welt  S.  71) 
für  das  Ende  des  2.  Jahrb.  berechnet.  Seit  Sulla  hat  .sich  die  Ein- 
wohnerzahl kaum  mehr  gehoben.  Nach  Zos.  V,  5,  8  hat  Alarich  vor 
Athen  mit  Ernährungsschwierigkeiten  in  der  Stadt,  aber  auch  damit 
gerechnet,  daß  die  Stadt  wegen  ihres  Umfanges  von  der  (zusammen- 
geschrumpften) Einwohnerschaft  nicht  verteidigt  werden  konnte  (395). 
Herennius  Dexippus  (F.  H.  G.  III  680  frg.  21)  gibt  2000  Verteidiger  an. 
Weil  wohl  kaum  beachtet,  möchte  ich  noch  erwähnen  Porphyr,  in  Categ. 
p.  109,  17  ed.  Busse:  ir  ^;-r  yuo  ralg 'A9^1]vcae  *(  tv^oi  tq^oxi^iojv  ovtcov 
ai'&Qä7T(ov  (pauhv  dliyovg  tlvai,  iv  ös  tTj  jcw/it;  kccv  loaiv  tgLatcooioi, 
/.iyo[Lfv  TtolXoi  elßLV,  ■Kccitoi  TtoXlanXaGioyv  (ivroiv  'A&ijva^s.  —  Für  die 
Qualifikation  zu  den  hohen  Ämtern  kommen  die  genannten,  die  tief- 
sten Zensusklassen  umfassenden  Zahlen  nicht  in  Betracht.] 


71,8]  Beiträge  zun  Geschichtk  des  Areopags.  89 

Wie    klein     tatsächlich    die    Zahl    der    Zensiten    ersten 
Grades  war,   lehren   die  Inschriften:   nach  ihrem  Zeugnis  be- 
kleiden   die   gleichen    Personen    die    kostspieligen    Ämter    der 
Reihe  nach,  und  zweitens   laufen  diese  Amter  durch  Genera- 
tionen   der  gleichen    Familie   oder   des    gleichen   Geschlechts. 
Gesetzt,  es  hätte  für  alle  neun  Archonten  der  gleiche  Zensus 
gegolten,   oder,   vorsichtiger  ausgedrückt,  man    hätte    sie   alle 
unter    der  Voraussetzung    eines  den  kostspieligsten  Liturgien 
gewachsenen    Vermögens    gewählt,    für    wieviel    Jahre    hätte 
dann    die    Zahl    so    leistungsfähiger    Bürger    gereicht?     Der 
Strateg    ist    auch    noch    in  Rechnung    zu    stellen,  wenn   auch 
die    Fälle    mehrfach    wiederholter    Bekleidung    dieses    Amtes 
nicht  selten  sind.    Es  entspricht  nur  dem  Wesen  dieses  timo- 
kratisch-oligarchischen  Rates,  wenn   er  allein   den  Allerbegü- 
tertsten    offenstand;    bei   jährlich    9  Kandidaten    hätten    auch 
Minderbegüterte  zu  Mitgliedern  werden  müssen.    Indem  eben 
zwischen    den    beiden    höchsten  Archonten    und    den  übrigen 
Mitgliedern    des    Kollegs    für   den  Areopag    eine    Grenze    ge- 
zogen  wurde,  wahrte  man  diesem   seinen  Charakter;    und  ge- 
wahrt wurde  ihm  auch  die  Stärke  der  Zusammensetzung,  die 
einem  solchen  entspricht.    Die  oligarchisch-timokratische  Ord- 
nung erforderte  neben  dem  großen  demokratischen  Rat  einen 
kleinen  oligarchischen  Rat.    Setzt  man  die  Rekrutierung  durch 
jährlich  q    neue  Mitglieder   an,   so   wächst    die  Zahl  der  Mit- 
glieder über  das  Maß  der  mit  dieser  Verfassung  vereinbaren 
Stärke  der  Ver.sammlimg   hinaus.    Weil  rein  nach  timokrati- 
schen  Gesichtspunkten  gewählt  Avurde,  konnte  das  Archontat 
in    verhältnismäßig    frühen  Jahren    erreicht  werden;    der    un- 
mittelbare'Übertritt  in  den  Areopag  l)rachte  diesem  also  Mit- 
glieder, die  noch  weit  vom  Alter  der  ysQOvtss  entfernt  waren. 
Eine  Mitgliedschaft  von  25  Jahren  kann  gar  nicht  selten  ge- 
wesen   sein.    Der   natürliche  Abganor   mußte  weit  hinter  dem 
jährlichen    Zuwachs    von    9   Stellen  zurückbleiben.    Von    den 
während  einer  25jährigen  Periode  eingetretenen  225  Archon- 
ten hätten  am  Schlüsse  dieses  Zeitraumes  noch  etwa  150  Mit- 
glieder gelebt;  denn  wir  haben  es,  wie  angedeutet,  doch  mit 


QO  BiiUNf»  Kku.:  [71.^ 

MüMiicrn  von  etwa  30 — 60  Jahren  /,u  tun.  V]\ao  solcho  Vor 
Biuninlunjjj  ist  viel  zu  groß  als  olit^archisch  hemmomier  un«l 
rcgit^render  b'aktor  nelxMi  doiu  Ivat  der  600  odor  500.  Ich 
glaube,  im  Grunde  hat  sich  auch  niemand  den  arcopagitischen 
Kat  vorgestellt.  Setzen  wir  eine  Ergän/ung  von  jährlich 
2  Mitgliedern  an,  so  ergehen  sich  in  25  Jahren  als  ents[)re- 
chonde  Zahlen  50  eintretende  Archonten,  von  denen  miin  am 
Schlüsse  der  Periode  gegen  30  als  lebend  annehmen  darf. 
Es  wird  nicht  leicht  bestritten  werden  können,  daß  ein  Areo- 
pag  von  etwa  30  Mitgliedern  dem  Wesen  eines  oligarchisclien 
Rates  überhaupt  und  seiner  Stellung  in  der  athenischen  Ver- 
fassung im  besonderen  nach  jeder  llichtung  hin  entspricht. 
Der  Einwand  läßt  sich  doch  nicht  erheben,  daß  (Mue  solche 
Mitgliederzahl  zu  gering  für  die  mannigfachen  nnd  umfang- 
reichen Regieruugs-  und  Verwaltungsgeschäfte  sei,  die  dem 
Areopag  dieser  Epoche  oblagen.  Athen  ist  nur  einer  eng- 
lischen Kleinstadt  zu  vergleichen  an  Einwcdinerzahl  und  in 
zutreffenderer  Weise  nach  dem  Umfange  der  Verwaltung; 
das  moderne  Kommunalleben  macht  ja  Verwaltungszweige 
nötig,  die  in  der  Antike  überhaupt  nicht  gedacht  werden 
können.  Und  doch  ist  der  Town  Council  in  diesen  Gemeinden 
nur  20 — 40  Mitglieder  stark  und  bestellt  aus  sich  die  ver- 
schiedensten Kommissionen.  Selbst  Städte  wie  Manchester 
und  Liverpool  kommen  mit  einem  Town  Council  von  104 
bzw.  112  Mitgliedern  aus'''®),  die  doch  zusammen  soviel  Ein- 
wohner haben,  wie  die  griechische  Halbinsel  in  der  Römerzeit 
überhaupt  an  Menschen  gezählt  haben  mag.  Eine  ganz  dünne 
Schicht  des  Geldadels  hatte  so  die  höchsten  Amter  inne,  re- 
gierte die  Kommune  Athen.  Um  das  Jahr  400  steht,  wie  ein 
auch  nur  flüchtiges  Lesen  der  Lebensbeschreibungen  des  Pro- 
klos und  Isidoros  lehren  kann,  Athen  geradezu  unter  der 
Herrschaft  ganz  weniger  reicher  Familien.  In  nichts  unter- 
scheiden  sich  die  Zustände  von  denen  in  allen  anderen  grie- 
chischen Gemeinden  dieser  Zeiten,  auch  darin  nicht,  daß  diese 


136)  [Rrdlicu  S.  270,  308.] 


71,8]  Bkitk\(".k  /,l'r  Geschichte  des  Areopags.  91 

Geldaristokratie  zu  großem  Teile  nicht  bloß  gauz  iuut>'  er- 
worbenes Bürgerrecht  hatte,  sondern  ihren  Ehrgeiz  und  Stolz 
mehr  in  dem  Besitze  der  römischen  Civität  als  in  dem  des- 
jenigen Rechtes  suchte,  das  sie  durch  dumme  Stammbaum- 
tiktiouen  als  altererbtes  Recht  in  Anspruch  nahm.  Das  aber 
war  es.  was  die  Römer  woUen  mußten;  so  fesselten  sie  die 
resrierende  Oberschicht,  die  die  Beamten  lieferte,  an  sich,  hatten 
deu  Areopag  auch  durch  die  persönlichen  Interessen  der  Ein- 
zelmitglieder in  ihrer  Hand.  Entsprach  endlich  die  Art,  wie 
die  Besetzung  des  Areopags  geändert  wurde,  nicht  ganz  dem 
Kompromißverfahren,  das  ihre  Umgestaltung  der  athenischen 
Verfassung  schon  in  so  vielen  Punkten  hat  erkennen  lassen'? 
So  wurde  das  aus  der  Demokratie  übernommene  Archonten 
kollegium  in  seiner  Neunzahl  gewahrt,  gewahrt  auch  der 
Grundsatz,  daß  es  die  Vorstufe  zum  Areopag  bildete;  aber 
zui^leieh  wurde  durch  die  timokratische  Beschränkung  der 
Qualifikation  zum  Areopagiten  auf  die  beiden  ersten  Archon- 
tensteUen  diejenige  Ergänzung  des  Areopags  erzielt,  welche  die 
Römer  sich  sichern  mußten,  sollte  anders  dieser  Rat  bleiben, 
was  zu  sein  er  durch  die  Verfassung  bestimmt  war,  das  im 
römischen  Sinne  die  Kommune  leitende  und  verwaltende  Organ. 
Jetzt  wo,  wie  ich  glaube,  der  dargelegte  Besetzungsmodus 
des  Areopags  für  erwiesen  augesehen  werden  darf,  muß  ich  noch 
einen  Schritt  weiter  gehen.  Wenn,  wie  es  das  Beispiel  des 
Kaisers  Gallienus  an  die  Hand  zu  geben  scheint,  aus  der  Be- 
kleidung des  eponymen  Archontates  nicht  ipso  iure  der  Ein- 
tritt in  deu  Areopag  folgte,  welcher  Akt  machte  das  virtuelle 
Recht  zum  faktischen?  Die  Dokimasie,  wie  sie  schon  in  der 
Demokratie  gefordert  wurde?  Beim  Kaiser?  Wer  soll  die 
Dokimasie  in  dieser  Zeit  vorgenommen  haben,  wenn  nicht 
der  Areopag  selbst?  Also  kooptierte  der  Areopag  die  neuen 
Mitglieder.  Dieser  Ergänzungsmodus  entspricht  wieder  dem 
Prinzip  oligarehischer  Körperschaften;  er  ist  hier  für  deu 
Areopag  nicht  aus  diesem  Prinzip  hergeleitet  worden,  sondern 
aus  den  vorauszusetzenden  rechtlichen  Verhältnissen  erschlos- 
sen; daß  dies  Ergebnis  dem  Prinzipe  sich  fügt,  dient  zu  sei- 


g2  HiUNO  Kfii,:  [71, 8 

ner  Restätij^uiig.  Einllich:  L(laubt  man  wirklich  iinnehincn 
7.U  tUirtV'ii,  daß  die  alles  re^fluden  Homer  bei  der  für  sie  wich- 
tigsten athenischen  Kiirpersclial't  den  irrationaleii  Kaktor  einer 
vom  Zufall  al)häii<i;igcn  Mitt;lieder/ahl  ;nis  der  Urzeit  weiter- 
gesehleppt  hätten?  Ich  wenigstens  vermag  für  diesen  Areupag 
von  Roms  (ilnadcn  einen  numerus  clausus  nicht  als  ausge- 
schlossen zu  'octracliten.  Dann  muß  er  nach  Bedürfnis  ko- 
optiert haben.  Daß  eine  solche  (.)rdnung  bei  Mangel  von 
\'akan/,en  Schwierigkeiten  gegen  eine  höhereu  Ortes  ge- 
wünschte Aufnahme  erheben  lassen  konnte,  ist  leicht 
einzusehen,  ebenso  leicht  aber  auch,  daß  sie  für  einen  Kaiser 
nicht  bestanden.  Aber  Ortsanwesenheit  wird  von  den  Areo- 
pagiten  gefordert  worden  sein;  bei  dem  Archontat,  der  Gym- 
nasiarchie  und  ähnlichen  Amtern  mochte  der  Kaiser  aus  seiner 
Vertretung  eine  Auszeichnung  machen*-''),  der  Areopag  war 
eine  arbeitende  Körperschaft.  Ich  weiß,  das  sind  alles  Mög- 
lichkeiten oder  Fragen,  auf  die  wir  keine  Antwort  aus  unserem 
Materiale  heVauslesen  können,  aber  sie  müssen  erwogen  und 
aufgestellt  werden,  will  man  sich  von  dem  Wesen  und  Ar- 
beiten des  Areopags  ein  wirkliches  Bild  machen,  sich  be- 
freien von  der  unklaren,  verschwommenen  Vorstellung,  die 
sich,  wie  ich  aus  den  anderen  Darstellungen  glaube  entneh- 
men zu  müssen,  für  die  Römerzeit  wenigstens  jetzt  mit  dem 
Worte  Areopag  zu  verbinden  scheint. 

Doch  eine  Frage,  die  ich  noch  nicht  erörtert  habe,  läßt 
eine  bestimmte  Antwort  zu.  Es  ist  die  für  die  staatsrecht- 
liche Stellung  des  Areopags  und  für  das  Verständnis  seines 
Einflusses  in  der  Kommunalregierung  gleich  wichtige  Frage 
war  der  Areopagit  ein  Beamter? 

Über  die  Zeit  der  Demokratie  kann  kein  Zweifel  sein. 
Der  Areopag  war  verfassungsmäßig  von  jeder  politischen  und 
administrativen  Betätigung  ausgeschlossen.  Übte  er  dennoch 
durch  seine  Mitglieder  Gewalt  auf  diesem  Gebiete  aus,  so  ge- 
nügte die  Frage  nach  ihrer  rechtlichen  Begründung,  uns  die 

137)    [DlTTESBEROKR    ZU    SjU.^  872    adll.    ß.j 


71,8]  F^KITRÄfiK   ZUR  Gk.SCHIC'HTF.   uks   Arkopai.8.  93 

Widerrechtlichkeit  seiner  quasiamtlichen  Maßnahmen  darzu- 
tun. Der  Areopagit  war  also  kein  Beamter;  er  konnte  daher, 
ohne  Verstoß  gegen  den  streng  demokratischen  Grundsatz, 
die  jede  Ämterkumulierung  verpönte,  ein  Staatsamt  bekleiden. 
Themistokles  war  493/2  Archon,  trat  in  den  Areopag  ein, 
wurde  aber  für  480  zum  Strategen  gewählt.  Aiisteides,  Ar- 
chon 489/8,  war  479/8  und  mindestens  auch  478/7  (Aristot. 
rp.  Ath.  2^.  3.  4)  Strateg.  Tn  römischer  Zeit  ist  der  Areopag 
politisches  Regierungsorgan,  seine  Mitglieder  hätten  also  nach 
der  demokratischen  Maxime  wie  die  Buleuten  Beamtenqua- 
lität besessen,  so  daß  die  Bekleidung  eines  kommunalpoliti- 
schen Amtes  durch  sie  gesetzwidrig  gewesen  wäre;  denn  die 
Kumulation  zweier  kommunalpolitischer  Amter  war  auch  in 
der  römischen  Zeit  ausgeschlossen.  Soviel  ich  beobachtet 
habe,  läßt  sich  kein  Beispiel  für  die  gleichzeitige  Bekleidung 
zweier  kommunaler  Amter  aus  dieser  Zeit  beibringen;  diese 
empirische  Beobachtung  erhält  dadurch  allgemeine  Bedeutung, 
daß  im  Gegensatz  dazu  die  Kumulierung  eines  kommunal- 
politischen Amtes  mit  einem  und  selbst  mehreren  ßepräsen- 
tationsämtern,  wie  die  Gymnasiarchie,  sehr  häufig  durch  die 
Inschriften  bezeugt  wird.^"^)    Man  müßte  also  erwarten,  auch 

138)  [Die  Liste  obeu  S.  82  läßt  sich  leicht  vermehren.  Besonders 
bezeichnend  ist  IG.  III  1085:  GtQccrriyovvTog  inl  Tohg  önlfiras  rb  oydoov 
Kai  ägj^iegeoig  NsQcoi'Oi  ....  xccl  ini^ieXi]TOv  Tfjg  jrdifwff  öicc  ßlov  v.al 
IsQtag  zJ)]).iov  'Anoz-Xonog  xai  ininf-h]Tov  rfjg  itgäg  ^j'jXov  xai  c:qxis- 
QiO}g  Tov  ol'iiov  Tcbv  Zisßccaräiv  kccI  agiatov  x&r  'EXXi'jvojv  kcu  voiio^t- 
tov  TilisQiov  KXuvSiov  Noviov  i|  Oi'ov.  Die  Prädizierung  kqiotov  r&v 
' EXh]V(ov  ist  mir  nicht  unbekannt  (z.  B.  Dittenberger  Syll.'  871 ;  fehlt  bei 
Gkrlach,  Griech.  Ehreninschriften),  aber  sie  kann  hier  nur  den  Schluß 
der  Lobeserhebungen  bilden.  Es  folgt  aber  v.a)  ro(io&tTOi\  Und  was 
bedeutet  dies  ohne  Epitheton?  Ich  halte  also  dafür,  daß  xai  vor  vouo- 
&£rov  vom  Steinmetzen  stammt,  der  die  ihm  bekannte  Floskel  ccQiarov 
x&v  'EXXtjvoyv  verselbständigte.  Wie  hier  im  Jahre  61,  so  noch  198: 
IG.  HL  10  (=  1077),  12  TOV  inl  TU  OTcXa  örparrjj'oC  Kcd  i7riu&Xr]Tov  ]'i'[f<- 
vaoiccQxi^ag  d'sov  Aöqiuvov  y.al  ocvTäg^ovrog  tov  isocoTccTOv  a[ycofog  tov 
HjavsXXrivlov  Mag.  Avq.  'AXxceutrovg  Aa^rTTQtiog.  Die  l'riesterschaft  des 
DruBUs  ist  sogar  gesetzlich  mit  dem  ersten  Archontat  verbunden  ge- 
wesen (R.  E.  III  2717).] 


94  Bitt'NO  Keil:  I71, 8 

jener  Amtervereinigung  auf  den  Steinen  zu  l)r<^t'oni.'n.  wenn 
ihr  kein  gesetzliches  llindeniiö  im  Woge  gestandon  hätte. 
Die  Inschriften  leinen  aher  weiter,  daß  die  Strategie  von 
Areopagiten  sogar  häutig  ))ekleidet  wurde,  daß  auch  der 
t7TiueXtjT))g  rf^jg  :t6Xfcog.  der  seinem  Namen  nach  doch  ein 
kommunaler  Beamter  gewesen  sein  niulj,  vielleicht  sogar  dei- 
xf/pi'l  ßovXijg  xal  (Tf^iitoi'  Areojtagit  sein  konnte.  Kb  folgt 
also:  die  einzelnen  Areopagiten  der  riimischen  Kaiser/.eit 
hatten  keine  Beamtenqualität  in  dem  Sinne  wie  die  Bnleuten 
der  Demokratie:  wo  sie  eine  Beamtentätigkeit  auszuü])en 
scheinen.  l>leihen  sie  Mandatare  ihrer  Ktirperschaft,  die  ja  ir 
gendein  Nichtmitglied  mit  irgendeiner  Tätigkeit  /u  beauftra- 
iren  stets  das  Recht  gehabt  haben  muß,  da  sie  mit  ihrer 
Autorität  hinter  ihm  stand.  Es  konnte  also  ein  Areopagit 
ein  kommunales  Amt  bekleiden.  Das  würde  bei  unwichti- 
geren Amtern,  wenn  ein  vVreopagit  überhaupt  noch  für  solche 
gewählt  oder  erlost  werden  konnte,  zu  keinen  weiteren  Kon- 
sequenzen für  das  Verhältnis  des  Areopags  zu  den  beiden 
demokratischen  Körperschaften  führen.  P^twas  befremdlich 
muß  dagegen  schon  der  Areoj)agit  als  xijiJi^h,  ßovlt^g  xal  di]- 
uor  anmuten;  vollends  widerspruchsvoll  erscheint  die  Be- 
setzung der  Strategie  mit  einem  Areopagiten.  Zum  Präsi- 
denten der  alten  demokratischen  Kegieruugsorgane  wird  so 
ein  Mitglied  aus  derjenigen  Körpersciiaft  bestellt,  die  in  histo- 
rischem Gegensatz  und  in  verfassungsmäßigem  Antagonismus 
zu  jenen  steht.  Und  dies  geschah  nicht  selten,  sondern  war 
die  Regel,  wie  die  vorgeführten  cursus  bonorum  lehren.  Gewiß 
kann  mau  nicht  von  einem  Gesetze  reden,  denn  es  gibt  einige 
wenitje  Ausnahmen,  wo  also  der  Stratege  nachweislich  noch 
nicht  in  den  Areopag  gelangt  war*^'');  aber  das  timokratische 
Prinzip  brachte  es  mit  sich,  daß  das,  was  nicht  Gesetz  war, 
doch  zu  einer  nur  selten  durchbrochenen  Regel  werden  mußte, 
weil  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  dazu  zwangen.  Der 
Strateg   mußte   ja   aus  derselben    höchsten  Zensitenklasse  ge- 


139)  IG.  III  658:  wohl  auch  653  uud  723. 


71,8]  Bkitkägk  zur  Geschichtk  des  Akeopags.  95 

uommen  werden,  wie  die  ersten  Archoiiteu,  aus  denen  sich 
der  Areo))ag  ergänzte.  Und  so  stark  war  eben  diese  Klasse 
nicht,  daß  sich  für  die  Bestellung  der  jährlich  wechselnden 
Strategen  ein  Zurückgreifen  auf  die  Mitglieder  des  Areopags 
sich  hätte  vermeiden  lassen.  Ich  sprach  oben  (S.  34)  von 
den  beiden  Wegen,  auf  welchen  bei  der  formal  getrennten 
Geschäftsordnung  der  beiden  demokratischen  Körper.schafteu 
und  des  areopagitischen  Rates  ein  praktisches  Zusammen- 
gehen ermöglicht  wurde,  und  deutete  auf  einen  dritten  hin: 
hier  ist  er.  Die  Vereinigung  der  amtlichen  Eigenschaften  des 
Strategen  und  des  Areopagiten  überbrückte  die  reclitliche 
Scheidung,  und  dieser  Weg  wurde  gewiß  am  häufigsten  ge- 
wählt, weil  er  der  kürzeste  und  sicherste  war.  Der  Stratege 
hatte  die  Initiative  völlig  in  der  Hand;  er  konnte  als  solcher 
kraft  seines  Amtes  ohne  weiteres  bei  Rat  und  Volk  bean- 
tragen, was  er  als  Areopagit  mit  beschlossen  hatte.  Es  hieße 
aber  die  realen  Verhältnisse  völlig  verkennen,  wollte  man  die 
Bedeutung  der  I)i)ppelstellung  des  Strategen  auf  die  Behand- 
lung einzelner  Geschäftsfälle  beschränken;  tatsächlich  beein- 
flußte sie  das  gesamte  Verhältnis  zwischen  Rat  uud  Volk 
und  dem  Areopag,  machte  jene  von  diesem  in  weitem  Maße 
abhängig.  Denn  er  hat  ihre  Initiative  in  seiner  Gewalt,  so- 
oft eines  seiner  Mitglieder  die  Strategengewalt  in  Händen 
hatte;  und  dies  führten,  wie  dargelegt,  die  äußeren  Verhält- 
niese mit  einer  an  Gesetzlichkeit  streifenden  Regelmäßigkeit 
herbei.  So  regiert  er  tatsächlich  das  athenische  Gemeinwesen. 
Tatsächlich:  verfassungsrechtlich  dieses  Abhängigkeitsverhältnis 
festzulegen,  haben  die  Römer  selbst  bis  zum  Anschein  ver- 
mieden; ließen  sie  doch  Rat  und  Volk  formal  völlig  gesondert 
und  selbständig  neben  dem  Areopag  bestehen.  So  haben  die 
Römer  in  ihrer  politischen  Geschicklichkeit  auch  hier  ihre 
Maxime  zu  wahren  gewußt,  die  Freiheit  zu  vernichten,  ohne 
die  Form  der  Freiheit  anzutasten. 


QÖ  liiu  N«>   Kkii.:  i7'.3 


Ex  ku  i's. 

i'hiM'  (Ich  ll\|»(»mii('iiiatisiiios.    Dittnibci':;!'!'  10.  202 

[iAyuKi'K,  (^uaest.  o])i>:friipliicao  et  ])ai)vr()logicai;  aol.  (Diss.  StraB- 
burg  1904)  p.  <>f)8q(i.  hiit  heobaclitot,  daß  die  Splciikidfji  in  ihren  of- 
fiziellen Schreiben  stets  im  Plunil  von  sich  sprechen;  der  itu  Anfang;».' 
des  Schriftstückes  sicli  lindcnde  Sinif.  ^01  erregte  den  Verdacht  der 
Fälsehun;,',  lien  L.vvrr.i  it  dureh  den  Aufweis  weiterer  Anstöße  /um  Ver- 
damumnysurteil  verdichten  /.u  küunen  j>laubto.  Ich  glaube,  der  über- 
wiegende Teil  seiner  Anstöße  erledigt  sich  von  selbst,  sowie  man  be- 
achtet, daß  wir  es  hier  mit  einem  Ifypomnematismos  zu  tun  haben,  es 
also  unberechtigt  ist,  an  dieses  protokollarische  Dokument  den  Maß- 
stab der  oftiziellen  Schreiben  zu  legen,  die  sich  doch  nicht  anders  als 
die  Psephismen  von  jener  Dokumentengattung  unterschieden.  So  findet 
hier  der  einfache  Sing,  fto/  an  Stelle  des  feierlichen  rj(irv  der  königlichen 
Rundsehreiben  ungezwungene  Erklitrung.  Ein  weiteres  Beispiel  des 
Singular,  vollends  in  der  Verbindung  '^do^i  fiot  6  -KaTaKexoiQKi^^vo^ 
v7toitrf]fiaTi6u6g,  enthält  das  Schriftstück  nicht;  LAyrEius  diesbezüg- 
liche Angaben  (p.  102.  103;  müssen  auf  gedächtnismiißigor  Umgestal- 
tung von  2  ^do&T}  ö  -iiaTaxBx-  i't.  beruhen.  Unter  jener  falschen  Vor- 
aussetzung mußte  natürlich  auch  die  Zeitbestimmung  in  den  Worten 
9  6vv  Tots  tov  ivtanoTog  hovg  ysri'jaaaiv  Befremden  erregen,  zumal  ihr 
Laqiiel'r  aus  DriTKNBKiuiKK  10.  225,  5  6VV  tccTg  TOV  ivurov  y.<xi  mpTti- 
xoffrov  hovg  TrQoaödois  als  echt  entgegenhalten  konnte.  Aber  das 
Protokoll  trug  ja  in  den  Akten  selbst  ein  Datum;  die  kurze  Datierung 
mit  'd.  .T.'  ist  also  bei  weitem  erklärlicher  und  eine  viel  ungefährlichere 
Protokollierung.sbequemlicl.keit  als  das  Auslassen  der  Eigennamen  in 
dem  athenischen  Hypomnematismos.  Nicht  anders  steht  es  im  Prinzipe 
mit  der  Wendung  olg  si'&iGTui  in  dem  Schlußsatze  ös^aet  ovv  yQuq)))- 
vai  olg  iid'iorai  i'va  yivr]rLxi  u'KolovQ'Oig  rolg  Sr]).ovyi,ivoig.  Laqcklk 
verlangte  nach  der  Kanzleisprache  des  Ptolemilerreiches  olg  ■Ku9rjY.ii. 
Wir  haben  jedoch  kein  Recht,  sie  als  Norm  für  die  des  Seleukideu- 
reiches  in. Anspruch  zu  nehmen,  die  wir  in  Wahrheit  nicht  kennen. 
Weshalb  soll  hier  jene  Wendung  nicht  besonders  beliebt  gewesen  sein 
imd  die  Grenzen  des  Verwendungsgebietes,  das  xaö/Jxfi  in  Ägypten 
hatte,  überschritten  haben?  Schon  Z.  12  steht  (oTCo^g  rj  .  .  .  nQoaodog  .  . 
(iva/.t(Jx;]r«j  .  .  .;  öig  it^icrai.:  'damit  die  Einnahme  .  .  ihre  übliche  Ver- 
wendung finde".    Aber  olg  xa&r',x£i  wäre  schärfer.    Gewiß;  aber  die  un- 


71,  8]  Bkiträgk  zur  Gkschichtk  de.s  Akeopags.  97 

bestreitbare  Trefflichkeit  des  ägyptischen  ürkundeuwesens  hätten  wir 
auch  dann  kein  Recht  auf  das  Seleukidische  zu  übertragen,  wenn  wir 
es  hier  mit  einer  stilgerecht  ausgefertigten  Urkunde  und  nicht  mit 
einem  Protokoll  zu  tun  hätten.  In  einem  solchen  scheint  mir  ois  xa- 
^jjxft  völlig  genügend.  Auch  heutigen  Tages  wäre  die  ProtokoUfas- 
Bung:  'es  wird  hiernach  an  die  üblichen  Stellen  zu  entsprechender 
weiterer  Veranlassung  zu  schreiten  sein'  durchaus  unbeanstandbar. 
Die  'üblichen'  Stellen  kennt  das  Bureau  und  fertigt  danach  die  Be- 
nachrichtigungen aus;  jene  fassen  dann  in  ihren  Verordnungen  auch 
das  protokollarische  rov  ivsßrtaTog  hovg  in  zahlenmäßige  Angabe  um. 
Schließlich  ist  die  Ausdehnung  der  Privilegien  5  tlg  unavta  töv  xqÖ- 
vov  zur  Verdächtigung  benutzt,  weil  die  gleiche  Wendung  sich  häutig 
in  den  von  den  Juden  gefälschten  königlichen  Schreiben  des  i.  Jahrh. 
V.  Chr.  fände.  Allein  Privilegierung  aller  Art,  namentlich  auf  religiösem 
Gebiete  (z.  B.  in  Asyliedekreten),  findet  fast  ausnahmslos  'für  ewige 
Zeit'  statt;  Belege  gibt  Dittenukrgek,  Syll.  III  p.  4  37  (XQ^vog),  so  daß 
die  Juden  durch  Weglaseung  jener  Dauerbestimmung  gerade  den  Ver- 
dacht der  Fälschung  erregt  hätten.  Zufällig  bietet  gleich  das  Schrei- 
ben Antiochos  VIII.  Dittenbkugek  10.  257,  14  iKQiva^sv  si]g  tbv  unav- 
ta  xqÖvov  iXEv9^Qovg  nvai.  So  bleibt  noch  das  eine  sachliche  Bedenken, 
welches  Laqitf.ur  aus  Haussoullikrs  (Iiltudes  sur  l'histoire  de  Milet  et 
du  Didymeion  S.  94  ff.)  Vermutung  —  nur  als  das  gibt  er  selbst  sie  — 
herleitet,  daß  Apameia  der  Hauptort  nicht  einer  nach  ihm  benannten 
Satrapie,  sondern  einer  vnaQxia,  des  Regierungsbezirks  einer  Satrapie, 
sei;  in  dem  Dokument  heißt  es  aber  ivtovQymva  (so  Lucas)  tjJs  Trspt 
'Aitäai&v  aarQKitiiag.  Das  hypothetische  Fundament  der  Beanstandung 
liegt  auf  der  Hand;  man  wird  mit  der  Stelle  überhaupt  nur  ungern 
argumentieren,  solange  das  die  Ortsbestimmung  regierende  tvzovQycovci 
rätselhaft  bleibt.  Aber  wo  ist  die  Gewähr  dafür,  daß  die  Provinzial- 
einteilung  des  Seleukideureiches  stets  die  gleiche  war?  Regierungs- 
bezirke können  in  Provinzen  verwandelt  werden  und  umgekehrt,  wenn 
es  die  Verwaltung  durch  Wandel  der  Verhältnisse  erfordert.  Zwischen 
der  Zeit,  der  Haussoulliers  Belege  angehören,  und  der  des  Hypomne- 
matismos  werden  fast  anderthalb  Jahrhunderte  liegen.  Denn  jene  sind 
aus  der  Zeit  Antiochos  II.  (281/0 — 261/0),  für  diesen  wird  man  v.  Wila- 
MowiTz'  Datierung  (bei  Lucas  S.  21,  4)  auf  die  2.  Hälfte  des  2.  Jahrh. 
V.  Chr.  ohne  weiteres  zustimmen.  Die  Schicksale  des  Seleukideureiches 
nach  außen  wie  im  Innern  während  dieser  langen  Zwischenzeit  würden 
Veränderungen  in  der  Reicheorganisation  wahrlich  begreiflich  erschei- 
nen machen,  wenn  wir  auf  solche  Erwägung  angewiesen  wären.  Aber 
genaue  Interpretation  der  Strabostelle  (749.  750),  auf  die  sich  Haus- 
souLLiER  stützte,  läßt  den  Spieß  geradezu  umdrehen.  Strabo  zerlegt  zu- 
nächst das  gesamte   syrische  Gebiet  nach  rein  geographisch-ethnogra- 

Phil.-hiat.  Klasse  1919.    Bd.  LXXI.  8.  7 


k 


gS  BuiN«)  Kkil:  [7',  8 

pbischem  (iesichtspunkte  in  eine  Reibe  von  fif^n'Jti",  deren  eine  die 
^slsvxig  ist.  IJei  der  Beschreibung  der  einzelneu  Landschalton  heißt 
es:  xa?.fiTai  de  TfTQänoltg  ^al  t'tfn,  denn  in  ihr  liegen  die  vier  größten 
StSdte  Antiorhoia,  Seleukeia,  Ajjameia,  Lao<likeia.  Das  gilt  für  seine, 
Strabos,  Zeit.  I>ann  heißt  es  weiter:  oixticog  di  rjj  rsrt'ajro^tt  x«i  e/g 
auTQundiii:  äi>'jQj]To  TtTraQag  r;  Z!fXevxig,  üc  (pr]Ot  Hoandtovios  d.  i.  ent- 
sprechend der  Vierzahl  der  Städte  M-ar  die  Seleukis  zur  Zeil  dos 
Poseidonios  in  vier  .Satrapien  eingeteilt.  Einen  siehereren  Zeugen  als 
Toseidonios  konnte  es  für  die  Organisation  der  Seleukis  und  die  Exi- 
stenz Tfjs  nfQt  li-:T<i:uiuv  öKTganfia^  in  der  2.  Hälfte  des  2.  Jahrb.  v.  Chr. 
nicht  geben;  seine  Geburt  fällt  genau  in  diese  Zeit  und  seine  Vater- 
stadt war  gerade  dies  Apameia.  Also  Poseidonios  bestätigt  die  histo- 
rische Richtigkeit  der  Angabe  tles  Hypomnematismos.  Ich  kann  mithin 
den  Beweis  der  Fälschung,  so  begreiflich  eine  solche  auch  von  eeiten 
der  (Gemeinde  in  ihrem  Interesse  —  nach  ihrer  Angabe  natürlich  in 
maiorem  dei  gloriam  —  auch  erscheinen  mag,  nicht  für  erbracht  hal- 
ten, glaube  vielmehr  in  gewissen  Erscheinungen  positive  Anzeichen  für 
seine  Echtheit  zu  erkennen.  Im  3r()oöfi'i;j'9'{;rTO?  im  Eingang  und 
14  uT]6euucg  d-.Topp/jfffojs'  TtQuasvtx^sici^g  ('wenn  keine  widerrufende  Ver- 
ordnung beigebracht  wird',  nämlich  durch  die  Quartiermacher)  begeg- 
net ein  gerade  in  der  Seleukidenkanzlei  beliebtes  Wort,  das  nicht  in 
dem  in  der  Koine  so  verbreiteten  Sinne  von  'sich  betragen'  gebraucht 
wird,  sondern  von  der  Grundbedeutung  'heranbringen'  aus  verschie- 
dene Bedeutangsnuancen  annimmt;  die  Stellen,  an  welchen  es  'hinzu- 
fügen' heißt,  hat  Ditienberger  10.  S.  701  u.  d.  W.  verzeichnet  (vgl. 
auch  n.  221  Anm.  4'.  In  unserem  Dokument  bedeutet  es  in  Z.  4  'ein- 
geben' und  14  'beibringen'.  Es  gibt  m.  W.  keine  Kanzlei,  in  der  dies 
Wort  so  oft  und  in  so  besonderer  Bedeutung  gebraucht  wird.  Denn 
wenn  es  in  dem  Schreiben  des  Lysimachos  (Dittenberokr  10.  13,  19) 
in  dem  ersteren  Sinne  steht,  so  ist  das  natürlich  keine  wirkliche 
Ausnahme.  Ohne  viel  Gewicht  darauf  zu  legen,  will  ich  noch  auf 
8  jtsQioQißuovg  hinweisen;  das  steht  auch  in  der  bekannten  Schen- 
kungsurkunde für  Laodike,  Ditten-bergek  10.  225,  31,  die  zugleich 
das  Verb  TTsgiogi^itv  (30.  39)  bietet;  sie  ist  von  Antiochos  IL,  also 
um  250  ausgestellt.  Das  Substantiv  urkundlich  sonst  nur  aus  dem 
Jahre  138  oder  133  v.  Chr.  in  einem  Schiedsspruch  der  Magneten 
(1.  V.  Magn.  105,  28.  36  ==  Dittenberger,  Syll.^  685,  57,  66),  literarisch 
seit  Dien.  Hai.  Die  Simplicia  sind  durchaus  das  Regelmäßige  in  der 
Torchristlichen  Zeit;  für  das  Verb  habe  ich  Herrn.  1908  XLIII  547,  i 
zu  CIG.  3776,  9  Belege  nur  aus  ganz  später  Zeit  geben  können. 
Darum  charakterisiert  das  Kompositum  TttgioQiafiög  den  Stil  der  Ur- 
kunde. Beweisender  ist  folgendes.  Sprachlich  fällt  in  den  beiden 
Stücken  aus  der  königlichen  Kanzlei   vielleicht   am  meisten  die  starke 


71,«]  BeitkÄgk  zun  Geschichte  des  Areoi'acs.  99 

Verwendung  passivischer  Ausclrucksweise  auf:  iSod'ri  6  —  i'^o^pruiK- 
Tiefiög,  risSriXcorai,  äst..  evvTsXead-fivcd  in  den  2*/^  Zeilen  des  Königs- 
briefes. Dann  im  Hypomnematismos:  nQoGuvsx^fVTOs,  ixp/^r;  ovyX(>^9^- 
^f/vcii,  ccnoQQ^ascos  7tQoacV8y9'£i0i]g,  TtQoyfyQa^t^i^vmv,  &vciyQa(pf)i><xi  .  .  re- 
&fjvut  re,  dii'jdsi , . .  yQcccpfivai,   rotg   dr}lov^svoi,s-    In   den  Briefen  Autio- 

chOS   I.,    DiTTENUERGEK  10.   221,    54 56    iTtlXSXiOQfjOd'Cit.    ...    7lC<QUÖtLX^flVCCl. 

.  .  .  GvyxaQr,9'fjvai  hintereinander,  wo  sogleich  ein  7fQ06tviy/.aa9ai,  folgt, 
nnd  224  yQucp^vTsg,  c:7iods6sixd'cii,  ^ataviexMQiGTcii,  tnsGTaluti'Ovg,  ava- 
yQUffivru,  &vaTE&fji  in  9  kurzen  Zeilen,  auf  denen  sonst  nur  je  zwei 
Aktiva  (Ssiv,  evvzilsi)  und  Media  {oistai,  ngovoi^d-riTi)  gebraucht  sind. 
In  dem  angeschlossenen  Erlaß  32 — 37  avvTaXsiod'co,  Ttgoyfyoix^uEvoig, 
ScvuyQucpbvta,  &vcits9'T]Tco,  ocvayQcccpsi'ta  [driX]w[r]<xi.  Um  den  Hinter- 
grund für  diese  von  der  altgriechischen  aktiven  abweichende  Ausdrucks- 
weise  empfinden  zu  lassen,  führe  ich  die  Mischwendung  244,  41  ava- 
yQixqn']vai . .  .  y.al  avcc^^£tval  an.  Im  allgemeinen  neigt  ja  die  Koine 
überhaupt  dem  passiven  Ausdrucke  mehr  zu;  es  handelt  sich  hier  um 
den  Grad  der  Erscheinung,  und  der  entspricht  in  den  inkriminierten  Ur- 
kunden durchaus  dem  der  seleukidischeu  Amtssprache.  Die  Urkunde 
erhält  durch  diese  Form  etwas  Unpersönliches;  das  einzig  persönliche 
Element  in  ihr  ist  jenes  fioi,  von  dem  ich  ausging;  die  Instanz,  an  die 
der  Bericht  ergangen  war,  mußte  genannt  werden;  sie  konnte  natür- 
lich eine  verschiedene  sein,  z.  B.  der  Satrap;  hier  war  sie  dieselbe 
Person,  die  ihr  placet,  in  welcher  Form  auch  immer,  zur  Beglaubigung 
unter  das  Protokoll  zu  setzen  hatte,  der  König.  Da  war  das  persön- 
liche uoi  anstatt  des  objektiven  reo  ßaetXsl  selbstverständlich  gegeben. 
Hat  dieser  Hypomnematismos  nun  als  echt  behandelt  zu  werden,  so  ist 
er  das  älteste  Beispiel  dieser  Dokumentengattung  und  verdient  beson- 
tlere  Beachtung,  weil  er  die  späteren  Formen  schon  vorgebildet  zeigt, 
nnd  auch  den  späteren  Namen  gibt,  den  die  Papyri  bisher  erst  für 
die  römische  Zeit  belegt  haben.  Man  darf  ihn  hiernach  auch  für  das 
ptolemäische  Ägypten  voraussetzen;  denn  daß  die  Römer  einen  syri- 
schen Terminus  in  Ägypten  einführten,  ist  ganz  unwahrscheinlich,  und 
ebenso  unwahrscheinlich  ist  es,  daß  in  der  syrischen  Kanzlei  eine  Do- 
kumentenform in  Anwendung  gekommen  sei,  die  der  ägyptischen  fremd 
war.  Denn  das  Beurkundungswesen  der  ptolemäischen  Verwaltung  ist 
zweifellos  das  durchgebildetste  der  hellenistischen  Monarchien  gewesen; 
wenn  eine  Entlehnung  stattgefunden  hat,  so  jedenfalls  von  selten 
Syriens.  Es  ist  ja  aber  nicht  nötig,  an  eine  Entlehnung  zu  denken. 
WiLCKENS  Annahme,  daß  der  Hypomnematismos  aus  den  Ephemeriden 
Alexanders  entwickelt  ist,  hat  in  diesem  echten  seleukidisehen  Doku- 
ment eine  starke  Stütze.  Es  zeigt  die  gleiche  Art  bequemen  Kurz- 
ausdruckes im  Tenor  des  Protokolls  und  im  Eingang  die  gleiche  stili- 
stische Eigentümlichkeit  wie  der  athenische  Hypomnematismos,  und  von 


loo    Brit^o  Kku,:  Hkituack  /.i;h  (ikschichte  dks  AuKorAtJs.    [7',!^ 

römischem  Einfluß  auf  dnn  Hi'ltnikidisoho  l  rkuiidenweson  im  2.  .Talirh. 
V.  Chr.  wird  man  nicht  reden  wollen.  Zu  l)eaehten  ist,  »laß  das  Akten- 
stück oin  köni^rlirher  Hypomncniatisnios  ist;  no  wind  Amtstagehücher 
des  Königs  für  Ä^^'ypten  bekannt,  bis  jet/t  wenifj^stonH  keine  der  Be- 
amten (Wii.cKKN,  Grundzüge  I  1,  34);  diese  Übereinstimmung  int  viel- 
leicht kein  Zufall,  sondern  könnte  sich  ei>enso  durch  di<^  Morleitung 
dieser  Urktindenform  aus  einem  Keservatrecht  des  Kimigs  im  makedo- 
nischen Urkundcnweson  erkliiren  wie  überhauiit  die  Existenz  dieser 
ürkundenart  in  mehreren  Diadochenreichen,  so  daß  an  eine  Entleh- 
nung 7.U  denken  kein  Cirund  vorliegt. 


Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Leipzig 

Philologiscli-historisclie  Klasse 

71.  Band.    1919.    9.  Heft 


Justus  Hermann  Lipsius 

Lysias  Rede  gegen  Hippotherses 
und  das  attische  Metoikenrecht 


Leipzig 

Bei  B.  G.  Teubner 

1920 


Vorgetragen  lür  die  Berichte  aiu  6.  Dezember  1919. 

Das  Manuskript  eingeliefert  am   12.  Januar  1920. 

Drucbfertig  erklärt  am   10.  Fobruar  1020. 


I 

Der  dreizelinte  Band  der  Oxyrhynehus-Papyri  hat  neben 
andern  wertvollen  Gaben  Bruchstücke  neuer  Reden  von  Ly- 
sias  gebracht.  Leider  ist  die  Rolle  sehr  zerstört,  in  mehr  als 
anderthalbhuudert  Fragmente  aufgelöst,  deren  größter  Teil 
zu  wenig  umfangreich  ist,  sehr  oft  nur  von  wenigen  Zeilen- 
teilon  oder  Buchstaben,  um  irgend  etwas  auszugeben.  Nur 
von  zwei  der  mindestens  fünf  Reden,  die  die  RoUe  enthalten 
hat,  gelingt  es  nähere  Kenntnis  zu  gewinnen,  von  der  schon 
aus  zwei  Anführungen  bekannten  Rede  gegen  Hippotherses 
und  von  einer  neuen  Rede  gegen  Theomnestos.  Von  der 
ersten  hat  das  eine  zusammenhängende  Stück  von  fünf  ziem- 
lich vollständigen  Kolumnen  die  dem  Abschluß  der  Beweis- 
führung dienende  Charakteristik  der  beiden  Gegner  und  den 
Epilog,  von  der  anderen  den  Eingang,  die  Erzählung  und 
den  ersten  Teil  der  dilemmatischen  Beweisführung  bewahrt. 
So  erhalten  wir  bei  dieser  Rede  durch  den  Spi'echer  über 
den  Gegenstand  des  Rechtsstreits  volle  Auskunft;  er  klagt 
gegen  Theomnestos  auf  Rückgabe  eines  nach  seiner  Behaup- 
tung diesem  ohne  Zeugen  gegebenen  Darlehns,  also  ein 
Gegenstück  zu  Lysias'  Verteidigungsrede  für  Euthyuus  gegen 
den  ''AadgrvQos  des  Isokrates.  Aber  auch  über  den  der  Rede 
gegen  Hippotherses  zugrunde  liegenden  Rechtsfall,  über  den 
der  Herausgeber  Grenfell  mehrfach  in  die  Irre  gegangen 
ist,  gelingt  es  mit  Hilfe  der  zugehörigen  Fragmente  i — 5  zur 
Klarheit  zu  gelangen.  Von  einer  dritten  Rede  sind  in  der 
ersten  Kolumne  von  Fr.  10  die  Schlußzeilen  bewahrt,  nach 
denen  der  Sprecher  die  Teilnehraerschaft  an  einem  Handels- 
geschäft seines  Gegners  bestreitet,  sowie  der  Schluß  der  sub- 
scriptio,  den  Grenfell  Tcgog]  •  yXiov^  liest,  aber  auch  andere 
Lesungen  für  möglich  erklärt,  von  denen  indessen  keine  die 
Rede  mit  einer  schon  bekannten  zu  identifizieren  gestattet. 
Auf  der  zweiten  Kolumne  des  Stückes  sind  von  dem  Eingang 
einer  vierten  Rede  nur  wenige  Zeilenanfänge  von  2 — 3  Buch- 
staben erhalten.  Außerdem  erkennt  der  Herausgeber  in  den 
Stückchen   19 — 22  Reste  von  Redentiteln,   sicher    mit  Recht 


2  JisTUH  Hermann  Lipsiit.s:  [7>.9 

bei  (leu  beiden   ersteu,   von    denen    aber    19    ]  top  nicht  xara 
SeoutnjiiTov  ergiinzl    werden  darf,  da  die  Rede  TtQog  ®b6ilvi] 
öxov    war.    Zur    subscriptio    der    dritten    Rede    gehörte    wolil 
20   TlQOg   [ . 

Besonderes  Interesse  nimmt  die  Rede  gegen  Ilippothersos 
in  Anspruch,  einmal  weil  sie  von  Lysias  in  eigener  Sache 
geschrieben  war  und  unsere  Kenntnis  seiner  persönlichen  Ge- 
schicke in  willkommener  Weise  ergänzt,  mehr  noch  aber  weil 
sie  eine  vielerörterte  Streitfrage  des  attischen  Metoikenrechts 
zu  sicherer  Entscheidung  bringt.  Aus  ihr  entnahm  vielleicht 
schon  die  Quelle  von  Pseudoplutarchs  Biographie  die  bisher 
auf  die  Rede  tceql  xCov  löCcov  evEQyeöicbv  zurückgeführten 
Angaben  über  die  Unterstützungen,  die  Lysias  dem  Unter- 
nehmen der  Demokraten  unter  Thrasybul  zuteil  ^verden  ließ^j. 
Daß  er  aber  auch  in  Person  sich  an  ihm  beteiligte,  was 
aus  den  Worten  der  Rede  gegen  Eratosthenes  53  inndi]  elg 
rbv  neiQaLci  i'jld^oiiei'  sich  nicht  mit  Sicherheit  folgern  ließ, 
erfahren  wir  aus  Fr.  i,  nach  dem  er  schon  damals  den  An- 
spruch auf  Rückgabe  seines  von  den  Dreißig  eingezogenen 
Vermögens  geltend  machte.^)  Aber  noch  nach  Jahren  war  er 
nicht  in  seinen  Wiederl^esitz  gelangt,  wie  die  Klage  in  dem 
gleichen  Fragment  beweist:  vvvl  de  i^stdi]  ^ksl  ovSs  rijv  xl- 
^Yjv  aTtodovg  toig  S03in]aBvoLs  tä  iavrov  dvvarat  xo^uc^söd'ai. 
Denn  daß  die  Rede  nicht  schon  unter  dem  Archontat  des 
Eukleides,  sondern  nicht  vor  dem  Jahre  394  geschrieben  sein 
kann,  geht  mit  voller  Evidenz  aus  den  mit  Sicherheit  er- 
gänzten Zeilen  Fr.  6  II  27   hervor:  fi[eio]v  vvin    cpQovel  xäv 

1)  Fr.  6  U  i.  A.  schreibt  Gkenfell  hnsiGev  avzov  8vo  xüXavxa 
nuQuaxslv  tbXri  (Pap.  tsItji)  und  übersetzt  provide  in  laxes,  sachlich 
wie  sprachlich  gleich  bedenklich.  Lysias  schrieb  ScxbItj,  lastenfrei,  also 
unverzinslich. 

2)  Fr.  I,  10  liest  mau  bei  Gkenfell  vor  den  oben  ausgeschriebenen 
Worten  xkI  tag  n,]hv  iv  Usigaisl  9>^f[T0  i)^i]ov  KarFXQ-cbv  &n[ocp^Q]saQixi. 
Für  letzteres  besser  ccvaKoiii^sa&ai.  Unmöglich  aber  ist  für  den  von 
jeher  im  Peiraieus  seßhaften  Lysias  der  vorausgehende  Ausdruck,  also 
öit£i  notwendig,  dessen  Sinn  sich  durch  den  Zusammenhang  näher 
bestimmt. 


71,9]  Lysias' Rede  gegen  Hippothekses  usw.  3 

t[€lxöjv  c}xo]do(it]uevav  [r]  töi/]  t6t€  xad^iiQr]^bvav.  Daß  seit 
dem  Vertrage  von  403  schon  längere  Zeit  verstrichen  ist,  da- 
für spricht  auch,  daß  kurz  zuvor  von  Lysias  gerühmt  wird, 
er  sei  nach  seiner  Rückkehr  keinem  Bürger  durch  Geltend- 
machung der  eigenen  Verdienste  oder  Vorwürfe  über  fremdes 
Verschulden  lästig  gefallen.  Und  wenn  zweimal  hervorge- 
hoben  wird,  er  habe  für  seine  Verdienste  um  die  Herstellung 
der  Demokratie  vom  Volke  keinen  Dank  und  Lohn  geerntet, 
so  war  diese  Klage  besonders  wirksam,  wenn  der  Sprecher 
nicht  bloß  die  Annullierung  von  Thrasybuls  Psephisma  über 
Erteilung  des  Bürgerrechts  au  alle  xarsld^ovreg  ix  IleLQaLecog, 
sondern  auch  die  zwei  Jahre  später  erfolgte  Aufnahme  der 
Metoiken,  die  schon  bei  Phyle  mitgekämpft,  in  die  Bürger- 
schaft vor  Augen  hatte  ^).  Was  nach  der  Rückkehr  der  Ver- 
bannten über  ihre  Ansprüche  auf  die  von  den  Dreißig  ein- 
gezogenen Vermögen  in  dem  von  den  Parteien  geschlossenen 
Vertrage  festgesetzt  war^),  lernen  wir  aus  Fr.  2:  was  von 
ihnen  verkauft  war,  sollte  den  Käufern  verbleiben,  was  noch 
nicht  verkauft  war,  den  früheren  Besitzern  zurückgegeben 
werden.  Dabei  aber  war  für  den  Grundbesitz  eine  Sonder- 
bestimmung getroffen,  deren  Inhalt  sich  leider  wegen  des 
Abbrechens  des  Fragments  nicht  mit  Sicherheit  erkennen  läßt: 
ovrog  ovre  yrjv  ovr  olxCav  xs'/urjfievog  a  xcd  al  övvd-fjyMV 
tolg  xccrs?^d-ovöiv  ujtsdiÖoöccv,  [sa]v  ds  av  8\y\  cctioöüöl  — 
darauf  nur  noch  eine  Zeile  mit  wenigen  zum  Teil  unsicheren 
Buchstaben  in  der  zweiten  Hälfte.  Es  kann  nicht  zweifelhaft 
sein,  daß  der  Fehler  in  den  letzten  Worten  sich  nicht  nur  auf 
eine  Dittographie  beschränkt.^)  Geenfell  vermutet  av  av 
8e  uij  uTCodäöi^   ohne   daß    man   erkennt,  wie  er  die  Periode 

1)  I.  G.  II*  n.  10  mit  A.  Körte,  Atben.  Mitt.  XXV  S.  397. 

2)  Nichts  darüber  hatte  das  von  Pausanias  vermittelte  Abkommen 
zwischen  den  Parteien  enthalten.  Denn  die  Bestimmung  ccnUvai  ini 
xä  iccvTüv  iAocGtov  schloß  durchaus  nicht,  wie  man  geglaubt  hat,  die 
Wiedereinsetzung  der  Verbannten  in  den  Besitz  ihrer  Güter  ein. 

3)  Stärker  verderbt  ist  der  Text  auch  Fr.  6  I  1 2,  wo  die  Einsetzung 
von  KQiöiv  in  keiner  Weise  genügt.  Ebenda  II  34  ist  slta  T[oi.ovrog] 
(Gkenvkll  teXsos)  wv  TToiiTTji?  ZU  ergänzen. 


4  JusTi's  Hkumann  Lii'siis:  [71,0 

forl^ Steffi hrt  denkt,  um  einen  passenden  Gedanken  /u  erj^oljon. 
^^'as  man  erwartet,  ist  die  Festsetzunjjj  einer  liedinjjjun«,',  unter 
der,  wenn  es  sich  um  Grundbesitz  handelte,  dem  iVülu'ren 
Eigentümer  entgegen  der  allgemeiueu  Heijjel  das  Itecht  auf 
liückforderung  eingeräumt  war.  und  da  legen  die  oben  aus 
Fr.  I  angeführten  Worte  den  üechinken  nahe,  daß  dies  Kocht 
ihnen  dann  zustand,  wenn  sie  den  Kaufpreis  erstatteten,  also 
etwa  füv  yf  (h'xuzodioai  \ri)v  Tifirjv.  Als  Grund  dafür,  daß 
Lysias  nicht  hat  zu  seinem  Eigentum  wieder  gelangen  können, 
wird  ein  Uechtsstreit  angegeben,  den  I\'iy.6oT Qarog  ^txä  S'f- 
i'ox[Af'oi'cj?]  tov  ncoXr'jcSuvtog  führt,  man  denkt,  da  in  der 
nächsten  lückcmhafteu  Zeile  die  Zeichen  ccöTit  erkennbar  sind, 
über  die  Schiidfabrik,  Lysias'  früheren  Haui)tbesitz.  Je  öfter 
es  vorkommen  konnte,  daß  ein  konfisziertes  Gut  nicht  in  der 
Hand  des  ersten  Käufers  verblieben  war,  um  so  mehr  mußten 
solche  Besitzstreitigkeiten  sich  in  die  Länge  ziehen. 

Um  einen  Besitzstreit  handelt  es  sich  auch  in  der  Hede 
gegen  Hippotherses:  rig  sörat  tovxov  ävd-QiÖTCojv  8v6TviiOTi- 
pog,  heißt  es  im  Epilog,  f^  xä  [lav  avxol  hjtpovxai  xä  d'  vfistg  öcoösxs. 
Aber  Lysias  ist  nicht  der  Kläger,  sondern  der  Beklagte:  (pivyei  t^v 
di)iy]v  Fr.  6  II  10,  ösonai  v^iäv  ccKo^priCplöaöQ-ai  Avöiov  III  4.  Über 
den  Gegenstand  der  Klage  werden  wir  nur  durch  den  Zusatz 
im  Titel  der  Rede  vnsQ  ^■SQaxaCvrig  unterrichtet.  Grenfkll 
verstand  ihn  in  dem  bei  Verteidigungsreden  gewöhnlichen 
Sinne  von  imtQ  und  gründete  darauf  die  Vorstellung,  die 
^SQC(7raiva  sei  die  Agentin  des  Lysias  und  habe  in  dessen 
Auftrag  auf  Hippotherses'  Weigerung,  den  Grundbesitz  des 
Redners  herauszugeben,  Schritte  gegen  ihn  getan,  die  zu  einer 
öCyiri  eiovlrig  führten.  Es  ist  nicht  nötig  darzulegen,  wie 
diese  Vorstellung  mit  der  Stellung  der  Frau  und  insbesondere 
der  Sklavin  (denn  das  ist  \tfQd7Ccava  bei  den  Rednern  und 
in  der  Komödie)  im  attischen  Recht  ganz  unvereinbar  ist. 
Vielmehr  kann  vtiIq  Q-£Qa7iuivt]g  nur  in  dem  Sinne  verstan- 
den sein,  in  dem  es  in  der  späteren  Atthis  sich  von  ttsqC 
kaum  noch  unterscheidet.  Inwieweit  freilich  der  einzelnen 
Sklavin  ein  besonderer  Wert  zukam,  der  es  veranlaßte,  ihren 


7>,9]  Lysias' Eede  gegen  Hippotherses  usw.  5 

Besitz  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Klage  zu  machen,  das 
entzieht  sich  unserer  Kenntnis,  da  Erzählunj;  und  Beweisführung 
der  Rede  bis  auf  wenige  Bruchstücke  verloren  gegangen  sind. 
Von  Bedeutung  aber  ist  es,  was  schon  bisher  ersichtlich 
geworden  ist,  daß  von  Lysias  in  der  Rede  immer  nur  in  der 
dritten  Person  gesprochen  wird,  sei  es,  daß  er  mit  Namen  ge- 
nannt oder  mit  ovtog  bezeichnet  wird,  das  wenn  nicht  das 
Vorausgehende  eine  andere  Beziehung  ergibt,  überall  ihn 
meint \).  Wenn  also  Lysias  seine  Verteidigung  nicht  selbst 
führt,  so  kann  dies  seinen  Grund  nur  darin  haben,  daß  er 
dazu  nicht  in  der  Lage  war,  und  dies  wieder  nur  darin,  daß 
er  als  Metoik  seine  Vertretung  einem  ngoörccxr^^  zu  überlassen 
hatte.  Denn  daran  wird  niemand  denken  können,  daß  die 
Rede,  die  allem  Anschein  nach  die  Klagbeantwortung  in  vollem 
Umfange  enthalten  hat,  von  einem  övviqyoQoq  gehalten  worden 
sei,  nachdem  er  selbst  seine  Verteidigung  geführt  hatte.  Und 
keine  Instanz  gegen  die  gezogene  Folgerung  ist  seinem  per- 
sönlichen Auftreten  gegen  Eratosthenes  bei  dessen  Rechen- 
schaftsableorung  zu  entnehmen:  denn  dies  findet  in  dem  Außer- 
ordentlichen  des  Verfahrens  seine  aasreichende  Erklärung^). 
Mit  dem  o^ewon neuen  Ergebnis  ist  nun  aber  auch  dem  be- 
kannten  Satze  von  v.  Wilamowitz  das  endgültige  Urteil  ge- 
sprochen, die  Tätigkeit  des  jiQOGtdrrjg  habe  schon  im  Beginn 
des  vierten  Jahrhunderts  sich  darauf  beschränkt,  die  Auf- 
nahme des  Nichtbürgers  unter  die  Metoiken  durch  Übernahme 
der  Bürgschaft  für  ihn  gegenüber  dem  Demos  za  vermitteln. 
Daß  mit  diesem  Satze  bekannte  Stellen  des  Isokrates  und 
Aristoteles  schwer  in  Einklang  zu  bringen  sind,  darauf  habe 
ich  schon   früher  hinzuweisen  gehabt.    Mit   ihm   zugleich  ist 


i)  Besonders  deutlich  Fr.  6  I  17,  wo  oiiros  und  'InTCoQ'BQCTig  ein- 
ander gegenübergestellt  sind.  Auch  Fr.  2  I  16  macht  der  Gedanke  die 
Beziehung  auf  Lysias  erforderlich. 

2)  Abenteuerlich  ist  der  von  Clerc,  Les  meteques  Atheniens  p.  in  f. 
■wieder  aufgenommene  GedanVe,  das  Verfahren  gegen  Eratosthenes  sei 
in  die  kurze  Zwischenzeit  zwischen  der  Annahme  und  der  Annullierung 
von  Thrasybuls  Antrag  gefallen. 


ö  Ji;sri;s  Hkkmann  Liivsius:  l7'i9 

aber  die  ganae  Lehre  von  cUuii  Quasi-  oder  Ilalbbürgerreclit 
der  Metoiken,  deren  Ausiluß  er  ist,  schwer  erschüttert;  auch 
gegen  sie  waren  bereits  von  mir  und  anderen  Bedenken 
geltend  gemacht,  die  unwiderlegt  geblieben  sind.  Einer  Be- 
richtigung bedarf  nun  aber  auch  die  andere  Meinung,  die 
ich  selber  früher  geteilt  habe,  die  Isotelen  seien  in  ihren 
Kechtshäudeln  den  Bürgern  gleichgestellt  gewesen.  Maßgebend 
war  für  sie  zunächst  die  Stellung  des  Lysias  als  Isotele, 
die  durch  I'seudoplutareh  bezeugt  und  durch  Ciceros  Miß- 
verständnis bestätigt  wird.  Eine  Stütze  aber  schien  sie  in 
dem  Volksbeschluß  für  die  Akarnanen,  die  bei  Chaironeia 
mitgekämpft  hatten,  I.  G.  II  n.  1 2  i  (^  237)  Z.  26  f.  nach  sicherer 
Ergänzung  xal  didovai  ccvrovg  dixt([g  xai  Xa^ißävsiv  xud^d- 
;r[fp  'A%^y]valoi  zu  linden.  Allein  daß  dies  Recht  nicht  allen 
Isotelen  zugestanden  haben  kann,  folgt  aus  ihrer  damit  un- 
verträglichen Unterstellung  unter  die  Jurisdiktion  des  Pole- 
marchen.  Überhaupt  muß  schärfer  als  bisher  geschehen  ge- 
schieden werden  zwischen  der  Isotelie,  die  schon  in  Attika 
wohnhaften  Metoiken,  und  der,  die  Angehörigen  anderer 
Staaten  für  den  Fall  und  die  Dauer  ihrer  Übersiedelung  nach 
Athen  (oixovötv  'Jd-rjvt]6i)  verliehen  wird,  und  hier  wieder 
zwischen  der,  die  einzelnen  durch  Ernennung  zum  Proxenos 
und  Euergetes  und  der,  die  größeren  Gruppen  zum  Dank  für 
ihre  Betätigung  in  Athens  Interesse,  namentlich  den  darum 
aus  ihrer  Heimat  Verbanntan  oder  ganzen  Bürgerschaften 
zerstörter  Städte  zuteil  wird.  Während  in  den  beiden  ersten 
Fällen  die  Isotelie  in  vollem  Umfange  gewährt  wurde,  mußten 
für  die  Bemessung  der  der  letzten  Kategorie  zugestandenen 
Rechte  die  jedesmaligen  Verhältnisse  bestimmend  sein.  So 
wird  z.  B.  den  Akarnanen  außer  dem  schon  erwähnten  Vor- 
recht und  der  ccreXsia  [iSToiaCov  von  den  beiden  wesentlichen 
Stücken  der  Isotelie,  dem  rag  £l6(poQäg  siöcpägsiv  und  dem 
rag  öTQaxsCag  örgaTSvsöd-ai  jMsrä  ^A^rivaCav  nur  das  erstere 
zuerkannt,  ofienbar  darum,  weil  sie  schon  bei  Chaironeia  in 
den  Reihen  der  Athener  mitgefochten  hatten.  Den  mit 
Astykrates    aus   Delphi   Vertriebenen  wird    die   volle    Isotelie 


Lysias'  Rede  gegen  Hippotherses  usw.  7 

verliehen  I.  G.  II  n.  54  (^  log).  Den  Bewohnern  der  Insel  Tenos 
wird  nach  der  zweiten  Zerstörung  ihrer  Stadt  die  ihnen  schon 
früher  gewährte  erneut  II  5  n.  345*^  [^  660);  den  Bürgern 
einer  von  Philipp  zerstörten  Stadt  aber  nur  die  von  ihnen 
selbst  erbetene  atsXsia  ^eroixCov  bewilligt  nach  Wilhelms 
glücklicher  Herstellung  von  II  n.  224  (^  211).  Wenn  da- 
gegen einmal  in  dem  Beschluß  II  5  n.  145^  (^287)  in  jene 
Formel  noch  xal  teXslv  rä  rslrj  xad^djrsQ  '^^y^valot  ein- 
gefügt wird,  so  liegt  darin  keine  Erweiterung  der  sonst 
gewährten  Hechte,  da  durch  die  vorausgehende  Formel  ds- 
dööd^at  avTotg  i^otsksiav  die  Gleichstellung  mit  den  Bürgern 
in  allen  Leistungen  für  den  Staat  verliehen  ist,  also  auch  in 
den  Leiturgien.  Es  liegt  also  nur  eine  besonders  umständ- 
liche Ausdrucksweise  des  einen  Psephisma  vor^).  Nur  ver- 
einzelt wird  auch  die  aDgemeine  Beschlußformel  eivai  avrä 
LöotiXsiav  in  das  etöcpsgeiv  und  ötgarsveöd-ccL  ^stä  A^ijvaia^' 
auseinandergelegt,  das  häufiger  für  sich  allein  auftritt,  so  daß 
man  darin  die  eigentliche  Verleihungsformel  der  Isotelie  hat 
erkennen  wollen;  freilich  fehlt  in  ihr  die  Erwähnung  der 
Leiturgien,  die  erst  durch  die  Reform  des  Demetrios  von 
Phaleron  unnötig  gemacht  wurde.  Es  hat  sich  eben  in  den 
attischen  Ehrendekreten  kein  fester  Stil  dahin  ausgebildet, 
daß  nicht  Ehren  und  Reahte  nebeneinander  verliehen  wurden, 
von  denen  das  eine  das  andere  in  sich  schließt.  Während 
das  Recht  zum  Grunderwerb  weder  mit  der  Isotelie  noch  mit 
der  Proxenie  verbunden  ist  und  stets  besonders  verliehen 
werden  muß,  wird  in  einzelnen  Psephismen  II  n.  48  (*  83), 
II  5  n.  145^  (^  287),  179''  (^  360)  die  Isotelie  neben  der  Pro- 
xenie zuerkannt,  wiewohl  II  5  n.  145^  gelehrt  hat,  daß  sie  in 
ihr  enthalten  war  slvui  d'  avroig  xad-(X7t£Q  tolg  allotg  jzqo- 
^svoig  xal  evegyeraig  [löorsXsiav  'Ad^rjvrjßi.  Und  ebenso  steht 
es  mit  der  ateXsia  II  5  n.  5°  (^  9):  eivcci.  —  xal  u]rEl6Lav 
xa^K:i[£Q  rotg  akXoig  nQoi,evoi\:^  verglichen  mit  II  42  (^  53), 
91  (2  180),    131  (2  265),    144  (2  286),   II  5  n.  73^^  C  48).     Nur 


l)  Anders  Clerc  a.  a.  0.  p.  206. 


8  JusTiis  Hkumann  Lii'sirs:  [7'.  9 

iu  scheiiibarom  Widerspruch  steht  damit  die  Außeruiii^  von  De- 
inostheues  gegen  Leptines  131  ot'»  yaQ  för  ovdeig  aTeJ.i}g 
TcaQ*  i^fiii'^  OTCp  /uj)  il>yjq'iß(.ic(  r]  vouog  öft)(oy(£  Tt]v  ccrikFiav. 
Denn  Demosthenes  spricht  nur  von  der  Atelie  von  Leiturgien. 
Auf  die  ül)erraschenden  Aufstellungen  über  die  Isotelie 
und  ihr  Verhältnis  zur  At(4ie,  die  iu  der  letzten  Behandlung 
dieser  Fragen  durch  Fkancottk  in  seinem  Aufsatz  de  la 
condition  des  etrangers  dans  Ics  cites  grecques,  zuerst  im 
Musee  Beige  VlI  (1903),  dann  in  mehrfach  voräudertor  Ge- 
stalt in  seinen  Melanges  de  droit  ])ublic  grec  (1910)  gedruckt, 
und  wieder  in  seinem  verdienstlichen  Buche  Les  finances  des 
eites  grecques  (igog)  vorgetragen  sind,  näher  einzugehen,  ist 
nicht  erforderlich.  Es  genügt  der  Hinweis'),  daß  Atelie  in 
allen  seinen  zahlreichen  Verwendungen  überall  nur  die  Be- 
freiung von  Leistungen  bedeutet,  es  also  ganz  unberechtigt 
ist,  bei  der  Atelie  der  Metoiken  diesen  negativen  Begriff  durch 
den  positiven  der  Verpflichtung  zu  den  den  Bürgern  obliegen- 
den Leistungen  zu  ergänzen  und  die  Ausdrücke  Atelie  und 
Isotelie  für  gleichbedeutend  zu  erklären.  Daß  die  Nichtbür- 
gern  verliehene  Atelie  nur  Befreiung  von  den  Metoikensteuern 
ist,  machen  die  älteren  Zeugnisse  unzweifelhaft,  I.  G.  I  Sap. 
n.  27*  und  II  5  n.  85  (^  n.  174),  dazu  die  Bewilligung  der 
axiXna  xov  iiixoixCov  in  den  beiden  Beschlüssen  des  5.  Jahrb., 
die  Wilhelm  nach  seiner  Mitteilung  in  den  Comptes  rendus 
de  l'Acaderaie  d.  iuscr.  1900  p.  525  aus  mehreren  zum  Teil 
noch  unedierten  Bruchstücken  hergestellt,  aber  noch  nicht 
veröffentlicht  hat.  In  dem  gleichen  Sinne  ist  das  Wort  ari- 
ksia  auch  in  den  Ehrendekreten  des  4.  Jahrh.  verstanden,  iu 
denen  der  Zusatz  xov  [istolxCov  fehlt,  der  in  gleichzeitigen 
Beschlüssen  gemacht  wird.  Zu  seinem  Paradoxon  ist  Fran- 
COTTE  offenbar  durch  die  beiden  oben  angeführten  Psephismen 


l)  Nichts  gegen  Fkancotte  entscheidet,  wie  Thalheim  glaubt,  daß 
durch  den  Beschluß  II  54  (*  109)  der  Delphier  Astykrates  noXitsia  und 
ciTflsia,  seine  Gefährten  laoxiliLu  erhalten.  Denn  bei  jenem  kann  es 
sich  nur  um  Atelie  vor  den  bürgerlichen  Leiturgien  handeln,  die  mit 
der  Isotolie  nichts  zu  tun  haben. 


7r,9]  ,  LvsiAs'  Rede  gegen  Hippothekses  usw.  9 

verführb  worden,  nach  deren  einem  in  der  Verleihung  der 
Proxenie  die  der  Isotelie,  nach  dem  andern  die  der  Atelie  mit 
inbegriffen  ist.  Aber  es  durfte  nicht  übersehen  werden,  daß 
beide  aus  verschiedener  Zeit  stammen,  das  letztere  aus  dem 
Anfang  des  4.  Jahrb.,  das  erstere  aus  dessen  Mitte,  nach  der 
Atelie  überhaupt  nur  vereinzelt  gegeben  wird.^)  So  tritt  auch 
für  die  Proxenie  allgemein  an  deren  Stelle  die  Isotelie,  die 
vorher  nur  einzelne  erhalten  haben.  Auch  für  die  der  Isotelie 
zugeschriebene  Entwicklung,  in  der  ein  besonders  bezeichnen- 
der Beweis  für  die  Virtuosität  des  athenischen  Volks  in  der 
Anpassung  seiner  Einrichtungen  an  neu  entstehende  Bedürf- 
nisse gefunden  wird,  fehlt  es  an  jeder  zureichenden  Begrün- 
dung. Sie  soll  zuerst  nur  ein  finanzielles  Privileg  gewesen 
sein,  das  einzelnen  zuteil  wurde;  ein  eigener  bevorzugter 
Stand  von  Isotelen  habe  sich  erst  dadurch  gebildet,  daß  den 
damit  beschenkten  Fremden  auch  die  jtQÖöodog  Tcobg  xbv  7to- 
XiiLUQxov  gewährt  wurde,  die  als  der  wertvollste  Teil  der 
vollen  Isotelie  bezeichnet  wird  (offenbar  darum,  weil  sie  mit 
dem  öCxag  Xu^ßaveiv  %cd  öidovaL  xa^unsQ  Hd-Yjvaloi  iden- 
tifiziert wird),  das  sei  aber  im  Interesse  der  vorübergehend 
in  Athen  weilenden  Fremden  geschehen,  während  den  Pro- 
xenoi  der  Zutritt  zu  dem  Polemarchen  schon  an  sich,  den 
Metoiken  durch  Vermittlung  ihres  Prostates  zustand.  Anders 
wieder  die  antike  Überlieferung,  die,  allerdings  zu  eng,  in 
der  Isotelie  eine  Ehrung  verdienter  Metoiken  erkennt:  ti^rj 
tig  ösöo^svT]  rolg  ä^Coig  (pavalöL  xäv  ^exoCxov.  Und  Metoiken 
hatte  sicher  Thrasybul  vorzugsweise  im  Auge,  wenn  er  nach 
Xenophon  Hell.  II  4,  25  den  Fremden  die  Isotelie  versprach, 
die  ihn  bei  ^gy  Befreiung  Athens  unterstützen  würden,  wo- 
gegen Francotte  wegen  des  Akarnanenbeschlusses  geneigt 
ist,  die  Entstehung  der  vollen  Isotelie  erst  in  das  Jahr  338/7 
zu  setzen.    Eher  darf  der  Versuch  Anspruch  auf  Beachtung 

1)  Das  jüngste  Proxeniedekret,  das  Atelie  verleiht,  II  u.  144 
(*  n.  286)  lautet  auf  äriXuu  ndvx(ov,  die  sonst  für  Athen  nur  durch 
Demosthenes  g.  Lept.  60  gleichfalls  aus  einem  Proxeniedekret  zu  belegen 
ist.    Fkancotte  freilich  bezweifelt  den  attischen  Ursprung  jenes  Dekrets. 


lo  JusTus  Hermann  Lipsius:  f7ii9 

erheben,  eine  weitere  Katej^orie  der  iu  Athen  anfhliltlichen 
Fremden,  die  eine  Mittelstelhmg  zwischen  den  Metoiken  und 
den  vorübergehend  anwesenden  Fremden,  den  :TC(Qe:rtdy]^ovi>ri-g 
eingenommen  habe,  in  den  etran^ers  residants  naehzuwcüsen, 
die  als  xaroixovvrfc;  bezeichnet  worden  seien.  Hat  er  doch 
bereits  die  Zustimmung  von  Busolt  iu  seiner  noch  unvoll- 
endeten Griechischen  Staatskunde  S.  392  o-et'unden,  der  von 
den  Metoiken  eine  zweite  Klasse  von  ortsausässigen  Fremden 
scheidet,  die  mit  jenen  zusammen  die  xatoixovvreg  gebildet 
hätten.  Der  Angabe  des  Aristophanes  von  Byzanz,  daß  jeder 
in  Athen  sich  aufhaltende  Fremde  nach  Ablauf  einer  be- 
stimmten Zeit  zum  Eintritt  in  die  Metoi kenschaft  und  zu 
iinanzielleu  Leistungen  an  den  Staat  verpflichtet,  bis  dahin 
aber  :iaQt7rCdr,uog  und  steuerfrei  sei,  versagt  er  den  Glauben, 
weil  er  die  Frist  nicht  genau  bestimme  und  seine  Definition 
von  .uETOixog  auch  sonst  unvollständig  sei.  Entscheidend  sei 
vielmehr  nur,  wie  Harpokration  sage,  die  Verlegung  des  Wohn- 
sitzes nach  Athen  ohne  die  Absicht  späterer  Heimkehr.  Ohne 
diese  habe  der  Fremde  sich  jahrelang  in  Athen  aufhalten  dürfen, 
ohne  Metoik  zu  werden,  habe  aber  ebenso  wie  dieser  sowohl 
das  Recht  des  Bodenerwerbs  erlangen  können,  wie  die  Ver- 
mögenssteuer zu  zahlen  gehabt  und  wohl  auch  zum  Kriegs- 
dienst herangezogen  werden  können,  so  daß  beide  Kategorien 
in  ihren  Leistungen  für  den  Staat  sich  wenig  unterschieden, 
die  Metoiken  aber  das  Recht  der  TtQoöodog  Ttgbg  rbv  noXi- 
uuQxov  vorausgehabt  hätten.  Allein  zunächst  verträgt  sich 
die  behauptete  Steuerpflicht  der  nicht  zu  den  Metoiken  ge- 
hörenden ortsansässigen  Fremden  nicht  damit,  daß  nach  dem 
wichtigen  Gesetz  II-  n.  244  zur  Eisphora  im  Bedarfsfalle  Bürger 
und  Metoiken  herangezogen  werden  sollen,  wie  wir  auch  nur 
von  ^sroLxixut  und  tioXitikuI  ßvit^uoQCai  wissen.  Für  jene  fun- 
gierte nach  Isokrates  Trapez.  41  der  Sohn  des  Sopaios  aus 
dem  Bosporos  als  einer  der  iniyQdifelg,  dessen  Zugehörigkeit 
zu  den  Metoiken  Francotte,  Finances  p.  273  trotzdem  wegen 
der  angesehenen  Stellung  seines  Vaters  für  ausgeschlossen 
erklärt.     Überhaupt    aber    ist    das    Bestehen    einer    von    den 


71,9]  Lysias' Rede  gegen  Hippotherses  U8w.  ii 

Metoiken  geschiedenen  Klasse  ortsansässiger  Fremden  schon 
darum  überaus  unwahrscheinlich,  weil  die  ariXsia  xov  (xstol- 
XLOv  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  gerade  den  aus  der  Heimat 
Verbannten  bewilligt  wird,  deren  Rückkehr  ausdrücklich  in 
Aussicht  genommen  wird  {kag  av  xavak^cjötv).  Wird  sie 
doch  auch  zusammen  mit  der  Befreiung  von  Leituro-ien  und 
Eisphora  den  Kaufleuten  aus  Sidon  gewährt  LG. II  n.86  (-143), 
d.  h.  sie  werden  von  der  Verpflichtung,  in  den  Metoiken- 
stand  einzutreten,  entbunden,  auch  wenn  sie  über  die  geordnete 
Zeit  in  Athen  verbleiben.  Dazu  ruht  die  ganze  Scheidung 
auf  sehr  unsicherem  Grunde.  Ihre  hauptsächliche  Stütze  ist 
der  Volksbeschluß  für  Nikandros  und  Polyzelos  I.  G.  II  2  -|-  5. 
n.  270  (-  505).  Aber  die  ihm  vorausgeschickten  Motive,  ins- 
besondere die  zwanzig  Jahre  lang  von  ihnen  beiden  gezahlten 
Beiträge  zu  der  für  die  Erbauung  der  SchiflFshäuser  und  der 
Skeuothek  erhobenen  Steuer  machen  vielmehr  unzweifelhaft, 
daß  sie  Metoiken  gewesen  sind.^)  Einzig  und  allein  um 
des  von  ihnen  gebrauchten  Kompositums  xarotxommg  statt 
des  sonst  üblichen  Simplex  willen  aber  sie  für  etrangers 
residants  zu  erklären,  wäre  erst  dann  berechtigt,  wenn 
jenes  sich  als  die  eigentliche  Bezeichnung  dieser  Kate- 
gorie erweisen  ließe.  Daß  das  Wort  in  der  allgemeinen  Be- 
deutung 'wohnen'  auch  in  der  amtlichen  Sprache  gebraucht 
wurde,  wird  natürlich  nicht  verkannt.  Aber  für  die  als  Be- 
lege der  behaupteten  speziellen  Bedeutung  in  Anspruch  ge- 
nommenen Stellen  meist  später  Inschriften  ist  nur  so  viel  rich- 
tig, daß  nichts  in  ihnen  unter  xaroLxovvtsg  an  Metoiken  zu 
denken  zwingt,  aber  für  keine  der  Stellen  ist  bewiesen,  daß 
unter  ihnen  eine  besondere,  von  jenen  verschiedene  Bevölke- 
rungsklasse verstanden  sein  muß.  Aus  mehreren  Inschriften 
der  letzten  vorchristlichen  Jahrhunderte  von  Priene  werden 
zwar  nebeneinander  TioXlrat  TräQoixoi  adtoLxoi  und  ^evoi  auf- 

i)  Im  Widerspruch  mit  seiner  Abhandlung  de  la  condition  d. 
ötr.,  die  in  beiden  Redaktionen  das  Psephisma  zum  Ausgangspunkt 
nimmt,  erklärt  sie  Fkancotte  selbst  dafür  in  dem  zwischen  beiden 
liegenden  Inich  Finances  a.  a.  0. 


12   J.  llt;KM.  Lu'.suis:  Lysias' Kkük  (ii;(iKN  llii'i'(>riiHi;sr,s  usw.  [71,9 

geführt,  daraus  über  auf  den  Sinn  vou  o[  xaroixovtfxeg  eineu 
Schluß  zu  ziehen  ist  darum  unzulässig,  weil  dies  in  den 
auderen  Inschriften  der  Stadt  ohne  diese  spezielle  BedeutuiuT 
verwendet  wird.  Nicht  das  geringste  aber  mit  dieser  hat  es 
zu  tun,  wenn  die  athenischen  Kleruchen  auf  Delos  sicli  als 
6  öfjuog  6  'A^i]vuCcov  xäv  iv  /ii']Xc>  xaroixovi'tcoi'  oder  die 
sumischeu  Kolonisten  in  Minoa  als  6  d)~j}iog  6  l^afitav  6  xa- 
xolxCjv  SV  Mtvcöa  bezeichnen.  Aus  Athen  werden  als  weitere 
Belege  für  das  Bestehen  der  neuen  Kategorie  noch  drei  Volks- 
beschlüsse geltend  gemacht,  die  dort  aufhältlichen  Fremden 
die  Ehre  der  Proxenie  zuerkennen,  während  diese  mit  der 
Stellung  eines  Metoiken  unverträglich  sei.  Gewiß  verstößt 
die  Verleihung  der  Proxenie  an  einen  Metoiken  wider  den 
eigentlichen  Sinn  der  Institution,  aber  das  gleiche  gilt  auch 
den  etrangers  residants  gegenüber,  solange  sie  in  Athen  weilen. 
Besonders  bei  den  beiden  älteren  jener  Proxeniedekrete  aus 
dem  letzten  Drittel  des  vierten  Jahrhunderts  II  5  n.  179^ 
(^  360)  für  Herakleides  von  Salamis  und  II  n.  186  (^  373)  für 
den  Arzt  Eueuor  spricht  alle  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß 
sie  dem  Metoikenstande  angehört  haben,  da  beiden  durch  in 
längeren  Abständen  aufeinander  gefolgte  Beschlüsse  sich  stei- 
gernde Ehren  bewilligt  werden,  dem  Euenor  zuletzt  das  Bürger- 
recht. Allerdings  läßt  schon  v  Wilamowitz,  Hermes  XXII 
S.  240  A.  I  gerade  diesen  nur  als  Fremden  gelten,  da  die 
Arzte  ebenso  wie  andere  drjfiiovQyot  eine  internationale  Rechts- 
stellung genossen  hätten.  Aber  das  würde  nocb  keine  beson- 
dere Klasse  der  Fremdenschaft  bedingen,  der  freilich  auch 
Apollas  aus  II  n.  380  (^  835)  ohne  ein  Wort  der  Begrün- 
dung zugewiesen  wird.  Für  Euenor  aber  läßt  der  Wortlaut 
des  zweiten  Beschlusses  izeiÖ))  —  anavxa  06a  TtQoöexa^sv 
avxa  6  dfifiog  6  'J&r]vaCcov  xai  idCa  xai  xoivfj  fTtifit'XsraL 
keinen  Raum  für  den  Zweifel,  daß  er  als  laxQog  dr]^o6i£vc3i/ 
tätig  war,  wie  nach  II  n.  256^  («  583)  Pheidias  von  Rhodos 
ohne  Entgelt  tat.  Mit  einem  solchen  Auftrag,  der  nur  eine 
impJXsia  in  sich  schloß,  konnte  sehr  wohl  auch  ein  Metoik 
betraut  werden. 


Woliiiuiiffeii 


der 


einlieimisclien  Mitglieder  der  math.-phys.  Klasse 

Febrnar  1920. 


Ordentliclie  Mitglieder. 

Herr  Dr.  Biedermann,  Professor,    Geh.  Hofrat,  Jena,  Botzstraße  4. 

„  „  Boehm,  Professor,   Geh.  Medizinalrat,  Seeburgstraße  100. 

„  „  Des   Coudrcs,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Linnestraße  5. 

„  „  Drude,  Professor,  Geh.  Rat,  Dresden,  Stübelallee  2. 

„  „  Ellenherger,  Professor,    Geh.  Rat,   Dresden,   Zirkusstr.  40. 

„  „  Flechsig,  Professor,   Geh.  Rat,  Windmühlenweg  29. 

„  „  Foerster,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Dresden,  Hohe  Straße  46. 

„  „  Garten,  Professor,  Leipzig-Stötteritz,  Marienhöhe,  Ludolf- 
Colditz-Str.  40. 

„  „  HallwacJis,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Dresden,  Münchner  Str.  2. 

„  „  Hanfzsch,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Liebigstraße   18. 

„  „  Held^  Professor,  Inselstr.  1. 

„  „  Herglots,  Professor,  Leipzig-Gohlis,  Erfurter  Straße  6. 

„  „  Holder,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Schenkendorfstraße  8. 

•  „  „  Knorr,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Jena,  Kahlaische  Straße  9. 

„  „  Kossmat,  Professor,  Geh.  Bergrat,  Simsonstraße  2. 

„  „  Krause,  Professor,  Geh.  Rat,  Dresden,  Friedrich -Wilhelm- 
Straße  82. 

„  „  Le  Blanc,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Linnestraße  2 

„  „  Luther,  Professor,  Dresden,  Herderstraße  4. 

„  „  Marchand,  Professor,  Geh.  Rat,   Goethestraße  6. 


Herr  Dr.  Mei-^culieimer,  Professor,  Talstraße  Ö.'i. 

„     NcMmann,  Professor,  Geh.  Rat,  Querstraße  10/12. 
„     Ostwald.  Professor,  Geh.  Hofrat,  Groß-Botlien. 
„     Paal,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Schreberstraße  13. 

Rinne,    Professor,    Geh.  Hofrat    und   Geh.  llegierungsrut, 
Leipzig,  Talstraße  38. 
„       „     Jlohn,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Beethovenstraße  31. 
„       „     Tliomae,  Professor,  Geh.  Rat,  Jena,  Kasernenstraße  9. 
„        „      Wiener,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Linnestraße  4. 

„      Wxmdt,  Professor,  Wirkl.  Geh.  Rat,  Exzellenz,  Schwägrichen- 
straße  17. 

Außerordentliclie  Mitglieder. 

Herr  Dr.  Felix,  Professor,  Gellertstraße  3. 
„     Stobbe,  Professor,  Simsonstraße  4. 


(' 


Wohnungen 

der 

einheimischen  Mtglieder  der  phil.-hist.  Klasse 

Petruar  1920. 


Herr  Dr.  Beclcer,  Professor,  Emilienstraße  15. 

„       „     Bethe,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Davidstraße  1. 

„  „  Brandenburg^  Professor,  Geh.  Hofrat,  Leipzig-Gohlis,  Poeten- 
weg 21. 

„       „     Bücher,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Goethestraße  6. 

„        „     Conrady,  Professor,  Färberstraße  15. 

„        „     Delbrück^  Professor,  Jena,  Marienstraße  10. 

„       „     Fischer^  Professor,  Geh.  Hofrat,  Grassistr.  40. 

„       „     Förster ,  Professor,  Geh.  Hofrat,   Sedanstraße  4. 

„       „     Goets,  Professor,  Geh.  Rat,  Jena,  Beethovenstraße  4. 

„        „     Heime,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Mozartstraße  19. 

1,  „  Körte,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Leipzig-Gohlis,  Wahrener 
Straße  20. 

1,  „  Köster,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Leipzig-Gohlis,  Schön- 
hausenstraße 6. 

„       „     KoschaJcer,  Professor,  Leipzig-Stötteritz,  Naunhofer  Str.  22. 

„  „  Kromayer,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Leipzig-Gohlis,  Berg- 
gartenstraße 10. 

1,       „     Lipsius,  Professor,  Geh.  Rat,  Weststraße  89. 

„       „     Mitteis,  Professor,  Geh.  Rat,  Hillerstraße  9. 

„        „     Mogk,  Professor,  Studienrat,  Salomonstraße  25b. 

„        „     Murko,  Professor,  Mozartstraße  9. 

„  „  Partsch,  Professor,  Geh.  Rat  und  Geh,  Regierungsrat,  Grassi- 
straße  44. 


Herr  Dr.  Eoscher,  Professor,  Gcli.  1  lotVat,  Dresden,  Aiiton-Ciraff-Str.  1 0. 

Scliw<nsou\  Professor,  (!eli.  Hofrat,  Nordplatz  10. 

Schmidt,  Professor,  (Jeli.  llofrat,  Siernwarieiistraße  79. 

Seeliper,  Professor,  Geh.  Ilofrat,  Iieii)zig-riohlis,  Kircli\veg2. 

.V/(///7r,  T.,  Geh.  l?at,  Blasewit'/,  b.  Dresden,  llosidenzstr.  oS. 

Sievers,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Schillerstraße  8. 

Strindorff,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Leipzig-Gohlis,  Pritzsche- 
straße  10. 

Stieda,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Sehillerstraße  7. 

Studniczlca,  Professor,  Geh.  Kat,  Leibnizstraßo  11. 

Stumme,  Professor,  Südstraße  72. 

Treu,  Professor,  Geh.  Rat,  Losch witz  b.  Dresden,  Heinrich- 
straße 21. 

Volkelt,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Auenstraße  3. 

Wocrmann,  Professor,   Geh.  Rat,  Dresden,  Hübnerstr.  5. 

Zimmern,  Professor,  Geh.  Hofrat,  Ritterstraße  16/22,  Tr.  A. 


Ordentliclie  Mitglieder  der  philologisch-historischen  Klasse. 

Geheimer  Hofrat  Eduard  Sievcrs  in  Leipzig,  Sekretär  der  philol.- 

histor.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres  1920. 
Geheimer    Hofrat    liichard    Heime    in    Leipzig,    stellvertretender 

Sekretär  der  philol.-histor.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres  1920. 

Geheimer  Rat  Hermann  Lij)sh(s  in  Leipzig  (2.  II.  1885). 
Professor  Berthold  Delhriiclc  in  Jena  (2.11  1885). 
Geheimer  Rat  Georg  Goetz  in  Jena  (i5- X.  1888). 
Geheimer  Hofrat    Wilhelm  Boscher  in  Dresden  (2.  IL  1891). 
Geheimer  Hofrat  Eduard  Sievers  in  Leipzig  •(i3- ^I-  1892). 
Geheimer  Hoft-at  Karl  Bücher  in  Leipzig   (25.  YIL  1894). 
Geheimer  Hofrat  Angust  Schmarsoio  in  Leipzig  (25.  VII.  1894). 
Geheimer  Rat  Frans  Shidniczlca  in  Leipzig  (19.  XII.  1896). 
Geheimer  Hofrat  Georg  Sfeindor/f  in  Leipzig  (i.  VIII.  1898). 
Geheimer  Hofrat  Gerhard  Seeliger  in  Leipzig  (26.  IL  1900). 
Studienrat  Eugen   Mogle  in  Leipzig  (30.  VIL  1900). 
Geheimer  Hofrat  Angust  Fischer  in  Leipzig  (30.  VH.  1900). 
Geheimer  Hofrat  Heinrieh  Zimmern  in  Leipzig  (30.  VII.  1900). 
Geheimer  Rat  Liidtvig  Mitteis  in  Leipzig  (3.  VI.  1901). 
Geheimer  Hofrat  Albert  Köster  in  Leipzig  (16.  V.  1904). 
Geheimer  Hofrat   WiÜiehn  Sticda  in  Leipzig  (16.  V.  1904). 
Geheimer  Regiernngsrat  Josef  Bartsch  in  Leipzig  (25.  V.  1906). 
Geheimer  Hofrat  Erich  Bethe  in  Leipzig  (17.  VI.  1907). 
Geheimer  Hofrat  Bichard  Heinze  in  Leipzig  (17.  VI.  1907). 
Geheimer  Hofrat  Erich  Branelenhurg  in  Leipzig  (27.  IV.  1908). 
Professor  Hans  Stumme  in  Leipzig  (24.  V.  1909). 
Geheimer  Hofrat  Johannes  YolJcelt  in  Leipzig  (21.  II.  19 10). 
Geheimer  Hofrat  Max  Förster  in  Leipzig  (14.  XL  191 2). 
Geheimer  Hofrat  Johannes  Kromayer  in  Leipzig  (22.  II.  19 15). 
Professor  August  Conradg  in  Leipzig  (24.  V.  1916). 
Professor  Baut  KoschaJcer  in  Leipzig  (31.  VII.  1917)- 
Geheimer  Hofrat  Bichard  Schmidt  in  Leipzig  (31.  VIL  191  7). 

Phil.- bist.  Kl.       1920.  '!• 


If  MlTQLlEDliU-VKKZKlCrilNl.S 

C.tilieinipr  Kat  Wohletnar  von  Scidlilz  in  Drescltu   (31.  VII.  1917). 
Geheimer  Kat  Karl   Wonwnnn  in  Dresden   (31.  VII.  IQI?)- 
Professor  Mailhias  Murko  in  Leip/ij;  (15.  VII.  1918). 
Cleheimer  llol'nit  Alfred  Körte  in  Leipzig  (15.  VII.  1918). 
Professor  PhUipp  August  IJcclcr  in   Leipzig  (14.  XI.  19 19). 


l<"'rülHMP  ordontliche,  <>;eorenwärti;j;  auswärtige  Mitglieder  der 
philulügisch-bistorischeu  Klusse. 

Gebeimer  Hofrat  Lujo  Brentano  in  München. 

Geheimer  Regierungsrat  Friedrich   TJelifzseh  in  Berlin. 

Geheimer  Hotrat  Friedrieh  KliKje  in  Freiburg  i.  13. 

Gebeimer  Regierungsrat  Friedrieh  Marx  in  Bonn. 

Professor  Ulrich    WilcJcen  in  Berlin. 


Ordentlicbe  Mitglieder  der  matbematiscb-pbysi.scben  Klasse. 

Geheimer  Hofrat   Otto  Holder   in  Leipzig,    Sekretär    der  mathem.- 

phys.  Klasse  bis  Ende   des  Jahres   1919. 
Gebeimer  Regierungsrat  Fritz  Einne  in  Leipzig,    stellvertretender 

Sekretär  der  matbem.-phys.  Klasse  bis  Ende  des  Jahres   1919. 

Gebeimer  Rat  Ccirl  Xetimcinn  in  Leipzig  (22.  III.  1869). 
Wii-klicber   Gebeimer   Rat   Exzellenz    WiVielm    Wxindt   in  Leipzig 

(24.  VII  1882). 
Gebeimer  Rat  Faid  Flechsig  in  Leipzig  (14.  IIL  1885). 
Gebeimer  Rat  Johannes  TJioniae  in  Jena  (18.  VII.  1885). 
Gebeimer  Medizinalrat  Ihtdolf  Boehm  in  Leipzig  (13.  IL  1886). 
Gebeimer  Hofrat  Wilhelm  Osiicald  in  Groß-Botben  (23.  XII.  1887). 
Gebeimer  Rat   Wilhelm  Pfeffer  in  Leipzig  (23.  XII.  1887). 
Geheimer  Hofrat  Karl  BoJni  in  Leipzig  (2.  XII.  1889). 
Gebeimer  Rat  Martin  Krause  in  Dresden  (2.  XII.  1889). 
Gebeimer  Hofrat  Ludwig  Ktiorr  in  Jena  (23.  A^'II.  i8g8). 
Gebeimer  Hofrat   Otlo    Wiener  in  Leipzig  (31.  VIL  1899). 
Gebeimer  Hofrat   Otto  Holder  in  Leipzig  (31.  VIL  1899). 
Gebeimer  Hofrat   Wilhelm  Biedermann  in  Jena  (30.  VII.  1900). 
Gebeimer  Rat  Felix  Marchand  in  Leipzig  (30.  VII.  1900). 


Mitglieder- Verzeichnis.  III 

Gebeimer  Hofrat  TJicodor  Des  Coudres  in  Leipzig  (i.  YTII.  1903). 
Geheimer  Hofrat  Arthur  Hantzsch  in  Leipzig  (i.  H.  1904), 
Geheimer  Hofrat  WilJtclm  HaUwachs  in  Dresden  (15.  VIT.  1905). 
Geheimer  Hofrat  Max  Lc  Blanc  in  Leipzig  (17.  VI.  1907). 
Geheimer  Rat  Oskar  Drude  in  Dresden  (2.  XIL  1907). 
Professor  Hobert  Luther  in  Dresden  (20.  VH.  1908). 
Geheimer  Regierungsrat  Fritz  Rinne  in  Leipzig  (14.  XL  1910). 
Geheimer  Hofrat  Fritz  Foerster  in  Dresden  (14.  XL  1912), 
Geheimer  Hofrat  Karl  Paul  in  Leipzig  (14.  XL  191 2). 
Geheimer  Bergi-at  Franz  Kossmat  in  Leipzig  (12.  XIL  1914). 
Professor  Gustav  Herglotz  in  Leipzig  (12.  XIL  191 4). 
Professor  Johannes  Mcise)iheimer  in  Leipzig  (14.  XI.  1915). 
Professor  Siegfried  Garten  in  Leipzig  (31.  VIL  191  7). 
Professor  Hans  Held  in  Leipzig  (31.  VII.  191 7). 
Geheimer  Rat  Wilhelm  Fllenberger  in  Dresden  (18.  II.  1918). 
Professor  Max  Siegfried  in  Leipzig  (18.  II.  191 8). 


Außerordentliche  Mitglieder  der  mathematisch-physischen 

Klasse. 

Professor  Johannes  Felix  in  Leipzig. 
Professor  Hans  Stolhe  in  Leipzig. 


Frühere  ordentliche,  gegenwärtig  auswärtige  Mitglieder  der 
mathematisch-physischen  Klasse. 

Geheimer  Hofrat  Ernst  Bechnann  in  Berlin. 

Geheimer  Hofrat  Vilhclm  Bjcrhies  in  Christiania. 

Professor  Friedrich  Fngel  in  Gießen. 

Geheimer  Regierungsrat  Felix  Klein  in  Göttingen. 

Professor  Arthur  v.  Octiingen  in  Bergheim  a.  d.  Bergstraße. 


Archivar 
Julius  Erich  Schröter  in  Leipzig. 


a* 


IV 


MlTOLIKDEK  -  Vku/.KICHNIS. 


Verstorbene  Mitglietlor. 

Ehrenmitglieder. 

Fnlkni<!cin^  Joluunt  i'aid  von,    1882. 

Gnhcr^   Carl  Fried  rieh   von.    1891. 

Seydi'wilü,  Kurt  Damm  Pnul  von,    1910. 

Wietershcim,  Karl  Aiipust   WilJivlm  Eduard  von,   1865. 


Philologisch-bis 

Älhrccht,  Eduard,    1876. 
Ammo7i,  Christoph  Friedrich  von, 

1850. 
Becker,   Wilhelm  Adolf,   1846. 
Berger,  Hugo,   1904. 
Birch-Hirschfeld,  Adolf,  1917. 
BöhtUngTc,  Otto,    1904. 
Brockhaus,  Hermann,   1877. 
Brugmann,  Karl,  19 19. 
Bursian,  Conrad,   1883. 
Curtius,  Georg,   1885. 
JDrorjsen,  Johann  Gustav,    1884. 
Ebers,  Georg,   i8g8. 
Ebert,  Adolf    1890. 
Fleckeisen,  Alfred,   1899. 
Fleischer,  Heinr.  Leberecht,  1888. 
Flügel,  Gustav,   1870. 
Franke,  Friedrich,   187 1. 
Gabelents,  Hans  Conon  von  der, 

1874. 
Gabelentz,     Hans    Georg    Conon 

von  der,   1893. 
Gebhardt,  Oscar  von,   1906. 
Geizer,  Heinrich,   1906. 
Gersdorf,   Ernst  Gotthclf    1874. 
Göttling,   Carl,    1869. 
Chitschmid,  Hermann  Alfred  von, 

1887. 
Hänel,  Gustav,   1878. 
Hand,  Ferdinand,   1851, 


torische  Klasse. 

Hartenstein,  Gustav,   1890. 

Hasse,    Friedrich   Christian  Au- 
gust,  1848. 

Ifauck,  Albert,  19 18. 

Haupt,  Moritz,    1874. 

Heinrici,  Georg,   19 15. 

Heinze,  Max,    1909. 

Hermann,  Gottfried,   1848. 

Hirzel,  Mudolf,  191 7. 

Hidtsch,  Friedrich,   1906. 

Jacobs,  Friedrich,    1847. 

J"a/m,   0^0,    1869. 

Janitschek,  Hubert.    1893. 

TTeJ/,  Bruno,  1916. 

Köhler,  Beinhold,   1892. 

Krehl,  Ludolf,    1901. 

Lamprecht,  Karl,   19 15. 

J^ange,  Ludwig,    1885. 

Leskien,  August,  191 6. 

Marquardt,  Carl  Joachim,  1882, 

Maurenbrecher,    Wilhelm,    1892 

Meister,  Bichard,  19 12. 

Miaskowski,   A%igust  von,   1899. 

Michelsen,    Andreas    Ludwig 
Jacob,   1881. 

Mommsen,  Theodor,   1903. 

Nipperdcy,  Carl,   1875. 

Noorden,  Carl  von,   1883. 

Overbeck,  Johannes  Adolf,   1895, 

Pertsch,   Wilhelm,   1899. 


Mitglieder -Verzeichnis. 


reschcl,  Oscar  Ferdinand,   1875. 
Peter,  Hermann,  19 14. 
Preller,  Ludivui,   1861. 
Batzel,  Friedrich,   1904. 
Bihbeck,  Otto,   1898. 
BitscJd,  Friedrich  Wilhelm,  1876. 
liohdc,  Erwin,   1898. 
Röscher,   Wilhelm,   1894. 
Buge,  Sophus,   1903. 
Saupiic,  Hermann,   1893. 
Schleicher,  August,   1868. 
Schrader,  Eberhard,   1908. 
Schreiber,  Theodor,  19 12. 
Seidler,  August,   1851. 
Scyffarth,  Gustav,   1885. 
(Socm,  Albert,   1899. 


Sohm,  Budolph,  1917. 
Springer,  Anton,   1891. 
ÄterÄ,  Ca^Z  Bernhard,   1879. 
Stobbe,  Johann  Ernst  Otto,  1887. 
2«c//,  Friedrich,    1867. 
Ukert,   Friedrich  August,    1851. 
Fof<7f,  Georg,   1891. 
Fo?^f,  Moritz,   1905. 
Waclismuth,  Curt,   1905. 
Wachsmuth,   Wilhelm,   1866. 
Wächter,  Carl  Georg  von,  1880. 
TT'^c.sfenHa^zw,  -4wfow,    1869. 
Windisch,  Ernst,  191 8, 
TF«//cer,  Bichurd  Paul,   19 10. 
ZarncTce,  Friedrich,   1891. 


Mathematisch-physische  Klasse. 


J.6&C,  .£Jj-«5/,   1905. 

Arrest,  Heinrich  d',   1875. 

Baltzcr,  Heinrich  Bichard,  1887 

i?ecÄ;,  Bichard,  191 9. 

Bezold,  Ludteig  Albert  Wilhelm   Hansen,  Peter  Andreas, 

von,   1868.  Harnack,  Axel,   1888. 

Braune,  Christian  Wilhelm,  1892.   Hempel,  Walter,  191 6. 


Funke,  Otto,   1879. 
Gegenbaur,  Carl,   1903. 
Geinitz,  Hans  Bruno,   igoo. 
Hankel,    Wilhelm  Gottlicb,   1899. 

1874. 


Bruhns,  Carl,   1881. 
Bruns,  Heinrich,  1919. 
Carus,  Carl  Gustav,   1869. 
Carus,  Julius  Victor,   1903. 
Chiin,  Karl,  191 4. 
Cohnheim,  Jiüius,   1884. 
Credner,  Hennann,   191 2. 


Hering,  Ewald,  1918. 

Zr/5,  Wilhelm,    1904. 

Hofmeister,    Wilh dm,   1877. 

Huschke,  Emil,   1858. 

Knop,    Johann   August    Ludtvig 

Wilhelm,   1891. 
Kolbe,  Hermann,   1884. 


Döbereincr,  Johann   Wolfgang,     Krüger,  Adalbert,   1896. 


1849. 
Drobisch,  Iloritz  Wilhelm,  1896. 
Erdmann,  Otto  Linne,   1869. 
Fechner,  Gustav  Theodor,   1887. 
Feddersen,  Wilhelm,  1918. 
Fischer,  Otto,  19 16. 


1863. 


Kunze,  Gustav,   1851. 
Leitmann,    Carl  Gotthclf, 
Lcuckart,  Jiudolph,   1898. 
i«e,  Sophus,   1899. 
LAndenau,  Bernhard  August  von, 
1854. 


VI 


MrrOLIKDKK-V'KUZKlCIINIS. 


lAuhrUi,   Carl,    181)5. 
Mardtand,  liicJiard  Felix,    1850. 
Mayer,  Adolf,  1908. 
Metteniu.t.   Georg,    186Ö. 
Meifcr,  l'jrn.^t  von,  1916. 
Möbiiis,  Aiujust  Ferdinand,  1868. 
Müller,  Wilhelm,   1909. 
Naumann,  Carl  Friedrich,   1873. 
Pöppiih  Fduard,    1868. 
Habt,  Karl,  1917. 
Beich.  Ferdinand.    1882. 
Bichthofen,  Ferdinand  v.,   1905. 
Seheerer,  llicodor,   1S75. 
Scheibner,   Wilhelm,   1908. 
Sehenk,  August,   1891. 
Schieiden,  Matthias  Jacob,  1881. 
Schlumilch,   Oscar,    1901. 
&"/;;><///,  7??/(7o//'   Wilhelm,    1898. 
Schumann,  Victor,  1912. 


Sehu'ägriehen .  Christian  Fried- 
rieh,   1853. 

Seebeck;  jAtdirig  Friedrich  Wil- 
helm August,    1849, 

StoA/,  iVn.s7,  1919. 

(SYr//j,  Samuel  Friedrich  Nathn- 
nael  von,   1885. 

Stohmann,  Friedrieh,    1897. 

Töphr,  August,  191  2. 

Volk  mann,  Alfred  Wilhelm,  1877. 

iye6(T,  Eduard  Friedrich,  1871. 

Trt'6«%  ^rw5/  Heinrich,   1878. 

]^7'6cr,    Wilhelm,   1891. 

Tl^ä'(?e>»fm»,  Gustav,   1899. 

IFm/i'/tr,  Clemens,   1904. 

TF/,sZ/cf^Mf5,  Johannes,    1902. 

Zcuncr,  Gustav  Anton,   1907. 

Zirkel,  Ferdinand,  19 12, 

Zöllner,  Johann  Carl  Friedrich, 
1882. 


Leipzig,  am  31.  Dezember  1919. 


VII 


Verzeiclmis 

der  bei  der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften 
'im  Jahre  19 19  eingegangenen  Schriften. 


I.  Von  gelehrten  Gesellschaften,  Universitäten  und  öffentlichen 
Behörden  herausgegebene  und  periodische  Schriften. 

Deutschland, 

Bericht  über  die  Tätigkeit  der  Naturwissenschaftl.  Gesellsch.  Isis, 
Bautzen  i.  d.  J.  1916 — 18.    Bautzen  o.  J. 

Abhandlungen  der  Preuß.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin. 
Philos.-bistor.  Klasse.  1918,  Nr.  15  —  18.  19 19,  Nr.  i  — 10.  Haber- 
landt,  (?.,  Gedächtnisrede  auf  Simon  Schwendener.    Berlin. 

Sitzungsberichte  der  Preuß.  Akad.  der  Wissensch.  zu  Berlin.  19 19, 
Stück  I — 39.    ebd. 

Berichte  der  Deutschen  Chemischen  Gesellschaft  zu  Berlin.  Jahrg.  51, 
No.  17.  18.  —  52,  No.  I — 5.  7 — II.    ebd.  1919. 

Jahrbuch  der  K.  Preuß.  Geolog.  Landesanstalt.  Bd.  36,  T.  2,  H.  3.  Bd.  37, 
T.  I,  H.  3.    T.  2,  H.  I.  2.    Bd.  38,  T.  i,  H.  i.  2.    ebd.  1917— 18. 

Beiträge  zur  kommunalen  Kriegswirtschaft.   Bd.  3.   Nr.  7  — 18.  ebd.  0.  J. 

Verhandlungen  der  Deutschen  Physikalischen  Gesellschaft  i.  Jahre  1918. 
Jahrg.  20,  Nr.  21  — 24.  1919.  Jahrg.  21,  Nr.  1—24.  Braunschweig 
1918.  19. 

Die  Fortschritte  der  Physik  im  Jahre  1917.  Jahrg.  y^.  Dargestellt 
von  der  Deutschen  Physikalischen  Gesellschaft.  Abt.  i — 3.  ebd. 
1918.  19. 

Bericht  des  Westpreußischen  Botanisch-Zoologischen  Vereins.  41.  Dau- 
zig  1919. 

Schriften  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Danzig.  N.  F.  Bd.  15, 
H.  1/2.    ebd.  1919. 

Jahresbericht  der  Sachs.  Landesbibliothek  zu  Dresden  auf  das  Jahr 
1918.    Dresden  1919. 

Jahresbericht  der  Gesellschaft  für  Natur-  und  Heilkunde  in  Dresden 
1917/18.    München  1919. 

Sitzungsberichte  und  Abhandlungen  der  Naturwissenschaftlichen  Gesell- 
schaft Isis  in  Dresden.    Jahrg.  1918.    Dresden  1919. 


\  III  Vi;uzi;iciiMs   i>ku  kingkuanuknkn   Sciiim  tkn. 

Vcrzeithiiis  der  Vculesuni^'en  uiul  Cbunf^ou  an  «1er  K.  Silclis.  Toclini- 
scheu  llücliscluiK'  f.  1I.2.  VViiitersoiu.  1918/19  (ZwischpiiHtMii).  Soiuiuer- 
seni.  1019.  Wintersom.  1919/20.  —  Persoiialveri'.L'iilniis.  Nr.  58. 
Wintersem.  191«)  20.    ebd.  1019. 

Zeitschrift  des  K.  Siubs.  Statist.  Liiiulcsauitos.  Jahr;,'  64.  1918.  —  65, 
1919.    ebd.  0.  J. 

])ekadcn-Mouatsbcrichtt'  (vorläuli^'e  Mitteilung)  der  K.  Silchs.  Landes- 
wettorwarte.  loK--  Jahrg.  19.  l)re.sdcn  1918.  —  Sclircibcr,  J'ditl, 
Kinriihtuiig  n.  Aufgaben  der  .  .  .  19 IS  erbauten  Wetlerwaitcu  auf 
der  Wahnsdorfer  Kuppe  .  .  .  u.  auf  dem  Fichtelberge,    ebd.  1918. 

Deutsehes  nieteorolog.  .fuhrhucJi.  Kngreli.  SachseM  (von  Jahrg.  34  (1916) 
an:  Jahihuch  der  Sachs.  Lamlcs-Wi-tterwaitc)  für  1913  (.lalirg.  31), 
Abt,  3.  1914  (32),  Abt.  1.  1915  (33),  Abt.  I.'  1916  (34),  Abt.  1/2. 
ebd.  1917.  18. 

Mitteilungen  des  Verein.s  f.  d.  Geschichte  u.  Altertumskde.  v.  Erfurt. 
H.  39.    Erfurt  191 9. 

Bericht  der  Senckenbergischeu  Naturforschenden  Gesellsch.  in  Frank- 
furt a  M.  47  (1918).  48  (Jahrhundertfeier  1917).  M.  i  Beil.:  Die 
Vülksbilduugsbestrebuugcn  der  Seuckeuberg.  Maturforsch.  Gesellsch. 
u.  die  Presse.    Frankf.  a.  M.  1918. 

•Jahresbericht  des  Physikal.  Vereins  zu  Frankfurt  a.  M.  f.  d.  Kechnungs- 
jahr  1917 — 1918.    ebd.  1918. 

Jahrbuch  f.  d.  Berg-  u.  Hüttenwesen  in  Sachsen.  Jahrg.  1918.  92.  Jahrg. 
Freiberg  i.  S.  o.  J. 

Programm  der  Sachs.  Bergakademie  zu  Freiberg  f.  d.  153.  Studienjahr 
1919/20.    ebd.  1919. 

Verzeichnis  der  Vorlesungen  auf  der  Großherzogl.  Hessischen  Ludwigs- 
Univers.  zu  Gießen.  Kriegsnot-S.  1919.  S.-S.  1919.  W.-S.  1919/20. 
Personeubestand.  W.-S.  1918/19.  —  Giscvius,  Der  Boden  als  Be- 
triebsmittel .  .  .  Akad.  Rede  zur  Jahresfeier  ...  i.  7.  191 8.  —  Be- 
grüßung.sfeier  f.  d.  aus  dem  Felde  heimgek.  Studierenden  .  .  .  am 
9.  3.  19.  —  Der  Allgem.  Studentenausscliuß  der  Univ.  Gießen  an 
die  Studentenschaft.  —  82  (3  Jurist»,  13  philos.,  40  mediz.,  26  veter.- 
mediz.)  Dissertationen  a.  d.  J.  1918/19. 

Abhandlungen  der  Gießeuer  Hochschulgesellschaft,    i.    Gießen  1919. 

Nachrichten  der  Gießener  Hochschulgesellschaft,    i.    ebd.  19 18. 

Bericht  der  Oberhess.  Gesellsch.  f.  Natur-  u.  Heilkunde  zu  Gießen.  N.  F. 
Mediz.  Abt.  Bd.  11  (19 18).  Naturw.  Abt.  Bd.  7  (1916—19).  ebd. 
1918.  19. 

Neues  Lausitzisches  Magazin.  Zeitschr.  der  Oberlausitz.  Gesellsch.  der 
Wissensch.    Bd.  94.  95.    Görlitz  1918.  19. 

Nachrichten  von  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen. 
Math.-phys.  Kl.  1918,  H.  i.  2.  3.  Beiheft.  1919,  H.  1.  —  Philol.-hist. 
Kl.  1918,  H.  3.  4.  —  Geschäftl.  Mitteilgn.  1918.  19.    Berlin  d.  J. 

Abhandlungen   der  Naturforschenden  Gesellsch.   zu  Halle  a.  S.     Neue 

Folge.    No.  7.    Halle  a.  S.  19 19. 
Leopoldina.    Amtl.  Organ  d.  Kais.  Leopoldinisch-Carolinisch  Deutschen 

Akad.  der  Naturforscher.  H.  55.    ebd.  1919. 

Meteorologische  Beobachtungen  auf  der  Hamburger  Sterawarte  in  Berge- 
dorf t.  J.  1917.    Hamburg  1918. 


Vekzüichnis  der  eingegangenen  Schriften.  IX 

Jahresbericht  dei*  Hamburger  Sternwarte  in  ßergedorf  f.  d.  J.  1918. 
ebd.  1919. 

Mitteilungen  der  Mathematischen  Gesellschaft  in  Hamburg.  H.  7.  ebd. 
1919. 

Mouatl.  3Iitteiluvgen  der  Hauptstation  f.  Erdbebenforschung  am  Phy- 
sikal.  Staats'aboratorium.    1919.    Nr.  8.  9.    ebd.  1919. 

Abhandlungen  der  Heidelberger  Akad.  der  Wissensch.  Mathem.-natur- 
wisg.  Kl.    Abb.  4  ;Text.  Atlas).  5.  6.    Heidelberg  1918. 

Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie  der  Wissenschaften.  Ma- 
them.-naturw.  Kl.  A.  Bd.  9.  Jahrg.  1918.  Abh.  i  — 17.  B.  Bd.  9. 
Jahrg.  1918.  Abh.  I — 3.  —  Philos.-histor.  Kl.  Bd.  9.  Jahrg.  1918, 
Abh.  I  — 14.  —  Jahresheft  1918.    ebd.  1918.  19. 

Neue  Heidelberger  Jahrbücher.    Bd.  21,  H.  i.    ebd.  19 19. 

Verhandlungen  des  Naturhistorisch- Medizinischen  Vereins  zu  Heidelberg. 
N.  F.  Bd.  14.    H.  I.    ebd.  1919. 

Veröffentlichungen  der  (Großherzogl.)  Badischen  Sternwarte  zu  Heidel- 
berg (Königstuhl).    Bd.  7.    No.  7 — 10.    ebd.  0.  J. 

Fridericiana.  Technische  Hochschule  zu  Karlsruhe.  Vorlesungsver- 
zeichnis f.  d.  S.-S.  1919.    Karlsruhe  1919. 

Verzeichnis  d.  Vorlesungen  a.  d.  Universität  zu  Kiel.  S.-S.  19 18.  W.-S. 
1918/ig.  —  64  Dissertationen  a.  d,  J.  1918. 

Wissenschaft!.  Meeresunkrsuchungen,  hersg.  v.  d.  Kommission  zur  wis- 
sensch.  Untersuchung  der  deutsch.  Meere  in  Kiel  u.  der  Biolog.  An- 
stalt auf  Helgoland.  N.  F.  Abt.  Helgoland.  Bd.  14,  H.  i.  Kiel  u. 
Leipzig  19 18. 

Jahresbericht  der  Fürstlich  Jablonowskischen  Gesellschaft.  Leipzig,  im 
Mai  19 19. 

Encyclopädie  der  Mathematischen  Wissenschaften.  Bd.  2,  3.  Heft  3. 
ebd.  1919. 

Die  Arbeiten  des  (K.)  Preuß.  Aeronaut.  Observatoriums  bei  Linden- 
berg.   Bd.  12  (1916).    Bd.  13  (1919).    Braunschweig  1918.  19. 

Mitteilungen  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde.   Heft  13.    Nr.  11 — 12.    14.    Nr.  i.  Lübeck  1919. 

Mainzer  Zeitschrift.  Zeitschrift  des  Römisch -Germ.  Central-Museums. 
Jahrg.  14,    1919.    Mainz  1919. 

Abhandlungen  der  Bayer.  Akad.  d.  Wiss.  Mathem.-phys.  Kl.  Bd.  28, 
Abh.  II.    Bd.  29,  Abh.  i.  2.    München  1919. 

Abhandlungen  der  Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften.  Philos.-philolog. 

u.  histor.  Klasse.    Bd.  30,  Abh.  2  —  7.    ebd.  1919. 
Jahrbuch  der  K.  Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften.    1918.   ebd.  1918. 

Sitzungsberichte  der  mathem.-phys.  Kl.  der  K.  Bayer.  Akad.  der  Wiss.  zu 
München.    1918.    H.  i — 3.    19 19.    H.  i.  2.    ebd. 

Sitzungsberichte  der  philos.-pliilol.  u.  der  histor.  Kl.  der  K.  Bayer.  Akad. 
d.  Wiss.  zu  München.  1918,  Abh.  2— 11.  Schlußh.  1919,  Abh.  I — 9. 
ebd. 

Preisaufgahe  der  Samsonstiftung  bei  der  Bayer.  Akad.  der  Wiss.  f.  d. 
J.  1919. 

Verwaltungsbericht  über  das  15.  Geschäftsjahr  1917 — 1918  .  .  .  des  .  .  . 
Deutschen  Museums.    München  19 18. 


X  VkRZKICIIMS    DKIt    KINOKG AXOKNT.N    ScillIlK TKN. 

Neue  Annnlen  der  K.  Stornwailc  in  Miinclicn.    Auf  Kosten  der  K.  lUycr. 
Akad.  der  Wissoiisoli.  horsi.'^.    lid.  5,  Heft  2,    ebd.  19 iS. 

Anzeiger  des  Germanischen  Kationalniiisoums.  Jalirrj.  hm.S.  H.  1—4. 
Nürnberg  1019. 

Mitteilunfitn  aus  di>m  rionuanischen  Nationalniuseum.  .Talirg.  1918/19. 
=  Featschr.  f.  Gust.  v.  lie/.old  zu  s.  70.  (leburlHt.    ebd.  1918. 

Jahresbcricbt  der  naturbistori.scben  GesellscliaCt  zu  Nürnberg  fibcr  dns 
Jahr  1918.    ebd.  0.  .1. 

Mitteilungen  des  Vereins  für  Vogtland.  Geschichte  u.  Altertumskunde 
zu  riaucu  i.  V.    29.  Jaliresschrift  auf  d.  J.  1919.    Plauen  d.  .T. 

Publikotioncn  des  Astropbysikalischcn  ÜbucrvatoriumB  zu  Potsdam. 
Bd.  23.    Stück  5  (Nr.  73).    24.    Stück  i  (Nr.  74).    Potsdam  1919. 

Veröffentlichung  des  Preuß.  Geodiitischcn  Institutes.  (Potsdam.)  N.  V. 
No.  76.  77.  78.  80.    Berlin  19 19. 

Württembergische  Vierteljahrsschrift  für  Landesgeschichte.  Herausg. 
von  der  Württembergischen  Kommission  f.  Landesgeschicbte.  N.  F. 
Jahrg.  27.  (1918).    Stuttgart  1919. 

Tharander  forstliches  Jahrbuch.    Bd.  70.    Berlin   1919. 

Jahrbücher  des  Nassauischen  Vereins  für  Naturkunde.  Jahrg.  71. 
Wiesbaden  1919. 

Sitzungs-Berichte  der  phv.sik.-medic.  Gesellsch.  zu  Würzburg.  Jahrg. 
1917,  No.  7—9.    1918,  No.  1—6.    Würzburg  u.  Leipzig  1918. 

VerJiancUu>irfen  der  physik.-medic.  Gesellsch.  zu  Würzburg.  N.  F.  Bd.  45. 
ebd.  1918. 

Österreich-Ungarn. 

Vjesnik  Hrvatskoga  Arheoloskoga  Drustva.  Noye  serije.  Sveska  14. 
1915 — 1919.    Zagreb  (Agram)  1919. 

Vjesnik  hrvatsko-slavonsko-dalmatinskog  zemaljskog  arkiva.  •  God.  20. 
Sveska  1/2.    ebd.  191 8. 

Personalstand  der  Deutschen  Karl-Ferdinands  Universität.  Studienjahr 
1918/19.    Prag  0.  J. 

Mitteilungen  des  Vereines  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen. 
Jahrg.  57  (1919).    ebd.  1919. 

Lotos.  Naturwiss.  Zeitschrift.  Hrg.  vom  Deutschen  naturw.-mediz.  Verein 
für  Böhmen  „Lotos"  in  Prag.    Bd.  66.    ebd.  191 8. 

Rechenschaftsbericht  über  die  Tätigkeit  der  Gesellsch.  zur  Förderung 
deutscher  Wissensch.,  Kunst  u.  Literatur  in  Böhmen  i.  J.  1918. 
ebd.  1919. 

BuVettino  di  archeologia  e  storia  Dalmata.  Anno  38.  39.  Spalato 
1915.  16. 

Almanach  der  Akademie  der  Wissenschaften.    Jahrg.  68.    Wien  1918. 

Anzeiger  der  Akademie  d.  Wissensch.  Math.-phys.  Kl.  Jahrg.  55.  ebd. 
1918. 

Denkschriften  der  Kais.  Akademie  d.  Wissensch.  Math.-naturw.  Kl. 
Bd.  94.  —  Philos.-histor.  Kl.  Bd.  55,  Abh.  3.  61,  Abb.  i.  2.  62, 
Abh.  2.    ebd.  1917 — 19. 


Veuzeichnis  der  eingegangenen  Schriften.  XI 

Sitzungsberichte  der  Kais.  Akad.  d.  Wis?en.sch.  Math. -iiaturw.  Kl. 
Bd.  126  (1917)  I,  Heft  10.  II»,  Heft  10.  —  IJd.  127  (1918)  I,  Heft  1—9. 
II»,  Heft  I  — 10.  Ili>,  Heft  3  —  10.  —  Bd.  128  (1919)  II^  Heft  i.  2.  — 
Philos.-histor.  Kl.  Bd.  177,  Abh.  i.  186,  Abb.  a.  187,  Abh.  3.  4. 
188,  Abh.  2.  3.  189,  Abh.  i.  3.  4.  5.  190,  Abh.  i.  2.  4.  5.  191, 
Abh.  I.  2.     192,  Abh.  I.  2.    ebd. 

Protest  der  Akad.  der  Wiss.  in  Wien  wider  das  Vorgehen  der  kgl. 
Italien.  Walfenstillstauds-Kommission  gegenüber  den  Wiener  Museen, 
Bibliotheken  u.  Archiven,    ebd.  19 19. 

Tietze,  Hans,  Die  Entführung  von  Wiener  Kunstwerken  nach  Italien, 
ebd.  19 19. 

Archiv  für  Österreich.  Geschichte.  (Akad.  der  Wiss.  in  Wien.  Philol.- 
histor.  Kl.  Historische  Kommission.)  Bd.  105,  2.  106,  2.  108,  i. 
ebd.  1917 — 19. 

Mitteilungen  der  Erdbeben-Kommission  (Ak.  der  Wiss.  Math.-naturw. 
Kl.).    N.  F.    Nr.  51.  52.    ebd.  1917.  18. 

Abhandlungen  der  K.  K.  Zoologisch-Botanischen  Gesellschaft  in  Wien. 
Bd.  IG.    H.  I.    ebd.  1918. 

Verhandlungen  der  k.  k.  zoologisch-botanischen  Gesellschaft  in  Wien. 
Bd.  68,  H.  6—10.    ebd.  1918. 

Aunalen   des  K.  K.  Naturhistorischen  Hofmuseums.    Bd.  32.    ebd.  1918. 

Belgien. 
Analecta  Bollandiana.    T.  ^^,  Fase.  3.  4.    Bruxelles  1914. 

Dänemark. 

Det  K.  Danske  Videnskabernes  Selskabs  Skrifter.  Naturv.  og  math.  Afd. 
8.  Rjekke.    Bd.  3,  No.  2.  3.    Bd.  5,  No.  i.    Kj0benhavn  1919. 

Oversigt  over  det  K.  Danske  Videnskabernes  Selskabs  Forhandlinger. 
Juni  1918 — Maj  1919.    ebd.  1919. 

Det  K.  Danske  Videnskabernes  Selskab.  Biologiske  Med  deleiser,  i,  5  — 12. 
14.  —  Historisk-filologiske  Meddelelser.  2,  3 — 6.  —  Mathemat.- 
fysiske  Meddelelser.  i,  9 — 12.    ebd.  1918.  19. 

Conseil  permanent  international  pour  Texploration  de  la  mer.  Bulletin 
statistique  des  peches  maritimes  des  pays  du  nord  de  l'Europe. 
Vol.  8  pour  les  annees  191 1.  12.  9  pour  l'annee  1913.  ebd.  1917.  19. 
—  Bulletin  hydrographique.  Vnriations  de  la  temperature  ...  de 
l'Atlantique  pendant  les  annees  1900 — 1913.    ebd.  1919. 

England. 

Proceeditigs  of  the  Cambridge  Philosophical  Society.  Vol.  18.  19, 
P.  1  —  5.    Cambridge  1916 — 19. 

Tranmctioiis  of  the  Cambridge  Philosophical  Society.  Vol.  22.  No.  5 — 14. 
ebd.  1914 — 18. 

Proceedings  and  Transactions  of  the  Liverpool  Biological  Society. 
Vol.  33  (session   1918 — 19).    Liverpool  1919. 


Xn  VkRZEICUNIS    DKH    KINQEQANaKNKN    ScHRlFTEN. 

Fiiiiihm  tl. 

Acta  Sooietatia  scieutiaium  Fenuicac.  T.  43,  No.  i.  —  44,  No.  j.  5.  7  u. 
^limiesord  üfvor  Nylauder.  —  45,  No.  2.  3.  4  u  Aliiuiostal  öfvcr 
Meclu'liii.  —  46,  No.  i— 8,  Minucätal  üfver  IJjelt  u.  iicden  auf 
Hällsk'n,  Muttsson,  Reuter,  Schultün,  Slotte.  —  47.  —  48,  No.  1  —  4. 
Helsingfors   19 14 — lo. 

Biilitdj  tili  käuneilom  af  Finlauds  uatur  och  lolk.  Utg.  af  Finska  Veteu- 
ekaps-Societeteu.  Hütte  74,  No.  i.  75,  No.  2.  77,  No.  1  —  7.  78, 
No.  I.  3.    ebil.  1914 — 19. 

Feunia.    i^Sällskapet  für  Finhinds  gco;;rafi.)    36.  37.  39.    ebd.  1914 — 18. 

Mcddclandoi  af  Geogratiska  Föreuingen  i  Fiuland.   lu.   1913  — 14.    ebd. 

1915- 
()fi-trni(lt   af  Finska  Vetenskaps-Societetens  Förbandliiigiir.  56,  A.  B.  C. 

57^  A.  B.  C.    38,  A.  B.  C.    59,  A.  C.    60,  A.  11.    ebd.  1914—19. 

Finländiscbe  Hydrographisch -Biologische  Unter  suchicngcn.  (Societas 
scientiarum  Feuuica.)    No.  13  (Jahrbuch  1913).    ebd.  1914. 

Griechenland. 

l-J&Tivä.  I^vyyQCiuuK  jtSQioSiKOV  rfjs  iv  'Ad^rivaig  iTtiaTr\noviy.iii  hccigelag^. 
Toiiog  30.    'Ad-7]i>i]6iv  19 19. 

EjtiGTriiioviy.ij  ETterrjQig.  {'Ed'viyiuv  ^al  KaTCoSi6TQiuy.ov  TcavtTtiari^^iov.) 
0'.  1913.  /'.  1913  — 14.  lA'.  1914— 15.  IB\  1915  —  16.  ir'.  1916— 17. 
'El'  'Aü-i'jvatg   1913 — 17. 

Mitteilungen  des  Deutschen  Archäologischen  Inf?tituts.  Athenische  Ab- 
teilung.   Bd.  42.  1917.    Berlin  1919. 

Holland. 

Programma  ceitamiuis  poetici  ab  Acad.  Reg.  discipl.  Nederlandica  ex 
legato  Hoeufftiauo  indicti  in  aunum  1920.    Amstelodami  19 19. 

Revue  semestriello  des  publicaticns  mathematiques.  T.  26.  (Deux.  partie: 
1917,  Oct.  —  1918,  AvriL).  27  (Avril  1918  — Avril  1919).  —  Table 
des  matieres  contenues  dans  les  5  volumes  21  —  25.    ebd.  1918.  19. 

Nieuw  Archief  vor  wiskunde.  2.  Reeks.  Deel  12,  St.  4.  Deel  13,  St.  i.  — 
Wiskundige  opgaven  met  de  oplossingen.  Deel  12,  St.  6.  Deel  13, 
St.  I.    ebd.  191S.  19. 

Nederlandsch  kruidkuudig  Archief.  Verslagen  en  Mededeelingen  der 
Nederlandsche  Botanische  Vereeniging  over  het  jaar  1918.  Gronin- 
gen 1919. 

Bulletin  de  i'Institut  intermediaire  international.  Publication  trimestri- 

elle.    Annee  i,  No.  i.  2  (Janv.— Avril  1919).  La  Haye  1919. 

Communications   from   the   Physical   Laboratory  of  the   University    of 

Leiden.  Vol.  14.  No.  153.  —  Suppl.  No.  41  to  Nos  145  —  156. 
Leiden  1915.  17. 

Enzyklopaedie  des  Islam.  Geograph.,  ethnograph.  u.  biograph.  Wörter- 
buch der  muhammedan.  Völker.    Lief.  25.    Leiden  u.  Leipzig  1919. 

Mnemosyne.  Bibliotheca  philologica  Batava.  N.  S.  Vol.  47.  P.  i — 3. 
Lugd.  Batav.  1919. 

Museum.  Maandblad  voor  Philologie  en  Geschiedeni?.  Jaarg.  26, 
No.  3—12.    27,  No.  1—3.    Leiden  1918.  19. 


Verzkichnis  der  hingegangenen  Schriften.  XIII 

Recueit  des  Travaux  Botaniques  Neerlandais  p.  p.  la  Societe  Botanique 
Neerlandaise.    Vol.  i6,  livr.  i.  2.    Groningue  19 19. 

Onderzoekiiigen  gedaan  iu  het  Physiologisch  Laboratorium  der  Utrecht- 
sche  Hoogeschool.  5.  Reeks.  Register  van  1897  tot  19 18.  Utrecht 
1919. 

Provinciaal  Utrechtsche  Genootschap  van  Künsten  en  Wetenschappen: 
Vries,  Hugo  de,  Opera  e  periodicis  collata.  Vol.  2.  ebd.  1918.  — 
Bloys  rnn  Treslonrj  Prins,  P.  C,  Genealogische  en  heraldische 
gedenkwaardigbeden  in  en  uit  de  kerken  der  j)rovincie  Utrecht 
ebd.  1919. 

Italien. 

Baccolta  Vinciana    presso   L'Archivio    storico    del    comune    di  Milano 
Fase.  9  (1913 — 17).    10  (1919).    Milano  1918.  19. 

Eendiconti  del  Circolo  Matematico  di  Palermo.  Pubblicazione  biüie- 
strale.    T.  40.  41.  42.  43,  Fase.  i.    Palermo  1915  — 19. 

Mitteilungen  des  Kais.  Deutsch.  Archaeol.  Instituts.  Römische  Abtei- 
lung.   Bd.  32,   1917,  3—4.    Rom,  Berlin   1917. 

Atti  della  R.  Accademia  delle  scienze  di  Torino.  Vol.  49—54.  Torino 
1914— 19. 

Memorie  della  R.  Accademia  delle  scienze  di  Torino.  Ser.  2.  T.  64.  65. 
66,  P.  I.    ebd.  1914— 16. 

Osservazioni  meteorologiche  fatte  .  .  .  all'  osservatorio  della  R.  üniver- 
sitä  di  Torino  (R.  Accad.  delle  sc.  di  Tor.)  nelF  anno  1913.  14-  15. 
ebd.  1914  fF. 

Norwegen. 

Bergens  Museums  Aarbok.  Histor.-antikvar.  Rsekke.  191 7 — 1918.  H.  3. 
—  Naturvidenskabel.  Rsekke.   1917— 1918.    H.  i.   Bergen  1918.  19. 

Sars,  G.  0.,  An  account  of  the  Crustacea  of  Norwaj.  Suppl.  P.  ijz. 
ebd.  1919. 

Rußland. 

Fünfzigjährige  Mittehverte  aus  den  meteorolog.  Beobachtungen  1866 
bis  1915  für  Dorpat.  (Meteorolog.  Observatorium  der  Universität 
Dorpat)    Tartus  1919. 

Schweden. 

c 

Acta  Universitatis  Lundensis.  (Lunds  Universitets  Arsskrift.)  Ny  Följd. 
Första  Avd.  13.  14.  Andra  Avd.  13.  14  {14  =  Festskrift.  Utg.  av 
Lunds  Universitet  vid  dess  250.  ärsjubileum.  1918.  Avd.  i.  2). 
Lund  1918. 

o 

Humanistiska  Vetenskapssamfundet  i  Lund.    Arsberättelse  191 8 — 1910. 

ebd.  0.  J. 
Acta  Mathematica.  Bsg.y.  G.  3Iitiag-Leffler.  42,1.2.  Stockholm  1919. 
Arkiv  för  Botanik,    ütgifvet  af  K.  Svenska  Vetenskap.»akademien.   Bd. 

15.    Hafte   I.  2.    ebd.  1917 — 18. 
Arkiv  för  Kemi,  Mineralogi  och  Geologi.    Utg.  af  K.  Sv.  Vetenskapaak. 

Bd.  7.    Hafte  i.  2/3.    ebd.  1917 — 19. 
Arkiv  för  Matematik,  Astronomi  och  Fysik.  Utg.  af  K.  Sv.  Vetenskapsak. 

Bd.  13.  14.    Hafte  1/2.    ebd.  191S— 19. 


^^^^  VeRZKICHNIS     DKR    KINQKGANOKNKN    ScHlUFTEN 

Arkiv  för  Zoologi.  Utg.  af  K.  Sv.  Vetcnnkapsak.  Ud.  ii.  II.  3/4.  ebJ. 
1918. 

K.  Svenska  VctenskapBakadomicns  Arshok  für  ar  1918.  ebd.  (UuDsala') 
1918.  ^^        ' 

K.  Svenska  Veteuskapsakadcmieiis  Jlaitdlingdr.  Ny  J'öljd.  Ud.  52.  57. 
50,  No.  7.    ebd    191 3— 19. 

MeddchDiden  Iran  K.  Vetenskapsakadoiuieus  Nobeliuslitut.  15d.  3.  Hafte  4 
—  5  (Fcstskrift  tili  Arrhenius'  60.  ilrsdag).    ebd.  1915  — 18.  19. 

Samuel  Klinf,'cnstiernaH  Leviiad  og  verk.  13iü<;raliHk  ekildriiig  iiig.  av 
K.  Svenska  Vetenskapsakad.  i.  Levnadsteckniiif,'  av  II"  Hildebr. 
Hihhbrandsson.    ebd.  Uppsala   mi'). 

Tac.  Berzclius,  Bref.  III,  i.  Utg.  .  .  .  gouom  H.  G.  Söderbauni.  6.  Brcf- 
växling  mellan  Berzelius  och  Tliomas  Thomson  (18 13— 1825).  Upp- 
sala 1918, 

Eutomologisk  Tidskrift.  Utg.  av  Eulomologiska  Föreningen  i  Stockholm 
-rg.  39  (1918).    ebd.  19 18. 

Nordiska  Museet.  Fataburen.  Kulturhistorisk  Tidskrift.  191 8.  H.  1—4. 
Stockholm   19 19. 

Fornräinun.  Meddelanden  frfm  K.  Vitterhcts,  Historie  och  Antikvitets 
Akademien.    Argängen  11.    ebd.  J916. 

Antikvarisk  Tidskrift.  Utg.  av  K.  Vitterbets,  Historie  och  Antikvitets 
Akademien.    Delen  20.    Haftet  2.    ebd.  1919. 

Stockholmer  Hochschidschriftcn.  (Austausch  mit  Stockholms  Högskolas 
Bibliotek.)    8  Schriften  aus  den  Jahren  1918.  19. 

Bulletin  mensuel  de  TObservatoire  mete'orologique  de  l'Univorsitö 
d'Upsala.    Vol.  50  (annee  1918).    Upsala  1918—19. 

'^oviVdmhkt  Handbibliotek.  7:  Meliit,  Elias,  Studier  över  de  norrländska 
Myrmakernasvegetation.  —  8:  Cornell,  Henrik,  Xorrlands  kyrkliga 
konst  under  medeltiden.    Uppsala,  Stockholm   1917.  18. 

Schweiz. 

Argovia.  Jahresschr.  der  Histor.  Geselkch.  des  Kantons  Aargau.  Bd.  37. 
Aarau  1918. 

Verhandlungen  der  Schweizer.  Naturforschenden  Gesellsch.  Jahresver- 
sammlung 98  (1916)  I.  II.    99  (1917)  I.  II.   191 8.    ebd.  1917.  18.  19. 

Helvetica  Chimica  Acta.  (Hersg.  v.  der  Schweizer.  Chemischen  Gesell- 
schaft.) Vol.  I.  Fase.  6.  2.  Fase.  1—6.  Basileae  et  Genevae 
1918.  19. 

Jahresverzeichnis  der  Schweizerischen  Hochschulschriften.  191 7—1 918. 
Basel  1919. 

Verh^pdluugeu  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel.  Bd.  29. 
ebd.  1918. 

Mitteilungen  der  Naturforschenden  Gesellsch.  in  Bern  aus  dem  Jahre 
1916.  17.  18.    Bern  19171?. 

Jahresbericht  der  Naturforschenden  Gesellschaft  Graubündens.  N.  F. 
Bd.  59  (1918/19).    Chur  1919. 

Compte  rendu  des  seances  de  la  Societe  de  physique  et  d'histoire  nae 
■  turelle  de  Geneve.    35.    1918.    No.  3.    36.    1919.   No.  2.  3.    Genev- 
1918.  19. 


Verzeichnis  der  eingegangenen  Scukiften.  XY 

Memoires  de  la  Societe  de  phjBique  et  d'hist.  naturelle  de  Geneve. 
Vol.  39.    Fase.  2  (Rapport  pour  Tannte  191 7.  18).    ebd.  0.  J. 

Anzeiger  für  Schweizerische  Altertumskunde.  Hrsg.  v.  d.  Direktion  des 
Schweizerischen  Laudesmuseums  in  Zürich.  N.  F.  Bd.  20,  1918. 
Heft  3.    21,  1919.    Heft  i — 3.    Zürich  1918.  19. 

Schweizerisches  Laudesmuseum  in  Zürich.  27.  Jahresbericht  (1918). 
ebd.  1919. 

Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte.     Bd.  44.    ebd.  1919. 

KeujahrsbJatt,  hersg.  v.  d.  Naturforschenden  Gesellsch.  in  Zürich.  Stück 
^'7  (1915)-    119  (1917)-    120  (1918).    121  (1919).    ebd. 

Viei'teljahrsschrift  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Zürich.  Jahrg.  63. 
1918.  Heft  3/4.    64.  1919.  Heft  1/2.    ebd.  1918.  19. 

Beiträge  zur  geologischen  Karte  der  Schweiz.  Text.  Neue  Folge. 
Lieferg.  26,  2.    Bern  1918. 

Beiträge  zur  Geologie  der  Schweiz.  Hersg.  v.  d.  Schweizer.  Geotechn. 
Kommission.  N.  F.  Lief.  26  (=  Beiträge  zur  geolog.  Karte  der 
Schweiz.  Spezialkarte  No. 84.  ürirotstockgruppe.)  Winterthur  191 8, 

MaUriaux  pour  la  carte  geologique  de  la  Suisse  .  .  .  Carte  speciale. 
Nouv.  ser.    Livr.  34  (64  de  la  collect,  entiere),  fasc.  2.    Berne. 

Geologische  Spezialkarte  des  Großherzogtums  Baden.  (Sendung  der 
Schweizer.  Geolog.  Kommission.  Im  Auftr.  der  Bibl.  des  Eidgenöss. 
Polytechn.,  Zürich.)  Blatt  145  (Wiechs-Schaffhausen)  mit  Erläute- 
rungen.   Heidelberg  1916. 

Nordamerika. 

The  John  Crerar  Library  ....  Annual  Beport  22  (1916).  23  (1917). 
24  (1918).    Chicago  1917 — 19. 

Boletin  de  la  Sociedad  de  Geogratia  y  Estadistica  de  la  Republica 
Mexicana.  Epoca  5,  t.  8.  Mexico  1918.  —  Indice  general.  i,  i 
(1839)  —  5,  7  (1918).  ebd.  1919  =  Reimpresion  del  t.  8,  5*.  ep.  — 
Santaella,  Joaquin.  La  industria  petrolea  eu  Mexico.  Mexico  1919. 
(Envio  de  la  Soc.  Mex.  de  Geogr.  y  Estad.) 

Memorias  y  Revista  de  la  Sociedad  Cientifica  „Antonio  Alzate".  Tomo 
38.    Nüm**  5 — 8.    Mexico  1919. 

Research  Puhlications  of  the  University  of  Minnesota.  Vol.  8.  No.  5 
=  Studies  in  Language  and  Literature.  Number  7.  Minneapolis 
1919. 

The  Wilson  Bulletin.  A  quarterly  Journal  of  ornithology.  Official  organ 
of  the  Wilson  Ornithological  Club  a.  the  Nebraska  Ornithologist's 
Union  (später:  The  Wils.  Bull.  An  illustr.  quarterly  magazine,  de- 
voted  to  the  study  of  birds  in  the  field).  Vol.  28  (N.  S.  Vol.  23). 
31  (N.  S.  Vol.  26).    Oberlin,  Ohio  1916.  19. 

University  of  Toronto  Studies.  History  and  economics.  Vol.  3,  No.  2. 
Toronto  1919.  —  Eevieiv  of  historical  publications  relating  to  Ca- 
nada.  Vol.  22  (1917.  18).  ebd.  1919.  —  Papers  from  the  physical 
laboratories.  No.  59.  60.  61.  ebd.  1918.  —  Geological  Series.  No.  10. 
ebd.  1918. 


XVI  VkK7.EICHMS    DKR    KINQKaANOENKN    ÖCUIUFTKN. 

Südamerika. 

Boleti»  de  la  Academia  Nacional  de  Ci(MHia><  en  Cördoba  (Repül)lira 
Argeiltina).  Toino  18.20.21.22.  Cördoha  1905.  15.  ßnenoH  Aires 
1916.  17. 

Contrihucion  al  e.studio  de  las  cieiieias  finicas  y  niatemäticas.  (Univer-!. 
nae.  de  La  Plata.  PuMieaeioiies  de  la  t'aeidt.  de  eieiic  fis.,  mate- 
inät.  y  astronöin).  Serie  niateniät.-tisica.  Vol.  2,  Entrega  5''(No.  43). 
—  Serie  tecnica.    Vol.  2,  Entrega  i"  (No.  41).    l^a  IMata  1919. 

Asien. 

Soisinological  Bulletin.  Batavia  Observatory,  Java  (K.  Mag»,  en  Meteor. 
Observatorium  tc  Weltevredcn).     1919.  .luly.  Angnst 


2.  Einzelne  Schriften. 

Giirley,  Rerere  JRaridoJph,  Chapters  for  a  Penultimate  Philosophy.  9  — 11 
(]?.  4).    12—12"  (P.  5").    New  York  1915.  16. 

Lmz,  Max,  Ge.scbicbtc  der  Königlichen  Friedricb-Wilhelms-Universität 
zu  Berlin.  2.  Band,  2.  Hälfte:  Auf  dem  Wege  zur  deutschen  Ein- 
heit    Im  neu«n  Reich.    Halle  a.  S.   191 8. 

Reininghaus,  Fritz,  Neue  Theorie  der  Biegungs-Spannungen  ....  3.  Aufl. 
Zürich  [19 19]. 

Sachse,  F.,  Unordnung  u.  Unregelmäßigkeiten  beim  Gebrauch  unärer 
Zahlen  .  .  .    Dresden-N.  19 19. 


SITZUNG  AM  I.  FEBRUAR  1919. 

Der  Sekretär  legt  eine  Abhandlung  von  Herrn  Delbrück  über 
Germanische  Konjunktionssätze  vor.  Sie  ist  in  den  Abhandlungen 
Bd.  36,  Nr,  4  erschienen. 

SITZUNG  AM  3.  MAI  1919. 

Hen-  Partsch  spricht  über  die  Stromgabelungen  der  Argo- 
nautensage (erschienen  in  den  Berichten  Bd.  71,  Heft  2),  Herr 
Förster  über  die  Beowulf handschrift  (erschienen  in  den  Berichten 
Bd,  71,  Heft  4),  HeiT  Schmausow  über  das  Franciscusfenster  in 
Königsfelden  und  den  Freskenzyklus  in  Assisi  (erschienen  in  den 
Berichten  Bd.  71,  Heft  3). 

Klassensitzungen  sollen  künftig  im  Januar,  Februar,  Mai,  Juni, 
Juli,  November,  Dezember  stattfinden.  Als  Leibniztag  wird  der 
I .  Juli  begangen  werden,  die  zweite  öffentliche  Gesamtsitzung  dem 
Wintersemester  vorbehalten. 

GESAMTSITZUNG  AM  17.  MAI  1919. 

Nach  einer  Ansprache  des  Sekretärs  redete  Herr  Wiener  über 
den  Wettstreit  der  Newtonschen  und  Huygensschen  Gedanken  in 
der  Optik.  Der  Vortrag  ist  Bd.  71,  Heft  2  der  Berichte  der  mathe- 
matisch-physischen Klasse  erschienen. 

NICHTÖFFENTLICHE  GESAMTSITZUNG 
AM  5.  JULI  1919. 

Verhandelt  wurde  Geschäftliches.  Das  Ministerium  ist  damit 
einverstanden,  daß  die  Gesellschaft  der  Wissenschaften  vom  i.  Juli 
1919  an  den  Namen  „Sächsische  Akademie  der  Wissenschaften  zu 
Leipzig"  führt,  und  hat  den  vorgelegten  Entwurf  einer  neuen  Satzung 
genehmigt. 

l>lUl.-hist.  Klasse  1919    Bd.  LXXI.  I 


2*  SlT/irNdSHKUICHTK. 

SITZUNG  AM   3   ^l'iA   loig. 

Herr  Kürtk  tru^'  üher  iioiuto  KoiiuHliciii'uiHle  vor  (s.  Beriehto 
lid.  71,  Nr.  ö),  HoiT  Kko.maykk  über  die  Nioderlag«^  von  Ciuidiuin 
(wird  zusiunmen  mit  doin  Vortra«,'  über  die  Schlacht  an  der  Allia 
in  den  Abhandlungen  erscheinen).  Eine  durch  den  stellvertretenden 
Sekretär  Herrn  Hkinze  vorgelegte  Arbeit  von  Herrn  Kcscheu  über 
die  hippokratische  Schrift  von  der  Siebenzahl  luid  ihr  Verhältnis 
zum  Altpytliagoroismus  ist  inzwischen  in  den  Herichteii  Bd.  71, 
Heft  5  gedruckt. 

GESAMT.SITZUNG  AM   14.  NOVEMBER  191 9. 

Nach  einer  Ansprache  des  Sekretärs  sprach  Herr  Voi.kklt 
über  das  i'ortleben  der  Hegeischen  Ideen  auch  nach  der  Zersetzung 
der  Schule  Hegels  und  ihren  Eintluß  auf  die  deutsche  Philosophie 
der  Gegenwart. 

Die  Gedächtnisreden  über  die  im  laufenden  Jahre  verstorbenen 
Mitglieder  der  mathematisch-physischen  Klasse,  die  Heiren  Beck 
und  Bruns,  werden  von  den  Herren  Kossmat  und  Hergi-otz  ge- 
halten. 

Herr  Pn.  A.  Becker  wii-d  zum  ordentlichen  Mitglied  der  philo- 
logisch-historischen Klasse  gewählt. 

In  der  anschließenden  Klassensitzung  wird  Herrn  Dr.  W.  Dkost- 
Marburg  eine  Rate  des  Springerstipendiums  im  Betrag  von  1000  M. 
verliehen  und  eine  durch  den  stellvertretenden  Sekretär  Herrn 
Heinze  vorgelegte  Arbeit  von  Herrn  Keil  für  die  Berichte  (Bd.  71, 
Heft  8)  angenommen. 

SITZUNG  AM  6.  DEZEMBER  1919. 

Herr  Körte  legt  eine  Untersuchung  von  Herrn  LiPSius  vor: 
„Lysias'  Rede  gegen  Hippotherses  und  das  attische  Metoikenrecht". 
Sie  ist  in  den  Berichten  (Bd.  7 1 ,  Heft  9)  veröffentlicht  worden. 


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CIECOTATE  AS  HONOCmtB 

AS      Sachsische  Akademie  der 
182      Wissenschaften,  Leipzig. 
S21^     Philologisch-Historische 
Bd. 70-71  Klasse 

Berichte  über  die  Ver- 
handlungen 


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