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BERICHTE
ÜBER DIE
YERHANDLUNGEN
DER SÄCHSISCHEN
GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU LEIPZIG
PHILOLOGISCH-HLSTORISCHE KLASSE.
SIEBZIGSTER BAND
1918
MIT 15 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
BEI B. G. TEUBNER
- •»,#-••3.:
As
162
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I»
" •
INHALT.
Heft Feite
I E. Bethe, Medea-Probleme ) — 22
II W. H. Röscher, Der Omphalosgedanke bei verschiedenen
Völkern, besonders den semitischen. Mit 15 Figuren im Text i — 115
III A. Köster, Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theo-
dor Storms I — 73
IV R. Heinz e, Die lyrischen Verse des Horaz i- — 91
V H.Zimmern, Zum babylonischen Neujahrsfest. Zweiter Beitrag i— 52
VI K. Brugmann, Verschiedenheiten der Satzgestaltung nach
Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den indo-
germanischen Sprachen i — 93
Vn A. Körte, Worte zum Gedächtnis an Rudolf Hirzel .... 3* — f^y
G. Seeliger, Albert Hauck I7»_30*
V^erzeichnis der Mitglieder der Sächsischen Gesellachaft der
Wissenschaften I
Verzeichnis der eingegangenen Schriften VP
(^itzungsprotokolle l* — 2*
Bericlite über die Verhandlungen
der Konigl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologiscli-historisclie Klasse
70. Band 1918 i. Heft
E. Bethe
Medea-Probleme
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1918
/
Vorgetragen tür die Berichte am 4 Mai 19 18.
D&a Manuskript eingeliefert am 4. Mai 19 J 8.
Drucktertig erklärt am 30. Juni 1918.
Die Unmöglichkeit, zwei Stelleu der Euripideisclien Medea
zu verstehen, haben mich zur Überzeugung geführt, daß daa
Stück nicht ganz nach einheitlichem Plane ausgearbeitet ist.
Da an spätere Überarbeitung im Ernst nicht zu denken ist —
die Vermutung stammt aus dem unberechtigten Verlangen,
alle Bruchstücke der Ennianischen Medea bei Euripides wieder-
zufinden — so muß der Dichter seinen ursprünglichen Ent-
wurf während der Arbeit geändert haben.
Mich bekümmert nicht das Bewußtsein, wie unwillkom-
men und verächtlich modernen Philologen solche "zersetzende
Kritik' ist.
Heute gilt die Losung: das Kunstwerk als Ganzes künst-
lerisch erfassen. So gewiß das richtig und gut ist — von
Verständigen wurde es längst still betrieben — mit pro-
grammatischen Trompetenfanfaren und eigener Anpreisung
künstlerischer Fähigkeiten, mit wahlloser Begeisterung, die
triviale Nachahmung und mühsam Erquältes ebenso hoch hält
wie das Herrlichste, mit eilfertigem Fleiße alles mit ästheti-
schem Schneckeuschleim zu verschmieren, fördert man solche
feinen Aufgaben nicht, am wenigsten das Verständnis Homers.
Doch auch seine Kritiker sind heute nur gar zu geneigt, ver-
standesmäßige Einzelaiistöße durch Hinweise auf den künst-
lerischen Zweck des Ganzen zu beschönigen. Nachdem bald
ein Jahrhundert lang den feineu Vergil die Buben gemeiatert
und grobe Phiiologenhände gemißhandelt hatten, war es not-
wendig, ihm wieder Achtuno- zu schaffen und sein Verständnis
zu erschließen. Aber nun soU auch aUes bei ihm im Lote
sein. Ich kann nicht finden, daß meine Nachweise (Rh. Mu».
XLVI, XL VII 189 1/2), die Laokoonepisode gehöre nicht zum
ursprünglichen Plane des zweiten Aneisbuches und in einigen
Eklogeu seien zwei nicht zusammenpassende Motive vereinigt
2 E. Bethb: [70, 1
tlurc'li IIkinzics (Vergils Epische Technik) iiiul Leos (Hermes
XXXVIII 1903) Vertei(li<2;iint; an zwinpfeMilci- Knif't verh)ren
hätten. Freilich habe ich aber auch nie behauj)tet, (biü die
Gedichte durch diese /wiespältif^^e Entstehung Schaden ge-
uommen hätten. Im Gegenteil hal)e ich ausdrücklich hervor-
gehoben [\\\\. Mus, Xli\'ll 590), wie stimmungsvoll die erste
Ekloge wirke, trot/dem sie ein l)is in alle Voraussetzungen
und Einzelheiten durchsichtiges Bild nicht gebe, sie für diesen
ihren Zweck also solcher Klarheiti gar nicl^t bedürfe. Zum
vollen Verständnis aber des Gedichtes führt m. E. nur eine
Analyse, wie ich sie vorgelegt. Zugleich kann allein diese
Methode bei antiken Schriftstellern Einblick in das Werden
ihrer Werke geben, um das man sich auch bei bescheideneren
neueren Dichtern durch Aufstöbern ihrer Entwürfe und Tage-
bücher so heiß bemüht.
Die Aufhellung der Entstehungsgeschichte der Medea ist
ein Ergebnis der vorliegenden Arbeit, aber es war nicht ihr
Ziel, sondern ausgegangen ist sie von der Interpretation. Ihr
Mißlingen führte mich auf die Gründe und sie zu weiteren
Schlüssen.
I
In der Euripideischen Medea beginnt die Heldin, nach-
dem sie soeben von Kreon mit ihren Kindern des Landes
verwiesen sich die Erlaubnis errungen hat, bis Sonnenunter-
gang zu bleiben, ihren Racheplänen feste Gestalt zu suchen.
Dies Bewußtsein, wie knapp die Stunden sind, die ihr
zur Verfügung stehen, spornt sie aus dumpfem I^achebrüten
und ziellos wilden Verwünschungen zur Tat. Die Sicherheit,
die ihr durch die gutmütige Torheit Kreons für diese Zeit
gewährt ist, gibt ihr die Zuversicht, daß sie sie ausführen
wird (371 — 5). Sie erwägt, welchen von den vielen ihr offenen
Mordwegen sie gehen soll. Da verstehe ich die Verse 386 — 394
nicht.
Vortrefflich läßt Euripides zunächst ihre wilde Leiden-
schaft sie zu handgreiflicher Gewalttat drängen. Den Palast
70. 1 1 Medea-Probleme. 3
will sie anzündeu, der Nebenbuhlerin auf dem Brautbette
das Schwert ins Herz stoßen.
Doch diesen in erster Aufwallung jäh vorgestoßenen
Worten folgt alsbald stilles und ernüchtertes Besinnen: 'schon
bei der Annäherung könnte ich ertappt werden, mein Tod
wäre sicher und meine Feinde würden höhnend triumphieren.
Am besten ist mein eigenster Weg, für mich der grade:
durch Gift will ich sie morden.'
Da bricht ^ie ab. Plötzlich stellt sie die Tat als ge-
schehen hin, ehe sie auch nur mit einem Worte erwogen
hat, wie sie auszuführen sei, ob sie gelingen könne. 'So sind
sie denn tot; aber keine Zuflucht habe ich vor den Rächern.
Warte ich noch eine kleine Weile und zeigt sich mir dann
ein sicherer Turm, dann will ich 's heimlich listig tun; treibt
mich jedoch unweigerlich das Unglück hinaus, so will ich
sie tollkühn mit dem Schwerte töten, auch wenn ich dabei
sterben soll.'
Ich stutze zunächst bei ihrem Worte 389 (isCvaö' ovv
6Ti G^iXQOV iQOvov rjv iiBV Ttg r^fttv TtvQyog KöcpaXijg (pccvri, öoXa
lieteißi tövds ital 6iyfi (p6vov. Das ist das Gegenteil von allem
was wir erwarten dürfen, was wir, vom Dichter geleitet, er-
warten müssen. Mit feiner Kunst hat er Medea aus ihrer
dumpfen Schmerzversunkenheit aufgepeitscht durch Kreons
Befehl, sofort Haus und Land zu verlassen: das gibt ihr
rasch ihre Spannkraft wieder. Ohne Besinnen packt sie die
Gelegenheit der Zwiesprache mit dem aufgeregten Schwäch-
ling, der unter polternder Energie (27 ijff., 352 ff.) vergeblich
seine angeborene dumme Gutmütigkeit zu verbergen sich müht,
und lockt ihm Aufschub um wenige Stunden ab. Doch kaum
ist er gegangen, da nutzt sie die kostbare mit schwer abge-
rungener Demut erkaufte Spanne Zeit zu Mordplänen, die
einander überstürzen. Schon war sie auf ihrem 'geraden Weg'
(385) listigen Giftmordes — da soll sie plötzlich warten?
Worauf warten? Was kann ihr auch nur die leiseste Hoff-
nung geben, daß sich ihr, der Verlassenen, in der feindlichen
Fremde eine Zuflucht auftun werde, ehe der Tag sinkt?
^ E. Hi'.iiir.: |7(), i
Dies Wiirtcu, unvcrständlicli an :'i('li, läuft der klaron
kihistlerisi'hen Linicnlilhriiiii:; dos DiolittTw stracks entzogen.
Uoch Jioili nirlir: Pfr (icdiuike. dou sie nun 39oflf. ixus-
ajiriclit, ist nur sprachlii-li Ivlar: 'ErölTnet sich eine M()L,^licli-
koit, mich in Sicherheit zu bringen, so will icli meine Zanher-
künste üben; wenn nicht, setze ich auch mein Leben aufs
Spiel.' Unverständlich ist auch er. Warum will sieden sicheren
Weg der Hinterlist, ihr gewiesen durch ihre Art und Kunst,
verschmähen, falls ihr keine Zuflucht winkt, um den gefähr-
licheren, wahrscheinlich aussichtslosen einzuschlagen? Sie hut
ja doch eben (383) die offene Gewalttat doshalb verworfen,
weil sie vielleicht schon auf der Schwelle des Palastes ge-
packt, nicht bis an ihre Nebenbuhlerin, geschweige an alle
ihre Feinde herankommen würde. Dagegen hat sie kein
Mittel, und das Entsetzen vor der Möglichkeit, statt ihre
Hache zu kühlen, ihren Feinden billigen Triumph zu ver-
schaffen, sollte die unheimlich kluge, leidenschaftliche Frau
doch jetzt mit derselben Wucht packen wie vorher. Aber
nichts davon. Als wäre plötzlich ihr die Sicherheit des Ge-
lingens der tollkühnen Tat gegeben, fährt sie 395 fort: 'denn
bei meiner Herrin Helferin. Hekate Niemand soll es gut be-
kommen, mein Herz zu kränken.' Was begründet sie unter
Anrufung der Hekate? Die offene Gewalttat!
y.xEva 6(f£, r6X^i]g ö'h^l TCQog ro yMQTigov.
395 Ol' yaQ ^u trjv dsönoLvav, r^v iyco Geßoo
^uccXiöra TcdvTOV zccl ^vvsQybv sD.ö^rjv^
'Exdzrjv ^iv%otg valovöav eörCag f,u^^,
Xcdgav rig avrav rov^bv dXyvvsi z£aQ.
Das ist widersinnig. Nicht das Schwert drückt ihr He-
kate in die Hand, zur Tücke Gift und Zauberei hilft sie ihr,
auf ihrem 'graden Wege' ist sie ihr Fükrerin. Und das ist
denn auch der Gedanke des Folgenden. An List und Gift
denkt sie doch allein, nicht ans Schwert, wenn sie 401 sagt:
dXX^ slu. (pddov nr/öhv cov i^mtörcidai,
Mr]d£ia, ßovXsvovöa xal TSXvcofiEvrj.
70, i] Medea-Puobli^me. 5
Zwischen 394 und 395 zerreißt der Zusammenhang und
die ganze Versreihe 389 — 393 ist aus dem Gedankengange
dieser Rede und zum Teil aus der Situation heraus nicht ver-
ständlich. Mit ihnen gehören 386 — 388 untrennbar zusam-
men. Sie fallen mit ihnen. Und siehe da, jeder Anstoß ist
gehoben, tadellos fließen nach Aussonderung von 386 — 394
Rede und Gedanken. Die tollkühne GcAvalttat, ihr zuerst von
der Leidenschaft eingegeben, hat sie 383 verworfen, ihren
eigentlichen Weg hat sie 384/5 gefunden q^aQ^axotg avtovg
iXtlv. Dazu paßt die Begründung 395 und der Schluß der
Rede: 'bei meiner Göttin und Helferin Hekate Niemand soll
mich ungestraft beleidigen, ich werde ihnen eine bittere Hoch-
zeit bereiten- Wohlan, Medea, übe nun deine Listen und
Künste.'
So hatte Euripides diese Medearede zuerst ge-
schrieben ohne die Verse 386 — 394. Und doch kann
kein Zweifel sein, auch ihre uns überlieferte Fassung stammt
von Euripides. Nur er konnte Verse von solcher drama-
tischen Kraft, Prachtstellen für den Schauspieler schreiben
wie 3S6ff.
dsv nal dij re&väöL' ri'g ^s de^stai :i6Xig]
Und wie ihr Stil, so zeugt der Aufbau der Tragödie für
ihre Echtheit. Sie bereiten die Aigeusszene vor. Seit Aristo-
teles (Poet. 1461 B 22) und gewiß schon vor ihm getadelt,
wirkt sie immer wieder auf den kühlen Leser wie auf den
begeisterten Verehrer wie 'ein Guß kalten Wassers'. Es ist
eine Erlösung: Euripides hatte seine Medea ursprüng-
lich ohne die Aigeusszene geplant, erst nachträglich
hat er sie eingefügt, und, um sie wenigstens einiger-
maßen zu verbinden, hat er 386 — 394 eingelegt, mit starker
Bühnenwirkung aber — wie das zu gehen pflegt — nicht,
ohne Sinn und Zusammenhang der Rede empfindlich zu
stören.
Die Aigeusszene, ein kümmerliches Stück Poesie, trägt
selbst, wie viele gefühlt, deutliche Anzeichen der so erwie-
senen späteren Einarbeitung. Aigeus kommt hereingeschneit,
6 E. Betiie: [70, '
80 uuinotiviort wie wohl nioiunls oiiie IVtsuii in ^\ns orluil-
tenen Tragiulieu. Er brgrüßt die Mcdea, uls wäre es eelb.st-
veistäiullicli, lUiß er sie iu Koriuth träfe, und mit einer
Herzlichkeit tut er es — aucli sie erwidert sie — die weder
in dieser Gelegenheit ihres Zusammentreflens Erklärung findet,
noch durch alte Freundschaft motiviert ist; auch die Athener
wußten 431 nichts davon, daß die beiden in alter Beziehung
gestanden hätten. An den Ilaaren herbeigezogen ist das Motiv
zur jetzigen Reise des Aigeus nach Trözen — um Pittheus
das Orakel mitzuteilen, das ihn doch auf geradestem Wege
nach Hause zu eilen hätte veranlassen sollen! — nur damit
er Medea in Korinth begegnen kann. Ebenso oberHächlich
Avindet sich der Dichter aus der aufklaffenden Schwierigkeit,
daß Aigeus, den er als hilfsbereiten Kavalier hinstellen
wiU, Medea, die seinen Schutz so dringend augerufen, nicht
o-leicli mitnimmt: könnte er doch nur so ihr und ihren Kin-
dern wirklich Sicherheit geben: 'ich wiU mir auch von Frem-
den keine Schuld vorwerfen lassen (730), deshalb sieh du
selber zu, wie du nach Athen kommst.' Ein sonderbarer
Kitter und ein wunderlicher Logiker. Kreon hat Medea aus-
gewiesen, nur wider Willen ihr noch wenige Stunden Frist ge-
geben. Jason wiU sie los sein. Beide würden nur mit Freude
die Reisegelegenheit begrüßen, die Aigeus ihr anzubieten
die Ritterpfliclit hat. Nein, Anfang wie Schluß der Aigeus-
szene sind wenn überhaupt, so nur dann entschuldbar, wenn das
Stück schon im Entwurf fertig war und diese Szene noch in
den vollendeten Plan ohne Aufwand an Kunst und Liebe ein-
geschoben wurde.
Es kann im Ernst nicht behauptet Averden, daß die
Aigeusszene für die dramatische Entwicklung notwendig wäre.
Medea braucht keine Zuflucht. rC ös ^iol trjv m xigdog,
(f£v (p€v d^avdtoj y.arulv6aC^av ßioxäv (jtvysgäv itQoXiiiovöa
ruft sie schon im Anfang (145), ti ftot If^v xtQÖog-, wieder-
holt sie 798, als sie die Vergiftung der Braut und den Kinder-
mord plant. Und das, obgleich uns eben noch der Dichter
vorgeführt hat, wie sie von dem nur zu diesem Zwecke her-
70, i] Medea-Probleme. " 7
beigeführten Aigens sieb eine sicbere Zuflucbt und Zukunft
erbettelt bat.^)
Wozu das, wenn ibr am Leben nichts mehr li^gt? Das
stimmt beides nicht zusammen. Die verzweifelte Äußerung
des Lebensüberdrusses würde durch die unglückliche Aigeus-
szene sogar in den Verdacht leerer Phrase kommen, wenn die
Kunst des Dichters seiner Heldin nicht eine leidenschaftliche
Tiefe der Liebe und des Hasses eingegeben hätte, die uns
überzeust, daß der Vulkan ihres Herzens ausgebrannt ist,
wenn sie ihre Rache um den Preis ihrer Kinder erkauft hat.
Ihr Leben ist zu Ende. Nur mit dem Leibe lebt sie fort.^)
Der Zuschauer nimmt an ihrem ferneren Schicksal nicht mehr
Anteil. Jedenfalls nicht der Zuschauer, den sich Euripides
und jeder Künstler wünscht, ein Zuschauer, der seinen künst-
lerischen Absichten zu folgen vermag, der mit des Dichters
Geschöpfen lebt und fühlt und stirbt. Ein solcher wünscht
mit Medea, daß ihre Rache gelinge, daß sie nicht vor der
Ausführung ertappt und getötet werde — das wäre ihm so
unerträglich wie ihr (381) — ob sie aber zu Aigeus oder
sonstwohin fliehen wird, ist ihm ganz gleichgültig, nur daß
sie überhaupt entkomme, ist sein Wunsch. Und daß dies
gelinge, davon überzeugt ihn ihre Zauberkunst und schließ-
lich sinnfällig der Helioswagen, über den sie verfügt.
i) Nach kurzem Jnbel, jetzt habe sie in Asien einen Hafen für
ihre Pläne, enthüllt sie sie dem Chor. Aber die ihr von Aigeus ge-
botene Sicherheit spielt nicht herein. Sie erwähnt sie nicht nur nicht,
sie sagt sogar ausdrücklich (798): 'ich habe nicht Heimat, nicht Vater-
haus, nicht Zuflucht.' Denn so ist anoGXQOfpx] y.civ.&v zweifellos zu er-
klären. Die Interpretation 'es gibt kein Ausweichen mehr vor dem
Verbrechen' paßt nicht zu ovxs (loi Tcut^lg ovx olv.og %6xiv. Die Paral-
lelstelle 258 zeigt es deutlich:
ov (irix^Qi', oi)x ccS(Xq}6v, ovjjt avyyBvi)
^s9oQ(ii(}a6d-aL xfjöS' ^jjoi'ffa av^(poQäg
2) Euripides hat das angedeutet, aber durch Medeas Haß und
Triumph (1362) beeinträchtigt. Grillparzer hat es tief empfunden und
ihm in seiner Schlußszene erschütternden Ausdruck verliehen.
8 • E. Rktiii;: [70, i
Nicht von alliMi wiril die Eutbebrlichkeit der Aijjjeus-
szene zngostaiulou. AudtTc hestreiteu sie. Wioilcr iuul(Me
geben sie zu, hoben ubor doch hervor, daß sie wesentlich sei
für Medons l*liine und den Kindermord, din in der Tut uu-
niittellmr naoli ihr und ph'Uzlicli f(M-ti^^ ])is in die Kiii/clheiton
von ihr mitgotoilt werden. Am weitesten ist v. AkiNIM ge-
gan<:jon (Eiuleituu«,' .•meiner Ausgabe ö. XIX) mit der Behaup-
tnn«T. daß erst durch das Gespräch mit dem kinderlosen und
von Sehnsucht nach Kindersegen erfüllten Aigeus 'die Keime
zu dem Gedanken des Kindermordes in Medeas Seele gelegt
würden'. Er gesteht freilieh, daß der Dichter diese Motivie-
rung nicht deutlich herausgearbeitet habe. Nein, das hat er
gewiß nicht getan, er hat sie nicht einmal leise angedeutet,
weder während ihres Gesprächs mit ihm, noch nachher. Mit
771 ist die Aigeusepisode vollkommen abgeschlossen, auch
für Medea.
Was sie mit Schlangenklugheit eben von ihm erreicht
hat, und was sie laut bejubelt, die sichere Zuflucht in Athen,
das bildet in ihrer Rechnung keinen Posten. Das muß doch
auffallen. Noch auffallender ist für den, der ihr nachrechnet —
und das ist gewiß berechtigt dieser ebenso kühl erwägenden
wie leidenschaftlich hassenden Verbrecherin gegenüber — daß
sie der heiß begehrten (390) und glücklich errungeneu Zu-
flucht nicht ernstlich gedenkt, als sie von Mutterliebe über-
wältigt erwäcrt, ob sie ihre Kinder nicht retten könne 10450".,
und gerade hier liegt wieder ein Interpretationsproblem.
II
Trotz der Versicherung bester Euripideskenner, Medeas
große Rede 1020 — 1080, die ihren Seelenkampf spiegelt, sei
tadellos, und gerade in ihrem Hin und Her meisterliche
Poesie, muß ich gesteben, ich verstehe sie trotz Erklärungen
und Paraphrasen und Übersetzung nicht in allen Teilen, so
lebhaft auch ich empfinde, wie der Dichter die Zerrissenheit
dieser wilden Seele durch zerrissene Rede anschaulich zu
machen sich bemüht.
V
70, i] Medea-Probleme. 9
1057 ^fj ^-^Tcc, ■9-Vfta, ^i] 6v y eQyaörj rud?.
sa6ov avTovg, a rdlmf, (pEl6ai rtxvav.
ixsl fied' rifiäv ^avrsg svcpQavovai 6s.
[iä tovs ^0^9 JiÖ7j vsQtEQOvs aldötogas
1060 ovtoi nox Eörcci rovO-' oTCcog syßQOig iya
Ttatdag 7taQy](3(o touj e^iovg nad-vß^iöcci.
1064 Ttccvtag TCBTCQaxTKi tavta xovk ixcpsvistcci.
xccl öl) 'nl XQKÜ öxicpavog, iv TrsTtloiöi ds
vvncpi] rvoavvog blhnai, öarp otd' sya.
G. Hermann hat den Finger auf die wunde Stelle ge-
legt: 1058 ist in diesem Zusammenhange unmöglich, so ver-
ständlich es an sich ist, daß die Mutter mit der Vorstellung
spielt, sie werde ihre Kinder mit sich wegführen — a^o
xaldag ix yaCag iiiovg (1045) und 'dort' werden sie glück-
lich mit ihnen leben. Denn entweder — so faßte G. Hermann
und seine Nachfolger die Stelle — muß man 1059 — 61 mit
1064 ff. zusammennehmen und erklären: 'ich kann und will
meine Kinder nicht der Rache der Korinther überlassen, die
unweigerlich sie treffen wird, da schon die Prinzessin in dem
von ihnen überbrachten Schmucke brennt', oder 1059 — 61
werden mit 1058 verbunden und ergeben: 'dort draußen werde
ich meiner Kinder mich freuen, denn mit mir muß ich sie
nehmen, da sie hier der Rache der Korinther verfallen wären'
Im ersten Falle reißt der Zusammenhang hinter 1058 ab, im
zweiten mit 1061. Aber mag man auch mit G. Hermann und
andern durch kühne Änderungen den Sinn des untadeligen
Verses verkehren oder annehmen, daß nach 1061 durch große
Pause und stumme Gebärde der Schauspieler kenntlich machen
sollte, Medea reiße plötzlich sich von diesem Gedanken los
und mache sich klar, es sei zu spät — die Schwierigkeit liegt
tiefer, sie ist nicht durch kleine Mittel zu heben. Sie liegt in der
Zwiespältigkeit der Begründung des Kindermordes.
Durch das ganze Stück geht sie hindurch, an dieser Stelle
wird sie greifbar. Hat Medea keine Möglichkeit, die Kinder
zu retten, so ist erstaunlich, daß diese auch in heißester Leiden-
schaft kühle Rechnerin die Rettung nicht nur erwägt, sogar
lo E. l^r.Tiu;: [70, i
beschließt 1040—1048 und nocli einmal 1056 — 1058. Noch
viel erstaunlicher nber ist, daß sie diesen Gedanken nicht
wcj^en seiner Unmöglichkeit aufgibt, sondern aus Hacbsucht:
1049 xniToi ri Ttädio)] ßovXofua y^hor 6(fXfiv
roXinjt'ov rdÖs.
Sieht sie aber einen Ausweg, auf dem sie auch ihre Kinder
mit sich Avegführen kann in Sicherheit, so muß man doch
fragen, warum tut sie's nicht. Sie hat ihn aber wirklieh.
Zweifellos kann die von Aigeus erbetene Zuflucht ihren Kin-
dern so gut wie ihr selbst Sicherheit geben. Und die Zauber-
kundige würde sie auch lebendig entrücken können, wie sie
ihre Leichen mit sich nimmt. Ist es doch verkehrt zu be-
haupten und nichts gibt Berechtigung dazu, daß Helios ihr
seinen Wagen erst in äußerster Not überraschend gesandt
habe. Sie weiß ja doch schon, daß ihr ein übernatürliches
Mittel zur sicheren Flucht zu Gebote steht, als sie Aigeus
an lieht, und dieser ihr die Bedingung stellt, sie solle selber
zusehen, wie sie zu ihm komme; sonst hätte ja die Szene
keinen Sinn, Der Dichter hat das deutlich genug gemacht.
Warum läßt er nun seine Medea diesen nächstlietjenden Ge-
danken nicht wenigstens verfolgen, als sie U7iter den Augen
ihrer Kinder schwach wird? Warum nicht schon fassen, als
sie, der athenischen Zuflucht sicher, ihre Rachepläne entwirft?
Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Gedanken zu
Ende gedacht Medea vom Kindermorde abbringen
mußten. Was Medea will, hätte sie durch Wegführung der
Kinder ebenso sicher, für sich selbst aber ganz ohne Schmerz
erreicht: Jason hätte Braut und Söhne auf ewig verloren.
Denn dafür hätte die Listige und Furchtbare gewiß zu sorgen
gewußt, daß diese niemals ihren Vater zu suchen gegangen
wären.
Solche Lösung war für Euripides in jedem Sinne un-
denkbar. Medea zur Kindermörderin zu machen, das war der
geniale Gedanke, der diese unerhörte Tragödie gezeugt hat.
Seine Entstehung liegt dank der Mitteilung der älteren Sagen-
70, i] Mrdea-Probleme. ii
formen durch Parmeniskos und Didymos (Schol. Med. 264)
klar vor Augen: Die Korintlier sollten Medeas Kinder ge-
tötet haben. Das war der Ausgangspunkt für Euripides, und
deutlich ist er noch wahrnehmbar: 1060 peitscht sie sich
zum Kindermorde auf mit der Vorstellung, dieKorinther würden
ihre Söhne mißhandeln, und noch einmal 1238 'sogleich muß
ich jetzt fliehen und meine Kinder umbringen, um sie nicht
einer feindlichen Hand auszuliefern; sterben müssen sie, so
soUen sie's durch die Mutterhand.' ^) Nun gilt es für Euri-
pides, einen Grund für die Wut der Korinther gegen die
Medeakinder zu ersinnen. Den fand der Dichter zugleich mit
der hinterlistigen Rache Medeas an der Nebenbuhlerin: er
ließ die Fürchterliche ihre Kinder als Werkzeug ihrer Rache
benutzen, gleichgültig, ob sie sie damit dem Tode weihte.
Als Überbringer der vergifteten Zauberkleider — und durch
die Kinder konnte sie sie mit Sicherheit der Prinzessin in
die Hände spielen — waren sie der Wut der Korinther ver-
fallen. Sie vor diesem Schrecklichen zu bewahren, entschließt
sich Medea selbst, das eigene Blut zu morden.^)
i) M. Breithaupt, De Parmenisco grammatico (Heidelberg. Diss.
1915 = 6011 GtoLxitcc IV) 25: Weil nach allen Zeugen Medea nur zwei
Kinder gehabt, sei Parmeniskos' Behauptung, daß Medeas 14 Kinder
von den Korinthern ermordet seien, eine leichtfertige Fiktion, er habe
die 14 Opferkinder der Korinther zu Medeas Kindern gemacht. Als
ob jemals in der Sage es auf die Kinderzahl ankomme. So kann man
ein Zeugnis nicht diskreditieren. An sich als voreuripideische Version
glaublich, wird es wie durch die Kreophylosnotiz (Schob Med. 264) so
durch Euripides selbst bekräftigt, der ursprünglich Medeas Kindermord
mit ihrer Angst vor den Korinthern begründet hatte, was Breithadpt
ganz übersieht.
2) Die von Didymos Schob Med. 264 gegebene Version des un-
bestimmbaren Kreophylos legt die Entwicklung des Euripideischen Ent-
wurfs noch näher: da flieht sie nach Ermordung Kreons, ihre Kinder
auf dem Altar der Hera zurücklassend, die nun von den Korinthern
getötet werden. So ist die Version als Vorstufe der Euripideischen
Dichtung durchaus glaublich. Daß sie wirklich dem Euripides vor-
gelegen hat, schließe ich daraus, daß auch er den Kreon Medeas List
erliegen läßt: sein Tod ergab sich aus ihrem Plane nicht notwendig,
1 j E. Ukiiik: [70, 1
Das war ilcr uvs|)iüii<^fliclu' Eiitwuif für die Tragödie,
ans der gegebenen Sage nnd dem Gedanken, Mcdea statt der
Korinther zur Mörderin der Kinder zu machen, folgerecht
entwickelt, und er war des Dichtere würdig. Eine jjackende
Aufirahe, die Leidenschaft eines Weihes wahrscheinlich zu
machon, die sogar die eigenen Kinder rüclisiclitslos in hliiider
W'u\ als Werkzeug benutzt.
Wenn er schließlich Medea entkommen und die Kinder-
leichen ins Heiligtum der Hera bringen lassen mußte — die
Sage und die Anlage seines Stückes zwangen gleichermaßen
dazu — so konnte er das kaum anders als durch ein Wimdor
bewerkstelligen. Daß er dadurch aber auch eine MCtglichkeit
ihrer Rettung erölhiete, wird ihm schwerlich Sorgen geschahen
haben, Avie er diesen Schluß sogar für die letzte P^assuug un-
bedenklich beibehalten hat, obgleich er nach Einfügung der
Aigeusszeue noch weniger ]\ißtc, durch die auch den Kindern
Zuflucht und Sicherheit gegeben wurde. Die Einführung des
Aigeus erst hat ihm den Plan verrückt und ihn zur Erkenntnis
gebracht, daß er der zwingenden Folgerichtigkeit entbehre.
Und so hat er denn ein zweites Motiv für den Kindermord
eingeführt: sie will durch ihn ihren Gatten strafen. Es
ist bezeichnend, daß dieser Gedanke zuerst und am schärfsten
unmittelbar nach der Aigeusszene von ihr ausgesprochen wird:
817 ovra yuQ av fidltöra öriyßdri n66iq.
er wird uur durch Zufall herbeigefübrt.. Offenbarer Zusatz aber ist
der Schluß: rohi dt Kgiovrog oh.tiovg ciTtov.tsivavtag uhtovg [f)iu!^ovvui
Xoyov 6zi, T) Mriiiiici ov yiövov xov Kgiovra kVi-ii v.u\ xovg iuvirß nc/Jdui
dcitintiivf.] Und Zusatz aus Euripides ist auch Athen als Ziel der
Flucht Medea3: öeiaacav 6h tovs cpD.ovg Kcd roiig oUaiovg avtov (sc.
KgioPTog) cpvystv [ilg 'A&ijvag], rovg dh viovg, (tibI vBmrsQoi övtsg ovy.
i]Svva.vxo uv.oXov%ih\ inl rbv ßo^iibv TTjg 'Axgcdag 'Hga.g v.uQ'iccii. Die
Parallelüberlieferung in Apollodor, Bibl. J, 9, 28, 3 bestätigt beides:
XiytTui 6h v.ul ort qievyovoa rovg ■7tat8ccg §'ti vr]niovg övr^g xuriXintv
ixirug y.ux^iaccaa inl rbv ßay.bv Tfjg Hgag ri)? 'AKQaiag, KoQiv&ioi dh
aizoi'a äiuat'^aavxBg y.axtxgav^dxiaav. Meine Analyse hat durch den
!Nachweii«, daß die Aigeusszeue erst nachgetragen ist, bewiesen, daß
Euripides zuerst es war, der Medea nach Ahten hat fliehen lassen.
70, i] Medea-Probleme. i 3
Vgl. 794: döi-iov TS Ttdvta övy^ead' ^läaovos
e'|ft,ut yaüig^ quXtärcov naCöav cp6vov
(pEvyovöa xal xMö' sgyov dvoöLaturov.
Die Schlußszene ist davon erfüllt und 1370 wiederholt sie's
dem Jason:
ol'ö' ovKtt sißC. rovto yaQ öa dT^^stai.
Aber gerade da, wo mau diesen entscheidenden Gedanken vor
allem erwarten sollte, als sie zur Tat schreitet i236flf., wird
nicht nur mit keinem Worte auf ihn hingedeutet, es wird
sogar ausschließlich als treibendes Motiv zum Morde die Angst
ausgesprochen, daß ihre Kinder von den Korinthern zu Tode
gefoltert werden würden, und daraus die zwingende Notwen-
digkeit gefolgert, sie selbst zu töten. Und selbst beim Ringen
der Mutterliebe mit der Rachsucht 1040 ff. entsclieidet nicht
das Verlangen, Jason im Tiefsten durch den Tod der Kinder
zu treffen. Deutlich wird das nur einmal nebenher erwähnt:
1046 TL ösl ^s 7tat8Qu rävde rolg rovrav xccKolg
Xxmovöuv avtijv ö\g rööa atäö&ca xay.d.
Aber als sie zum Entschluß zurückzufinden sich müht, nennt
sie nicht Jason, sondern braucht den vieldeutigen Plural:
1050 xakoL xC Ttdöxci] ßovlo^ai yikat öcplstv
cyßgovq [isd^eiöa tovg e^Lovg ä^ri(.iiovg;
Die Alten wie die Neuen deuten das auf Jason. Aber wie
kann sie das sagen, nachdem sie ihm die Braut kläglich zu
Tode gefoltert hat? Und gleich darauf ist die Rache an
Jason durch den Kindermord vergessen, da spricht sie loöoff,
nur davon, daß sie sie töten muß, um sie nicht den Korinthern
in die Hände zu liefern.
Ich verstehe 1050 nicht, weder wenn ich ihn auf Jason
noch wenn ich ihn auf ihn und Kreon und Kreusa beziehe
Und ebenso wenig vermag ich
IcoQstxE TtaZdsg ig dö^ovg. otw ds ^r\
Q-saig TracelvaL totg hyLoiöt d-v^aöiv,
1055 avra ßslrjcssi' xstga ö' ov dLaq)d-£QK).
wie man seit Reiske und G. Hermann zu tun pflegt, auf
Jason beziehen. Wie kann Medea an Jasons Gegenwart beim
1^ E. liKnii;: l7(\ i
Murdo auch nur doiilvciiy Ei- wiirile ilui ja vcrhiiultM-n.
WiLA.MOWiTZ läßt in seiner llbersotzAing öra — ^slijatt ans
di)cli wolil weil es ihm nnlieimlieli ist. leli kcJniite es nur
allgemein fassen: '{.(cht .-ille fort, bei diesem (näßlielisten
darf uieinand /nü^ogen sein'. Das wilide Sinn haben unmittel-
bar vor dem Morde. Und da/.u würde auch der Hefilil an
die Kinder passen, in's Haus v.u treten, der im vorliegenden
Zusammenhauge unverstäiidlicli ist, da sie sie bei sich behält
(io6g). Als Schluß einer Medearede kann ich mir 1049—1055
etwa vorstellen, aber nicht mitten in dieser Rede.*)
Das zweite Motiv für den Kindermord, Jason das l)itterste
Herzeleid anzutun, huscht also nur leicht vorüber. Und längst
hat man dagegen eingewandt, daß man bei der kühlen Art,
v^ie Jason die Verbannung seiner Kinder aus Korinth hin-
nimmt, den jieiulicheu Eindruck gewinnt, Medea überschätze
die Tiefe des Vatergefühls dieses seichten Fantes und krassen
Egoisten.
HI
All diese Schwierigkeiten lösen sich zwar nicht, werden
aber begreiflich durch die Annahme, die ich durch die vor-
gelegten Erwägungen zu einem Beweise gestärkt zu haben
glaube, daß Euripides' ursprünglicher, aus, der korinthischen
Sage entwickelter Entwurf das Motiv zum Kindermord allein
in Medeas Sorge, der liache der Korinther an ihnen zuvor-
zukommen, gesucht hat, und daß erst die Einarbeitung der
Aigeusszene ihn auf das Hilfsmotiv brachte, durch die Tö-
tung der Kinder Jasons Herz zu treffen. Dadurch ist in
die gewaltige Tragödie eine Unklarheit gekommen, die den
beiden 'Monologen' nach Kreons Ausweisung 365 ff. und nach
Aigeus' Versprechen 1020 ff. verhängnisvoll wurde. Kann
jener durch Ausscheiden der von Euripides zur Vorbereitung
i) Bergk, Gr. Lit.-Gesch. III, 512. 140 hat dasselbe empfunden,
wenn er 1056 — 1080 als Wiederholung streicht; doch wer soll diese Pracht-
verse anders geschrieben haben als Euripides? Die Schwierigkeit 1058 ff.
bliebe auch so bestehen.
70, i] Medp:a-Problemr. 15
der Aigeusszene eingefügten Verse 386 — 394 zu seiner ur-
sprünglichen Kraft und Klarheit gebracht werden, so kann
ich im zweiten nur die Schwierigkeit begrenzen: sie liegt in
1049— 1061.
Die Aigeusszene, unerfreulich an sich, widerwärtig für
den Charakter der Medea, die sich selbst sichere Zuflucht
verschafft und ihre Kinder herzlos schlachtet, peinlich durch
diesen kalten Egoismus in der siedenden Leidenschaft der
gemißhandelten Frau, mit der wir uns wie der Chor gegen
Jasons gemeine Gesinnung auflehnen und für die wir Partei
nehmen sollen und es trotzdem tun, die Aigeusszene ist ein
Unglück für diese Tragödie geworden, die ohne sie vielleicht
die grandioseste des Euripides wäre. Was ihn zu dieser
Änderung seines Planes veranlaßte, ist leicht zu sehen und
längst gesagt. Man soll es aber ehrlich aussprechen: nicht
künstlerische Ziele waren es, sondern sein Ehrgeiz, sein
heißer Wunsch, den Athenern zu gefallen. Die Konzession
an das Publikum hat sich auch an diesem Kunstwerk gerächt,
wie überall.
Der Medeastoff war ganz neu, von Euripides selbst aus
einer korinthischen, anders gerichteten, weiteren Kreisen
Athens schwerlich bekannten Tempelsage kühn entwickelt.
Sein Publikum konnte zu ihm keine Beziehung haben, wie
zu den durch Homer allen geläufigen, oder zu andern allbe-
kannten, zumal zu den heimischen attischen Sagen, Solche
Beziehungen aber zu suchen oder herzustellen, war für den
Erfolg des Stückes bei der großen Masse wichtig, die auf
das Urteil der Preisrichter durch laute Zeichen des Beifalls
oder Mißvergnügens gewiß Einfluß übte. Deshalb sehen wir
Euripides jede Gelegenheit benutzen, dem attischen Stolz zu
schmeicheln und irgendwelche Fäden nach Attika hinüber zu
spannen. Man erinnert sich leicht an Herakliden, Hiketiden,
Hippolyt 2,2, Hekuba 466, Troades 799, Iphigenie T. 1450. Für
den fremden Medeastoff schien eine Anknüpfung an Attisches
doppelt wichtig. Die einzige Möglichkeit gab Aigeus, dessen
Verhältnis zu Medea den Athenern durch ihn selbst be-
PhiL-hist. KlasdC 1918, Bd. LXX. 1. 2
l6 E. Hr.TiiK: [7^\ i
kaniit war.') Er konnte ihn wieder in der dankharou Ri)lle
des uneigennüt/igen Schützers der Mißliiindolten darstollen
und gewann die Gelegenheit, auf das herrlicbo Atlien Hein
schönstes Lied singen zu hissen.
IV
Die störende Aigeussz.ene einfach au.szulüäcu, geht nun
freilich nicht an. auch wenn sich ihre Vorbereitung 386 — 394
leicht streichen läßt und man das schönste Chorlied der
Tracrödie entbehren wollte. Aber der Nachweis, daß sie eine
spätere Zutat ist und daß doch wohl zugleich mit ihr auch
die Motivierung des Kindermordes geändert oder vielmehr
verdoppelt ist, fordert den Versuch heraus, den ursprünglichen
Plan wiederherzustellen. So heikel es ist, so mag er doch
gewagt werden im Vertrauen, daß niemand mich für so töricht
halten wird, ich bilde mir ein, den Euripides meistern zu
können.
Durch die Streichung der Aigeusepisode würden die beiden
Jasonszenen fast unmittelbar aneinandergereiht. Medeas zweiter
Monolog 772 — 810 hätte da kaum eine Stelle, jedenfalls keinen
Anschluß an die erste. Nach der schroffen Abweisung des
Gatten wird auch im ersten Entwurf irgend ein Ereignis die
Medea zum scheinbaren Einlenken veranlaßt haben, wie es in
der endgültigen Fassung Aigeus' unmotiviertes Erscheinen
ungenügend tut. Dies Ereignis kann kaum ein anderes als
die Ausweisung durch Kreon gewesen sein. Das zwingt sie
zum raschen Handeln. Demnach wäre diese Folge zu ver-
muten: erste Jasonszene mit zugehörigem Chor SQcorsq vniQ
^6v äyav sX&ovreg — Kreonszeue — Monolog Medeas: Ent-
schluß zu handeln und Mordplan (vgl. 77 ^S-) — Chor aveo
Ttotci^&v UQäv xoQovöL TtayuC — zweite Jasonszene.
Diese Anordnung würde — ich möchte fast sagen der
natürliche Aufbau des Dramas sein, jedenfalls würde sie dem
I) V. VViLAMowiTz, Hermes XV, 482, Griech. Tragödien III, 175,
I, III.
yo, l] MeDEA-PrOBLKME. ^7
Aufbau der Alkestis, Andromache, auch des Hippolyt und
Herakles entsprechen. Sie geben alle zunächst eine Zustands-
Bchilderuiig, ehe die Handlung einsetzt. In der Alkestis er-
zählt nach der Parodos die Amme dem Chor, wie Alkestis
sich zum Sterben bereitet, Abschied nimmt von Haus und
Gesinde; nach dem ersten Stasimon sehen wir sie selbst, hören
ihre letzten Worte zu Mann und Kindern und sehen sie sterben.
Älmliche Zustandsschilderungen gibt der Dichter im ersten
Epeisodion des Hippolyt und Herakles, hier der Phaidra in
unmittelbarem Anschluß an die Parodos, dort durch den
ayhv köycov zwischen Lykos und Amphitryon; in beiden
Stücken setzt freilich die Handlung alsbald ein. Die beste
Analogie gibt die Andromache. Hier wird nach der Parodos
die dummstolze Hermione der an das Thetideion geflüchteten
edeln Andromache in scharfem äycjv Xoycjv gegenüber ge-
stellt, der die Verschiedenheit ihrer Charaktere hell beleuchtet
und die Grundlage für das psychologische Verständnis der
beiden Gegenspieler und ihres innern Gegensatzes gibt, aus
dem die tragische Handlung entspringt. Es geschieht aber nichts,
erst im nächsten Akt bringt Menelaos die Handlung in Gang.
Jene Konfrontation entspricht der Gegenüberstellung von
Medea und Jason. Sie verfolgt denselben Zweck, hat für die
Oikonomie der Tragödie denselben Wert; also sollte sie auch
dieselbe Stelle in ihrem Aufbau haben. Statt dessen ist sie
in der uns vorliegenden Fassung hinter den Beginn der dra-
matischen Handlung durch Kreons Verbannungsbefehl gesetzt.
An dieser Stelle unterbricht sie die Handlung. Erst durch
Aigeus' Auftreten im nächsten Akt wird sie wieder in Gang
gebracht. Dafür wird sich schwerlich ein anderes Beispiel
erbringen lassen. So würde sich vielleicht auch durch diese
Beobachtung jemand zu einem Anstoß und zu neuem Zweifel
berechtigt fühlen können, wenn nur nicht die Szene an der
Stelle, wo sie steht, vortrefflich wirkte, wie aus einem Guß
erschiene.
Auch ist ohne weiteres klar, daß das erste Epeisodion,
so wie wir es lesen, in sich tadellos und ebenso wirkungsvoll
2*
l8 E. nirrjiK: (70, i
wit» kuustn'ii'h ist. Dfr orston Mt'dearodo, durch die sie sich
des Schwpijjens des Chors über ihre Pläne versichert — eine
erzwnngeue Hiloksiolit auf die hier schon schwer vom Dicliter
empfundene leidi,i;e Beteiligung dos durch Kult und (iewohn-
heit geheiligten Chors — entspricht ihrer zweiten Rede nach
der Kreouszene, die auf diese Weise symmetrisch eingerahmt
wird. Und vortreÜlich wirkt das frische Einsetzen der dra-
matischen Spannung durch Kreons ungestümen Befehl, Korinth
zu verlassen, auf den schon im Prolog uns der Alte vor-
bereitet hatte, wie durch Medeas ersten Erfolg, der ihre Rache
ermöglicht. Es ist das Sophokleische Technik. Er liebt es,
seine Hauptperson nach der Parodos in breiter Rede vorzu-
stellen. So in der Antigone Kreon, der die eigentliche Haupt-
person ist — denn er ist der Träger der Handlung von An-
fang bis zum Schluß und an ihm rächt sich sein eigenes
Tun — in den Trachinierinnen Deianira, König Oidipus,
Elektra, Philoktet, Oidipus auf dem Kolonos, auch im Aias
Tekmessa, dann noch Aias.
Auch darin ähnelt die Technik des ersten Teils der
Medea der Sophokleischen, daß er schon vor der Parodos
die Handlung beginnen läßt, dasselbe Motiv aber nach der
Parodos noch einmal breiter wieder aufnimmt: das Verbot,
Poljneikes zu bestatten, kennt Antigone schon beim ersten
Auftreten (25), nach der Parodos verkündet und begründet
es Kreon noch einmal in seiner Rede^); Oidipus hat sofort
nach Mitteilung des Orakels, das die Sühnung des Laios-
mordes verlangt, erklärt rovt aTioßiCfdcö ^vöog (138), mit der
Parodos gibt er feierlich und breit noch einmal den Befehl,
auf den Mörder zu fahnden und zu verstoßen. So bringt im
Medeaprolog schon der Pädagoge die Nachricht von Medeas
Verbannung, im ersten Akt kommt der König selbst, sie aus-
zuweisen. Damit setzt hier die Handlung lebhaft ein nach der
großen Rede der Hauptperson, wie das Sophokles zu tun
pflegt: in der Antigone meldet der Wächter die vollzogene
i) Vgl. Tycho von Wilamowitz, Dramatische Technik des Sophokles.
70, i] Medea-Probleme. 19
Bestattung, im Oidipus wird Teiresias herbeigefülirt und zur Aus-
sage gezwungen. Stets aber drängt nun — mit einziger
Ausnahme des Aias — bei Sophokles, dem Vollender und
Meister dramatischer Kunst, die Handlung ohne Stillstand
fast atemlos vorwärts.
In Euripides' Medea folgt völliger Stillstand: Medea und
Jason setzen sich auseinander nicht über ihre Verbannung,
sondern über ihr ganzes Leben, über ihr Wesen und Wollen,
das zu unüberbrückbarer Kluft auseinander geht. Nur mit
dünnen Fädchen ist dieser packende und für die Tragödie
wichtigste Dialog mit der Kreonszene verbunden und so an
diese Stelle das Drama geknüpft, mit der kleinen Eingangs-
rede, in der Jason Unterstützung für die Verbannung an-
bietet, und mit dem Schlüsse 603 ff.
Es wäre ein lächerliches Unterfangen, durch Ausschei-
dung der Aigeus- und Umstellung der Kreon-Szene den ur-
sprünglich beabsichtigten Aufbau der Tragödie herstellen zu
wollen. Euripides hat wohl gewisse Szenen verworfen, als er
seinen Plan änderte, und doch hat er nicht alle Spuren der
Umarbeitung zu tilgen vermocht.
V
Die Inszenierung der Medea ist vollkommen klar, wenn
man nur nichts in das Stück hineininterpretiert. Dieser
Grundsatz ist ebenso wichtig und ebenso notwendig wie sein
Komplement, nichts abzudingen von dem, was im Text steht,
U. V. WiLAMOWiTZ setzt seiner Übersetzung die Bemer-
kung voran: Mie Hinterwand der Bühne stellt den Königs-
palast von Korinth dar; neben ihm ein unscheinbares Gebäude,
die Wohnung Medeas.' Dem entsprechend läßt er sie und
die Ihrigen aus diesem Nebenhause auftreten und in dies ab-
gehen, aber Kreon, Jason, den Boten mit der Schreckens-
nachricht aus dem Palast kommen. Der Text gibt keinen
Anhalt dafür. Auch aus dem Mangel einer Ankündigung
Jasons bei seinem ersten Auftreten durch den Chor ist es
nicht zu schließen; er nennt sich selbst. Das häufige Fehlen
20
E. Bktiik: [7". >
der Aukündigiin^' hat stets einen meist nalielie^fenden Grund.
Hin- ist er dunkel wie bei Menelnos' Auftreten in der Aiulro
nuicbe 309. Man könnte in beiden lYillen vermuten, daß der un-
bedingt zur Heldin stehende Chor ihren Feind mit ausdrucks-
vollem Schweiften emitfiingt. Nicht ohne Schein wäre im Gegen-
teil aus der neutralen Form, wie Kreon gemeldet wird 267 6^f7j
di: x(u Kotovra Ti,ad' i<vcixra yf^g aiBiyovxa zu folgern, dali
er nicht aus einem sichtbaren Hause heraustritt, wenn m:in
datTe<ren Stellen hält wie Alkestis 136 uVl ijd' ona6C)v h.
()()//«!' xig tQiBTui^ Helena 858 Ixjicdvet d6^cov i] ^BöTCioidog
öforoj;, Hekabe 53, Jon 51O, Alkestis 233, Hippolyt 170,
Sojdiokles Anti'gone 526, 1181, OR 632, Elektra 324 usw.
Geradezu unmöglich aber wird WiLAMOWiTzens Inszenie-
ruuo- durch die Schlußszene. Vor Medeas Tür tobt Jason,
hier erscheint sie im Helioswageu. Das ist undenk])ar im
'unscheinbaren Nebenhause' auf der antiken Bühne, ich möchte
behaupten auch auf jeder modernen. Dieser Theatereffekt
muß in der Mitte der Bühne gezeigt werden, sonst wirkt das
Bild schief. Nun nutzt Noack Wilamowitz' Vermutung für
seinen Bühnenentwurf aus.^) Er vermutet, innerhalb des
Orchestrakreises ein Megaron in der Mitte, je ein kleines Ge-
bäude im rechten Winkel dazu links und rechts daneben —
ununterscheidbar zwar, aber das eine ein Propylon, das an-
dere ein Haus — so daß diese ihre Fronten einander zu-
kehren, der Masse der Zuschauer aber die kahlen Seitenwände
zeichen. Ich stimme Dökpfeld in der Ablehnung dieser reinlich
durchgedachten Hypothese, von vielen andern abgesehen, schon
aus dem Grunde bei, weil sie auch nach meiner Überzeugung
'nicht mit der Tatsache in Einklang zu bringen ist, daß bei
dem Steinbau des IV. Jahrhunderts die Szene nicht nur ganz
außerhalb des Kreises, sondern sogar noch in einem größern
Abstände von ihm errichtet ist.' Medea würde nach NoACK
also im Hause links Avohnen und in der Schlußszene in
I) F. Noack, c-ativt, TQuyiy.i], Tübinger Doktorenverzeichnis 1915, 38.
Dazu W. DöRPFELD, Wochenschrift f. kl. Philg. 191 7, Nr. 8 u. 9 und
L1P8IUS, Lit. Zentralblatt 1916, S. 17.
70, i] Medea-Probleme. 21
seinem Pförtchen auf dem Helioswagen erscheinen, sichtbar
nur für wenige Zuschauer auf der äußersten rechten Seite
des Theaters.
Dargestellt war weiter niclits wie ein einziges Haus, wie
stets in der Zeit von 460 bis in die zwanziger Jahre, Dies
bewohnte Medea. Wo wir es in Korinth zu denken haben,
deutet der Dichter mit keinem Worte an, und ist wahrlich
gleichgültig. Der Königspalast liegt wo anders, vielleicht
ziemlich weit. Doch ich will nicht die dichterische Freiheit
beckmessern, und nicht aus der Länge des Botenberichts die
Entfernung des Schlosses von Medeas Haus berechnen. Medea
ist nicht Bettlerin. Diener und Dienerinnen führt sie mit
sich, kostbare Pi-achtge wänder überirdischen Glanzes, fürstlich
tritt sie auf. Einen Bettler hätte Kreon sich auch wohl
nicht zum Schwieger genommen. Wir dürfen und sollen uns
nicht realistisch ausmalen, wie Jason mit solchem Gefolge
und Hausrat seinen Umzug nach dem Peliasmorde habe be-
werkstelligen können. Genug, der Dichter führt ihn und die
Seinen als Fürsten ein und nicht als Landstreicher. Also
nahm auch niemand daran Anstoß, daß Medea ein stattlich
Haus bewohnte.
In der Schlußszene läßt auch Wilamowitz jetzt zu
meiner Freude Medea auf dem Helioswagen in der Tür ihres
Hauses erscheinen, nicht in der Luft über dem Dache, wie
man früher nach Angabe des Scholions allgemein annahm.
Jenes steht mit klarsten Worten im Text:
;faA^T£ y.X^dag wg tcr/^Löra, 7Cq6<37CoXoi,
13 15 B'nXvs?^ ägiLovg, dig (^Sc3 öltcIovv xccxöv.
1317 — tC rdade xLVstg y.uvccnoxXsveig iivXag^
und wird, wenn's möglich wäre, noch bekräftigt durch die
Parallelstelle im Hvppolyt:
808 lalät^ y.X)]d^Qa, xqo6x6Xoi, nvlco^idrav
i^Xved-' KQ^ovg, ag ida niKgciv &edv.
Da hat nie jemand gezweifelt, daß Theseus die Hauptpforte
öffnet und dort Phaidras Leiche sieht, der er den schlimmen
Brief entnimmt.
22 E. Bethe: Medf.a-I'uohlemb. [70, i
Für die Moden wird das nun lioffi'iitlich jiuch nllgeniein
zuj^'ostandon, naclulcm WiLAMownz (Gr. Tragödien 111, 255)
1296 — 8 uthetiert hat, die für die Ijul'terscheiuuiig verwertet
werden konnten, vielleicht aber erst eingelej^t sind, als man
später Medea wirklii-h in der Luft sehen ließ. Aber die an-
dere Forderung, die ich l'rolog. z. Gesch. d. Theaters 147
auf Gruud des Textes erhob, wartet immer no(di vergeblich
auf Anerkennung, auch den zweiten Teil jenes Scholions 1320
(vgl. Hyj)othesi8) zu verwerfen, dessen erster für Euripidea
notorisch falsch ist, daß nämlich Medea in der Luft anf einem
von geflügelten Draclien gezogenen Wagen erschienen sei.
Die bildliche Überlieferung zeigt sie freilich so. Aber sie
weicht so stark von Euripides ab^), daß ich ihr bindende
Kraft nicht zumessen kann. Euripides sagt nur, Helios habe
Medea seinen Wagen gegeben. Wie er ihn durgestellt hat,
weiß ich nicht zu raten — man könnte an einen Flügel wagen
etwa denken — aber daß er den Athenern zugemutet habe,
Helios lasse sich von Schlangen ziehen, ist mir heute noch
wie vor zwanzig Jahren ein ungeheuerlicher Gedanke und
wird mir durch Triptolenios' Schlangenwagen nicht begreif-
licher; Schlangen sind für die Erdgöttin und ihren Klienten
passende Tiere, aber unmöglich für den Sonnengott. Auch
das Abfahren der Medea ist mit keiner Kunst aus dem Texte
herauszulesen. Sie verschwindet, d. h. die Pforten schließen
sich.
I) Vgl. Robert, Hermes XXXI (1896) 567, 1.
Berichte über die Verhandlimgeii
der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zn Leipzig
Philologiscli-liistorisclie Klassa
70. Band 1918 2. Heft
Wilhelm Heinrich Röscher
Der Omphalosgedanke
bei verschiedenen Völkern, besonders
den semitischen
Ein Beitrag- zur vergleichenden Religions-
wissenschaft, Volkskunde und Archäologie
Mit 15 Figuren im Text
•0
w
Mittelalterlicher typischer Orbia terrarum mit dem
ZentiUDi Jerusalem (nach 'Omphalos' Taf. IX, 4j.
Leipzig
Bei B. G.Teubner
1918
Vorgetragen für die Berichte am 4. Mai 191 8.
Das Manuskript eingeliefert am 14. Mai 1918.
Druckfertig erklärt am 30. November 1918.
Vorwort.
Als ich vor drei Jahren das Schlußwort zu den 'Neuen
Omphalosstudien ' schrieb, da war ich zwar, wie dieses be-
weist (S. 70 f.), weit davon entfernt zu glauben, daß nunmehr
das gesamte zum Omphalosproblem gehörige Material von
mir gesammelt und kritisch verarbeitet worden sei, aber ich
hatte damals noch keine Ahnung, wie schnell und in welcher
Fülle mir neuer Stoff aus allen möglichen Weltgegenden zu
neuer Bearbeitung zuströmen würde.
Vor allem habe ich hier rühmend hervorzuheben die
große in den ^ Verhandelingen der K. Akademie van Weten-
schappen te Amsterdam (Afdeeling Letterkunde Nieuwe Reeks
Deel XVII No. i)' im Oktober 191 6 erschienene Abhandlung
des Prof. A. J. Wensinck zu Leiden, betitelt: „The ideas of
the W^estern Semites concerning The navel of the earth"
(XII u. 65 S. Lex. 8"), Angeregt durch meine Omphalosstu-
dien hat Wensinck es unternommen, alle zum Omphalos-
gedanken gehörigen Stellen aus der Literatur der Hebräer,
Aramäer (Syrer usw.) und Araber systematisch zu sammeln
und zu erläutern. Elq kompetenter Beurteiler seiner Arbeit,
Prof. Brockelmann in HaUe a./S., hat bei der Lektüre den
Eindruck gewonnen, daß, wenn auch bei der ungeheuren
Ausdehnung namentlich des arabischen Schrifttums erschöp-
fende Vollständigkeit nie zu erreichen ist, Wensinck doch
nichts Wesentliches übersehen haben dürfte.^) Ich habe na-
türlich alles mir von Wensinck für Jerusalem, den Garizim
und Mekka dargebotene Zeugnismaterial dankbar verwertet,
durch Vergleichung passender Analogien erläutert und ergänzt
i) Vgl. Brockklmannb Anzeige im Literar. Zentralbl. 1917
Sp. 1224 f.
1 \ VoKWOKr. |7i^ ^
luul glaube duioli Einonlming ilcr wichtigsteu Einzoleigobnisso
Wknsincks in (U'ii größeren IJulmuMi meiner Arbeit allen
vergleichenden Heligionsforschern, die sich für das Ganze der
Omphalosidee interessieren, einen Dienst erwiesen zu haben.
Ganz Ähnliches gilt :uich niutatis mutandis von der
grüudliclien in den von Meixkktz herausgegebenen 'Neu-
testiunentlichen Ahliandlungen' (V, i) 1914 erschienenen Unter-
suchung Dr. GrST. Klamktiis, welche den Titel fülirt: „Die
neutestanientlichen Lokaltraditioneu Palästinas in der Zeit vor
den Kreuzzügen". Auch Klametii will in den beiden Ab-
schnitten über die Golgothatraditionen (S. 88 ff.) und über
das Grab Adams im Golgothafolsen (S. 106 ff.) meine Om-
phalosstudien von seinem Standpunkte aus tunlichst ergänzen
und weiterführen, und ich muß auch ihm gegenüber dankbar
anerkennen, daß es ihm in vollem Maße gelungen ist, diese
seine Absicht zu verwirklichen.
Nur mit vieler Mühe ist es mir endlich mit Hilfe des
mir befreundeten Prof. Wasek in Zürich geglückt, der eben-
falls durch meine Omphalosstudien angeregten Arbeit des
französischen Keltologen Prof. Loth in Paris hal)haft zu
werden, die er unter dem Titel 'L'omphalos chez les C altes'
in Band XVII S. 193—206 der Revue des Etudes Anciennes
(Jahrg. 1915) herausgegeben hat. Da diese Revue schon an
und für sich in Deutschland wenig verbreitet und bekannt
und zudem infolge des Weltkrieges überaus schwer zugäng-
lich ist, so denke ich durch kurze Mitteilung der darin ent-
haltenen Resultate und vor allem durch Beigabe der Abbil-
dungen mehrerer wirklicher oder problematischer Omphaloi
der alten Kelten den deutschen Mitforschern auf den Ge-
bieten der Volkskunde, Prähistorie und Archäologie einen
willkommenen Dienst geleistet zu haben.
Aber auch durch briefliche Mitteilungen und Anregungen
verschiedener Art bin ich von Seiten befreundeter Forscher
in erfreulichster Weise unterstützt worden. Vor allem ge-
denke ich hier mit lebhaftem Danke der drei Ägyptologen
BOECHARDT -Berlin, G. RoEDER-Hildesheim und SETHE-Göt-
70, 2] Vorwort. V
tingen, die mir höchst wertvolle Mitteilungen über den kürz-
lich von Griffith in Napata (Nubien) ausgegrabenen Om-
phalos des dortigen Amonorakels, der den von Curtius Rufus
erwähnten nmhilicus des Amontempels in der Oase Siwa be-
stätigen und erklären hilft, zur Verfügung gestellt haben.
Ebenfalls durch briefliche Mitteilung wichtigen Zeugnis-
materials aus dem Bereiche der späteren jüdischen Literatur
haben sich Prof. Dr. Winter in Dresden und Dr. M. I. Ber-
DYCZEWSKi (bin Gorion) iu Berlin -Friedenau, der Heraus-
geber der 'Sagen der Juden' (Frankfurt a. M. I9i3if.) und
der unter dem Titel: 'Der Born Judas' (2 Bde. Leipz. 1916)
erschienenen Sammlung, auch um diese Fortsetzung der Om-
phalosstudien verdient gemacht.
Alle übrigen Gelehrten, die mich durch Anregungen und
Mitteilungen verschiedener Art zu Dank verpflichtet haben,
werden 'suo quisque loco' von mir genannt werden.
Hierzu kommen natürlich noch zahlreiche Funde litera-
rischer und monumentaler Art, auf die ich durch eigene
Nachforschungen und Studien geführt worden bin. So stieß
ich z. B. bei der Lektüre von Radloffs Proben der Volks-
literatur, der türkischen Stämme Südsibiriens auf die wichtige
Nachricht, daß auch diese Völker die Vorstellung von einem
in ihrem Gebiete befindlichen Erduabel haben, als welchen
sie einen 'kupfernen Pfeiler' (= o^cpaXös) ansehen. Ferner
ist es mir, hoffe ich, jetzt auch gelungen, in Kap. V mit Hilfe
von 5 in den letzten Jahren entdeckten und veröffentlichten
Monumenten (2 Votivtafeln [Pinakes] und 3 Vasenbildern) zu
beweisen, daß ebenso wie Delphi, Delos, Paphos, Branchidai
auch Athen-Eleusis, wenigstens im eleusinischen My-
sterienkult, den Anspruch erhoben hat, der o^cpaXbg yfig
zu sein. Der auf den gedachten Pinakes und Vasen erschei-
nende deutliche Omphalos, den man bisher irrtümlich für den
'delphischen' gehalten hat, läßt keine andere Deutung zu als
die, daß er das Wahrzeichen der von Athen-Eleusis als Zen-
trum ausgegangenen und über die gesamte Oikumene durch
Triptolemos verbreiteten Segnungen des Ackerbaus und der
Yl Vorwort. [7°. *
auf ihm beruhomUMi Gesittun^^ und luihoron Kultur sein sollte.
— Auch für ilfts Vorstiimlnis cK-s in den goomotrischon Zentren
der ctrnskisoheu und itiiliseluMi Stiidto angele^den kreisruuden
sogeuannten „»nimhis- hoire ich nunmehr die richtigen Ge-
sichtspunkte gewonnen /.u haben.
Daß durch die Einordnung so vieler neuer, teils von
andern, teils von mir selbst gesammelter Zeugnisse in einen
gemeiusanuni Rahmen das, wie man jetzt sieht, den ganzen
„orbis terrarum'' erfüllende Omphalosproblera nicht unwesent-
lich gefördert worden ist, dürfte mir wolil von jedem billig-
denkenden Beurteiler zugestanden werden.
Auch diesmal wieder beginnen wir unsere Wanderung
im fernen Osten, um sie im ilu Bersten Westen zu beschließen.
Dresden- A., Febr. 191 8.
Der jetzige in der grieclüschen ICathedrale beündliche Oinphalos
von Jerusalem (nach 'Omphaloi' Taf. IX, Fig. 3).
I. Der Gedanke eines Zentrums ('Nabels') der Erde
bei verscliiedenen Völkern des Ostens.
I. Die Chinesen.
Omplialos S. 20 f. habe ich auf Grund der außerordent-
lich wertvollen Mitteilungen A. Forkes den Omphalosbegriif
der Chinesen, der wohl einmal eine gründliche Untersuchung
verdiente, kurz dargestellt. Ich verweise jetzt in dieser Hin-
sicht auf Richthofen, China I, Berl. 1877 S- 3^^' 'Den [Berg]
Waifang suchen sie [die Commentatoren des Yü-king] in
dem gegenwärtigen Sung-shan, einem schönen, in ungefähr
8000 Fuß gipfelnden Gebirgsstock, welcher sich südöstlich
von Ho-nan-fu erhebt und eine isolierte Stellung einnimmt.
Er wurde in späterer Zeit als der fünfte unter die heiligen
Berge von China aufgenommen und auch Tshung-shan oder
Berg der Mitte genannt, indem er als der Mittelpunkt
des Reiches [d. i. des Reiches der Mitte] betrachtet wurde.'
Vgl. auch V. Andrian, D. Höhencultus asiat. u. europäischer
Völker. Wien 1891 S. 166.
2. Die Turkstämme Südsibiriens.
Zu den Völkern des Ostens, welche einen Erdnabel in
ihrem Bereiche angenommen haben, gehören auch die Turk-
stämme Südsibiriens. Nach Radloff, Proben der Volkslit-
teratur der Türk. Stämme Südsibiriens II S. 242 ff. haben
diese Stämme die Vorstellung von einem durch 'einen kup-
fernen Pfeiler' [also einen kupfernen Omphalos] bezeichneten.
2 Wii.iiri.M Hkinkicii RosciiKu: [70,2
„Nnbi'l tliT Kille'", «Irii unter allen 'Helden und Sturkon'
nur der 'neunjährigelleld Kiiru rar''"} zu heben und heraus-
zuziehen vermag.
3. Dio Inder.
Auch das Zeujjfnisinaterial für die einstij^e Existenz des
Omphalosgedaukens bei den Indern (s. Omjjhalos '^.22 u.
Neue Ompli. Stud. S. 14 u. 7 2 f.) kann ich jetzt mit Hilfe von
Lasskns Indischer Altertumskunde und I'ksciikls Abhand-
lungen z. Erd- u. Völkerkunde I Lei])z. 1H77 nicht unwesent-
lich vermehren.
Nach Lasskn a. a. 0. IV S. 59 besteht die Erde nach der
vorherrschenden Ansicht der Inder aus sieben durch Berge und
Meere von einander getrennten dvq^a oder Inseln.^ *") Sie hat
nach Albirüni eine runde Gestalt (orbis terrarum) und ist von
einem Meere (vgl. den Okeanos der Griechen!) umflossen. Sio
ist in sieben dvq)a geteilt, Avelche durch Ozeane in der Weise
voneinander geschieden sind, daß jene wie Halsbänder sich
umschließen und jede Insel und jedes Meer einen größeren
Umfang haben, je weiter sie vom Mittelpunkte entfernt
sind. Die mittlere Insel heißt Gambüdvipa; sie ist
die vornehmste von allen, und zu ihr gehört Indien.
Die früheste Beschreibung der 7 dvipa mit ihren Meeren und
Gebirgen findet sich im Mahäbharata (älter als das 4. Jahrh.
nach Chr.). Auch nach dem kosmographischen System der
Puräna bildet die Gambüdvipa die Mitte des indischen Welt-
systems, und deren Zentrum wieder der goldene Berg
Meru (Lassen a. a. 0. S. 60; vgl. N. Omphalosstudien S. 72),
1 a) Zu den überaus zahlreichen bei den noch dem alten Schamanen-
glauben huldigenden Stämmen Südsibiriens vorkommenden typischen
Zahlen, darunter massenhaft auftretenden Triaden, Hexaden, Heptaden,
Enneaden und Tessarakontaden, s. meine Bemerkungen in 'Die Zahl 50
in Mythus, Kultus, Epos und Taktik d. Hellenen u. and. Völker' S. 113 f.
ib) Über die Heiligkeit der Siebenzahl bei den Indern s. meine
Abhandlungen 'Die enneadischen u. hebdomadischen Fristen u. Wochen
d. ältest. Griechen' S. 34 f. und 'Die Sieben- u. Neunzahl im Kultus u-.
Mythus d. Griechen' S. 87.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 3
während nach noch älterer Ansicht der Meru (= HimalayaV)
nicht im Zentrum der Erde sondern im äußersten Nor-
den liegt (Lassen a. a. 0. I S. 847).
Für die letztere Vorstellung scheinen auch die eigentüm-
lichen Überlieferungen zu s^irechen, welche sich auf die in-
dische Stadt Uggajini = Ozene (= Oudjein, Ujjain, Oojein,
Asin, Arin, Aryn, Arim) beziehen. Dieses Ozene (Ptolem. u.
Arrian) war die Hauptstadt von Larika (= Malva), der be-
kannten Landschaft im Zentrum von Indien^), ein uralter
noch bis in prähistorische Zeiten zurückreichender Sitz der
Wissenschaften und Künste, besonders berühmt als Residenz
des großen Königs Vikramäditya, des erlauchten Förderers
der Astronomie (Astrologie?) und Gründers mehrerer Stern-
warten, besonders der von Ozene.^) Mit dieser Bedeutung
von Ozene hängt es offenbar zusammen, wenn berichtet wird,
daß das im Zentrum von Mittelindien (Malva, Larika)
gelegene Uggajini den 'Omphalos' der altindischen Weltkarte
gebildet habe, denn es heißt ausdrücklich, ihr erster Meri-
dian sei von Lanka (= Zeylon) aus durch Uggajini und die
Festung Koshtaka und die Quellen der Jamunä nach dem
Berge Meru, der sonach wohl unzweifelhaft im Norden zu
denken ist (= Himalaya), gezogen worden.^) Damit hängt es
nun ganz offenbar zusammen, wenn ein arabischer Kos-
mograph des 13. Jahrhunderts (Reinaud, Aboulfeda, Litrod.
p.CCXLIII; vgl. Peschel a.a.O. 8,48 f. in seinem schönen Auf-
2) Vgl. darüber: Lassen a. a. 0. III, 148, 4. 171. Encyclopaedia
Britannica XV, 346 c. XXIII, 719: In ancient times Ujjain was the great
and famous capital of Mälvä, one of the seven sacred eitles of the
Hindus, and the spot which marked the first meridian of Hindu
geographers.
3) Benfey in Ersch u. Grubers Encyelopädie II, 17 S. 269 b (Artikel
'Indien'). Encycl. Britann. XXI, 283. XV, 346 c. — Vgl. Curt. Ruf.
8,9,33: Uli, qui in urbibus publicis moribus degunt, siderum motus
Bcite spectare dicuntur et futura praedicere.
4) Lassen a. a. 0. IV Anhang S. 59, der diese Bestimmung dem
ersten wissenschaftlichen Astronomen der Inder, dem Arjabhatta, zu-
schreibt.
4 Wii iir.i.M Hi:iNi:i(ii IJdschkk: [70.2
sat/.e ülior Di'' l\uiti>t'l von Ariii' O/oiu') Hiijijt: 'üiittM- dem
Aequtitor, in der Mitto der Welt, da wo wir kein«' lirei-
tongrade /älilen, liejjft ein l'uiikt, der 90" von jedem der 4
Cardinaliiunkte entfernt Vie^t. Hier lindet sich der Tunkt, der
„die Kuppel von A/.in oder von Arin" heißt. Dort ist
ein 2ri>ßes, liohes und unzimihmliclies Schloß. Nach Ihn-al-
Araby dient es bösen Geistern /um Aufentlialt und als Thron
dem Iblis (Teufel)^)'. Pkschkl fugtl)inzu: 'Columbiis spricht
davon in seinem Bericht an den spanischen Kiuiig über seine
dritte Reise und saj^t: l'tolemäus und andere hielten die
Welt für kugelförmiii;, weil sie glaubton, diese Hemispliäre
(Amerika) sei gerundet, wie jene wo sie lel)ten, und deren
Mittelpunkt sich auf der Insel Arin befindet, welche unter
dem Äquator, zwischen dem araliischen und persischen Meer-
busen liegt.' ^)
W^eiter führt Peschel den Irrtum Santakems, Essai III
p. 311 (1848) an, daß die älteste abendländische Karte, welche
Aryn verzeichne, sich als Beigabe zur Imago mundi des Kar-
dinals Alliacus vom Jahre 14 10 finde'), und verweist dem-
gegenüber auf eine Entdeckung von Keinaud 1852, bestehend
in einer Weltkarte des XII, od. XIII. Jahrhunderts, einem
Werke des Peter Alfons (geb. 1062) mit einer Planisphäre
wo die 'civitas Aryn' in der Mitte der Welt abgebil-
det ist.
Nach Al. V. Humboldt (im Examen critique) hatte Co-
lumbus auf seiner dritten Reise die Werke des Alliacus an
Bord, der zweimal von Aryn spricht und beide Male (Imago
mundi cap. XV u. Cosmogr. cap. XIX) den Roger Bacon
5) Unter dem 'Thron des Iblis' hat man wahrscheinlich den
Tempel oder Sitz eines altindischen Gottes zu verstehen, der in Ozene
hoch verehrt wurde. Die streng monotheistischen Araber machten na-
türlich den Sitz des 'Teufels' daraus.
6) Al. v. Humboldt bezeichnete im Jahre 1837 diese Bestimmung
als ein Rätsel, dessen Lösung seit Coliimbus verloren gegangen sei
-(Peschel a. a. 0.).
7) Vgl. über ihn auch Makinelli, D. Erdkunde b. d. Kirchen-
vätern, deutsch von Neumann. Leipz. 1884 S. 76 A. 45.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 5
(Opus majus Lond. 1733 Fol. 188 u. 195) wörtlich ausschreibt.
Dieser aber versetzt die von ihm mit Sjene identifizierte
Stadt Arym unter den Äquator und sagt: 'Dies ist die Stadt
A., welche die Mathematiker in die Mitte der bewohnten
Erde unter den Äquator versetzen, da sie in gleichem Ab-
stände von Ost und West, Norden und Süden sich befindet,
womit der Volksirrtum widerlegt wird, als liege Jerusalem
in der Mitte der Welt' (s. unt. Kap. IT)})
Weiter wies Reinaud (Aboulfeda, Introd. p. CCXLVI)
nach, daß im Occident zuerst Gerhard v. Cremona (12. Jahrh.)
von Arin gesprochen hat in seiner Übersetzung der 1070
zu Toledo von Abu-Ishak-Ibrahim verfaßten astronomischen
Tafeln, worin von einem 'medium mundi, qui locus dicitur
esse in India in civitate scilicet, quae vocatur Arin', die
Rede ist.
Wie man also heute nach dem Meridian von Paris und
Green wich rechnet, so nahmen die Araber des Mittelalters
einen idealen Meridian an und ließen diesen die im Zentrum
Indiens gelegene Stadt Arin berühren. In diesem Falle
haben sie sich wohl sicher an die uralte Weltkarte
der Inder angeschlossen, deren 'Omphalos' oder Zentrum
die durch König Vikramaditya mit einer hochberühmten
Sternwarte versehene Stadt Odjein (= Ozene des Ptolemäus),
der Mittelpunkt indischer Gelehrsamkeit um jene Zeit war,
als die Araber große Eroberungen in Indien machten. Der
über Odjein gezogene Meridian berührte aber zugleich die
Insel Lanka (= Taprobane, Sihala, Z!dXai^ Uiaovvdov'l
EakiKTi [Ptolem.], Selan, Serendiva [Ammian], Serendib [arab.J,
== EelsdCßa nach Kosmas Indikopleustes)^^), d. i. Zeylon
(Peschel a. a. 0. S. 52).
Auf Zeylon aber waren nach der Annahme der Araber,
welche sich jedoch auch hier wohl an altindische (bud-
dhistische) Vorstellungen und Sagen angeschlossen haben
8) Vgl. Marixelli a. a. 0. S. 76 Anm. 45, nach dem Alliacus Je-
rusalem wenigstens zum Mittelpunkte der Klimata machte.
8 b) Vgl. KiEPEKT, Lehrbuch d. alt. Geogr. § 42.
b WiMiKLM IIkinuich Kohchku: [7". 3
dürften, die Legenden vom ersten Menschen (^Adani) und vom
Paradiese lokalisiert, die, wie siüiter gezeigt werden wird,
mit der Vorstellung vom Nabel der Erde untrennbar ver-
bunden sind.^)
Vielleicht beziehen sieh auf /ejKm und die diese Insel
berührenile ^littagsliuie aueh folgende Sätze des Kosnio-
graphen Aethicus, die von der sonst rätselhaften, im indi-
sehen Ozean gelegenen südlichen Insel Syrtinice (Sirtinice,
Sirthnice, Sirthimice, Sirtiee)'") mit einem höchsten Berge
9) Vgl. FAiiKinus, Codex Pseudeiiigr. Vet. Tentam. Hamburg 1722
11 21 ff.: Mons Ost in iiisula Zeilon totins Indiae, ut fcrunt, altis-
simus, quem Lusitani Tico del Adarno' appellaveruut incolarum
fabulas secuti. In hoc specus quaedam, cujus in recessu Arabes
cum Indis constanter tradunt Adamuni fletu ac contincntia cnlpam
redemisse. Osteuditur etiam lacus quispiam parvus falsae natnrae, qui
ortus sit ex lachiymis Evae Abclem occisura deflentis. Man;na in-
super reUgione ab advenis visuntur vestigia Adami. — p. 23: Indi ple-
rumque fabulam corrumpunt, quod credi volunt Adamum in eadetu
iusula creatum, in eadem Paradisum fuisse. Diese Lokalsage ver-
dient gewiß eine ausführUcbe Untersuchung. — S. auch DÄnNiiARDT,
Natursagen II S. 234 f. — Bei dieser Gelegenheit gedenke ich noch
einer wertvollen brieflichen Anregung Fr. Hommkls in München, der
mir am 30./VI. 15 schrieb: 'Der Berg Sinnalu (auf Celebes) und der
Zinnalo (in Slam; vgl. N. Omphalosstud. S. 72 f) im Zentrum der Erde
gehört gewiß zum alten Namen Sinhala-dvipa von Ceylon, den man
gewöhnlich von sinha Löwe ableitet. Ceylon hieß Taprobane, was an
hebr. tabbur = Nabel erinnert. Ich hoffe, nächstes Jahr Beiträge zum
Omphalos aus altorientalischen Quellen zu veröffentlichen.'
ig) Wenn man die außerordentlich mannichfaltigen Benennungen
der Insel Zeylon in Betracht zieht (s. darüber Kiepert, Lehrb. d. alt.
Geogr. § 42): TaTtQoßävr\ (von Tämraparni, vulgär Tämbapanni, dem
Namen der früheren Hauptstadt), Sinhala (vulg. Sihala, b. Ptolem.
Zdlcci, Zalinrj), jetzt Selan (vulg. Ceylon nach portugiesischer Schreib-
weise), Serendiva (nach persischer des Lautes 1 ermangelnder Aus-
sprache) bei Amm. Marc. = Serendib (bei den Arabern) = HiBXidißa
(im Periplu8\ d. i. Sinhala -|- dvipa (= Insel), so wird man es wohl
nicht für unglaublich erkliiren, daß daraus bei Aethicus die Formen
Sirtinice etc. entstehen konnten. Vgl. auch Ozene, = Uggajini = Oud-
jein = Asin = Arin usw.
70, 2] Der ÜMPHAIiOSGEDANKE BEI VERSCHIEDENEN VÖLKERN. 7
Namens Austronothius berichten (ich zitiere nach der Aus-
gabe von IL WuTTKE, Leipz. 1854):
p. 12 Kap. 21: Lineam praemagnam tendentera ad
meridiem: revera nimio frigore inculta a septentrione
a<(d?> meridie<(m?)> nimis opulentani plagam, quam umbe-
licum solis [orbis?]^^) idem cosmographus refert. Dicit euim
insolam meridianam Syrtinicen ad umbilicum solis
[orbis?]^^) in magnum oceanum, parvula statura, silvas et
nuUos accessus hominum, nisi raro, si naves vento turbatae
sunt contrario.
p. 13 Kap. 2;^: Haec omnia de ianuis caeli et cardinibus
mundi tergoque solis [?], septeutrione et umbelico eins de-
scripsit. Meridiem lineam a parte ad partem media m
mundi protelautem ab aquilone in meridiem . . .
Trotz der raiserabeln Überlieferung und der vrohl schon
von Haus aus etwas unklaren Ausdrucksweise scheint, wie
schon Lelewel (Geogr. du moyen äge II p. 8 u. p. 123) ge-
sehen hat, die Insel Syrtinice einerseits mit einem von Nor-
den nach Süden gezogenen Meridian, anderseits mit einem
Nabel (umbilicus) der Erde in Zusammenhang gebracht
1 1) Ich vermute ebenso wie Lelewel (s. unt.) daß statt solis, was
mir gar keinen vernünftigen Sinn zu ergeben scheint, zu lesen ist:
orbis (terrarurn}. Wie ist es aber zu erklären, daß aus orhis solis
werden konnte? Bekanntlich werden in Handschriften statt rjXiog (sol)
und GsXrjvt] (luna) sehr oft die Zeichen 0 und ^ geschrieben. Das
Zeichen für rjXiog (sol) aber kann natürlich auch y.vv.'Kog oder orhis be-
deuten. So konnte ein Abschreiber leicht auf den Gedanken kommen,
daß das Zeichen 0 hier die Sonne bedeute, weil ihm diese Bedeutung
geläufiger war. Vgl. Paktiiet, Zwei griech. Zauberpapyri, Abh. d. Berl.
Akad. 1865 S. 172 unter fiXiog u. S. 177 unter asli^vr}. — Derselbe
Ausdruck umhelicus solis kehrt wieder Kap. 20 p. 11 Wuttke: Sic et
a meridie nimis opulentam plagam, quam umbelicum solis [= or-
bis?] idem chosmografus refert, temperatam et ditissimam, ventis sa-
lubrem, imbribus pinguissimis infectam. Es handelt sich in diesem
Zusammenhang offenbar um Indien (vgl. p. 12, 6: e Gange hippo-
potamos). Unmittelbar vorher war von einer linea praemagna tendens
ad meridiem, d. h. doch wohl vcfn dem mitten durch Indien gezogenen
Mei'idian von Ozene die Rede.
8 Wii.MEUM ITkinku'h Kos<iiku: l7^', 2
zu wi'i-dou, zwei wichtige Merknuilo, ilic mit oini<]i;«M- Wahr-
si'heinlickeit nur auf das uach altimüsi-luir Auschauunj^
unter dem Meridian von O/.ene liüj;eiule Ceylon bc/.o^^on
werden können.'-) FiKr.KWKF- a.a.O. S. 123 sa'^t darüber:
'Ethicus visita le nonibril do la Icrre ou de riieniisphere,
l'ile Syrtinioe, par hiqnelle passe d'un pole a l'autre la ligne
meridionale, ou le meridien i|ui divise rheniisphere et
riiabitablo en deux parties egales occidentale et Orientale . . .
Cette doctrine de la ligne meridionale ou du meridien
(jui passait ]'ar l'ile (Syrtiuice), qui est le siege du ciel et
le uombril de la terre, vient des Grecs, mais sa confusion
avec les doctrines indiennes et avec le meridien
d'Oudjein est l'ouvrage des Arabes'. Auch diese Auf-
fassung Lelewels scheint eher auf Zeylon als auf die sonst
in älterer Zeit völlig unbekannte und deshalb unseres Wissens
nie benannte Insel Reunion zu deuten.
4. Die Assyrer und Babylonier (rgl. Omphalos S. 2 3 f.).
Daß auch Ninive und Babylon sich gerühmt haben,
Mittelpunkte der Erde zu sein, kann ich jetzt mit weit bes-
seren Zeugnissen belegen als es Omphalos S. 2 3 f. geschoben
ist. Vor allem kommt hier in Betracht der Umstand, daß,
wie mir Goldziher nachweist, Ja'kübi, Kitäb al-boldan (Bibl.
Geogr. Arab. Bd. VII p. 2^^, 19 ff.) sagt, daß seine Beschrei-
bung „deswegen mit dem 'Irak [= 'Iräk-Arabi d. i. Meso-
potamien und Chaldaea] beginne, weil es die Mitte der
Welt und der Nabel (surra) der Erde ist; Baghdad (in
der Nähe der Ruinen von Babylon) wieder ist die Mitte
.-rsj WuTTKE a. a. 0. S. XII f. ist geneigt, die Insel Syrtinice mit
Reunion (Bourbon) zu identifizieren, doch steht dieser Annahme wohl
die Tatsache entgegen, daß Reunion, soviel wir wissen, erst im Jahre
1505 von dem Portugiesen Mascarenhas entdeckt wurde und von dem
Meridian Ozenes sowie von allen zur Zeit des Aethicus bekannten
Ländern (auch von Taprobane = Ceylon; s. a. a. 0. p. 14 Kap. 24) viel
zu weit abliegt.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 9
vom 'Iräi;.".^^) Da nun aber die islamisclien Araber (wie
ich weiter unten zeigen werde) sonst meist entweder Jerusa-
lem oder Mekka für den Nabel der Erde erklärt haben,
ist es so gut wie sicher, daß Ja'kübi in diesem Falle einer
altbabylonischen Anschauung gehuldigt hat, die sich auch
sonst sehr wahrscheinlich machen läßt.
Vor allem verweise ich auf die uralte Sage vom Turmbau
zu Babel und der dadurch veranlaßten Spaltung der ursprüng-
lich einheitlich gedachten Sprache, insofern hier Babylon
deutlich als Zentrum der Erde und Urheimat der Menscliheit
erscheint. Genes. 11, 1 (Kautzsch) heißt es: 'Es hatte aber
die ganze Menschheit eine Sprache und einerlei Worte'. —
V. 4: 'Da sprachen sie: Wohlan, wir wollen uns eine Stadt
bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht,
und wollen uns ein Denkmal machen, damit wir uns nicht
über die ganze Erde hin zerstreuen' (der Turm, auf
dessen Spitze sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein astro-
nomisches Observatorium befand, sollte also zugleich das
weithin sichtbare Symbol der Erdmitte und der Einheit aller
Menschen sein). — V. 6 'Und Jahwe sprach: Ein Volk sind
sie und haben alle dieselbe Sprache'. ... V. 7: 'Wohlan, wir
wollen hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, so
daß keiner mehr die Sprache des andern verstehen soll.' —
V.8: 'So zerstreute sie Jahwe von dort über die ganze
Erde, so daß sie davon abstehen mußten, die Stadt zu er-
bauen'. Daß in dieser von mir absichtlich in ihrem ursprüng-
lichen Wortlaut angeführten Legende Babylon mit seinem ge-
waltigen Stufenturm nur als Mittelpunkt des 'Orbis terrarum'
und Urheimat der gesamten Menschheit (vgl. unten das von
Adam und den Orten seiner Erschaffung handelnde Kapitel!)
13) Vgl. auch Lelewel, Geogr. du moyen äge II, Epilogue chap.
70 p. 121: 'Dans ces Images rondes [gemeint sind arabische Welt-
karten] on distingue une habitable dont le centre est ou Jerusalem
ou les environs de Mekka, de Bagdad.' Vgl. Proleg. p. LXXXI
(vol. I). S. auch Jeremias, Handb. d. altor. Geisteskultur S. 56 und
189 f. (Babylon = 'Mittelpunkt des himmlischen Landes').
lo WiMiKLM Hkinuuii Rosciikk: I70, 2
verstiindoii avoihUmi kuim. dürfto wohl nicht dem «^erin^'steu
ZwoitVl uiitt>rlieg(Mi.
Herrn Trof. .1. Hkiin in Wiir/,l)urp;' vor(hinke ich ferner
folgende wortvolle briefliche Mitteiluni,^:
,,Mit dem 'Omphalos' S. 23 von A. Jkwkmias erwähnten
DUli. AN. Kl weiß ich für die Omphalosvorstellun«^ nicht
viel an/.nfani]jen. Aber zur babylonischen Vorstellung^ von
einem Weltmittelpunkt darf ich mir vielleicht erlauben,
Sie an meine von Ihnen so freundlich beurteilte Studie, über
die Siebenzahl -zu erinnern, in der die babylonißchen Stufen-
türme als Symbole des Kosmos gedeutet sind, dessen Herr-
schuft dem auf der Spitze thronenden Gott zukommt (S. 15).
Sollte der Thron vielleicht als Zentrum der Welt gedacht
worden sein? Die Namen der Stufentürme würden dazu
passeu.^^)
Der Stufenturm Gudeas hieß (S. 8 f.) „Haus der 7 iubu-
gäte", d. h. „Haus der 7 Welträume" oder der Welt; der von
Babel E-temen-an-ki „Haus der Grundfeste Himmels und der
Erde" (S. 9). Der Tempel stellt also die Grundlage der
Welt dar.^^) Ein Tempel von Kis fKis bedeutet „Gesamt-
heit, Welt" und kommt mehrfach als Stadtname vor) heißt
Te-an-ki-bi-da „Grundfeste Himmels und der Erde" (S. 10),
der Tempelturm von Borsippa „Haus der 7 Beherrscher Him-
mels und der Erde" (S. 10 f.). Daß die Stufentürme Sinn-
bilder des Kosmos sind, scheint mir sicher; daß bei ihrer
Herstellung die Vorstellung von einem Weltberge mitgewirkt
14) Dieselbe Vorstellung macht Wensinck in seiner Abhandlung
'The navel of the earth' in einem besonderen Kapitel (TU E, S. 54 0"-)
auch für die Westsemiten wahrscheinlich. Vgl. z. B. i Chron. 29, 23:
'Und so saß Salomo an Stelle seines Vaters David als König auf dem
Throne Jahwes' [in Jerusalem].
15) Eine westsemitische Parallele dazu bildet offenbar die jüdische
Vorstellung ^om Stein Schetija im Tempel zu Jerusalem, der zugleich
als Mittelpunkt der Welt und als dereu Grundstein aufgefaßt
wurde. Vgl. Neue Omphalosstudien S. 16 f., Feuchtwang in Monats-
schrift f. Gesch. u. Wissensch. des Judentums 1910 S. 54-5 ll"- u. 727 ol>-
S. auch unt. Kap. II A.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. i i
hat, ist mir walirscheinlicli.^^) Der sumerische Name für
Tempel i-kur „Berghaus" ist auch ins Babylonische über-
gegangen (ekurru), 'viele Tempel werden als Berge bezeich-
net, z. B. E-har-sag-kur-kur-ra „Länderberg" ist der Name
des Haupttempels Assurs, und ähnliche Namen sind häufig.
Der Gott Ellil-Bel heißt kur-gal „der große Berg". Von hier
aus ließen sich wohl die babylonischen Vorstellungen von
einem Weltmittelpunkte erklären und Beziehungen zu
denen anderer Völker finden, wozu Ihre sorgfältigen Samm-
lungen die beste Grundlage geliefert haben. Ich werde das
babylonische Material einmal genauer prüfen und hoffe viel-
leicht darüber einmal eine Untersuchung liefern zu können."
Auch die eigentümliche Rolle, welche Babylon in der Legende
von der Erschaffung Adams spielt (s. unten Kapit. 11 B 4),
deutet, wie später gezeigt werden soll, darauf hin, daß es als
Zentrum der bewohnten Erde angesehen wurde.
Ebenso wie Babylon (und Bagdad) scheint auch Ninive
als Mittelpunkt der Erde gegolten zu haben. Dies ist mit
einiger Sicherheit zu erschließen aus den leider etwas ver-
derbten Worten des Aethicus Istricus cap. 107 p. 80 ed.
Wuttke: 'Assyria eteuim nobilissima, purpora quidem pro-
cerior, ornata opibus omnium bonorum. Umbelicum ac
medullam*) Niniven, quam philosophus inter alias urbes moe-
nianam Archochyrani[?] vocitavit,' Vgl. dazu Lelewel,
Geogr. du moyen äge II p. 9, der (Anm. 21) dazu bemerkt:
'Fra Mauro pres de ce nombril pla^a le centre, le nombril
de sa mappemonde (Geogr. du moyen äge 165).' Daß diese
Zeugnisse für Bab3don und Ninive sich gegenseitig stützen
und beglaubigen, braucht kaum bemerkt zu werden. Wir
werden später zu zeigen suchen, daß auch im Gebiete der
*) = meditullium?
16) Wensinck in seiner weiter unten vielfach von mir zitierten
Schrift The navel of the earth == Verhandeliugen der K. Akademie
van Wetenschappen. Amsterd. 18 16 weist nach, daß die Westsemiten
dem Nabel der Erde (Jerusalem, Mekka usw.) eine Höchstlage zu-
schrieben.
Phü.-lii8t. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 2
12 Wii iiri.M Hkinimcu l\os("iir,K: 1/0,2
Westsotuiton verscliiocU'iu' Sii'ulte sie-li d\o l'^lire, Nuhcl der
p]r(it> /u sein, streitinf mai'ht«Mi, besonders Jerusalem, Sichern,
Bethel, Mekka, Dschedda.
11. Der Omphalos^ediinke bei den .Juden.
A) Jerusalem als Nabel der Erde.
Bereits in meinen beiden ersten Al)liandlungen (Ompha-
108 S. 24 ff. und Neue Omphalosstudien S. 15 ff.) habe ich auf
Grund einer Anzalil von Zeugnissen (low Beweis geführt, daß
Jenisaleui als das Zentrum d(!S lieiligen Landes^^) seit alter
Zeit auch den Anspruch erhoben hat, der Nabel der Erde /u
sein. Es sei mir jetzt nach dem Erscheinen der Arbeiten
von Wensinck, Klameth u. a., durch die sowohl das Zeug-
nismaterial als auch die Zahl der in Betracht kommenden
Gesichtspunkte wesentlich vermehrt worden ist, verstattet, die
ganze Frage noch einmal ausführlich zu behandeln und auf
diese Weise meine früheren Darlegungen tunlichst zu ergän-
zen. Dabei sei jedoch vorausgeschickt, daß ich hier zunächst
nur die nicht mit der Adam legen de zusammenhängenden
Zeugnisse anführen und behandeln werde, während die der
Adamsage angehörenden, teils aus Gründen der Methode teils
um die bei der übergroßen Fülle des Materials sonst leicht
entstehende Unül^ersichtlichkeit tunlichst zu vermeiden, einem
besonderen Abschnitt (s. Kap. IIB) vorbehalten bleiben müs-
sen. Eine derartige kritische Sonderung bietet zugleich den
nicht o-erinwen Vorteil, daß durch sie eine Anzahl neuer Ge-
sichtspuukte genwonnen wird, die dem Verständnis nicht bloß
des Omphalosgedankens sondern auch des Schöpfungsmythus
der Westsemiten zu gute kommen dürften.
17) Joseph, bell. Jud. 3, 3, 5: iieCccLtarr} r^g 'lovöaiag noXig ra
'IfQOööXi'ua KSitai, Trap' 0 y.at, tlvss ov% affMOTtcog oiicpaXbv tb aaxv
Tijg %wQDcg iy.üXsGav. Ebenso schon der Aristeasbrief (um 200 v. Chr.)
ed. Wendland p. 25, 8ff. : 'Slg yccg ■7taQSYSvi]&rifiev i^tl zov *** Kai
roTtov, i9scüQovji^v xi]v tioXiv ^i6r\v xaiLtvrii' t^s (iXr^g 'lovöaiag in
ÖQovg vibr]Xr]v ^)'^ovtog ti]i' aväraciv.
70, 2] Der O.mphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. i 3
Zu der (Omph. S. 24) als grundlegend angeführten be-
rühmten Stelle des Propheten Ezechiel (um 595 v. Chr,) 5, 5:
'So spricht der Herr Jahwe: Dies ist Jerusalem, die ich mitten
unter die Völker gestellt habe, und rings um sie her Länder' ^^)
kommt jetzt aus noch älterer Zeit (etwa 720 bis 700 v. Chr.)
das Zeugnis des Jesaias 2, 2: 'In der letzten Zeit aber wird
der Berg mit dem Tempel Jahwes fest gegründet stehen als
der höchste unter den Bergen und über die Hügel er-
haben sein.' Daß wir in der Tat berechtigt sind, auch diese
Worte auf die einzigartige Geltung Jerusalems als Erdnabel
zu beziehen, scheint mir namentlich Wensinck, The navel of
the earth S. 13 ff. nachgewiesen zu haben, der darauf auf-
merksam macht, daß nach dem Glauben der Israeliten, Syrer
und Araber die Vorstellung des Erdnabels fast untrenn-
bar mit der einer Höchstlage verbunden ist.^^) Mit die-
ser Höchstlage aber hängt natürlich wieder die Vorstellung
zusammen, -daß Jerusalem und ganz Palästina nicht von
der Sintflut betroffen worden seien. Vgl. Bereschit Eabba
fol. XXXVII vo. a, 1. 20 ff. nach Wensincks Übersetzuno-
' rj
18) Vgl. dazu auch Ezech. 38, 12, wo die Israeliten bezeichnet
werden als ^Leute, die auf dem Nabel der Erde wohnen', und Hie-
ronymus zu Ezech. 5, 5 = Migne, P. lat. XXV, 521 ff. : Haec dicit Do-
minus Dens: 'Ista est Jerusalem: in medio gentium posui eam et in
circuitu eius teiTas.' Jerusalem in medio mundi sitam hie idem
Propheta testatur, umbilicum terrae eam esse demonstrans. Et
Psalmista nativitatem exprimens Domini: 'Veritas, inquit, de terra
orta est' (Ps. 48, 12). Ac deinceps passionem: 'Operatus est, inquit,
salutem in medio terrae' (Ps. 73, 12). A partibus enim Orientis
cingitur plaga, quae appellatur Asia. A partibus Occidentis eius quae
vocatur Europa. A meridie et austro: Libya et Africa. A septentrione
Scythis, Armenia atque Perside et cunctis Ponti nationibus. In me-
dio igitur gentium posita est. Vgl. Klameth a. a. 0. S. 90 und Maki-
NELLi, Die Erdkunde b. d. Kirchenvätern, Vortrag . . . von Dr. G. Ma-
rinelli, deutsch von Neomann. Leipz. Teubner 1884 S. 75 Anm. 37 ff.
19) Da ich die von Wensinck beigebrachten Zeugnisse nebst
einigen andern und den Wortlaut von Wensincks Beweisführung weiter
unten in dem der Bedeutung des Erdnabels in der Adamlegende ge-
widmeten Abschnitt eingehend behandeln werde, so kann ich mich
hier damit begnügen darauf hingewiesen zu haben. (S. imt. Anm. 98.)
14 WiKHK.i.M Hkin'ukh Ruschku: [70.2
(ji. u. C). S. i.s): 'Tlio hiiul of lsr;u>l was not Ruhmorged by
tlu^ Dolu^^e.'-")
Die «floii'he Aii.scliauuii«' fiinltt sich eiin-'rsoits in der
Sage von dem ebenfalls als lOrduabel gellendun hochheiligen
Herge der Saniaritaiier Garizim bei Sichern^'), anderseits im
Mythus von Deukalion, dem einzigen aus der SintHut geret-
teten Manne, der bekanntlich am Parnass bei Delphi, dem
OiKfcilbs yf/g, landet, welcher Berg natürlich als einziger über
die Flut emporragender Punkt /u denken ist.
Überhaupt spielt Jerusalem als Erdnabel eine Haupt-
rolle in den Mythen von der Weltschöpfung und Sintflut,
wie ich bereits früher (Omphalos S. 25 f. und Neue Ompha-
losstudien S. 16 f.) nachgewiesen habe. In dieser Beziehung
kommt namentlich 'der rätselhafte, jeder Etymologie spot-
tende Stein Schetija' (Kittel in Herzog Plitt-Haucks Real-
enc. XIX, 497, 2 4 ff.) -2) in Betracht, von dem aus nicht bloß
20) Vgl. ferner Bin Gorion, D. Sagen d. Juden I, 57 u. 353: 'Das
heilige Land liegt höher denn alle Länder' : Sifre debe Rab ed. M. Frie-
demann, Wien 1864 (halachischer Midrasch zu Numeri u. Deuterono-
mium) Deut. § 152 und Ta'anit 10" (zitiert von Wensinck a. a. 0. S. 16)
loa: 8. unt. Kap. III, 2 a. E. u. S. 15.
21) S. unt. Kap. III a und vgl. Wensinck a. a. 0. S. 15. Auch auf
Mekka ist dies Motiv übertragen worden. Nach muslimischem Glauben
war auch die Ka'aba von der Sintflut befreit (Wensinck a. a. 0. S. 15;
3. Kap. IV); denn auch Mekka gilt als höchstgelegener Punkt der Erd-
scheibe.
22) Weiter sagt Kittel a. a. 0. über diesen merkwürdigen Stein:
'Das Allerheiligste des Tempels [des Serubbabel] war^ nachdem die
Lade schon im alten Tempel verschwunden w^ar, vollkommen leer. An
der Stelle, wo sie gestanden hatte, soll sich eine drei Finger hohe
Steinplatte befunden haben, auf die am Versöhnungstage der Hohe-
priester das Rauchfaß (ßviiiar'^Qiov) stellte. Es ist der Stein Sche-
tija (Jos. bell. jud. 5, 5, 5. Talm. Joma 5, 2). Was das Wort bedeutet
(es spottet jeder Etymologie) und was der Stein eigentlich sollte, ist
in vollkommenes Dunkel gehüllt. So kann mau sich fragen, ob der
Stein nicht ein bloßes Phantasiegebilde war, entstanden aus dem Bedürf-
nis, in den vollkommen leeren und so gut wie zwecklosen Raum wenig-
stens irgend etwas zu verlegen'. Letztere Annahme scheint mir doch
etwas zu kühn; im übrigen verweise ich auf gewisse den Raucher-
70,2] Der Omphalosgedanke BEI VERSCHIEDENEN Völkern. 15
die Welt gegründet, sondern auch das Gewässer der Urflut und
Sintflut verschlossen sein sollte (Feuchtwang in d. Monats-
schr. f. Gesch. u. Wissensch. d. Judentums 19 10 S. 547 ff.,
Neue Oniphalosstudien S. 15 ff.; vgl. auch Wensinck a.a.O.
S. 15 ff.). Ja die Rabbinen lehrten geradezu, daß das jeru-
salemische Heiligtum vor der übrigen Welt, sogar vor dem
Lichte, erschaffen worden sei, indem sie sich für diese An-
sicht auf Jesaias 28, 16 ff. beriefen:
Darum hat der Herr Jahwe also gesprochen:
Schon habe ich im Zion einen Grundstein gelegt, einen
geprüften Stein, einen kostbaren Eckstein festester Grund-
lage usw.
Dazu gibt We>^sinck a. a. 0. wertvolle Erläuterungen,
indem er bemerkt:
Jewish Hterature gives füll information on tliis point Yoma 54b:
,.Tlie World has been created beginning from Sion. In the same place
the C"':;" r'i'irr and the j'-xn n"b'r are discussed; then follows:
„the scholars say : the one and the other have been created beginning
from Sion." — Ta'anit 10 a the follo-wing is said about the holy Land
„cur masters have taught: the land of Israel was created first, and
the whole of the rest of the world afterwarda." — In Bereshit Rabba
fol. V, vo., a supra, it is said that the light was created before the
World. — In Midrash Shöher Tob p. 151, 1- H it is asked: „Wberefrom
did the Holy oue bring forth Light?" Rabbi Berekyah said on the
authority of Rabbi Isaac: „He took it from the Sanctuary." A simi
lar tradition is to be found in Bereshit Rabba fol. V, vo., b., 11, infra.
Auch aus der syrischen und arabischen Literatur führt
Wexsinck a. a. 0. S. 17 ff. mehrere interessante Belege für
die Präesistenz und die zentrale Bedeutung des jerusalemischen
altar {&vfiiuT'^Qiov) im Tempel als inaalTarov ovgavov yial yf]g oder
als cv^ißolov xfjs iv iiiaa reo -noGiLa) r&ds ■ii£i^ivi]g yfje (Clem. Alex.
Strom. 5, 6 p. 665; vgl. Neue Omphalosstudien S. 16 ob.) oder als ft^-
eov yfjg kcxI vdccrog av^ßoXov und zbv \Liaov rov Koaiiov xoitov xsxXtj-
qanivov (Philo, de vit. Mos. II p. 150 M.) bezeichnende Ausdl-ücke, die
den Stein Schetija als Basis des Thymiaterions (Altars) zu bezeugen
scheinen. S. auch Jellinek, Beth ha-Midr. 5, 65 (u. S. 17). — Ähnlich
wie ich urteilt über das %^vuiatriQi.ov als Erdenmitte und den Stein
Schetija, wie ich nachträglich gesehen habe, auch Klameth a. a. 0. S.94.
i6 W ii.iiKLM Hi;tMUCu RusciiKii: [7O1 2
Tempels für die Wcltscliiipfiing an, z. B. dii' Oileii Siiloinos
4, I — 4, wo es heißt: 'Niemand, o moiu Gott, verändert Deine
heilii^e Stätte, und es ist nicht möglich, daß er sie verän-
dere nnd an einen andern Ort versetzen sollte, weil er keine
Gewalt über sie hat. Denn Dein Heiligtnm hast Du
bezeichnet, ehe Du andere Orte erschul'st; die Stätte,
die die älteste ist, soll nicht von denen verändert werden,
die jünger sind als sie.' Mit Hecht glaubt W., daß der
Dichter mit die.sen Worten gewisse Richtungen 7a\ bekämpfen
und 7.U widerlegen sucht, denen die Autorität Jerusalems ein
Dorn im Auge war; mau denkt unwillkürlich an die An-
sprüche der Samaritaner (Sichern, Garizim) oder der Damas-
zener (s. Kap. II 4 u. III). Vgl. ferner Zamakhshari's Commentary
on the Kor'äu ed. Nassau Lecs, Khadim Hosain and Abd al
Hayi, Calcutta 1856—59 zu Sure 2, 37 und Dyarbekri's
Ta'rikli-al-Khamis, Kairo 1283 vol. 1, 31, i, wonach Allah
die Erde geschaffen hat von der Stätte aus, wo jetzt Jerusa-
lem liegt (WensiisCK S. 18). Wir werden später sehen, daß
die weitere Entwickelung des islamischen Dogmas dazu ge-
führt hat, auch diese Vorstellung auf Mekka zu übertragen.
Fragen wir nunmehr, wie es gekommen sei, daß man
den 'Nabel der Erde' auch als Ausgangspunkt der Welt-
schöpfung ansah, so läßt sich eine sehr einfache und klare
Antwort geben. Offenbar beruht die ganze Vorstellung aui
dem Vergleiche des embryonalen Nabels mit dem Nabel der
Erde oder der Welt, wobei es ziemlich gleichgültig erscheini,
ob man sich die Erde oder Welt als ein lebendiges organi-
sches Wesen dachte, oder nicht. Denn das gesamte Alter-
tum scheint geglaubt zu haben, daß das organische Leben
des Embryo sich vom Nabel als dem Zentrum des Körpers
aus entwickele-^), ein Gedanke, der fast unwillkürlich zu der
23 j Vgl. z. B. Philolaos fr. 13 Diels = Tlieol. arithm. p. 20, 35 Ast:
TBcaagsg uqxccI tov Jmou rov J.oyixov, wOTteg xal ^iXölaog iv rm itsgl
(fvOicog Xiyti, iyy.b(fa).og, y.uQÖLU, öucpuXog, aiÖolov. iyy.t(f^a).os liBV
vöov, y.aQÖiu öa ipvxrjS kuI alaQ-rjßiog, o^icpaXbg dt gi^diGLog xat
icvutfvciog TOV n-pwror, aiöoTov ös cniQyiarog v. r. /.. — Vindi-
70, 2] Dek Omphalosgedanke bei Verschiedenen Völkern. i 7
Vorstellung führen mußte, daß auch der 'Nabel der Erde'
der Ausgangspunkt der AVeltschöpfuug gewesen sei. Vgl.
z. B. Jellinek, Beth ha-Midr. 5, 65: „Gott gründete mit
Weisheit die Erde. Gott erschuf die Welt wie das vom
Weibe Geborene. So wie dieses vom Nabel aus sich
entwickelt, so begann Gott die Welt vom Nabel aus
zu erschaffen, woher sie sich dann weiter entwickelte. Wo
ist der Nabel? Das ist Jerusalem. Der Nabel selbst ist
der Altar.^^) Und warum heißt er Stein schettijja? Weil
von ihm aus die ganze Welt gegründet wurde." -^)
Selbstverständlich hängt mit dieser Bedeutung Jerusalems
und überhaupt des heiligen Landes als Mittelpunkt der Erde
auch die im folgenden Kapitel besonders zu behandelnde
Vorstellung zusammen, daß die Erschaffung des ersten Men-
schen in der Mitte der Erdscheibe stattgefunden habe und
folglich auch das Paradies dorthin zu verlegen sei (vgl. Om-
phalos S. 26 ob.).
Zu den von mir bereits (s. Omphalos S. 24ff- und Neue
Omphalosstudien I S. i6ff.) aus dem Buche Henoch (um iio
V. Chr.) sowie aus Talmud und Midrasch angeführten Zeug-
nissen für die im rein geographischen Sinne zu verstehende
zentrale Lage Jerusalems, d. h. des Terapelberges. des Tem-
pels und des Altars bzw. des Synedrions, füge ich jetzt noch
eine Anzahl weiterer Belege aus der christlichen Literatur
des ausgehenden Altertums und des Mittelalters hinzu.
cianus cap. 16 ^ Wellmakn, Fragm. d. griech. Ärzte I, 2i8f.: primo
mense iactus seminis nostri in utero materno congregatur in um-
bilicum, in hoc est congregatio etc. Mehr b. Wellmann a. a. 0. und
RoscHEB, Omphalos S. 7 Anm 6.
24) S. oben Anm. 22; Omphalos S. 24 f.
25) Feuchtwang, Monatsschrift f. Gesch. u. Wissensch. d. Judent.
1910 S. 727 f. Röscher, Neue Omphalosstudien S. 10 Anm. 24. Wen-
siNCK a. a. 0. S. 19. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen III, 2 S. 219:
'Abba Saul sagt: Von seinem Nabel aus sendet es seine Wurzeln
weiter und weiter'. Hier liegt wohl der uralte, namentlich von den
irriechen scharf ausgeprägte Vergleich der Nabelschnur mit einer
Wurzel zugrunde; vgl. Omphalos S. 6 f. Anm. 6.
l8 \\ ii.iiii.M llr.iNKK'U Roscokk: [70.2
Aus der Zeit ilir Kaiserin Helena, der Mutier Konstan-
tins d. (Jr., stammt l)ekanntlieli die soj^enannto Kreu/probe-
wundorlegende, über wrlchc vj^l. E. Nkstlk, De Saucta Cruce.
Herl. 1889, S. 49 und Klamktii a. a. 0. S. 91 A. 2. Hier
beißt es: „Und sie landen drei Kreuze, die verborgen gowoson
waren. Und dudas nalim sie und brachte sie zu der gläu-
bigen Kaiserin (Helena). Da sprach diese: 'Welches von
ihnen ist das Kreuz unseres Herrn?' Er sprach; 'Ich weiß
es nicht.' Da le^^te sie dieselben in die Älitte der Stadt,
indem sie erwartete, an ihnen die Herrlichkeit Gottes zu sehen.
Und um die neunte Stunde des Tages trugen sie einen toten
Jüngling daher auf einer Bahre, um ihn zu begraben. Und
als Judas es sah, augenblicklich faßte er sich und sprach
zur Kaiserin:. 'Xun, meine Herrin, sollst du die Kraft des
Kreuzes sehen und die in ihm verborgene Herrlichkeit.' Da
setzten sie die Bahre nieder, und er nahm eines von den
Kreuzen und legte es auf die Bahre. Und als das dritte
Kreuz daran kam, daß es auf den Leichnam gelegt wurde,
zur Stunde stand der Jüngling auf." (Vgl. Mus. Brit. Add.
12 174 u. 14644 b. Nestle a. a. 0. 61.)
Der hier gemeinte, im Zentrum von Jerusalem befind-
liche Punkt ist offenbar identisch mit der 'valde summa co-
lumna', welche in dem um 670 geschriebenen Traktat des
Adamuanus (= Arculfus) De locis sanctis 1. HI bei Geyer, Iti-
nera Ilierosolymitana = Corp. Script. Eccles. lat. Vol. XXXVHI
p. 239 erwähnt wird.^'') Das Zeugnis lautet:
'De aliqua valde summa columna, quae a locis sauctis ad sep-
tentrionem in medio civitatis stans pergentibus obvia habetur,
breviter dicendum est. Haec eadem columna, in eo statuta loco, ubi
mortuus iuvenis cruce Domini superposita revixit, mirum in modum in
aestivo solstitio meridiano tempore ad centrum caeli sole perveniente
umbram non facit, solstitio autem transmisso, quod est VIII kal. Jul.,
ternis diebus interj actis paulatim decrescente die umbram primum facit
25) Vgl. über diese Schrift und ihren Verfasser Heisenberg, Grabes-
kirche u. Apostelkirche I, S. 175 u. Geyer a. a. 0. praefat. p. XXXIII,
sowie in seiner Abhandlung 'Adamnanus Abt v. Jona.' Augsburg
1895, S. 3-
70,2] Der Omphalosgedanke bei verscuiedenek Völkern. 19
brevem, deinde processu dieium longiorem. Haec itaque columua, quam
solis claritas in aestivo solstitio meridianis horis stantis
in centro caeli e regione desuper circumfulgens ex omni parte cir-
cumfusa peiiustrat, Hierosolymam orbia in medio terrae sitam
esse protestatur. ^^) Unde et psalmographus propter sancta passio-
nis et resurrectionia loca, quae intra ipsam Heliam continentur, vati-
einanscanit: 'Deus autem rex noster ante saeculum operatus est salutem
in medio terrae' [Psalm, 73, 12], hoc est Hierusalem, quae medi-
terranea et umbilicus terrae dicitur'. (Vgl. Hieron. in Ezech. 5, 5;
9. oben Anm. 18.)
Ähnlich Baeda in seinem liber de locis sanctis = Geyer a. a. 0
S. 307 (Baeda schrieb bald nach 700): 'In medio autem Hierusa-
lem, ubi cruce Domiui superposita mortuus revixit, columna celsa
stat, quae aestivo solstitio umbram non facit Unde putant ibi me-
diam esse terram et historice dictum: ''Deus autem, rex noster, ante
saecula operatus est salutem in medio terrae'. Qua ductus opinione
et Victorinus Pictabionensis antistes ecclesiae de Golgotha scribens ita
inchoat:
Est locus, ex omni medium quem credimus orbe
Golgotha ludaei patrio cognomine dicunt'. Vgl. Migne P. L. V p. 294.
Hier erhebt sich die Frage nach der ursprünglichen Be-
deutung der in der Mitte der Stadt Jerusalem errichteten
hohen Säule. Klameth a. a. 0. S. 91 f. identifiziert sie mit
der auch ^auf der Madabakarte^^) verzeichneten Kolossalsäule,
welche wohl schon seit der Erbauung Aelias den Mittelpunkt
des halbkreisförmigen Torplatzes innerhalb des jetzigen Da-
maskustores sowie den umbilicus oder das Zentrum des
städtischen Straßennetzes bildete, und deren imposanten
Eindruck die so viele Jahrhunderte überdauernde arabische
26) Vgl. dazu die ganz gleiche Begründung der zentralen Lage
Jerusalems, in der Legende vom Kreuzprobewuuder oben S. 18 und
Marinelli, D. Erdkunde b. d. Kirchenvätern, Vortrag von Dr. G, M.,
deutsch von Neumann. Leijizig 1884, S, 76 Anm. 44. Hier führt M.
folgende Worte aus Nicol. filius Soemundi, abbas thingorum, 11 54,
an: Ibi (zu Jerusalem) est medium orbis; ibique sol festo s. Joan-
nis stat in centro coeli. (Vgl. Werlauff, Symbolae ad geogr.
p, 30, 52 u. Lelewel a. a. 0. Kap. 49.)
27) Vgl. Klameth a. a. 0. S. 92 Anm. i, der auf M. Gisler, Jeru-
salem auf der Mosaikkarte von Madaba, in: Heil. Land LVI (19 12)
S. 225 ff. verweist.
^o WiLUKi.M Hkinuium llosciiKU: [70, 2
Bezeiclmuntj: des l);imaskustores .,l)äl) fl-'uniCid" mih besten
dartut'.
Diese Eikläiuni^ liat in der Tut iiiuiielieH für sicli. Man
ilenke z. IV au ilio beiden iiiinitten der Stadt Uoui auf dem
Forum Uoumuuni jj^nu/, in der Nabe der l\eduerbübue uud
des Coüeordiatem])els erricbteten Monumente: den von Kon-
stantin erbauten Uinbilicus urbis J{ojnae und das von Au^ustuH
im Jahre 28 v. Chr. errichtete Milliariuni aureum. Ersterer
galt als ideeller Mittelpunkt der Stadt und des Reiches, letzteres
als Geucralmeilenzeit^er oder als Zentrum des gesamten rö-
mischen Straßennetzes (vgl. Omphalos S. 35). Auch in der
gewaltigen in der Üiadochenzeit gegiündeteu Hauptstadt Sy-
riens, nünilich in Antiochia ad Orontem, gab es einen das
Zentrum der Stadt bezeichnenden 'Omphalos', nach dem
auch der ganze ihn umgebende Platz benannt war (Om])halos
S. 34). Das ältere Vorbild aller dieser Monumente war wohl
der berühmte schon von Pindar (fr. 45 Boeckh = 53 Bergkj
gepriesene uoreog ö^cpuXbg ■9-fo'ftg Athens, d. h. der so ziem-
lich in der Mitte der Stadt von den Peisistratiden errichtete
Zwölfgötteraltar, der zugleich als Zentral ra eilenstein für
das gesamte Straßennetz Athens und Attikas diente (Om-
phalos S. 33)"^''). Wie leicht diese „columna celsa" inmitten
der Stadt Jerusalem von den späteren Bewohnern, die sich
rühmten, im Mittelpunkt der Erde zu wohnen, auch zum
hacpalog yfjg erhoben werden konnte, dürfte wohl ohne wei-
teres einleuchten.
Auch zu der naiven Begründung der zentralen Luge Je-
rusalems in unserer Legende hat Klameth zwei treffende
Analogien gefunden, indem er einerseits auf den Erdennabel
28») Nach E. CuuTiüs, z. Geschichte d. Wegebaus bei d. Griechen
== Ges. Abh. I S. 116 'stand nicht bloß im Kreuzpunkte (xstQccoSia)
der Hauptstraßen zu Antiochia sondern auch zu Alexaudria, Nikaia
und Byzantion ein in Stein ausgehauener Omphalos. Die Seleuciden-
Münzen zeigen ihn mit Binden umwunden, Apollon auf ihm sitzend,
den Pfeil zur Erde senkend, zum Zeichen seiner gnädigen Gesinnung
(s. Müller, Antiq. Antioch. I p. 43).' Vgl. Omphalos Taf. I, 13 u. 16.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 2 i
der Chiiieseii (Omphalos S. 20 f.), anderseits auf die weiter
unten von uns anzuführende volkstümliche Begründung der
zentralen Lage des Jakobsbrunnens bei Sichern verweist
(s. unt. Kap. III a). Die Samaritaner nämlich behaupteten, daß
dieser Brunnen den Nabel der bewohnbaren Erde bilde, weil
alljährlich an einem gewissen Sommertage zur Mittags-
zeit die Sonne in das Wasser des Brunnens hinab-
steigt, ohne einen Schatten zu werfen.
Ferner sei hier noch einer 'O^q^aXög genannten Örtlich-
keit im Räume des mittelalterlichen Jerusalems gedacht, die
in dem sogenannten Typikon' (vor 720) erwähnt wird. Unter
diesem 'Typikon' ist eine interessante neuerdings von Papa-
dopulos Kerameus aufgefundene, in der Handsclirift 'Ayiov
ZxavQov 43 vom Jahre 11 22 erhaltene und unter dem Titel
TvitiKov xfig iv 'IsQoöoXv^oig ixKlriöLccg in den 'AvdXexta
'TsQOdo^vfiitixijg ZxKivoXoylag T6[i. dsvz, Petersburg 1894,
S. I — 254 herausgegebene Urkunde über gewisse kirchliche
Riten während der Kar- und Osterwoche zu verstehen. ^^'')
Genauer gesagt handelt es sich um eine Osterprozession?
die im 8. Jahrhundert nach den einzelnen Stationen (Geth-
semane, Mexccvoia xov äyCov TJbxqov^ der Sophienkirche u.a.m.)
unternommen wurde, wobei fromme Lieder ertönten und Prie-
ster biblische Texte verlasen. Nun heißt es (p. 133, 26)
nachdem die Texte für den Stationsgottesdienst dg xijv ayiav
Zo(pCav angegeben sind: Evd-vg tiolov^sv Xixi]v soll xov 'O/i-
(pak6v, [leGov xov ayCov KiJTtov^^), tjJccXXovxsg <5xi%riQov
,28'') Vgl. darüber Heisenberg, Grabeskirche I, 176, 2 und 190 f.,
Baumstark, Die Heiligtümer des byzantin. Jerusalem nach einer über-
sehenen Urkimde, Oriens Christianua V (1905) S. 227 — 289. Derselbe,
Die Modestian. u. die Konstautinischen Bauten am Hl. Grabe zu Jeru-
salem. Paderborn 1915, S. 2, i3if., 17—25 usw. Klameth a. a. 0. I03ff.
29) Zum Verständnis dieser Worte verweise ich auf Klameth
a. a. 0. S. 103: ,,Da als '"'Ayiog KfjTtog, Josephgarten' der Raum zwi-
schen der Auastasis, der sog. Konstantinbasilika, und der Golgotha-
kirche bezeichnet wurde (vgl. das Hodoeporicon S. Willibaldi, Kap. XVHI
in Tobler-Molinier, Itinera Hierosolymitana 263 u. Baumstark, D. Heilig-
tümer des byz. Jerusalem 235), haben wir uns also das Erdenzentrum
2 2 WiLHKi.M IIkinricii Koscher: [70 2
X. T. X Ks lolgen die Licdor, die wiihroud d(M- l'iozcßsiou
trcsimgou wurden (1.16, K)"»: frO^rs' xoi'tkxjoj' fjV ^ö Mi'doi^
T»/h }'»lt.' '5;K0s' -t A fc j' m) ^' d'. Wir höreu dieses Lied und dio
Vorlesung dos Evangel. Mutth. 27, 33 — 54, *l''»n ^i^'ißt ps
(137, 7): LV'i^r? AfT») f//:T()0(Ji^fv toT' ay/'ov K^}civCo^) e^a.
Aus diesen Worten ist zunächst mit ziomlielier Sicherheit zu
schließen, daß die als V^cpcdog hezeichnete Station den Mit-
telpunkt der Erde bedeuten sollte. Aber wo hat man inner-
halb der Modestianischen Renovationsbauten diesen 'OficpccXos
anzusetzen, und ist dieser mit dem 'Krnnion' identisch oder
nicht? Diese Frage ist neuerdings ganz verschieden beant-
wortet worden. Hkisknberg a. a. 0. S. 190 — 191 nimmt un-
bedenklich an, daß unter dem hier genannten 'O^cprdög =
Meaov trig yi)g der Punkt auf der 'Scliädelstätte' (== KQavCov)
zu verstehen sei, wo das Kreuz Christi errichtet war, das man
in christlicher Zeit ziemlich allgemein in der Mitte der be-
wohnten Erde errichtet glaubte, daß also 'das Kranion (als
ein bloßes Denkmal) draußen im Freien vor der Golgotha-
kirche im Heiligen Garten lag'. Gegen diese Erklärung maclit
aber Baoistakk, D. Modestian. u. d. Konstan. Bauten am
Hl. Grabe zu Jerusalem S. 19 mit Recht geltend, daß die
mehrfach wiederkehrende Formel Ev&vg Xix^ {ei^ oder Ini),
mit der zu den liturgischen Texten eines weiteren Stations-
gottesdienstes übergeleitet wird, ein Weitergehen von einem
Orte zu einem andern bedeute, daß also das ayiov KquvIov,
nach dem Textzusammenhang räumlich vom '0^i(fal6g ver-
schieden sein müsse. Auch beruft sich Baumstark richtig
auf den großen Unterschied der beiden Präpositionen slg und
£;n', insofern es einerseits heißt: ttoiov^sv Xityiv knl xhv 'Ou-
(paXöv, anderseits sig tö äyiov Kquvlov (a. a. 0, S. 2 3 f.),
wodurch deutlich bewiesen wird, daß es sich beim 'Ompha-
des M^estusbanes etwa vom VIII. Jahrh. angefangen in der Mitte des
von den drei genannten Kirchen eingeschlossenen Raumes zu denken."
Vgl Plan IV bei Klameth a. a. 0. (= Rekonstruktionsversuch A. Baum-
sTABKs), wo E den Raum des Hagios Kepos, a die Stelle des 'Om-
phalos' bezeichnet).
70,2] Der OifPHALosGEDANKE BEI VERSCHIEDENEN Völkern. 23
los' um ein bloßes Denkmal inmitten des heiligen Gartens,
beim Kranion aber um einen betretbaren Raum (Kapelle,
Kirche usw.) handeln muß. Darunter kann aber aus ver-
schiedenen von Baumstakk angeführten Gründen und nach
bestimmten Zeugnissen kaum etvras anderes als die unterhalb
der Kreuzigungsstätte befindliche, als Grab Adams geltende
Felsenkapelle verstanden werden, von der im nächsten Ab-
schnitt s. S. 2 5 ff.) die Rede sein wird.
Über die weiteren Schicksale dieses 'vom Golgothafelsen
losgelösten' Denkmals der Erdenmitte s. Klameth a. a. 0.
S. 100 ff. und 103 ff. Noch heute zeigt man in der griechi-
schen Kathedrale Jerusalems, den o^rpaXos yfjs in Form eines
becher- oder kantharusartigen Denkmals mit einer umfloch-
tenen gedrückten Kugel darin. (Vgl. Baedeker-Benzinger,
Palästina^, 39 u. A. Jeremias, Handbuch d. altorieutaUschen
Geisteskultur S. 34 Anm. 4.) Eine Abbildung davon habe
ich nach einer mir von A. Jeremias gütigst übeiiassenen
Photographie im Omphalos, Taf. X Fig. 3 u. ob. S. VI, gegeben.^")
Auch zu dem ebendort (Taf. X Fig. 4) abgebildeten
typischen Orbis terrarum mit dem Zentrum Jerusalem
gibt es zahlreiche Analogien aus dem Mittelalter. Vgl. Lele-
wel, Geogr. du moyen äge II Epilogue chap. 70 p. 121;
WuTTKE, Üb. Erdkunde u. Karten des Mittelalters. Leipzig
' 1853, S. 42 f. u. Taf V — VII; Peschel, Abhandlungen zur
Erd- und Völkerkunde I. Leipzig 1877, S. 74 f; Über Land
und Meer 19 14, Nr. 31 S. 805. Marinelli, Die Erdkunde
bei den Kirchenvätern, Vortrag von Dr. G. M., deutsch von
Neumann. Leipzig 1884, S. 76 Anm. 44ff. — Peschel a. a. 0.
30) S. auch Lelewel, Geographie du moyen äge I, Prolegg. LXXXI
Anm. 28, der über den 'nombril de Jerusalem, centre du monde'
bemerkt: 'Au XV° siecle d'Ailly, Mauro discutent cette question; las
pelerins visitent la colonne ou la pierre centrale.' 'Item, le lieu que
on distlamoyenne du monde', diteni423 Gilbert de Lannoy("Voyagep. 50),
'Au dedans du cueur du sainct sepulchre que tienuent les Grecs a
vue pierre ronde plus haulte que les aultres qui a vng trou au milieu,
et dit on que cest le umbelic du monde ou le moyen', dit en 1487 le
carmelite Nicola de Iluen (Pelerinage publie ä Lyon 1488 p. DHU).'
24 N\ n.iii;LM Heinuk.ii Ko8riii;ii: [70, 2
S. 53 sagt darüber: 'Dio Lateiiior im MitU'laltrr haben Jeru-
salem als ZtMitruiu dor \\v\t anixosolirn. Alle ältercu Karten
bis hinauf und höher als das 14. .lahrh. zeigen uns Darstel-
hnii^en dieser Theorie (vgl. die Sallust karten Tat'. V — VII
ediert von \\ r iTivK a. a. 0.). So dürftig aber waren diese
'Weltspiegel', dali ein jreographisches Gedicht aus dem 1 5. Jahr-
hundert noch behaupten konnte, wenn man ein Tau [TJ in
das Omikron [0] zeichne, so wäre die Figur der Welt voll-
endet. Vgl. Leonardo Dati bei Santaukm, Essai I, p. 155:
„Un T tlentro a nno 0 mostra il disegno || Come in tre parte
tu diviso il mondo.*'^') Man vgl. unsere Titel Vignette!
Die bisher augeführten Zeugnisse, zu denen alsbald noch
die der Adamh'gende angehörenden kommen werden, bewei-
sen, daß an keinem Orte der Welt der Omphalosgedanke eine
größere Rolle gespielt hat, als in Palästina und besonders in
Jerusalem. In dieser Hinsicht übertrifft die Hauptstadt des
jüdischen Landes sogar Delphi, dessen Omphalos, wie ich
früher nachgewiesen habe, ungefähr 900 Jahre lang für die
Hellenen und die Bewohner der Mittelmeerländer der ziemlich
allgemein anerkannte hochheilige Nabel der Erde gewesen
ist.^^) Aber die Existenz des Omphalos von Jerusalem läßt
sich mindestens noch zwei Jahrhunderte früher nachweisen
und reicht, wie wir soeben gezeigt haben, noch durch das
ganze Mittelalter bis auf die jüngste Gegenwart herab. Ja es
macht fast den Eindruck, als sollte sich seine Bedeutung noch
in eine ferne Zukunft erstrecken. Denn für nicht weniger
als drei der wichtigsten Religionen, die jüdische, die christ-
liche und die islamische (s. nnt. Kap. IV) ist Jerusalem von jeher
31) Weiteres darüber s. bei Peschel a. a. 0. S. 54 u. besondeia
Aum. 2: 'Auf der Mappa de mari et terra des Marino Sauuto (1321)
liegt Jerusalem in der Mitte der Welt nach Ezech. 5, 5. Sie stellt die
bekannte Welt als eine vom Ozean umflossene Scheibe dar, geteilt
durch die Achse des Mittelmeeres und die senkrecht nach dieser ge-
sichteten Ströme des Nils und Tanais. Mit Hilfe dieser Karte sind die
Stellen im Purgatorio des Dante (II, 3 u. XXVII, i — 5) leicht zu verstehen.'
32) Vgl. Omphalos S. 76 f.
70, 2] Der OmphaIiOSGedamke bei verschiedenen Völkern. 25
entweder die Wiege oder eine hochheilige Stätte ersten Ran-
ges gewesen, und es erscheint nicht unmöglich, daß es in
dieser Hinsicht erneute Bedeutung erhält, wenn es dem
sogen. Zionismus gelingen sollte, sich durchzusetzen und
Jerusalem von neuem zum Zentrum des orthodoxen Juden-
tums zu machen.
B) Der Omphalos in der Adamlegende (vgl. Omphalos S. 26).
Bereits Omph. S. 26 habe ich der eigentümlichen Rolle,
welche der Nabel der Erde in der Legende vom ersten Men-
schen spielt, kurz gedacht, doch hat sich seit dem Erscheinen
dieser Abhandlung teils infolge eigener Sammlungen und
Forschungen, teils durch die überaus dankenswerten Arbei-
ten Wensincks und Klameths (s. Yorw, S. III f.) das erreich-
bare Zeugnismaterial so wesentlich vermehrt, daß ich es
für wissenschaftliche Pflicht halte, die ganze Frage noch
einmal, und zwar wesentlich auf Grund der Arbeiten der
beiden genannten Forscher, zu beleuchten. Soviel ich sehe,
dürfte es sich in diesem Falle am meisten empfehlen,
den ziemlich umfangreichen StoflF nach lokalen Gesichts-
punkten zu ordnen und kritisch zu bearbeiten. Wir be-
crinnen daher unsere Betrachtung mit der Lokalsage von
Jerusalem.
Auch hier wieder müssen wir verschiedene Lokaltra-
ditionen unterscheiden, von denen die von Golgotha die
bei weitem wichtigste und verbreitetste ist.
'ö'
1. Die Adamlegende von Golgotha (vgl. Omphalos S. 26).
Sie liegt vollständig vor in dem wahrscheinlich dem 5.
oder 6. Jahrhundert entstammenden 'Christlichen Adambuch
des Morgenlandes', das A. Dillm.\nn in Ewalds Jahrbüchern
der Bibl. Wissenschaft Bd. V, Göttingen 1853, S. i — 144 aus
dem Äthiopischen übersetzt und, mit einigen erklärenden An-
merkungen versehen, herausgegeben hat. Der für uns wesent-
lichste Inhalt ist (vgl. Klameth a. a. 0. S. 112 A. 3 und
2b Wii,nKi,M IIkin'kioh Kosciikr: 17''. 2
GuTiiK iu Horzog-Plilt-li:iiu'ks Kealonc.'' \'ll, 16) kurz fol-
Zuiiiichst Avird orziiblt, wie (iott Adatii nucli dem Siin-
dent'all tröstete: 'Das Wasser des Lebens, nach dem du ver-
laugst, wird dir heute nicht gereiclit, sondern an dem Tage,
da ich mein Bhifc ül)er deinem Haupte vergießen werde auf
der Golgothaerde' (Üillm. S. 38). Weiter heißt es (a. a. ().
S. 81), Aiham habe unmittelbar vor seinem Ende seinem
Sohne Seth und dessen Nachkommen das Gebot hinterlassen,
seinen (Adams) Leichnam nach der Rettung aus dem Wasser
der Flut nach dem 'Mittelpunkt der Erde zu schaffen,
und von dort werde Gott kommen und unser ganzes Ge-
schlecht erlösen': abermals eine deutliche Anspielung auf
Golgotha. Später befiehlt der 'Engel des Herrn' dem Mel-
chisedek, 'da er auf seinem Lager schlief, er solle mit dem
Körper seines Vaters Adam in die Mitte der Erde gehen'
und ihn daselbst von neuem bestatten (S. 112); und als Mel-
chisedek imd Sem endlich an den genannten Ort gelangt
sind, ertönt aus dem Sarge Adams eigene Stimme und sagt
(S. IT 4) zu ihnen: 'In das Land, wohin wir gehen, wird das
Wort Gottes herabkommen und leiden und oben auf dem
Platze, wo mein Körper liegt, gekreuzigt werden, so
daß er meinen Scheitel mit seinem Blute benetzen
wird. Und in jener Stunde wird meine Erlösung sein, und
er wird euch in mein Reich zurückbringen und mir mein
Priestertum und Prophtteutum geben.' Nach Dillmann
(a. a. 0. S. 7 ff.) ist das Adambuch 'nicht aus dem Griechi-
schen, sondern aus dem Arabischen übersetzt und also
nicht schon in der ersten Literaturperiode der Abyssinischen
33) Dieselbe Sage findet sicli in verkürzter Form auch Ijei Euty-
chius dem Alexandriner (Annales b. Migne P. Gr. 11 1 p. 911 ff. und
9 17 f.), wo ebenfalls hervorgehoben wird, daß Adams Grab sich im
Mittelpunkt der Erde und zwar an einer Stelle befunden habe,
die 'Jaljalah' (= Golgatha?), d. i. Schädel, genannt wurde (vgl.
JfoMMERT, Golgotha S. 30 f.).
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 27
^irche, sondern erst in der zweiten und zwar von Ägypten
her in jenes Land eingeführt worden.'^*)
Was das Alter der im Adambuch der abyssinischen
Kirche behandelten Sage anlangt, so läßt sich dieselbe ohne
Schwierigkeit zunächst bis ins 4. Jahrhundert zurückverfolgen.
Das erhellt ohne weiteres aus der Übereinstimmung seines
wesentlichen Inhalts mit der zur syrischen Literatur gehören-
den 'Schatzhöhle' (= 'Spelunca thesaurorum'), die so gut wie
sicher dem berühmtesten Schriftsteller der syrischen Kirche
Ephräm (306 — 378) oder wenigstens seiner Schule zuzuschrei-
ben ist (Dillmann a. a. 0. S. 10; Bezold, D. Schatzhöhle
aus dem'syr. Texte übers. Leipzig 1883, S. X.). Hier heißt
es (b. Bezold a. a. 0. S. 2 6 ff.): 'und Noah rief meinen Erst-
geborenen Sem und sprach zu ihm: ... „Und steige hinauf
und setze ihn (den Leichnam Adams) am Mittelpunkte
der Erde nieder und lasse den Melchisedek dort wohnen.
Und siehe, der Engel des Herrn wird vor euch hergehen und
34) Aus derselben Quelle scliöijfen ihre Adamlegenden auch
Eutychius (10. Jahrh), Annales = Migne, P. gr. CXI, 911 C, 9i5C,
916 A, 918. Moses Barcephas, Annales ecclesiastici = Migne, P. gr.
CXI 498; vgl. Klämeth a. a. 0, S. 99, i, 113. A. Mommert, Golgotha
S. 28flF.; s. auch Dillmann a. a. 0. S. 8, wo noch weitere Literaturan-
gaben zu finden sind, und Trumpf, D. Kampf Adams . . . od. D. christl.
Adamsbuch der Morgenlandes = Übersetzung eines Aethiopen aus dem
Arabischen, Abh. d. I. KI. d. Kgl. Akad. d. Wissenschaft., XVI. Bd.,
III. Abteil., München 1881, S. VI ff., wo nachgewiesen wird, daß der
erste Teil dieser Schrift 'prätendiert, die i^riiiSQig des Epiphanius,
Bischofs von Cyi)ern (um 367), zu sein.' S. Xli stimmt Tr. der Ver-
mutung WiLH. Meyers bei, daß 'die Grundschrift des Adambuches vor
dem Aufkommen des Christentums von einem Juden verfaßt worden
sei, wohl in einer ähnlichen Absicht wie das Buch der Jubiläen, um
da*:, was die Genesis bot, zu erweitern und auszuschmücken.' Übrigens
hat auch schon Dillmann (a. a. 0. S. 142 Anm. 118) im Hinblick auf
Augustinus (sermo 71) und andere Zeugnisse (s. unten Anm. 38) vermutet,
daß die Sage von der Bestattung Adams auf Golgotha 'nicht ur-
sprünglich christlich, sondern jüdisch gewesen sei' und 'daß die
Schädelstätte so benannt wurde, weil Adams Schädel dort be-
graben lag.'
Phil.-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 3
::8 WiLUKKM Hkiniuch ItoscicKu: [70, 2
t^iich »Ifii \\ 0^ /.tigcii, iii'milicli (l«'u M i ( tcl |Mi 11 k t der Erde. ''^•^
Und dort liängen vier Enden (der Erde) miteinander zusam-
men; denn als Gott die Erde schuf, da lief seine Kraft vor
ihr her, und die Erde lief ihr von vier Seiten ans wie VVincU;
und leises Wehen nach: und dort (im Mitteli)unkt) Itlieb seine
Kraft stehen und kam zur Kühe."*') Dort wird vollbracht
werden die l'^rlösuug für Adam und alle seine Kin-
der." . . . Und als sie nach (lolgatlia kamen, welches der
Mittelpunkt der Erde ist, zeigte der l*]ngel Sem diesen
Ort. Und als Sem die Leiche unseres Vaters Adam oberhalb
dieses Ortes niedergesetzt hatte, da gingen vier Teile ausein-
ander, und die Erde öffnete sich in Gestalt eines 'Kreuzes;
und Sem und Melchisedek legten die Leiche Adams hinein . . .
Und derselbige Ort ward Schädelstätte genannt, darum
daß dort das Haupt aller Menschen hingelegt wurde,
und Golgotha, weil er rund war.'
Aber die Sage vom Adamgrabe auf Golgotha läßt sich
noch mindestens um zwei weitere Jahrhunderte zurück ver-
folgen, denn es ist neuerdings von Baumstakk und Kla-
METii^'') nachgewiesen worden, daß sie schon dem Or igen es
(185 — 254) bekannt war. Vgh Gramer, Catenae Graecorum
Patrum I, S. 235 = Migne, P. Gr. XIII, Sp. 1777): tifqI tov
KQaviov roTtov rjX&ev elg rj^äg, ort 'EßQuloi TiuQaÖidöaöL xo
6ä)fia TOV ^Aöä^i ixet tsrdcp&cci. Hier ist die Notiz außerordentlich
35) Nach dem Christi. Adambuch d. Morgenlandes übersetzt von
DtLLMANN S. 122 soll sogai der Name Jerusalem eigentlich den ''Mittel-
punkt der Erde' bedeuten.
36) Dieser etwas unklaren Vorstellung scheint die Ansicht ge-
wisser Rabbinen, z. B. des R Josua, zugrunde zu liegen, der behauptete r
'Die Welt wurde von den Seiten aus geschaften', während R. Elieser
lehrte: Von ihrer Mitte aus wurde sie geschaffen; denn es heißt
(Job 38, 38): ,,Al8 der Staub gegossen wurde zum Guß (festen Klumpen)
und Schollen angeheftet wurden." S. die Nachweisungen Prof. Win-
ters in den "^ Neuen Ompbalosstudien' S. 74 u. ob. S. 16 f. Anm. 23.
37) Baumstabk, Die Modestianischen und die Konstantinischen
Bauten am hl. Grabe zu Jerusalem. Paderborn 191 5, S. 26. Klametii
a. a. 0. S. 107 A. i.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkkrn. 2 g
wichtig, daß die 'Hebräer' behauptet hätten, im Golgotha-
hiigel liege Adam begraben. Klameth (a. a. 0. S. 109) ist
freilich geneigt, das 'EßQcäoi auf 'Judenchristeu' zu beziehen,
während ich vielmehr mit anderen zuversichtlich annehme,
daß es sich um eine echt jüdische (rabbinische) vorchristliche
Legende handelt, um diese Annahme zu größter Wahrschein-
lichkeit zu erheben, berufe ich mich vor allem auf die Zeug-
nisse des Athanasius (295 — 373), Ambrosius (340 — ^399) und
Basilius (um 448), welche übereinstimmend aussagen, daß die
Legende von der Bestattung Adams auf Golgotha oder die
Auffindung seines Schädels oder seines gewaltigen Skeletts
(os magnum) an diesem Orte auf jüdischer (hebräischer),
d. h. rabbinischer Überlieferung beruhe.^^) Wie man im Hin-
38) Athanasius, De passione et cruce Domini = Migne, P. gr.
XXVIII, 208 A: '^'O^EV ovSh &XXccy^ov Ttäe^si, ovds sig äXXov ronov
GTavQovtat rj sig tov Kqccviov rönov, ov EßQuicov oi S lödo-naXoi
cpaöLv (d. h. docli wohl die jüdischen Rabbinen) rov 'ASän ilvai ronov.
— Epiphan. (haeres. XLVI) bei Mich. Glycas p. 120 Annal. = p. 227
ed. Bonn. = Fabricius, Cod. Pseudepigr. Vet. Test. II, 37: 'O pi^yag
'KmcpdvLog iv rotg Havagioig, mGavxoyg "Aal 6 ^syag Ba6 iXs lo g (in
Esai. V, i) iv ty elg rov 7rQocpritr\v 'Hoatav iQ\ii]vs'iCf. XiysL aygacpov
TiagäSoCLv TCsQiGm^saQ'ccL \_iv] rfj c%y.Xi]aicc nhQl rov 'ASä^, ag Bv^vg ^£ra
To iKßXrt&fjvaL rov TCccQccdeiaov tlg ri]v 'lovdaiuv iX^Eiv ^aQiv rcagr]-
yoQiag cov ScnmXsasv. AvrT] . . . yag yij nicov xciXstrat. 'ExsiGs Xontov iv8ia-
rgißsi, iKslGs 'Aal ri^ccjtrcii. OaCfta iCsv ovv idoKsi roig ögmGiv 17
ixsivov K£(paXr} rfjg caQxog ÖLdQQvsiar^g, ort yial ngcöTOv iKstvov 'lovdaia
VSKQOV iSs^ato. 'Ev ronco Xomov rivi ■KaruQ'iyi.svoi rb roiovrov yi guviov
tÖtiov KQaviov rov röiiov ixsivov ojvo^icceav. 'EneiGs ovv eravQOv-
tccL 6 KvQtog, Iva Slcc %vXov ^coäay rov diä ^vXov a^ovra rijv vt'AQCociv.
— Ambrosius, Explan in Luc. X, 23 = Migne, P. Lat. XV, 1925 C: Ipse
autem crucis locus vel in medio est conspicuus Omnibus, vel supra
Adae, ut Hebraei disputant, sepulturam. — Augustin. sermo 71:
Etiam Hieronymus antiquorum relationem refert, quod et Adam
primus homo in ipso loco, ubi crux fixa est, fuerit aliquando sepultus,
et ideo calvariae locum dictum esse, quia caput humani generis ibi
dicitur esse sepultum. Et vere non incongrue creditur, quia ibi
erectus eit medicus, ubi iacebat aegrotus, et dignum erat, ut, ubi ac-
ciderat humana superbia, ibi inclinaret se divina misericordia, et san-
guis ille pretiosus etiam corporaliter pulverem antiqui peccatoris dum
dignatur stillando contingere redemisse credatur. — Basilius v. Seleu-
3*
30 WiLHKLM IIkiniuch RosoriKii: [70,2
blick iiuf (lirsc ZiMii^nisso die vorchriKtliclie Existcn/, der
Sage vom Grube Adams aul" (iolgotha in Abrode stellen und
behaujiten kann, daß es sieh nni eine verbälinismäßig späte,
rein ebristliche Legende bandle, verstebe icli nicbt und gebe
Baumstark (a. a. 0. S. 26) völlig recbt, wenn er sieb für
seine Ansiebt aucb auf den Namen Kqccih'ov selbst beruft,
der 'ja olfenbar mit dem auf Golgotba begrabenen oder ge-
fundenen vermeintlicben Scbädcl Adams zusammenhängt, also
cia orat. 38 = Migne, P. j^r. LXXXV, 409 A: xarä 8s zag twv 'Iov-
Saiav nagaSuaii'g, wg qpaöt, rb -HQaviov tov 'ASä^i iKSißs (d.h. iv
roXyod^ä) EVQf9f]vai . . . Tovrov %ccQiVy cfaölvy y.uL v.QHviov xonos
iy.Xr,Qr\ 6 röno? ovrog. — Hierher gehört auch Ps.-TertuU. carm. adv.
jrarcioneni II = Mijrno, P. lat. II 1123: 'Os magnum hie vcteres
nostri (d. h. wohl unsere jüdischen Ahnen) docuere repertum. Hie
hominem primum suscepimus esse sepultum.' Zum Veretändnis des
'03 magnum' verweise ich auf den namentlich im semitischen Orient
von jeher verbreiteten, höchst wahrscheinlich auf der Entdeckung
von Knochen gewaltiger vorsündflutlichcr Tiere (Mammut, Ichthyo-
saurus usw.) beruhenden Glauben, daß die ältesten Menschen, d. h.
Adam, Eva, Abel, Seth, Noah usw. von riesiger Größe, d. h.
meist 40 Ellen lang, gewesen seien und natürlich auch eine dem
entsprechende Lebensdauer besessen hätten. Vgl. Röscher, Die Zahl 40
im Glauben, Brauch u. Schrifttum d. Semiten, S. 46 Anm. 84. Dähn-
HARDT, Natursagen I, 242 ff. • Mehr b. FABRiciu.s, Cod. Pseudepigr.
Vet. Test. Hamburg 1722/23, vol. U p. 41; I p. 75. Wünsche, Schöpfung
u. Sündenfall. Leipzig 1906, S. gf. u. ijf. Dii.ljiann a. a. 0. S. 142
Anm. 118 und Klameth a. a. 0. S. 107 A. 4; vgl. ebenda S. 99t. Anm. i
u. 2. — Merkwürdig ist übrigens der Widerspruch , der sich bei Hie-
ronymus hinsichtlich der Lokalisierung des Adamgrabes findet. Denn
während er (Epist. 46 == Migne P. L. XXII, 485) ausdrücklich be-
merkt: 'ünde et locus, ubi crucifixus est Dominus noster, Calvaria
appellatur, scilicet quod ibi sit antiqui hominis calvaria condita
et sanguis Christi de cruce stillans primi Adam et iacentis protoplasti
peccata diluerit', versetzt er an zwei anderen Stellen (In Matth. 27 u.
In Ephes. 5 = Migne P. L. XXVI Sp. 219 u. 559) das Grab Adams
vielmehr nach Hebron (s. Kap. II B 3). Vgl. auch Hieron. im Onomastikon
rmter Arboch, wonach Hebron die Grabstätte Adams (Jos. 14, 15 Vulg.),
Abrahams, Isaaks und Jakobs war. S. auch Abulfeda Syr. p. 87.
WiNER, Bibl. Realwert. ' I, 474, 2. — Auch nach muslinjischer Tradi-
tion (Tha'labI, Tabari, Azraki) ist Adam in Jerusalem begraben:
Wensinck, The navel of the earth 27.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 3 1
bereits die Legende voraussetzt, daß der Protoplast unter der
Stelle der Kreuzigung Christi begraben gewesen sei.' Eine er-
freuliebe Bestätigung dieser Ansicht scheint mir auch Guthes
Hinweis auf die schon von FabriciüS, Cod. pseudepigr. Vet.
Test.^ S. 5 9 f.; 7 5 ff., 267 f gesammelten Zeugnisse zu ergeben,
wo die Adamsage, wie es scheint, in rein jüdischer Gestalt
überliefert ist. Es heißt dort, Noab habe nicht nur die Erde
unter seine Söhne verteilt, sondern aucb die Gebeine Adams.
Sem habe den Schädel Adams und das Land Judäa er-
halten; jener sei dann von Sems Nachkommen, als sie das
Land besetzten, in Adams Grabe bestattet worden. 'Hier
ist', wie GuTHE treffend bemerkt, 'die Sage scharf auf den
Ortsnamen zugescbnitten ; zugleich erfahren wir, daß man
ein Grab Adams (daselbst) kannte'. Was das Alter der
Sage betrifft, so ist sie nach Guthes Ansicht aus der gleichen
Wurzel entsprossen, 'der das Buch der Jubiläen oder die
kleine Genesis seinen Ursprung verdankt, dies würde uns auf
das letzte vorchristliche Jahrhundert führen.^*') In die
Zeit nach dem Tode Christi darf man die Entstehung nicht
herabrücken, da es undenkbar ist, daß die Juden an diese
Stätte, nachdem Jesus dort gekreuzigt war, die Sage oder
Legende geknüpft hätten' (Guthe in Herzog -Pütt- Hau cks
Realenc.^ 7, 46).*^) Übrigens hält es Guthe für wahrschein-
40) Das ist auch die Meinung Littmanns, der das Buch der Jubi-
läen für Kautzschs Sammlung der Apokryphen und Pseudepigraphen
des A. T. übersetzt hat (a. a. 0. S. 37). L. versetzt das Buch ebenfalls
in die vorchristliche Zeit, es ist nach ihm vom pharisäischen Stand-
punkt aus geschrieben. Auch hier (Kap. 8, 12 = S. 55) erhält Sem die
^Mitte der Erde' als Erbe für sich und seine Kinder in Ewigkeit,
und in Kap. 19 (S. 56) wird der Berg Zion ausdrücklich als Mittel-
punkt des Nabels der Erde (d. h. Palästinas) bezeichnet. Von dem
Grabe Adams ist freilich hier keine Rede ; auch fragt es sich, ob hier
von dem Berge Zion im engeren oder weiteren Sinne (= Jerusalem)
gesprochen wird.
41) Ähnlich meint auch Mommert, Golgotha, S. 31, 'daß bereits
in der Zeit, als Christus gekreuzigt wurde, eine Grabhöhle, welche eine
alte Überlieferung, die schon im 2. Jahrh. n. Chr. als eine 'von
den Vorfahren überkommene' benannt wird, als die des Adam
//
vi
2
\Vii,iii:i,M Hkinhkmi Koscükk: [7^'"
lieh, (l;iß <lio auffiilloible Rcschaffenhoit des Rodens von Tjol-
ffotha — iun FuBo des Abhiin<]fes nämlich befindft sich unter
dorn soliiideliirtij4on Vorsprung des Felsens wie in einer
Nische (Mt. 2,s, 27, 29) ein (irab, das Grab Adams — dem
Ort, scinoii Namen einpetratjon habe; die jüdische Phantasie
habe den grotesken Schädel für den Adams erklärt und ihm
darunter sein Grab angewiesen.*^) Auf diese Weise sei das
Andenken an den ersten Menschen für Jerusalem, den Mit-
telpunkt der Erde (Ez. 5,5. 38, 12), gesichert worden."')
bezeichnet, unter ilem Standorte de» Kreuzes Christi vorhanden war.
Eine nach dem Kreuzestode Christi unter dem Staudorte des Kreuzes
angelegte Höhle hätte doch wohl niemand den Bewohnern .Jerusalems
als das Grab Adams weder auszugeben wagen dürfen, noch auch glaub-
haft zu machen vermocht. Dazu kommt, daß die Anlage eines Grabes
an dieser Stätte bald nach dem Tode Jesu unmöglich wurde, weil Gol-
gotha und seine Umgebung schon etwa neun Jahre nach dem Tode
JesH durch den Bau der Mauer des Agrippa in den Bereich der Stadt
gezogen wurde.'
42) Dieser Ursprung des Namens Kquvlov für den Ort der Kreuzi-
gung wird freilich von alten und modernen Zeugen mehrfach abge-
lehnt. Vgl. Epiphanius, Advers. haeres. 41 = p. 4^5 Dind. = Migne
P. Gr. XLT p. 843: "09-SV (nämlich weil dort t6 tov 'ASuil aS>na iKsito)
slKorag xb inwvvfiov 6 rönog ^0%^, Kgaviov SQurivBvöiievog rorros, ris
övoiiaaiccg to 6%t]aa xov xönov i^cpbQuäv xiva ovx vno-
dsi^vvaiv. Ovrs ya.Q iv aiiga xivi nslrai, iva v.Quviov xovro IpfiTj-
vEvriTcci, Mg inl cä^axog KscpaXij xonog Isyerai, ovxs aKomäg. xal o^rs
iv vibEi Kslxai Ttagcc tovg aXXovg xoTtovg . . . Uo&sv ovv i] inavv^iia
tov KQccviov; 'AXl' innSr] xov TtQwxoTrXäarov av&Qwnov iv.BZ xb kqkviov
BVQr,xcii, Hai ixft xb Xsiipavov ivtTti-AUXO xovzov ^vfxa -AQaviov xonog
iv.iv.'KT]ro. Ebenso Mommert a. a". 0. S. 23 f. u. 39 und Tobler, Gol-
gatha S. 271. Eine neue gründliche Untersuchung und Aufnahme des
Lokals scheint demnach notwendig.
43) GuTHEim Artikel Grab, d. heil., Herzog-Plitt-Hauck, Realenc."
VII, 46. Weiteres über die Topographie und Nomenklatur von Gol-
gotha, sowie über die Schicksale des Adamgrabes und der daraus ent-
standenen 'Adamskapelle' s. jetzt bei Baumstark, D. Modestian. u. d.
Konstantin. Bauten am hl. Grabe zu Jerusalem. Paderborn 191 5, S. 17 ff.
Klameth a. a. 0. S. 106 tf. Das große Jerusalemwerk der beiden Domi-
nikanerpatres H. Vincent u. F. M. Abel, 0. Pr. (Jerusalem, Recherches,
de topographie etc., Paris 1914, war mir bisher nicht zugänglich.)
70, 2j Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. ^^
Vielleicht haben beide Momente, sowohl die schädelartiere Gestalt
des Felsens als auch die Auffindung eines 'os magniim' (S. 30
Aum. 38), sowie die Existenz eines uralten Höhlengrabes zu-
sammengewirkt, um die Vorstellung zu erzeugen, daß der Urvater
der Menschheit unter dem Hügel von Golgotha begraben
liege. Daß die ursprünglich nach ganz bestimmten Zeug-
nissen vorhanden gewesene altjiidische Lokalsage von Gol-
gotha bald nach dem Tode Jesu, vor allem in jüdischen,
christenfeindlichen Kreisen, crecrenüber der Sage vom Adam-
grabe zu Hebron (s. S. 40 ff.)**) stark zurücktreten, ja ganz
versehwinden, und schließlich nur noch in christlichen Kreisen
fortleben konnte, ist religionsgeschichtlich leicht zu begreifen
und zu erklären (vgl. Mommert a. a. 0. S. 31).^°)
Der Vorstellung, daß Adam auf Golgotha auch erschaffen
worden sei, bin ich bisher nur an wenigen Stellen z. B. beim
sog. Breviarius (ed. Geyer, Itin. Hierosol. p. 154)*^), begegnet.
44) Sogar ein so hervorragender Kirchenvater wie Hieronymus
hat sich schließlich zugunsten der Lokalsage von Hebron entschieden,
was natürlich auch die christliche Tradition von Golgotha beein-
flussen mußte. (Vgl. Klameth a. a. 0. S. iio A. i. Baumstark a. a. 0.
S. 26 f.)
45) Nebenbei gedenke ich hier noch der eigentümlichen arabischen
Überlieferung (Wellhausen, Reste arab. Heidentums ^ S. 14), nach der
Adam nach seinem Tode ''von den Banu Scheth (den Sethiten?) in
einer Höhle des Berges Nod, des fruchtbarsten Berges in der Welt
(Bezeichnung des Paradieses??), im Lande Hind (Indien??) beigesetzt
wurde. Weiter wird berichtet, wie die Banu Scheth das Grab Adams,
als Heiligtum verehren. Hinsichtlich des Wohnsitzes Adams und der
Sethiten im Lande Eden unterhalb des hochgelegenen Paradieses s.
Dillmann a. a. 0. S. 137 A. i. Vielleicht darf man hier an die arabisch-
indische Adamsage von Zeylon mit seinem Adamspik denkeu, dessen
paradiesische Natur von selbst auf die Vorstellung vom Paradiese
führte. Das Land Nod der Kainlegende (Genes. 4, 16, östlich von
Eden!) identifiziert v. Bohlen, Genesis S. 59 nach einer Andeutung von
Michaelis mit Indien im weiteren Sinne. Winer, Realw.^ II, 167, i.
46) Corp. Script. Eccl. Lat. XXX Villi p. 154: 'Ubi (seil in Gol-
gotha) plasmatus est Adam' (s. Klamet» a. a. 0. S. 108). Ebenso
auch im Clem. Aeth. und im B. Juchasin b. Fabricius a. a. 0. S. 90
nach Dillmann a. a. 0. S. 142 A. 118. Vgl. unt. Anm. 50 a. E.
^4 \\ 11,111.1, .\i ilKiMiicii JüjüciiKu: (7^\ -
(^Vgl. Sdiat/höhle S. .}, j d. ('hors. von Ukzold*') und Wkn-
SINCK, Tbc iiuvol oi' tlic parlli. Anistcrdiiin h)i6, S. 22.)
•2. IHc Adainlosroiuli^ von Zlon iiimI Morijn.
Bekanntlich kommt die Bezeichnung Morija für den
eitrentlichen Temi)ell)er<jr im Alten Testament nur selir selten
vor, und der viel häufigere Name Zion, d. li. ur.spninglieh
der Berg, auf welchem die Burg Davids, das alte und feste
Jerusalem, erbaut war, bezeichnet in der tlieokratischen Sprache
der Propheten und Dichter gewöhnlich ganz Jerusalem mit
dem Tempelberg**), so daß wir wohl berechtigt sind, den ur-
sprünglichen Gegensatz, der zwischen Morija und Zion be-
stand, hier einigermaßen zu ignorieren und beide Benennun-
gen als eine Einheit zu betrachten.
Das Charakteristische fast aller in dieser Beziehung für
die Adamlegende in Betracht kommenden Zeugnisse besteht
nun darin, daß, im Gegensatze zu der Sage von Golgotha,
in der meist nur vom Grabe Adams die Rede ist*^), für Zion
und Morija meist nur das Motiv der Erschaffung des ersten
Menschen in Betracht kommt.
Eines der ältesten hier zu erwähnenden Zeugnisse ist
wohl das dem Rabbi Elieser zugeschriebene (vgl. Pirke de
R. Elieser Kap. XI, ed. Amsterdam p. 1 1 : Klameth a. a. 0.
S. 93 A. 3), welches lautet: 'Und er knetete die Erde zum
47) 'Und [Adam] nach seiner Erschaffung stand mitten auf der
Erde, und er setzte seine beiden Füße auf den Platz, woselbst das
Kreuz unseres Erlösers errichtet wurde, darum daß Adam in Jeru-
salem erschaffen ward.'
48) Vgl. z. B. WiNEB, Bibl. Realwörterb.* unter Moria und Zion>
49) Auszunehmen ist vor allem (s. Anm. 47) die Behauptung der
'Schatzhöhle' p. 4, 2, daß Adams Erschaffung stattgefunden habe im
Mittelpunkte der Erde, an demselben Orte, wo später das Kreuz Christi
errichtet worden sei, also auf Golgatha, falls hier nicht an Jerusalem
im allgemeinen zu denken ist; vgl. Wensinck a. a. 0. S. 21 f. und die
folgende Anm., sowie die von Dillmann a. a. 0. S. 142 Anm. 118 am
Ende zitierte Überlieferung beim Clem. Aeth., daß Adam auf Golgotha
erschaffen und von da ins Paradies versetzt sei.
70,2] Der Omphalosgedanke jjei verschiedenen Völkern. 35
Körper Adams; au einem reinen, lieiligeu Orte geschah dies,
nämlich in der Mitte der Erde', als welche im Folgenden
das Heiligtum Jerusalems, also der Tempel, hingestellt
wird (vgl. Wünsche, Schöpfung u. Sündenfall. Leipzig igo6,
S. 10). Ähnlich heißt es bei Wensinck, The uavel of the
earth S, 2 1 : 'Now according to Jewish ideas Adam, the sub-
stance of mankind, was created on the substance of the earth,
' the sanctuary, more particularly the altar.^^) Ber. Rabba
XVII vo. a, 1. 6 infra: 'out of the place where reconciliation
y made for him. man has been created' (vgl. ebenda S. 27).^^)
50) Vgl. auch bei Fabricius, Cod. pseudepigr.Vet. Test., Hamb. 1722,
S. 73 das Zitat aus Maimonides' in Beit abacbria Kap. 2 (Klameth
a. a. 0. S. 108, 3): Est autem traditio in omnium manu, locum illum,
in quo David et Salomou aedificavit aream pro arca, esse eundem lo-
cum, in quo Abraham extruxit altare atque super illud ligavit Isaacum,
et eundem, in quo Noach, postquam egressus erat arca, extruxit altare ;
et hoc esse idem illud altare, in quo obtulit Cain, Abel et Adam pri-
mum sacrificium, postquam creatus erat, atque inde con-
ditus est. Hinc ajuut sapientes: 'Adam creatus est e loco ex-
piationis suae'. Damit ist zu vergleichen eine Stelle aus dem B.
Juchasiu des Moses Maimonides bei Fabricius S. 90: Traditio ab Om-
nibus recepta est, locum, ubi David condidit altare in area Aravne,
fuisse locum, ubi suum condidit Abrahamus, super quod ligavit Isaa-
cum, ubi suum condidit Noachus, cum egrederetur ex arca; ibidem
fuit altare super quod obtulerunt Cain et Abelus; ibidem Adamum
obtulisse cum crearetur, atque inde fuisse creatum. Dicunt
sapientes, idem ei locus expiationis, qui creationis.
51) Vgl. dazu Pirke R. El. XXXI: R. Ismael sagt: Als Abraham
und Isaak den Berg Moria erreichten, zeigte der Heilige, gelobt sei
er, mit seinem Finger Abraham einen Altar und sprach : Das ist der
Altar, auf dem Adam geopfert hat. Vgl. dens. im Midrasch Haggadol
Gen. XXV, 9: Das ist der Altar, auf dem Adam geopfert hat, und
die Erde zu seinem Leib wurde dieser Stätte entnommen.
(Mitteilung Dr. Berdyczewskis). Nach Midrasch Telpion, Warschau 1875
p. 19 c d wählte Adam als seinen Sitz den Berg Moria, weil von
diesem Berge (als dem höchsten Punkt der Erdoberfläche und deren
Mitte?) aus die Gebote am schnellsten gehört werden, oder weil das
die Stätte ist, von der aus der Heilige . . . die Sünden Israels dereinst
vergeben wird. Ja es gab eine Tradition, wonach der Moria der Berg
ist, auf dem die Thora gegeben werden sollte. 'Unsere Lehrer sagen
36 \Vii,iiKi,M llKiNicicii KoMUKu: [70.2
Nach T. Thenu'los, .-/i vTf()i n'i^ (J),U((öCcc^ tov roXyod-ä
iQlujveicd S. 210 (zitiert von Klamkiii :i. ii. O. S. 89 Anm. i)
verle<Tt dit^ (lasell)st an«xerillirte Mixoa /Vi'ftJti,- (= .Iu])il!ieii-
buclO Ka|). .\ das Urab Adams dorthin, wo der Mensch ge-
biUiet wnrde (LiTTMANN b. Kautzsch, Ajtokr. n. Psoudopigr.
d. A. T. 11, S. 48 übersetzt: 'Und alle seine Kinder be^n-nbeu
ihn (Adam) im Laude seiner Er.sehaHung'), und im 8. Kap.
(= LiTTMANN a. a. 0. S. 56: 'Der Berg Zion Mittelpunkt des
Nabels der Erde') wird dieser Ort auf dem Berge Zion au-
gesetzt, dem y.tvTQoi' rfjg yfjg (Klameth a. a. 0. S. 8q A. i).
Wenn uach mohammedauiscber Legende die Erschaflung
Adams in der Nachbarschaft von Mekka stattgefunden haben
sollte^-), so hat mau darin einfach eine Übertragung jerusa-
lemischer Traditionen auf Mekka zu erblicken, eine Erschei-
nung, die sich auch sonst vielfach nachweisen läßt.'"'-'^) Mau
denke z. B. an die Übertragung des Adamgrabes von Jeru-
salem nach Mekka, wo es auf dem Berge Abukais gezeigt
wird (Gesenius in der Hall. Enzyklop. unter Adam S. 362,
Hekbelot, Biblioth. Orient. I, 95).
Mit der Sage von der Erschaffung des ersten Menschen
ist wohl fast überall die Vorstellung vom Paradies aufs
innicrste verbunden gewesen. Wir können uns daher nicht
darüber wundern, daß das Paradies bisweilen in dieselbe
Gegend verlegt wird, wo die Erschaffung Adams stattgefuu-
nämlich, daß der Berg Moria aus seinem Ort herausgerissen und nach
der Wüste versetzt worden sei, damit auf ihm die Lehre gegeben werde.
Der Berg Moria ist der Berg Sinai' (Bt^uDvczEwsKi). Ähnlich wurde
später Bethel und der Stein, der Jakob als Kopfkissen bei seinem Traum von
der Himmelsleiter gedient hatte, mit Jerusalem und dem Stein Schetija
(dem Nabelstein) identifiziert (s. unten Kap. III b S. 54f-)-
52) Vgl. Wensi.vck a. a. 0. S. 21, der sich auf Khamls i, 46 paen.
und Thalabi p. 23 f. beruft.
53) Wen-sisck S. 21 macht darauf aufmerksam, daß sogar 'the
origin of Muhammed's substance (tina) is in the navel of the earth,
in Mekka.' Khamis I, 37, 7 sqq.; Haiabi I, 197, 2: „the origin of the
clay of the apostle of Allah is from the navel of the earth in
Mekka." And finally Adam and Muhammed have also become pre-
existent entities in Äljislim tradition (Haiabi I, 197, 16; 198, 3 sqq.).
70,2] Der OMPHALOSaEDANKE BEI VERSCHIEDENEN VÖLKERN. 37
den haben sollte, d. b. nach Palästina und in die Gegend von
Jerusalem.
Ziemlich deutlich tritt uns diese Anschauung entsceofen
bereits in den Pirke Rabbi Elieser, Abschnitt 20, wo unter
anderem erzählt wird, daß Adam, als er aus dem Garten
Eden (also dem Paradies) vertrieben wurde, auf dem Berge
Morija seinen Wohnsitz nahm-^^), weil das Tor des Gartens
Eden nahe dem Berge Morija ist (Mitteilung Professor
Winters in Dresden). ^^) Wenn die alte sog. Apokalypse
Mosis (Apoc. apocr. 2 1 ed. Tischendorf; vgl. Clemens Übers.
des Lebens Adams u. Evas b. Kautzsch, Apokr. II S. 527)^^)
den Ort, d. h. das Zentrum der Erde, wo Adam erschaffen
ward^ mit dem Paradies identifiziei-t, so scheint auch in
diesem Falle an Palästina und Jerusalem gedacht werden zu
müssen, weil für beide Lokalitäten zwei Hauptmerkmale be-
54) Dieselbe Tradition vertritt auch Ps.- Jonathans Targum Jeru-
schalmi I (zitiert von Klameth a. a. 0. S. 108): 'Und er verstieß ihn
[Adam] aus dem Garten Eden und er kam und wohnte auf dem Berge
Moria, zu bebauen die Erde, von der er erschaffen worden
war', eine Stelle, welche wohl auch für die Annahme, daß Moria
der Ort der Schöpfung des ersten Menschen gewesen sei, verwertet
werden kann. Vgl. auch den Sündenfallbericht nach Jalkut Schim'oni:
Wünsche, Schöpfung u. Sündenfall. Leipzig 1906, S. 70 : 'Adam zog
aus und wohnte außerhalb des Gau Eden am Berge Morija, denn
das Tor von Gan Eden ist angelehnt (grenzt) an den Berg Morija.
Von da hat er (Gott) ihn genommen und dahin ließ er ihn zurück-
kehren, wie es heißt: „zu bebauen den Erdboden, von dem er genom-
men war".'
55) Dr. Berdyczkwski verdanke ich folgende Mitteilung aus Me-
nahem Recanati, ed. Venezia 1554, Gen. p. 56a: 'Weil Abraham den
besonderen Wert der Stätte (Hebrons) kannte und wußte, daß er das
Tor des Edens war, wählte er ihn. Von Hebron aus gelangt
man in den Garten Eden.' Weiteres s. unten S. 45.
56) Hier heißt es: 'Und nach Adams Beschickung befahl Gott, ihn
in den Bereich des Paradieses zu tragen, an den Ort, wo Gott den
Staub gefunden hatte, daraus er Adam bildete.' Apokal. Mos.
ed. Tischendorf p. 21 : dfiqporfpoi [Adam u. Abel] irdcpriGav ■>iarä ngöa-
ra^iv &SOV flg rcc ft^pjj rov nccQa&eiaov, ft's rbv tojtov iv m svqev rbv
Xoi'v 6 d'Bog.
J
8 WiLiiii.M Hkinkich HosciiEu: [7*\ a
sonders charakttM-istisoh siuil: ihre zentrale Lage und /.u-
gleich die eiLjentüniliche Vorstellung;, daß beide I'nnkte die
höe listen Krhebuni^en auf" dei' Erdoberfläelie bedeuie-
teu. Ganz deutlich wird in bezui^ auf das Paradies die letztere
Auschauuiii^ bezeugt und begründet von Moses IJareephas
De Paradiso I, 9 -= Bibliotheca Patr. max. tom. XVII p. 461:
'Illud insuper asserimus, eam terram in qua est Paradisus,
altiorein multo subliniiorcmque existere hac quam nos
colimus: id enim ita se habere, indicio sunt quatuor illa
grandia tiumina, quae orta in Paradisi terra i)er hane nostram
ab illa diversam feruntur'.^^) Das widerspricht nur scheinbar
der Schilderung der Genesis, denn auch nach dieser bandelt
es sich im Grunde nur um einen einzigen Strom des Para-
dieses, der sich erst außerhalb desselben in vier Flußarme
teilte, um aus dem 'Mittelpunkt der Erde allen Ländern
die Bewässerung zuzuführen'. (WlNER, Bibl. llealwört.^ I,
S. 284, A. I.)'«)
57) Auch das Christliche Adambuch des Morgenlandes versetzt
das Paradies auf die höchste Höhe der Erde, wie Dillmann a. a. 0.
S. 137 Anm. I aus den Hymnen des Ephiaem Syrus auf das Paradies,
aus des Cosmas Indicopleustes Topographie usw. nachweist. Doch
wird es hier gewöhnlich nicht nach Palästina, sondern in den äußersten
Osten verlegt; vgl. Leben Adams und Evas 45. Ps.-Epiphan. Hexaömeron
ed. Tnüjrpp S. 233. Epiphan. haeres. 64, 47 = H p. 644 Dind.
58) Hierzu kommt noch die eigentümliche in der späteren hebrä-
ischen und arabischen Literatur bezeugte Vorstellung, daß von Jerusa-
lem, dem Nabel der Erde und Ausgangspunkt der Schöpfung, alle
unterirdischen Wasseradern ausgehen, die den Kulturpflanzen,
Fruchtbäumen usw. das nötige Grundwasser liefern. S. die mir von
Prof. Winter nachgewiesenen Belege aus Tanchuma zu Kedoschim
(Levit. 19) in meinen Neuen Omphalosstudien S. 73 f. Mehr bei Wen-
siNCK a. a. 0. S. 32 ff., der u. a. auf das Zeugnis Nuwairis (p. 90, 3)
verweist: „Abu Huraira said on the autbority of the prophet: all
rivers and clouds and vapouis and winds come from under the
holy rock in Jerusalem" und sogar geneigt ist, die Worte des
Psalms 87, 7: 'alle meine Quellen sind in dir' (d. h. in Zion) auf
dieselbe Anschauung zu beziehen. Vgl. auch Feuchtwanq in Monats-
schrift für Gesch. u. Wissenschaft d. Judentums. N. F. Jahrg. XVHI,
S. 723ff., sowie Ubaiy b. Ka'b bei Khamis I, 86, i8f.: 'God calls Pa-
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 39
Es ist das Verdienst von Wensinck in der schon oft
zitierten Abhandlung der Amsterdamer Akademie, die gedach-
ten beiden Merkmale der zentralen und der Höchstlage so-
wohl für Jerusalem (Palästina) wie für das Paradies energisch
betont und nachgewiesen zu haben. So sagt er a. a. 0. S. 13:
The sanctuary has been considered as the highest moun-
tain or the highest territory of the earth; or, in other
words, that it possesses the first characteristic of the navel
in an absolute form. As to mount Sion, this theory is, in
its general form, not yet applied to it in the Old Testament;
but is here limited to eschatological times; Isaiah II, 1 : „And
it shall come to pass in the last days, that the mountain
of Yahwe's House shaU be established in the top of the
mountains, and shall be exalted above the hills.' — It
is clear why it is said here that this state of things wiU
begin in the cominoj era: for at that time the earth and
especially Jerusalem and the holy land will be transformed
into a landscape bearing the features of Paradise. Para-
dise reaUy consists of a mountain higher than any moun-
tain on earth (Book of the Bee, p. 23, 4 = Anecdota Oxon.,
Semitic series vol. I, part., 2 ed. Budge). It is for the first
time that we meet with a characteristic common to the navel
and to Paradise; it will not be the last time; we shall see
that the explanatiou of this is to be found in the fact that
Paradise is also considered as a navel.^^) In later literature
lestine blessed, only because there ia no sweet water of which the
Bource does not originate under the Holy rock at Jerusalem', und Nu-
wairl p. 90, 16: 'all water flowing from the tops of the mountains has
its origin under thee' usw. (Wensinck a. a. 0. S. 33).
59) So erklärt sich wohl auch der im 'Leben Adams u. Evas',
Kap. 40 S. 527 Kautzsch (Apokryphen d. A. T. I) erhaltene Sagenzug:
'Und nach Adams Beschickung befahl Gott, ihn in das Bereich
des Paradieses zu tragen, an den Ort, wo Gott den Staub gefunden
hatte, daraus er Adam bildetf. Und er ließ den Ort für zwei
(Leichen) aufgraben und sandte sieben Engel in's Paradies, die brach-
ten viele Wohlgerüche herbei' ... Im Folgenden wird erzählt, daß
sechs Tage später auch Eva daselbst bestattet wurde. — Auch hier
^o W 11, 111:1, M llKiNiucii Ut)8t'ni'.u: (7^. ^
the fact of .KMusaU'iii boing the hij^'hcöt {)hic(^ un t-arth is
not liinitoil to fsi-hatolo^MCiil tiiues. as we leani tVom Kid-
dushiii 111 00" iiiiVii: „The sanctuary is hipfher than the
reet of the huul of Israel and the laud of Israel is higher
than all other countries."«») Vgl. anch Wensinc k a. a. 0.
S. i3lf., wo noch weitere Zenj^nisse aus Agapius, Haiabi, Nu-
wairi usw. angeführt sind und die Übertragung der gh'icheu
Vorstellung auch auf .M»d<ka erwiesen wird.^")
8. Adam uuü Eva in Hebron bestattet.
Eiu merkwürdiger Widersprucli hinsichtlich der Lokalität
des Adamgrabes findet sich in den Schriften des Kirchenvaters
Hieronymus (340—420). Während er Epist. 46 = Migne, P. L.
XXII, 485 schreibt: 'Unde et locus, ubi crucifixus est Domi-
nus noster, Calvaria appellatur, scilicet quod ibi sit antiqui
hominis calvaria condita et sanguis Christi de cruce stil-
lans primi Adam et iacentis protoplasti peccata dilueret',
versetzt er an anderen Stellen, nämlich In Matth. IV, 27, 33
= Micrne P. L. XXVI 217 B C und In Ephes. 5 == Migne P. L.
Bclieint die Annahme der Identität von Paradies und Jerusalem vor-
zuliegen. Auf derselben Vorstellung beruht es wohl, wenn Pico von
Mirandola (1463— 1494), der bekanntlich ein guter Kenner der spä-
teren jüdischen Literatur, besonders der kabbalistischen, war, in
Beiner schönen 'Oratio de hominis dignitate') = Opp. Basileae i6oi.
Vol. I Sp. 208) (iott zu Adam bei dessen Schöpfung sagen läßt:
'Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quid-
quid est in mundo'. Wünsche, Schöpfung und Sündenfall. Leipzig
1906, S. 19. Vgl. Hilarius (f 366) b. Migne P. L. IX, 1073.
60) Damit hängt natürlich auch die Vorstellung zusammen, daß
das Land der Israeliten das einzige gewesen sei, das von der
Sintflut verschont wurde; vgl. Bereschit Rabba fol. XXXVII ro. a,
1. 2off., zitiert von Wensinck a. a. 0. 15. Dasselbe gilt dann auch vom
Paradiese, vom Berge Garizim, dem Erdnabel nach der Lehre der Sa-
maritaner, der Ka'ba in Mekka nach mohammedanischer Anschauung usw.
(wie Wekslnck a. a. 0. S. 15 ff. u. 33 weiter ausgeführt und durch be-
stimmte Zeugnisse bewiesen bat). Vgl. auch Bin-Gorion, D. Sagen
d. Juden I, Frankfurt a. M. 19 13, S. 57.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. •41
XXVI 55g AB^^) das Grab Adams vielmehr nach Hebron.^^)
Dieser Widerspruch erklärt sich leicht aus der Tatsache, daß
dem Hieronymus zwei ganz verschiedene Überlieferungen vor-
lagen und er sich zu verschiedenen Zeiten erst für die eine,
dann für die andere entschieden hat. Zwar die Genesis, die
in der Höhle von Hebron die Sara (Gen. 23, 9), Abraham
(25, 19), Tsaak, Rebekka, Lea (49, 31), Jakob (50, iff.; vgl.
Jos. b. Jud. 4, 9, 7) beigesetzt werden läßt, weiß nichts von
einer dort stattgefundenen Bestattung Adams zu berichten,
wohl aber lassen sich aus der späteren jüdischen Lite-
ratur, die Hieronymus gekannt haben muß, eine Anzahl von
Zeusnissen beibrinrjen, die von einem Grabe Adams zu
Hebron sprechen.®^)
Sota 13 a: Als sie (mit der Leiche Jakobs auf dem Zuge von Ägypten
nach Kanaan) bei der Höhle Machpela anlangten, kam Esau und
wollte (die Bestattung) verhindern. Er sagte zu ihnen: „Mamre Kirjath
ha-Arba' (die Stadt der Vier) das ist Chebron" (Genes. 3=;, 27). —
K. Jizchak hat aber gesagt: Sie heißt Kirjath Arba (Stadt der Vier),
weil vier Paare dort waren: Adam und Eva, Abraham und Sara,
Isak und Rebekka, Jakob und Lea — er (Jakob) begrub Lea in dem
seinigen (in dem Stücke der Höhle Machpela, welches ihm als Erbteil
von Isak zukommt); was übrig ist, gehört mir.
Erubin 53 a: „Die Höhle der Verdoppelung" (Genes. 23, 9).*^^) Rab
61) Vgl. auch Läqarde, Hieronymi quaest. hebr. in Gen. p. 35, 23:
. . . ibi [in Hebron] Abraham et Isaac et Jacob conditus est et ipse
princeps humani generis Adam, ut in libro Jesu [14, 15] apertius de-
monstrabitur. S. Klameth a. a. 0. S. iio Anm. i. Baumstabk a. a. 0.
S. 26 Änm. 6 u. 7.
62) Ebenso, wahrscheinlich der Autorität des Hieronymus folgend,
der Kirchenschriftsteller Arkulf (vgl. Klameth a. a. 0. S. iii. Geyer,
Itin. Hierosolym. saec. IV— VIII, p. 233).
63) Ich verdanke die zunächst folgenden fünf Zitate der Güte Prof.
Winters in Dresden und gebe sie im Hinblick auf ihren Wert und den
Umstand, daß sie bisher, so viel ich weiß, viel zu wenig bekannt sind,
möglichst vollständig wieder. Auch Herrn Dr. J. M. Berdvczewski (Bin-
Gorion) in Berlin-Friedenau, dem Herausgeber der im 'Born Judasi-
gesammelten Legenden und Märchen bin ich für einige wertvolle Mit-
teilungen zu Dank verpflichtet.
64) Eine doppelte Grahhöhle bezeugt für Hebron auch Baedeker
(= Benzinger), Palästina u. Syrien' (1897) S. 135^-: 'Doppelte Höhle,.
42
W'ii.in-.i.M ITkin'kich T\i)sniKK: [7f^. '
und Samuel (erklilreii <lio Ho/oicliiiung). Der cino sagt : I'.h waren
zwei Häuser, das eine iuneiiwürla vom andern (liiutor dem andern);
der andere sajjt: Eh war «'-in Hans und ein OlitMfrcsehoß daniber.
Nach der A\isioht dessen, der sft.i,'t: eines über dem andern, trilft /.u :
'Verdoppelung'; nach der Ansicht dessen aber, der sagt: 'zwei lliluser,
eines innenwärts vom andern', was bedeutet „Vordopi)elung"?' Sie
■war ver(>j;e~)doppelt durch Paaro (es waren Doppelgräber darin). Denn
CS heißt (Genesis 35, 27): „Mamrc Kirjat ha-Arba, das ist Chebron",
und K. Jizchak hat gesagt: Die Stadt der vier (arba) Paare, Adam
und Eva, Abraham und Sara, Jizchak und Kibka, Jakob und Lea.
Baba batra 58a: K. Banaa versah die (Gräber-) Ibildcn mit Ab-
zeichen (Raschi: Er ging in die Höhlen liinein und maß ihre Länge
im Innern aus; dann maß er an den entspreclienden Stellen außen und
machte dort ein Zeichen mit Kalk, damit man den Ort der Unreinheit
erkenne.) Als er zur Höhle des Abraham kam, fand er Elieser, den
Knecht Abrahams, au der Pforte stehen. Er sprach zu ihm: Was
macht Abraham? Jener sprach: Er Bchläft in den Armen der Sara,
die ihm aufmerksam (liebevoll) aufs Hau))t Idickt. Er sprach: Geh',
sag ihm: Banaa steht an der Pforte. Er (Abraham) sprach: Er mag •
hereinkommen; man weiß, daß in dieser Welt der Trieb nicht herrscht.
Er ging hinein, blickte um sich und ging hinaus. Als er zur Höhle
des ersten Menschen (Adam) kam, ging eine Tochterstirame (Him-
melsstimme) aus und sprach: Du hast das Ähnlichkeifcslnld meines Ab-
bildes gesehen, mein Abbild sollst du nicht sehen.") [Er feprach]: Ich
will docli die Höhle mit einem Zeichen versehen. (Die Tochterstimme
erwiderte): Wie das Maß der äußeren, so ist das Maß der inneren."^)
Und nach dem, der eagt"^): Zwei Häuser, eines über dem andern (er-
jeder Teil mit besonderem Eingang. Sechs Keuotapbe befinden sich
über dem Boden nach Angabc der Muslimen genau über den unter-
irdischen Gräbern von Abraham, Isaak und Jakob und ihren Frauen
Sarah, Rebekka und Lea.' Also weiß auch die heutige Lokaltraditiou
der Muhammedaner nichts von einem Grabe Adams und Evas zu He-
bron. Das erklärt sich wohl zum Teil aus der Tatsache (s. unt. Kap. 4),
daß nach islamischer Annahme Adam auf dem Berge Abukais bei
Mekka und Eva zu Dschedda bestattet war (a. Neue Omphalosstudien
S. I3f.)-
65) Adam ist das Abbild Gottes, jeder andere Mensch, hier
Abraham, ist das Abbild Adams.
66) Von der Pforte aus gesehen, bildet Abrahams Grabstätte den
äußeren, die des Adam den weiter nach innen zu liegenden Teil
der Höhle.
67) S. oben Erubin 53 a.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 43
widerte die Tochterstimme): Wie das Maß der oberen, so ist das Maß
der unteren. R. Banaa sagte: Ich betrachtete seine zwei Fersen, und
sie glichen den zwei Rüdem der Sonne.®**)
Bereschit rabba 58, 4: 'Und Sara starb in Kirjat arba' (Genes. 23, i).
Mit vier Namen wurde sie (die Stadt) benannt: Eschkol, Mamre, Kirjat
arba, Chebron. Und warum nennt er sie Kirjat arba (Stadt der Vier) ?
Weil vier Gerechte darin wohnten: Aner, Eschkol, Mamre, Abraham,
und vier Gerechte darin beschnitten wurden: Abraham, Aner, Eschkol
und Mamre. — Eine andere Erklärung: Kirjat arba, weil vier Gerechte,
Väter der Welt, daxin begraben wurden: Adam der Erste, Abraham,
Jizchak und Jakob. — Eine andere Erklärung: Weil vier Mütter darin
begraben wurden: Chawa (= Eva) und Sara und Ribka (= Rebekka)
und Lea.
Pirke Rabbi Elieser''^) Abschn. 20 : Adam saß und forschte in
seinem Herzen und sprach: „Denn ich weiß, in den Tod wirst du mich
zurückführen und in das Sammelhaus für alles Lebende" (Hiob 30, 23).
Da sprach Adam: Während ich noch in der Welt bin, will ich mir
eine Herberge für mein Lager [= eine Grabhöhle?] bauen außerhalb
des Berges Morija.'") Und er haute aus und baute sich eine Her-
berge für sein Lager.'^) Adam sprach: Wie vor den Bundestafeln,
welche einst werden geschrieben werden mit dem Finger Gottes, die
Wasser des Jordan fliehen werden (Josua 3, 9 — 17), so wird mein Kör-
per, da er ihn mit seinen zwei Händen geknetet und den Hauch seines
Mundes in meine Nase geblasen hat, [Wunder wirken], und sie werden
nach meinem Tode mich und meine Gebeine nehmen und sich einen
Götzen machen. Allein ich will meine Lade (Bahre) tief einsenken
innerhalb der Höhle und innenwärts von der Höhle. Deshalb wird sie
genannt 'Höhle der Verdoppelung', weil sie doppelt ist. Und dorthin
gab man Adam und Eva, Abraham und Sara, Isaak und Rebekka,
68) Vgl. auch Bin-Gorion, D. Sagen d. Juden L Frankfurt a. M.
1913, S. i63f.
69) Nach Strack bei Herzog-Plitt-Hauck" XIX, 319, 54 lebte
R. Elieser noch zur Zeit des Tempels. Vgl. auch Midrasch Haggadol
Gen. 5, 5 und Midr. Tehillim (Berdyczewski).
70) Vorher heißt es, daß Adam, als er aus dem Garten Eden
vertrieben wurde, auf dem Berge Morija seinen Wohnsitz nahm,
weil das Tor des Gartens Eden nahe dem Berge Morija ist.
71) Damit wird offenbar die Anlage einer Grabhöhle in dem
felsigen Terrain von Hebron angedeutet. Berdyczewski teilt mir mit,
daß es nach Sota VII p. 34 b 'keinen steinigeren Boden in Palästina
gibt, als den von Hebron und daß man deshalb dort die Toten [in
Felsenhöhlen] bestattet'.
F]iil.-hiBt. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 4
44 ^VIl,lll:l M Ili:iNiU('ii 1\<>>( iiKit: l/O, -
Jnkob und Loa. l'iul (iosluill) licißt nie Kiijiit iiilm (Stadt der Vier),
weil dort vior l'aaro begraben hIihI. Und botrcirH ihrer «a^t die Sclirift:
'Ks koniiut der Friede; 8ie rulien auf ilirer Laperstatt. wer gerade j^e-
waiidelt' (^.losaias 57, 2).
llior/.n kommen noeli folgende mir von Dr. ükkuvc^ziowski
mitgeteilto Zeugnissi'. aus denen auf eine <^aiiz besondere
lleilijjfkoit und Bedeutung Hebrons geschlossen werden muß.
Abr. Saba Zeriu llamor, Veucdi{^ 1539, (jcn. p. 24c: Sara ist in
der zwiefachen Ilölile (von Hebron) begraben worden, weil die Höhlo
seit den Tagen Adama ein heiliger Ort iöt.'*) Kirjath Arba wird
Hebron genannt, weil das ein auscrwilhltcr Ort") im ganzen Lande
Israel ist. Seit der Erschaffung der ^\^•lt wird Hebron Kirjath Arba
genannt der vier Paare wegen, die dort begraben worden sind. Auch
wird Kirjath Arba Hebron i^enannt, weil die Seelen derer, die dort
ruhen, sich oben (in einem himmlischen Paradies?) ver-
einigen.
Bechai b. Asar, Kommentar, Venedig 1546, Gen. p. 31c.:
a) Danach begrub Abraham Sara, .«ein Weib, in der Höhle des
Ackers, die zwiefach ist, Mamre gegenüber: das ist Hebron (Gen. 23, 19).
Sieh und erfahre, wie groß das Verdienst Saras war, daß der Ort, wo
sie gestorben und begraben worden ist, die Stätte war, wo dereinst
das Haus Elohims errichtet werden sollte. Daselbst ist (auch) das
Himmelstor.'*)
b) Es läßt sich sagen, daß Kirjath Arba deswegen Hebron'*) ge-
nannt wird, weil die Seele dessen, der dort begraben liegt, sich in der
himmlischen Götterstadt, die über diesem Orte liegt'"), und
in der die vier Scharen um die Schechina stehen, sich . . .
vereinigt.
Sohar Genes, p. syb:
R. Abba sprach: Als Adam sich vor dem Heiligen, gelobt sei
er, versündigt und sein Gebot übertreten hatte, war der Herr traurig
72) Das hohe Alter der ursprünglich kanaanitischeu, einst von
den Israeliten eroberten und zu .einer Freistätte bestimmten Stadt He-
bron ist auch sonst bezeugt (Winer, Bibl. Realwört.^ I, 474).
73) Offenbar wird hiev der Name Hebron {Xißgmv oder Xaßgm)
von caher = auswählen abgeleitet (Berdyczewski).
74) Dieselbe Vorstellung findet .>ich auch in der Lokalsage Bethels
von der Himmelsleiter. S Kap. III b.
75) Hebron von habher = binden, vereinigen.
76) Vgl. für diese Anschauung Jeremias, Handb. d. altoriental.
Geisteskultur. Leipzig 1913, S. 188 ff. und Bin-Gokion, Die Sagen d.
Juden I, S. 42.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 45
und sprach zu Adam: Wehe dir, Adam, daß du die oberste Kraft ge-
schwächt hast. In dieser Stunde erlosch ein Licht. Alsbald vertrieb
der Herr Adam aus dem Eden und sprach zu ihm: Ich hatte dich in
den Garten Eden gebracht, damit du opfertest, du aber hast den Altar
entweiht, und so kann nicht mehr geopfert werden. Von nun an mußt
du die Erde bearbeiten. Und er verhängte über Adam den Tod. Er
erbarmte sich aber seiner und bestattete ihn, als er starb, in
der Nähe des Edens. Was tat Adam, als er sterben sollte? Er grub
eine Höhle, und in dieser Höhle wurde er und sein Weib begraben.
Woher wußte er den Ort (zu wählen)? Er sah ein feines Licht von
dieser Stätte aufsteigen. Das kam von Eden, und er bekam Lust,
hier begraben zu werden. Dieser Ort [Hebron?] aber ist in der
Nähe des Gartens Eden.^^)
Sohar ed. Amsterdam 1805, Genes, p. 127a:
R. Juda sagt: Abraham wußte ein Merkmal (wodurch er die zwei-
fache Höhle finden konnte), und all sein Sinnen und Trachten galt der
Höhle. Noch bevor er Sara dort begraben hatte, stieg er (einst) hinab
und sah Adam und Hawa ruhen. Woher wußte er aber, daß das
Adam war? Er hatte (vorher) einmal ein Gesicht, er schaute vor sich,
und da sah er eine Tür des Edens aufgehen und das Bildnis Adams
stand vor ihm. Er sah ein Leuchten in der Höhle, denn ein Licht
brannte daselbst. Deshalb wollte Abraham an diesem Orte ruhen.
Sein Sinnen und Trachten waren nur auf die Höhle gerichtet.
Die angeführten Zeugnisse der späteren jüdischen Lite-
ratur sind nicht bloß deswegen bemerkenswert, weil sie offen-
bar schon dem Hieronymus bekannt waren und ihm zur Recht-
fertigung seiner Ansicht von Hebron als dem Bestattungsort
Adams im Gegensatz zu Golgotha gedient haben, sie beweisen
auch, daß die uralte, schon in der kanaanitischen (vorisraeli-
tischen) Zeit bestehende Stadt Hebron ^^) eine ganz hervor-
ragende Rolle ähnlich wie Jerusalem und Sichem, vielleicht
sogar als Erdnabel, gespielt haben muß. Darauf deutet
einerseits ihre Auffassung als 'Himmelstor' (S. 44) und
77) Vgl. auch BiN-GoHioN, Die Sagen der Juden I, Frankfurt a. M.
(1913) S. 162, n (1914) S. sigff.
78) Über Hebron alf Stadt der 'Riesen' (Enakiter) s. Winek,
Realwört.« I, 326 u. II, 330. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 179- Man
bedenke dabei, daß auch Adam, Eva und ihre unmittelbaren Nach-
kommen für 'Riesen' galten (s. oben S. 30 Anm. 38) und Fabbicius,
Cod. Pseudepigr. Vet. Test. H, 41.
4*
]t) Wii. 111:1, M llKiNKirn Röscher: [7^.2
iluo Lage in unniittolbiiror Nähe des Garteus Edon (S. 45),
anderseits die VorstelhniL,' einer 'himmlischen Gottes-
stadt' oder eines ühni rdischcn Paradieses (Elysiums), das
o]>erhalh Hebrons lie<(en und die Seelen der daselbst Ruhen-
den vereinigen sollte (S. 44).'") Es scheint demnach die
Vermutung gerechtfertigt, daß Hebron als Lokal der Legen-
den von Adam, Abraham, Isaak und Jakob sowie vom Para-
dies und Himmelstor in ältester Zeit auch den Anspruch er-
hoben hat, ebenso wie Jerusalem und Sichern als Mittel-
punkt der Erdscheibe zu gelten. Doch konnte es natürlich
später gegenüber der immer wachsenden Macht und Größe
Jerusalems diesen Anspruch nicht aufrecht erhalten, und so
ist es gekommen, daß sich nur verhältnismäßig schwache
Spuren seiner ursprünglichen Bedeutung erhalten haben. Eine
ganz ähnliche Entwicklung läßt sich auch auf griechischem
Boden beobachten, wo es schließlich der mächtigen Priester-
schaft Delphis gelungen ist, alle übrigen KonkuiTenten um
den Besitz des Erdnabels (Paphos, Branchidai, Delos usw.)
aus dem Felde zu schlagen (s. unten S. 78 Anm. 126).
4t, Die Adamlegendeu von Babylon, Damaskus, Indien und Mekka.
Nur ganz kurz können hier die Adamsagen von Babylon,
Damaskus, Indien (Zeylon) und Mekka behandelt werden, weil
entweder das bisher zur Verfügung stehende Zeugnismaterial
zu einer eingehenden Untersuchung nicht ausreicht oder in
einen anderen Zusammenhang gesetzt werden muß.
Was Babylon anlangt, so verweise ich einstweilen auf
Fabricius, Cod. Pseudepigr. Vet. Test. Hamburg 1722, vol. H
p. 41: 'Raf Oschaia refert ex ore Raf, Adami primi corpus
fuisse desumtum e Babel, caput e fundo Israelitico, membra
sive manus et pedes e regionibus reliquis, denique nates ex
Acra Agmae secundum sententiam R. Achae.^°) — Ebendort
79) Vgl. damit die eigentümliche Vorstellung des ^himmlischen'
[oberhalb des irdischen] liegenden Jerusalems in den von Bin Gorion
(Frankfurt a. M. 191 3) herausgegebenen 'Sagen der Juden' I S. 42.
80) Vgl. dazu Wünsche, Schöpfung u. Sündenfall. Leipzig 1906
(= Ex Oriente lux, herausgegeben v. Dr. H. Winckler, Bd. II Heft 4)
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 47
(II, 34) wird eine interessante Notiz aus des Moses Maimo-
nides Buch More Nebucbim III, 29 p. 422 mitgeteilt: 'De
Adamo dicunt, quod cum ex climate li. e. ex terra DSiluri,
quae Indiae vieina est, egressus et terram Babel ingressus
fuit, multa mirabilia secum asportaverit et inter iUa arborem
flores folia et ramos auri babentem.' Die Lösung der wich-
tigen Frage, ob der schon durch seinen Namen (Adapa) an
Adam erinnernde Protoplast des babylonischen Mythus mit
seinem nach Eridu oder Babylon in Südbabylonien ver-
legten in vielen Beziehungen dem Paradies entsprechenden
Wohnsitz im Grunde mit dem Adam der jüdischen Legende
identisch ist und entweder die let'ztere stark beeinflußt hat
oder umgekehrt, muß ich den Assyriologen überlassen.^^)
Von dem in einer geradezu paradiesischen Umgebung
gelegenen und von jeher den 'Mittelpunkt des ganzen Han-
dels im Orient' bildenden (Benzinger b. Pauly-Wissowa IV,
Sp. 2043) Damaskus berichtet derselbe Fabricius a. a. 0.
S. 24: 'Superest de Damasco opinio, quae et plures et Chri-
stianos autores habuit. Familiam ducit Epiphanias . . . Vetus-
tissima . . . traditio est, primura hominem ex rubra agri Da-
masceni argiUa formatum, unde et a rubediue nomen obti-
nuerit . . . Monstratur adventoribus spelunca, quae ad Austrum
patet, in qua luxerint aerumnosi parentes Abelis interitum,
nee minus locus caedis factae.' Da ich leider zur Zeit nicht
imstande bin, der von Fabricius gegebenen Anregung nach-
zuo-ehen und alle von der Damaszener Adamsage handelnden
etwaigen Zeugnisse der christlichen, jüdischen und syrisch-
arabischen Literatur zu sammeln und vorzuführen, so muß
ich mich einstweilen auf die Vermutung beschränken, daß
auch Damaskus als uraltes Zentrum Syriens einst auch
S. 8, der dazu bemerkt: 'Nach RascM ist Agma ein Ort in Babylon,
der -wahrscheinlich wegen seines sumpfigen, wiesenreichen Bodens so
genannt wurde.' M. J. Bin Gorion, Die Sagen der Juden I., Frank-
furt a. M. 1913, S. 115 und die Quellenangaben S. 355.
81) Vgl. einstweilen Jen.sen in der Keilinschriftlichen Bibliothek
Band VI und Wünsche a. a. 0. S. 77 f. u. Anm. **)
.^8 WiMiKi.M IlKiNiiuii KoscHFai: [70,2
den Anspruch erhoben habe, für den Mittelpunkt der Erd-
scheibe [oiKfCiVog j'fjsO "i"l '^^8 die Stätte der ErschalVung
Adnms und des Paradieses /n gelten. Zur Stütze dieser Ver-
niutuni; berufe ich mich auf die unzweifelhafte Tatsache, daß
ja auch die unmittelbaren Nachbarn und nächsten Verwandten
der Syrer oder Aramäer, nämlich die Phönizier von Paphos**')
und wohl auch von Tyros**') sieb rühmten, im Besitze des
Erdnabels zu sein.
Die Adamsa<^'e von Zeylon ist oben S. 5 ff . behandelt
worden, die von Mekka s. nnten Kap. IV.
111. Weitere 6n(f>aXoi yfjs iu Palästina.
Wir haben soeben gesehen, daß es im Räume Jerusa-
lems verschiedene Pnukte gegeben hat, die sämtlich den An-
spruch erhoben, der 'Nabel der Erde' zu sein, nämlich Gol-
gotha, Zion, Moria, und daß überhaupt das ganze heilige
Land^^), wie es scheint, von jeher, d. b. schon in der kana-
anitischen Urzeit, und vielleicht nocli vor der Blüte Jerusa-
lems und der Errichtung des Salomonischen Tempels^^), die-
selbe Ehre beansprucht hat. Diese letztere Vermutung läßt
sich jetzt zu größter Wahrscheinlichkeit erheben durch den
Hinweis auf die Tatsache, daß innerhalb Palästinas noch
mehrere uralte (ursprünglicli kanaanitische) Städte in dieser
Beziehung als Konkurrenten Jerusalems aufgetreten sind, näm-
lich Sichem mit dem Berge Garizim, Bethel und wahr-
scheinlich auch das schon oben S. 4off. besprochene als Grab-
stätte Adams und Evas später mehrfach genannte Hebron.
82) Omphalos S. 29 f.
83) N. Omphalosstudien S. 15.
84) Vgl. Wellhausen, Prolegom. z. Gesch. Israels^ S. 22, der für
'die Vorstellung, daß Palästina als Ganzes Jahwes Haus, sein Grund
und Boden' sei, besonders auf 2 Reg. 5, 17 verweist. S. uut. Anm. 90.
85) Vgl. Robertson Smith, D. Religion d. Semiten, übersetzt v.
Stube, Freiburg i. B. 1899, S. 82. Wellhausen a. a. 0. S. 19 ff. u. 30 f.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 49
a) Sielierri und Garizim (samaritanisclie Überlieferung).
Das hohe Alter des ursprünglich wohl kanaanäischen
Kultus von Sichern^*') läßt sich schon aus der bedeutsamen
Rolle erschließen, welche diese Stätte bereits in der Patriarchen-
legeude spielt. Hier erscheint Jahwe dem Abraham und
hier erbaut dieser den Altar j,deni ihm erschienenen Jahwe"
(Genes. 12, 7). hier nomadisierte Jakob, errichtete ebenfalls
einen Altar, den er El, Gott Israels, nannte, bohrte den nach
ihm benannten, noch jetzt dort gezeigten berühmten Brunnen
(Ev. Joh. 4, 6ff.)^ und erwarb Grundbesitz (Genes. 13, S3i i^fi'.),
hier vergewaltigte Sichern, der Sohn des Landesfürsten Hemor,
Dina, die Tochter Jakobs (Genes. 34, 2ff.j, hier wurde Joseph
begraben (Jos. 24, ^2), unweit des daselbst von Josua er-
richteten großen Denksteins unter der Eiche, die sich im
Heiligtume Jahwes befindet (Jos. 24, 26). Von dieser Eiche
bei Sichern hören wir (Richter g, 37), sie sei ein Orakel-
baum gewesen, ebenso wie die berühmte Terebinthe More, d. h.
Baum des Orakelgebens, ebenfalls bei Sichern (Gen. 12, 6),^'^)
und schon Robertson Smith a. a. 0. 149 hat die Ansicht
ausgesprochen, daß die genannten beiden Bäume bei Sichern
'Stätten eines kanaanitischeu Baumorakels gewesen sein müssen.'
'Durch Josua wurde Sichem zur Frei- (Jos. 20, 7) und Le-
vitenstadt (Jos. 21, 21) bestimmt und diente bei dessen Leb-
zeiten als Vereinigungspunkt der Stämme (Jos. 24, i. 25). In
der Richterperiode war sie (noch zum Teil mit altkanaani-
tischer Bevölkerung: Rieht. 9, 38) eine Zeitlang Hauptort des
von Abimelech errichteten Königreichs (Rieht 9, i ff.), wurde
aber, nachdem sie abgefallen, von demselben erobert und zer-
stört (Rieht. 9, 3 4 ff.), wobei eines dort befindlichen Heilig-
tums des Baal Berith gedacht wird (Rieht. 9, 4. 46). Sie
86) Nach Ed. Meyeks Annahme (Gesch. d. Alt. I, § 289) 'ver-
schmolzen die Kana'anäer von Sichem mit den Hebräern, und der alt-
kana'anäi^^che dortige Adel, die Söhne Chamors, die Verehrer des Ba'al
Brit, des «Bundesherm», behauptete neben den Israeliten seine Stel-
lung.' Vgl. auch § 294, 309.
87) Vgl. über solche Orakelbäume Robertson Smith a. a. 0. S. 149 t.
50 WiLHKLM IIkiniuch KoscHKu: [70,2
nmß j(HU>oh hiild wieder anfi^obaut worden Boin, denn Heliabeani,
Salonios Naehfi)l>rer, hielt daselbst den l)ekannten cnlscheiden-
tlen Landta«^ (i. Kr.ii. u, 1). Die Stadt, kam nun an das
lu'ieb Israel und war eine Zeitbmg Kesiden/ .Jero))ean)s und
fob^lieb die Hauptkonkurreutin Jerusalems (i. Kön. 12, 25).
Sie stand noch während des Exils (Jer. 41, 5) und war im
naehexilischen Zeitalter Ilauptsitz des samaritanischen Reli-
gionskultus (Joseph, antt. 11, 8. 6; vgl Joh. 1, 20).' WiNElt
a. a. 0. IL' S. 455-
Schon aus diesem kurzen Überblick über die von der
ri'ligionsgeschichtlichen Bedeutung Sichems handelnden Zeug-
nisse dürfte deutlieh erhellen, welch scharfe Konkurrenz einst-
mals /wischen dieser Stadt und Jerusalem jahrzehntelang
geherrscht haben muß. Am klarsten spricht sich diese Neben-
buhlerschaft namentlich in der bekannten (Ev. Joh. 4) be-
richteten Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem sama-
ritischen Weibe aus, das unter anderem dem Herrn gegenüber
äußert: 'Unsere Väter liaben auf diesem Berge dem [Garizim]
angebetet, und ihr [Juden] sagt, daß in Jerusalem der Ort
[d. h. der Tempel] sei, wo mau anbeten soll.' Daraus folgt,
daß sich noch 'zur Zeit Jesu Juden und Samariter über die
richtige Stätte gestritten haben, wo man anbeten solle; daß
es nur eine einzige geben könne, das war ihnen so ausge-
macht wie die Einheit Gottes selber.' ^^) Aber in der Urzeit,
d. h. vor der Erbauung des Salomonischen Tempels, hat dieser
Glaube an ein ausschließlich berechtigtes Kultusheiligtum, wie
Wellhausen a. a. 0. S. 17 ff. nachweist, gewiß nicht existiert;
z. B. I. Kön. 3, 2 wird uns aus der Zeit vor Salomo aus-
drücklich bezeugt, daß das Volk auf [verschiedenen] Höhen
geopfert habe, 'denn bis dahin war noch kein Haus dem
Namen Jahwes gebaut.' 'Erst seit das Haus dem Namen
Jahwes gebaut war, das ist die Meinung, kam das Gebot in
Kraft, keine anderen Anbetungsstätten daneben zu haben.' ^®)
88) Wellhacsen, Proll. S. 17.
89) Wellhausen a. a. 0. S. 19 f.
yo, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 5 1
Natürlich wurde der Konkurrenzstreit zwischen Jerusa-
lem und Sichern noch gesteigert durch den in der Zeit Alexan-
ders d. Gr. (Joseph. Autt. 11, 8, 6) von den Samaritanern auf
dem Berge Garizim in unmittelbarer Nähe Sichems errichte-
ten Jehovatempel (Jos. Antt. 12, 5, 5), der offenbar dazu
bestimmt war, das Gegenstück zum nachexilischen Tempel
Jerusalems zu bilden. Daß dieser Tempel demgemäß ebenso
wie das unterhalb gelegene Sichern nach Analogie des Tem-
pels von Jerusalem den Anspruch erhoben hat, als oyixpaloq
yrig zu gelten, ist nach den obigen Darlegungen schon an
sich ziemlich wahrscheinlich; es läßt sich aber auch durch
Anführung ausdrücklicher Zeugnisse geradezu beweisen. Denn
Richter 9, 37 heißt es in der Geschichte von Abimelech, dem
Sohne Gideons, der sich von den Sichemiten zum König über
Israel hatte wählen lassen und, als seine bisherigen Unter-
tanen von ihm abgefallen waren, mit seinen Scharen von den
umliegenden Höhen herabstieg, um Sichern zurückzuerobern:
'Fürwahr, Krieger steigen vom Nabel des Landes herab,
und eine Abteilung kommt in der Richtung von der Zauberer-
Eiche her.' Zunächst bedeutet hier der Ausdruck 'Nabel
des Landes' nichts anderes als das Zentrum Palästinas,
des heiligen Landes, in dessen Mitte ja tatsächlich Sichem
ungefähr ebenso wie Jerusalem^") gelegen war. Wenn wir
aber bedenken, daß die meisten oyLfpcdol yrjg zugleich Mit-
telpunkte bestimmter zentral gelegener Landschaften
waren, wie z, B. Delphi der Mittelpunkt von Hellas, Honanfu
das Zentrum Chinas, des Reichs der Mitte, Bagdad die Mitte
des Irak, des 'Nabels der Welt und der Erde', Branchidai,
90) Vgl. auch GuTHE im Artikel 'Palästina' in Herzog-Plitt-
Haucks Realenc.^ 14 S. 561, 45 IF., der darauf hinweist, daß PaLästina
tatsächlich zwischen Babylonien und Ägypten, also den wichtigsten
Kulturländern der ältesten Zeit, genau in der Mitte lag. Er hält es
sogar für möglich, daß diese Vorstellung schon bei den Kana-
anitern vorhanden war, aber in Israel erhöhte Bedeutung damit ge-
wann, daß sich das Volk wegen seiner höheren Gottesverehrung zum-
Lehrer aller anderen Völker berufen fühlte. (Jes. 45, 14^ 21 f. 51, 4f.
2, 1-4)
52 Wii.HKKM Hkiniuch Roscmku: [70,2
(las lioriiberiihmtL' Apollonunikel Joniens, des 'Zworchfells
clor Erde uiul Mittelpunkt der iiltesten iiiiK'siscIieii VVelt-
karto""), das Zentrum der v<mi ilen (irioehen besiedelten Küste
Kleinasiens'-'M, Deios die farnj v}',öojv'''^) usw., so werden wii-
uns wohl bereehti<j;t fühlen, Wknsinck a. a. 0. S. 1 5 beizu-
stimmen, weuu er bemerkt: 'It is not astonishing to und that
the Samaritaus have claimed f'or their sanetuary the same
houours as the Jews did Ibr theirs. But, reniembering that
already in .ludges IX, ^"^ one of the mountains, near Shekem
in called „the uavel of the land", it is natural to suj)pose that
Gariziui was of old the object of uavel-theories as we lind
them in later literature. In Ber. Rabba fol. XXXV vo. 1),
ult. sqq., it is told how Rabbi Jonatau on a journey was in-
vited by a Samaritan to perform his prayer ou Garizim.
When he asked: „why"? he was answered: „beeause it was
not sul)merged by the Deluge."^^) Genau dasselbe gilt,
wie oben gezeigt worden ist, aus dem gleichen Grunde auch
von Jerusalem, dem 'höchstgelegenen Orte der Welt', von
der Ka'aba Mekkas (Wensinck a. a. 0. S. 15) und vom Parnaß,
dem Berge Delphis, auf dem Deukalion nach der Sintflut
91) RopciiEK, Üb. Alter, Ursprang u. Bedeutung der hippokvat.
Schrift von d. Siebenzahl. Leipzig 191 1, S. lofF. u. i^ff. — Derselbe,
D. neu entdeckte Schrift e. altmiles. Naturphilosophen usw. 191 2, S. 611".
u. 25 tf. — Derselbe, D. hippokrat. Sehr. v. d. Siebenzahl in ihrer vier-
fachen Überlieferung, zum erstenroal herausg. u. erläutert. Paderborn
1913, S. I57ff.
92) Omphalos S. 9, A. 14. S. 39, A. 74. S. 129. 132. N. Omphalos-
stud. S. 27. 51 If. 89, A. 10^
93) ^S^- auch Bix GoiiioN, D. Sagen d. Juden, S. 58: 'Warum
nur heißt der Berg Garizim der erste Berg? fragt das samaritanische
Volk. Weil er allein zusammen mit dem Garten Eden zu allererst aus
dem Wasser sichtbar -wurde. Von dem Berge Garizim nahm auch der
Herr die Erde zum Leibe Adams, aus dem Staub des gesegneten Berges
machte er den Menschen. Adam ist die Herrlichkeit der Schöpfung,
und der gesegnete Berg ist die HeiTÜchkeit des trockenen Landes'.
G. beruft sich (S. 353) dafür auf den Kommentar Marqahs des Sama-
ritaners zu den Büchern Mosis in HEiDEsnKiMs Bibliotheca Sama-
-ritana III, p. 48.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 53
landete (s. oben S. 14). Eine bockst erfreuliebe Bestätigung
dieser Anuabmeu erblicke icb in dem Zeuguis des Petrus
Comestor (12. Jabrb.) in seiner Historia scbolastica in Evan-
gelia 58 (= Migne, P. L. ser. II ig8 p. 1567D), wo von dem
Jakobsbrunnen bei Sicbem berichtet wird: ^Civitas ergo nomeu
autiquum amiserat et dicebatur Sebaste, sed regio nomen illud
[Samaria] retinuerat. Veniens autem juxta Sicbem ... et
erat puteus in praedio, quod emit Jacob a rege Hemor . . .
Sunt qui dicunt locum illum esse umbilicum terrae
nostrae babitabilis, quia singulis annis quadam die aestatis
meridiana bora sol descendit in aquam putei, nusquam faciens
umbram, quod pbilosopbi apud Sienem [= Svene in Ober-
ägypten] fieri tradiderunt.'^*) Die gleiche naive Begründung
habe ich oben für eine den ö^q)aXbg yrig in Jerusalem dar-
stellende, zur Zeit der Sonnenwende keinen Schatten werfende
Säule (Arkulf in Geyers Itinera Hierosolymit. p. 239, 12 ff.)
und für das chinesische Honanfu nachgewiesen (Omphalos
S. 21 Anm. 38 u. S. 28 A. 50. Klameth a. a. 0. S. 82 A. 2;
S. 92 A. 2 u. 3). Wir ersehen aus diesen Zeugnissen des
Petrus Comestor und des Gervasius von Tilbury^*) abermals
auf das deutlichste, daß bisweilen die spätesten literarischen
Zeugnisse eine ältere und bessere Überlieferung enthalten
können, als die scheinbar ältesten und besten. Daß es sich
in diesem FaUe um uralte höchst wertvolle samaritanisehe
Lokaltraditionen handelt, dürfte jedem Unbefangenen wohl
ohne weiteres klar sein.
94) Dieselbe Überlieferung der Samaritaner liegt vor bei Gerva-
sius V. Tilbury Otia imper. ed. Liebbecht p. i : 'Majores nostri civita-
tem sanctam Jerusalem in medio nostrae babitabilis [olxov^ievrig]
sitam scripserunt secundum illud: „Operatus est salutem in medio
terrae." Hoc autem circumferentiae centrum arbitrantur quidam
[= Samaritani] in illo loco esse, ubi Dominus locutus est ad Samari-
tanam ad puteum; illic enim in solstitio aestivo meridiana bora sol
recto tramite descendit in aquam putei, umbram nullam aliqua parte
monstrans, quod apud Syenen fieri tradunt pbilosopbi." S. ob. S. 21.
54 Wilhelm Heiniuch Kosciiku: [70i *
b) Bethel.
Eiue ganz ähnliche Ixolle wie Sichoin hiit das ebenfulls
iu MittelpaliistiiiJi fast in ilor Mitte zwischen Jerusalem und
Siclioni üeletjeue Bethel in iler ältesten Geschichte des heili-
gen Landes gespielt. Es war ehemals eine altkanaanitische
Könijj^sstadt (Jos. 12, 16), wurde aber vun i.]i'n Ephraimiteu
durch List erobert (Hiebt, i, 22 f.), war eine Zeitlanj::; Stand-
ort der Stittsliütte (Uicht. 20, 18. 26 f. i. Sam. 10, 3), und
Samuel hielt hier öflfeutlich Gericht (i. Sam. 7, 16). Später
machte Jerobeam die Stadt zum Hauptsitz des von ihm ein-
geführten Bilderdienstes (i. Kön. 12, 281f.; vgl. Arnos 3, 14.
7, 10. 13 usw.), wobei er höchst wahrscheinlich an die ur-
sprüngliche religiöse Bedeutung des Ortes anzuknüpfen suchte
(WiNER a. a. 0.^ I, 169 A. 2). Diese erhellt namentlich aus
der berühmten Sage von der Himmelsleiter oder wohl
besser PIimmel.'=;treppe, die Jakob, als er daselbst übernachtete^
im Traume erblickte (Gen. 28, 1 1 ff.). Die entscheidenden
Worte des Jahweisten (a. a. 0. v. 16 ff.) lauten: 'Da erwachte
Jakob aus seinem Schlaf und sprach: Wahrlich, Jahwe ist an
dieser Stätte, und ich Avußte es uicht! Da fürchtete er sich
und sprach: Wie schauerlich ist diese Stätte! Ja, das ist der
Wohnsitz Gottes (s.AnuL 14) und die Pforte des Himmel sl
Frühmorgens aber nahm Jakob den Stein, den er zu seinen
Raupten gelegt hatte, stellte ihn auf als Malstein und goß
Öl oben darauf. Und er gab jener Stätte den Namen Bethel,
vorher aber hieß die Stadt Lus. Und Jakob tat ein Gelübde
und sprach: Wenn Gott mit mir sein und mich behüten wird
auf dem Wege, den ich jetzt gehe, und mir Brot zu essen
und Kleider anzuziehen gibt, und ich wohlbehalten zum Hause
meines Vaters zurückkehren werde, so soll Jahwe mein Gott
sein, und dieser Stein, deu ich als Malstein aufgestellt
habe, soll ein Gotteshaus werden, und alles, was du mir
geben wirst, werde ich dir getreulich verzehnten.' Auch noch
ein zweites Mal erschien Gott dem Jakob zu Bethel nach
Genes. 35, i ff., und abermals wird berichtet (v. 13 f.): Und
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 55
Gott fuhr auf von ihm au der Stätte, wo er mit ihm geredet
hatte. Da errichtete Jakob einen Malstein an der Stätte, wo
er mit ihm geredet hatte — ein Steiumal — , und goß ein
Trankopfer darüber aus und schüttete Ol darüber. Und Jakob
nannte die Stätte, woselbst Gott mit ihm geredet hatte, Bethel.'
Diese zweite Erzählung macht zwar beinahe den Eindruck,
als wenn sie nur eine Doublette der ersten wäre, zumal da
auch hier keineswegs von der Erbauung des Genes. 28, 22
gelobten 'Gotteshauses' (d. h. Tempels), sondern nur von
einer abermaligen Errichtung eines Malsteins die Rede ist,
dient aber jedenfalls dazu, die Vorstellung von der ganz be-
sonderen Heiligkeit des Ortes zu verstärken.
Wie ich der von Neumann in Leipzig 1884 aus dem
Italienischen übersetzten Schrift Marinellis (Die Erdkunde
bei den Kirchenvätern S. 75 Anm. 39) entnehme, hörte nach
den Anualen des Eutjchius von Alexandria (zitiert von Leo-
PARDi, Errori popol. degli ant. p. 207, mir unzugänglich) der
Kalif Omar vom damaligen Patriarchen Jerusalems sagen,
daß der Ort der berühmten Jakobsleiter der Mittelpunkt
der Erde sei; es muß also im 7. Jahrhundert zu Jerusalem
in kirchlichen Kreisen eine Tradition gegeben haben, nach
welcher Bethel als o^Kpalog yfjg galt. Diese außerordentliche
Bedeutung Bethels scheint tatsächlich durch die neuere For-
schung unterstützt zu werden; denu auch nach A. Jeremias
(Das alte Test, im Lichte des alt. Or.^ S. 32of.) ist Bethel-
Luz der Nabel der V^elt (babylonisch: markas same u irsitim,
'das Mutterband Himmels und der Erde'; s. Jeremias, Handb.
d. altorient. Geisteskultur. Leipzig 1913, S. 3 3 f.), wie später
der Sion (s. a. a. 0. S. 476f.). 'Wie Babylon vom babylo-
nischen Standpunkte aus Weltmittelpunkt ist (auf den Bronze-
toren von Balavat 5, 5 wird es ausdrücklich markas same
u irsitim genannt) und wie Jerusalem vom jüdischen Stand-
punkt aus, so ist Bethel für das alte Kanaan Mittel-
punkt der Welt. Jakob sieht den suUam, d. h. die Stufen-
rampe . . ., die auf der Erde errichtet ist (mussab). Das
Haupt des sullam reicht bis zum Tor des himmlischen Pa-
50 Wii.MKi.M Hkin'uicii Koscuku: I70, 2
Iftstes'. — Es erscheint in liohein (liiule wünsclionswcrt, noch
weitere Zeugnisse fiii" tHcse Hrdiutnng Bethi'ls au.siindij^ /,u
UKielien. leh vermute Jiul' Ciiiuul der ihmkeuswerteu Mit-
teihin«^ Dr. Bkkdyczkwskis (= Bin (Jokion) im Omphalog
S. -'7, diiß solche Zeugnisse namentlich in der späteren ji'idi-
schen Literatur zu linden sind. Eine vorläufige Bestätigung
dieser Vermutung erblicke ich in der interessanten von Bin
Gorion aus Pirke Rabbi Elieser XXXll mitgeteilten Legende,
wonach der Stein von Bethel, der Jakob als KopiTiissen
diente, zum 'Grundstein der Erde"" uiul /um 'Nabel dor
Welt' wurde; von dort dehnte sich ilie ganze Erde aus, und
darauf steht der Tempel Gottes, wie Jakob auch gesprochen
hat: Dieser Stein, den ich zu einem Mal aufgerichtet habe,
soll ein Gotteshaus werden. ^^) Ein weiteres Zeugnis für die-
selbe Anschauung teilt Bix Gorion a. a. 0. S. 414 mit: 'Der
Grundstein ist aus Feuer, Wind und Wasser geschaffen-, alle
diese Din^je wurden zu einem Stein gehärtet. Der Stein aber
liegt auf den Tiefen; zuweilen quillt aus ihm Wasser und
füllt die A])gründe; dieser Stein steht im Mittelpunkt
der Welt, und das ist der Stein, den Jakob gepflanzt
hat; er ist die Grundfeste der Welt. — Hat denn aber
Jakob diesen Stein gemächt? War er doch schon da, als
Gott die Welt erschaffen hatte. Aber Jakob hat ihn erst
zum Grundstein der Oberwelt und der Welt da unten ge-
macht. Daher sprach er: Dieser Stein, den ich zu einem
Mal aufgerichtet habe, soU ein Gotteshaus sein. Also hat er
ihn zur Wohnung der Himmlischen gemacht. — Die Weisen
sagen, dies sei der Stein, auf dem die sieben Augen waren,
von dem der Prophet Sacharia (3, g) spricht.' ^^)
Die in diesen Legenden so deutlich ausgesprochene Iden-
95) Wörtlich au3 Bin Gorion, Die Sagen der Juden II (1914) S. 409,
der sich ausser auf Pirke Rabbi El. a. a. 0. auch noch auf Midrasch
Hag-gadol Gen. XXVIII, 18, Midrasch Bereschith Rabba LXIX, 8 und
Midr. Tehilim XC, 17 beruft Cs. a. a. 0. S. 432).
96) Als Quellen dieser Legende gibt Bin Gobion a. a. 0. II, 432
Sh. Gen. p. 231a; Saare Ora I, p. 8a an.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 57
tität des vou Jakob zu Bethel erricliteten 'Malsteines' mit
dem jerusalemisclien Weltnabelstein Sclietija (s. oben Anm. 5 1
lind "Koscher, Neue Omphalosstudien S. 15 tf)^^) erklärt sich
ohne Schwierigkeit durch die Annahme, daß beide Steine ur-
sprünglich öacpaXoi yrjg waren und daß folglich Bethel in
der alten Zeit von seinen Bewohnern, vielleicht schon den
alten Kanaanäern, ebenso wie Jerusalem und Sichem als Nabel
der Erde angesehen wurde.
IV. Mekka als Nabel der Erde.
Meine frühere (Omphalos S. 29 u. Neue Omphalosstudien
S. 14) ausgesprochene Annahme, daß Mekka niemals als Nabel
der Erde gegolten habe, muß ich jetzt auf Grund der Dar-
legungen Lelewels und Wensincks als einen großen Irr-
tum bezeichnen. Zwar ist es ganz sieber, daß Mohammed
selbst und manche seiner ältesten Anhänger, noch der jüdi-
schen Lehre huldigend, Jerusalem als Mittelpunkt der be-
wohnten Erde angesehen haben ^^), aber je höher die Autorität
und Macht des Islams und damit auch Mekkas stieg, um so
unwiderstehlicher verbreitete sich der Glaube, daß Mekka und
ganz besonders die Ka'aba mit dem heiligen schwarzen Stein
den eigentlichen Erdnabel darstelle. Die Begründung dieses
97) Schon Bin Gorion a. a. 0. S. 409, Anm. ***) hat richtig er-
kannt, daß in dieser Legende einmal Beth-El bewußt in Jerusalem ge-
ändert worden ist, um den "Widerspruch nicht allzusehr hervortreten
zu lassen.
98) Vgl. Wensinck a. a. 0. S. 14: The Jewish theory however
often appears in Muslim literature. Haiabi (Sira, Kairo 1292) I, 195, 5
infra has a tradition wLich is carried back to 'Ali the Caliph, accor-
ding to which „the highest of all countries and the nearest to heaven
is Jerusalem" (s. oben S. ißf. 39). Haiabi adds a tradition on the
authority of Ibn 'Abbat and Mu ädh ihn Djebel „that it is situated
twelve mil nearer to heaven than the rest of the earth" etc. S. auch
Omphaloo S. 29 Anm. 54. N. Omphalosstudien S. 18. Wensinck S. 22f.
d'Hebbelot, Biblioth. Orient. III, 261 (s. v. Scheith). Nach älterer
muslimischer Anschauung wurde auch die Welt nicht von Mekka, son-
dern von Jerusalem aus erschaffen (Wensinck S. 17).
58 WlLUKI-M HkINKU'H R()S(!1I1;R: [7". 2
Dogmas miichto iiiiin sirli iihiigons /.icuilirh leicht: ui;iii über-
trug gaii/ einfach uud naiv sämtlicho an .lerusaleni als o^iqta-
Xbg yf]^ geknüpt'to Vc^rstelliiiigcn und Sagen direkt auf Mekka
nud ignorierte» dabei geHissenllich die durch das höhere
Alter und viel gr()l5ere Origiualität geheiligten Ansprüche der
palästinensischen llaujitstadt.
Vor allem wurde Mekka und Arabien au Stelle Jerusa-
lems uud Palästinas ausdrücklich für den 'Na])el der Erde'
erklärt, wobei man sich auf Sure 42, 5 des Korans berief:
'Wir haben dir <len Koran in arabisclier Sprache geolTcnbart,
damit du die Mutter der Städte |= Mekka] und die Ara-
ber, welche um sie herumwohnen, vor dem Tage der einstigen
Versammlung, welcher nicht zu bezweifeln ist, verwarnest.'
Wensinck a. a. 0. S. 23 bemerkt dazu: 'Accordiug to Taljari
Tafsir VII, 165, 18 [Koran, Kairo 1901 — 1903] „those who
are round about it" nieans the whole of the earth; this
explanation iuvolves the conception that „the mother of places"
(and this is nothing but Mekka in Muslim terminology) is
the centre of the earth. Of course this verse from the
Kor'än is only of secoudary importance for the later spread
of the conception amoug the Muslims who use „the centre
of the earth" as a common epithet for Mekka (Kutb
al-Din, p. i8p. infra = Wüstenfeld, Die Chroniken d. Stadt
Mekka, vol. III. Leipzig 1857; cf. Bibl. Geogr. Arab. I, 3, 20
and Mas'üdi I, 77 where Arabia is the centre of the earth.' ^^)
Dem entsprechend erscheint auf zahlreichen arabischen Welt-
karten des Mittelalters Mekka als Zentrum an Stelle Jerusa-
lems (s. oben S. 2 3 f.). Vgl. Lelewels (eines der besten
Kenner der mittelalterlichen Kartographie) Geographie du
moyen äge I p. 27 Anm. 46: 'Pour les fideles on traf;ait les
plans, oü la kaaba, la Mekka se trouvait au centre, et
99) Weitere Zeugnisse für dieselbe Anschauung führt Wensinck
S. 36 an, der sich unter anderen auch auf den berühmten holländischen
Orientalisten Snouck Hukgbonje beruft, der in Mekka selbst öfters diese
Stadt als 'Nabel der Erde' hat bezeichnen hören. Vgl. auch Jeremias,
D. alte Testam. im Lichte d. alt. Or.» S. 86.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 59
en cercle, dans les airs de rayons, etaient les noms des
villes et des pays du monde, d'apres leur position tout ä
l'entour de la Mekke. On voit une semblable rose dans Kas-
vini ä 12 rayons (p. 76 de l'edit. de Wüstenfeld); dans le
portulan arabe du 1551, d'Ali ben Ahmed alscharfy alsifäkes
a 32 ou 40 rayons (Reinaud, introduction p. 198, pl. I no. 3).
Le dessin des cartes, d'apres cette methode etait en usage
chez les Grecs de l'ecole d'Alexandrie. Le navigateur Timo-
stbenes^^°) dressait sa carte sur la rose des vents, placee ä
Rhode; Rhode formait le centre (voyez nos etudes de
la geogr. ancienne nos. 12 et 34)'. ^"^^j
Auch dieVorstellung, daß Mekka der höchstgelegene Ort
auf der Erde und deshalb auch über alle andern Städte der
Welt im eigentlichen und uneigentlichen Sinne erhaben sei,
beruht auf altjüdischen Überlieferungen, die von Jerusalem
(und Sichern, s. oben) auf Mekka übertragen wurden.
So erklärte nach Azraki (bei Wüstenfeld, Die Chro-
niken der Stadt Mekka, vol. I, Leipzig 1858) S. 382, 15 ff.
'A'isha: Nieraals sah ich irgendwo den Himmel näher der
Erde als in Mekka, und Kisä'i fol. 15 a, 7 der Leidener Hand-
schrift Warner 538 bezeugt nach Wensinck (a. a. 0. S. 15)
eine eigentümliche Überlieferung, die besagt: 'The polestar
pvoves that the Ka'ba is the high est situated territory;
for it lies over against the centre of heaven.' Die natürliche
Konsequenz dieser Anschauung ist die Lehre, daß man in der
Not nach Mekka wandern müsse, weil dort, in der dem Him-
mel nächstgelegenen Stadt, die Gebete am ehesten von Allah
100) Vgl. Rehm, Griechische Windrosen, Sitz.-Bef. d. Bayer. Ak. d.
Wies., Philos.-philol. u. hist. Klasse 1916 III, S. 47!?.
loi) Vgl. ebenda II, p. 134: ^Les Arabes suivirent la doctrine
grecque de 12 vents. Elle n'etait guere utile pour leur cartographie,
mais en dressant la rose de ces vents sur Kaaba de la Mekke, ils
annotaient dans chaque rayon les villes et les pays qu'il parcourait et
touchait, afinque les fideles des villes et pays de chaque rayon
purent se tourner en priant vers Eaaba (voyez note 50 du
chap. 18 de la geogr. du moyen äge)'.
Phil.-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 5
60 \Vll,IlKI,M llKlMtlfll h'osciiK.u: |7'*>-
crhört werden (Kuth n\ Din h. VVi'sTKNFKLD ii. n. O. ]i. 442, 6;
vill. Wensinck ii. a. (). S. 25).
Wie (las lleilii,diim /ti .lenisalcm und Gnrizim (Sichern),
so soll am-h die Ka'aba intol«re ihrer Höchatlage iiiclit von
der SintMut betrofron wonlcii sein (Wensinck S. 15).
Soiiar die Lehre von der Fräexisten/, des lleilifrtunis ist
von den muslimischen ThiMilogen auf Mekka un<l die Kaa'ba
übertragen wordtm. 80 behauptete Azrai;.i (a. a. 0. S. i, 6a;
vtrl. Ku'.b al-Din") nach Wkxsinck S. iH: '40 .lalirc bevor
.VUah die Hinuuel und die Erde schuf, war die Ka'aba ein
trockener Ort, der auf den Wassern schwamm, und von ihm
aus wurde die Welt auscrebreitet'. Das ist eine deutliche
Übertragung der jüdischen Vorstellungen von der Präexistenz
des Steins Schetija 'des Nabelsteins der Welt und der Erde'
im Heiligtum zu Jerusalem auf Mekka und die dortige Kaa'ba
(vgl. Neue Omphalosstudien S. 16 u. ol)en S. 17).
Schließlich sind auch die Legenden von Adam und
Abraham^"^) nach Mekka verlegt worden. Nach Khami
(Dyärbekn's Ta'rlkh al-Khamis, Kairo 1283) I, 46 hat die Er-
schaffung Adams in der Gegend von Mekka stattgefunden
(Wensinck S. 21), wie denn auch behauptet wnirde (a.a.O.):
'The origin of Muhammed's substance (tina) is in the
navel of the earth, in Mekka', and 'the origin of the clay
of the apostle of Allah is from the navel of the earth in
Mekka' (Haiabi (Sira, Kairo 1292) I, 197, 2). Ebenso sollte
Adam in der Nähe von Mekka auf dem Berge Abukais begraben
sein (d'Hekbelot, Bibl. Orient. I, 94 f., wo noch mehr zu
tinden ist).^°^) Vgl. Gesenius in Ersch u. Grubers Enc. I,
S. 362.
102) d'Herbelot, Bibl. Orient. I, 94: Tour lors Dieu ayant egard
ä la penitence d'Adam, fit descendre du ciel . . . ime espece de taber-
nacle ou pavillon [man denke an die Stiftshütte ! |, qui fut place au
lieu oü Abraham a depuis bäti le temple de la Mecque' . . .
Vgl. ebenda III, 261 (a. v. Scheith).
103) Über Mekka als Begräbnisort Muhammeds und anderer Pro-
pheten (Noah, Hüd, Sählih, Ismael) s. Wensinck S. 28.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 6i
Die Legende von Dschedda, nach der das daselbst be-
findliche Grab Evas der 'Nabel der Welt' sein soll (Neue
Omphalosstudien S. ijf.) hat nach Wensinck (a. a. 0. S. 36)
nur lokale Bedeutung, da sonst den Muslimen allgemein
Mekka dafür gilt.^**^) Es dürfte sich aber gleichwohl lohnen,
dem Ursprung dieser lokalen Sage nachzugehen. Undenkbar
wäre es nicht, daß hier eine altsemitische, vorislamische Über-
lieferung vorliegt, die mit der oben (S. 8 ff. A. 13) besprochenen
von Bagdad (= Babylon) als Zentrum der Erde parallel läuft.
Es hat offenbar auf altsemitischem Gebiete zahlreiche reli-
gionsgeschichtlich und politisch bedeutsame Orte gegeben,
die sich rühmen durften, Nabel der Erde und Stätte der Er-
schaffung des ersten Menschenpaares zu sein.
V. Der Omplialos von Athen und Eleusis.^"^)
Bereits früher (s. Omphalos S. 33 und Neue Omphalos-
studien S. 2 2 f.) habe ich auf einige Zeugnisse hingewiesen,
die beweisen, wie kräftig der Omphalosgedanke auch in Attika
und Athen mindestens seit dem Ende des 6. Jahrhunderts
i
104) Vgl. d'Herbelot a. a. 0. S. 94: 'Adam fiit conduit . . . par
le meme ange [Gabriel] ä la montagne d' Arafat, montagne qni a
re9u ce nom a cause qu' Adam et Eve s'y reconuurent tous deux apres un
exil, et une Separation de plus de deux cens ans'. 'Eve tomba a
Gidda [nach dem Sündenfall], port de la mer rouge assez pres de la
Mecque, Adam sur la montagne de Serandib, c'est l'isle de Zeilen,
que les Portugals [wahrscheinlich nach arabischer Sage] appellent Pico
de Adam' (s. oben S. 5 S.). Vgl. auch d'Herbelot III, 26 (s. v. Scheith).
105) Ich benutze diese Gelegenheit, um zu der überaus schwer
verderbten (von mir Omphalos 66, N. Ompbalosstud. 46 besprochenen)
Stelle desVarro de 1. 1. 7, 17 eine mir nach langen Erwägungen immer
wahrscheinlicher gewordene Verbesserung vorzutragen. Ich vermute,
daß statt:
Delphis in aede ad latus est quiddam ut thesauri specie, quod
Graeci vocant o^Kpalöv zu lesen ist:
Delphis in aed<isN ad<(yto> est quiddam . . .
Denn daß der eigentliche Omphalos im Adyton, in unmittelbarer Nähe
des xccöficc {(it6\Liov) und des Dreifußes, gestanden hat, kann nach allen
monumentalen und literarischen Zeugnissen für gewiß gelten.
5*
02 Wii,UKi,M llr.iNiiUMi Kü.schkk: [70,-
entwickelt war. Dt'iiii schon Pincl.ir (fr. 45 Boeckh = 53 Bergk)
redet iu einem schönen Ditlivrambusfragment von einem
ccözfog dfKpciXbs i^vc^fitr, worunter der von den Peisistratiden
jjjostiftote Zwölfgötteraltar zu verstehen ist, der ziigloich als
ndigiöser Mittelpunkt und Asyl, vor allem aber als Zeutral-
meilenstein für das gesamte Straßennetz Athens und Attikas
diente. Und aus dem Panathenaikus des Aristeides (99) geht
deutlich hervor, daß mau wenigstens zu dessen Zeit Athen
als Zentrum {6^iq)aX6g) der Welt und die Akropolis wieder
als Zentrum der Stadt aufgefaßt hat. Es heißt dort: rj d'
uvT)) d^s'öii: T)-;«; TS x^'^Q^S ^v t/J 'ElXädi xal t^j ndlsag iv
Tj- x^Q^h ^^^V y^'^Q f^ l^^'^ll ^^i'tcii . . . Tqltt] de ax6Xov&og
TovTCOv avixsi^ %fQt(pav))g uva 8ia ueOy^g Trjs ÄoAfCjg, i]
TidXccL ^ev ;roAtcr, vvv de anQÖnoXLg^ xoQv^jj TtaQajiXrjöCcog . . .
'HGtcsq yciQ E7t aOTtCdog xv'/tXcov elg aXXijXovg s^ßeßXrixötcov
Tre^nrog elg 6[i(paXbv ttXyiqol dtä ^idvxcov 6 xdlXiöxog^ eCitSQ
T] [lev 'EXXäg ev [leGa ri^g Ttdöiqg yfjg^ 7; d' ^Atnxij Tilg
'EXXddog^ r^g de x^Q^S V ^oXig^ tilg d' av TtoXeag 1^
bud)vvuog [= 1^ dxQÖTCoXig^. Daß aber der hier von Ari-
steides ausgesprochene Gedanke sehr viel älter ist, erhellt
deutlichst aus Kap. i der Schrift des Xenophon de vectigali-
bus (i, 6), worin er das günstige Klima, die Fruchtbarkeit
und den Silberreichtum Attikas preist. Er sagt geradezu:
Ovz av dXöyag de ng oirjd-eC)] Tfjg 'EXXddog xal Tcdöt^g d^
tilg oiüov^evrjg^^^) dacpl tu [leaa axiöd-ai trjv tcöXiv.
106) Vgl. dazu Paetsch, Die Grenzen d. Menschheit l: D. antike
Oikumene = Ber. d. Sachs. Ges. d.Wiss. 1916, II S. 5 (Philol.-histor. KL). —
So wild auch anderwärts Athen als 'umbilicus Graeciae' bezeichnet,
z. B. von dem Istrier Aethicus in seiner Kosmographie (ed. Wuttkk,
Kap. 79, p. 59): ''Ubi [in Graecia] est urbs inclitissima eorum Athenas,
quam philosophus [= Aethicus?] umbelicum Graeciae praedixit,
pingua[!] illicibus et ornata munilibus, erudita litteris, lege et scientia,
decorata ludis, foro et vectigalibus . . .' Derselbe Aethicus nennt übri-
gens p. 81, Kap. 108 Hierusalem meduUa et umbelicus; femer
Kap. 109: Aegyptus = medulla terrarum aliarum, Kap. 107, p. 80:
Assyria oder Ninive umbelicum ac medullam [= meditullium ?] und
p. 65, Kap. 84 den Olympus umbo [= umbilicas?] praecellens, regio-
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 63
o6(p yäQ av tivsg nlslov cini%io<5iv avxflg, toGovta yals'KCxi-
TSQOLg 7] \1;v%£Glv 1] %-dX%E<3iv Bvrvyxdvovaiv ojtööot x av uv
ßovhi&äöiv cc7t h6%dtcov xf^g 'ElXddog fV eöxaxa cicpLXEö&ai,
ijtävxsg ovxoL co671£Q xvxXov xögpov^*^') xug 'Jd'r'jvag rj
%aQtt7i)Jov6Lv i] TCaQEQiovtai . . .^°^)
Aber so deutlich auch an den beiden soeben angeführten
Stellen die zentrale Lage Athens und Attikas innerhalb
der Oikumene ausgesprocheu ist, es fehlten doch bisher lite-
rarische und monumentale Zeugnisse dafür, daß man wie in
Delphi, Branchidai, Delos usw. diese zentrale Lage durch das
unverkennbare Symbol eines richtigen 'Omphalos' ausgedrückt
hätte. Denn daß der von Pindar gefeierte ixöxsog o^cpaXbg
Q-vösig schwerlich Omphalosform gehabt hat, dürfte schon
aus seiner Bedeutung als Zwölfgötter- Altar hervorgehen, zu
dem sich ein oben konvex zulaufendes Monument wenig oder
gar nicht eignen möchte. ^°^) Um so erfreulicher ist es jetzt
für uns, nunmehr auch ein paar unzweifelhafte monumentale
Belege dafür beibringen zu können, daß die zentrale Lage
Attikas geradezu durch das Svmbol eines richtigen oju.-
(paXög von typischer Form ausgesprochen worden ist,
und zwar in zwei schönen Pinakes und drei Vasenbildern, die
sich auf Athen-Eleusis und dessen Mysterienkult beziehen.
nis med Ulla. Ist hier vielleicht inedulla so viel als medituUium ?
Vgl. Giraldus Cambrensis, Topogr. Hiberniae III, 4 S. 144 ed. Dimock:
qui lapis et umbilicuB Hiberniae dicitur, quasi in medio, et medi-
tullio terrae positus. (N. Omphalosstud. 25f.).
107) Vgl. dazu Herodots Bemerkung über die Weltkarten seiner
Zeit (4,36): ysX& Sh oqbwv yr]? TtsQioSovg ygccipavTcce TtoXlovg Tj'drj . . .
ol 'Sl%sa.v6v T£ QSovTd yQcccpovGi TtiQi^ TT/V y^f, iovßav KVnXorsQ^a mg
&710 TOQVOV V.. X. A.
108) Wenn ich nicht irre (s. Anna. 107), so setzen obige Worte
Xenophons eine vom athenischen Standpunkte aus gezeichnete Welt-
karte voraus, deren Mittelpunkt (öffqpaidg) Athen war. Bei dem
großen Umfang des athenischen Seehandels und Weltverkehrs dürfte
diese Weltkarte in zahlreichen Exemplaren vorhanden und in den Kreisen
der athenischen Seeleute stark verbreitet gewesen sein.
109) Vgl. Ed. Schmidt im Text zu den Denkmälern griech. u. röm.
Skulptur von Brunn-Bruckmann zu Taf. 660, Anm. 42.
64
WiMiKi.M Hkimiuh Rosciikk:
[70,2
Von all i'rgr(")ßt Olli Intercsso für unser TroMoiu ist der im
.1. i8g5 imTclosterion vonEleusis iius^'ograbono sogenannte
Ninnion-Pinax (s. Fig. 1), offtMilmr die Votivgabe 'an die beiden
Göttinnen' j V7.V.\/O.V TOIN e)E()l\ ^Jvt^VtXfi'] einer Ker-
uophorosTänzerin zur
Erinnerung und zum
Dank für ihre Ein-
weihung in die eleu-
sinisclien Mysterien,
zum ersten Male ver-
öffentlicht und aus-
führlich besprochen
von Skias in der
'Eq)i]aeQlg ^jQ^atok.
I go I S. I ff. (vgl. Ttl-
va^ i), sodann von
SvoRONOS in seiner
Revue Internat. d'Ar-
cheologie et Numis-
matique igoi pl. I,
S. 170 ff u. zii^.'^'^}
und bald darauf, in
der Hauptsache Svo-
RONOS zustimmend,
von Miß J. Hakrison
in ihren Prolegomena to the Study of Greek Religion. Cam-
bridge 1903, S. 558ff. — Miß H.'s Erklärung lautet:
'The Ninnion piuax, though details in its Interpretation remain
obscure is clear on this one point — the influence of Delphi [?] on the
Mysteries. . . . The inscription at the base teils us that it was dedi-
cated by a woman 'Ninnion' to the 'Two Goddesses'. The main field
of the pinax is occupied by two scenes, occupying the upper and Iower
halves, and divided, according to the familiär Convention of the vase-
I IG) Hier ist auch S. lyofF. eine dankenswerte kritische Übersicht
über die vorausgehenden Besprechungen und Erklärungen des Ninnion-
pinax (von Kern, Winter, H. v. Fkitze, Rcbensohn [Ath. Mittheil. 1898
(XXIII), p. 271—306], Skias, Dragumis) gegeben.
Fig. 1: i'iuax der Niunion (nach Habrison, I'rolego-
mena to tue Study of Grcek Eeligion, Cambridge
1903, s. 559. rig. 160).
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 65
painter, into two parts by au irregulär white line, indicating the
gronnd on which the figures in the upper part stand. In each of these
two parts some of the figures, distinguished by their larger size, are
■divine, e. g. ^h.e seated goddesses to the right; others, of smaller sta-
ture, are human. Among the human figures in both the upper and
lower row one is marked out by the fact that she carries on her head
a KSQvog (see p. 159). She is a dancing KEQvocpögos (Poll. on. 4, 103).
She ia the principal tigure among the worshippers, and she can scar-
cely be other thau Ninuion, who dedicated the pinax. In a word,
Ninnion in her votive offering, dedicates the representation of one,
and certainly an important, element in her own initiation, her xsq-
ro^poQia.
Of this initiation why does she give a twofold representation?
The answer, once suggested, is simple and convincing. Each and every
candidate was twice initiated, once in the spring, at Agrae, in the
Lesser Mysteries. The scene in the lower half is the initiation at Agrae,
that in the upper half the initiation at Eleusis. It is the scene in the
lower half that especially concerns us.
The two seated goddesses to the right are clearly the 'Two God-
desses' and the lower one is, it is equally evident, the younger. Köre.
She is seated in somewhat curious fashion on the ground; near her
ia an empty throne . . . Demeter, who should be seated on it, who
in the upper tier in seated on a throne precisely identical, is ab-
sent . . ,
The explanation is again as simple as illuminating. The lower
tier represents the initiation of Ninnion into the Lesser Mysteries at
Agrae. These were sacred to Persephone, not Demeter (Schol. Ar.
Plut. 845) . . . To these statements Stephau of Byz. (s. v. '^yQ'^) adds
an important fact: "AyQu xai ÄyQcci ^(agiov ngb r?]? TcölBoag, iv (o ta
lUXQU ftverrjoia ijtLtsXsitai fil^rnia x&v tibqI tov ziiövvaov.
With these facts in our minds we are able to Interpret the lower
row of figures. Köre alone receives the mystic Ninnion, and
Dionysos himself acts as Dadouchos. That the figure holding
he torches is a god is clear from his greater stature, and, if a god,
he can be none other than Dionysos, who, as lacchos, led the mystics
in their dance . . . Below it are depicted two of the bundles of myrtle
twigs, which are frequently the emblems of initiation, and which bore
the name of 'Bakchoi' (Schol. Ar. Eq. 409).
This Interpretation is confirmed when we tum to the upper tier.
'Ninnion', having been initiated by Dionysos into the mysteries at
Agrae, which he shaved with Köre, now comes for the Greater Myste-,
ries to Eleusis. Köre herseif brings her mystic, and leads her into the
presence of Demeter enthxoned. The scene is the telesterion of Eleusis
66 Wilhelm Hkiniuch Rosouku: (70.2
markod by two oolumns, which, bo it notcd, exteml ouly ball-way
down the piuax. In the Lesser Mysteriös, a later foundation, Dionysos
ehaves the bonours witb Ivore; in the (ireator and earlicr (0 the end
he is only a visitant'.
Ich habe die vorstehend mitgctoilto scharfsinnige Er-
klärung des interessanten IMnax von Svoronos und J. IIak-
Kisox nur so weit ausgeschrieben als ich mit ihr einver-
standen bin, muß aber jetzt gegen deren Deutung des so
deutlich in der Mitte der unteren Hälfte des liildes sichtbaren
Ümphalos**') entschiedenen Eiiis})ruch erheben.
SvORONOS will ihn, otfeubar weil er nicht l)egreifen kann,
wie der delphische Nabelstein in die eleusinische Szene
gekommen ist, für die nixQCf. äysXaörog erklären, auf der
Demeter sich, in Schmerz versunken, zuerst niedergelassen
habe, bis die Töchter des Keleos kamen, um Wasser zu
schöpfen, und die Göttin sich durch die Possen der Jambe
(Baubo) wieder erheitern und zum Genuß von Speise und
Trank bewegen ließ (Preller-Robert I, 78g, i). Diese von
Miß Harrison gewiß mit RecBt verworfene Deutung (s. S. 561
A. i) scheitert schon an der Erwägung, daß die ■n.ixqa ayi-
Xaörog sonst nirgends monumental bezeugt ist und schwerlich
Omphalosgestalt hatte ^^^); es kommt noch hinzu der Umstand,
daß der gleiche auf den eleusinischen Kult der Demeter und
Persephone zu beziehende 'Omphalos' noch auf vier weiteren
alsbald zu besprechenden Bildwerken vorkommt, wo ebenfalls
die Deutung als nixQa äysXaörog ganz unwahrscheinlich ist
und gesucht erscheint.
Wir müssen daher ohne Frage Miß Harrison beistim-
men, wenn sie den fraglichen Gegenstand seiner Form nach
für einen unzweifelhaften Omphalos hält^^^), können ihr aber
iii) Ganz sicher ist es freilich nicht, daß, wie Miß H. meint, der
Omphalos ausschließlich der unteren Hälfte des Bildes angehöre. Er
kann meines Erachtens auch recht wohl zur oberen Hälfte oder zu
beiden Reihen gezogen werden.
112) Sie könnte natürlich nur durch die auf ihr sitzende trau-
ernde Demeter charakterisiert werden.
113) Ebenso wie Miß H. haben auch alle übrigen Gelehrten (s.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 67
nicht Recht geben, wenn sie ihn ohne Bedenken mit dem
delphischen, d.h. apollinischen Omphalos identifiziert mit
der Begründung: '^Dionysos has come from Delphi and
brought his great white omphalos, his Delphic grave
with him' (a.a.O. S. 561 oben). Es hängt diese eigentüm-
liche Deutuncf Miß Harrisons mit ihrer schon vor Jahren
ausgesprochenen unhaltbaren Ansicht zusammen, daß der del-
phische Nabelstein ursprünglich kein Symbol der Erdmitte,
sondern vielmehr ein Grabdenkmal gewesen sei, unter dem
der Pythondrache bestattet war. Da ich diese Auffassung
bereits früher (Omphalos S. ii6ff.) ausführlich widerlegt zu
haben glaube, so kann ich hier auf eine nochmalige Dar-
legung meiner Gründe verzichten; nur sei hier noch auf ein
neues, mir erst jetzt zum Bewußtsein gekommenes Argument
hingewiesen, nämlich das sehr alte Attribut der beiden den
delphischen Omphalos rechts und links flankierenden Zeus-
adler und deren Legende (s. Omphalos S. 55, Anm. 103),
die deutlicher als alle anderen Zeugnisse und Merkmale den
Omphalos von Delphi als Erdnabel charakterisieren und mit
Miß Harrisons Erklärung kaum vereinbar sind. Während
aber früher Miß H. den Omphalos von Delphi lediglich auf
Grund späterer und unmaßgeblicher Zeugnisse als Grab des
Python deutete, will sie ihn jetzt unter Verweisung auf noch
viel spätere und unzuverlässigere Gewährsmänner als Grab
des Dionysos [!] aufgefaßt wissen, das dieser bei seiner Wan-
derung von Delphi nach Eleusis dorthin mitgebracht habe
(a. a. 0. S. 558 ob. 'Dion. brought his great white omphalos,
his Delphic grave, with him'); ich glaube, diese Erklärung ist
so abenteuerlich und unwahrscheinlich, daß sie einer aus-
führlichen Widerlegung nicht bedarf, zumal da eine andere
Deutung des bekannten Symbols hier überaus naheliegt.
Ehe ich aber zu dieser übergehe, seien hier noch kurz
die vier anderen Bildwerke besprochen, die ebenfalls den ver-
ob. A. iio), die sich über den Pinax der Ninnion geäußert haben, mit
einziger Ausnahme von Svoronos hier an einen Omphalos gedacht.
68
\\ II. 111.1, M IIkiniucii Kosciiku:
[70,2
nieiutliclieu „delphischen" Omphalos im Kreise elcusinischer
Gottheiten zeigen.
Hier kommt vor allem eine schöne polychrome Vase in
Betracht (Fig. 2), die im Jahre 1883 zu Sta Maria di Capua ge-
funden und zuerst von Fröhner in seiner CollectionTvszkiewicz
•Pliinche IX u. X abgebildet, sowie in dem dazu gehörigen
Texte besprochen Avorden ist.^^^) Fköhner sagt darüber:
'Demeter . . . assise sur unc pierre [besser Hauk.: nitting on an
altar-like throne] . . . sa tete se retourne en arriere vors Pcrsephone
qui desceud d'une coUine, tenant dans chaque main uu long flambeau
dore . . . la figure assise, devant Persephone, sur roinphale de Del-
phe8[??] . . . tient ä sa main gauche un thyrse, orne d'uno teuie
-et d'un pommeau dore, ses cheveux . . . sont ceints de lierre en
fleur, dore egalement et un peau de daim . . . lui couvre la poitrine.
Je crois ces indices suffisants pour reconnaitre dans ce personage
Dionysos jeune. Demere lui . . . une jeune fiUe drap^e et paree de
bijoux ... son geste semble indiquer qu'elle danse. '") Enfin deux
114) Später auch von Miß J. Harrison a.a.O. S. 557 f. u. Fig. 159
und von Svokonos (a. a. 0. S. 45° ff-, dazu nivc^ 1/, B), der auch die
übrigen Besprechungen und Veröffentlichungen des Bildes kritisch ge-
würdigt hat.
115) Also eine Parallele zu der xtQvocpÖQog auf dem Pinax der
Ninnionl
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 69
figures, placees devant la deesse assise, completant le tableau: un jeune
homme, peut-etre Triptoleme, appuye snr uu sceptre d'or . . . puis
assise sur la colline, une joueuse de tanibourin, dont riustrument, sur
son disque externe, est orne d'une couroane de feuilles peintes . . . Le
sujet se rapporte . . . aux mysteres eleusiniens. Mais . . . ici c'est
la preseuce de Dionysos sur romphalos delpliique[?], qui nous
gene, car Eleusis n'est pas en Phocidc' . . .
Während aber Fröhner mit Recht an dem 'delphi-
schen Omplmlos' dieser eleusinischen Szene Anstoß nimmt,
ist Miß Harrison auch hier schnell fertig mit ihrer Er-
klärung: "^He [Dionysos] is seated on the omphalos. To the
ancient miud no symbolism could speak morc clearly; Dio-
nysos is accepted at Eleusis, he has come from Delphi and
brought his omphalos [= his grave S. 561] with liim[!].
We are apt to regard the omphalos as esclusively the pro-
perty of Apollo, and it comes as somethiug of a shock to
See Dionysos seated quietly upon it'. Zur Erklärung beruft
sich Miß H. auf das bekannte späte und höchst unzuverlässige
Zeugnis Tatians c. Gr. 8, 251: ev reo te^evcl tov Jlrjtotdov
xaleltaC xig 6^q}aX6s^ 6 dl bpixpalog räfpog rov zftovvöov
und auf Pliilochoros fr. 22: "Eötiv idslv rr)v racpijv avtov
[tov z/ior.] iv zlalcpolg tcccqcc rbv !d7i6Xlcova rbv iqvöovv.
Bdd-Qov da n slvai vjcovosXxai 1) öogög^ iv o5 ygci^sTaf 'Evd^ccös
xstrat d-civcov ^di6vv6og 6 ix Ue^shjg^ obwohl bei Lichte be-
sehen durch diese Worte des Philochoros allein schon das
Zeugnis Tatians endgültig widerlegt wird.^^®)
Nur zögernd und mit gebührender Reserve wage ich hier
an dritter Stelle noch ein zweites Vasenbild anzuführen
(Fig. 3), das ebenfalls eine der beiden eleusinischen Göttin-
nen vor einem omphalosartigen Objekt thronend zeigt. Ich
meine den boiotischen Teller des Nationalrauseums in Athen
(Nr. 484), den zum ersten Male S. Wide^^^) in seinem lehr-
116) Vgl. auch die übrigen hierhergehörigen Varianten vom Om-
phalos oder Dreifuß (!) als dem Grabe des Python, des Dionysos, ja des
ApoUou selbst in meinem Omphalos S. 122, Anm. 219.
117) Nach Wide hat auch J. Haruison a.a.O. S.-274f. das Vasen-
bild kurz besprochen und unter Nr. ^7 abbilden lassen. Auch sie
70
WiLHKLM HkINUU'U RoBiiuoit:
|70, 2
reichen Artikel über 'Kiiie lukiilo Gattung hoiotisclu'r Ge-
tliße' (Athen. Mittoil. XXVI [igoij S. 150) besjirochcn und
ebenda auf Tat'. \'lll abgebildet hat. Die Erklärung WiDics
lautet:
'Kultbikl aus der Mitte des 5. .Tahrh , darstellend Demeter oder
IVreeplione . . . Die Attribute, Fatkel, Mohn"") und Ähren, werden
auf den Denkmälern wio in der Literatur beiden Göttinnen häufig bei-
gegeben. Es ist eine chtiioniHcho
üöttin . . . Über dem Chiton trägt
die Göttin einen Peplos, den
Peplos eines Kultbilds, der von
Zeit zu Zeit neu angelegt wurde.
Über die Achseln ist ein eigen-
tümliches Gewand (Schleiertuch)
geworfen. Vor der Göttin steht
ein oblonger, rundlicher
Gegenstand, der schwer zu
bestimmen ist. Mau schwankt
zunächst, ob dieser Gegenstand
ein Pithos oder ein Altar ist.
Für die Annahme eines Pithos
würde sich eine Erklärung dar-
bieten mit Rücksicht auf Miü
Harrisons Auseinandersetzungen
über die Anthesterien (Journ. of Hell. Stud. 1900 S.QQff.). Indessen bin ich
schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß es doch ein Altar ist. Eigen-
tümlich ist dabei die Form, die einemTymbos am meisten ähnelt. Es sieht
80 aus, als wäre der Altar aus Erde, ein yi/g ;^w(ia wie nach Paus. 8, 38, 7
der Altar des Zeus Lykaios war, oder eine ara graminea, caespiticia,
wie die Römer sie nannten. Durch die Untersuchungen von Reisch
und Thierscii (R. bei Pauly-Wissowa I, 16650". Tu., Tyrrhen. Am-
phoren 131, Taf. I) wissen wir, daß es in Griechenland Altäre gab, die
einem Grabhügel — ri'iißos — ähnlich waren . . . Wenn auf unserem
boiotischen Vasenbilde ßa^og und rv^ßog identisch sind, so ist da»
nicht weiter auffällig;' denn hier ist ja die Totengöttin dargestellt und
für diese paßt eine Altarform, die an ein Grab erinnert, und paßt auch
die auf dem Altar liegende Granate[?], die den chtbonischen Gott-
Fig. 3: Boiotiacher Teller des Nat.-Mus. in
Athen (nach Harrison a. a. O. S. 275, Fig. 67).
wagt nicht zu entscheiden, ob die dargestellte Göttin Demeter oder
Köre ist.
118) J. Habrison a. a. 0. S. 274 macht aus den beiden Mohnsten-
geln in der linken Hand sonderbarerweise 'a pomegranate'!
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkerx. 7 1
heiten heilige Frucht'. Deu hinter der Göttin schwebenden Vogel, dessen
Gattung sich nicht sicher bestimmen läßt, deutet Wide als 'Seelenvogel',
als einen 'Boten der unterirdischen Göttin' (S. 155 f.).
Miß Harrison a.a.O. S. 274 erklärt dagegen den frag-
liclien Gegenstand für einen 'omphalos-like altar, on ifc
what looks like a pomegranate', schließt sich aber sonst an
WiDEs Erklärung an.
Wie mir scheint, hat Miß H. insofern richtig gesehen
als sie tatsächlich die Form des vermeintlichen 'Altars' mit
der eines Omphalos vergleicht, ja sie würde wohl kein Be-
denken getragen haben, hier einen unzweifelhaften Omphalos
anzunehmen, wenn ihr, als sie die boiotische Schale besprach,
die beiden von ihr erst a.a.O. S. 55 7 ff. behandelten Bild-
werke gegenwärtig gewesen wären, die uns einen richtigen
Omphalos im Kult der eleusinischen Göttinnen vorführen,
und im Verein mit den oben besprochenen Zeugnissen des
Xenophon und Aristeides beweisen, daß man tatsächlich Athen
und Eleusis als Mittelpunkt {ö[i(paXög) der bewohnten Erde
angesehen hat. So viel ich sehe, gibt es bis jetzt nur ein
einziges Bedenken, das uns zur Zeit noch hindert, ohne wei-
teres der Deutung des omphalosgleichen Gegenstandes vor
der thronenden Göttin als eines richtigen Nabelsteins bei-
zutreten: ich meine die angebliche Granate, welche die Be-
krönung des 'Omphalos' auf unserem Teller bildet. Freilich
würde diese Frucht auch bei der Annahme eines 'Altars' in
diesem Falle recht bedenklich sein, weil der Altar nach oben
sich so spitz zuwölbt, daß die darauf (als Opfergabe oder
Attribut der Göttin??) gelegte Granate ohne besondere Be-
festigung von der spitzen Wölbung sofort heruntergleiten oder
herabfallen müßte. Auch vermissen wir bis jetzt ausdrückliche
Zeugnisse dafür, daß man im Kult der eleusinischen Göt-
tinnen Granatäpfel auf so konvex zulaufenden Altären ge-
opfert hätte.
Gar keinem Zweifel kann dagegen der Omphalos auf einem
schönen, in Kreta gefundenen, aber sicher attischen Ursprung
verratenden Vasenbilde (Fig. 4) unterworfen sein, das jetzt
\\llMl.I.M Ul.lNKHH HoSt'HKK
l7", »
Fig. 4 : Attisohes Vasenbild aus Kreta im Zciitralmusouni zu Athen (nach Journal
Internat. d"ArcWologie Nniiiiatnntiqno 1901, Taful /?').
im atlienischeu Zenlralniuscuin unter Nr. 1442 aufbewahrt wird
und von Svoronos a. a. 0. S. 457 (vgl. :tti'K^ ig') erläutert und
veröffentlicht worden ist. '*'')
Daß es sich auch hier um die eleusinischen Mysterien
handelt, geht schon aus dem von Svokonos mit Recht her-
vorgehobenen Umstände hervor, daß hier nicht weniger als
5 von den auf dem Gefäße von Capua dargestellten Per-
sonen wiederkehren, nämlich Demeter, Köre, Dionysos, 'Mu-
saios'(?) und Tnyx'(?). Außerdem nimmt Svoronos noch
'Aphrodite' (Nr. 6 = Nixr] aTtvfQos) und Thaidra' (Nr. 7) als
anwesend an.
Indem ich eine gründliche Kritik der von SvORONOS mit
gewohnter Gelehrsamkeit und großem Scharfsinn gegebenen
Einzelerklärung des ebenso schönen wie interessanten Bildes
andern überlassen muß, kommt es mir jetzt nur darauf an^
auch hier wieder auf die bedeutsame Rolle hinzuweisen, die
offenbar der Omphalos in dem athenischen Kulte der Eleu-
sinien gespielt haben muß. SvOROXOS' Erklärung lautet
(S. 458 f.): JJqo tov Movöalov y.cd rijg JJvvxbg vvu(prig xä-
d^riTUL ixl xov ßcouov rov ^EXtvßLvlov i] zfrj^ijty^Q xal ä:t'
uvxi]g dvaycoQovöa xarsQysrai ^tQog rbv ^lövvöov Tof' iv
119) Unter dem Titel: Tö ^ivgt-^qiov t^s 12. 'Av9s6Ti]Qi(iivos' kcpqo-
SiTTj ii anTSQog Nikt].
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 73
Alfivaig /tiovvGiov i] Kögr]^ ccjiKQaXXdy.tcog 03$ snl rfjg vÖQiag
x%g KaTtvrjg. 'H ^ovi] diacpoQcc sivao ürt 6 /l lovvöog dev
xdd-rjtai a^iöcog STtl rov ö^q)aXov aAA' öXtyov viljr}-
XörsQOi'^ 7tooq)avG)s S7tl rov civa rov TS^s'vovg avzov vijj(b-
(latog. Diese Tatsache scheint mir zu beweisen, daß der Om-
phalos auch hier ebenso wie auf den übrigen von mir be-
sprochenen Bildwerken, mit einziger Ausnahme der Vase von
Capua, genau genommen nicht speziell zu Dionysos, sondern
zur ganzen Szene gehört und wie sonst das Lokal bezeichnen
soll, wo diese Szene sich abspielt.
An letzter Stelle gedenke ich noch in diesem Zusammen-
hange des schönen, leider stark beschädigten, aber doch in der
Hauptsache verständlichen Bruchstücks eines zweiten, eben-
falls im Räume des eleusinischen Telesterions zusammen
mit der Votivgabe derNinnion aufgefundenen Pinax (Fig. 5), das
Skias auf Tafel 2 der 'Ecpr^^sglg l4QyaioX. 1901 in trefflicher
Wiedergabe veröffentlicht und ebenda S. 39 ff. erläutert hat.
Seine für uns allein in Betracht kommende Erklärung lautet:
'H TCagciöraöig tov dsvzEQOv . . . nCvaxog sivs noXv ^läXXov
rov XQarov svdiayvcoöroraQa ag dviJAovöcc rip sXsvCiviaxai
xvxXg)^ ötÖTi 7caQcc6t(K6£ig zfijaVjTQog xa9-t]asvrjg xal KoQrjg
lötaasvrjg xal XQatov(3y]g dadag tivai övyvai^ i7ti6r]g d' bvÖlk-
yvaörog xainEQ xo TcXetötov eXXiTttjg eivs 17 iioQ(pi] tov Tqltc-
ToXe^ov xatä xo ngog ösi^Lccv ccxqov xov Jiivaxog. Toiovxov
XLvaxog £vaQu66xaxov xÖGiir^aa sivs 6 JtoXvxaQTtog d'aXXbg
fivQxov iv xfi vTtoxdxco xaivia. Tb xsvxgov xijg naQaöxdßecog
dnoxsXovöt xQstg uoQ(pca^ -i] fV tc5 ^iöca xa&i^^svr] zJrjiii]Tr]Q.
^ ^£^l6^^sv avxflg iöxcc^Levt] Kögr] xQuxovöa dvo dßdag, (br
uövov xä xdxco axQC. disadod-fjöav^ xal rj aQiöxsQod'ev x^g
zJiJiiTjXQog dvÖQLxi] yLOQCp-q^ rjg öiSGibd^rjöav fiovov oi Jtöösg
vt{frjXcc VTtodij^axa (ßvögoiiCdag) cpeQovxeg^ £| cov svxoXcog dva-
yvc3QLt,£xui 1] iioQcpi] xov 'Idxxov^ TiEQi fjg diä fiaxQüv ÖuXd-
ßoasv h> rotg tcsqI xov tcqioxov nCvaxog. ^41 XQSlg avxat
liOQ(pal xaxd xov avxbv tieqCtcov XQOitov TtaQiöxavxat ev xe-
u,a%icp dvaylixpov ExÖEdouEvo) vTtb Kern bv Mittheil. Athen.
XVII 6eX. 1 2 7 fig. 2 , nEQl oh iyivExo Xoyog xal dvcoxEQO}
74
\\ ii.iii.i.M IIkinhich KoaciiKu:
[70,2
(öeX. 32 vnoör^ii. 2). 'Ü imrpakhg dr]kol ti)v iv 'KkfxxStvi
fÖQccv Tov 7rc(}'((Qxc(Cor< ;(;i>-oi'/'oj' d^eov^ öu vxoxuTeövtjöfv 6
KEPAMOrPAtIA EAEYIINIAKH
Fig. 5: VoÜTpinax aus dem oleusin. Telosterion (nach Skias, ^lupijfi. 'Ao/. 1901, Taf, 2).
120) Hier beliaiiptet Skias, daß der eleusinische Omplialos ur-
sprünglich von allen eleusinischen Gottheiten allein dem lakchos {=
Dionysos) zukomme, 'als dem im Lebes des delphiscrhen Dreifußes ge-
kochten und von Apollon auf dem Parnaß bestatteten Gotte', eine
Ansicht, die Svouonos a. a. 0. S. 175 und 238 gewiß mit Hecht be-
streitet. Dagegen kann ich diesem Gelehrten nicht beistimmen, wenn
er seiner Neigung, die einstige Existenz eines Omphalos im Kulte von
Eleusis zu leugnen und an dessen Stelle die ccyiXußrog nttQcc zu setzen,
allzu sehr nachgebend, in dem „Omphalos" dieses zweiten Pinax einen
ßcoyLog in ntTgag TtavccQxatos erkennen will, weil dessen avoj fisQog (uv
Ssv ccnazä T]iiäg ij mQaiu sly.6)V xfig 'Ag^ocioX. 'Eqpjju.) irtiTtsdov xal ßco-
}io£iöig, ij TOI opjua avrjY.overov Sc dficpalov sei. Ich glaube, daß
yo, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 75
rü Tj^istEQCo TCivaxi al ^eydkai &Ea\ xccte%ov6LV syyvrsQav
d'Söiv TtQog thv b^icpciXhv 1] b"Iax%og^ ölotc avtalg xat f|o-
Xrjv dv7jiC£L r] 'Elsvöig. Ich möchte auch hier annahmen, daß
(wie auch Rubensohn und Svoronos a. a. 0. S. 175 u. 237 f.
glauben) der Omphalos im Grunde nur zur Bezeichnung des
Lokals, wo die ganze Szene sich abspielt, diene. Dieses
Lokal aber muß, wie der in ihm errichtete Omphalos be-
weist, als Mittelpunkt der bewohnten Erde angesehen worden
sein. Eine andere Auffassung scheint kaum möglich oder
wahrscheinlich.
Ich zweifle nicht, daß man schon längst im Hinblick
auf die eben besprochenen fünf Bildwerke einen eleusinischen
oder attischen 6nq)aXbg yi^g anerkannt hätte, wenn man nicht
der festen Überzeugung gewesen wäre, daß es einen solchen
nur in Delphi gegeben habe, weil nur dieser Ort sich habe
rühmen dürfen, der Mittelpunkt der bewohnten Erde zu sein.
Daß diese Meinung falsch oder mindestens einseitig ist, glaube
ich schon früher dargetan zu haben, indem ich nachwies, daß
es innerhalb des von Griechen bewohnten Gebietes noch meh-
rere andere Orte außer Delphi gegeben hat, die den Anspruch
auf die Ehre erhoben, Mittelpunkt der Erde zu sein: z. B.
Paphos, Branchidai, Delos, Epidauros, und daß an allen diesen
Orten ein Omphalos oder omphalosähnliches Denkmal als
Symbol ihrer zentralen Lage erscheint. ^^^) Genau dasselbe
gilt aber auch, wie oben gezeigt worden ist, von Palästina
und Jerusalem, wo ebenfalls mehrei-e oft nahe beieinander
nicht leicht jemand, der die übrigen hier besprochenen Bildwerke in
Betracht zieht, in diesem Falle Svoronos beipflichten wird, und ver-
weise außerdem auf die unzweifelhaften, ebenfalls oben abgeplatteten
Omphaloi, deren Abbildungen ich Omphalos Taf. VI, Fig. 1 u. 4 (vgl.
Neue Omphalosstud. Taf. I, Fig. 2) gegeben habe.
121) Auch das bekannte Fragment des 'Epimenides' bei Plut. de
def. er. I Ovt8 yccQ TjV yccirjg ^^aog d(iq<c<Xbg oÜts d'ald6Gr,g \\ Ei Si Tig
ieri, Q-sotg Sfßog, Q-vriT0i6i S' acpavrog erklärt sich wohl am besten
aus der Tatsache, daß Epimenides außer Delphi noch andere Orte
kannte, die Anspruch darauf erhoben, Mittelpunkte der Erde zu sein (s.
Omphalos S. 5 5 f.).
PhU.-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 6
76 WiLiiKUM TIkinukmi Roschku: r?''' ^
pt'K'orcno l'unktf um die Ehre des ö^cpaXbg yf;^ koukiinii'ri,
habeu, z. B. .lenisalein, llelnon (V), Sidioni, (Jarizini, Botlicl
uud innorluiU) .lorusaloius dio Ber<(e (^lliigel) Ziou, Golgotlm,
Morija usw. (s. obeu Kap. II — IV).
Was uuu die Bedeutung des Omplmlos im elensinisclien
Kult /u Atlu'U uud Eleusis betrifft, so liegt es wohl am
nächsten, das Synibol der Erdniitte mit dem viellacli aus-
gesprocheiu'n (^edankeu zusammenzubringen, daß Atlieu, di(^
^ijTQOJtoXii; TtJi' y.uQzibv (Aristid. J, }). i<>B), auch das Zen-
trum gewesen sei, von dem aus Triptolemos auf dem ihm
von Demeter verliehenen Schlangenwagen den ganzen Erd-
kreis durchflogen habe, um überall die Segnungen des Acker-
baus und damit auch aller höheren Gesittung und Kultur zu
verbreiten. Niemand hat diesen Gedanken deutlicher und
schöner ausgesprochen als Isokrates in seinem Panegyrikos,
wenn er (§ 28) sagt: yJy'jaijTQog yäg acpixo^e'vrjg iig rr)v %wqkv
üT enXciVijd-r] Tilg K6Qi]g agzuöd^fCöijg xcd Tiobg tovg TtQoyövovg
^ix&v ev^sväg diaredsCörig sk xäv evsysQGiüv clg ov% oiöv x
aXloig 1] rotg ^u^ivrj^e'voig dKoxhn\ xal dovöy]g ÖcoQeäg ötTtag,
ai:i£Q [leyiörat rvyxdvovßtv ovGat^ rovg ts icaQTiovg. ot tov
ju») d-T]Qicodu)g ^f}v rjficig atriOL ysyövaöi^ aal tijv xslExy'iv^ iig
Ol ^{Tuöxövxsg %eQC xs xf]g- xov ßlov xsXevxiig aal xov 6v[i-
Tiavxog cclävog i]6Covg xäg iknlöag axovöiv^^^)^ ovxcoq t] nöh
rj^üv ov aövov d^£oq)iläg ccXXä xal qjLXavd-QcÖTtcog sö^tv^ iö6xe
xvgCa yavousvr) xoöovxcov äyad'äv ovx iq)d-6vr]ös xoig
äXXoig, ccXX' av sXaßsv aTiaöc asxadooxsv^'^^) Und wie
allgemein dieser Anspruch Athens, der Mittel- und Aus-
strahlungspunkt aller Zivilisation und Kultur gewesen zu
sein, anerkannt worden ist, ersehen wir deutlich aus Iso-
122) Man beachte hier den engen Zusammenhang, in den hier
die Segnungen des Ackerbaus mit den eleusinischen Weihen gesetzt
werden.
123) Vgl. Aristid. Eleusin. p. 416 Dind. : ysviaQ-aL ös tbv eltov
Tiagä xaiv &taiv rolg 'Ad-T}vaioig , nagä Sh rmv 'Ad-r]vai(ov xal "EXXrial
xaJ ßagßccQOig. — Arrian. Epict. diss. i, 4, 30: TQinxoXi\i(p iega Kai
ßafiovg TtdvTsg civd-gtOTtoi ävsazi^iiaaiv ort rag 7](iiQovg rgocpag Tj^iiv
^dojxf.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 77
krates' weiteren Bemerkungen (a. a. 0. § 31): ccl ^Iv yaQ TcXal-
ÖTCCL xäv 7i61eo3v vTCo^vTq^ia xfi^s TtaXaiäg svsQyeöLag cmaQX^^S
xov ßCxov xaxf sxaörov rbv ^viavtbv ag rj^äg cctiotis^tiovöl,
ratg d' ix^,£t:rov6cag jtoXldiag 1) Ilv&Ca TtQoöataisv änoffBQetv
tä ^£Qr] T&v xttQTTcbv xul :jtoL£iv TVQOs trjv itöliv trjv rjfisrsQav
xä %äxQia}^^^ Eine ganz äknliclie Anschauung haben wir
oben in der Omphaloslegende von Jerusalem kennen gelernt,
dessen Bedeutung als Nabel der Erde mehrfach auf den
Umstand zurückgeführt wurde, daß es zunächst der Ort der
Erschaffung Adams, des ersten vernünftigen Wesens auf der
Erde, und später als Ort der Kreuzigung Christi der Mittel-
und Ausgangspunkt der wahren Religion und höchsten sitt-
lichen Kultur gewesen sei. Fast dem gleichen Gedankengange
begegnen wir bei Plato im Menexenos Kap. 7, p. 237, wo er
zum Preise Athens und Attikas bemerkt: "Eqxl 8\ a^Cu i}
XCOQa [rj ylxxixij] xal vtco jtavxcov äv&Qautav STtaivelö&at^
ov növov v(f ^^i&v . . . oxi iv ixeCva tc5 iQdvco^ iv « ri
Stada yfi dvsöCdov xal scpvs t^aa TiavxodaTcd^ d-r^gia xa xal
ßoxd, SV xovTGi ri rjnaxega d^rjQicov ^ev dyglcov dyovog xal
xad-aQU htpdwi^ iislä^axo ds xcbv t,äcov xal iysvvrjösv dv-
d-QcoTiov [Kekrops, den Urmenschen ( Autochthonen) , den
Adam der attischen Sage!]^^^), og gvvböel xs vTCSQayei xcbv
aXlcov xal Ölxtjv xal ^aovg /uoVoi/ vo^C^at. [isya da xax^rJQLOv
xovxa x(p X6yc}j ort i]d£ axaxav 7] yr] xovg xävöa xa xal ^][ia-
xagovg TtQoyövovg- Tiäv yaQ xb xaxbv XQOcpijv a%ai aTCLxriöaCav
d dv xaxrj . . . o dri xal ri ijfiaxaQa yi] xa xal ^ijxi]Q ixavbv
tax^riQLOv nuQExaxai öig dv&QcoTtovg yavvrjöa^avrj' ^ovt] yaQ
iv TW xoxa xal TtQÜxrj xQo^tjV dvQ-QconaCav ijvsyxs
rbv xäv TtvQov xal xQiO'av xaqndv^ <p xdXXiGxa xal
ccQLöxa XQBtpaxai xb dvd^QaTtaiov ysvog, ag xcp '6vxi,
xovxo xb t,ciov avxT} yavvrjöa^avr] ... xovxov da xov xag-
7C0V ovx ifpO-övriöEV^ dXV avsifia xal xotg aXXoLg'
fisxä da TO-ÖTO iXatov yavaötv, Ttövav dQcoyi]v^ dvfixa
124) Mehr b. Preller, Demeter u. Persephone, S. 294 f. u. Anm. 34.
Pbeller-Robert, Gr. Myth.* I S. 773 f. Anm. 3.
125) S. ob. S. 25 ff.
6*
^8 Wilhelm IIklnricii Rosohkr: (7°, 2
xots i}<y6vot^ . . . Wer sieht nicht, daß in diesen von tiefster
religiöser Empfin(hin<T zoui^emlen Worten die griechischen Paral-
lelen einerseits zur Adam legende, anderseits zur ISage vom Para-
diese, als welches vielfach das 'gelobte, im Zentrum der Erde
und der Welt gelegene Land', d. i. Palästina und die Gegend
von Jerusalem, betrachtet wurde (s. ob. S. 36flf.), enthalten sind?
Zweifellos würde die Vorstellung von Athen und Eleusis
als 'Nabel der Erde' noch ganz anders durchgedrungen sein
und in der Literatur und Kunst eine weit größere Rolle ge-
spielt haben, wenn hier nicht die Rücksicht auf das del-
phische Orakel, das gegenüber allen Konkurrenten in diesem
Punkte höchst eifersüchtig war'^^), maßgebend gewesen wäre.
So blieb die Geltung Athens als 6/ig:«A6g y^g im Grunde
nur auf den Geheimkult von Eleusis beschränkt, hat aber
hier wenigstens in den oben von uns besprochenen Bildwerken
einen ziemlich deutlichen Ausdruck gefunden. Vielleicht ist
die Hoffnung nicht ganz ungegründet, daß im Laufe der Zeit
neue Funde und Ausgrabungen, namentlich in Eleusis selbst,
noch weitere Zeugnisse für die einstige Bedeutung des eleusi-
nisch-attischen Omphalosgedankens zu Tage fördern werden. ^^'')
126) Vgl. RosciiEK, Die iieueutdeckte Schrift e. altmilesischen
Naturphilosophen. Berlin. Stuttg. Leipz. 1912 S. 26f. E. Curtius, Gr.
Gesch. 1 I, 466. Gruppe, Gr. Mythol. u. Rel.-Gesch. S. 239 und vor allem
Herod. 6, 19 und dazu meine Bemerkungen Omphalos S. 44 u. Anm. 86.
Neue Omphalosstudien S. 21. — Ganz ähnlich wie mit dem Omphalos
von Athen und Eleusis verhält es sich übrigens aller Wahrscheinlich-
keit nach mit dem von Delos (Omphalos S. 9 Anm. 14. S. 39 Anm. 74.
S. 129. N. Omphalosstud. S. 27. 5of. S. 89 Anm. 104) und von Epi-
dauros (Omphalos S. 113), von dem nach der Annahme seiner Be-
wohner alle übrigen Asklepioskulte nach allen Himmelsrichtungen ge-
wissermaßen ausgestrahlt sind (a. a. 0. Anm. 204).
127) Ob die von 0. Kern in Wendland-Kerns Beiträgen z. Gesch.
d. griech. Philos. u. Religion. Berl. 1895 S. 86 erwähnte, damals noch
unveröffentlichte Hydria der Sammlung der Archäol. Gesellschaft in
Athen, die der schönen Vase von S. Maria di Capua ähnlich sein soll,
hierher gehört, wage ich aus Maugel an Autopsie z. Z. nicht zu ent-
scheiden. Handelt es sich vielleicht in diesem Falle um die oben (S. 68)
besprochene 'attische' Vase aus Kreta?
[70)2 Der Omphalosoedankr bei verschiedenen Völkern. 79
>v
AI. Die Ägypter (vgl. Omphalos S. 31 f.).
Meine früher (s. Omphalos S. 31) ausgesprochene Hoff-
nung, daß künftige Funde und Ausgi-abungen im Nillande
uns die Möglichkeit gewähren würden, das für Ägypten, die
Heimat der ältesten Geometer, nicht unwichtige Omphalos-
problem durch den Nachweis ausdrücklicher Zeugnisse monu-
mentaler und literarischer Art aus ^■-—.-^
älterer Zeit zu fördern, ist neuer-
dings einigermaßen in Erfüllung
gegangen. Am 21. April 19 17 er-
hielt ich von Herrn Prof Günther
RoEDER , jetzt Direktor des Peli-
zaeusmuseums in Hildesheim, einen
Brief mit der Mitteilung, daß die
von Reisner ( Harvard Univers.)
für das Museum in Boston a usge
führte Grabung am Gebel Barka-
(= Napata) im Sudan im Tempel ^.^ ,^ -omphaios' aus xapata m
der nubisch-meroitischen Könige Nubien (nach Joumai of Egyptian
cii • /• 1 11 11 Archaeology UI [1Q16I Seite jSi)-
emen btein geiunden habe, der als
Omphalos des Amon-Orakels vonNapataum i v.Chr.gedient
hat^^^), vgl. Griffith in Journ. of egypt. Archaeol. UI (19 1 6) 255
mit Abbildung; das Exemplar des Heftes, das er bei Gelegen-
heit einer Osterreise in Berlin habe einsehen können, befinde
sich in den Händen von Geheimr. Prof. Borchardt in den
Kgl. Museen in Berlin. Da mich dieser Fund natürlich in
hohem Grade interessierte, so richtete ich alsbald an Bor-
chardt die Bitte, mir den Aufsatz Griffiths zugänglich zu
machen, und erhielt dai-auf umgehend diesen in genauer Ab-
schrift (nebst Abbildung), die ich im Hinblick auf die große
durch den Weltkrieg bedingte Schwierigkeit, wissenschaftliche
Literatur aus dem feindlichen Auslande zu beziehen, hier mit
128) Hinsichtlich dieses Orakels verweise ich auf PERnoT-CmpiEz,
(jesch. (1. Ku. i. Altert. I, bearb. von Pikt.schmann (1884) S. 334, 338,
661 f. EuM.o, D. ägypt. Religion. Berlin 1905, S, iQgf.
8o WiLiiF.r.M Hkinkich IJohcukk: |7*\2
dem Ausdnicko aufriohtigon Dankes wr>rtlicli iil)drucken Iussh
(s. Fi^. 0).
Volmut.- III. Tart IV. (»ctobor 1916.
The Journal S. 25«;.
of
Kgyptiau Archacolopy.
An Oiniilialos froin Napata.
By F. LI. Griffith, M. A.
With Dr. Reisner's kincl penuission a sketch, made froin a ]>hoto-
«^rapli, is here j^iven ol' a roniarkalilt' Meroitic inonunioiit whicli «lia-
coverctl last yoar at Gebel Barkai, towards the inner end of tlic great
temple of Ammou. It is of sandstone and evidently of moderate sizo.
ItB conical shape is precisely that of the ompbalos at the oracle of
Delphi.') In a previoua note*) I ventured to identify it with the um-
l)ilicu9-like figiire of tlie god of the Oasis of Animon which is rccorded
only by Qviintus Curtius in the foUowing description: — "The thing
which is worshipped as a god has not the shape that artificers have usu-
ally applied to the gods; its appearance is most like an umbilicuf,
and it is made of an i^V) emcrald and geniscemented together'')." But
M. Daressy had ali^ady discovered a stränge sack-like form of Am-
mon of Karnak with which he quite appropriately compared this de-
scription of the Ammon in the Oasis.'')
Anyhow the present ompbalos is unique from Nubia and is pro-
bably to be conected witb an oracle of Ammon. Perhaps the imitative
Nubians took the idea from Delphi. The curved top is decorated as
if witb strings of beads or pendants, the sides are sculptured with
tigures of deities and two royal cartouches, and a band of upright lotus
buds and flowers encircles the base. The cartouches contain Egyptian
prenomen ( 0\jj ^^3:^ ) Nibmere , copied from that of Amenhotp III,
i) Daremberg et Saglio, Dict. des Antiq., s. v. Ompbalos.
2) Journal III, p. 221,
[3) Curtius IV, 7: Id, quod pro deo colitur, non eandem effigiem
habot, quam vulgo diis artifices accommodaverunt; umljilico maxime
similis est babitus, smaragdo et gemmis coagmentatus. Hunc, quum
responsum petitur, navigio aurato (vgl. dazu Pkrkot-Chipikz, Gesch. d.
Kunst im Alt. I, bearb. v. Piktschmanv, S. 335 tf. Diodor. 17, 5of.),
gestaut saeerdote.s, multis argenteis pateris ab utroque navigii latere
pendentibus; sequuntur matronae virginesque, patrio more inconditum
quoddam Carmen canentes, quo propitiari Jovem credunt, ut certum
t'dat oraculum. Rcscheu.]
4) Annales du Service des Antiquites IX, 64. Vgl. unt. S. 841'.
70,2] Deu Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkerx. 8i
and a Meroitic nomen f _Si:2Q, @ H" >f ö
Mnhnewel (?) i. e. Amauikhanewel (?). This makes a second Meroitic
Nibmere , there being alroady known an Amaniten memize with that
prenomen in the shrine of Pyramid A. 38 at Meroe®). That date of the
monnment woiild seem to be round about A. D. i.
Der Fund dieses aus dem Ammoneion zu Napata stam-
menden '^Omphalos' ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil
er nicht bloß den Bericht des Curtius Rufus über den von
Alexander M. und seinen Begleitern bei der Befragung des
Zeus Ammon in Libyen gesehenen umbilicus (= üix(pa?.6g) be-
stätigt, sondern auch sichere Rückschlüsse auf den Kult des
im ägyptischen Theben (Karnak) hochverehrten Ammon ge-
stattet. Denn es kann ja, wie mir auch von einem so aus-
gezeichneten Kenner altiigyptischer Religion wie G. Roeder
bezeugt wird, keinem Zweifel unterworfen sein, daß beide
Kulte, sowohl der von Napata als auch der von Siwa, nur
'Ableger' des thebanischen Amon sind^^^), dessen Orakel
ebenfalls hochberühmt war.^^°) Meine Vermutung, daß sich
aus der Kombination von Curtius 4, 7, 2^ mit dem neuen
Omphalos von Gebel Barkai (Napata) schließen lasse, daß
auch die Metropole des Ammonkultus, Theben, dem Ompha-
losgedauken gehuldigt und folglich Theben als Mittelpunkt
5) Mer. Inscr. I, uos. 66, 67.
129) Nach Herodot 2, 54 behaupteten die Priester des theba-
nischen Ammon, das Orakel von Siwa sei ebenso wie das von Dodona
von je einer aus dem ägyptischen Theben von Phönikern entführten
Priesterin gegründet worden. Vgl. Wilkixson, Anc. Egyptians IV, p. 248 f.
130) ßoEDER schreibt mir u. a. auf meine Frage, ob auch der
Ammon von Theben als Orakelgott galt: "^Ja, ganz sicher; wir kennen
Berichte über Orakelerteilung durch Amon von Theben'. Vgl. Herod.
2, 54 u. 57. Lysimachos (fr. i) b. Joseph, c. Apion. i, 34; Tac. bist.
5, 3; Oros. i, 10, 3; wo nach Pietschmann bei Pauly-Wissowa I Sp. 1859
gezweifelt werden kann, ob der Pharao zu Moses Zeit das Orakel von
Siwa oder das zu Theben befragt habe. Sethe teilt mir brieflich mit:
'Das Orakel des thebanischen Amon ist vielfach bezeugt: vgl. Ztschr.
f. äg. Sprache 44, 30. Bueasted, Ancient Records of Egypt IV, S. 303,
318, 328.'
t?
82 Wii.iiKi.M lli:iMucii Kosiukk: I70, 2
(^lloi/,, Omphrtlos) Ägyptens und dos orbis terrarum ge-
golUn liabc, is< iiiir von I\oi:1)1:k chcnsü wie von Skthk als
t'ür ilie 'sjjätfre Zoit' 'möglich' (»der Menkbar' bezeichnet
worden. KoKDKK fügt hin/u: 'Im (Janzen jedoch gehört
Theben zu den jüngertn Tempeln''"); ursprünglich waren
andere Tempel Mittelpunkt der Welt; das kann auf Theben
übertragen sein.'
Obwohl al)er si)Wohl die Form des /-u Napata gefundeneu
konischen Steines als auch die literarischen Zeugnisse für die
einstige Existenz des Oniphalosgedankens in Ägypten (siehe
untern, Mes Landes der Mitte' und der Bericht dos Cur-
tius liufus über den 'umbilicus' von Siwa die Deutung der
l)eiden heiligen Steine in den Amniontempeln Napatas und
Siwas als richtiger oiitpaloi, d. h. als Wahrzeichen der Erd-
mitte, sehr wahrscheinlich machen, verlangt es doch die wissen-
schaftliche ^'or8icht und Umsicht, eijics gewichtigen Einwan-
des zu gedenken, den ein so ausgezeichneter Ägyptologe wie
PiETSCiiMANN vor einigen Jahren gegen die Auffassung des
«umbilicus' bei Curtius Rufus als Nabelstein vorgetragen hat.
P. meint nämlich in seinem Artikel Ammoneion b. Pauly-
Wissowa I, Sp. 185Q, 'das prunkvolle Gehäuse des Am-
mon sei von Curtius (oder wohl besser von dessen griechi-
schem Gewährsmann) fälschlich einem umbilicus verglichen
worden', es sei also kein öfi(pal6g gewesen. P. beruft sich
dabei auf die Tatsache (vgl. Perhot-Ciiipiez I, 335 f-); daß
das Sanktuarium des ägyptischen Tempels (öijxög) im Gegen-
satz zur Cella des griechischen Tempels keine Kultstatue des
betreffenden Gottes, sondern nur eine sogen. 'Bari', d. h. eine
kleine Barke oder einen Kasten enthielt. 'Und zwar war das
der Regel nach eine Art von Tabernakel oder kleiner Ka-
pelle, worin hinter einer Flügeltür sich entweder ein Bild
oder ein Sinnbild der Gottheit befand, vor dem an den durch
religiöse Vorschriften bestimmten Tagen Gebete hergesagt
131) Nach Pekkot-Chipikz a. a. 0. S. 69 (vgl. S. 307, i) kommt
der Name des Ammon, des Lokalgottes von Theben, auf den Denk-
mälern nicht vor der 1 1. Dynastie (Ed. Meyek, Gesch. d. Alt. I, § 95 ff.) vor.
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 83
und besondere Bräuche vollzogen wurden. Bisweilen lief
dieses Tabernakel auf eine Nische, auf eine Art Wandschrank
hinaus; oft aber bildete es ein besonderes Häuschen, das
mitten im Sanktuarium stand. War es, gleich der Bundes-
lade der Hebräer, aus bemaltem oder vergoldetem Holz, so
ist es spurlos abhanden gekommen oder nur ganz ausnahms-
weise der Vernichtung entgangen wie das Tabernakel des
Turiner Museums (Fig. 210). In einigermaßen bedeutenden
Tempeln gab es einen großen, ausgehöhlten Granit- oder
Busaltblock als Aedicula. Einer derselben mit dem Na-
mensringe Nektanebus' J. steht noch am Platze in dem Ptole-
mäustempel zu Edfu, und sämtliche Museen besitzen solche
in den Trümmern der altägyptischen Gotteshäuser entdeckte
monolithe Kapellen. Zu den schönsten gehört eine im
Louvre befindliche, auf welcher der Name des Amasis ein-
gegraben ist; sie ist aus Rosengranit und ganz und gar be-
deckt (wie der Stein von Napata!) mit Inschriften und Skulp-
turen (Fig. 211)'. — Wer diese Darlegungen in Betracht zieht,
der dürfte in der Tat geneigt sein, mit Pietschmann in
diesem Falle an ein Mißverständnis des Curtius und seiner
griechischen Quelle zu glauben und den Omphalosgedanken
für das Aramoneion zu Siwa in Abrede zu stellen.
Wenn ich es gleichwohl wage, die Annahme eines öficpu-
X6g im Tempel zu Siwa zu rechtfertigen, so berufe ich mich
vor aUem auf die ausgesprochene Omphalosform des mas-
siven, nicht hohlen Steins von Napata, der auch nicht
die geringste Andeutung von einer 'Flügeltür' oder davon
enthält, daß es ein 'Gehäuse' oder Beh'älter des eigentlichen,
in ihm verborgenen Heiligtums sein sollte. Es kommt hinzu
der Umstand, daß der 'umbilicus' zu Siwa ebenso wie der
massive Stein aus dem Ammoneion von Napata bereits einer
Zeit angehört, in der starker griechischer Einfluß möglich
und wahrscheinlich war. Nun aber war das Ammonorakel
Libyens schon seit der Gründung von Kyrene starken griechi-
schen Einflüssen zugänglich und damit zum Konkurrenten
von Delphi und Branchidai geworden, deren Nabelsteine
8.} \N'ii.iii:i,M lli iNUK 11 KosiMiKli: |7", 2
<r,'i-!ul(>zu Wcltruhm besaßou.'^^) Es kjiiui iliilur niclii wum-
(lerbiir orsdieinen, wtMin dio. PriesttM-schaft von Siwii wie von
Niipata iliHMn Idol, das iirspiüii.u;licli, wio Dakkssys S. So or-
wiihuter Aufsatz (mit Al)l)ildun<r,.n!) /oi<rt *"-'»), niclil die Form
eines Omplialos, sondern eines Sackes oder Schlauches hatte,
Ouiidialopsrestalt verlieh, um (hunit an7Aideutcn, daß Ägypten
Mas Land der Mitte' und die Aiiimontempcl zu Tlieben und
Siwa wiedoruin (he Mittelpunkte der bewohnten Erde seien.
Zu dem schönen, bereits im '()mphah:)s' S. 31 ange-
führten Zeugnis (aus dem hermetischen Traktat KoQyj xöö-
uov = Stob. ecl. I, p. 302 Meiiieke) für die zentrale Lage
Ägyptens:
iv Tc5 ,af(5a) r^g yf]g xeitai 1) r&v itQoyövcov '{]}iiv
ffQaTary] %(oqk
kommt jetzt als wertvolle Parallele folgender Satz aus Hora-
pollons Hieroglyphica I, 21 a. E.:
/uö)?/ dl 1) AiyvTCTiiov yf] .. nta)] tfig oizovatvt]g
v:xäQxei^ xu&ccTtSQ iv tc5 o^O-aAftoJ i] Isyo^itvrj ^lögr]
(vgl. dazu Leemans Ausgabe p. 229).^^^)
Exkurs: Der Amon von Karnak nach Daressy.
Bei der Bedeutung von Daressys Aufsatz und der Schwierigkeit,
während des Weltkriegs seiner habhaft zu werden, scheint es mir in
hohem Grade wünsclienswert, ja notwendig, zur Förderung des ägyp-
tischen Omphalosproblems die von D. mitgeteilten Abbildungen nebst
kurzen Erläuterungen hier wiederzugeben:
p. 64]: Tarmi la multitude d'objets sortis par M. Legrain de la fosse
aox etat'ues de Karnak, se trouvcnt 3 petits monuments d'aspect etrange
132) Über das Oriikel von Branchidai, das vom ägyptischen König
Necho IL (Ende des 7. Jahrb.) und später von Kroisos befragt und
reich beschenkt wurde, vgl. Roschek, D. neuentdeckte Schrift eines
altmiles. Naturphilo-sophen 1912, S. 25flF.
132 a) S. unten den gleich folgenden Exkurs.
133) Allerlei merkwürdige hier einschlagende Vorstellungen von
der menschenartigen Gestalt und Lage der Erde, von Ägypten als
■"templum totius mundi', als '"Herz der Oikumene' etc. (vgl. Omphalos
S. 31 f. und die dort abgebildete Figur) s. jetzt bei Kroll, D. Lehren
des Herme.s Trismegistos. Münster 1914, S. 159, 166 L Vgl. auch Hora-
poll. ed. Leemans, p. 125.
70,2] Der OMPnALOSftEDANKR BEI VRRSOHtEDBNEN VÖLKERN. 85
Fig 7. Amonidole au» dem ägyptischen Theben (nach Annales du Service des Autiquit^^s
T. IX [1908], PI. I, p. 64 ff, zu dem Artikel von D-^RKSsy, (Une nouveUe Forme d Amon >.
68 WlI.HRI.M HkINKK II HoSCHIMt: 70,2]
dont je nc connais piis d'autres Bpociraeiis. 'Jii'on «'imaifine \in nio^jo
divin llaiu|in^ de lioiis, coniine en Bont fr^tiueinment Ics trAnes d'HoruB,
et sur ce lion im .spliiiix; oonime dosBior, 2 dt'osses pti'^rophorcH, puis
ä riutt'iieur, nu Heu de la tablette utteiidue, tont Vfspace est occupc
]mv Uli tHÜtice liypi-thro avec port ;"i Itivaiit ot i)08ee doasus (au lieu
d'rtn.' au niilieu do la oour), um- uiasso arrondie, seinlilablo li
une outrc, dout la partii- j^auiho so relive lormant une
protubi-ranco; tout cola orut' de dessin et dort« . . .'
p. 65J: 'Quant ä remblenie ^Iraiifje i)os('' sur ce moiiuniont il est
efialement orue de Htrures en rcliet'. Au-dessus de ce «ac, dans laxe
une briaure ronde maniue la i)lace du cou d'unc tr-te d'Amon
qui devait etre placec bi; en avant est «jrave un pectoral dout l'in-
terieur est seulement renipli de points' . . . (Es folgt nunmehr die'Be-
schreibuui? der dekorativen Figuren; vljI. Taf. I u. uns. Fij^. 7a — d ^.85).
p. 66J: Ähnlich mehrere weitere, aber woniger gut gearbeitete
Exemplare derselben Art, von denen es heißt: 'A la partie superieure
est restee une partie de l'arriere de la tete d'Amon.'
Weiter führt D. [p. 67] ein merk würdiges 'tableau' zu Medinet-
Habou an, auf dem unter anderem erseheint lespi'ce de sac avec
sa proeminencc laterale surmonte d'un«! t(''te d'Amon, ayant
un Collier auquel est attache un pectoraT .
. S. 69 schließt I). seine Darlegungen mit den Worten: 'Ces docu-
ments . . . suffisent pour nous prouver que cette forme divine apparte-
nan tä Min createur, confondu avec Harsiesi, ce Panthee que les sta-
tuettes et les bas-reliefs nous presentent sous tant d'aspects differents
Le trait caracteristique est ce sac dans lequel le dieu est en-
ferme, sa tete emergeant seule' . . . Zvüetzt vergleicht D. noeh
die sackähnliche Gestalt des Amon von Theben mit dem 'umbiiieus'
des Curtius Rufas in der Oase von Siwa und meint nicht ohne innere
Berechtigung: 'L'ombilic dont parle Tauteur ne peut etre mieux repre-
sente que par la protuberance du sac oü Amon est cache.'
VII. Die Etriisker. Italiker und Deul sehen.
Ob der Omplialosgedanke auch bei den Etruskeni (miic
Holle gespielt hat, ist nicht leicht festzustellen, .weil l>is jetzt
direkte Zeugnisse zu fehlen scheinen. Vielleicht deutet aber
ein eigentümlicher Ritus, den die Etrusker bei der Gründung
von Städten beobachtet haben und der nach Varro auch von
Etrurien nach Latium übertragen worden ist, darauf hin.
Ich meine die Anlage des sogen, nmmhis, d. h. einer kreis-
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 87
runden Grube in der geometrischen Mitte der Stadt ^^),
deren unterer Teil den Dis Manibus, d. i. den Geistern der
Verstorbenen und den Göttern der Unterwelt, der TeUus,
Ceres, dem Orcus etc. heilig war^^^) und durch den sogen.
lapis manalis, einen runden Stein, verschlossen wurde. In
diese Grube (fossa) wurden die Erstlinge von allen Früchten
und sonstigen Gaben geschüttet und sodann die Grenzen der
künftigen Stadt durch eine um den mundus als Zentrum
mittels einer rituellen Pflügung beschriebene Kreislinie
festgestellt usw. (Vgl. V\^issowA, Rel. u. Kult. d. Römer 2,
S. 234. Preller-Jordan, Rom. Mythol.^ II, 67 f.) An be-
stimmten Tagen, die für bedenklich galten, dreimal im Jahre,
wurde der Mundus geöffnet, und man glaubte, daß dann die
Seelen der Verstorbenen, der Dii Manes, aus der Grube her-
vorschwärmten und die Oberwelt erfüllten.^^®)
134) Plut. Rom. 11:6 'PafivXog . . . raxi^e rrjv nro'ii»' iv. Tvggrivlccs
lisTocTtsiiipcc^svog ävSQdg isQotg tl(Si &£a^oTg kuI ygäyb^iaeiv vcpriyoviisvovg
sxaötoc xal SiSccay,ovzccg, mansg iv rslsv^. Bo&Qog yccg wQvyr] tcsqI to
vvv Koiiiriov KVKloTSQrjg, &TCaQxal rs itävtav . . . &n£t£&riaccv iv-
rav&a. Kai tsXog i^ rjg dgptKro yrjg sxccatog oXlyriv xo/xijcor ^oTqccv
ißccXXov dg tavTa Kai avvs^iyvvov. KaXovai, dh rbv ßod-QOV xovrov ä xal
rbv öXv^Ttov ovoaari, iiovvdov. Eha, möiteQ y.v-aXov k^vtqo} TtsQii-
YQKxpav TTjv noXiv. — Ov. fast. 4, 821 ff. — Varro 1. 1. 5, 143= oppida
condebant in Latio Etrusco ritu, ut multa, id est junctis bobus.
Quare et oppida, quae prius erant circumducta aratro, ab orbe et
urvo urbes.
135) Daher die Bezeichnungen Cereris mundus (Fest. p. 142, 22),
Plutonis faux, deorum tristium atque inferum quasi ianua (Varro b.
Macrob. i, 16, 17), ostium Orci (Fest. p. 95 s. v. Manalem lapidem). —
Cato b. Fest. p. 154: eins (mundi) inferiorem partem veluti consecra-
tam Dis Manibus clausam omni tempore nisi his diebus, qui supra
scripti sunt, maiores c[ensuerunt habendam], quos dies etiam religiosos
iudicaverunt ea de causa, quod his diebus ea, quae occulta et abdita
religionis deorum manium essent, in lucem adducerentur, nihil eo tem-
pore in republica geri voluerunt . . . Vgl. Fest. p. 156 s. v. Mundum.
Mehr bei Steuding im Artikel Inferi des Ausführl. Lexikons d. griech.
«. röm. Mythol. U, Sp. 239 u. 249 f.
136) Paul. p. 128: Mamalem lapidem putabant esse ostium Orci,
per quod animae inferorum ad superos manarent, qui dicuntur Manes.
88 Wn.jii'.i.M IIkinuicm Rosciikk: [7°,^
Die Grüiule, dio mich veriuilasseu, in dem ]\Iumlus eine
besondere Form dos Krdnabels {ö^cpaXüg yf/g) /u erblicken,
sind kurz folgende.
Vor allem deutet darauf hin die Tatsache, daß der Mun-
dus in der Mitte jeder Stadt angelegt war, also au einer Stelle,
wo sonst nudirfach oucpa^oC (umbilici) als Symbole der Mitte
und als Zentralmeileusteine der von ihnen ausgehenden Straßen-
netze errichtet waren"*''): man denke an den umbilicus urbis
Komae, an das Milliarium aureum daselbst, an den atheni-
schen Zwülfgötteraltar, den Pindar als d^KfaXbc^ aöreos d^vöeig
bezeichnet, an den Omphalos von Antiochia ad Oroutem usw,
(Omphalos S. 34 f.).
Sodann erinnert die ins Innere der Erde, also die Unter-
welt, den Sitz der abgeschiedenen Geister, hinab reichende
Grube an das %ä6aa oder öto^lov yti^ zu Delphi (und Bran-
chidai), das den Mittelpunkt der bewohnton Erde bezeichnete
und zugleich verschiedene Beziehungen zum Geisterreich der
Unterwelt hatte; man denke an das ebenfalls ins delphische
Adyton verlegte Grab des Python, des Dionysos, ja des Apol-
lon (RoiiDE, Psyche- I S. 133 Anm. 2).
Nicht bedeutungslos scheint ferner der Umstand zu sein,
daß der Mundus selbst kreisrund (xvxXotiqijs) war und mit
der ebenfalls im wesentlichen runden Stadtmauer und ihrem
Graben harmonierte (s. Anm. 134). Ja vielleicht ist es sogar
möglich, damit die Ausdrücke mundus und urbs, wie schon
die Alten annahmen (s. oben Anm. 134), in Zusammenhang zu
bringen; denn nach der ältesten Vorstellung ist auch die
Welt ebenso wie der orbis terrarum und der Horizont (der
Himmel) ^^'') kreisrund, und demgemäß muß auch die
136b) Ich nehme also aa, daß ursprünglich jede mit einem 'mun-
dus' versehene Stadt glaubte in der Mitte des orbis terrarum zu liegen.
Dies erinnert an die Omphalos S. 22 besprochene Vorstellung des
Inders, bei der Gründung seines Hauses sich im Nabel der Erde zu
befinden.
137) Vgl. Cato b. Fest. p. 154: Qui (mundus) quid ita dicatur sie
refert Cato in commentariis iuris civilis: 'Mundo nomen impositum
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 89
'Unterwelt', der untere mundus, dieselbe Form haben;
man denke auch an den Zevg x^öviog im Gegensatze zum
ZEvg 6Xv}i7tiog, an die Juno infera (inferna) im Gegensatz
zur "Hqu bXvaTcCu usw. Es ist mir sonach in hohem Grade
wahrscheinlich, daß mundiis in diesem Falle ganz eigentlich
die 'untere Welt' (Unterwelt) bedeutet und also genau ge-
nommen ein euphemistischer Ausdruck für mundus in-
ferormn (Manium) ist.^^'^) Vgl. novroq Ev^eivog für li^SLVog,
Ev^sv^dsg für 'EQn'[v]v£g, manes (= die Guten) für larvae
oder lemures usw. (Mehr bei Rohde, Psyche^ I, 2o6if.)
Eine ganz vortreffliche Stütze für meine Vermutung
scheint uns endlich die germanische Vorstellung vom sogen.
Di liest ein darzubieten, wie bereits J. Grimm, D. M.^ 766 und
Pkeller (a. a. 0. II, S. 67 A. 2) gesehen haben. Grimm (a. a. 0.)
sagt darüber: 'Man dachte sich im Grund der Erde, gleich-
sam als Decke und Gitter der Unterwelt, einen Stein, der
in mhd. Gedichten Dillestein (von diUe, diele, tabula, pluteus,
ahd. dil, dili, altn. |)il, pili) genannt ist: 'grüebe ich üf den
dillestein'. Schmiede ^:i\ 'des hoehe vür der himele dach
und durch der helle bodem vert.' Das. 1252; 'vür der
himele dach du blickest und durch der helle dillestein.
Ms. 2, 199b; 'wan ez kumt des tiuvels schrei, da von wir-
sin erschrecket: der dillestein der ist enzwei, die toten sint
üf gewecket.' Dietr. drachenk. cod. pal. 226a. Hierbei er-
innere ich mich des lapis manalis (Fest. s. v.), der die Grube
des etruskischen mundus schloß und alljährlich an drei heili-
gen Tagen, abgenommen wurde, damit die Seelen hinauf zur
Oberwelt steigen könnten (Festus s. v. mundus). Nicht bloß
diese Grube in der Erde, auch der Himmel hieß mun-
dus. Vgl. 0. Müllers Etrusker 2, 96. 97. Den Finnen ist
manala locus subterraneus, ubi versantur mortui, sepulcrum,
est ab eo mundo, qui supra nos est (= caelum, "Oit'fwrog, vgl.
Plnt. Rom. II, oben Anm. 134): forma enim eins est, ut ex bis qui in-
travere cognoscere potui, adsimilis Uli (also rund u. gewölbt).
138) Vgl. aucb WissowA, Rel. u. Kultus d. Römer ^ § 35 S. 238f..
Prei.ler-.Jordän, Rom. Mythol.' I, 83 A. i, II, 66.
go Wii,ni:i.M TIkinuich Kosciikk: [70, 2
orcus, was sich von »uki (^Icrra. imiiidus) leitet. NillheiiiKM-
war dennoch heinir, d. h. eine Welt" naw. Selir nicrkwüi-dirr
und für unsere Friicje liocliwiehti^ ist über der von EI. 11.
Meyku (German. ^lythol. § 2^\ n. § 28Ö S. 212) für den
Dillestein nachgewiesene Charakterzug, daß er als Mittel-
punkt der Erde galt wie z. B. der Stein hei der Nohis-
schcuke (a. a. 0. § 286, Kuhn, Sagen a. Westfalen 2, ^22. ;i^^.
WiTZSCiiEL, Sagen a. Thüringen 2, 142), d. h. bei einem
Wirtshause, worin alle Toten Karten oder Würfel spielen,
denn das Totenreich wird in Deutschland ganz gewöhnlich
als Wirtshaus (= Nobiskrug, Nobishaus), der dort residierende
Dämon (= Teufel) als helleivirf, Nohiswiri vorgestellt (Belege
b. Meyer a. a. 0.). Mit dem Dillestein aber ist wohl auch
der mit großen Nägeln beschlagene Stein bei Allstedt und
Nebra, der ebenfalls für den Mittelpunkt der Welt gilt
(Kuhn u. Schwaktz, Norddeutsche Sagen 215. Wri'zscHEL
a. a. 0. 2, 142 f.), identisch (Meyer a. a. 0. S. 212). Eine
einigermaßen verwandte Vorstellung vertritt, wie oben gezeigt
worden ist, der Stein Schetija in Jerusalem (vgl. Omphalos
S. 24 f., N. Omphalosstudien S. 16 f., ob. S. 14 ff.).
Schließlich weise ich in diesem Zusammenhang noch auf
den von Varro (b. Plinius n. h. 3, log) bezeugten umbilicus
Italiae und auf Enua, jetzt Castrogiovauni, im Mittelpunkte
Siziliens hin, das von Kallimachos, Cicero und Diodor öfi-
(paXbg EixsUag genannt wird (Omjihalos S. 345 Neue Om-
phalosstud. S. 88). Schon aus diesen Tatsachen ist deutlich
ersichtlich, welche Bedeutung dem Omphalosgedanken auch
bei den Italikern zukommt und wie wahrscheinlich es ist,
daß auch sie an einen o^cpaXbg yijg an verschiedenen Punkten
des italischen Gebietes geglaubt haben.
VIII. Der Omplialosgedanke bei den Kelten.
Bereits in den Neuen Omphalosstudien I,. S. 2 4 f. habe
ich kurz auf einen hochinteressanten im Jahre 19 14 vor der
Academie des Inscriptions et Belles-Lettres gehaltenen Vor-
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 9 1
trag des bekannten französischen Keltologen J. Loth ver-
wiesen, der, wie damals mehrere Pariser Tageblätter berich-
teten, die einstige Existenz eines öiKpaXbg yfjs vor allem im
Mittelpunkte Irlands (vgl. Giraldus Cambrensis, Topograph.
Hibern. 3, 4 p. 144 ed. Dimock) und sodann im Zentrum
Galliens im Gebiete der Carnutes (vgl. Caesar, bell. Gall.
6, lof.)^^'') wahrscheinlich gemacht habe. Der unmittelbar
darauf ausgebrochene Weltkrieg,
der jeden direkten literarischen
Verkehr mit Frankreich unmög-
lich machte, verhinderte mich
damals, den in der Revue des
Etudes Anciennes Bd. XVII
(19 15) S. 193 — 206 unter dem
Titel'L'Omphalos chez les Geltes'
erschienenen Vortrag Loths ge-
nauer kennen zu lernen und zu ^. „ ^ . ^ ^ , , ...
Fig. 8. Der jetzt zersprengte umbihcus
würdigen. Erst zwei Jahre Spä- mbemiae des GiraUIua-Cambrensia (nach
ter ist es mir dank den Be- ^°^^ ^' ^"
mühungen meines Züricher Freundes Prof. Wasers gelungen,
des betreffenden Bandes der Etudes Anciennes habhaft zu
werden und einen Einblick in Loths Darlegungen zu gewinnen.
L. sucht in seiner Abhandlung über den Nabel der Erde
bei den Kelten die Ergebnisse meines 'Omphalos' vom kelto-
139) Man glaubt jetzt den locus cousecratus in finibus Carnutum
in dem 'petit vallon marecageux de la Vouzee qui aboutit au Loir,
ä deux kilometres environ en amont de Vendome' entdeckt zu haben
(Comptes Rendus de l'Acad. d. Inscript. et B.-L. 1915 Juillet-Aoüt
p. 282). — Noch jetzt spielt übrigens der Omphalosgedanke in Frank-
reich eine gewisse Rolle, wie die Pyramide von Bruere lehrt. Diese
wurde unter Napoleon III. errichtet, als es den französischen Geo-
graphen und Mathematikern gelungen war, den geographischen Mittel-
punkt Frankreichs genau festzustellen. Dieses Zentrum befand sich
damals in dem kleinen Flecken Bruere bei Fontainebleau, und zur Er-
innerung an jenes Ereignis wurde auf dem Marktplatz von Bruere eine
mächtige Pyramide errichtet, die aber nach der Annexion von Elsaß-
Lothringen ihre ursprüngliche Bedeutung verlor. Mehr darüber s. in
der Kreuzzeituug 1916 Nr. 491 (26./9.), Morgenausgabe öp. 4-
Plül.-hist. Klasse 191 8. Bd. LXX. 2. 7
i)2 WiLUKi.M Hkinkich 1\(Vsciikk: [70, 2
loijiscben Stamlpunkt aus zu (Mt^änzcu (p. 193). Er geht ans
von dorn Zou*jfnis (\iesars (do bell. Gull. 6, 13) von der zen-
tralen Lage dos Carnutenlandes (regio totius Galliae media)
und der alljiilirlii'h daselbst voranstalteten Zusammenkunft
der Druiden au einem gewoibion Platze (in loco consoorato)
und be/iebt auf Orte gleicber l^edeutung den so bäufig im
altkeltisclieu Gebiete begegneiulen Namen 3Ie(lio-lanon, den
er ebenso wie Mcdio-nemeio-n als 'sanctuaire, lieu consacre
central, vraisemblemont dans un foret' deutet (p. 194).
Eine deutliebe Beziebung auf den Erdnabel findet L.
ferner in der 'Aventure de Lludd et Llevelys', welcbe in der
Gegend von Oxford lokalisiert ist (p. 195).'''")
Es heißt darin:
C'etaitun grand cri qni se faisait entendre chaque nuit de prämier
mai*'**) au dessus de chaque foyer dans l'ile de Rretagn'^: il traver-
eait le coeur des humains et leur causait une teile frayeur que les
hommes en perdaieut leur-s conleurs et leurs Forces; les femmes, les
enfants dans leur sein, les jeunes gens et les jeunes fiUes, leur raison.
Animaux, arbres, terre, eaux tout re>tait sterile. Llevelys devoila ä
6on frere la cause de ce fleau et lui indicjua le moveu de s'en dübar-
rasser. Le cri etait pousse par le dragon des Brittons: „Un dragon
de race etrangere", dit Llevelys, „se bat avec lui, et cherche ä le
vaincre. C'est pourquoi votre dragon ä vous pousse un cri effrayant.
Voici comment tu pourras le savoir. De retour chez toi, fais mesurer
cette ile de long en large; a l'endroit 011 tu trouveras exactement
le point central de l'ile, fais creuser un trou, fais y deposor une
140) Bei der geringen Verbreitung der Revue des fit. Anc. in
Deutschland und der zur Zeit noch bestehenden großen Schwierigkeit,
das betreffende Heft durch den Buchhandel zu beziehen, halte ich es
für meine Pflicht, das deutsche Gelehrtenpublikum über den Inhalt
der verdienstlichen Untersuchung Loths genauer zu unterrichten.
141) Dies i.st der sogen. Walpurgistag, über dessen Bedeutung
bei den Germanen kein Zweifel besteht. Vgl. J. Gkimm, Deutsche
Mythol.* 1003 ff. WuTTKK, Deutscher Volksabergl.^ §88. E. H. Meyek,
German. Mythol. S. 132, 141, 243. Mannhardt, Germ. Mythen 30—34 etc.,
der S. 457f (Anm. 2^ auch auf keltische (walisische) Sagen hinweist,
in denen der i. Mai eine Rolle spielt. Ich vermute übrigen.s, daß
unter dem certo anni tempore quo Druides in finibus Carnutum con-
sidunt in loco consecrato (Caesar b. Gall. 6, 10) die Walpurgisnacht
am I. Mai zu verstehen ist. Vgl. unten S. 95.
70, 2j Der O.mphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 93
cuve pleine de Thydromel ^*-) le meilleur que Ton puisse fairo, et re-
couvrir la cuve d'un manteau de paile. Cela fait, voille toi meme, en
personne, et tu verras les dragons se battre sous la forme d' animaux
effrayants. IIa finiront par apparaitre dans l'air sous la forme de dra-
gons, et, en dernier Heu, quand ils seront epuises ä la suite d'un com-
bat effrayant et terrible, ils tomberont sur le manteau sous la forme
de deux pourceaux; ils s'enfonceront avec le manteau, et le tireront
avec eux jusqu' au fond de la cuve. Alors, replie le manteau tont
autour d'eux, fais-les enterrer enfermes dans un cofFre de pierre,
ä Fendroit le plus fort de tes Etats, et cache-les bien dans la terre.
Tant qu'ils seront en ce Heu fort, aucune invasion ne viendra dans
nie de Bretagne." Lludd fit mesurer l'ile de long, et en large.
II trouva le point central ä Rhyd-Ychen (le gue aux boeufs), nom
gallois d'Oxford. II fit comme il avait ete convenu. Quant au cofFre
de pierre dans lequel il enferma les dragons, il le transporta ä l'en-
droit le plus svir qu'il püt trouver, dans les montagnes d'Eryri (chaine
de Snowdon).
LoTH beschränkt sich darauf, hervorzuheben, welche Be-
deutuDg in dieser echtbritannischen Sage dem Begriffe des
Mittelpunktes eines Landes oder der Erde {o^cpuVog
yTJs) zuzuerkennen ist, offenbar dieselbe, die er auch in der
irischen Legende des Giraldus Cambrensis vom 'umbilicus
Hiberniae' und vom dortigen 'medium et meditullium
terrae' und in dem Berichte Caesars von der 'regio media
totius Galliae' im Gebiete der Caruutes nachgevriesen hat.
Von den übrigen in der Sage enthaltenen merkwürdigen Ele-
menten schweigt er. Auch ich kann an dieser Stelle nicht
alles erörtern, möchte aber doch wenigstens darauf hinweisen,
daß die Sage insofern einen interessanten historischen Hinter-
grund hat, als sie offenbar in einer Zeit entstanden ist, als
die keltischen Ureinwohner Britanniens in der Furcht vor
einer auswärtigen feindlichen Invasion schwebten. Es kann
sich daher wohl nur um die Zeit handeln, wo entweder die
Römer oder die Gennanen (Angeln, Sachsen, Dänen), Bri-
142) Sonst wird den in den Schlangen (Drachen) verkörperten
Hausgeistern Milch vorgesetzt (Grimm, D. Mythol.^ 65of); bei den
Griechen erhalten die heiligen Schlangen als Opfer in der Regel
Honigkuchen {^sXirovTra): Rohde, Psyche* I, 305 Anm. 2. Gruppe,
Griech. Mythol. u. Rel. -Gesch. S. 909 A. 5.
7*
94 NN ii.iiKLM Hi: NKicii RoRC'nr.u: ' [7", ^
tanuieu mit einer liivasiou beilrohten. Die Ueidi'ii, im Kampfo
miteinunder liegenden Draeheii oder FlügelechUingcn sind dio
Symbole der beiden feindlielien Nationen und gewissermaßen
deren Lokalgenien im größten Maßstabe, ebenso wie dio
Genien der einzelnen Häuser ebenfalls durch heilige, gütige,
wohltätige Schlangen oder Drachen dargestellt wurden.'")
Die innigen Beziehungen solcher Lokalgenien erster Ordnung
zum ganzen Lande können kaum drastischer dargestellt
werden als durch die Verlegung ihres Wohnsitzes in den
mathomatiseh gewonnenen Mittelpunkt des Gebietes, dessen
Wohl ihnen am Herzen liegt.
S. 197 f. a. a. 0. bespricht LoTii sodann ausführlich das
schon von mir (Neue Omphalosstudien S. 2 5 f.) angeführte
Zeugnis des Giraldus Cambrensis von dem im Zentrum Ir-
lands aufgerichteten Steine (lapis), welcher 'umbilicns Hi-
beruiae' genannt wurde (qnasi in medio et meditullio
terrae positus) und lügt noch weitere wichtige Belege für
dieselbe Vorstellimg hinzu, vor allem den ebenfalls 'umbili-
cus' genannten Stein zu Birr in Kings County (nicht weit
von Ushnagh oder Kyllari), weiter eine interessante Notiz aus
CoLGAN, Triadis Thaumaturgae acta (Quinta vita s. Columbae)
p. 392 col. 2 no. XX: 'Sub idem tempus s. Finnianus leniter
soporatus vidit in Hibernico horizonte duos soles cooriri,
unum, ut prae se ferebat, argenteum, aureum alterum, magna
utrumque sed impari luce coruscuin. Qui argenteus erat,
austro propior loco, qui Cluaiu micnois dicitur, recta im-
minebat; eoque potissimum directis radiis Hiberniae um-
bilicum mire irradiatum prope incendebat.'
Die hervorragende Bedeutung des großen Steinblockes
bei Ushnaffh, den mau den Umbilicus Hiberniae nannte, be-
zeugt auch eine Legende vom hl. Patrick, des Nationalheili-
1431 Vgl. .1. Gkimm, Deutsche Mythol.'' S. 648 ff. Wis.sowa, Relig.
u. Kultu.s d. Römer* S. lyöf. Preller-Jordan, Rom. Myth.' I, 87, 116.
WuTTKE, D. deutsche Volksaberglaube* § 57, 153. Über d. Fütterung
von Hausschlangen in Littauen vgl. Globus 75 (1899) S. i6off. Roch-
holz, Deutscher Glaube u. Brauch I, 146 f.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 95
gen von Irland (Loth a. a. 0. S. 200), der 'die Steine von
Ushnagli' als einen Gegenstand heidnischen Aberglaubens ver-
flucht haben soll. Auch wurde hier ebenso wie im Lande
der Carnutes alljährlich am i. Mai (s. oben S. 92 Anm. 141)
eine große Festversammlung abgehalten, die, wie schon
d'Arbois de Jubainville (Les Assemblees publique« d'Ir-
lande. Paris 1880 p. 11 f.) erkannt hat, der von Caesar er-
wähnten Druidenver-
sammlung im Zen-
trum Galliens ana-
loge Momente auf-
weist.
Eine Abbildung
des Steins von
Ushnagh (Fig. 8) und
einer Reihe von an-
deren Steinen, in de-
nen Loth altkeltische
Omphaloi erkennen
möchte, die ich aber
einstweilen lieber zu
den problematischen Nabelsteinen rechne, siehe unten auf
Seite 96 und die dazu gehörigen Erläuterungen auf S. 97.
Ich gebe hier nach Loth (L'omphalos chez les Celtes ==
Revue des etudes anciennes XVII (19 15) S. 193 ff-) mehrere
interessante altkeltische Kultsteine wieder, denen Loth mit
mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit den Charakter von
Nabelsteinen ißyLtpaXoi) ebenso wie dem berühmten die Mitte
von Irland und der Welt bezeichnenden Stein von Ushnagh
(vgl. auch Lappenberg im Artikel Irland S. 49 b der Encyklo-
pädie von Ersch und Gruber) zuschreiben möchte. Loth
(S. 203) sagt darüber:
'n n'est paa douteux que de rancienne regio media, le Midi de
rirlande, de la coUine d'üisnecb le culte de VOmphalos ne se soit re-
pandu dans le pays, bien que nous n'en ayons pas de preuves certaines.
Ce culte a et^ certainement un des premiers abolis par le christianisrae:
Fig. 9. Irischer 'Oraphalos' von CasUestrange (nach
Loth a. a. O. PI. I Fig. 3).
go
Wilhelm Hkinricu Kosculiu:
(7".'
t.-'';
Fig. lo: Irischer ' Uniphaloa':
Pierre do Turoe (nach Lora
a .1. U. S. 20t).
Fig. 12 a: Keltischer 'Omphalos':
B6tyle de Kermaria prÖ3 Pont l'Abbö
(nacli LoTH a. a. O. PI. n Fig. 6).
m
.,:',.' ' I ,.'9 \
'•'h^:. \ -: ;; ' ;:•
lUVlW
Fig. II : Keltischer 'Omphalos'
von MullaghmaBt (nach Loth
a a. O. S. 205).
..'^''J
'''i^^'^^'::^?--^''^
^'^C^'Sä.^i
Fig. 12b: Deigl. (nach Loru
a. a. O. PI II Fig. 9).
yOi 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 97
St. Patrice n'avait pas mauque de maudire les pierres d'Uisnech. I]
est fort poäsible qu'un certain nombre des piliers ou menhirs epara ä
travers l'Irlande aient ete des representations de VOmj^halos . . .
D'ailleurs, d'une fa9on generale, jusque ä l'epoque chretienne, lea idolea
de rirlande etaient des pierres brutes : de veritables menhirs. — EUea
etaient parfois rehaussees d'or et d'argent. Un annotateur au marty-
rologue d'Öengus, compose au IX* siecle . . . nous donne de curieux
details sur l'idole supreme du Nord: c'etait une pierre adoree par les
paiens, d'oü un demon du riom de Cermond Cestach faisait entendre
sa voix. 'C'est la pierre courte', ajoute-t-il, 'qui est ä droite en en-
trant dans le temple de Clochar; la place de morceaux d'or et d'argent
y reste encore, „ut vidimus ipsi" . . . A cöte de ces idoles de pierro
brüte, il y eut, des l'epoque de la Tene, en Irlande, des pierres sculptees,
dont la destination n'est pas connue. Les plus remarquables sont les
pierres de Turoe, paroisse de Kiltallogh, baronnie d'Athenry, en
Galway, de Castlestrange, comte de Roscommon ... et de Mullagh-
mast, comte de Kildare. Elles ont ete Tobjet d'une publication avec
gravures de Coü'ey, dans les Fioeeeding of the B. I.A. XXIV, 6 (1904)
p. 257 — 268 (planche XVIII — XXII). La plus complete et la plus im-
portante est celle de Turoe, c'est un bloc erratique de i"" 20 de haut.
. . . M. C. JuLLiAN a Signale la parente de ces pierres avec le betyle
de Kermaria, pres Pont-l'Abbe ... et a concla, sans deute avec
raison, que ces monumeuts doiveut repondre ä la meme pensee magique
ou religieuse et correspondre ä la meme civilisation. Par leur forme,
les pierres de Turoe et de Mullaghmast, surtout celle de Turoe, se re-
commandent comme des omphaloi ....
Ich halte es bis auf weiteres für richtig, alle hier ange-
führten Steine mit einziger Ausnahme des 'umbilicus' von
Ushnach zu den 'problematischen' Omphaloi zu rechnen
(vgl. N. Omphalosstudien S. 6 2 ff.).
IX. Der Erdnabel der Luiseüo-Indianer.
Der ausgezeichnete Religionsforscher und Ethnologe Prof.
M. NiLSSON in Lund teilte mir am 2;^. Mai 1916 brieflich
folgendes mit:
'Währenddem ich ethnographische Literatur durchblättere,
um Material für die primitive Zeitrechnung zu suchen, finde
ich Folgendes für Ihre Omphalosstudien, Ein Teil der Ein-
weihungszeremonien bei den Luiseho-Indianern (Kalifornien)
g8 Wiuir.i.M Hkinkuh lio.sriir.u: Dr.u (\mi'1iai.<)S(ii;d.\nkk. [70,2
war mit i'inor Malerei auf (Icni Boden v(m Ituiitleii, die kreis-
rund war lind die Welt dar-<ellte Tiiit ihrm sieben Teilen
(I. Händen, 2. Ber^ron, 3- Spinne, .\. Haben, 3. Här, 6. Sehlange).
Der siebeute Teil ist ein Loch in der Mitte des Krinses,
wohl anderthalb Zoll im Diameter, der Nubel genannt. Vgl.
DruoiS, The Heligion i.f the L. in University of California
Publioations in Anierieaii Archaeology and Ethnology VII l
(1908) S. 177t''
Dieser Nachweis bildet eine willkomnieue Parallele /n
dem Omphalos der Peruaner (Omph. S. 35) "»d Mexikaner
(N. Omphalosstud. S. 75).
Mittelalterlicher typischer Orbis terrarum mit demj
Zentram Jerusalem (nach 'Omphalos' Taf. IX, i).
Nachträge und Bericlitiguiigen.
I. Za Om])halos.
S. 12 Anm. 20 füge jetzt als willkommenen weiteren Beleg für
die Ansicht, daß Zwerchfell und Nabel Sitze der Seele seien,
hinzu Bakchyl. 16,21 f.: ^aw (pQSvcbv d'vnöv.
Zu ,S. 13 f.: Bei den Bakairi Brasiliens hört mit dem Abfall der
Nabelschnur des Kindes die Verpflichtung des Vaters zur Couvade
auf. Bis dahin hat er das Kind zu besorgen, das mit dem Abfalle
des letzten Restes der Nabelschnur zur selbständigen Persönlichkeit
wird (nach K. v. d. Steinen): Zeitschr. f. Volkskunde 4 (1894) S. 104. —
Ebendort S. 135 teilt Sajaktzis in seinem Artikel über Grllcowalachische
Sitten u. Gebräuche Folgendes mit: ''Nach strenger Forderung des
weiblichen Aberglaubens hebt man ein Stückchen des Nabelstran-
ges . . ., welcher vertrocknet abfällt und auch acpalog = oiicpaXog heißt,
sorgfältig auf, um es nach einigen Jahren dem Kinde zu zeigen, 'da-
mit ihm alles geschickt vou der Hand gehe'. Deswegen sagen die
Frauen mitunter von einem Vielgeschäftigeu : 'Der hat seinen acpalög
gesehen'. Nachdem dieser seine wohltätige Aufgabe erfüllt hat, wird
er in die Tiefen eines Koffers oder eines ähnlichen Behältnisses zur
Ruhe gelegt, damit er besonders vor Nässe geschützt wird, weil sonst
das Kind an Leibweh zu leiden hätte . . . Bei uns kommen folgende
Phrasen vor: „Das kehrt mir den Nabel um", oder: „Darüber verliert
man den Nabel" {(lov ^eazQS^psv 6 acpaXog — ji' iq)vysv o acp.) bei
Dingen, die Ekel oder Furcht erregen. Auch sagt man: „Das geht mir
nicht vom Nabel" (dsv ix' ^g^srai anb rbv aqpa^ö, dhv fiov '•Jtfiys 'g rbv
acpciXo) statt dessen häufiger: „Das kommt mir vom Herzen, das geht
mir zu Herzen" usw.' lauter Belege für die Tatsache, daß auch heute
noch in Hellas der Nabel als Sitz der Seele, des Gemüts aufgefaßt wird.
A-us Wlislockis Aufsatz ^Zigeunertaufe in Südungarn' (Am Ur-
quell n [1891] S. 21) stammt folgende Mitteilung; „Die Nabelschnur
besitzt nach dem Glauben der Zigeuner die Kraft, böse Geister vom
Kinde fern zu halten, deshalb wird auch das Kind, sobald es krank
ist, mit einem Stück von der aufbewahrten Nabelschnur geräuchert.
Die Nabelschnur nennen die nordungarischen Zigeuner 'Gottes Kette'
oder 'Gottes Seil'." — Weitere abergläubische die Nabelschnur be-
treffende Gebräuche s. Am Urquell HI (1892) S. 282 (Hamburg), S. 2 78 f.
(Serbien), S. 94 (Zigeuner).
loo \Vii,iii.iM Hkinuicu l'osciiKu: [7°» 2
Die ' Omfaloiuaii/.iii ' in lliimilnicn uiul Sizilien behiuulclt Mk-
KiNOKU in ilor Zoitsibrift 'Wörter und Siulicn', Kultnrliistor. Ztachr. 1".
Sprach- »lud Sachforseluin«? V (,i<)i3) S. A^- - KWondort S. 46 f. u. 40
linden sich wertvolle Hoin('rkun<»on über allcrli-i HrxiohunRon »Ich Na-
heis zum Vcrstaiulü.
Zu S 19 Anni. .u = ^Vie bei <lcii Indern ualdi-i-s nicht bloü Nabel
sondern auch Verwandtschaft bedeutet, so ist auch bei den Ara-
bern der Nabel Symbol und Ausdruck für Verwandtschaft (Uhodoka-
NAKis, 'Wörter u. Sachen' S. 201 Anm. Sil".).
Zu S. 31 trage ich nach aus Apulej. Asclep. 24: Terra nostra
(Aegyptus) muudi totius est templum . . . sedos religionum . . .
terra sanctissinm , . ., Ausdrücke, die wohl am besten auf Ägypten
als Zentrum der Erde bezogen werden.
S. 39 Anm. 74 füge hinzu: Auch Jacouv im Artikel Hekataios bei
Pauly-Wissowa schließt aus den von mir a. a. 0. zitierten Stellen, dal)
auf der altmilesischen Weltkarte nicht Delphi, sondern ein Punkt
loniens das Zentrum darstellte.
S. 41 Anm. 79 verweise ich jetzt auch auf llippolyt. ref. 4,49
p. 122, 5tf.: vnöntSQOS tc^av 6 -nsQuivcav ixartpoutf tovq nölovg Sia.
[liorii vT,? yfjs xal arQHpoiv rbv kÖghov. Vgl. dazu Ei.sler, Welten-
mantel etc. S. 324, 2 u. 583.
S. 42 Mitte. Nach Scuoemann-Lipsius, Griech. Alt.* IT S. 328 saß
die Pythia 'auf einer radförmigen Scheibe' (V), Die Bildwerke zeigen
sie dagegen meist auf dem Dreifuß sitzend.
Zu S. 45. Leider habe ich bei der Anführung der auf die an-
tiken Windrosen (orbes ventorum) bezüglichen Stelle des Plinius
(18, 326fF.) übersehen, daß auch Vitruvius i, 6, 6 u. 12 davon handelt.
Vgl. dazu jetzt Rkum, Griech. Windrosen 8. 12 f. (Münch. Akad. 1916)
und meine Anzeige dieser Schrift in der Wochenschr. f. klass. Philol.
19 17 Sp. 849, wo ich die Ansicht ausgesprochen habe, daß es sich bei
dem von Plinius angegebeneu Verfahren nicht, wie Rehm meint, um
^ine 'Vergröberung', sondern vielmehr um eine ältere (primitivere)
Vorstufe ded gleiche Zwecke verfolgenden, im Laufe der Zeit weiter
vervollkommneten Verfahrens handelt. S. auch Lelewels (Geogr. du
moyen äge I p. LXXX [ProlL] u. II p. 134) Bemerkungen über die
ältesten Seekarten, die auf der Windrose beruhten.
S. 64 füge jetzt zu der Ableitung von (5^(p}/ hinzu Ps. -Luc, Nero 10 :
acd yun dt] xai to Uv&ixov otÖuiov, Trag' oh cd ducpccl äviitvtov^
anofpQäxtsiv wq^tigbv (6 N^qwv), tag ^rjdh rä 'AndlXavi qxovrj eI't}.
Zu S. 90 Abschn. 10. Nach Wolters (Sitzungsber. d. Münch.
Akad., Philos.-hist. Kl. 191 5 III S. 21 Anm. i) ist nur ein einziger
Omphalos im Apollotempel von Pompeji gefunden worden.
S. 94 Nr. 22 handelt es sich nach Bethe, Thebau. Heldenlieder
70, 2] Der OsrPHALOSGEDANKE BEI VERSCHIEDENEN VÖLKERN. I O I
S. 14 um eine Befragung des pythischen Apoll von Seiten des Laioa
(nicht des Oedipus).
S. 96 Anm. 175. Ein weiteres Zeugnis für dieselbe Tatsache
bietet uns Aristot. Met. 2, 5, 13: Jib xat yeXoiag ygdcpovoi vvv rag
nsQiöSovi TT/? yfig' ygdcpovai ydg KvnXorsijij rijV oixovfiiv)]v. Nach Je-
KEMiAs, Handb. d. altorieut. Geisteskultur. Leipz. 19 13 S. 31, bedeutet
das babylonische Zeichen Q = kis = All = orbis terrarum.
S. 113 f. möchte ich jetzt zur Deutung des Omphalos des As-
klepios die Frage aufw'erfen, ob er nicht vielleicht sein omphalos-
förmiges Grab bezeichnen könnte. Vgl. sein Grab zu Kynosura und
zu Epidauros; s. Rohde, Psyche* I, 142, 2, der sich auf Clem. AI. protr.
p. 18 D. Cic. de nat. deor. 57. Clement. Homil. 5, 21. Recognit. 10,24
beruft.
S. 115 Ende Anm. 206. An Miss Harrison haben sich neuerdings
angeschlossen Karo im Art. Omphalos des Dict. des antiq., Bulard,
Monum. et Mem. Piot XIV (1907) p. 621., Küster, D. Schlange in d.
griech, Kunst u. Relig. = Rel.-gesch. Vers. u. Vorarb. Xlll, 2 (1913)
S. 70, 3. Farxell, Cults of the gr. states IV (1907) S. 303. Heisen-
berg, Grabeskirche I, 216. S. auch Harrison, Proll. to the study of
Greek relig. Cambridge 1908 S. 588 fF.
S. 118 ff. Zu den omphalos förmigen Gräbern gehört wohl
auch unzweifelhaft die interessante Darstellung einer von Brückner,
Jahrb. d. arch. Inst. VI (1891) Taf. 4 veröffentlichten, von Maass.,
Österr. Jahreshefte XI (1908) S. 15 f. falsch erklärten Lekythos. Hier
sieht man zwei einen 'weißen Omphalos', d. i. ein Grab, hütende
mächtige Schlangen, die einen davoneilenden Jüngling, offenbar einen
Grabschänder, verfolgen. Maass bemerkt dazu: 'Die Schlangen
sind die Omphalosschlangen (?), wie wir sie — nur im rubenden
Zustand — um den pythischen und delphischen Omphalos . . . er-
blicken. Also gehört der umfriedete Omphalos auf der altattischen
Lekythos der Ge, einem der zahlreichen Heiligtümer der attischen Erd-
mutter. Nachts durchbricht ein Tempelräuber (?) die Hecke um
den Omphalos; da fallen ihn die heiligen Schlangen an mit furcht-
barem Biß'. S. IG behauptet M. : 'Die Heiligtümer der Erdmutter
pflegen Kuppelform zu haben und o^icpaloi 'Nabel' zu heißen. Nur
Klügelei (?) machte den delphischen Nabel zum 'Erdnabel', zur Erd-
mitte, falsch schon darum, weil es viele solche 'Nabi-'P nachweislich
im griechischen Kult gegeben hat. Sie standen nachweislich vielfach
im Kreuzungspunkt der Hauptstraßen (E. Curtius, Abh. I, 116).' Ich
glaube kaum, daß M. jetzt noch, wenn er meine Abhandlungen über
den ümphalosbegriff gelesen hat, seine Ansicht aufrechterhalten dürfte.
Zu S. 120 oben. Hierher gehört wohl auch der 'conic uavel 2™
in height and diameter, survounded by a serpent in four circles,
I02 ^VlLlll^l.M Hi;iNui(ii KosniKu: [70, 2
with nn enormouB liead. Tliis uavol which miiy ho coinpared will»
sevcral plates in Uoschkus treatises, is ]ila(M'il upon a f^'igantic qua-
ilranpular »tone bUii-k wliicli scrves as iltf iifilestal. l'iulor tlic rock
tbat Supports tbis mouuuioiit is a largo rooui with niclit'a Ibr tho re-
ception of tbe dead.' Wensinik, The navel of the eartli S. 60. Dai.-
MAN, Petra I p. ^iStT.
Zu S. 123 oben. Aucb die liabyloiiisrhc»n (irenzstei nc {oqoi =
kudurru"* baben konische, oni])balosfüniiige (.icstalt; h. Jeuemias, Uaudb.
d. altor. Geisteskultur S. 108 Abb. 82.
2. Zu Neue Omplialosstiulien.
S. II. In der Saj^'C von der Arj,'o (Ri)S( mkk, Die Zahl 50 S. in
Auui. iSg) ist der Sitz des orakelnden l>äinons, der sich als die Seele
des Schiffs auffassen läßt, in das Zentrum des Schitfskieles, also ge-
vrissermaßen den ö^iifaXög r^g vswg verlegt.
S. 36 füge man noch folgende auf das delphische crS^tov bezüg-
liche Zeugnisse hinzu: Jamblich, de myst. 3,11 p. 123,13 Parthey:
Ol dh GTouloig (man beachte den Plural!) TtaQHKa&r'nisvoi, wg ai iv
JsXffoig Q'saTTi^ovaai. — ib. p. 126,5: ij S' iv JsXcpolg nQoqtfjtig, eI'ts
6c7to itvEv^aTog Xinrov xa! Tti'nwdovg ccvacpsQO^^vov noQ'hv Scnu ffTO/i/ov
&sm6TsvEL. — ib. p. 120,11: t6 &vo:(ffQ6^Evov &no rov CTOiilov tivq.
Ürigon. c. Geis. 8, 3: Die Pythia weissagt Ttsgixa&e^o^ivri rb t^s Ka-
GTuXiccg [= Kaa6oziSog<\ atöaiov. Vgl. dazu W. Nestle in Wochen-
schrift f. klass. Philol. 1916 Sp. 147. Fehblr, Kultische Keuschheit,
Gießen 1910 S. 7.
Zu S. 46 ist jetzt hinsichtlich des Verständnisses von Varro de
1. 1. 7, 17 zu verweisen auf meinen ''Omphalosgedanken' S. 61 Anm. 105.
S. 62 ff. Zu den „problematischen Omphaloi" gehört wohl auch
der neben einer hellenistischen männlichen Gewandfigur (die im T h e a t e r
gefanden wurde) stehende Nabelstein, abgebildet bei Kothe-Watzinoeb,
Magnesia am Maeander 1904 S. 208. Watzinger meint, daß ein Dichter
dargestellt sei; der Omphalos deute darauf. Ich verdanke diese Notiz
einem Briefe 0. Kerns vom 12./X. 1918.
3. Zara Omphalosgedanken.
Zu S. 12 Anm. 17 kommt jetzt noch hinzu das Zeugnis des Am-
brosiuB ed. Migne P. L. XV 1 961 ff.: In medio autem ludaeae civitas
Hierosolyma quasi umbilicus regionis totius, ut prudentibus pla-
cuit, nuncupatur.
S. 29f. Anm. 38 läßt sich die Reihe der Zeugnisse noch weiter
ergänzen durch folgende: S. Cyrilli Hierosolym. archiep. [f 386] cate-
chesis XIII (De Christo crucifixo et sepulto) = Migne P. Gr. 33 p. 805:
'E^sJteracsv iv ctccvQä rag x^^Q^?^ ^va TtSQiXdßr} xfig oiY.ovyiivr\g rä ni-
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 103
iiuxa. xfig yccQ yrjs t6 ^samrarov 6 FoXyo&äg ovTog ieriv. — Hilarii
cpiscop. [t 367] Comment. in Matth. cap. XXXIII =: Migne P. L.
IX, 1073: Locus deinde crucis talis est, ut positus in medio terrae,
et tamquam in vertice huius univeraitatis [Höhenlage!] insistens, ad
capessendam Dei cognitionem universis gentibus esset aequalis. —
Didymi Alexandr. [f 394] de triuitate 1. 1 = Migne P. Gr. 39 p. 324:
JuvtS Si iv 0/' i/jalficö iieqI rov araQ^ov [versio lat. : de aeterno] ipdX-
Xcov. 'O Sh 9sog ßccatXsvg ijumv ngoaimviog sigyccaaro oarrigiav iv yiiecp
tf]g yfjg. ÄeyBt ds rov FoXyod'&v, toicov ^s 6 mzccrov huI olovsl
nEVTQOv . . . övoiicc^cov ccvTov. — Vgl. fcruer Klameth a. a. 0. 107, der
als weitere Zeugen anführt: Chrysost. Homil. 85 = Migne P. Gr. 459.
Theopliylact. Enarr. in Evang. Matth. 27, 33—37 = Migne P. Gr.
OXXin, 468.
S. 57 möchte ich jetzt hinzufügen, daß auch Bethlehem bis-
weilen als Zentrum der Erde, als Geburtsort Christi und als der Ort
hingestellt wird, wo Adam erschaffen wurde. So z. B. in einer latei-
nischen Handschrift der Schlettstädter Sammlung Nr. 1093. S. M. För-
ster im Arch. f. Rel.-Wiss. XI (1908) S. 518: Incipit de plasmationem
Adam. Ubi (= ibi) Dens Adam plasmavit, ubi Christus natus est hoc
<;^est^ in Bethleem civitatem, ubi et medius mundus est,
S. 63 hätte wohl auch die von Svokonos (Journ. Internat. d'Ar-
cheol. Numismatique XIV (19 12), S. 22) aufgestellte Hypothese Erwäh-
nung verdient, daß durch die genau in der geometrischen Mitte
der Grundfläche der athenischen Akropolis in den Felsboden einge-
meißelte Inschrift Ffig KaqiioffÖQQV v,aTa iiavreiccv die Stelle bezeichnet
worden sei, wo sich nicht bloß ein ayuXiiu Frig (Paus, i, 24, 3), sondern
auch ein dieser Göttin geweihter Omphalos befunden habe, der in
den Skizzen des westlichen Parthenongebiets von Carrey und Nointel
unter den Vorderfüßen des vordersten sich bäumenden Rosses vom Ge-
spann der Athene noch deutlich sichtbar sei (vgl. Omphalosstudien
S. 22 f.). Es wäre ganz erfreulich, wenn diese Vermutung durch weitere
Forschung oder Entdeckung bestätigt würde, was bis jetzt noch nicht
der Fall ist.
A. Systeinalisclie Inliallsübcrsicht.
Strile
Vorwort III
I. Der Gedanke eines Zentrums ('Nabels') der Erde bei
denVölkern des Ostens i
i.DieChineseii i
2. Die Turkstämmc Südsibirieus i
3. Di i^' Inder 2
Die runde, in 7 konzeutrisclie durch Berye und Meere
Toneinnnder getrennte dripa (Inseln) zerfallcndi- Erd.scheibe
der Inder (Mabfibharata): S. 2. — Ibr Zentrum ist Indien,
dessen Mittelpunkt wieder entweder durch den Berg Meru
oder durch die in Zentralindien gelegene Stadt dos Vikra-
mäditya Uggajini (Ozene, Asin) gebildet wird: S. 2. —
Diese Vorstellung von der zentralen Lage und dem Meri-
dian von Ozene- Asin ist im 13. Jahrh. auch in die geo-
graphische Literatur der Araber und aus ihr in die des
christlichen Mittelalters übergegangen: S. 3. — Auch die
Insel Zeylon mit ihrem Adam^jik und die rUtselhafte vom
Istrier Aithikos erwähnte Insel Syrtinice scheinen in diesen
Zusammenhang zu gehören: S. 5.
4. Die Assyrer und Babylonier 8
Der berühmte arabische Geograph Ja'kübi erklärt den 'Irak
(== Mesopotamien und Chaldaea) für den 'Nabel' der Welt
und Baghdad, nicht Mekka oder Jerusalem, wieder für die
Mitte des '"Irak. Das erklärt sich höchst wahrscheinlich
ans altbabylonischer Vorstellung, weil Baghdad in un-
mittelbarer Nähe des alten Babylon gelegen ist: S. 8. —
Babylon erscheint als 6. yijg auch in der Sage vom Turm-
bau zu Babel: S. 9. — Brief Prof. J. Hehns (Würzburg)
mit weiteren Gründen für die Annahme, daß Babylon das
Zentrum der Erde war: S. 10. — Das Gleiche scheint nach
Aithikos auch von Ninive zu gelten: S. 11. _
n. Der Omph alosge danke bei den Juden 12
A) Jerusalem als Nabel der Erde (vgl. Omphalos S. 24ff.
u. Neue Omphalosstudien S. i5f.) 12
Wesentliche Vermehrung des Zeugnismaterials durch Wen-
sixcKs und Klameths Arbeiten: S. 12. — Die ältesten lite-
70,2] Der Omphalosgedanke BEI VERSCHIEDENEN Völkern. 105
Seit»
rarischen Belege finden sieh bei Jesaias 2, 2 und Ezechiel
5^ 5. g. 13. — Über die Vorstellung, daß Jerusalem nicht
bloß die zentralste, sondern auch die höchstgelegene Stadt
der Welt sei: S. 13. — Der Stein Schetija als ö^cpalbg yijg
und Ausgangspunkt der Weltschöpfung: S. 14. — Die Prä-
existenz dieses Steines und des Heiligtums in Jerusalem
nach jüdischen, syrischen und arabischen Quellen: S. 15. —
Der Hauptgrand für diese Anschauung liegt in der Ver-
gleichung des embryonalen Nabels mit dem Nabel der
Welt oder der Erde: S. 16. — Zeugnisse für Jerusalems
Bedeutung als Erdnabel aus dem Buche Henoch, dem Tal-
mud und Midrasch: S. 17. — Zeugnisse aus dem christlichen
Mittelalter: die Kreuzprobewunderlegende, das Zeugnis des
Adamnauus (Arculfus), des Baeda, Victorinus Pictabionensis, .
des Typikon (vor 720): S. 18. — Das noch heute in der
griechischen Kathedrale bestehende Denkmal der Erdmitte:
S. 23. — Die mittelalterlichen Weltkarten mit Jerusalem
als Mittelpunkt: S. 23.
B) Der Ompbalos in der Adamlegende 25.
1. Die Adamlegende von Golgotha 25
Das Zeugnis des äthiopischen Adambuches: S. 25. —
Adams Grab im Golgothafelsen unterhalb des Ortes der
Kreuzigung: S. 26. — Das Zeugnis der syrischen Spelunca
tbesaurorum (Schatzhöhle): S. 27. — Die Zeugnisse des
Origenes, Athanasius, Ambrosius, Basilius: S. 28. — Sie
alle machen sehr wahrscheinlich, daß die Adamlegende
von Golgotha jüdischen, vorchristlichen Ursprungs ist,
aber später von den Juden nach Hebron verlegt wurde:
g_ 33_ _ Die Zeugnisse für die Sage, daß Adam auf
Golgotha auch erschaffen worden sei: S. 33.
2. Die Adamlegende von Zion und Morija 34
Sie unterscheidet sich von der auf Golgotha lokalisierten
Legende dadurch, daß für sie mehr das Motiv der Er-
schaffung, als das der Bestattung Adams in Betracht
kommt: S. 34. — Zeugnisse des Rabbi Elieser und der
MixQa riveciq: S. 34. — Spätere Übertragung dieser Sage
auf Mekka: S. 36. — Verlegung des Paradieses in die Nähe
von Zion und Morija nach späteren jüdischen Quellen, weil
das Paradies ebenso wie Jerusalem zugleich das Zentrum
und die höchste Erhebung der Erdscheibe bedeutet: S. 36.
3. Adam und Eva in Hebron bestattet 40
Merkwürdiger Widerspruch der Zeugnisse des Hierony-
io6 WiMii-.LM Heinuich Röscher: [70,2
Hoito
nius, der zuorat l'iir (iolgothn, fli)iUer Tür Ili-Lron ciii-
Rctreton ist: S. 40. — Weitere Zeiijfnisao der spüteren
jüdischen Literatur (Sola, Knihiii, Halm Jxitra usw.):
S. 41. — 0:18 ''Hininiclstor' v.u Hebron und 'die übor
Hebron li«'<,'endo himiuliacbo (JottcHstadt': S. 44- — I^ies
alloB If^t (lio Vermutung nahe, daß Hebron in ältester
Zeit auch den Anspruch erhoben hat, ebenso wie .leru-
ealeni und Sichern, der ö^tpaiäi? yfjg zu sein: S. 45.
4. Die Adttmleirenden von Babylon und DamaHkua 4(<
111. Weitere ö/iqpailoi yfjg in Palästina 4^
a) Sichern und Oavizim (aamarita nißche Überliefe-
rung) 40
Hohes Alter des Kultes von Sichern, der schon in der ka-
uaanäischen Urzeit ein hochheiliger Ort gewesen sein muß:
S. 49. — Sichern als Konkurrent Jerusalems zur Zeit der
Samaritauer: S. so. — Der Jehovatempel arf dem Berge
Garizim als Gegenstück zum Tempel Jerusalems und als Erd-
nabel, als welcher der Garizim auch schon Richter 9, 37
('Nabel des Landes') erseheint: S. 51. —Weitere Zeugnisse
aus der talmudischen uud christlichen Literatur, wonach
der Garizim von der Sintflut nicht bctroCTuu und der aus
Ev. Job. 4 bekanute Jakobsbrunnen geradezu als 'umbili-
cus terrae nostrae habitabilis' mit einer eigentüm-
lichen, auch für andere umbilici terrae charakteristischen Be-
gründung angesehen wurde: S. 52.
b) Bethel 54
Auch Bethel war seit der kauaanäischen Urzeit ein hoch-
heiliger Ort und die Stätte, wo Jakob im Traume die 'Him-
melsleiter' erblickte, es galt für 'den Wohnsitz Gottes imd
die Pforte des Himmels' (Gen. 28, 11 ff.): S. 54. — Daß der
daselbst von Jakob errichtete Denkstein wahrscheinlich ein
ÖLLcpaXog yfjg gewesen ist, geht aus späteren jüdischen uud
christlichen Überlieferungen hervor, die geradezu Bethel als
'Mittelpunkt der Erde' und den Denkstein des Jakob
als 'Grundstein der Erde' und 'Nabel der Welt',
d. li. als Parallele zum Stein Schetija im Heiligtum Jeru-
salems, bezeugen: S. 56.
IV. Mekka als Nabel der Erde 57
Zwar haben Mohammed und seine ältesten Anhänger noch
Jerusalem als Mittelpunkt der bewohnten Erde angesehen, aber
früh schon kam im Islam die Ansicht auf, daß Mekka und
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 107
ijeite
speziell die Ka''aba mit dem heiligen schwarzen Stein den
Nabel der Erde darstelle: S. 57. — Übertragung altjüdischer
auf Jerusalem bezüglicher Vorstellungen auf Mekka nach ara-
bischen, von Wensinck gesammelten Zeugnissen: S. 58. — Alt-
arabische Weltkarten mit Mekka als Zentrum: S. s8. — Die
Vorstellung, daß Mekka der höchstgelegene Ort auf der Erde
und deshalb von der Sintflut nicht berührt worden sei: S. S9- —
Die Präexistenz Mekkas und der Ka'aba: S. 60, — Übertra-
gung der Legenden von Adam und Abraham nach Mekka:
S. 60. — Das Grab Evas zu Dschedda als Nabel der Erde:
S. 6i.
V. Der Omphalos von Athen und Eleusis 61
Der von den Peisistratiden gestiftete Zwölfgötterultar als a6-
rso? 6ii(p(xXbs d-vosig nach Pindar: S. 62. — Athen als 6ii(p(xlbg
{^taov) rfjg 'EXläöoc; -acxI Jtdarig oiv.oviiivi]g nach Xenophon de
vect. I, 6 und Aristeides Panath. 99: S. 62. — Weitere Zeug-
nisse für denselben Gedanken liefern uns zwei schöne, neuer-
dings an der Stätte des eleusinischen Telesterions aufgefundene
Pinakes und drei auf die eleusinisciien Gottheiten (Mysterien)
bezügliche Vasenbilder, die sämtlich einen deutlichen Om-
phalos zur Bezeichnung des Ortes, wo die heilige Handlung
stattfindet, zur Darstellung bringen: S. 64.
a) Der Ninuion-Pinax: S. 64. — b) Die Vase von Sta Maria
di Capua: S. 68. — c) Der boiotische Teller mit der vor
einem 'üuiphalos' thronenden Demeter oder Persephone:
S. 70. — d) Die in Kreta gefundene attische Vase des Zen-
tralmuseums in Athen Nr. 1442. S. 72. — e) Der zweite im
Kaume des eleusinischen Telesterions (zusammen mit dem
imter a behandelten) gefundene Pinax: S. 73.
Schlußfolgerung: Im Hinblick auf diese 5 monumentalen
Zeugnisse kann die einstige Existenz eines richtigen Om-
phalos im Kult der eleusinischen Gottheiten nicht mehr be-
zweifelt werden: S. 75. — Daß es sich aber im Grunde um
einen oucpalbg yfjg im eleusinischen Mysterieukult handelt,
folgt mit größter Wahrscheinlichkeit aus der Sage von
Triptolemoa, in der Athen als Mittel- und Ausgangs-
punkt aller auf den Segnungen des Ackerbaus beruhenden
höheren Kultur und Gesittung erscheint: S. 76. — Zeug-
nisse des Isokrates (Panegyr. 28 ff ) und des Piaton (Menex.
p. 237): S. 76. — Daß der Erdnabel des eleusinischen Ge-
heimkults bis jetzt nur monumental, nicht literarisch be-
zeugt ist, beruht auf dem außerordentlichen Einflüsse Del-
PMl.-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 2. 8
io8 Wii.iiKLM TTKiNimii UoscHKu: [70,2
Seit«
phis, das jede offen auftretende Konkurren/, energisch und
erfolgreich /.u bokiinipfin wußte: S. 78.
VI, Die Ägypti'i- 79
Der kürzlich im Orakeltempel des Amon von Napata (Nubien)
ausgegrabene und von Grikfitm in\ .louru. of egypt. Archaool.
m (1916) 255 ff. besprochene und veröffentlichte Omphalos-
Btein: S. 79. — Er bestätigt die Nachricht des Curtius liufus
(IV, 7\ wonach das Idol des von Alexander d. (ir. belVagten
Amonorakels der Gase Siwa in Libyen „umbilico maxime
eimilis" war: S. 80. — Beide Kulte, sowohl der von Napata
als auch der von Siwa, sind Ableger des thebanischcn Amon,
dessen Orakel ebenfalls hocliberühuit war; Theben giilt aber
wahrscheinlich als Mittelpunkt ('Omphaloa') Ägyptens: S. 81.
— riKTsciiMANNs AuffassuHg des 'umbilicus' von Siwa als
Tabernakel": S. 82. — Gegen diese Ansicht und für die
Deutung als 6ii(fixX6s spricht erstens der Umstand, daß der
Stein von Napata nicht hohl, sondern massiv i.st und zwei-
tens daß sowohl der 'umbilicus' von Siwa wie der von Na-
pata bereits einer Zeit angehören, die griechischen Einflüssen
ausgesetzt war, so daß das ursprünglich mehr sack- oder
schlaucbähnlich gestaltete Idol von Theben später die Form
des delphischen Omphalos annahm: S. 83. — Literarische
Zeugnisse für die Geltung Ägyptens als Land der Mitte
(Stob. ecl. I p. 302 M. u. HorapoU. I, 21 a. E): S. 84.
Vn. Die Etrusker, Italiker und Germanen
Wie es scheint, weist der eigentümliche als etruskisch be-
zeichnete Ritus bei der Gründung von Städten, insbesondere
die Anlage eines sogen, 'mundus' im geometrischen Zen-
trum des Stadtplanes auf die einstige Existenz des Om-
phalosgedankens auch bei den Italikern hin: S. 86. — Die
runde Form dieses ' mundus'' und die ebenfalls in der
Hauptsache runden Stadtmauern und Stadtgräben, die dem
runden Horizont (Himmel) oder dem orhis terrarum ent-
sprechen, scheinen anzudeuten, daß Cato b. Fest. p. 154
Recht hat mit seiner Erklärung: 'Mundo nomen impositum
est ab eo mundo qui supra nos est [d. h. dem caelum,
"OXviiTtog]: forma enim eins est, ut ex bis, qui intravere
cognoscere potui, adsimilis illi [also rund und gewölbt]:
S. 88. — Wahrscheinlich ist 'mundus' in diesem Falle ein
euphemistischer Ausdruck für die „untere Welt"
oder „Unterwelt", d. h. die Welt der abgeschiedenen Gei-
ster (manes) : S. 89. — Eine treffliche Parallele zum italischen
86
70,2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern. 109
Seite
„mundus" bildet der ^ Dillestein'' der Germanen, der dieselben
Beziehungen zum Totenreiche besitzt und zugleich das Zen-
trum der Erde bildet: S. 89.
VUl. Der Omphalosgedanke bei den Kelten 90
Die von dem französischen Keltologen Loth hervorgezogenen
45eugnisse Cäsars (de bell. Gall. 6, 13) und des Giraldus Gam-
breusis Topogr. Hibern. 3, 4: S. 91. — Das Zeugnis der
Aventure de Lludd et Llevelys: S. 92. — Weitere Belege
für die einstige Existenz des Omphalosgedankens bei den
alten Kelten: S. 93.
IX. Der Erdnabel der Luiseno-Indianer Kaliforniens 97
X. Nachträge
o
99
XI. Systematische Inhaltsübersicht 104
XII. Alphabetisches Inhaltsverzeichnis iio
Xin. Stellenregister 115
Aliilialu'lisclu's Inlialtsvcrzcicliiiis.
Die Moßo Zahl bedeutet die Seite, ein vor iHe Zritil gosotzleB A ^j Anmerkung.
Abrahaiii erbaut den Tempel von Aej^fj-pten = Land der Mitte: 82 f.
Mekka: 60 A. 102. | 84.
Abukais = Grabstätte Adams: 60. — = templuiu lotius muudi : A. 1.^3.
Adam auf «lolLrotlia orM-liatfen: 33 99-
A. 40.
— ^ Herz der (»ikumene A. 133.
— in Mekka erscbafiFeu: 36 A. 53. Agrai (Myeterienfeier): 69.
— auf Garizim erschatFen: 52 A.q3. Altar des Tempels v. Jerusalem u.
— in Bethlehem erschafFeu: 103. seine Beziehungen zu Adam,
— in Mekka begraben: 30 A. 56. Abel etc.: 3s A. S"t".
— im Paradiese begraben: 37 A. 56. Ammonidole (schlauchartige) von
— im Golgothafelsen bestattet: 22. Theben 85 f.
wohnt aut Morija: 43 A. 70.
wohnt auf d. Arafat: 61 A. 104.
== Adapa (?): 47.
Animonorakel von Riwa: 82 f.
- von Napata: 79 ff-
— von Theben: 79 f.
25 f. I Arabische Weltkarten: > 8.
Arafat: 61 A. 104.
Adambuch, aethiopisches:
A. 34-
Adamkapelle auf Golgotha: 32 A.43. Arin (Asin) = Ozene (s, d.).
Adamlegende von Golgotha: 25 ff. Athen := ^r niow r.Träarig yfjg: ö2ff.
— jüdische, vorchristl. : 29 Attika = Zentrum der Üikumene:
A. 38-
— von Zion u. Morija: 34 ff.
— von Babylon: 11. 46 ff.
— von Bethlehem: 103.
— von Damaskus: 46 ft".
— von Zeylon: 6 A. 9. 46 ff.
— von Mekka: 46 ff.
Adampik auf Zeylon: 6 A. 9.
Adams Grab zu Hebron: 30 A. 38.
33- A 44.
— Grab verehrt von den Banu
Scheth: 33 A. 45.
— Riesengröße: 30 A. 38.
— Schädel im Golgothafelsen be-
stattet: 26 ff.
63.
Baal Berith von Sichem: 49 A. 86.
Babylon = Nabel der Erde : 8 ff. 46 f.
Bagdad = Nabel der Erde: 8 ff.
A. 13.
Bakchoi = Myrtenzweige: 65.
Banu Scheth verehren das Grab
Adams: 33 A. 45.
Bethel = Nabel der Erde etc. : 36
A. 51. 44 A. 74. 5 5 ff.
Bethlehem = Nabel der Erde, Ge-
burtsort Christi und Ort, wo
Adam erschaffen wurde: I03-
Branchidai: 51 f. 75- H A. 132.
70, 2] Wilhelm Heinrich Röscher: Der Omphalosgedanke.
1 1 1
Britanniens Mittelpunkt (Nabel) :
92 f.
Bruere = Zentrum Frankreichs: 91
A. 139-
Carnuten -wolineu im Zentrum Gal-
liens: QI.
China = Reich der Mitte: r.
Damaskus = Erdnabel (?): 47-
— (Adamsage von D.): 47.
Delos = Erdnabel: 52.
Delphischer (?) Nabelstein bei der
eleusin. Feier: 66 if.
Delfthisches Orakel eifersüchtig auf
alle Konkurrenten: 78. i
Demeter bei der Feier der Eleusi-
nien: 6 5 ff.
Deukalion: 14. 52.
Dillestein = Erdnabel : 89 f.
Dionysos im delph. Adyton be-
graben (?): 67 ff.
— = Daduchos bei der Feier der
Eleusinien: 6 5 ff.
Drachen (Schlangen) gefüttert mit
Hydromel, Honig, Milch: 93
A. 142.
Dschedda ^ Evas Grab: 61.
— = Erdnabel: 61.
Eden: 33 A. 45- 37- 45f- 5^ A. 93
(Höchstlage).
Eleusis = oiicpaXog yf]s: 61 ff.
Erdnabel (s. auch Omphalos).
— bei den Chinesen: i.
— „ „ Turkstämmen Sibiriens :
if.
— r. ., Indern: 2 ff.
— „ ,. Arabern d. Mittelalters :
5 f. (vgl. Mekka).
— „ .. Assyrern u. Babyloni-
ern: 8 f.
— „ „ Juden: 12 ff.
— „ .. Samaritanern: 14. 16.
49 ff-
ErdnabelbeidenKanaanäern(?):48f.;
vgl. Bethel 5 4 ff-
— „ .. Eleusiniernu. Athe-
nern: 63 ff. 71. 75 f.
— ' „ „ Italikern(Etruskern
etc.): 8 7 f.
— „ „ Germanen: 89 f.
— ,, „ Kelten (Iren etc.):
90f.
— „ „ Luiseno-Indianern:
97 f.
— ., „ Ägyptern: 79 ff. 99.
— = Berg Sung-shan (Walfang) : i .
— == Berg Meru: 2.
— = Ozene (Uggajini, Asiu, Arin):
3ff.
— = Insel Syrtinice (?): 6 ff.
f— = Berg Sinnalu auf Celebes :
6 A. 9.
— = Berg Zinualo in Siam: 6 A. 9.
— = Himalaya (?): 3.
— = Adampik auf Zeylon: 5 ff.
— = Garizim : 49 ff.
— = Babylon: 8.
— = Bagdad: 8 f.
— = Bethlehem: 103.
— = Ninive (?) : 1 1 .
— == Jerusalem: 12 ff. 102.
— = Hebron (?): 45ff-
— = Bethel: 54 ff-
— = Bethlehem: 103.
— = Sichem : 49 ff.
— = Mekka: 5 7 ff.
— = Dschedda: öi.
— = Athen-Eleusis : 61 ff. 71. 75.
— = Paphos: 75.
— = Branchidai 51 f. 75- 84.
— = Delos: 75.
— = Epidauros (?): 75. 78 A. 126.
Etruskisclie Städtegründungen :
87 f.
Euphemismen: 89.
Eva in Dschedda bestattet: 61.
1 I
WiMiEi.M HiuNiiuii Kosciikr:
[70,2
(iambü-thipa = /iOiitrum d.Wolt: 2.
Oarizim = Erdiiabel: 49 if.
== 'Nnbi'l des Landes': ^i.
— verschout von der Sintflut: ^2.
— Ort, wo Adam erscbatTon wurde :
52 A. <)3.
(lolgotha (Adamloj^cndc von G.):
25 ff- 33- 34 A. 49.
— ^ ducpaXog y;}e: 2b ff. ^,2. 102 f.
— = Bestattungsoit Adams: 32.
— = Ort, wo Adam erschaifen
wurde: 33 f. A. 47 u. 49.
— ^ schädelförmig (?): 32 A. 42. 33.
Gottes (Jahwes) Thron = Jerusalem :
A. 14.
— (Jahwes) Wohnsitz = Bethel : 54.
Granatapfel, Attribut der Köre: 70 f.
Hebron = Kirjath- Arba: 41 f.
— Adams Grab daselbst: 33. 40 tF.
— Haus Elohims daselbst: 44.
— liegt unter der himmlischen
Götterstadt: 44. 46.
— liegt in der Nähe Edens : 45.
— = öfiqpa-lös yfjs 00= 45 f-
— = Stätte des Himmelstores: 44.
— = Stadt der Riesen (Enakiter) :
45 A. 78.
— Patriarchengräber daselbst: 41.
Himmelsleiter Jakobs: 44 A. 74.
54 ff-
Höchstlage Jerusalems u. Palästi-
nas: 39 f.
— des Paradieses: 39.
— Sichems: 52.
— Mekkas u. d. Kaaba: 59.
Indien = Zentrum d. Erde: 2 f.
_ = Xod(=Hind?): 33 A. 45-
Indischer Erdnabel: 2if.
lonien = Zentrum der Erdkarte : 99.
Irak = Zentrum d. Erde: 8 f.
Jakclios bei d. Eleusiuieu-Feier:
65- 71-
Jakobsbruiiuen bei Sichem = 6(i,(pa-
i-ög yt'ig: 4 »ff.
Jerusalem (Höchstlage): 131". 39 f.
— = Nabel d. Erde: 17(1.
— = Ort der ErschalFung Adams
etc.: 17. 33.
— — Ort des Paradieses: 17.
— ^^ Zentrum der mittelalterl. Welt-
karten: 2 3 f. A. 31.
— himmlisches : 46 A. 79.
Jonien = 'Zwerchfell d, Erde': 52.
100.
Kaaba (Höchstlage): 52. 60.
— von der Sintflut verschont: 52.
— priiexistent: 60.
Kanaaniter: 49 ff. 51 A. 90.
Kernophorostänzerinnen: 64f. 68
i A. 115.
Kirjath- Arba ^ Hebron: 41.
Köre bei d. Elensinien-Feier: 65flF.
Kgavlov (= Schädelstätte): 22.
I — Ursprung des Namens: 32 A. 42.
I Kjceuzprobewunderlegende: 18 f.
Lanka = Zeylon : 3.
Lapis manalis: 87 f.
Larika (Malva) = Zentrum d. Welt : 3.
j Madaba, Mosaikkarte von M. : 19
! A. 27.
i Malva = Zentrum Indiens u. d. Erde :
3 A. 2.
Medio-lanon: 92.
Medio-nemeton: 92.
Mekka = Erdnabel : 5 7 ff.
— = 'Mutter der Städte': 58.
— Höchstlage: 59.
— von der Sintflut verschont: 59.
Meridian von Ozene ( Arin) : 5 f. 7 A. 1 1 .
— von Zeylon (Lanka) : 5 f.
Meru := Erdnabel : 3.
70, 2] Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern, i i 3
Mohammed in Mekka erschaffen : 60.
— in Mekka bestattet: 63 A. 103.
— auf d. Berge A.bukais begra-
ben: 6.
Morija (Adamsage): 34 f. A. 51.
— = Berg der Thora: 35 A. 51.
— = Sinai: 36 A. 51.
— nahe dem Paradiese (Eden): 37.
mundus: 86 ff.
Nabel = Zentrum, Ausgangspunkt
aller Entwicklung: 17. S. auch
Omphalos u. Erdnabel.
— = Sitz der ir'eele etc.: 0,9.
— = Verwandtschaft: 100.
Nabelschnur = Wurzel [qi^cc): 17
A. 25; vgl. A. 23. 98; im Aber-
glauben: 99 f.
Ninive = Erdnabel (?) : 1 1 f.
Ninnionpinax: 64 f.
Nobiskrug etc.: 90.
Nod = Indien (?): 33 A. 45.
Omfalomanzia : 100.
Omphalos, s. auch Erdnabel.
— kupferner der südsibir. Turk-
stämme : i f.
— Jerusalems: 19 f. 21 f.
— (umbilicus) Roms: 20.
— von Antiochia: 20.
— von Alesandria, Nikaia, Byzanz:
20 A. 28*.
— in der Mitte des ayiog KijTCog
Jerusalems: 21 A. 29.
— heutiger in der griech. Kathe-
drale Jerusalems : 23. Abbildung
Vorrede S. VI.
— in der Adamlegcnde: 2 5 ff.
— = Altar im Tempel Jerusalems:
17 A. 24.
— Jerusalems = 'valde summa co-
lumna' im Zentrum d. Stadt;
i8f.
— von Pajjhos: 48.
Omphalos von Tyros (?): 48.
— der Samaritaner (Garizim): 49 ff.
— bei der eleusin. Mysterienfeier:
66 f.
— von Napata (Nubien): 79.
— von Siwa : 80 ff.
• von Athen: 63. 103.
— des Asklepioa = Grab?: 10 1.
— Attribut eines Dichters?: 102.
Omphaloi, problematische der Kel-
ten: 95 f.
Omphalosförmige Gräber: xoif.
— Grenzsteine: 102.
Orakelbaum von Sichem: 49 A. 87.
Ozene = Erduabel der Inder: 3 ff .
Palästina = Zentrum d. Welt: 13.
— von der Sintflut verschont: 40
A. 60.
— = 'Haus Jahwes': 48 A. 84.
— = Paradies: 3 6 f.
Paradies = Zentrum der Erde (?):
37 f-
— Höchstlage: 38 A. 57 u. 58. 39!
— = Ort der Erschaffung Adams :
39 A. 59.
— = Ort der Bestattung Adams:
39 A. 59.
— = Jerusalem (?): 39 A. 59.
— himmlisches: 46.
nixQa ayilccßxog: 66 f.
Polarstern: 59.
Präexistenz Jerusalems, Mekkas,
der Kaaba, des Schetija: 60.
Reunion (Insel) = Syrtinice (?): 8
A. 12.
Rhodos = o^cpaXog yfig auf d. Welt-
karte des Timosthenes: 59.
Riesen: 30 A. 38. 45 A. 78.
Samaritaner (Erdnabel der S. =
Garizim): 49 ff.
Säule im Zentrum Jerusalems : 1 8 ff.
1 1 4 W ii.uKi.M Hkinhku Roscmku: Dük Omphalosciedanke. [70, :
Scbattoiilosigkeit uui lilugsteu Tiigo
vorkehrt gedeutet: 21. 53 A. 94.
Öchetijn = d^cfctXbi yi)g u. (irund-
steiii <1. Wt'lt: 10 A. 15. 14
A.
50 f.
— = Basis des Thymiateiious (Al-
tars): 15 A. 22.
— = Kopfkissen Jakobs: 36 A. 51.
5 6 f.
— präexistent: 60.
Sem erbt den Schädel Adams und
das Land Jiidäa: 31.
Sichern = Erduabel (s. d.): 49 ff.
55ff-
— Hauptkoukuirent Jerusalems:
50 f.
— besitzt einen Jehovatempel: 51.
— = Himmelspforte: 54.
— Wohnsitz; Gottes: 54-
Sinnalu (Berg auf Celebes) = Erd-
nabel: 6 A. 9.
Sintflut verschont Paliistina: 40
A. 61.
— verschont die Kaaba: 40 A. 59. 52.
— verschont den Garizim: 52.
— verschont Jerusalem: 52. •
— verschont den Parnass: 52.
Siwa (Oase): 82 f.
Stufentürme d. Babylouicr = Sym-
bole des Kosmos: 10 f.
Suugschan = Erduabel der Chine-
sen: 1.
Syrtinice (Insel): 6 ff. A. 12.
Theben (ägyptisches) = Nabel
Ägyptens u. d. Erde (?): 82,
Thron (Wohnsitz Jahwes) = Jeru-
salem: A. 14.
= Bethel: 54.
Thymiatcrion im Tempel Jerusa-
lems = (itaaizctTOV oiQcevoi' xal
yfli: 15 A. 2 2.
TurkHtiiiunic Südsibiriens: 2 f.
Turm zu Babel = Erdnabcl (V): 9-
= Grundfeste der Welt: 10.
TvtkkÖv : 21 f.
Umbilicus orbis (= solis?): 7 A. 11.
— Italiae, Siciliae etc.: 90.
— Hiberniao: 91 f.
Vikramaditya: 3. 5.
■\Valpurgistag: 92 A. 141.
Weltberge == 6ftqpor?.ol y))s (V): u.
Weltkarten der Inder: 5.
— christl. des Mittelalters mit Je-
rusalem als Zentrum: 23 f. S.
auch unsere Titelvignette u. S.98.
— des Timosthenes mit Rhodos
als Zentrum: 59.
— der Araber mit Mekka als Zen-
trum: 5 8 f.
— der Athener mit Athen als Zen-
trum (?): 63 A. 108.
— o-riechische zu Herodots Zeit:
63 A. 107 f.
Windrosen: 100.
Zentralmeilensteine in Stiidten : 19 f.
Zeylon (= Lanka): 5!'.
— = Paradies: 6.
— (Adamsage daselbst): 5 f. 48-
— (verschiedene Namen) : 5. 6 A. lo.
Zinnalo (Berg iu Slam) = Erdnabel :
6 A. 9-
Zion = Nabel der Erde: 31 A. 40.
= Ort der Erschaffung Adaras :
34-
Zwölfgötteraltar in Athen: 63.
//i
Stelleiiregister.
Adamnanus (Arculfue) De loc. sanct.
p. 239 ed. Geyer: 18 f.
Aethicus Istr. ed. Wuttke p. 12
Kap. 21:7.
Aethicus Istr. ed. Wuttke p. 13
Kap. 23: 7.
Aethicus Istr. ed. Wuttke p. 80
Kap. 107: II.
Ambros. Explan, iu Luc. 10, 23:
29 A. 38.
Apocalypsis Mosis ed. Tischend. 21 :
37 A. 56.
Aristeasbrief ed. Wendl. p. 25, 8flF.:
12 A. 17.
Aristid. Pauath, 99: 62.
— Panegyr. 28: 76.
— Eleusin. p. 416 Dind.: 76 A. 123.
Athanasius, De pass. et cruce D.
208 A: 29 A. 38.
Augustin. sermo 71 : 29 A. 38
Baeda De loc. sauet, p. 307 ed.
Geyer: 19.
Basilius Seleuc. or. 38 p. 409 A:
29 A. 38.
Bereschit Rabba fol. XXXVII: 13 f.
Breviarius, Iter Hierosol. p. 154 ed.
Geyer: 33 A. 46.
Cato b. Fest. p. 154: 87 A. 135.
88 A. 137.
Chron. 29, 23: 10 A. 14.
Clem. Alex Strom. 5, 6 p. 665:
15 A. 22.
Curt. Ruf. 4, 7: 80.
Epimenides b. Plut. de def. or. i :
75 A. 121.
Epiphan. haeres. 46: 29 A. 38.
— adv. haeres. 41 : 32 A. 42.
I Ezech. 5, 5: 13.
— 38, 12: 13 A. 18.
Genes. 11, i ff.: 9.
Gervas. v. Tilbury, Otia imper. ed.
Liebr. p. i : 53 A. 94.
Giraldus Cambr. Topogr. Hibem.
3, 4: 63 A. 106. 91 f.
Hieronymus zu Ezech. 5,5: 13 A. 18.
— Epist. 46: 30 A. 38. 40.
— In Matth. 4, 27, 33: 4o.
— In Ephes. 5: 4o"f.
HorapoU. Hieroglyph. i, 21 : 84,
Isoer. Panegyr. 28: 76 f.
Jesaias 2, 2: 13.
— 28, 16: 15.
Joseph, bell. Jud. 3, 3, 5: 12 A. 17.
KoQTi KÖGuov = stob. ecl. I p. 302
M.: 84.
Oden Salomos 4, i — 4: 16.
Origenes b. Gramer, Catenae Graec.
Patr. I p. 235: 28 f.
Philoch. fr. 22: 69.
Philolaos fr. 13 Diels: 16 A. 23.
Plat. Menex. p. 237: 77.
Plut. Romul. II: 87 A. 134.
Rieht. 9, 37: 51-
Spelunca thesauror. ed. Bezold
p. 26 ff.: 27 f. 34 A. 47.
Tatian c. Gr. 8, 251 : 69.
Yarro de 1. 1. 7, 17= 61 A. 105.
5, 143: 87 A. 134-
Vindicianus cap. 16 ed. Wellm.:
17 A. 23.
Xenophon de vectigal. i: 62f.
8*
Bericlite über die Verhandlungen
ier Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Leipzig
Pliilologiscli-liistorisclie Klasse
70. Band. 1918. 3. Heft
Albert Köster
Prolegomena zu einer Ausgabe
der Werke Theodor Storms
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1918
Vorgetragen ffir die Berichte am 21. Oktober 19 18,
Das Manuskript eingeliefert am 21. Oktober 19 18.
Druckfertig erklärt am 3. Dezember 1918.
r.
Der Anlaß, daß ich ein so seltsames Thema hier behandle,
liegt darin, daß ich es für den Insel- Verlag übernommen habe,
Storms sämtliche Werke herauszugeben. Als ich dazu auf-
trefordert wurde, stellte ich mir vor, ich würde in zwei bis
drei Monaten die Anordnung machen, die besten Druckvor-
lagen bestimmen, eine Einleitung schreiben und die notwen-
diiJ-en Anmerkungen machen können. Und unterdessen ist
aus dem Unternehmen die Arbeit von anderthalb Jahren ge-
worden. Oft und immer wieder hab ich mir die Frage vor-
o-eleo-t. ob solch ein Aufwand nötig, ob er nicht zu ver-
meiden, ob er nicht vielleicht gar sinnlos sei. Und immer
wieder lockte mich wahrlich nicht, aber zwang mich die be-
gomieue Arbeit zu neuen knifflichen und kleinlichen Unter-
suchuncren. Sollte nicht das bisher Erreichte wertlos werden,
sollte nicht das Ganze in eine halbe Pfuscherei auslaufen,
so mußten unermüdlich erneute Beobachtungen angestellt
werden, die sich oft wochenlang nur um einzelne Wörter
und Wortformen drehten.
Das alles nun konnte natürlich nie im ganzen Umfang
mitgeteilt werden; aber selbst zusammenfassende Ergebnisse
oder Grundsätze, die bei der Herstellung des Textes befolgt
worden waren, konnte ich in die Ausgabe selbst nicht auf-
nehmen. Da aber unter ihnen manches doch von Interesse
ist, einiges uns Storms Künstlertum, seine Wortkunst und
die unermüdliche Arbeit an seinem Stil erläutern kann,
manches vielleicht auch künftigen Herausgebern andrer Dichter
der Neuzeit wertvoll erscheinen mag, so habe ich mich ent-
schlossen, Einzelnes aus meiner Werkstatt mitzuteilen, ehe
die Ausgabe, die 1919 erscheint, für sich selbst sprechen
muß. Zu einem System abrunden kann ich meine Beobach-
2 Albert Köster: [70, 3
timj^Pii natürlii'ii nicht; irli muß bir l)riiigcn, so wie sit' sich
.111 (las Zurallsinaterial der rinoii Ausgabe ankuü])f'en. Im
Mittelpunkte steht immer Storni und sein Werk, insonder-
heit seine Novellen; aber ich schcui» mich nicht, gelegentliche
Absohweifuugon zu machen uiul in kloinen eingeschobenen
Episoden Fragen 7ai erörtern, die auf den ersten Blick wenig
mit der Ilerstellung der Ausgabe v.u tun haben. Letzten
Endes schließt sich doch alles zur Einheit.
Die geplante Ausgabe wird acht Bände umfassen, deren
Anordnung die folgende ist: Der erste bringt nach einer Ein-
leitung, die manclierlei uugedrucktes Material verwerten wird,
zunächst die von Storni selbst nach strengster Kritik an-
erkannten und zusammengefaßten Gedichte. Da aber der
Künstler ihnen nie eine einheitliche Anordnung gegeben, son-
dern in den letzten Jahrzehnten in jeder neuen Ausgabe die
inzwischen entstandenen Gedichte meist nur bequem den bis-
herigen angereiht, dabei auch sonst mancherlei Unbegreif-
lichkeiteu begangen hatte, so habe ich, bestärkt von Dichtern
unsrer Tage, den Versuch gewagt, der Lyrik Storms eine
künstlerische Gruppierung zu geben. Den von dem Dichter
selbst für die Ausgabe letzter Hand bestimmten Gedichten
füge ich als eine zweite Abteilung dann diejenigen Lyrica an,
die schon irgendwann einmal von dem Dichter selbst oder
von andern in Druck gegeben waren und auf deren aber-
malige Mitteilung der Leser einer vollständigen Sammlung
der Werke Storms ein Anrecht hat. Von ungedruckten Ge-
dichten dagegen schienen mir nur drei der Bekanntmachung
wert; sie sind dieser zweiten Abteilung mit eingegliedert, die
ihrerseits die Gedichte in zeitlicher Reihenfolge bringt, weil
diese Lyrica zweiten Ranges nicht wegen ihres dichterischen
Wertes, sondern lediglich als Urkunden zu Storms künst-
lerischer Entwicklung Bedeutung haben. Den Schluß des
ersten Bandes machen die Novellen aus der Frühzeit und aus
den Potsdamer Jahren. Der zweite Band bringt, durchaus,
wie es der Dichter selbst gewünscht hatte, nach ihrer Ent-
stehungszeit, die Novellen, die in Heiligenstadt vollendet sind,
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Stokms. 3
der dritte, vierte und fünfte die des zweiten Husumer Auf-
enthalts, der sechste und siebente die Novellen aus Hade-
marschen. Nachdem der achte Band zunächst die autobio-
graphischen und kritischen Aufsätze Storms mitgeteilt hat,
wird er im übrigen ganz von der Masse der Anmerkungen
ausgefüllt. Sie sind absichtlich von den sieben Textbänden
getrennt worden. Wer ihrer bedarf, wird den achten Band
neben sich legen und braucht nie hin und her zu blättern;
wer reinen, ausschließlich künstlerischen Genuß erstrebt, wird
nur die sieben ersten Bände lesen. Die Anmerkungen bringen
keine Erläuterungen im gewöhnlichen Sinne, also keine künst-
lerischen Analysen oder Deutungen einzelner Stellen; hierfür
bot der achte Band nicht Raum genug. Wohl aber legen
sie mit möglichster Vollständigkeit das Material vor, das der
Forscher braucht oder der, der aus Liebe zu Storms Lebens-
werk der Entwicklung des Künstlers nachgehen will. Zu
jedem Gedicht wird die vollständige Textgeschichte, zum er-
heblichen Teil aus Handschriften, vorgeführt. Hier hat die
Mitteilung aller Lesarten nicht allzuviel Raum erfordert, da
Storni ja, selbst wenn man die später von ihm verworfenen
Gedichte mit hinzurechnet, nur ein einziges Bändchen, wie
Uhland, Mörike, Lenau, hinterlassen hat. Dagegen wäre
bei den Prosawerken ein ganzer sogenannter „Apparat"
ein Unding gewesen. Was Goethe in der Weimarer Aus-
gabe recht war, ist Storni darum noch nicht billig; die
Knrikatur einer Storni -Philologie soll nicht aufkommen.
Die Anmerkungen zu den Novellen legen sich daher einige
Beschränkung auf. Sie geben zu jedem Werk zunächst das
Wichtigste der Bibliographie, d. h. sie nennen die Drucke,
aus denen man dem Text, der im Lauf der Zeit von Aus-
gabe zu Ausgabe mehr entstellt ist, den alten reinen Klang
wiedergeben kann. Sie wollen aber vor allen Dingen Storm
als einen an sich und seinem Werk arbeitenden Dichter
zeigen. Deshalb machen sie auf die Konzeption, die Haupt-
motive, die Entstehungsgeschichte jeder Novelle aufmerksam,
auf die Sorgen des schaffenden Künstlers und auf die Mit-
4 Alrkrt Köster: [70i 3
arbeit dor Freuude. Vielfurh hiauclite diibei nur auf gedruckte
Werke hingewiesen zu werden, doch sind auch uns Hunderten
vt)n uugedruckton Briefen Mitteihingen gemacht. Vor allem
aber kam es auf Eines au: Storm hat manche .lugendwerke
von Grund aus umgearbeitet, andern durch Zusätze, Auslas
suugen, bessere Motivierung aufgeholfen. Diese Abweichungen
sind so voUstätidig und, wie ich hofife, so übersichtlich wieder
gegeben, daß abgesehen von unbeträchtlichen Kleinigkei-
ten — jeder Leser sich mit Hilfe der Anmerkungen die letzte
P'assuug einer Novelle in ihre erste wieder zurückübersetzen
kann. Um hier jede Mißdeutung fernzuhalten, sei aber das
Eine hinzugefügt: es handelt sich bei diesem Abdruck der
früheren Redaktion einzelner Novellen (Immensee, Hinzelmeier,
Im Schloß u. a.) nicht darum, Kladden oder alte verunglückte
Versuche wieder aus dem Papierkorb hervorzuholen, sondern
die Mitteilungen betreffen die älteren und jüngeren gedruckten
Fassungen, die der Künstler selbst auf verschiedenen Stufen
seiner Entwicklung als abschließend angesehen hat. Sie dem
Leser zum Vergleich vorzuführen, entspricht etwa dem Ver-
fahren des Sammlers und Erforschers von Werken der Graphik,
der auch den Künstler nicht im geringsten herabzusetzen
fürchtet, wenn er die verschiedenen Zustände der Platte ver-
gleichend neben einander legt und dadurch erst dem Ernst und
der Kraft künstlerischen Bemühens gerecht wird.
Da nun die Ausgabe für die Gedichte den vollständigen
Apparat bringen wird, so sollen sich die Ausführungen, die
ich hier beabsichtige, einzig mit der Technik der Herausgabe
der Novellen beschäftigen und mit der Verwertung des Ma-
terials, das zur Herstellung eines gesicherten Textes geführt
hat. Zitieren muß ich dabei leider nach der jüngsten Gesamt-
ausgabe, der während des Krieges und recht kriegsmäßig ge-
druckten Westermannschen fünfbändigen Ausgabe, weil sie
die verbreitetste ist und weil für die Herstellung der Druck-
vorlage mehrere Exemplare zerlegt werden mußten, was einzig
mit jenem Druck zu erm")glichen war. Storm hat Wester-
mann zum alleinigen Herausgeber der Sämtlichen Schriften
73, 3] Proleoomena zu einer Aus«, dku Wkrke Th. Storms. 5
gemaclit. 1868 erschien die erste, sechsbändige Ausgabe,
deren Druck der Dichter überwacht hat; sie erlebte eine
zweite, vom Dichter nicht korrigierte Auflage und wurde 1877
durch die Bände 7 bis 10 ergänzt. 1884 wurden 14 Bände
erreicht. Und dann konnte Storm noch die „Erste Gesamt-
ausgabe" in 19 Bänden vorbereiten, über deren Drucklegung
er starb. Vierzehn Bände dieser Ausgabe letzter Hand hat
der Dichter fertig vor sich gesehen. Die späteren Gesamt-
ausgaben, die in mehreren Auflagen erschienene achtbändige
seit 1897, die zu vier Bänden zusammengefaßte achtteilige,
1900, und die wohlfeile fünf bändige, seit 191 2 mehrfach auf-
gelegt, sind für die Textkritik ohne Bedeutung.
2.
Die für die Textgestaltuug der Stormscheu Novellen
Ausschlag gebenden Handschriften und Drucke sind:
1. Marthe und ihre Uhr. Erster Druck: Biernatzkis
Volksbuch auf das Jahr 1848, S. 54 — 59. — Veränderte
Fassung: Sommergeschichten und Lieder, Berlin 1851. —
Dann: Im Sonnenschein. Drei Sommergeschichten, Berlin
1854. — Sämtl. Schriften, 1868, Bd 5. — Gesammelte
Schi-iften, 1889, Bd. 5.
2. Im Saal. Erster Druck: Biernatzkis Volksbuch auf das
Jahr 1849, S. 65 — 70. — Dann in den „Somraergeschieh-
ten" (1851), S. 3 — 13, und „Im Sonnenschein" (vgl. Marthe
und ihre Uhr), S. 47 — 61. — Sämtl. Schriften, 1868,
Bd. 4. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 4.
3. Immensee. Alteste Fassung: Biernatzkis Volksbuch auf
das Jahr 1850, S. 56 — 86. — Auf die weißen Ränder
eines Exemplars dieses ersten Druckes schrieb der Dichter
seine Änderungen und Zusätze; Handschrift in Varel. —
Erster Druck der neuen Fassung: Sommergeschichten und
Lieder, Berlin 185 1, S. 45 — 95. — Erste Einzelausgabe:
Berlin, Duncker, 1852. — Quartausgabe (= 5. Auflage)
mit Illustrationen von Ludw. Pietsch und einer farbigen
Lithographie von Riefstahl, Berlin, Duncker, 1857. —
6 Ai.uKUT Kösiek: |7o, i
Säintl. Schriften, 1868, Bd. 2. — Ge.s. Scliriften, iSSy,
Bd. 2.
4. Posthumii. Erster Druck: Soiuiiiergeschichteu iiud Lieder,
Berlin 1851, S. 112 — 117. — Leicht überarbeitet: In der
Sommer-Mondnacht, Berlin 1860, S. 79—86. -- Sämtl.
Schriften, 1868, Bd. 5. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 5.
5. Der kleine Häwelmann. Erster Druck: Biernatzkis
Volksbuch auf das Jahr 1850, S. 25 — 28. — Sommer-
geschichten und Lieder, Berlin 1851, S. 24 — 30. — Über-
arbeitet: In der Sommer-Mondnacht, Berlin 1860, S. 87 — 95.
— Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 6. — Ges. Schriften,
1889, Bd. 0.
6. Ein grünes Blatt. Erster Druck: Argo. Belletristisches
Jahrbuch für 1854, hg. von Theod. Fontane und Franz
Kugler, Dessau 1854, S. 294 — 307. — Überarbeitete
Buch- Ausgabe: Ein grünes Blatt. Zwei Sommergeschich-
ten, Berlin, Schindler, 1855, S. 45 — 72. — Sämtl. Schriften,
1868, Bd. 3. — Ge.s. Schriften, 1889, Bd. 3.
7. Hinzelmeier. Altere Fassimg: „Stein und Rose. Ein
Märchen" in Biernatzkis Volksbuch auf das Jahr 1851,
S. 117 — 138. — Von der Umarbeitung liegen Bruchstücke
(II 91, 4—92, 4; 93, 1—96, 3; 98, 33 — 99, 44) handschrift-
lich in Varel. — Erste Buchausgabe: „Hinzelmeier. Eine
nachdenkliche Geschichte", Berlin, Duncker, 1857. —
Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 6.— Ges. Schriften, 1889, Bd. 6.
8. Im Sonnenschein. Handschrift im Besitz von Professor
Albei-t Köster in Leipzig. — Erster Druck: Im Sonnen-
schein. Drei Sommergeschichteu. Berlin, Duncker, 1854.
— Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 3- — Ges. Schriften, 1889,
Bd. 3.
9. Angelika. Erster Druck: Ein grünes Blatt. Zwei
Sommergeschichten. Berlin, Schindler, 1855, S. i — 44. —
Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 5. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 5.
10. Wenn die Apfel reif sind. Erster Druck: Argo. Album
für Kunst und Dichtung, Breslau 1857, S. 17 f. — Erste,.
schon leicht überarbeitete, Buch- Ausgabe: In der Sommer-
70, 3j Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 7
Mondnacht. Berlin, Schindier, 1860, S. 67 — 77. — SämtL
Schriften, 1868, Bd. 5. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 5.
11. Auf dem Staatshof. Handschrift: eine stark durch-
korrigierte erste Niederschrift in Varel, größtenteils von
Storms eigner Hand; einzelne Teile von weiblicher Feder,
Abschrift, nicht nach Diktat hergestellt. — Erster Druck:
Arge. Album für Kunst und Dichtung, 1859, S. 7 — 22. —
Erste, schon überarbeitete Buchausgabe: In der Sommer-
Mondnacht. Berlin, Schindler, 1860, S. 7 — 66. — Sämtl.
Schriften, 1868, Bd. 3. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 3.
12. Späte Rosen. Erster Druck: Argo. Album für Kunst
und Dichtung. Breslau, 1860, S. 31 — 36. — Buch- Aus-
gabe: Drei Novellen. Berlin, 1861, S. 29 — 50. — Sämtl.
Schriften, 1868, Bd. 2. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 2.
13. Drüben am Markt. Handschrift: nur erste, unermüdlich
korrigierte Entwürfe in Varel. — Erster Druck: Über
Land und Meer, Bd. 6 (1861), S. 582!, 598f- — Buch-
Ausgabe: Drei Novellen, Berlin 1861, S. 51 — 99. —
Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 5. — Ges. Schriften, 1889,
Bd. 5.
14. Veronika. Handschrift iu Varel. — Erster Druck: Drei
Novellen. Berlin 1861, S. i — 28. — Sämtl. Schriften,.
1868, Bd. 2. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 2.
15. Im Schloß. Handschrift mit einer Lücke (von I 79^ 23
bis 82, 7) in Varel. — Erster (äußerst nachlässiger) Druck:
Gartenlaube, 1862, N. 10. 11. 12. — Erste, bereits über-
arbeitete Buchausgabe: Münster, 1863, bei Brunn. —
Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 2. — Ges. Schriften, 1889,.
Bd. 2.
16. Am Kamin. Einziger Druck zu des Dichters Lebzeiten r
Viktoria. Illustrirte Muster- und Mode-Zeitung, Berlin
1862, N. 6 und 8, S. 46 f., 62 f. — Wiederabgedruckt und
erläutert von Fritz Böhme: Theodor Storms Spukge-
schichten usw.. Braunschweig und Berlin 191 3, S. 3 — 12.
17. Auf der Universität. Handschrift: Eine Kladde, die
bis I 323, 5 reicht, in Varel. — Erster Druck: Munster,
8 Ai.BKitr Köstkk: [70.3
Brunn, 1803. — Im <^loicluMi Vorlag i<^(>5 oiii an eiuignu
Stellon verbesserter Abdruck unter dem Titel „Lenore".
— Säratl. Sclirifton, 1868, Bd. 5. — Ges. Schrifton, 1889,
Bd. 5.
18. Unter dem Tannenbaum. Das Fragment einer stark
durclikorrigierten llandscbrif't, bis 1 124, 40 reichend, liegt
in Varel. — Erster Druck: Leipziger Illustrirte Zeitung,
Dezember 1862, N. 1016, S. 443 — 447. — Erste Buch-
ausgabe: Zwei Weihnachtsidyllen Illustrirt von Otto
Speckter und Ludwig Pietsch. Berlin 1865. — Sämtl.
Schriften, 1868, Bd. 3. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 3.
ig. Abseits. Handschrift: eine Kladde in Varel. — Erster
Druck: Leij)ziger Illustrirte Zeitung, 1868, N. 1068,
S. 450 54. — Buchausgabe (vereint mit der V(»rhergehen-
den Novelle): Zwei Weihnachtsidyllen. Berlin 1865. —
Sämtl. Schriften, i8d8, Bd. 3. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 3.
20. Die Regentrude. Handschrift: Die erste schnelle Nieder-
schrift, zum Teil unleserlich, mit Bleistift im Bett wäh-
rend einer Krankheit hergestellt, ist in Varel noch vor-
handen. — Erster Druck: Leipziger Illustrirte Zeitung,
1864 (30. Juli), S. 79 — 83. — Buchausgabe (mit „Bule-
manns Haus" und dem „Spiegel des Cyprianus" zusammen) :
Drei Märchen. Hamburg, Mauke, 1866 (die weiteren Auf-
lagen, unter dem Titel „Geschicliten aus der Tonne*',
Berlin, Paetel, seit 1873. Sie haben die kleinen Verbes-
serungen der Gesamtausgabe von 1868 nicht berücksich-
tigt). — Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 6. — Ges. Schriften,
1889, Bd. 6.
21. Bulemanns Haus. Handschrift: Erstes Konzept mit
Hunderten von Verbesserungen: in Varel. — Erster Druck:
Leipziger Illustrirte Zeitung, 1864 (24 Dez.), S. 447 bis
45^' und 4,54. — Buchausgabe wie bei der „Regentrude". —
Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 6. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 6.
22. Von Jenseit des Meeres. Eigenhändige Niederschrift
im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. — Erster
Druck: Westermauns Monatshefte, Bd. 17, S. 337—359
70, 3] Prolbgomkna zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 9
(Januar 1865). — Buchausgabe: Von Jenseit des Meeres.
Novelle. Schleswig, Schulbuchhandlung (Dr. C. Fr. Hei-
berg), 1867. — überarbeitet in den „Novellen'', Schles-
wig, Schulbuchhandlung, 1868, S. 93 — 191. — Sämtl.
Schriften, 1868, Bd. 4. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 4.
2^. Der Spiegel des Cyprianus. Erster Druck: Der Bazar,
Illustrirte Damenzeitung, hg. v. Jul. Rodenberg, 11. Jahrg.,
N. 48, S. 417 — 419 (23. Dez. 1865). — Buchausgabe:
wie bei der „Regentrude". — Sämtl. Schriften, i8ö8,
Bd. 6. — Ges. Schriften, 1889. Bd. 6.
24. In St. Jürgen. Erster Druck: Deutsches Kiinistl er- Album,
hg von W. Breidenbach und L. Bund, Bd. 2, Düssel-
dorf o. J. [auf 1868], S. 74—85. — Buchausgabe: In
St. Jürgen von Theod. Storm, Schleswig, Schulbuchhand-
lung (Heiberg) 1868. — Überarbeitet (zusammen mit
„Von Jenseit des Meeres'' und „Eine Malerarbeit''): No-
vellen von Theod. Storm, Schleswig, Schulbuchhandlung,
1868. — Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 4. — Ges. Schriften,
1889, Bd. 4-
25. Eine Malerarbeit. Handschrift: eine sehr flüchtig ge-
schriebene Kladde in Varel. — Erster Druck: Wescer-
manns Monatshefte, Bd. 2^, S. i— 17 (Okt. 1867). —
Buchausgabe, leicht überarbeitet, mit einigen Zusätzen: No-
vellen von Theod. Storm, Schleswig, Schulbuchhandlung
(Herrn. Heiberg) 1868. — Sämtl. Schriften, 1868, Bd. 4.
— Ges. Schriften, 1889, Bd. 4.
26. Lena Wies. Erster Druck: Lena Wies. Ein Gedenk-
blatt. Deutsche Jugend, Bd. i (1873), S. 71— 75- —
Novellen und Gedenkblätter, Braunschweig 1874, S. 61
bis 81. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 8.
27. Der Amtschirurgus. — Heimkehr. Handschrift (eigen,
händig) im Goethe- und SchiUer-Archiv in Weimar. —
Erster Druck: „Zerstreute Capitel", Westermanns Monats-
hefte, Bd. 29, S. 487—494 (Febr. 187 1). — Buchausgabe:
Zerstreute Kapitel, Berlin 1873, S. 1 — 29. — Ges. Schrif-
ten, 1891, Bd. 8.
lü
Al.UKHT KÖSTEU: [7°! 3
28. Eine Halligt'iihit. Koiiiscbrift (der Anfang von fremder
Hand) in Varel. — Eister Drnck: „Zerstreute Cai»itcl",
AVesterninuns Monatshefte, Bd. 31, S. 81 — 94 (Oktober
187O. — ]^nchausgal)e: Zerstreute Kapitel, Berlin 1873,
S. 41—92. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 8.
29. Draußen im Heidedorf Zwei Handschriften: u) in
Varel Bruchstück einer Reinschrift und Entwürfe, b) im
Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar Druckvorlage,
nicht durchweg eigenhändig, daher nur für den Wortlaut»
nicht für die Wortformen maßgebend. — Erster Druck:
Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Jul.
Rodeuberg, Bd. 10, S. 129 — 151. — Buchausgabe: Zer-
streute Kapitel, Berlin 1873, S. 113 — 173. — Ges. Schrif-
ten, 1891, Bd. 7.
30. Zwei Kuchenessev der alten Zeit. Erster Druck:
„Zerstreute Capitel" Wcstermanns Monatshefte, Bd. 31,
S. 78 — 81 (Okt. 1871). — Buchausgabe: Zerstreute Kapitel,
Berlin 1873, S. 175— 188. — Ges. Schriften, 1 891, Bd. H.
31. Beim Vetter Christian. Handschrift: Anfang und Ende^
Oktavblatt i und 55, der Druckvorlage im Goethe- und
Schiller-Archiv in Weimar. — Erster Druck: Der Salon
für Literatur, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Jul. Roden-
berg. Bd. i, Leipzig 1874, S. 129—148. — Buchausgabe:
Novellen und Gedenkblätler, Braunschweig 1874, S. 83
bis 137. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 7.
^2. Von heut' und ehedem. Erster Druck: „Zerstreute
Capitel'', Westermanns Monatshefte, Bd. 35, S. 75 — 83
und 141.— 148 (Okt. und Nov. 1873). — Buchausgabe:
Novellen und Gedenkblätter, Braunschweig 1874, S. 139
bis 200. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 8.
3^. Viola tricolor. Erster Druck: Westermanns Monats-
hefte, Bd. 35, S. 561 — 576 (März 1874). — Buchausgabe:
Novellen und Gedenkblätter, Braunschweig 1874, S. i — 60.
— Ges. Schriften, 1891, Bd. 7.
34. Pole Poppenspäler. Handschrift in Varel. — Erster
Druck: Deutsche Jugend, hg. v. Jul. Lohmeyer, Bd. 4
70, 3] ProleCtOmbna zu einer Ausct. der Werke Th. Storms. i i
(Leipzig 1874), S. 129—143, 161 — 171. — Buchausgabe:
Waldwinkel. Pole Poppenspäler. Novellen. Braunschweig
1875. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 9.
35. Waldwinkel. Handschrift (bis III 44, 24) in Varel
Überschrift „Im Narrenkasten." — Erster Druck: Deutsche
Rundschau, Bd. i, S. 94—131 (Oktober 1874). — Buch-
ausgabe: Waldwinkel. Pole Poppenspäler. Novellen. Braun-
schweig 1875. — Ges. Schriften, 1891, Bd. 9.
36. Ein stiller Musikant. — Erster Druck: Westermanns
Monatshefte, Bd. 38, S. 449—464 (August 1875). — Buch-
ausgabe: Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause
links. Drei Novellen. Braunschweig 1876, S. i — 60. — Ges.
Schriften, 1891, Bd. 10.
37. Psyche. Erster Druck: Deutsche Rundschau, Bd. 5,
S. I — 21 (Oktober 1875). — Buchausgabe: Ein stiller
Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links. Drei No-
vellen. Braunschweig 1876, S. 61 — 124. — Ges. Schrif-
ten, 1891, Bd. 10.
38. Im Nachbarhause links. Reste der ersten (überholten)
Niederschrift in Varel. — Erster Druck: Westermanns
Monatshefte, Bd. 39, S. i — 16 (Oktober 1875). — Buch-
ausgabe: Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause
links. Drei Novellen. Braunschweig 1876, S. 125 — 186.
— Ges. Schriften, 1891, Bd. 10.
39. Von Kindern und Katzen. Erster Druck: Deutsche-
Jugend, hg. V. Jul. Lohmeyer, Bd. 9, S. 20 — 23. — Ges.
Schriften, 1891, Bd. 8.
40. Aquis submersus. Reinschrift in Varel. — Erster
Druck: Deutsche Rundschau, Bd. 9, S. i — 49 (Oktober
1876). — Buchausgabe: Berlin 1877. — Mit überprüftem
Text erschien die Novelle Berlin 1886 in der Sammlung
„Vor Zeiten" (Zusammenfassung von 5 Novellen Storms).
— Ges. Schriften 1889, Bd. 11.
41. Carsten Curator. Erster Druck: Westermanns Monats-
hefte, Bd. 44, S. 1—38 (April 1878). — Das Jahr 1878
brachte dann noch zwei Buchausgaben: a) Neue Novellen
12 Al.BKUT KöSTKli: [70,5
(Henate. Carsten Curator), Berlin 1878; b) Carsten Curatoj',
Berlin KS78. — Ges. Schriften, i88c), Bd. 12.
42. Renate. Khuldejuipiere mit zalilloseu Verbesseruut^eri
Heiden in Varel; .sie l)ieteu aber nichts für den endj^ültigen
Text der oft iil)erar))eiteten Novelle. — Erster Druck:
Deutsche Huudschau, Bd. 15, S. 1—42 (Ai)ril 1878). —
Z>vei Buchausgaben im Jahr 1878: a) Neue Novellen
(Keiuite. Carsten Curator), Berlin 1878; b) Ifennte, Berlin
1878. — 1886 in der Sammlung „Vor Zeiten" (vgl. Aquis
submersus, N. 40). — Ges. Schriften, 188g, Bd. 12.
43. Zur Wald- und Wasserfreude. Erster Druck: Deutsche
Rundschau, Bd. 18, S. 331 — 368. -- In der Buchausgabe
vereinigt mit „Eekenhof und „Im Brau*^r- Hause" üIs
„Drei neue Novellen", Berlin 1880; nur leicht auf den
Stil hin überarbeitet. - Ges. Schriften, 1889, Bd. 13.
44. Im Brauerhause. Eine im Wortlaut vielfach überholte
Kladde in Varel. — Erster Druck mit der Überschrift
„Der Finger": Westermanns Monatshefte, Bd. 46, S. i — 18
(April 1879). — Buchausgaben: a) Zusammen mit „Zur
Wald- und Wasserfreude" und „Eekenhof" in „Drei neue
Novellen", Berlin 1880; b) zusammen mit „Eekenhof",
Berlin 1880. — Ge.s. Schriften, 1889, Bd. 14.
45. Eekenhof. Erster Druck: Deutsche Rundschau, Bd. 21,
S. I — 28 (Oktober 1879). ~ Buchausgaben: a) Zusammen
mit „Im Brauerhause", Berlin i88ü; b) zusammen mit
„Im Brauerhause" und „Zur Wald- und Wasserfreude" in
„Drei neue Novellen", Berlin 1880. — 1886 in der Samm-
lung „Vor Zeiten"; vgl. „Aquis submersus" (N. 40). —
Ges. Schriften, 1889, Bd. 13.
46. Die Söhne des Senators. Erster Druck: Deutsche
Rundschau, Bd. 25, S. 1 — 28 (Oktober 1880). — Buch-
ausgaben: a) Einzelansgabe, Berlin 1881; b) zusammen
mit „Der Herr Etatsrat", Berlin 1881. — Ges. Schriften,
1889, Bd. 14.
47. Der Herr Etatsrat. Erster Druck: Westermanns Mo-
natshefte, Bd. 50, S. 529 — 557. — Buchausgabe: Der
70, ;?] Pkolegomena zu einer Ausg. dek Werke Th. Storms. 13
Herr Etatsrat. Die Söhne des Senators, Berlin r88i.
— Ges. Schriften, 1889, Bd. 18.
48. Hans und Heinz Kirch. — Erster Druck: Wester-
manns Mouatsheite, Bd. 53, S. i — 39 (Oktober 1882J. —
Buchausgabe: Zwei Novellen. Schweigen. Hans und Heinz
Kirch. Berlin 1883, S. 119 — 241, — Ges. Schriften, 18S9,.
Bd. 15.
49. Schweigen. Erster Druck: Deutsche Rundschau, Bd. 35^
S. 161 — 202 (Mai 1883). — Buchausgabe: Zwei Novellen.
Schweigen. Hans und Heinz Kirch. Berlin 1883, S. 3
bis 118. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 17.
50. Zur Chronik von Grieshuus. Erster Druck: Wester-
mauns Monatshefte, Bd. 57, S. i — 24 und 149—175
(Oktober und November 1884). — Buchausgabe: Berlin
1884. — 1886 in der Sammlung „Vor Zeiten", S. 65 bis
205: vgl. „Aquis subniersus" (N. 40). — Ges. Schriften,
1889, Bd. 16.
51. Es waren zwei Königskinder. Erster Druck: Vom
Fels zum Meer, Leipzig, Spemann, 1884 5, I, S. 256—269,,
unter dem Titel „Marx". — Buchausgabe mit dem neuen
Titel, Berlin 1888. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 18.
52. John Kiew'. Erster Druck unter dem Titel „Eine stille
Geschichte'': Deutsche Rundschau, Bd. 42, S. 321 — 358
(März 1885). — Buchausgabe: John Riew'. Ein Fest auf
Haderslevhuus. Zwei Novellen, Berlin 1885. — Ges.
Schriften, 1889, Bd. 18.
53. Ein Fest auf Haderslevhuus. Handschrift in Varel. —
Erster Druck mit dem Titel „Noch ein Lembeck^': Wester-
raanns Monatshefte, Bd. 59, S. 80 — 117. — Dann noch
im Jahre 1885, besonders am Anfang und Ende, kräftig
überarbeitet und mit dem Titel „Ein Fest auf Haders-
levhuus" versehen. Bester Druck: die Paetelsche Miniatur-
ausgabe, Berlin 1886. Daneben: John Riew'. Ein Fest
auf Haderslevhuus. Zwei Novellen. Berlin 1885. — 1886
in der Sammlung „Vor Zeiten"; vgl. „Aquis submersus"'
(N. 40). — Ges. Schriften, 1889, Bd. 17.
14 AiJiEKr Köstkk: [70,3
54. Bütjor Basi-h. Handschrift in \nvv\. — ErstiT Druck
mit dem Titel ,,Aus engeu Wänden. Eine (iesclüclite",
Deutsche Rundschau, Bd. 49, S. 1—37 (Oktober 1886).
— Buchausgaben: a) Bei kleinen Leuten. Zwei Novellen.
Berlin 1887, S. i — 99; b) (minderwertig, nocli stärker
mit dem Rundschau-Druck übereinstimmend) BötjerBasch.
Eine Geschichte. Berlin 1887. — Ges. Schriften, 1889,
Bd. 16.
^5. Ein Doppelgänger. Erster Druck: Deutsche Dichtung,
hg. V. K. E. Frauzos, Bd. i (1887), S. 2-9. 34f. 58—63.
82 — 87. 106 — III. 130 — 139. — Überarbeitete Buch-
ausgabe: Berlin 1887. Nochmals leicht überarbeitet: Bei
kleinen Leuten. Zwei Novellen (Bötjer Basch. Ein Doppel-
gänger). Berlin 1887, S. loi — 208. — Ges. Schriften,
1889, Bd. 15.
56. Ein Bekenntnis. Erste (überholte) Niederschriften und
Notizen in Varel. — Erster Druck: Westermanns Monats-
hefte, Bd. 63, S. 1—28 (Oktober 1887). — Buchausgabe:
Berlin 1888. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 19.
57. Der Schimmelreiter. Erster Druck: Deutsche Rund-
schau, Bd. 55, S. I — 34. 161 — 203. — Buchausgabe:
Berlin 1888. — Ges. Schriften, 1889, Bd. 19.
Diese rund 220 Handschriften und Drucke sind bis auf
den Buchstaben durchgearbeitet worden. Dazu kommen noch
die erhaltenen Druckbogen mit Stormschen Korrekturen; sie
liegen in Varel und im Nachlaß Erich Schmidts.
3-
Zitiert werden die Novellen unter folgenden Abküi-zungen :
Abs.: Abseits.
Amtsch.: Der Amtschirurgus — Heimkehr.
Ang.: Angelika.
Apf.: Wenn die Äpfel reif sind.
Aq.: Aquis submersus.
Basch: Bötjer Basch.
Bek.: Ein Bekenntnis.
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 15
Blatt: Ein grünes Blatt.
Brauerh.: Im Branerhause.
Bul.: Bulemanns Haus.
Carst.: Carsten Curator.
Christ.: Beim Vetter Christian.
Cypr.: Der Spiegel des Cyprianus.
Dopp.: Ein Doppelgänger.
Eek.: Eekenhof.
Et.: Der Herr Etatsrat.
Griesh.: Zur Chronik von Grieshuus.
Had.: Ein Fest auf Haderslevhuus.
Hall.: Eine Halligfahrt.
Häw.: Der kleine Häwelmann.
Heid.: Draußen im Heidedorf.
Heut': Von heut' und ehedem.
Hinz.: Hinzelmeier.
Imm.: Immensee.
Jens.: Von Jenseit des Meeres.
Jürg.: In St. Jürgen.
Kam.: Am Kamin.
Kind.: Von Kindern und Katzen.
Kirch: Hans und Heinz Kirch.
Kön.: Es waren zwei Königskinder.
Kuch.: Zwei Kuchenesser der alten Zeit.
Mal.: Eine Malerarbeit.
Markt: Drüben am Markt.
Marthe: Marthe und ihre Uhr.
,Mus.: Ein stiller Musikant.
Nachb.: Im Nachbarhause links.
Popp.: Pole Poppenspäler.
Posth.: Posthuma.
Psyche: Psyche.
Reg.: Die Regentrude.
Ren.: Renate.
Riew': John Riew'.
Rosen: Späte Rosen.
Phil.-hist. Klaase 1918. Bd. I.XX. j. 2
i6 Ai,nKRT KösTKu: (70.3
Saal: Im Saal.
Schimni.: Der SchimnielreiU'r.
Schloß: Im Schloß.
Schw.: Schweigen.
Seil.: Die Söhne des Senators.
Sonn.: Im Sonnenschein.
Staatsh.: Auf dem Staatshof.
Tann.: Unter dem Tannenbaum.
Univ.: Auf der Uuiver.>^ität
Vf^r.: Veronica.
Viel.: Viola tricolor.
Waldw. : Waldwinkel.
Wies: Lena Wies.
WWfr : Zur Wald- und Wasserfreude.
4-
Die Handschriften von Storms Novellen haben sehr ver-
schiedenen Wert, weil der Dichter, abgesehen von wenigen
Ausnahmen, stets mehrere Niederschi'iften anfertigte und erst
durch ein so umständliches Verfahren seine Dichtungen zur
Vollendung erhob. Er arbeitete sehr sorgfältig, aber langsam.
Nur wenige Erzählungen, 2. B. die „Regentrude", „Pole Poppen-
späler", „Es waren zwei Königskinder", hat er schnell in Einem
Zuge hingeschrieben. Sonst hat er stets viel Zeit gebraucht.
Im Durchschnitt erforderte eine größere Novelle in seinen
späteren Lebensjahren die sämtlichen fünf- bis sechsstündigen
Vormittage von vier bis sechs Monaten, Sein Verfahren war
dem ähnlich, das uns von Ibsen bei seinen Dramen berichtet
wird. Er besjann häufig damit, Bruchstücke des neuen Werkes
auf Zettel zu schreiben; Reste von Amtsakten, wie sie noch
erhalten sind, Rückseiten von Briefumschlägen, Umhüllungen
von Kreuzbandsendungen bedeckten sich mit Einfällen und
Skizzen. Aus ihnen erwuchs die erste Niederschrift, meist
auf eng gefüllten Folio Bogen. An diesen wurde dann zu-
erst ins Große geändert, indem dort, wo die Erzählung zu
geschwind vorwärts eilte oder eine Unklarheit blieb, ein ver-
70, 3j Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 1 7
weilender Einschub eingelegt wurde, andere Stellen eine er-
barmungslose Kürzung erfuhren, so daß bisweilen eine halbe
Seite zu einem einzigen Satze zusammenschmolz.
Auch ein andres Verhalten kommt vor: Storm geriet, zu-
mal in der Frühzeit, leicht in die Gefahr zu beschreiben; be-
sonders Landschafts- oder sonstige Naturschilderungen hielten
den Gang der Erzählung auf; sie dienten nicht immer, wie in
„Wald Winkel", dem künstlerischen Zweck, zu versinnlichen,
wie die handelnden Menschen ganz dem Bann des Gartens
oder des Waldes verfallen, sondern sie wurden oft Selbst-
zweck. Denn Storm mißbilligte die verweilende Sehilderuno-
nicht durchweg, sondern hat sie z. B. bei Stifter gern ver-
teidigt. Ihn selbst aber rief ein gesundes, richtiges Gefühl
immer wieder auf, solche lastenden Einschiebsel aus der be-
wegten Darstellung zu entfernen. Und da ist, z. B. bei der
Novelle „Im Sonnenschein", sein besserndes Verfahren sehr
bezeichnend. Hatte er der Versuchung nicht widerstanden,
solch eine stillstehende Beschreibung irgendwo einzuschalten,
so verwarf er sie bei der Überarbeitung nicht völlig, sondern
löste sie in ihre Elemente auf Er rettete die Bestandteile
der Schilderung hierhin und dorthin, wo sie in ihrer Ver-
einzelung nicht mehr hemmend wirkten, und schob die Sätze
wie bunte Steine eines Mosaiks versuchsweise an diese oder
jene Stelle, bisweilen mehrmals wechselnd, bis jeder dort stand,
wo er augenblicklich die erwünschteste Wirkung tat.
Erst aus solchen Vorarbeiten sincr dann die zweite Ab-
Schrift hervor, die in einzelnen Fällen abermals von Ver-
besserungen wimmelte. Karl Emil Franzos (Deutsche Dich-
tung, Bd. 5, S. 30) hat den Anblick solch einer Handschrift
beschrieben, in der der unverdrossene Künstler oft für ein
einzelnes Wort drei-, viermal nach immer neuem Ersatz
suchte. Gewöhnlich aber war das letzte Ergebnis eine pein-
lich saubere Niederschrift auf Briefbogen in Oktavformat.
Das waren dann die Druckvorlagen; und sie sind, wie meine
eifrigen Umfragen festgestellt haben, leider zum größten Teil
in den Druckereien oder Redaktionen vernichtet worden. Was
i8 Ai.BEUT Köstbr: \7°' ^
sich in Varel m der treuen Oblint von Fräulein Gertrud Storni
oder in Privatbesitz findet, sind nieistcus Kladden.
Nun könnte wohl einer fraoeu: was ist denn damit, ab
gesehen von dem Pietäts- und Autog-raphenwert, so viel ver-
loren? Der Druck ist doch sicher besser als die Vorlage, zu-
mal wenn sich sogar bisweilen die Korrektur- oder Kevisious-
bogeu erlialten haben. Und wenn gar der Dicliter sel])st
später nochmals seine Novellen überarbeitete, so sind doch
die iüufi-sten authentischen Drucke die besten. Aber das ist
nicht unbedingt richtig. AVir werden an einer Menge von
Fällen sehen, daß nicht nur der Setzer, soudcrn sogar der
Dichter selbst viele gute Lesungen seiner Handschriften bei
der Drucklegung überselien hat. Wo also dorn Herausgebe)-
Zweifel aufstoßen, ob die Drucke, selbst w^o sie sämtlich mit
einander übereinstimmen, das Richtige bringen, und ob er
eine Wendung in den Buch -Ausgaben dem Dichter zutrauen
dai-f oder nicht, da hat er die Pflicht, auf die Reinschrift, ja,
soo-ar gelegentlich, aber nur mit großer Vorsicht und nur
mit voller Kenntnis von Storms Schreibart und Sprach-
orebrauch, auf die Kladde zurückzugehn. Und nun kommt
hinzu: Der Fall, den ich soeben annahm, daß nämlich die
Drucke sich völlig decken, d. h. nicht nur so ungefähr, son-
dern auf größere Strecken bis in die Wortformen mit einander
übereinstimmen, kommt sehr selten vor.
5-
Das führt uns einen Schritt weiter, zu einer Betrachtung,
die auf den ersten Blick vielleicht überflüssig erscheint, in
die ich auch ein paar Dinge mit einbeziehe, die wohl ent-
behrlich sind, die aber doch zuletzt sich für die Textkritik
als wichtig erweist. Überblickt man nämlich den vorhin mit-
geteilten Auszug aus der Bibliographie der Stormschen No-
vellen, so sieht man, daß dieser Dichter, abgesehen von seiner
letzten Zeit, wo er im wesentlichen (aber nicht ausschließ-
lich) bei Westermann in Braunschweig und Gebr. Paetel in
Berlin seine Stätte fand, von einem Verleger zum andern
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. i g
wanderte. Seine Bücher erschienen bei Schwers in Kiel,
Dimcker in Berlin, Schindler in Berlin, Brunn in Münster,
Mauke in Hamburg, Heiberg in Schleswig. Und betrachtet
man gar die Zeitschriftendrucke, so gewahrt man, außer
den Verlagsanstalten, die einzehie Gedichte veröffentlichten,
Schwers in Kiel (für Biernatzkis Volksbücher), Gebr. Katz in
Dessau und Trewendt in Breslau (für die Argo), Keil in
Leipzig (für die Gartenlaube), Weber in Leipzig (für die
Illustrierte Zeitung), den Bazar- Verlag in Berlin, Haliberger in
Stuttgart (für „Über Land und Meer"), Payne in Leipzig (für
den „Salon"), Dürr in Leipzig (für die „Deutsche Jugend"),
Spemann in Leipzig (für „Vom Fels zum Meer"), Bong in
Stuttgart (für die „Deutsche Dichtung").
In Storms Jugend hing " dies Suchen und Tasten damit
zusammen, daß er noch wenig bekannt war und seine stillen
Büchlein von unscheinbarem Format nicht als gauo-bare Ver-
lagsartikel galten. Umgekehrt bewarben sich in seinem Alter,
als er der angesehene Dichter war, die Herausgeber und Ver-
leger vieler Zeitschriften sehr angelegentlich um seine Werke.
Daß er aber auch in seiner mittleren Lebenszeit fast jede
Novelle, ehe sie als Buch erschien, erst einer Zeitschrift ein-
reichte, hatte einen doppelten Grund. Einerseits war damals
das Reklamewesen noch bei weitem nicht so ausgebildet, wie
heute; ein Dichter, der bekannt werden wollte, mußte viel-
fach für das Zustandekommen von Kritiken selbst sorgen
N'och wirksamer aber war es, wenn ein Schriftsteller, und
gar ein Anfänger, durch eine Zeitschrift den Lesern vor-
gestellt wurde. Anderseits waren diese Erstdrucke vor der
Buchausgabe eine wichtige Einnahmequelle, auf die Storm
den größten Wert legen mußte. Denn er war Vater vieler
Kinder, denen aUen er eine ausgezeichnete und kostspielige
Erziehung geben ließ; und er liebte es, ohne irgend welchen
Luxus zu treiben, doch ein gastfreies Haus zu halten, das
wiederum nicht geringe Mittel erforderte.
Und hier ist es wohl erlaubt, ehe wir zu unserm Wege
zurückkehren, eine kleine Abschweifung zu machen. Storm
20 Ar.BERr Köster: * [70. 3
klagt sein ganzes Leben hiiidurcli. wie wenig man seine Ge-
dichte und Novellen kaufe, wie selten eine neue Auflago n()tig
sei Am 30. Novemher 1879 schreibt er au Eiicii Schmidt:
,, Außer 'Immonsee' und ein paar älteren Sachen kenne ich
l)ei meinen l'rodnkteu keine zweite Auflage, obgleich genug
von mir und au mich geredet und geschrieben wird. Ich
glaube, meine Bücher sind nicht dick genug; ich bin mit der
unglückseligen Kürze behaftet." Und am 28. November 1884
an denselben: „Auflagen macheu von meinen Sachen nur, die
vor wenigstens zwanzig Jahren erschienen sind." Hört man
solche Worte, so ist man geneigt, sich einen darbenden Dichter
vorzustellen. Aber dieses irrige Phantasiebild muß richtig
gestellt werden; und es ist daher gut, sich einmal eine Aus-
wahl der Einnahmen Storms. besonders auch der Zeitschriften-
honorare, zu vergegenwärtigen. Bei der Zusammenstellung
gebe ich die Belegstellen nur dort an, wo ich aus unge-
drucktem Material schöpfe; alle übrigen Notizen stammen aus
den gangbaren Briefsammlungen.
Im Anfang, das muß man zugestehen, ging es Storm
als Schriftsteller schlecht. Für die erste Auflage der Ge-
dichte erhielt er keinen Heller, und für das Honorar der
zweiten (50 Taler) mußte er den liegen gebliebenen Rest der
ersten aufkaufen. Erst die dritte brachte ihm das erste Geld
ein, 100 Taler; für die fünfte, 1875, forderte er 185 Taler
(an Gebr. Paetel, 20. Juni 1874). Bescheiden waren in den
Fünfziger- und Sechzigerjahren auch die Novellenh onorare.
Der Argo- Druck von „Ein grünes Blatt" brachte go Taler;
der „Hinzelmeier" bei Biernatzki 2V2 Friedrichsd'or, in der
Schlesischen Zeitung 5 P'riedrichsd'or, in der Buchausgabe
60 Taler; von „Immensee" jede Auflage 50 (später 80) Taler;
für die Novelle „Im Schloß" hat die Garteulaube erst mit
Hängen und Würgen 100 Taler bewilligt (an Pietsch 16. De-
zember 1S61); „Auf der Universität" war gar nicht unterzu-
bringen, weil keine Zeitschrift die geforderten 180 Taler geben
woUte; „Abseits", „Uuter dem Tannenbaum", „Die Regen-
trude" honorierte die Illustrierte Zeitung mit je 100 Talern.
70, 3] Proi.egomena zu einer Ausg. dek Werke Th. Storms. 2 i
Noch am 2 Dezember 1867 klagte Storm seinem Sohn Haus:
„Ich kann nicht zum Lohn meiner Arbeit kommen'", obwohl
doch damals schon Westermanii sich des Dichters angenom-
men uud für „Von Jeuseit des Meeres" und „Eine Maler-
arbeit" je 150 Taler gezahlt hatte; „Ist doch etwas", schrieb
Storm am 22. November 1864 an Pietsch. Bis dahin also
war für ihn der Abdruck der erzählenden Dichtungen in Zeit-
Schriften im wesentlichen nur ein Mittel, in die Öffentlich-
keit zu dringen, noch keine erhebliche Einnahmequelle.
Aber seit der Mitte der Siebzigerjahre ging es aufwärts
Das ist die Zeit, über die uns noch einmal eine besondere
Monographie beschert werden muß, die Zeit, in der aus der
Niederung der Familien und Damen- und Moden-Blätter sich
die „Deutsche Rundschau" herausarbeitete und durch ihr Vor-
bild andre Unternehmungen mit emporriß. Die Entwickluno"
dieser Zeitschrift ist ein Ruhmesblatt in der "Geschichte des
damaligen Verlages; die vornehmsten Mitarbeiter waren nur
durch große Energie und ansehnliche Geldopfer zu gewinnen.
Und das kam auch Storm zugute. Er fühlte sich plötzlich.
Aus den Briefen an Heyse uud andere klingt es uns entgegen.
Wenn alle Welt damals klagte, daß die Erzählerkunst verfalle
und daß es nur wenige Novellisten ersten Ranges gebe, so
wußte er, daß er zu dieser kleinen erlesenen Schar gehöre.
Daraus aber leitete er nun auch das Recht ab, wie die an-
gesehenen Maler jener Jahre höhere Honorare zu fordern
Das war jetzt Ehrensache, abgesehen von der Rücksicht auf
die Sicherstellung der Seinen. Und nun schnellten auf ein-
mal bei ihm die Einnahmen in die Höhe; für den Rundschau-
druck von „Aquis submersus" forderte und erhielt er 1876
schon 1800 Mark, für den von „Garsten Curator" (1877)
3000 Mark, für „Renate" (1878) 3000 Mark (Briefe an
Gebr. Paetel). Aber da war auch der Gipfel erreicht. Selbst
der opferwilligste Verleger konnte so nicht fortfahren; der
Dichter mußte einlenken. Es wurde für die Zukunft eine
Vereinbarung getroffen, die dem Bucherfolg Stormscher No-
vellen einigermaßen entsprach; denn der war noch immer
2 2 Ai.nKur Köstkk: \7^> i
uicht grtiß. luiiut'iliiu bliehcii aucli in Zukuiiil die Zeil
schrifteuhoiiorcire, die alljiiliilitjh nach Husum uud Hadenisir-
scheu wuuderton, stiittlicli genug, auch von WesteruutuuH
Seite: „Der Finger" (1879) 1300 Mark; „Hans uud Hein/
Kirch" (1882) 3100 Mark (an Erich Schmidt, 27. Januar 1884);
,Zur Chronik von Grieshuus" (1884) 2400 Mark; „.lohn
Kiew"' (1885 IQ 60 Mark.
6.
Nun entstellt aber die Frage: Hat diese mehrfache Druck
legung eines und desselben Werkes bei verschiedenen Ver-
legern, hat das Hin und Her zwischen Zeitschriften- und
Buchdruck Eintluß auf den Text der Novellen gehabt oder
nicht? Konkret ausgedrückt: Hat Storm die Handschriften
seiner Werke auf Gnade und Ungnade seinen wechselnden
Verlegern oder gar den Setzern überlassen, oder hat er selbst
Korrektur gelesen?
Über seine frühesten Werke, die er Biernatzkis Volks-
buch, der Arge, der Gartenlaube, dem Bazar usw. anvertraut
hat, sind wir kaum unterrichtet. Wir können nur Vermutun-
gen über ihi-e Zuverlässigkeit ausspreche)!. Wenn wir sehen,
welche Eingriffe, z. B. bei dem Gedicht „Die Herrgottskinder",
ein Herausgeber wie Biernatzlvi sich erlaubte, dann scheint
es unmöglich, daß Storm dazu die Genehmigung erteilt hat.
Ebenso ist es bei einzelnen Novellen, z. B. „Im Schloß", ganz
klar, daß er keine Korrektur des ersten Druckes gelesen hat;
denn er konnte hier gegen eigenmächtige Änderungen des
Textes erst Einspruch erheben, als es bereits zu spät, die
Novelle schon in den Händen der Leser war. Das und vieles
Ahnliche wird aus den Anmerkungen meiner Ausgabe zu er-
sehen sein. Auch den Zeitschriftendruck von „Drüben am
Markt" hat Storm nicht durchgesehen; dafür weist .die No-
velle zu viele Fehler auf, die durch falsche Lesung der Hand-
schrift entstanden sind.
Für seine späteren Werke und Ausgaben dagegen wurde
er ein eifriger Uberwacher; und erhaltene Rohdrucke zeigen,
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 2
3
wie viele Änderungen er noch während der Drucklegung ver-
fügte und wie er seihst Kleinigkeiten der Wortformen unter
die Lupe nahm, freilich nicht in S3'stematischer Folgerichtig-
keit oder mit der ausnahmelos durchgeführten Strenge eines
Berufskorrektors. Denn das muß man stets im Auge haben:
ein Dichter ist erfahrungsgemäß der schlechteste Korrektur-
leser für seine eigenen Werke. So viel ihm auch an einem
sorgfältigen Druck liegt, die künstlerische Gesamtwirkung ist
ihm doch wertvoller als die Buchstabenrichtigkeit im Ein-
zelnen. Das gilt auch für Storm. Und wenn bei manchem
im Nachlaß Storms oder Erich Schmidts aufbewahrten Kor-
rekturbogen die Zahl der Verbesserungen gegen das Ende ab-
nimmt, so hat das seinen Grund weniger in der zunehmenden
Sorgfalt des Setzers als in der schwindenden Aufmerksamkeit
des Dichters, den die Gestalten seiner Phantasie beim Lesen
viel zu sehr in ihren Bann gezogen haben, als daß er noch
Zeile um Zeile hätte durchbuchstabieren können.
Aber, von diesen Einschränkungen abgesehen, war Storni
in der zweiten Hälfte seines Lebens doch ein treuer Wächter
beim Druck seiner Werke. Selbst auf das Format, auf das
richtige Verhältnis der Größe der Lettern zur Wichtigkeit des
Inhalts, auf die Farbe des Einbands, kurz, auf die Harmonie
zwischen der Dichtung und ihrem äußeren Gewand, achtete er
nach dem Maß seiner bescheidenen Geschmacksbildung und dem
Stand der damaligen Buchkunst oder -unkanst. „Schließlich
verkauft zur Hälfte doch der Einband das Buch", schrieb er
am 5. Juni 1872 an Gebr. Paetel.
Und so hat er denn selbstverständlich auch den Text
gesichert sehen wollen. Besonders den der Gedichte. Da
schrieb er über die 5. Auflage am 17. März 1875 an Gebr.
Paetel: „. . . Ich werde diese Bogen aufs schärfste durch-
gehen, Ihnen demnächst die Resultate mitteilen, so daß auf
beiden Seiten ein ganz correctes Exemplar existirt, wonach —
auch wenn ich nicht mehr bin — erfoderlichen Falles ge-
druckt werden kann." Ebenso kündete er schon am 29. No-
vember 1878 für die erst 1880 erschienene 6. Auflage seine
24 Amjkut Köstkr: |"7f\3
Absicht an, sie zu iilxTprüfcn, und führte die Korrektur aucli
für die 7. (1885) durch. Nicht uiinder sorgte er l'ür die
erste Sammlung der Werke von 1868, auch wenn die Durch-
sicht für ihn eine ,,ahsclieuliche'* Arbeit war. Selbst das uns
heute wenig erfreuende 'ritell)hitt mit der llöteuden Muse —
„sie sitzt im Tiiynjiane" — , das sich hinge erhielt, fand seinen
Beifall. Die späteren Zusat/bände sind alle, Bogen für Bogen,
durch seine Hand gegangen. Nicht minder hat er, wenn die
Firma Paetel einzelne Novellen von Schindler oder andern
Verlegern überualim und neu auflegte, diese Drucke korri-
giert (an Gebr. Paetel, 10. Oktober 1874).
Bei den Sonderausgaben der Novellen war das Verhalten
verschieden. Wo die neue Auflage, z. B. bei „Aus St. Jür-
gen" (1877), ganz mit der alten übereinstimmte, ließ er die
Druckerei gewähren; wo ihm ein Werk, wie „Äquis submer-
sus", sehr am Herzen lag, las er auch die Korrektur der
2. Auflage. Bei „Schweigen" (1883) oder „Bötjer Basch"
(1886) leitete er den Druck der Oktavausgabe, während er
die Sorge für die Miniaturausgabe der Verlagsbuchhandlung
übertrug. Gern rief er die Hilfe der Freunde an: Erich
Schmidt bekam besonders Korrekturbogen der archaisierenden
Novellen nach Straßburg und Wien geschickt und spendete
wohl als Kenner der älteren Sprache manchen Rat; Petersen
in Schleswig unterstützte den Dichter beim Druck der „Söhne
des Senators", die so recht für ihn geschrieben waren.
Storra ließ sich dreifache Korrekturabzüge senden, um
einen davon später für die Buch-Ausgabe herzurichten. Bei
„Hans und Heinz Kirch" z. B. erkennt man den typischen
Vorgang (an Gebr. Paetel, 11. August 1882): Die Novelle er-
schien zuerst in Westermanns Monatsheften; ein Abzug dieses
Druckes wurde von Storm genau durclisearbeitet und diente
als Manuskript für die Paetelsclie Buch- Ausgabe, für die der
Dichter nochmals Korrektur las. Ähnlich geschah es bei dem
„Fest auf Hadersie vhuus", wo wieder die Zurichtung der
Bogen eine „Höllenarbeit" war (an Gebr. Paetel, 25. Oktober
1885).
7o, :,] PrOLEGOMENA zu EiNKR kvHG. DER WerKE Th. StORMS. 25
Aber grade hier an diesen beiden Beispielen erkennen
wir nun auch die Gefahr, die den Stormschen Diebtunsren
heim Übergang von einem Verleger zum andern drohte: ein
Westermannscber Zeitschriftendruck diente, wenn auch von
dem Dichter noch so sorgfältig durchgesehen, als Vorlage für
ein bei Paetel erscheinendes Buch. Jeder Kundige vreiß, was
das bedeutet. Alle großen Zeitschriften haben ihre festen
Redaktions- und Setzergewohnheiten und übertragen sie mehr
oder minder streng auf jeden eingelieferten Beitrag. Storm
hat sich nun redlich bemüht, diese LTuiformierung von seinen
Dichtung-en fernzuhalten. Aber es war vergebens. Die Setzer-
tyrannei war stärker als der Wille des Künstlers. Er führte
Klage darüber, aber vergebens. Am 7. Juli 1881 z.B. schrieb
er an George Westermann: „Bei dem Druck des 'Etatsrats'
für die Monatshefte sind mir orthographische Correcturen
mit der Randbemerkung 'So ist unsre Orthographie' ver-
weigert worden.'^ Er war nun zwar bereit, sich, so weit es
den Zeitschriftendruck anging, zu fügen; nur für die Buch-
Ausgaben (Einzeldrucke und Gesamtausgaben) erwartete er
genauere Beachtung seiner Schreibungen. Aber wer anders
sollte und konnte über deren Durchführung wachen, als wie-
der der Dichter selbst? Und wie es um dessen Korrektor-
fähigkeit stand, ist schon gesagt worden. So dreht man sich
also immer im Kreise. Die Sachlage ist klar: Storm wünschte
eine möglichst genaue Wiedergabe seiner Niederschrift, war
jedoph nicht imstande, sie restlos durchzusetzen. Am 17. Sep
tember 1884 muß er einmal in einem Brief an Erich Schmidt
zugeben: ,, Kleinigkeiten in Orthographie und Interpunktion
habe ich hier stehn lassen." Da war er also (es handelt sich
um die „Chronik von Grieshuus") beim Korrekturlesen er-
lahmt.
Die Pflicht eines pietätvollen Herausgebers liegt meines
Erachtens nach alledem darin, den Stormschen Text von den
Willkürlichkeiten der Drucker wieder zu befreien, also das
Bemühen, das der Dichter begonnen, aber nur halb voll-
endet hat, zu Ende zu führen. Das wäre ja nun, wenn es
I
2 6 ALnKUT Kt'isTKu:
sich wirklicli nur um Ortliogriii)hio mitl Interpunktion han-
ili'lte, eine leichte Auf<^abe. Die Grundsätze dafür wären an»
den lieinschrifteu th's Diehters. den (Mhaltrnen Korrektur-
hogen und den naclnveislieh vou ilini peinlich durchgefeilten
und überprüften Einzeldrucken, die ihm dir „ llcillenarbeit"
verursacht hatten, zu «rewiaDen. Wäre er in diesen Vorlagen
nicht immer folgerichtig verfahren, hätte er in Ermüdung
oder Nachlässigkeit einige Fehler stehen lassen, so wäre auch
da die Entscheidung leicht zu treifcn gewesen. |
7-
Aber so einfach steht die Sache nicht. Denn abgeseheji
von manchem andern, was ihm beim Korrigieren entgangen
war, und worüber später zu berichten ist, hat er unter dem
Wort „Orthographie" offenbar mancherlei mit einbegriffen,
was wir als Festlegung und Schreibung der Flexi o.nsformen
bezeichnen würden, Fragen also, ob man den dat. sg. eine^
stark flektierten ei.nsilbigen Maskulinums oder Neutrums durch
die Endung e bezeichnen solle oder nicht, also ob man „dem
Tag" oder „dem Tage", ,,dem Feld" oder „dem Felde" zu
schreiben habe, oder ob die Singularform des Imperativs da«
auslautende e beliebig abwerfen dürfe, oder ob man vou
Pronomina und Adjektiven wie „unser, ander, inner" iin acc.
sg. und dat. pl. die Formen „unsren, andren, innren" oder
„unsern, andern, innern" oder „unseren, anderen, inneren" (die
Lieblingsformen des Verlages Westermann) zu bilden habe,
und vieles mehr. Daß in der Tat Storm an solche Fragen
gedacht hat, beweisen einige Briefe an die Gebrüder Paetel.
Am II. Nov. 1878 schrieb er mit Bezug auf die Novelle
„Renate": „Ich bitte um Revisionsbogen der ganzen Novelle
unter Wiederbeifügung der anfolgenden Correcturbogen.
Da durchweg, wo ich die gekürzte Form gewählt habe, vom
Setzer — der gewiß früher Schulmeister gewesen ist — die
Worte durch Hinzusetzung des e um eine Sylbe vermehrt
sind, so ist dadurch der ganze Rhythmus des Styles zerstört."
Und als er die Buchausgabe des ,,John Riew'" korrigierte,
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 27
schrieb er am i. Oktober 1885: „In Betreff der neuen Druck-
sache hat der Herr Setzer es sich augemaßt, wo er es nicht
ein eiuzebi Mal vergessen hat, das „frug" in der Druckvor-
lao-e in „fragte" umzugestalten, wodurch von Andrem abge-
sehen, der rhythmische Satzklang resp. verändert oder zer-
stört wird. Jedenfalls ist das eine unglaubliche Eigenmacht,
und ich möchte Sie bitten, Ihrerseits dergleichen Ungehörig-
keiten ernstlich zu untersagen."
Das sind sehr aufschlußreiche BriefsteUen, die nicht nur
den Dichter kennzeichnen, sondern auch dem Herausgeber
den rechten Weg weisen. Nicht die Grammatik, wie sie der
Schubueister lehrt, nicht die Sprachrichtigkeit, in der sich
Storm, wie wir noch sehen werden, gar nicht ganz sicher
fühlte, ist für ihn das Entscheidende, sondern dieser durch
und durch musikalische Dichter ist aufs Höchste empfindlich
für den mit dem Inhalt in Kongruenz stehenden Rhythmus
der Periode, des Satzes, des Satzgliedes, des Wortes. Er fragt
nicht, und man darf daher bei ihm nicht fragen, ob der Im-
perativ von „halten" „halt" oder „halte" heißt, sondern er
setzt in „Bötjer Basch" (IV 265, 4) unmittelbar neben einander
^jBand, halte fest, halt fest'" und ahmt damit (J * J #• *? J I J)
den Rhythmus der Böttcherschläge nach. — Ein andres Bei-
spiel: Sen. V 103, 23 ff. kommt folgendes Dialogbruchstück
zwischen Mann und Frau vor (die in der Mitte stehende
Frage spricht die Frau):
„Heuf ahend oder scJion heute nachmittag . . ."
„Warum nicht schon heut' voi'mittag?''
„Nun, wenn du tvillst, auch heute vormittag."
Man sieht, wie frei Storm zwischen den Formen „heut" und
„heute" wechselt. Und die Entscheidung, ob A- die eine oder
die andre hier oder dort bevorzugt, ist für ihn keine gram-
matische, sondern eine künstlerische; sie hat nichts zu tun
mit einer schulmäßigen Sprachrichtigkeit, nichts mit Hiatua-
fragen, nichts damit, ob Storm einem apokopierenden Sprach-
gebiet angehört oder nicht, sondern sie entscheidet sich ledig-
lich nach dem Rhvthmus und der Melodie des Satzes, danach.
28 Alheut Köstkk: (70, j
welche \N orte voruusgehn oder t'olt^cii, (l;in;uli, ul» «his Wort
in einem Frage- oder einem Aussagesatz stellt, uihI aueh
danach, oh ein Mann oder eine Frau s|)richt. — Storni weiß
ferner cK'ii feinen Gewielitsunteröchied wohl zu herücksich-
tigen, der aui' ileni „ich" liegt, je nachdem man — ganz un
heküniniert um die summarische, untersehiedsloae, hequome
Iliatusheobachtung — sagt: „huh" ich" oder „habe ich", „hatf
ich" oder „hatto ich". Ich habe »hiher gegen die Drucke aus
der Handschrift aus Gründen des Khythnuis wiederhergestellt:
Sonn. I 213, iq Jtab' ich 215, 13 Ich seh' sie noch Stautsh.
1, 42, 15 Setz' dich nur Schloß I, 99, 36 glauV ich 105, 12
ich hah' es mir bedacht 105, 28 glmiV ich Univ. I 276, h
als sah' ich 283, 36 Jetzt ivcrd^ ich 309, 13 hihr' ich
314, 32 hah' ich Abs. I 144, 22 mein' irh 151, 3 setz^ dich
Mal. I 251, 32 ich seh^ ihn noch 261, i freu dich Heid.
II 142, 5 hatf ich 148, 22 sagt' er Waldw. III 12, 12
hah' ich 29, 7 f. „Ich versteh' das nicht." „Versteh' es nimmer,
Franzi!^' 35, 13: So tu das erst. Aber Waldw. III 42, 27
Schlafe süß Heid. II 142, 15 hätte es (nach der Handschrift
und den besten Drucken). — WWfr. IV 15, 25 korrigiert
Storm in den von Erich Schmidt aufbewahrten Korrektur-
bogen hinein die seltsame Sehreibung „Gitarrspicderiu" (was
ich natürlich aufgenommen habe), um dem schlotterigen
Rhythmus „Gitarrespielerin" zu entgehen. — Amtsch. II 160
muß es heißen ,,den Tag üher im Bette hleihen", aber „uährend
das Trinhcasser vor seinem Bett gefror", so, wie die Hand-
schrift, der Erstdruck, der erste Buchdruck und die Ausgabe
1. Hd. auch ganz richtig haben» während die jüngste Gesamt-
ausgabe an beiden Stelleu durch Verwechslung der beiden
Dativformen den Rhythmus gründlich verdirbt.
Und nun haben wir auch eine Antwort auf die vorhin
gestellte Frage, ob Storm von „ander" einen zweisilbigen
oder dreisilbigen aco. sg, und dat. pl. bildet. Es erfordert
kein besonders tiefes Studium, um zu erkennen, daß die
Normalform bei ihm „andern" lautet; sie kommt in der Über-
zahl aller Fälle vor, und zwar so entschieden, daß (vgl. Hinz.
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 29
II 93} 42) selbst wenu alle Drucke übereinstimmend eine Ab-
weichung haben, eine auftauchende Handschrift, die die Nor-
malform bringt, sie alle widerlegen kann. Aber aus rhyth-
mischen Gründen, etwa um die Monotonie des zu lange
andauernden trochäischen oder iambischen Tonfalls zu unter-
brechen (Hinz. II 94, 28 an swei anderen jungen Augen [Hand-
schrift und sämtliche Drucke], Aq. II 264, 31 ieh hin des
anderen Mannes Weih), vertauscht er sie doch gelegentlich
mit der dreisilbigen. Besonders geschieht das, wo die häß-
lichen Klänge ,,an der andern", ;,von der andern'' entstehen
würden, also z. B. Aq. II 2 1 1 , 29 narh der anderen [Seite]
212, 31 an der anderen Seife 262, 30 von der anderen Seite
Ren. III 176, 32 mit der anderen Eek. III 101, 39 mit den
anderen 113, 42 von der anderen 122, 24 in der anderen
Sen. V 118, 28 auf der anderen Seite (dagegen Ren, III 164, 13
mit einer andern III 170, 28 am andern Nachniiftage). Un-
verbrüchlich freilich führt der Dichter diese Grundsätze nicht
durch. Will man mit einiger Sicherheit erkennen, warum
und unter welchen Verhältnissen Storra zwischen diesen
Formen wechselt, so gibt der von ihm besonders sorgfältig
durchgesehene Druck der Novelle „Hans und Heinz Kirch"
von 1883 gute Belege. Man sieht jedenfalls schon hier, daß-
ein handfestes Normieren, die Durchführung von einerlei
Flexions formen durch alle Bände hindurch die zarten Klang-
wirkungen dieses Künstlers brutal zerreißen würde. Und so
blieb denn nur ein mühevolles Verfahren übrig, nämlich Satz
für Satz durch Vergleichung aller entscheidenden Hand-
schriften und Drucke den Wortlaut festzuhalten, den man
nach bestem Wissen als Ausdruck von des Dichters letztem
Willen ansehen darf. Solch einen von Erbfehlern gereinigten,,
oft auch wiederhergestellten Text glaube ich in meiner Aus-
gabe vorlegen zu können. Daß ich mich gelegentlich geirrt
habe, vielleicht auch hie und da in der Aufmerksamkeit er-
müdet bin, ist bei dem ausgedehnten Material nicht ausge-
schlossen. Und daß an einzelnen Stellen, wo die Überlieferung
versagte, für subjektive Beurteilung immer noch Raum blieb^.
30 Amikkt Kösteh: |70. 3
ist gleichfalls zu7.ugo)>en. Im ^anzfii bildet sich aber bei
längerer Rescliät"ti<riing mit dem Diclit»M- ein sicheres Gcl'ülil
für den Klang seiner Sätze ans. Dieses muß der Heraus-
geber sieh anerziehen, und von ihm muß ei- in Zweifelsfällen
.sich leiten lassen. Das ist mein Bemühen gewesen.
8.
Normiert habe ich nur da, wo bei sonst stets gleich
bleibender Form und Schreibung eines Wortes ohne erkenn-
baren Grund sich eine vereinzelte Abweichung zeigte, die
demnach nur auf eine Nachlässigkeit des Setzers oder Kor-
rektors zurückzuführen war. Wenn also dem Dichter die
Formen Steig, aber Dohueustieg, fünfzehn, hieher, Dintenfaß,
jenseit (als Präposition) geläufig sind und ein einziges Mal
sich Stieg, Dohnensteig, fünfzehn, hierher, Tintenfaß, jenseits
findet, so ist das stillschweigend geändert worden.
Die Orthographie durfte modernisiei-t werden; Storm
selbst hatte ja noch die Neuordnung der deutschen Recht-
schreibung mit der Beseitigung des th und ähnlichem erlebt
und sich leicht darein gefunden. Auch das C in Fremd-
wörtern mochte getrost durch K ersetzt werden. Nur durfte
die Westermannsche Ausgabe dabei nicht ins Unvernünftige
verfallen. Der „Fürst von Toren" (Et. IV 176, 16) ist schon
bedenklich. Wenn aber auch der Name des Kirchenlieder-
dichters Nicolai zu Nikolai (Schloß I g6, 26) oder der des
armen Solitaire zu Solitär wird, dann ist das des Deutsch-
tums und der Volkstümelei zu viel. Von der neuen Ortho-
graphie bin ich nur abgewichen an den Stellen, wo Storm
fingiert, Niederschriften des 17. oder 18. Jahrhunderts vor
'sich zu haben, also bei dem Brief des Großvaters in „Von
heut und ehedem'^ und den in Frage kommenden Abschnitten
von „Aquis submersus", „Renate" und der „Chronik von
Grieshuus". Hier habe ich Thür, Geräth, todt, Cantate, Pro-
tector usw. gedruckt, weil sonst die alten Formen stund, itzt,
das Relativum „so", die Inversionen, die unflektierten attri-
butiven Adjectiva, die Weglassung des pron. pers. stillos
70, 3] Prolkgomkna zu kcnbr Ausg. der Werkk Th. Storms. 3 i
wirken würden. Bei den Fremdwörtern habe ich die Storm
auch in Briefen eigentümlichen Formen secondiren, Yagahond
und den Plural Berlocks festgehalten.
Im ganzen bin ich mit dem Wortlaut sehr schonend
umgegangen. Von solch einem Eingriff, wie ihn mir Detlev
von Lilieneron allen Ernstes (Briefe II 271) einmal vor-
schlug, nämlich alle „welcher welche welches" bei Storm in
„der die das" zu verwandeln, bin ich selbstverständlich fern
geblieben, denn auch hier sind oftmals für den Dichter, wie
in so vielen andern Fällen, rhythmische Wirkungen maß-
gebend gewesen. Wobei übrigens Eines sehr komisch ist:
Storm hat manches „welcher'"', über das sich Lilieneron
so erbost, erst nachträglich in den Text hineinkorrigiert ^):
Univ. I 306, 25 (H) die Jahme Mark, die stumm . . . Jian-
Üerie > (Dr) . . . Marie, ivelclie . . . Garst. 111 225, 23
[die Geleise], . . auf die . . unaufhaltsam neuer Schnee herab-
sanJc > i88g . . . aufweiche . . . Eek. III 113, 42 da- Junker,
bei dem allein sein Liebling . . . Hülfe suchte > 1880 .... bei
welchem ... Griesh. IV 104, 19 die Bilder, die in dieser
Kacht in mir Ichendig wurden > 1884 die Bilder, welche . . .
Dagegen Schimm, V 16, 7 dürfte das eingesetzte „welcher"
Westermann scher Herkunft und also rückgängig zu machen
sein (wie vielleicht übrigens aucli Garst. III 225, 23).
Geschont werden mußten die feinen stilistischen Merk-
male, durch die sich die Jugenddichtungen Storms von den
Alterswerkeu unterscheiden, darunter die in den frühesten
i) Weuu ich eiue ältere Fassung zitiere, aus der eine jüngere
geworden ist, ho geschieht es in folgender Weise: Voran geht die Sigle,
Band, Seite und Zeile, also etwa Univ. I 306, 25. Dann folgt der ältere
Text. Setzt er ohne weiteres ein, so ist der Erstdruck (Zeitschriften-
druck) gemeint; wird die Handschrift zitiert, so steht ein (H) vor dem
Zitat. Dann folgt nach dem Zeichen > der jüngere Text, von dem
aber nur die geänderten Worte mitgeteilt werden. Geht diesem zweiten
Zitat ein (Dr) voraus, so heißt das: der gedruckte Text lautet im
Gegensatz zum handschriftlichen . . . ; geht eine Jahreszahl voraus , so
bedeutet das: der Druck des genannten .Jahres bringt zuerst die Än-
iieruug.
Phil.-hist. Klasse 1918. Ed. LXX. 3. 3
32 Ai.hküt KösTKii: [70. .<
Novellen liisweilen (iiicht imnieri lleklievten Eif^ounumen:
Martiie 11 So, i(> und V' Marthru (wie es II S), 1 «jjiii)/. liehtin-
stund) Blatt. 1 ()S. i-, G,tl>rieln Hin/. 11 100, 2« Hivzd
meiern. Später j^al» Storni, abgeselion von den archaisie-
renden Novellen, diese Eig'entümlichl<eit auf: Uuiv. I 2S6, 28
(H) Lcnorcfi > (Dr) Lrntjre.
Eiirenartiir ist Stornis Verhalten hei den /.usaninien^«
setzten Snhstantiven, deren tTster Bestandteil ein Femininnm
ist. Bekanntlich herrscht Fneutscliiedenheit, ob die beiden
Konipositiousirlieder durch ein untlexivisches Kompositions-S
(v^l. Jac. (Trimm, Deutsche (Trammatik II 9350'- [Neuer Ab-
druck, 1^78, II 912 ff. P verbunden werden sollen oder nicht.
Storni ist da nicht ))ewußt einem unverbrüchlichen Gesetz
tt-efob'-t sondern läßt sich von seiner Gewohnheit und ihren
Launen leiten. Wenn er WWfr. IV 30, 4" ein einziges Mal
in allen Drucken die Form „Arbeitsgeber" hat, so ist das ein
Fehler, der besonders durch eine ganze Reihe von Stellen in
„Dopp." widerlegt wird. Sonst aber liebt er das Kompositions-S
sehr. Er schreibt Wirtschaftssorgen, Gewaltssache (Kirch IV
76, 7), Hochzeitszug, Hochzeitsmorgen CSchimm. V 37, 17
steht „Hochzeitessen" vereinzelt, offenbar aus Gründen besseren
Klanges); er ändert Abs. I 151, 3« „Geburt- und Heimats-
rechte" 1865 in „Geburts- und Heimats rechte". — Heid. H
156, 26 hatten alle Drucke übereinstimmend „der Brunnen
der Hebammensleute". Diese Form wird jetzt durch die
Handschrift bestätigt. Dann aber ist auch an den Stellen
138 13- 143, 24: 144, 11; 154, 28, wo ebenfalls die Hand-
schrift Storms Willen ausdrückt, die Form „Hebammens-
Leute", „Hebammens-Margret" durchzuführen. — Ja, Storm
gibt sogar dem Wort „Stadt" das unflexivische S, und man
darf ihm die Stadts-Kaffeetanten (Hinz. U 85 10), den Stadts-
diener (Abs. I 147, 20), den Vorstadtskirchhof (Bul. II 60, 19),
den Stadtsausrufer (Popp. II 320, 39), die Stadtswage (Sen. V
117, 35) ja nicht etwa durch voreilige Verbesserung rauben.
— Von allen Festen feiert er am häufigsten die Weihnacht;
und er spricht da vom Weihnachtsbrief, von Weihnachtsfeier,
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. s^
Weihuachtsstube, Weihnachtslied, Weihnachtsbaum, Weih-
nachtskuchen, Weihnachtssänger, Weihuachtsteller, Weihnachts-
bettler, Weihnachtsmorgen, überall mit dem Kompositions-S.
Nur der „Weihnachtabend" erhält keines (verbürgt durch die
Überschritt; des Gedichts „Die fremde Stadt durchschritt ich
sorgenvoll", durch Marthe II 82, 29, 34; 83, 2, 6 u. ö., Imm. 1
8, 23, durch die Widmung der Sammlung „Im Sonnenschein"
1854, durch Belege aus Tann., Abs., Bul. usw.). Und diese
Unterscheidung hat ihren guten Grund. Die zuerst aufge-
zählten Zusammensetzungen mit „Weihnacht" tragen sämt-
lich den Ton auf dem ersten Kompositionsglied; hier be-
wirkt das S einen kleinen Aufschub, der dem ersten Be-
standteil dadurch etwas mehr Zeitdauer und Gewicht zu-
führt. Bei „Weihnachtabend"' aber betont man, wie bei
„Bürgermeister, Großneumarkt, Helgoland" in Norddeutsch-
land den letzten Bestandteil. Hier würde also das S ein
Sprechhindernis sein und mindestens Storms Sprache stören.
Aus gleichem Grunde schreibt der Dichter „Fastnachtmontag"
(Kuch. II 203, 38).
Alle diese Eigentümlichkeiten werden in meiner Ausgabe
genau gewahrt. Ich verbessere den Dichter nie nach meinem
Geschmack oder aus Besserwissen, Selbst seine zehntausend
heiligen Jungfrauen (Had. IV 234, 10) erhöhe ich ihm nicht
auf elftausend. Rück verändert habe ich nur zwei Stelleu.
Abs. I 133, 38 ist das ursprüngliche „Auf dem Boden des
Fahr.?eu(/s" (nämlich des eine Zeile vorher erwähnten Flach-
boots) 1868 verschlechtert worden zu „Auf dem Boden eines
Fahrseugs". Das hab ich rückgängig gemacht. — Und Eek.
ni 123, 13 lesen die Redaktionen von 1879, 1880 und 1886
übereinstimmend „Seine Gedmiken wie sein Weg führten ihn
nach einem alten einsamen Hause.^' Die Gesamtausgaben aber
seit 1889 ändern: „Seine GedanJcen wie sein Pferd . . . ." Da
ißt nicht klar zu erweisen, ob eine Nachlässigkeit des Setzers
oder eine Schlimmbesserung des Dichters vorliegt. Aber weil
in jedem Fall die Stelle verschlechtert ist, so habe ich die
alte Lesung wiederhergestellt.
34 Ai.HKKi" Kö.sTi'.ii: [70».?
0.
Sehr subjektiv fällt luitürlioh die Eiitscheuluii;^' ilos llrruus-
geber^ dort aus, wo infoli^o des früher erörterten Besteliens
zweier Verleger nelien einander auch zwei Textfassnn<(on neben
t'inandf'r Geltung l)eanspruchen. Die Zahl solclnn- Stellen ist
gar nicht so gering. Ein paar Beispiele mögen genügen.
Oft handelt es sich nur um Kleinigkeiten. Markt I, 349, 42
steht in Westermanns Gesamtausgaben seit 1868 ,//«- Firund",
in den früheren Drucken und den späteren Paetelschen Aus-
gaben: ..der Andere'". — Rosen I 32, 15 ändert Storni 1868
die alte Wendung „sie schlug das alte Zauherhuch zusammeu"
in „sie scldug . . . zu." Aber noch 1904 drucken Gebr. Paetel
in der 3. Auflage der „Drei Novellen": ,.sie scldug . . . zu-
sammen." — Bisweilen sind aber auch die Abweichungen
gi'ößer, z. B. Markt I 351, 340". Hier lesen die Bucliausgabt!
von 1861 und alle Westermannsclien Gesamtausgaben seit
1868 (jüngere Fassung): „er hatte auch einigemal auf Bitten
seines mitteriveile sunt tvirJdichen JusUzrut avaneirten Freundes
Uli ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen", während Paetels Aus-
gabe der „Drei Novellen" nocli 1904 den älteren Text hat:
.,er hatte auch einigemal auf Bitten seines Freundes, der seinen
Titel jetzt mit vollem Beeide trug, an ihrer Geburtstagsfeier
teilgenoynmen." — Oder Ren. III 171, 3oflF. Der erste Druck
in der Rundschau, sowie beide Buchausgaben von 1878 bringen
hier den Text: „Da that die Thür sich abermalen auf und
geschähe mir, als sei es itzt jählings helle tvordcn; und tvnr
doch nur ein braun fundj bläßlich Dirnlein, so hereingetreten.
Ein Brett mit Flasch und Gläsern setzete sie vor dem Kanapee
auf den Tisch, ivorauf der Bauer rief: „Da Icoiiimt der Bhei-
nische, Herr Studiosi; setzet Euch nun, so wollen wir eins
mitsammen reden." Diesen Absatz haben auch die Westermann-
sclien Gesamtausgaben übernommen und drucken ihn bis heute.
Daneben aber gibt es eine ganz abweichende Lesung dei
Stelle. In der von dem Dichter sehr sorgsam überwachten
Sammelausgabe „^^or Zeiten" hat er nämlich 1886 den Text
70,3] Prolbgomena zu kinl'u Auso. der Werke Th. Storms. 35
dahin überarbeitet: „Da tliat die Thür sich abermalen' auf
und aurde mir scJiier heJdi >nimen , doch auch, als sei es itzt
jählings helle worden; denn Renate war eingetreten, und, iväh-
rend sie ihr Köpflein zu mir ivandte, sah ich, wie ein fliegend
Roth ihr die lichten Äugen dmikel machte. Sie trug ein Brett
mit Flasch und Gläsern und setzete sie vor dem Canape auf
den Tisch. Der Bauer rief: „Da Jcommt der Rheinische, Herr
Studiosi: setzet Euch mm, so ivollen ivir Eins mitsammen
reden." Und ich meiüe, daß diese Fassung jetzt und iu Zu-
kunft auzuerkennen ist. - Iü all solchen Fällen ist nicht
die Zuverlässigkeit auf Seiten des einen Verlages und die
Nachlässigkeit bei dem andern, sondern die Wage schwankt,
und der Herausgeber muß von Fall zu Fall die Textgestal-
tung ausfindig machen, die der Dichter zu jüngst aner-
kannt hat.
Gar nicht selten sind auch die Fälle, wo ein Lied zwei
vom Dichter selbst gel^illigte verschiedene Fassungen auf-
weist, je nachdem es unier den „Gedichten" steht oder einer
Novelle eingegliedert ist. Wir sind an dergleichen ja bei
Goethes „Sänger" gewöhnt, der im „Wilhelm Meister" anders
lautet als in den „Balladen". So kennt auch Storm zwei
verschiedene gleichberechtigte Redaktionen der Gedichte „Ein
grünes Blatt", „Regine" u. a. Ja es kommt sogar, wie bei
Goethes „Veilchen", auch bei Storm der Fall einer von ihm
selbst veranlaßten und gut geheißenen Schlimmbesserung vor.
In Goethes „Veilchen" zerlegt sich die Strophe
Ein Veilchen auf der Wiese stand V
Gebückt in sich und unbekannt; V
Es war ein herzigs Veilchen. N
Da kam eine junge Schäferin, V
Mit leichtem Schritt und munterm Sinn, V
Daher, daher, E
Die Wiese her, und sang. N
in zwei Perioden, jede mit doppeltem rhythmischen Vorder-
satz und einfachem Nachsatz; zwischen die Vordersätze und
den Nachsatz der zweiten Periode schiebt sich stets eine re-
36 Ai.BERT Kösiek: [7J. .^
t-iirtTieromU' Kpisodt» ein. Die NOrdcrsät/«' in iilleii drei iStr<>|iluMi
ini-
reimen |>aiirig' nntn- oinaudcr; die Episoden bleiben reii
los; die Machsätze aber finden nls sogenannie Körner iliro
lleiniert'nllnng nieht innerlialb der Strojdie selbst, sondern an
den entspreelienden Stellen der iU)rigen Strophen; Veihdiea:
Weilchen: Veilchen; .sang: lang: — Ja, da enttäuscht die
dritte Strophe. Hier muß einmal gestanden haben: .,/,u iiiren
Füßen bang'', und nur durch Schreibfehler ist das nichts-
sagende Schlußwort j.doch", durch Abirren des Auges auf die
letzten Vordersätze, in den Text gekommen. Goethe selbst
hat das sechzig Jahre lang, und die Menschheit doppelt sc»
lange unbeanstandet hingenommen.
Ein analoger Fall tindet sich bei Storni in dem Lied
„Die Nachtigall''.
Das macht, es hat die Nachtigall V
Die ganze Nacht gesungen; N
Da sind von ihrem süßen Schall, V
Da sind von Hall und Widerhall V
Die Rosen aufgesprungen. N
Wiederum zvrei Perioden, die erste mit einfachem Vorder-
und einfachem Nachsatz, die zweite mit doppeltem Vorder-
und einfachem Nachsatz. Durch die Strophe hin reimen alle
drei Vordersätze mit einander, und ebenso die beiden Nach-
sätze unter sich.
Wenn nun die zweite Strophe lautet:
Sie war doch sonst ein wildes Kind;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut,
Und weiß nicht, was beginnen,
so sao-t sich ieder aufmerksame Hörer: Da muß im ersten
Vers einmal gestanden haben „Sie war doch sonst ein wildes
Blut''. Und diese Vermutung wird auch bestätigt durch
Hinz, n 94. Warum der Dichter die Entstellung vorgenommen
hat, weiß ich nicht. Sic rückgängig zu machen, hielt ich
mich nicht für befugt.
7"- 31 PkOLHGOMK-NA zu ELNEK Ausi;. DKR W^IOKKK Th. StüRMS. 37
lO.
Ganz anders aber steht es mit all den Texteutstellungeu,
die auf Setzerversehen — „Verseheu'' hier iu des Wortes
erster, eigentlichster Bedeutung — beruhen. In der Ent-
deckung, Beurteilung und Tilgung solcher Schäden steht die
Editionstechuik für neuere Schriftsteller noch in ihren ersten
Anfängen. Für ältere Schriftwerke studieren wir die Her-
Stellung Von Handschriften und in W>rbindung damit die ty-
pischen Fehler der Abschreiber. Im paläographischen Unter-
richt, in der L rkundeniehre werden ganze Kapitel vorgetragen
über Fehlerquellen, aus denen Textverderbnisse liervorgehen.
Daß aber für die neueren Jahrhunderte jemand, ehe er eine
Ausgabe veranstaltet, erst einmal die Satz- und Druckvor-
gänge und die dabei vorkommenden Entgleisungsgefahren
kennen muß, ist noch wenigen bewußt. Und doch ist zwi-
schen den Gewohnheiten, dem Schlendrian einer antiken Hand-
schriftenfabrik und einer neuzeitlichen Druckerei, besonders
wenn beide eilig arbeiten, der Unterschied nur gering. Die
Abschreiberpsychologie und die Setzerpsychologie berühren
sich eng. Daß beim. Lesen ein „Sich verlesen'', beim Schrei-
ben ein „Sich verschreiben^' vorkommt, weiß jeder. Dagegen
wird noch wenig beachtet, daß es beim Setzen auch ein „Sich
versetzen", und zwar in typisch sich wiederholender Art und
Weise, gibt; das. Wort fehlt uns sogar bis heute Ich ver-
stehe unter diesem „Sich versetzen" nicht, daß einmal eine
Letter auf dem Kopf steht, oder daß sich der Setzer um ein
Buchstabenfach vergriffen oder gar völligen Unsinn zu Papier
gebracht hat, sondern ich habe die feineren und um so ge-
fährlicheren Vorgänge im Auge, die auch ein berufsmäßiger
Korrektor und selbst der Verfasser leicht übersehen kann, die
Fälle, in denen der gesetzte Text durchaus einen Sinn gibt
und doch falsch ist. Diese Versetzungsfehler entstehen meist
daraus, daß, wie beim Verschreiben, die Augen und Gedanken
hinter der augenblicklich behandelten Textstelle zurückgeblie-
ben oder ihr vorausgeeilt sind, und nun die bereits erledigten
38 Ai.m:ur Kösik.i:: L7^'».>
otlor die orst bevorstebi-nden Hidv.e den Wortlaut beeiiittusscu.
Wem die lläuligkeit der so entstandenen J'eliler (M'st einmal
aufget^antfen ist, der wird für die llerausj:^al)e neuerer 'l'exle
die Forderun»^ aufstiMlni: wir müssen uiclit nur die eiji/eliie
Druckzeile lesen, sondern die Druckzeile mit ihria* Nachbar-
schaft, das Wort mit den', was eine od<M- zwei Zeilen über
oder unter ihm stchi.
leli i,4aube nun »jjiMviB nidit, daß ich es in der Ent-
deckung und Beseitigung sob-ber Mängel hei meiner Storm-
Ausgabe schon zur Vollendung gebraclit liabe. Aber ich
nu'ichte hier doch, um mein Verfahren zu rechtfertigen, ein«-
Auswahl von Stellen mitteilen, an denen ich die Werke des
Dichters von „Versetzungen" befreit habe.
Blatt I 72, 23 habe ich aus den ersten Ausgaben der
Novelle das Wort „ungreifbar" wiederhergestellt, weil das in
den letzten Jahrzehnten stets hier gedruckte „nnheyreifhar^''
sich nur von dem sechs Worte vorher stehenden „uubegreif-
lich" herschreibt. — Abs. 1 140, 15 a'. lesen die Handschrift
und alle Drucke bis 1875 l^"' = >/^/^ *^^ ff^ß** Morgenfriüie . . .
trafen uir uns draußen vor der Haustür. ]V<"nn Ehrenfried
hinausginfi, um die FJsen/rareu auf dem Beischlag auszustellen,
irar ich schon draußen and putzte an der Tür den großen
JlessingJdopfcr.'' Erst seit der Ausgabe 1. Hd, heißt in den
Gesamtausgaben der Schluß des zweiten Satzes: ,,. . . ivar ich
Schon draußen vor der Haustür und put,üe an der Tür den
großen MessingMopfer" Jetzt wird also in drei Zeilen die
Tür dreimal erwähnt. Es ist kein Zweifel, daß nur der Setzer
die Worte „vor der Haustür" zvs^eimal gesetzt hat, weil er sie
nicht aus dem Auge und Gedächtnis los werden konnte. —
Jens. I 164, 12 f.: Hier hat die Handschrift, der erste Druck,
die Einzelausgabe von 1867 und der Novellendruck von 1868:
,,Jetst aher uaren wir beide ivieder fast genesen, und schon in
den nächsten Tagen wollte ich die Heimreise antreten." Plötz-
lich seit der ersten Westermann sehen Gesamtausgabe von
1868 heißt es am Schluß des Satzes: „. . . a-ollte ich die
Heimreise wieder antreten.^' Dies zweite ,,wieder" im selben
70,3] Prolegomexa zv einhu ArsG. deh VVekke Th. Stoums. 39'
Satz ist für den Keniier ein ganz üblicher Setzerfehler, ent-
standen durch Zurückirreu in die vorhergehende Zeile. —
Jens. I 173, 26 f. Hier lautet der Text erst seit der Ausgabe 1.
Hd.: „war es nur die Sfiiimmng". Die Handschrift dagegen,
der erste Druck in den Monatsheften, die erste Buchausgabe
und die erste Gesamtausgabe haben übereinstimmend: „tvar
es eine Ähnlichheit in der Betveyimg, oder war es nur die
Stimmumi". Es ist ganz klar, daß das keine Verbesserung
des Dichters bedeutet, sondern daß das Auge des Setzers von
einem „war es'' zum andern hinübergeglitten ist und die
ganze Wortfolge „eine ÄJmlichJceit in der Bewegung, oder'^
unterschlagen hat. — Waldw. HI 42, 26 stand im ersten
Druck: „Sie war ihnt /rieder wie eine imhcriihrte Braut". Dies
Wort „wieder"' ist nach dem ganzen Inhalt der Novelle hier
unerläßlich; ohne das Wort ist der Satz sogar widersinnig.
Es ist also gegen alle späteren Ausgaben wieder einzu-
setzen, da nur das unmittelbar folgende ,,wie" es vertrieben
hat. — Brauerh. HI 150, 40 if. lesen alle Buchausgaben: „„Ei
was!" rief meine Mutter. „Dort hängt ja sein Hut am Tür-
haken\ ihr Kinder versteht nur nicht su suchen!^' Damit ging
sie mr Tür hinaus."" Das zweimalige „Tür", obwohl so
etwas bei Storm vorkommt, macht stutzig. In der Hand-
schrift und im Zeitschriftendruck steht denn auch richtig:
„Damit ging sie zur Stube hinaus". Der Setzer ist mit dem
Auge abgein-t, und der alte Text ist wieder aufzunehmen. —
Eek. III 108, 23 ist das „gern", das ganz richtig in den Re-
daktionen von 1880 und 1886 steht, in den übrigen aus-
gefallen, weil das Wort „gerufen'- folgt und die Buchstaben-
verbindung „gern geru" abgelenkt hat. — Kirch IV 94, 130'.
Hier hatte der erste Druck: „Für fremde Äugen mochte es
immerhin den Anschein haben, als ob Hans Kirch auch jetzt
•noch in gewohnter Weise seinen mancherlei GesiMflen nach-
gehe". Dann aber bei der Herstellung des ersten Buchdrucks
hat der Setzer das „noch" des Nebensatzes zu früh im Auge
oder Sinn gehabt und es auch in den Hauptsatz interpoliert,
so daß dort die Wortfolge „immerhin noch den Anschein" ent~
.|0 Ai.HKur KösTKu: [7"..?
stand, yelbstvoistäuillicli tmili dies erste ,,iiocli" wieder fort. —
Oder t'in /weiter Füll in derselben Novelle: gS, 28. Der
Druck in Westerinanns Monatsheften liat die ^nte Lesunu;: ,,rs
trar auch »iir rin FliL'^hrn, als oh er es den leeren Lüften an-
vertraue''. Seitdem aber di-r Setzer dor eisten iiuchaus^abe
das „nur" zweimal «.gebracht hat („als nh er ea nur den leeren
Lüften anvertraue"), wiederliolen sämtliche Drucke diesen
Fehler. — Griesh. IV" 105, ßStf. stand im Zeitscliriftemlruck
und der ersten Buchausgabe als richtiger Text: ,.«w liebsten
ist er ans dem Torweg und datn/ geradezu den Fußsteig . . .
Jiinahgerannt und hat drüben . . . angeklopft". Erst i^86 ge-
schieht, ohue daß der Korrektur lesende Dichter es bemerkt
(denn ihm selbst ist die absichtliche Schlimmbesseruug selbst-
verständlich nicht zuzutrauen), dem Setzer, der noch das
Wort „Torweg" im Auge hat, die Nachlässigkeit, „Fußsteig"
in „Fußweg'' zu ändern. Und der verschandelte Text bleibt
seitdem stehn. Auch hier ist rückzuändern. — Ebenso ist
Kön. III 303, ^^ff. von den drei „auch", die nun schon seit
Jahrzehuten den Satz entstellen, das mittlere zu tilgen, das
erst eine setzerische Bereicherung der Ausgabe 1. Hd. ist.
1 1.
Wie manches für die Text Verbesserung aus den Hand-
schriften und Korrekturbogen zu gewinnen war, mag eine
Auswahl von Proben beweisen.
Schloß I 86, 14, wo alle Drucke lesen „mit dem ebenholz-
schwarzen Haar", habe ich geändert in „?nit dem schwarzen
Haar", weil es im Besitz der „Union Deutsche VerlagsgeseU-
scbaft" einen ungedruckten Brief Storms an Keil vom 14. De-
zember 1861 gibt, worin er fordert, daß durchweg „schwarz"
statt „ebenholzschwarz" gedruckt werden solle, und diese Ver-
besserung nur an dieser Stelle übersehen worden ist.
Ein Beispiel, wie durch zwei Interpunktionszeichen der
Sinn einer wichtigen Episode einer Novelle, und damit eigent-
lich die ganze Novelle erst in ihr richtiges Licht kommt, ge-
währt die Stelle Schloß I 90, 41 ff. Die Voraussetzung ist
ro, 3] PROLEdOMENA zu EINER AuSG. DER WbRKK Th. SxORMS. 4I
diese: Im Schloß ist ein junger Hauslehrer bürgerliclier, ja,
bäuerlicher Herkunft tätig. Das adeliche Schloßfräulein und
ihre Freundin proben vergeblich am Klavier ein Schumann-
sches Gesangsduett. Das Fräulein läßt deshall^ durch den
Diener den rausikkundigen Hauslehrer rufen. Dieser ist durch
•1en Unterricht festgehalten und läßt die Damen warten.
Endlich erscheint er. Und nun haben alle Drucke von Seiten
des Fräuleins mit einem Wink auf die Noten hin die Worte:
,. Wollen Sie die Giitr. halien'f"', mit Fragezeichen. Auf eine
so liebenswürdige Frage einer Dame hätte der Hauslehrer
Arnold iiatürlich nur mit verbindlich lächelnder Gewährung
antworten können. Nun zeigt aber die Handschrift, daß
Storm geschrieben hatte: „Wollen Sie die Güte haben!'-, mit
Ausrufungszeicheu. Das heißt: das junge Edelfräulein hatte
•/n dem Hauslehrer von oben herab im Ton halben Befehls
geredet. Und nun erst gewinnt das Folgende seine rechte
Bedeutung: „Er trat einen Schritt zurücl- . . ." usw. Dies
Ausrufungszeichen, daß die ganze Szene verändert, ist natür-
lich wiederherzustellen. Der elende Gartenlauben -Korrektor
hatte stumpfsinnig ein Fragezeichen daraus gemacht und
dieser Fehler sich bis heute fortgeerbt. Diesem einen Zeichen
entspricht nun aber gleich darauf ein zweites. Arnold,
leicht gereizt, aber doch beherrscht und durchaus höflich,
nimmt selbst den Kommandoton an. Lauter Sätze mit Aus-
rufungszeichen folgen. Als er aber die Damen einzeln ihre
Singstimmen probieren läßt, überrascht uns auf einmal aus
seinem Munde eine saufte, fast schüchterne Frage: „Wollen
Sie den Anfang machen?" (I gi, 15), Wiederum ist das die
Interpunktion aller Drucke, vom ersten bis zum letzten. Aber
die Handschrift belehrt uns, daß Storm auch hier ganz folge-
richtig das Ausrufungszeichen gesetzt hatte. Erst durch
Wiederherstellung dieser zwei Zeichen hat die ganze Szene
den rechten Ton bekommen.
Schloß I 97, 19 lesen alle bisherigen Drucke mit Aus-
nahme des Erstdrucks: „es mag vielleicht nicht so sein". Ich
habe die Lesart der Handschrift und des Zeitschriftendrucks
1-'
Ai-iiEur Köstkk: f7i>,3
wk'derhcr^festi'llt: „t;s ni<(<f rirllcidit so nein" (d. li. Gott iiui^
ja vit'lleidit Liebe ins Hei/ der Menschen gießen, wie Du es
ila auswendi«? lernst). Denn in der Ilamlschrift lautete der
Satz ursprünglich: „Gott ist vicllridd die Lieh, ttiir ist das
anders, ah rs dort in deinem Kateeliisnins sieht."
Univ. 1 21S4, .j und 301, <) Laben all«' Drucke ohne Unter-
schied den Ausruf „Aeh.'^', uiul Storni hat den Fehler bei
der Korrektur übersehen. Was er aber meinte, zeigt die llauul-
schrift: der Franzose sollte hier das französische „alt!'' aus-
rufen; die Stelle bekommt dadurch ganz andern Klang.
Abs. I 149, 43 lesen alle Drucke, wiederum ohne An-
nahme, das farblose „elen uo die große Straße entlang fü/irte".
liier war aus der Handschrift das richtige „oben wo die große
Straße . . ." zu gewinnen.
Carst. III 250, 7: das häßliche mehrfache „und" steht in
allen Drucken. Es muß vor „es inirde finster" fehlen. In dem
von Erich Schmidt aufbewahrten Korrektur})ogfn hatte
Storm es gestrichen. Die Verbesserung ist nur nicht beach-
tet worden.
Brauerh. HI 132, 31 hab ich nach dem Satz Jjeim Bier-
hrauen legte er allemal ein Kreuz von Höh über den Gärläihel"-
aus der Handschrift noch die Worte „und auf jedes Fmde
etivas SaW eingefügt. Der Zusatz ist nötig, weil sonst die
Stelle III 148, 24 vom „Salzen und Belreuzen" unverständlich
bleibt.
Sen, V 113, 31 und 40 hab ich nach dem Korrekturbogen
zwei vom Setzer offenbar übersehene Einträge Storras nach-
träglich berücksichtigt, so «laß sich jetzt die Anreden des
Herrn Friedrich Jovers an seine giftige Haushälterin bei
steigender Erregung in zunehmender Grobheit weiter entwickeln,
von „Frau Möllern" (III ri2, 17) über „Möllern" (III 113, u)
zu „Möllersch" (III 113, 31 und 40).
Et. IV 206, 21 ist nach Ausweis einer eigenhändigen
Korrektur Storms „Rumhoides" zu lesen, ein W^itz, der aller-
dings wohl nur wenigen höchst Belesenen ver.ständlich und
genießbar ist. Zunächst hat Storm natürlich für den jungen
70, 3l Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Stoum«. 43
GeleLrten den Namen Rhomboides aus der Urform des Lust-
spiels der Gottschedin „Herr Witzling" entlehnt; diesen Namen
aber verdreht der Etatsrat in Rumboidos mit der unmittelbar
fcdgenden Motivierung: „er tranl' des 3Iorgens Uum und des
Abends unedcr Eum".
Gleichfalls aus den im Nachlaß von Erich Schmidt lie-
genden Korrekturbogen zu „Hans und Heinz Kirch" gewinnen
wir u. a. zwei Textverbesserungen. Alle Buchausgaben lesen
IV 95, 13 ff.: „Welchen Gast er von einem Sonnta<j bis mm an-
dern oder ein paar Tage noch darüber bei sielt beherbergt hatte,
darüber brauchte ihn Icein anderer außuldären." Hier liegt die
Sache so: Nach Ausweis des Korrekturbogens hatte Storra
in der Tat ursprünglich achtlos das doppelte „darüber" ge-
schrieben, davon das erste aber jedenfalls in ddr Revision des
Zoitschriftabdrucks in „länger" verbessert, so daß es im Rein-
druck richtig war. Für die Herstellung der Buchausgabe wird
dann aber der Dichter, wie ich das früher geschildert habe,
einen der alten Korrektur- (nicht Revisions-) Abzüge des Zeit-
schrifteudrucks benutzt und hier das häßliche zweimalige
„darüber" übersehen haben. Wir handeln also in seinem Sinne,
wenn wir die Lesart des Zeitschriften- Reiudrucks wieder-
}) erstellen.
Kirch IV 98, 24 hab ich die Lesart aller Buchausgaben
„sie mochte kaum vierzig Jahre sählen" zurückgeändert in die
Lesung des Zeitschriftenabdrucks: „Sie mochte hium über dreißig
Jahre zählen". Denn auch hier war der Dichter gegen seine
eigne Vergeßlichkeit zu schützen. Im Text des Zeitschrift-
abdrucks halte ursprünglich „liaum vierzig" gestanden. Dann
hatte Erich Schmidt am Rande die Bereclinung angestellt:
„Erblühend, reifend, also ca. 15 + 17 + 2", und daraufhatte
Storm die Altersberechnung geändert in „Mnm über dreißig'K
Als er nun aber als Vorlage für den Buchdruck leider wieder
einen alten uukorrigierten Abzug des Erstdruckes benutzte,
da war der frühere Fehler wieder da.
44 Ai.HKitT KösTKu: [7^.3
I 2.
Nacluloni ich umi IJcthenscbaft diirüber abgelegt, und an
vielen Prc»ben dargetaii habe, in welcher Weise ich zu einem
gereinigten Text der Stornischen Novellen gekoninien biu,
erübrigt noch ein zweites. Wie ich schon gesagt habe, ist es
zwar uumöglich, einen ganzen Lesarten-Apparat zu drucken,
der viele Bogen unitasseu würde. Aber der Insel-Verlag be-
sitzt ein Exemplar mit allen eingetragenen Textverbesserungen,
ich eines mit allen eingetrageneu Variauten. Und aus der
Masse dieses Materials möchte ich doch zusammenfassend das
Wesentlichste mitteilen. Es wird aus solchen Aufstelluuy;eu
sich zeigen^ Avie die Eigenart Stormschen Stils, ihre letztt^
W^irkung sich *erst nach und nach, von Druck zu Druck her-
ausgebildet hat. Wohl verstanden: es handelt sieh hier nur
um die Ergebnisse, die sich aus der Druckgeschichte, aus
dem Vergleich aller Ausgaben gewinnen lassen; eine Analyst
oder Geschichte des Stormschen Novellenstils im ganzen muß
einem künftigen Forscher — vielleicht an der Hand meiner
Ausgabe — vorbehalten bleiben. Ich selbst, der sonst wohl
der Nächste dazu wäre, hab einstweilen mich genug mit dem
Dichter beschäftigt.
Storra, der im Lauf seines Lebens sich zu einem der
feinsten Wortkünstler entwickelt hat, schrieb von Haus aus
ein wenig musterhaftes, ein etwas wild gewachsenes Deutsch,
das sich hauptsächlich aus drei Elementen zusammensetzte.
Wir können es am besten aus seinen Briefen heraushören»
die man beileibe nicht zur Norm für etwaige Richtigstellungen
seines Kunststils nehmen darf. Zugrunde lag ein breitbehag-
licbes, oft zum Plattdeutschen, gelegentlich auch zum Däni-
schen neigendes Holstendeutsch; wir hören es noch heraus,
wenn er in Briefen schreibt: „in der bilden Zeit vor Weih-
nachten"; „es friert tüchtig; und Niklas ist bei, Eis zu
hauen"; „gegen elf Uhr kamen wir glücklich zu Haus''
oder dgl. Daraufgesetzt war eine starke Schicht Juristen-
deutsch mit seinem „rücksichtlich, behufs, etwanig, in Betretf,.
) . KC.OMENA ZU EINKR AuSG. DEH WeKKE Th. StOHMS. 45
respective", seinem „destallsig, anlangend, in puncto" n. ä.
Und darüber gelagert endlich eine reichliche Beigabe von
Literatursprache, zum Teil edler Herkunft aus klassischen
und romantischen Dichtern, zum Teil aus den papierenen
Leistungen der Kalender und Familienblätter. Schwerfällig
handhabte der junge Storni anfangs die Sprache; lange Paren-
thesen ließen den Satz stocken, Inversionen („und gestatte-
ich mir", „und bitte ich dich'') brachten ihn wieder in
Fluß. Dazu fühlte sich der Briefschreiber und selbst der
Schriftsteller — vielleicht durch den Gebrauch des platt-
deutschen Idioms — noch in vielen Fragen der Sprachrichtig-
keit unsicher.
Von alledem hat sich manches auch in seine Erzä,hlun-
tfpii ein cre schlichen. Und es ist nicht angebracht (wozu die
Gesamtausgabe manche Ansätze unternommen hat), hier mit
der roten Tinte zu kommen und dem Dichter die Sätze zu
verbessern. Es entehrt ihn gar nicht, daß er „gewöhnt" und
;,gewohnt" nicht unterscheiden kann, daß er „hängen" und
„hangen", „hängte" und „hing", „aufgehängt" und „aufgehan-
gen" bis an sein Lebensende verwechselt, daß er — wenig-
stens in den älteren Novellen — „Farren" für „Farne" schreibt
oder „zwo Köter", „zwo Kerle" (Aq. II 225, 43; 226, 4; 239, 12)
sagt. Er verbindet „kosten", „heißen" (= befehlen), „lehren"
)neist mit dem Dativ (Eek. lU 118, 28 er hieß einem Hofjimgen
ein Bündel Heu herleizuliolen; Viol. II 131, 10 das ist das
Beste, was ein Mensch . . . andern lehren Jcann; Schw. IV 35 1, 9
die Ordnung, die ich meinem Sohn gelehrt hatte). Ja, es kann
ihm noch spät ein so monströser Satz unterlaufen (Mal. I,
251, 29): „Obgleich gänzlich verhUppelt (soU heißen: obgleicb
der Maler gänzlich verkrüppelt war), hatte ich Jieinen tolleren
Kameraden als ihn."
Die drei gekennzeichneten Elemente seiner Sprache trifft
man immer wieder an. Er ist imstande, einen so papierenen
Satz drucken zu lassen (Markt I 337, 7): „dann, auch die
Lampe nehmend, ging er" (er bessert allerdings 1861: dann
nahm er auch die Lampe und ging). Das Juristendeutsch ist
\t) Ai.HKRT Köstkk: [70,3
imausroltbar l>ci ilmi: noch Scn. V 125, 8 si'hroilil er: ..mich
^elhtr aubchotjfon/, so Imhr ich . . .''
\'(>r ülleni alter ist sein tStil durclisetzt mit i'rovin/ialis-
iiieu uiul \ ulgurismen der Marscli- tuid Geostlande an der
Nordsee. Das verdient einmal eine besondere Untersncliung^):
hier verzeicbm' iili vor allen solche Wendungen, die in eiu-
/.elneu »Storni-Drucken niibverstandt^n oder unterdrüclii sind,
oder die man in niejnci' Ausgabe etwa für Kehler halten
könnte. Wenn Storni Kiew' V 173, i^ im Erstdruck und noch
in der Buchausgabe von 1^85 geschrieben hatte „wir wollen
gleich nach HaHs&\ so ändert er 188O, um die Sprechart des
alten Kapitäns besser zu treffen: „wir wollen gleich zu Hause^^. —
Er wendet den in Niederdeutschland gebräuchlichen Kompara-
tiv „öfterer" au (Aug. I 200, 38; Hosen I y), 13; Schloß 1 87, 22
[nach der Handschrift hergestellt]: Brauerh. III 148, 12). —
Ebenso ist ihm der Superlativ „einzigst" eigen. Nachb. \
142, 30 meine einzigste Freude (wieder hergestellt); Dopp. lil
270, 6 sie war die einzigste; Brauerh. III 131, 27 tlas Ge
schüft war . . . lange das einzigste am Ort gewesen (hier hat die
Kladde noch „einzige", in die Reinschrift muß aber Storni
die Korrektur gebracht haben; die ersten Drucke haben sie,
und sie ist als Stormisch festzuhalten). — Er hat (beeinflußt
durch das Dänische?) eine Vorliebe für das verstärkende Ad-
verb „selten", im Sinne von „außergewöhnlich". Wie er in
Briefen schreibt, Mörikes „Mozart" sei „selten wertvoll", die
Briefe seien „selten interessant", eine „selten heitere Jugend",
„es sind selten herzenswarme Menschen", so auch in Novellen:
Tann. I 1 1 8, 20: dies noch immer selten schöne Haar; Popp. II
317, 5 sie sei von seltener Anmut gewesen; Eek. III 97, 12 in
selten ausfilhrliclicr [ 'herlief erung. — Und noch eine andre
Verstärkung kennt er aus seiner Umgangssprache. Er, der
als pedantischer Bräutigam einst (Constanze (Briefe an seine
Braut S. 20) auf ihren Bericht, sie habe ,/urchtbar gelacht",
eine Strafpredigt für dieses „enorme und abnorme Verstär-
1) Vorläufig i3t zu Tenveisen auf die Zusammenstellungen von
-A.PEOCKSfH in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift, Bd. 6, S. ssyff.
70, 3] Proleoomexa zu i::inku Ausg. dek Wi;kke Th. Storms. 47
kuno-swörtchen" gehalten hatte ^), er schrieb später in Briefen
ruhio- „es war rasend behaglich", ,,wo Constanze es rasend
gemütlich fand"; und endlich drang dergleichen sogar in seine
Novellistik ein. Basch IV 272, 8 sie ivar so furchthar Mein
fioch. — Durchaus im Druck zu bewahren sind bei Storm
einzelne als indeklinabel erstarrte Ausdrücke; sie sind ganz
seiner Sprache gemäß und von Setzern vielfach mißverstan-
den. Staatsh. I 57, 4 sie icar so in der Leute Manier (nicht
„Mäulern"!); Jens. I 165, 30 Ich denke, [es sind] seit letzten
Mai zwei Jahre („letzten Mai" ist indeklinable Datumbezeich-
uuno' und steht ganz richtig in der Handschrift, dem Zeit-
schriftendruck und der ersten Buchausgabe; 1868 ist sie zu
Unrecht pedantisch geändert worden). — Ebenso müssen wir
uns damit abfinden, daß Storm vom Plattdeutschen her aus
der Aufforderung in der Imperativform (nimm mirs nicJd ühel)
und der in der Konjunktivform (nehme sie mirs nicht übel) eine
Miscliform macht. Hinz. II 95, 17: nimm Sie mirs nicht [für]
übel.' Mal. I 263, 40 N^m sieh mir einer diese Hexe.' (wieder-
hergestellt); Sen. V 102, 2 Ntm sieh mir einer diesen Quer-
kopf an! Griesh. IV 141, 16 Gieh Er mir seinen linken
Strumpf!
13-
Aber mit der Zeit wurde er doch in diesen Fragen etwas
strentrer. Wenn er nicht besondere Zwecke damit verband,
suchte er seine Prosa von gar zu niedrigen oder unverständ-
lichen Wendungen seiner heimatlichen Alltagsrede zu befreien.
Staatsh. I 52, i an einem Akt des Deiches > 1860 an der
Seite des Deiches Univ. I 299, 28 (H) meine Schivcster tvill's
1) Vgl. auch Briefe an seine Braut, S. 31, wo Storm schrieb, als
Constanze den „Klippschulenausdruck" gebraucht hatte, sie sei „furcht-
bar" abgespannt gewesen: „Wir müssen uns als Gebildete ohne Zweifel
befleißen, die Worte in der Bedeutung anzuwenden, die sie durch den
Sprachgebrauch haben. Ungebildete und Kinder tragen ihre Willkür
in die Sprache hinein. Namentlich so, daß sie ungeheure — hier ist
das Wort am Platze — Verstärkungsworte gebrauchen, wo sie nicht
hingehören. Ist eine reine, einfache Sprache nicht etwas Schönes, Edles?"
Plül.-hist. Klasse igtS. Bd. LXX. 3. 4
48 Amjkht KösTKir. |7<\ >
ihr 'II (irhur(st<i(j srJhi>/>ni > (Dr) . . . cin>i (ieJnirfsta// . .
Mal. 1 J57, Q (H) in der rrrtraikfrn Spruche > (Dr) iv
der seltsamen Sprache (gonicint ist das Holläiulische) Meid.
II 141 31; (II) die Diruc yliipfe Um an > (Dr) . . . iiJofzte
ihn an l'opp. II 322, 20 (11) der alte Jutstcn war da-
mals noeh 7'ummcli(/cr > (Dr) . . . noch h(uifälli(/er. —
Eine Form wie „lodern" (für „fordern"), die er in seiner
Jujjend sofjar im Keim auf „verlodern'' („Doch du bist
fern") tind später gern noch in Briefen anwendet (an
Pietsch rtO. Sept. 1856; uii Gebr. Paetel in den Siebzig-er-
jahreu oft; an Eggers S. 1 1 , 23)^ kommt in seiner erziihlen-
den Prosa nie vor; stets wird sie schon in der Handschrift
korrigiert. Ver. II 70, 28 (H) aufgefodert > (Dr) aufgefw-
dert Univ. I 297, 2 (H) zuriicl'foderten > (Dr) isurüeJcfm--
derfen 1 318, 44 (H) aufgefodert > (Dr) aufgefordert Bul.
II 48, 9 (H) zurikhfodem > (Dr) zurücJcfordern II 48, 30 (H)
Barlehnsfoderung > (Dr) Darlrhm^fordmmg Popp. II 316, 14
(H) foderte > (Dr) forderte Waldw. III 16, 17 (H) fodern >
(Dr) fordern III 18, 28 (H) erfoderlichen > (Dr) erforder-
liclien. — Vollends wenn er Worte und Wendungen, die er
Jahrzehnte lang arglos gebraucht hatte, eines Tages als fehler-
haft erkannte, dann fühlte er als deutscher Dichter die Pflicht,
sie abzutun. Imm. I 18, 6 eine Iwhe, Imhle Hausflur > 1868
ein hoher, hühler Hausflur Mus. III 52, 10 auf der Hausflur
> 1876 auf dem Hausflur Kirch IV 70, 37 in der Flur >
1883 im Flur (ähnlich 71, 35: 91, 9; 91, 37; 92, 9); Imra.
I 24,32 den empfangenen AI mosen^ 1 8^,2 das empfangene Almosen;
Häw. I353, 22aM seinem Meinen Zehe > 1851 an seiner Meinen
Zehe Jens. I 155 21 er schröb die Lampe höher > 1867 . . .
sehraiihte . . Et. IV 200, 6 die hestheleumdetsten Honora-
tioren > 1889 die hestheleumdeten . . . (doch sind bei diesem
Beispiel Zweifel möglich). — Besonders ist es ein Wort, das
Storm später, nachdem er es als falsch erkannt hatte, aus-
merzt. Er hat in seiner .lugend, wie das in Niederdeutsch-
land üblich ist, für „au etwas gedenken", „sich auf etwas
besinnen" stets gesagt: „etwas erinnern" (ohne Reflexivpro-
70, 3] Prolkgomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 4g
nomen und mit dem Akkusativ). In der tägliclien Rede und
in Briefen wandte er es ruhig weiter an: „wenn du etwas
nachsinnst, so Avirst du es schon erinnern"; „ich meine be-
stimmt zu erinnern". Es war daher ein Fehler, daß Bächtold,
dem der Sprachgebrauch wohl fremd war, im Mörike-Storm-
Briefwechsel S. 52, Z. 27, ein ,,mich", wenn auch nur in
Klammern, in den Text setzte. Die Briefstelle ist ohne das
„mich" ganz in Ordnung. In den Sechziger-, Siebzigerjahren
wurde Storni aber stutzig. An Heyse schreibt er im Dezember
1874: „vielleicht erinnern Sie es (richtiger: Sie sich dessen)".
Und so tilgt er es auch in Drucken, die hinter der Zeit zu-
rückliegen. Staatsh. I 38, 23 was die Alte geanhvortet, erinnere
icJt nicM mehr > 1868 . . ., dessen entsinne ich mich nicht
mehr. I 40, 3 Aber ich erinnere noch gar ivohl > 1868 . .
ich entsinne mich noch ... I 40, 36 ton der ich nicht erinnere,
daß . . > 1868 . . ich mich nicht entsinne, daß . . Rosen
I 30, 12 du wirst es erinnern > 1861 ... dich dessen erinnern.
Das führt uns nun aber zu einer gTund sätzlichen Be-
obachtung hin. Storm, der in jungen Tagen ziemlich so ge-
redet hatte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, wurde in
Heiligenstadt und seit der Rückkehr nach Husum immer
korrekter in seiner Sprache. Man kann das nicht allein auf
zunehmenden Dichterehrgeiz, nicht auf Berührung mit Amts-
kreisen außerhalb der Herzogtümer, nicht auf Erweiterung
des Blickes im neuen Deutschen Reich zurückführen, sondern
ich möchte denken: die kleinen Sorgen der heranwachsenden
Kinder, die preußische Schulen besuchten, haben da das Ihrige
mit getan. Denn da konnte täglich gefragt werden: „Heißt
es so? oder heißt es so?" Und der Vater mußte es doch
wissen, da er selbst ja zum Teil der Lehrer seiner Kinder
war. Auch diese Probleme kann ich hier nur so weit streifen,,
wie sie meine Ausgabe angehu. Da aber sind es zwei Gruppen
von Fällen, die uns zeigen, wie Storms Sprache mit den
Jahreii an grammatischer Richtigkeit zunahm.
Einesteils: er führt, wenn auch nicht überall, so doch in
einer stattlichen Zahl von Fällen, nachträglich in bereits ge-
4*
50 Ai-HKUT Kösti:r: [70, 3
druckten Werken eiiie Strenge iler consecutio tiMuporiun durch,
wie er sie vielleicht vom Lateinischen g-ewonnen hatte, wie
sie aber dem Doutschon gar nicht so unverbrüchlich eigen,
ja sogar gowolinheitswidrig ist. Ang. I 200, 21 /> Jtlichtc,
. . her, als ^7/r//c rr > 1868 .... als suchte er Stuatsh. I
55, 3 (11) Zivei derselben hatten ihre Hände gefaßt, als Ivwne
. . > (Dr) als Ivnnfe . . SchU)ß l 82, 29 Da ivar ihr,
als höre sie > 1 863 .... als hörte sie I 98, 9 maclde eine
Beueijumiy als uvlle er sich od fernen > 1863 .... als wollte
er . . I IOC), 6 sie drüclde . . das Haar . . zurüclc, als wolle
sie > . . . als ivollte sie Abs. I 144, i (H) er hustete, (ds ob er
sprechen ivolle > (Dr) wollte Cypr. II 41, 7 als ob es sie
banne, bliclde sie . . > 1866 .... bannte, . . . -^ürg. I 225, 43
mir war plöt~lich, cds sehe ich > 1868 (Gesamtausgabe) als
sähe ich (ähnlich 238, 39) Heid. II 139, 7 (H) [es] sei ein
besonderes Ereignis, welches sein Verschwinden erJdären könnte,
nicht belannt geworden > (Dr) erJdären Jcönne
Popp. II 324, 24 (H) er schlenkerte . . . als wenn er sich . . nicht
eu lasseii wisse > (Dr) wüßte II 339, i (H) sie meinte
doch, das Kind müsse . . . > (Dr) müßte . . Waldw.
in 30, 3 Gy sah sie an, cds erwarte er > 1875 .... erwartete
er III ^2 7 (H) da der Förster auf ihn zutrat, als ivolle ei-
. . > (Dr) .... wollte er . . Ill 44, 2 (H) er legte seine Hand
hinein, als liebkose er > (Dr) liebkoste er Aq. II 234,
26 (H) es tcar, cds ivenn etwas . . sich . . heraufarbeite > (Dr)
heraufarbeitete Ren. III 193, 20 da schauderte mich,
daß ich . . . trinken solle > 1878 sollte Schw. IV
316, 20 [Rudolf ging], cds ivolle er es empfinden > 1883 . . .
als ivollte er empfinden Kön. III 327, 20 mir war, als blicke
er > 1888 . . . als blickte er Had. IV 252, 16 (H) das Herz
schlug, als wolle es . . '> (Dr) .... als ivollte es . . Basch
IV 281, 8 (H) sie nickte, als solle es ein Schwur sein > (Dr)
als sollte . .
Und noch an einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich
die zunehmende Annäherung Storms an die Ordnungen der
Grammatik. Ihm ist es von Haus aus das Nächstliegende,
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 5 1
bei Neutren wie „Mätichen, Geschöpf, Kind'^ oder bei einem
Namen in der Koseform, wenn er ein weibliches Wesen be-
zeichnet, das natürliche Geschlecht zu berücksichtigen, hier
also das pron. pers. „sie" und das possessivum „ihr'' anzu-
wenden. Markt I 340, 28 das Mädchen, deren Hände . . ruhten
Mal. I 259, 26 ich folgte dem Mädchen, die schon . . vcr-
schuimden war Heid. II 153, i das Mädchen, die nach mei-
nem Geheiß sich .. gesetzt hatte II 155, 44. das j\Lädchen,
die noch immer .. hinausstarrte II 156,3 das Mädchen
wandte den Kopf, als habe sie nichts davon verstanden Popp.
II 327, 39 Das Lisei ivcir fort; sie ivar . . Waldw. III 16, 3
der leichte Tritt eines Mädchens, deren müde Füßchen . .
Mus. III 64, 17 ein Mädchen, die mit großen Äugen . . auf-
hliclie Aq. II 219, 18 ein Dirnlein, die ihre Zöpfe lustig
fliegen ließ Schw. IV 355, 13 an dem Bette seines Weihes^
die seine leiden Hände . . hielt Griesh. IV 135, n das Weib,
die eben aus dem Dorf heraufgeJiOtnmen war Had. IV 224, 40
[er sah] sein Kind; sie stand . . IV 225, 27 Dann hob er
sein Töchterchen auf seine Arme und trug sie . .
Gelegentlich wird bei Storm das natürliche Geschlecht
sogar erst nachträglich in den Text korrigiert. Popp. II 338,
14 (H) Nun, meinte Lisei, ein Mäntelchen habe es schon, . . es
hab' auch . . darin gefroren > (Dr) habe sie schon, . .
es hob' sie auch . ,
Aber Storm wird später, wie in vielen Dingen, so auch
hier gi-ammatisch korrekter. Abs..I 150, 31 Das alte 3Iädchen,
die 7ioch eben so allein gewesen > 1865 . . . das noch eben . .
Popp. II 349, 26ff. (H) es tat mir fast weh, das Lisei an-
zusehen; denn bald fuhr ja auch sie mit ihrem Vater . . hin-
aus > (Dr) .... fuhr es ja auch mit seinem Vater . . hin-
aus Eek. III 118, 34 das Mädchen, die nur mit Widerstreben
festgehalten wurde > 1886 . . . Mädchen, das . . III 124, 34
das Mädchen, die sorgend zu ihm aufUicUe > 1886 . , . das
sorgend . . Schimm. V 77, 25 Jetzt hiiete das Kind an
ihrer Seite und sah mit ihren stillen Augen > 1888 .
mit seinen stillen Augen . . Analog, aber, so viel ich
52 Albert Köstek: r7^\ .?
weiß, mir ein Mal, koiiiint die Waiullun^ für das Mas-
kulinum vor. Aq. II 208. I ,,J'Jiii Mein (irsdicuk doch
mußt du deinem Kinde gehen!'' Und ich nmlrtr auf seinem
J>ildiiis ihm eine weiße Wasserlilie in die Ihuid, cds sd er
spielend damit eingeschlafen > iSyj .... als sei es spielend . . .
Und uuu j]feschieht etwas sehr Merkwürdifjfes. Da das
grammatisch Korrekte, dem Storm im Alter mehr und mehr
zuslrehte, vielfach für ihu das Ungewohnte, das Nicht-Husumische
war, so scheint er in einzelnen Fällen das in seiner Heimat
durchaus Uni^ebräuchliche fiir das Richtige oder wenigstens
für das Aneignensworte gehalten zu haben. Nur so kaim ich
es mir erklären, daß er in seinen letzten Jahren allerlei in
seine Sprache aufnimmt, was dem Schleswig-Ilolsteiner völlig
fremd ist. Ob er es aus dei- Lektüre aufgefangen hat, oder
aus den Erzählungen seiner in Mittel- und Oberdeutschland
studierenden Kinder, aus seinen wenigen Reisen nach Baden
und dem Salzkammergut, aus dem Einfluß von Heyse, Keller,
Schindler (Julius von der Traun), weiß ich nicht zu sagen.
Es gehört hierher — um nur einige Proben zu geben — das
in Sachsen und Thüringen übliche „hinausmachen" für „hinaus-
wandem" (Aq. II 259, 43); die Konjugation mit „sein" statt
mit „haben" (Riew' V 156,- 5 das Hans war dagestanden)] das
Wort „heurig" (Xachb. ¥129,7); das Verbum „schleißen" und
sein Partizip „verschlissen'* (Nachb. V 137,39; Carst. III 210,3;
Dopp. III 260, 25, wo noch dazu eine Norddeutsche spricht;
Kirch IV 88, 7); das „so zwar", ohne daß ein „aber" folgt,
also an Stelle von „und zwar so" (Aq. II 218, 13; Carst. III
214, 39: Griesh. IV 153, 39). Besonders aber eignet er sich
das in Osterreich übliche „um etwas, oder: auf etwas ver-
gessen" an. Sen. V 119, 40 er hatte schon darum vergessen
Kirch IV 77, 34 er wollte jefzo zivar darauf vergessen haben
Schw. IV 316, 28 er hatte ganz darum vergessen Griesh. IV
117, 28 Vergeßt nur nicht auf Eures Vaters Süpplein. Dieser
Sprachgebrauch bringt auch Licht in eine bisher ganz un-
verständliche Stelle. Aq. II 226, 32 haben alle Drucke die
Lesung: ,,Ieh hatte aitch Katharinen . . . fast vergessen." Ein
7o, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Tu. Storms. 53
aufmerksamer Leser mußte sich fragen: wa.s soll hier das
„auch"? was hat der junge Maler demi sonst vergessen?
Erst die Handschrift belehrt uns, daß Storm geschrieben
hatte: „Ich hatte auf Katharhwn . . . fast vergessen", und so
ist jetzt auch zu drucken.
14.
Im 13. Abschnitt haben wir oft schon Storms bessernde
Hand verfolgt. Aber es handelte sich da immer nur um
Mittel, durch die sein Stil von Ausgabe zu Ausgabe richtiger
wurde. Weit interessanter sind nun aber die aus den Le.s-
arten erkennbaren Änderungen, durch die er seine Sprache
— sagen wii- es mit Einem Wort — Stürmischer gestaltete.
Gehn wir vom bloß Zufälligen zum Wesenhaften, von
der Schale zum Kern vor, so fällt zuerst auf, wie Storm bei
jedem neuen Druck, den er durchsah, auf sorgfältigere Wahl
treffender Worte bedacht war. Wer sich ein üi-teil bilden
will, muß natürlich die zitierten Stellen im Zusammen-
hang des ganzen Textes lesen, um zu erkennen, daß wirklich
der jüngere Ausdruck stets aus der Gesamtheit der Situation
gewonnen und von einer starken sinnlichen Anschauung ein-
gegeben ist. Staatsh. I 40, 33 (H) die (jemessenen Blicke >
(Dr) die stren'jen Blicke I 46, 3 die saubersten und knappsten
Handschuhe > 1860 die feinsten englischen Handschuhe I 52,
« (H; der Bote suchte in seiner Ledertasche > (Dr) Her Bote
blätterte . . . Markt I 342, 35 auf die Wangen klopfte >
1861 ... klatschte Schloß I 81, 23 von fast durchsichtiger
Weiße > 1863 . . Blässe I 88, 13 (H) von den geselligen
Formen > 1862 von den gesetzlichen Formen > 1868 von
den aWiergebrachten Formen > 1889 von den hergebrachten
Formen I 97, 40 mit den scharfen Zähnen > 1863 mit den
spitzen Zähnen I 103, 41 an finsterer Stolz > 1863 eine
finstere Trauer I 1 11, 19 als ob es ihn dränge (jedenfalls
eine willkürliche Änderung der „Gartenlaube") > 1863 als
oh es ihn haste Abs. I 134, 12 den großen gelbgrauen Vogel
> 1865 .. gelbbraunen I 142, 5 (Hj Meine Gedanken
54
Ai.iti lii' KössTKu: [70,3
ginifoi in iliv dli* /.< it > (Di") ■ • • verloren sich in die alte
Zeit lu'^. II 25, 3« mit jluttcrndcn Krönrcn > kS66 mit
Krümm und flatternden liändcrn Bul. II .17, m (II) die
Türklinke seines Zinrmers > (Dr) die Klinke seiner //nnmertür
II 5-% 1 {\\) Die Schiecster stand sprachlos cor ihm >
i^Dr") > . . stand schnciffcnd vor ihm .leiis. I lOi, 4- sich he-
tveijen > 1868 fori<ileiten Vo\)\). II :u-', 8 (II) hart katho-
lisch > (Dr) streng katholisch II 348, i- die Erlanhnis mir
erbeten > 1875 die l\rlauhiis erhalten II ,S53, 42 fleischen
frisch anff/enialten Kulissen > 1875 ... (inr/cmaltcn . . .
Walihv. III 12, 25 mit ihm hinahschreitcnd > 1875 hinter ihm her
schreitend 111 15, 35 2» ihren stillen Schlafplätzen > 1875
zu ihren noch abgelegneren Schlafplätzen III 18, i4(H) bevor
er seinen Satz heginnen konnte > (Dr) . . Satz vollenden konnte
III 24, 12 durch irgend u-clchc unheimliche Gea-alt > 1875
heitnliche Gewalt Mus. III 54, 30 die edle Gottesgahe >
1876 dieses edle Kunsf^/ehräH Et. IV 183, .j erwiderte ich
ruhig > 1882 ... nachlässig IMew' V 172,3 einen herz-
haften Zug > 1885 einen starken Zug Had. IV 217, i seine
kaffeebraune Gugelkappc (unpassend für eine Erzählung, die
im 14. Jahrhundert spielt) > 1885 seine braune . . . Dopp.
III 259, 6 ein junger Advokat > 1887 ein schlichter Advokat.
Ich schließe einen kurzen Bericht über die Fremdwörter
an. Auch über dieses Thema läßt sich, etwa in einem Schul-
programm, allerlei Aufschlußreiches sagen. Ein Purist Avürde
an dem Husumer Poeten keine Freude haben; sein Deutsch
wimmelt von Fremdwörtern, und zwar nicht nur in alter-
tümelnder Sprache zur Kennzeichnung der Redeweise der
Barock- und Rokoko-Zeit, nicht nur zur Charakteristik ein-
zelner Berufe, nicht nur als Bestandteil der gezierten Sprache
feudaler Personen, sondern auch in Storms eignem Erzähler-
deutsch. Aber er ist und bleibt auch hier Künstler. Er
wendet diese Ausdrücke nicht aus Nachlässigkeit an: auch
kannte er sehr wohl den Bedeutungsunterschied manches
Fremdwortes und seines Ersatzes. Sen. V 108, 35 ff. findet
sich das Dialogbruchstück:
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 55
„Um Gottesivillen, es hat doch 'kein Unglück gegeben?"
,,Nein, nein, Christine."
„Aber ein 31alheur doch, Christian Alhrecht?"
Ja, es kann geschehen, daß er ein Fremdwort erst nach-
träglich einsetzt. Aq. II 220, 36 (H) tviderwärtig > (Dr)
obligeant (wegen der Sprechweise des 17. Jahrhunderts). So
wird es auch bei Storni, wie hei so manchem Schriftsteller,
wohl mehr unsre Pflicht bleiben, sein Verhalten zu erklären,
als zu tadeln.
In einer kleinen Zahl von Fällen freilich scheint doch
dem Dichter das Gewissen geschlagen zu haben; da beseitigt
er die Fremdwörter. Es sind jedoch in seiner ganzen No-
vellistik nur 13, die er zum Tode verurteilt hat, die her-
kömmliche Unglückszahl. Staatsh. I 41, 5 aus der Keller-Etage
> 1868 aus der im Erdgeschoß befindlichen Küche 1 48, 35
(H) mir waren die Äugen . . . fatal > (Dr) .... zmvider
Schloß I 84, 5 (noch 1868) die Etage > i88g das Geschoß
Abs. I 138, 10 (H) eine solide Haushaltung > (Dr) eine
regelrechte Haushaltung Jens. I 157, 38 Comtoirist > 1868
Schreiber Mal. I 263, 28 im Eisenbahncoupe > 1868 auf
der Eisenbahn I 273, 14 mein Atelier > 1868 meine Werk-
statt Fopp. II 346, 33 (H) der hektische Inspektor > (Dr)
der schivindsüchtige Inspektor (wohl hauptsächlich des Klanges
wegen) II 355, n (H) fix und ohne Anstoß > (Dr) fest
und .... Ren. III 200, 40 Organisation > 1878 Gemüts-
beschaff'enheit Brauerh. II 132, 2 und 9 (H) Speziesthaler >
(Dr) Bmikthaler Et. IV 210, 25 sah mich kritisch an'> 1882
sah mich unbefriedigt an Had. IV 244, 44 das die Ehe an-
nullierte > 1886 das die Ehe aufhob.
Viel beachtenswerter, als diese doch immer an der Pe-
ripherie liegenden Merkmale, sind nun aber die Besserungen,
die Storni seinen Werken im Einklang mit dem tiefsten
Wesen seiner Erzählerkunst gab. Wenn er zu seinem Schmerz
sah, daß seine Dichtungen nicht recht in die Breite des
Volkes drangen, sondern nur von einer kleinen Gemeinde ge-
schätzt wurden, so wußte er sehr wohl, woran das lag. Es
s^
A-LUKRT Köstk.r: l7". 3
war eiuo stiUo, /.urüokhiilti'udt' Kirnst, dio it ilailuaolito, und
rr Will- weit diivoii eutfernt, Zu<ijestiniduisso /u machen und
etwa ^eiIle Er/iihlunt^en durch s])annende.s oih'r inifkelndes
Beiwerk dem sehk'i'hteu Lese^eschmark näher zu luiiigen.
Er spricht einmal Erich Schmidt gegenüber am i6. März
1877 von der Art und Weise, wie seine Novellen vorgelesen
werden müßten: .,lch glaube, die Hauptsache beim Vorlesen
meiner Sachen ist, daß sie niögliclist einfach gelesen werden,
und jetle Betonung hier- oder dorthin nur leicht angeschlagen
werde." Solche leisen Wirkungen sollte luitürlich nicht erst
der Vorleser hervorhriugeu; sie lagen schon von Anfang an
in den Dichtungen diiu.
Und diese Zartheit des Vortrags, die suchte nun der
Dichter von Auflage zu Auflage in seineu Novellen zu er-
höhen. Unter diesen Gesichtspunkt läßt sich die llaui)tmasse
seiner Änderungen 1 »ringen Wo er in frühen Fassungen ein
Zuviel von Ausdrucksmitteln angewandt, wo er den Ausdruck
zu hoch gewählt, aber auch wo er die Rede zu sehr verzier-
licht hatte, da überall gleicht er mit vorsichtiger Hand aus.
Und über diesen Teil seiner künstlerischen Sorgfalt möchte
ich hier Aufschluß geben. Jede einzelne Änderung ist natür-
lich nur unscheinbar. Aber wie die letzte Vollendung eines
Gemälde», einer Radierung — nur liebevoller Versenkung
spürbar — oft von wenigen Tupfen, Strichen oder Punkten
abhängt, so kann in einer fein gegliederten Dichtung das
Letzte der Formgebung durch wenige Worte, Wortformen
oder Silben geschehen.
Dabei möchte ich für die Bewertung der Zitate voraus-
schicken, daß darauf zu achten ist, wie die Belege stets aus
der ganzen Reihe der Novellen entnommen sind. Es handelt
sich also nicht um Änderungen, die durch den besonderen
Inhalt der einzelnen Erzählung bedingt, sondern um Stil-
mittel, die dem Gesamtwerk dieses Dichters eigen sind.
Storm brauchte, besonders zur Schilderung weiblicher
Anmut, hunderte von Diminutiven; allmählich aber wurde es
ihm zu viel dieser Verkleinerungen, und er tilgte: Saal II
70, 3] Prolbgomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 57
65, 17 SchaulielbreUdien > 1868 Schaukelbrett Staatsh. I
.38, 12 f. die Monden Härchen fallen über ein blaues Blusen-
Ueidclien > . . . . BlusenMeid Univ. I 292, 13 (H) vor dem
einen der Glasldistchen > (Dr) vor dem einen Glaslcasten
Heid. II 133, 6 (H) die weißen spitzen Zähnchen > (Dr) . , .
Zähne (ebenso 133, 27) Heut' II 192, 41 auf buntfarbigen
Räbchen > 1889 Stäben Waldw. III 21, 34 (H) Füße
aus dem Märchen dürfen nicht auf solchen Klötzchen gehen >
(Dr) .... Klötzen . . III 27, 24 (H) in den leichten Stiefel-
chen > (Dr) Stiefeln Aq. 11 222, 5 (H) mit glühen-
dem Gesichtchen > (Dr) mit glühenden Wangen. Seit der
Mitte der Siebzigerjaiire hatte sicli der Dichter mehr im Zügel.
Gleichsam die Kehrseite dazu ist, daß er dort, wo er ins
tjberschwäugliche oder poetisch Ungebräuchliche verfallen
.war, wo er zu hohe oder zu feierliche Worte gebraucht hatte,
eiligst milderte. 1mm. I 17, i6 in alle Eivigkeiten > 1857
in alle Eivigkeit Sonn. I 211, 33 man mußte sie ruhig walten
lassen > 1854 .. sie gewähren lassen Staatsh. I 59, 6 der
rotblühenden Himbeere > 1860 der roten Himbeere I 60, 24
das Mondenlicht > 1860 das Mondlicht Ver. 11 75, 15 (H)
das Totenbild des Gekreuzigten > (Dr) das Bild .... Schloß
I 97, 36 den Estrich (klingt für den Norddeutschen wie ge-
ziei-tes Buchdeutsch) > 1863 die Dielen I 108, 40 auf den
Estrich > 1863 üher den getäfelten Fußboden Cypr. II 41, 16
da lag ihr Sohn regungslos (Balladenton: da lag Herr Oluf)
> 1866 ihr Sohn lag regungslos Mal. I 251, 15 erwiderte
ruhig der Äeskulap > 1868 erwiderte er Waldw. III 8, 35
noch von dem bläulichen Duft des Morgens umgeben > 1875
noch in dem bläulichen Duft des Morgens Aq. II 260, 23
(H) ich sah das Meer im ersten Sonnenstrahl entbrennen >
(Dr) . . . im ersten Strahl der lieben Gottessonne leuchten Griesh.
IV 109, 15 von seinem Bett erstanden > 1884 vom Lager auf-
gestanden IV 117, 24 ihr Antlitz wie in Glut getauchet >
1884 mit heißem Antlitz IV 137, 25 mit demantenen Augen
> 1884 tnit seinen durchdringenden Augen.
Jedem Leser Stormscher Dichtungen, auch seiner Briefe,
58 Almkut Kii.sTKi!: (7". j
iiniß die reiche, biswtilen <,';ir v.u reii-he Fülle der Bt-iwörter
nul'falloii, mit denen er seine Satze schniückt. Auch nacli
dieser Seite hin hat er seineu Stil mit den .lahren entlastet.
Marthe II 80, 13 eine (jh'iclliche Folge > 1851 rinr Folge
11 84, 30 ro>i meiner jetzigen JTeimat > 1851 von mriner Hci-
vtat Posth. I 320, 10 int hellen Motidsrhein > 1860 im
Jlondsehrin Blatt 1 68, 30 eine ganze Wcilv > 1868 eine
^Veile Hinz. II ()2, 6 sein weiß und sehivarz gemiadder Jkirt
> 1855 sein Bart II 100, 15 seine schöne große Nase >
1855 seine große Xase II 100, 23 seine alte schöne Form >
1855 seine alte Form Apfel I 330, 24 die leere Hand >
1860 die Hand Staatsh. I 36, 26 einer hohen düsteren Ikium-
griippe > 1868 einer düsteren Banmgrnpj)^^ I 38, 18 ihr
zartes Köpfchen > 1860 ihr Köpfchen I 44, 38 der Kaß'ee-
Jcessel seinen angenehmen Haft > 1 860 seinen Duft I 45,
12 mit einer gewissen lüsternen Neugierde > 1860 .... einer
lüsternen .. I 47, 26 das ganze Ucndende Gebiß > 1860
das blendende Gebiß I 47, 42 (H) ein unbeschreiblicher Zorn
> (Dr) der Zorn I 47, 10 (H) das feine Haar ihres Lieb-
lings > (Dr) das Haar ... I 54, 40 (H) mit einem stillen
misvergnügten Brummen > (Dr) . . . einem misvergnügten . . .
I 55, 14 die verschlossene Tür des alten Prunkgemachs > 1860
die Tür Kosen I 32, 2 auf ihren feinen Wangen >
1861 auf ihren Wangen Ver. II 73, 41 (H) an der Ideinen
vom Mond beleuchteten Frauenhand > (Dr) an der vom Mond
beleuchteten .... Schloß I 77, 8 von dem jungen Fräulein >
1863 von dem Fräulein I 78, 38 in den draußen webenden
Septembernachmittag> 1 863 in den Septembernachmittag I 79, 2
auf den hohen Säulen > 1863 auf flen Saiden I 79, 13 die
Augen der Frau folgten dem llcinen Vogel > 1863 .... dem
Vogel I 82, 23 (H) des untern Erdgeschosses > (Dr) des
Erdgeschosses I 83, 2 (H) von einer dunkeln Scheu befangen
> (Dr) von Scheu befangen I 87, 17 (H) die dürftige ivesen-
lose Spur > (Dr) die ivesenlose Spur I 92, 24 um die am
Wege stehetulen Disteln schuärmten > 1863 um die Disieln
. . . I 95; 7 (H) den ausgedehnten Betrieb > (Dr) den Be-
70, 3] Prolegomena zu einer Avsg. der Werke Th. Storms. 59
trieb Univ. I 277, 14 (H) im vergangenen Frühjahr > im
Frühjahr I 284, 32 (H) die heiteren Scherze > (Dr) die
Scherze 1 288, 34 (H) so löse sclmarze Augen > (Dr) so
böse Augen I 299, 32 (H) bis unter die struppigen Stirnhaare
> (Dr) bis unter die Stirnhaare I ^,22, 30 (H) ein armer
törichter Mann > (Dr) ein armer 3Iann Abs. I 133, 9 (H)
ein stolzer goldfarbiger Hahn > (Dr) ein goldfarbiger Hahn
I ^33, 40 (H) ein Tdeines ältliches Frauenzimmer > (Dr) ein
ältliches ... I 134, 25 (E) der Meine Hund > (Dr) der
Hund I 135, 8 (H) eine danebenstehende messingbeschlagene
Kommode > (Dr) eine messingbeschlagene . . I 146, 26 in
dem Ueinen Verschlag > 1865 in dem Verschlag Reg. II
12, 8 die beiden jungen hräftigen Gestalten > 1868 die jungen
.... Bul. II 46, 34 (H) nebst ihrer schivarzen Mutter > (Dr)
nebsi ihrer Mutter II 59, 15 mit seiner Ueinen hränUichen
Stimme > 1868 mit seiner kränUichen Stimme Jens. I 156,
22 mit den großen erstaunten Augen > 1868 mit den großen
Augen Cypr. II 26, n eigentlich war es eine alte Burg >
1866 . . . eine Burg II 26, 29 den stattlichen Gemahl und
dessen noch stattlichere Herrschaft > 1866 ... und dessen
Herrschaft II 42, 2 Worte tödlichen unversöhnlichen Hasses
> 1868 Warte tödlichen Hasses Jürg. I 237, 36 aus einem
großen Dorfe >'i 868^ "■ aus einem Dorfe Mal. 1 252, 20 mit . .
einem spitzen blonden Fuchshopf > 1868 . . einem blonden . . .
I 262, 7 (H) seinen ersten gründlichen Unterricht > (Dr)
. . . ersten Unterricht I 262, 17 (H) eines einstöckigen ganz
mit blühenden Rosen überzweigten Hauses > (Dr) eines ein-
stöckigen Hauses I 264, 6 in einem kleinen Glashause >
1868 in einem Glashause Hall. II 305, 19 mit storchartigem
roten Schnabel > 1873 mit storchartigem Schnabel Heid. II
134, 31 (Hj eine alte hagere Bäuerin > (Dr) eine alte Bäuerin
Kucli. II 201, 33 das letzte sichtbare Zeichen > 1889 das
letzte Zeichen II 205, 23 deine allmächtigen Zaubergläser >
1873 deine Zaubergläser Heut' II 185, 41 die steile Treppe
> 1889 die Treppe Viol. II 125, 25 drinnen in dem stillen
Zimmer > 1874 . . . in dem Zimmer Popp. II 324, 22 (H)
6o Alheut Köstkh: f7('. 3
diese seltsamen (/ewessenen Bcwcyunnoi > {\)r) diese scltsa))irn
BcurpungcH II 352, 32 die Ge(]imc(iri der neuen Zuschauer
> 1875 ... der Zuschauer II 35^', 44 (H) wiserm guten
Vater > (Dr) unsenn Vater Wnldw. III 10, 25 (H) den.
schweren Schlüssel > (Dr) den Schlüssel III 10,17(11) das große
Hoftor > (Dr) das Hoftor Aq. II 217, 32 (II) mein blondes
Loelenhaar > (Dr) 7nein Jfaar II 241, 10 Erst als ein Seufzen
ihre junge Brust erhöh > 1877 . . ihre Brust . . II 241, 32
(^H) ihre Meinen Hände > (Dr) ihre Hände WWfr. IV 29, 7
zu einem festen Knoten > 1880 zu einem Knoten Brauerh.
111 130, I« auf ihren alten Mann > 18S0 auf ihren 3fann 111
140, 35 das neue rote Dach > 1880 das rote Dach Et. IV
200, 3 des jetzt verschwundenen Mühlenteiches > i(S82 des
Mühlentciches Kirch IV 62, 5 während sie traurig mit dem
hlondei} Köpfchen schüttelte > 1883 .... traurig ihr Köpf-
cheti . . . Griesli. IV 135, 19 ein hümmerliches Siehenmonats-
kind > 1884 ein Siebenmonat sldnd IV 143, 31 der kleine
Junker > 1884 der Junker IV 151, 5 der alte Wildmeistr.r
> 1884 der Wildmeiste)- Riew' V 179, 37 in einem glatt-
rasierten, etwas käsigen Angesicht > 1885 ... glattrasierten
Angesicht V 197, 44 unter dem jungen Kapitän > 1885
unter dem Kapitän Had. IV 225, 27 sein zehnjährig Töch-
terchen > 1885 sein Töchterchen IV 235, 2 an deiner weißen
Stirn > 1886 an deiner Stirn Dopp. III 288, 17 in trübe
Dämmerung > 1887 in Dämmerung.
Besonders störten ihn bald die mancherlei überflü.ssigen
Adverbien. Sie hemmten den Fluß seiner Sätze, sie lenkten
aber auch oft, ebenso wie die Beiwörter, durch schnell auf-
tauchende und wieder davonhuschende Nebenbeziehungen die
Aufmerksamkeit auf einen Augenblick ab. Marthe II 82, 31
sie antu'ortete schtver > 1851 sie antivoHete Posth. I 326, 2
lautlos horchend > 1860 horchend Hinz. II 86, 18 so süß
und leuchtend > 1855 so leuchtend Staatsh. 1 43, 22 (H)
mm in Zukunft fortwährend > (Dr) nun fortwährend Schloß
I 85, 7 wieder und ivieder zu betrachten > 1863 zu betrachten
I 87, 16 (H) ich vergaß es völlig, daß > (Dr) ich vmjaß
70, 3] Prolegomena zu kinkr Ausg. dkr Werke Tu. Storms. 6r
es, daß I 8g, lo Als wir hier im Wohnzimmer ivaren >
1863 Als ivir im Wohnzimmer waren I 107, 22 Rudolf
hatte indessen die Ge^'ichichte ... fielesen > 1863 .. hatte die
Geschichte gelesen Univ. I 282, 5 (H) Jenni hat es neidich
hier vergessen > (Dr) . . hat es hier ... I 291, 3 (H) F^r
hat sich mich angelegenflich nach deinem Befinden erhmdigt
> (Dr) ... sich auch nach . . . Abs. I 139, 16 (H) Ehren-
fried sali eine Weile nachdenUich zu mir herüher > (Dr) . . .
eine Weile zn mir I 1 48, 20 durch das trocJcoi rauschende
Heidekraut > 1865 ... das rauschende .... I 148, 26 (HV
ihr tvar imheivußt, als hahe > (Dr) ihr ivar, als habe Jens,
i 155? 25 ^'ö^ß ^ch eine Zeit lang mit ihr .... zusammen ge-
leht > 1868 hahe ich mit ihr Cypr. II 26, 28 hatte
er sich plötzlich abgeuandt > 1866 ... sich dbgewandt Viol.
II HO, 27 das Gespräch war hiermit zu Ende > 1874
tvar zu Ende Popp. II 350, 23 sie schüttelte schelmisch ihr
braunes Köpfchen > 1875 sie schüttelte ihr .... Psyche III
90, 30 Nun streclst du nach der Lehendigen sehnsüchtig deine
Arme aus > 1876 ... nach der Lebendigen deine Arme ans
Aq. II 243, 30 (H) die Finsternis . . . sagte trefflich meinem
träumenden Gemüte zu > (Dr) .... sagte meinem träumenden
Gern Ute zu Ren. III 176, 10 So gingen wir hierauf in den
tiefen Wald hinein > 1878 So gingen wir in . . . III 181,
17 sähe ein wenig mild und abgespannt aus > 1878 sähe ein
wenig müde aus WWfr IV 27, 17 die junge Dame draußen
hob den Kopf > 1878 .... Dame hob den Kopf Eek. III,
126, 29 3l€in viel lieber Bruder > 1880 mein lieber Bruder
Schw. lY 320, 23 der Reiter hatte nur stumm mit seinem Hut
gegrüßt > 1883 .... nur mit seinem .... Griesh. IV 142, 34
hat der Meine Reiter laut gerufen > 1884 ... Reiter gerufen.
Und unter den Adverbien waren es wieder besonders die
vielen verstärkenden, einschränkenden, abstufenden, mit denen
der Dichter aufräumen mußte. Es war fast, als ob bei der
häufigen Anwendung dieser Partikeln die vorsichtige Aus-
drucksweise des Juristen ihm einen Streich gespielt hatte,
Marthe II 80, i2f. ihre Ansprüche . . waren fast gar heine >
62 Ai.iiERT KösiKu: 170,3
\S^\ ... fnsf hnnc iStaatsh. I 5_\ 12 /•> nwchtc ihr diese
Antwort icohl schu» oft t/egcbcn IkiI/ch > 1860 ... Antwort
schon oft . . . Ver. II 78, n /;/ das so sonnige Tal > 1868
in das sonnige Tut iScLIoß 1 iji, 9 (H) bis etwa auf die
Mitte des Stückes > (Dr) bis auf die Mitte .... 1 103, 21
Mein Vater wandte sich noch an seinen Ilanptlehrcr > . . .
wandte sich an . . . Abs. I 146, 38 (ti) sie hätte zu gern
nun gleich auch Tag und Stunde gewußt > (^Dr) sie hätte mm
auch Tag und Stunde wissen mögen Jens. I 156, 39 so zeigte
es sich auch scho)i in den nächsten Tagen > 1868 .... sich
schon .... 1174,31 die ist wohl seit lange schon herabge-
stiegen > 1868 . . . lange herabgestiegen Cypr. II 32, 37 es
ziemte sich ivohl, daß du ... > 1860 es ziemte sich, daß
Jürg. I 221, 33 fügte sie dann wohl lächelnd hinzu >
1868 . . . dann lächelnd . . . Amtsch. II 158, 13 er stand sich
dabei vielleicht um nichts schlechter > 1873 ... dabei xim
nichts . . . Hall. II 295, 2 nur daß die alte Dame doch einen
zierlichen Schrei ausstieß > 1889 ... J)ame einen .... II
311, 25 Ich muß nur vor den Spiegel treten > 1873 Ich muß
vor . . . Heid. 11 137, 18 Was hat denn der wieder so spät
noch in der Stadt zu tun! > 1873 . . so spät in der ...
Christ. II 287, 28 die Kartoffeln sollen auch schon noch vorher
geschält sein > 1889 ... auch schon vorher ... Viol. II
log, 19 Sie lamen noch eben früh genug > 1874 ... noch
früh genug U 123, 41 ((ber verstoße nur nicht unser Kind
> 1874 aber v&r stoße nicht ... 11124,21 wo ist denn cd)er
meine Wiege geblieben'::' > 1874 ^t'ö ist aber ... Popp. II 321. 7
(H) denn niemals noch hatte ich eine Komödie . . . gesehen > (Dr) . .
niemals hatte ich ... 11 327, 21 (H) Wo sind denn die an-
dern'/ > (Dr) Wo sind die ... II 348, 38 es läutete mir
wie weither aus meiner Kinderzeit > 1875 ... mir iveither . . .
Waldw. III 8, 4 (H) Und hatte er denn Schaden genommen?
> (Dr) ... er Schaden . . III 16, 43 (H) Was lann der
nur von mir icollen? > (Dr) . . . der von mir . . III 30, 7
so muß ich dir auch den dazu nötigen Eigentumssinn einzu-
pflanzen suchen > 1875 • : • den nötigen .... III 30, 37 (H)
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 6 3
Was du auch gleich nur für Gedaiil-en hast > (Dr) . . . gleich
für GedanJcen . . Mus. III 68, 3 endlich tvar denn doch auch,
der dritte Satz . . vorühergehüpft > 1876 ... denn auch . . .
Et. IV 198, 30 wenn freilich diese auch meist . . > 1882 wetm
diese auch meist Kirch IV 57, 19 Ich darf doch auch mit
lesen? > 1883 . . doch tnit . . IV 6d, 7 war bald jedesmal
die erste Frage > 1883 war jedesmal ... IV 62, 29 Zeit
wär's denn auch endlich einmal > 1883 • • • o,uch einmal.
Man würdigt diese Weglassungeu wie die meisten übrigen
natürlich erst ganz, wenn man die vollständigen Abschnitte
liest j aus denen die Zitate genommen sind. Aber auch aus
dsn herausgerissenen Belegen selbst kann man schon eine
Ahnung gewinnen, wie klapperig die Sätze ursprünglich ge-
wesen waren. Der Mißklang der vielen einsilbigen Wörter
iu Verbindung mit der Uneutschiedenheit des Sinnes bringt
die wenig erfreuliche Wirkung hervor.
Nötigte aber den Dichter sein Verlangen nach ruhiger
harmonischer Wirkung schon hier zur Maßhaltung, so waren
Kürzungen doppelt geboten, wo er seine Sätze inhaltlicli über-
frachtet, sie mit Selbstverständlichkeiten belastet oder ihnen
sonstiges Zuviel aufgepackt hatte Markt I 339, 24! und
examinierte und ermahnte und .schalt ihn > 1861 und
examinierte und schalt ihn Schloß I 99, 13 aber der Weg ist
lang und mühsam und fühii > 1863 ... ?"s; lang und führt
Jens. I 163, 30 der neben seinem üeiselioffer auf dem Boden
stand > 1868 . . . seinem JReisekvffer stand Jürg. I 237, 3
unsere Heimat und Familienverliältnisse > 1868 (Gesamtaus-
gabe) unsere Familienverhältnisse Wies I 175, 39 ihr Gesteh
war aufgetrieben und ganz entstellt > 1874 . . war ganz ent-
stellt Christ. II 277, 6 die Karten auf dem Tisch ausgehreitet
> 1874 die Karten ausgebreitet Viol. II 118, 2 hob er die
leichte Gestalt auf seinen Armen aus devi Kissen > 1874 .. .
Gestalt aus den Kissen II 122, 18 der noch immer über
ihnen von den Bäumen tropfte > 1889 ... immer von den
Popp. II 339, 26 (H) den Notpfenning für ihre alten
Tage > (Dr.) den Kotpfennig W^aldw. III 16, 42 „Es ist . .
PhU.-hiat. Klasee loiS. Bd. LXX. 3. 5
64 Ai.nRUT Köstkr: [70,3
lier Schiistrr", saptc fiie hrlclommni, luid ihr Grsirhtfhrn ^uclxte,
nh fühle sie da^ Pech an ihren Fintfern > 1875 . . . heldom-
men, als fühle sie . . . l^syche III qO, 7 Auch die Geliebte
schien er in seinen Gedanhen mit sich dahin (jezogen zu haben
> 1889 ... schien er mit sich . . . WW'IV. IV 9, 43 eine
seituärfs nnmitielhnr am Fianino angebrachte Einrichtung >
1880 eine seitieärt.'i angebrachte ... Eek. III 115, 18 daß
sie zischend und j^'onsclnd in Wolken iveißen Dampfes erlosch
> 1886 daß sie jn-assehid in weißem Dampf erlosch III 127 9
(ein Beispiel für Storms verschleierntle Darstellungsweise grade
in dieser Novelle) und eine dunJde Gestalt, vorsichtig gegen
die Kammertür hinschreitend, näherte sich den ScJdafenden >
1880 und nie vorsichtig gegen die Kammertür hinschreitend,
näherte es sich den Schlafenden Et. IV i8g, 6 seine Börse
um ein Entsprechendes erleichterte > 1882 seine Börse zog
Griesh. IV 132, 31 Behaglich im letzten Sonnenlicht ritt er >
1884 Behaglich ritt er Had. IV 212, 8 er lernte höfisch fechten
und Rideivanz und Pastour eile tanzen > 1885 ... fechten, er
lernte tonzen IV 21g, 15 Bein auf Beine saß er sinnend >
1885 Sinnend saß er Dopp. III 284, 3 aus den Äugen des
gebrochenen Mannes > 1887 atis seinen Augen.
Immer wieder sieht man: es trieb den Dichter zu mil-
dern, zu dämpfen, dem Ausdruck das allzu Bestimmte und
Deutliche zu nehmen. Und für diesen Zweck hatte er noch
ein besonderes Mittel bereit, daß er wiederum nicht für eine
einzelne Dichtung, sondern durch all seine Werke hin an-
wandte. Er beseitigte nämlich noch nach der Drucklegung
vielerorts das allzu stark wirkende Possessivpronomen, indem
er es entweder ganz wegließ oder es durch den Artikel er-
setzte. Saal II 65, 42 mit iJirem Essen > 1868 mit dem
Essen Häw. I 354, 34 [die Katze] funhelte mit ihren Augen
> 1860 . . . mit den Augen Blatt I 70, 6 [er] lehnte sich
still in seinen Stuhl zurücJc > 1855 .. . m den Stuhl , . 1 70,
2 Sie legte ihre Hände . . > 1868 . . die Hände . . Hinz. II
96, 34 mit seinem Pferdehuf > mit dem Pferdehuf Sonn. I
209, 15 (H) tauchte aufs neue ihre Feder ein > (Dr) . . die
70, 3] PltOLEGOMENA ZU EINER AuSG. DER WeRKE Th. StORMS. 65
Feder . . Staatsh. I 47, 31 ließ die Münze in ihre Tasche
gleiten > 1868 .. in die Tasche .. I 61, 4 sie ließ ihre
Stimme sinJcen > 1860 ... die Stimme . . Markt I 348, 26
streclie ihm lächelnd ihre Hand entgegen > 1861 ... die
Hand . . Schloß I 92, 3 mit oder ohne seinen Willen >
1863 mit oder ohne Willen I 108, 34 der junge 3Iann er-
griff ihre Hand, die wie leblos in ihrem Schöße lag ^ 1868
. . . die Hand .... Univ. I 283, 4 (H) den Zucker in ihre
Tasse fallen ließ > (Dr) . . . in die Tasse . . Bul. II 58, 28
sich das Blut aiis ihren Barten leckten > 1868 ... den
Barten . . Jürg. 1 245, 43 Ich war meiner Frau . . stets von
Herzen gut gewesen > i868'''=- . . der Frau .... Heid. II
132, 23 (H) der Knecht hielt seine Leuchte hoch genug > (Dr)
. . . die Leuchte . . Viol. II iii, 26 seinen mächtigen Kopf
> 1874 den Kopf Popp. II 324, 13 (H) über ihres Gemahls
Schultern > (Dr) . . des Gemahls . . Waldw. III 25, n ..
als . . die Drachenköpfe unaufhörlich ihr Wasser von sich
spieen > 1875 ... unaufhörlich Wasser . . . Ren. III 191,
17 denn dein Tisch steht bereitet > 1886 denn ein Tisch ...
Et. IV 178, 44 in seiner roten Galauniform > 1882 in
der .... Kirch IV 52, 7 über ihre Äpfel > 1883 über die
Äpfel Schw. IV 348, 9 tvieder . . fuhr das Pferd in seiner
Deichsel auf'> 1883 . . . in der Deichsel . . Griesh. IV 1 10, 21
vor Schluß seines Mannesalters > 1884 ... des Mannesalters.
Gewiß sind diese Stellen, wenn man sie einzeln analysiert,
sehr verschieden zu bewerten. Aber an den meisten kommt
eine Unbestimmtheit des Ausdrucks, eine zarte Verschleierung,
zustande, wie Storm sie anstrebte. Sie muß ihm mit den
Jahren immer lieber geworden sein. Und nur mit Einem Stil-
mittel arbeitet er ihr entgegen.
Er hatte es offenbar in seiner Jugend als besonders poe-
tisch empfunden, in manchen Sätzen (selbstverständlich nicht
clurchgehends) das Hilfszeitwort wegzulassen. Dadurch war
der Ausdruck in einen leichten Schwebezustand geraten; der
Satz stand nicht ganz hart und fest auf seinen Füßen. Aber
es war dadurch auch in die stille Prosa hier und dort ein
5*
66 Aluiiut Küsteu: [70, 3
falscher Ton hinein^okoinmeu. Und als der Dichter dcFseu
iime wurde, setzte er vielerorts — wiederum nicht pedantisch
iiu allen Stellen — , bisweilen sogar auf die Gefahr der Wort-
wiederhohnijj;, die verstoßenen Verbformen wieder ein. Bei
Gelegenheit der Novelle „Eekenhof" sehrieb er z. B. am 28. Aug.
1879 an Erich Schmidt: „Jetzt habe ich bei der Correctur den
Unfug mit der Weglassuug der llüifs/.eitwörter und Anderes
möglichst beseitigt." Belege sind: Marthe 11 81, 18 J'hantasie,
ivelclic ihr ganz hesondtrs ti<jcn, > 185 1 .... cujen uar, Poeth.
I 326, 17 nie er gesagt > 1868 tvie er gesagt Jiatte Ang. I
203, 21 als er schon . . „Leb' wohl . ." gesagt, > 1868 — gesagt
hatte, Ver. II 70, 19 (H) Er freute sich, daß seine Frau, . .
Anregung . . gefunden, > (Dr) .... gefunden hatte, Schloß 1
77, 10 ein Knahe, den sie im ziceitcn Jahre gehören, > 1863 ...
gehören habe, I 109, 12 nachdem sie noch . . in das .. Kamin-
feuer gehlicli, > 1868 gehlicli haue, Jürg. 1 222, 40 nach-
dem wir ein Weilchen geplaudert > 1868 (Gesamtausgabe) . . .
geplaudert hattest. Mal. 1 261, 22 (H) des Gasthofes, in dem
ich abgetreten, > (Dr) .... algetreten war. Heut' 11 184, 38
Träger von Namen, die . . . an der Spitze des städtischen Lebens
gestanden > 1874 ... . gestanden hatten, Viel. II 107, 13
Nachdem sie auch hier noch einmal gehorcht > 1874 . . . gehorcht
hatte, II 108, 21 aus dem Ziinmer, das sie zuvor so scheu be-
treten > 1874 ... betreten Jiatte, 11 109, 42 daß bei ihrer
Ankunft Nesi sich . . verstecld gehalten > 1874 .... gehalten
hatte, Waldw. 111 16, 4 (H) deren müde Füßchen noch vor
Jcurzem an diesem Stein herabgehangen, > (Dr) .... herab-
gehangen hatten, III 37, 42 (H) in dieser Stille, wo du mein
geworden, > (Dr) . . . geivorden bist, Aq. II 264, 6 (H) von
dem, ivas einst gewesen, > (Dr) .... geivesen ist. Garst. III,
243, 33 Carsten, dessen Warnung man vorher verachtet, mußte . . .
> 1889 .... verachtet hatte, mußte . . WWfr. IV 3, i als sie
einen Blich hineingetan > 1880 .. . hineingetan hatte, IN 21,22
Zöpfe, die sie in seiner Primanerzeit schon ebenso getragen,
> 1880 .... getrogen hatte, Eek. 111 98, 25 an dessen Bande
einst das Haus gelegen > 1889 .... gelegen habe, III 99, 9
70» 3J Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 67
die Base, . . . die sie in ihr Haus geladen, > 1889 .. . geladen
hatte, III 119, 16 ivie einst der Letzte des Geschlechts es aus-
gesprochen > 1880 (1886 übersehen) . . . ausgesprochen hatte,
Kirch. IV 82, 19 wie seinem Heinz die Nase im Gesicht gestan-
den > 1883 . . . gestanden hatte, Had. IV 256, 5 der Schloß-
hauptmann, der die . . Kerze fortgelegt > 1886 .... fortgelegt
hatte, Dopp. III 284, 12 als der Alte fortgegangen > 1887
. . . fortgegangen ivar.
15-
Alles was im 1 4. Abschnitt zusammengestellt war, betraf
Storms erzählende Prosa im ganzen. Die Lesarten verraten
uns aber, daß er auch den einzelnen Novellen, je nach ihrem
besonderen Charakter, als sie schon gedruckt waren, immer
noch seine künstlerische Sorgfalt widmete. Und wieder ist
hier durchgehends das Bestreben sichtbar, jegliches Zuviel zu
beseitigen, jede grelle Farbe zu mildern, überall Gleichgewicht
herzustellen und die Rede im reinen Erzählerton zu halten,
sie vor Plattheiten ebenso zu bewahren wie vor Abirrungen
in den Stil und Rhythmus gebundener Poesie.
Das Märchen „Der kleine Häwelmann" hatte im ersten
Druck an einzelnen Stellen einen gar zu kindlichen und pro
vinziellen Klang gehabt. Hier mäßigte Storm: I 353? i 6"*
Meiner Junge, und der hieß Häwelmann > 1860 ein kleiner
Junge, der hieß Häwelmann, I 353, n hin und her, immer
hin und her > 1868 hin und her 353, 34 auf einmal > 1860
plötzlich.
Unter den Jugenddichtungen Storms ist eine der sorg-
fältigst ausgefeilten die Novelle „Ein grünes Blatt", stilistisch
ein viel größeres Kunstwerk als „Immensee". Der Dichter
selbst hat die Prosa dieser Idylle „musikalische Prosa" ge-
nannt; sie ist es in der ersten Fassung noch mehr als in der
späteren, die besonders durch die hinzugekommene Episode
-des Erbsenpflückens auf festeren Boden gestellt ist. Gerade
wenn man die nachträglich eingefügten Zusätze liest, so spürt
man, daß Storm inzwischen die erste Melodie dieser zarten
68 ALnPKT KösiKu: |7". 3
Prosa, die bcsdiulers jjfogon das Eiidf, oliiio öicli rliytlunisclior
Form /u nähern, doch migoniein besclnvingt und Ichingrcich
ist. aus dim Olir verloren hatte. Und du waren ihm denn
oÜenbar einige frühere Wendungen zu bewußt „musikalisch",
z. B. I 72, 24 er horchte den tausend feinen Stinünen^ wie sie
auftauchten, Jiinsrh wanden, > 1868 .... 7vie sie auftauchten und
wieda- hinschnand')!, 1 72, 25 uncfreifbar leise, sinkend, klin-
gend, verhallend > 1868 unfbrj greifbar leise, verhtdlcnd. Hier
alte Lesungen wiederherzustellen, ist natürlich nicht zulässig.
In der Originalfassung der Weihnachtserzählung „Abseits"
hat Storni zum erstenmal versucht, ein paar derbere realisti-
sche Töne anzuschlagen und den Reden Metag und des alten
Märten hie und da etwas vom Klang der kleinen Leute zu
geben. Aber beinahe ängstlich wegen solcher bescheidenen
Kühnheit hat er in den Buchausgaben alle diese Züge wieder
getilgt. Der Kreis des .,poetisch" Zulässigen war damals bei
ihm offenbar noch enger als später. Die Stellen sind: I 134, 18
das sind boshaftige Kreaturen, Mamsell > 1865 . . . boshafte . . .
I i3S> 35 so '^'(^s vergißt sich nicht > 1868 so etwas ....
I 140, 40 es hilft doch nicht, ich muß ...> 1865 ... . nichts^
ich muß . . . I 141, 21 daß Elirenfried eines Morgens . . . an
zu reden fing > 1865 zu reden anfmg, I 145, r du wirst
mir das nicht für übel nehmen > i868 .... nicht iWel nehmen.
Als Storm „Aquis submersus", die erste seiner Novellen
in archaisierendem Deutsch, vollendet hatte, machte ihn sein
Freund Petersen (vgl. Briefe an seine Freunde, S. 128), der
die Dichtung schon in der Handschrift gelesen hatte, darauf
aufmerksam, daß die Erzählung wie der Dialog manchmal in
Versrhythmen verfalle. Der Dichter hat nun zwar bei weitem
nicht alle Jamben auslöschen können, aber eine Anzahl doch
vor der Drucklegung beseitigt. II 2^^, 24 (H) Vor der hab
ich als Kind mich schon gefürchtet > (Dr) Vor der hob ich
schon als Kind eine Furcht gehabt. II 2^^, 28 f. (H) Sie sieht
nicht eurer schönen Mutter gleich, Dies Antlitz hat es ivohl ver-
mocht Auf jede Bitte nein zu sagen > (Dr) Sie gleicht nicht
Euerer schönen Mutter, . . dies Antlitz hat wohl vermocht, einer
70, 3j Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 69
jeden Bitte nein zu sagen II 238, 20 (H) der Maler kommt so-
eben erst von Hamburg > (Dr) . . Jcommt eben erst ... II 241, 31
(H) Sie aber schrak tvie jäh aus einem Traum empor > (Dr) . . .
schrak jäh tvie aus ... n24i,34(H) Und wemi du gehst, so
ist auch hier der Tod > (Dr) und gehst du, so — II 242, 8
(H) wir kommen dann schon fort von hier > (Dr) — schon von
■hier fort II 244, 10 (H) als tvürd^ ich bälder so das Glück
erreichen > (Dr) cds könnte ich .... 11 248, 3 (H) er mochte
sich auch dessen wohl getrösten > (Dr) .... sich dessen auch
uohl ... II 250, 10 (H) das iverdet doch Ihr selbst am besten
wissen > (Dr) . . . doch Ihr am besten ... II 263, 26 (H) ich
tvußte wohl, daß du der 3Ialcr seiest > (Dr) . . . wohl^ du seiest
der fremde Maler. Des Versrhythmus wegen ist auch in des
Dichters Sinne gegen sämtliche Drucke Aq. II 234, 4 aus der
Handschrift „War's^^ in „War es"' zu verbessern.
Das archaistische Chronikdeutsch hat Storni noch mehr-
mals angewandt in den Novellen, die in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts oder zu Beginn des 18. spielen. Er durfte
dabei natürlich nicht vöUig der Sprache und dem Satzbau
jener älteren Zeit verfallen^ sondern mußte ein Verfahren er-
finden, etwa so wie es Goethe für historische Theaterkostüme
empfahl, die so weit an ein vergangenes Zeitalter erinnern
sollten, daß sie beim Zuschauer eine Illusion erweckten, im
übrigen aber trachten müßten, gefällig zu sein. So hat auch
Storni in die ihm geläufige Sprechweise nur einige Worte,
Wortformen und umständlich kuriale Wendungen eingemischt,
so daß ein Deutsch entstand, in dem er ohne inneren Wider-
spruch dem engen Aberglauben des 17. Jahrhunderts wie dem
hoch entwickelten Naturgefühl des 19. Ausdruck geben konnte.
Nur in der „Renate" hatte er anfangs der Altertümelei zu
viel getan und daher nach dem ersten Druck manches rück-
gängig machen müssen. III 156, 39 abspareten > 1878 ah-
sparten III 158, i haltete > 1878 hallte HI 158, 7 auf-
gesperreten > 1878 aufgesperrten III 158, 22 geschnitzet
> 1878 geschnitzt III 159, 10 steckete > 1878 steckte usw.,
gewiß an 200 Stellen. Auch die Inversionen und Weglassun-
-o Ai.HRRT Köstrr: I70, 3
peu dos Personalpronomens nmlite or vernujrern 111 157, 8
Hatte wich > 1S78 Ich hatte muh lil 157,27 Wußte woJü
> 1878 Ich tvußtr uohl III 15«, ^4 J^''^///'' w"> 5o/t7<€S > 1878
.S:,)/c//f5 wollte mir III 103, .,4 TJ/ot/t/r solchenccise .. > 1878
ivs viochte solchciiccise . . . u. s. f.
Das sprachliche Meisterwerk Storms ist „Eekenhof '. Und
ein besonderes Geheimnis des Stils liegt hier in der Ver-
weudnng der Tempora der Vorgangonheit. Dadnrch daß der
Verfasser nnabliissig, aber mit nnboirrbar richtigem Gefühl
wechselt zwischen Imperfektum, Perfektuni und Plusquam-
perfektum, rückt er die Ereignisse dem Leser bald ferner,
bald näher. Sie werden dadurch bald deutlicher, bald undeut-
licher; und es entsteht jeuer Traumeszustand, den der Dichter
schon mit den ersten Worten kennzeichnet: „Es klingt wie
eine Sage." In dieser eigenartigen Darstellungskuust war
Storni von vornherein so sicher, daß er später kaum etwas
zu bessern hatte. Nur zwei Stellen hat er abgeändert. Eek.
III 102, 4 als sie aber an ihrem eignen Bild voriiherlcnm > 1880
(1886 übersehen) . . . voriihcrfjel-otmnen III 118, 4ff. Am
Nachmittage . . ist zögernden Schrittes Heilwig zu ihm eingetreten.
Als er sie gesehen, ist sein schwarzes Auge licht geworden.
> 1880 .. . trat zögernden Schrittes Heilwig zu ihm ein. Als
er sie erblicJde, schien sein schwarzes Auge licht zu werden.
Wohl aber hat der Herausgeber die Dichtung von zwei Ent-
stellungen zu befreien. Das seit 1889 in die Gesamtausgaben
eingetretene derbe „daß sie . . . zurücJcJcehren sollte, hatte sie
wohl nicht gedacht" (Eek. III 99, 26) muß rückveräudert wer-
den in das zartere „. . . hat sie wohl nicht gedachif', das die
Redaktionen von 1879, 1880 und r886 übereinstimmend brin-
gen. Und ebeuso ist III 128, 33 wieder der mit Meisterkunst
geschaffene Wortlaut herzustellen: „Vom Flur aus hat er die
Räume des Unterhaus durchwandertf'.
Als Stürm sein „Fest auf Haderslevhuus" schrieb, verfiel
er noch einmal in die Unart, die er schon bei „Aquis sub-
mersus" mißbilligt hatte. Diesmal war es Paul Heyse, der
ihn auf die vielen iambischen Vier- und Fünftakter aufmerk-
70, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Sturms. 7 1
Bam maclite, die sich im Erstdruck fanden; andre Leser, auch
Erich Schmidt, hatten ruhig, oder wohl richtiger: eilig, dar-
über weg gelesen. Storm aber war dem Warner dankbar; ihm
erschienen diese ohne alle Berechnung sich einstellenden
Rhythmen, die u. a. auch Ebers in der „Ägyptischen Königs-
tochter*' als Aufputz verwertet hatte, stillos. Er tilgte sie
nach Kräften, nur au zwei, drei Stellen ließ er sie absichtlich
stehn (an Erich Schmidt, 18. Nov. 1885); hie und da mag er
sie wohl auch übersehen haben. Aber in rund hundert Fällen
erhielt doch jetzt erst nachträglich der Text seine abschlie-
ßende Fassung. Die Oktavausgabe freilich war nicht mehr
zu retten; die hatte schon die Presse verlassen. Aber die
Miniaturausgabe von 1885 wurde der kanonische Text. Welche
Mittel Storm bei seinem Kampf gegen die Jamben anwandte,
können einige Beispiele zeigen: IV 213, 24 der Vogel muß Uzt
eingefangen u erden > 1886 ... . muß eingefangen . . IV
215, 13 Ich hah doch darum nicht den Tod gefreit > 1886 Ich
habe darum doch nicht ... IV 2 1 5, 22 Das ist das Weih für
deinen Bolf ^ 1886 . . . für Bolf Lemhech IV 216, 3 3 f. Der
Frauendienst soll dort noch sjniJien gehen; Ich aber ivill mir
den Gemalü allein! > 1886 .... soll dort noclt umgehn; ich
aber tvill den Gemahl allein! IV 224, 4 Wir wollenes gut
mitsammen haben, Kind! > 1886 Wir tvollen es ... . IV
226, 5 trug sie ihn ferner jeden Tag > 1886 .. . ferner an
jedem Tag IV 2;^;^, 28 Und ivorin, Herrin, heischt Ihr meine
Dienste? > 1886 Und, Herrin, uie dien' ich Euch? IV
237, 16 in Prag dann später; auch am Königshofe dort > 1886
.... auch dort am Königshof. IV 237, 19 f. 0 meine 3futter!
Süße Schwester Heilwig! Und meine Brüder — sie sind all
gestorben > 1886 0 herdicbe Mutter! Süße Schwester Heihvig!
0 meine Brüder — alle sind sie gestorben! IV 237, 31 Wenn
dort von Eurem Blute einer ruht > 1886 . . . Eures Blutes
einer ruht IV 238, 16 f. 0, und vergiß nicht mein; ich müßte
sterben! > 1886 0 vergiß nicht mein, ich müßte sterben! IV
238, 24 das iveiß ich nicht und darf ich auch nicht wissen
> 1886 das weiß ich nicht — 0 heilige Jungfrau! IV 246, 26
72 Alhekt Köstkr: [70,3
0 Bolf, uir lardni alle (jjiicldicli srin > 1SS6 0 Tiolf, welch
ein Glürlf IV 2 jq, 10 Woni »um dir Füße seiner Worte
nicht wehr hört — uuni weiß nicht, oh sie Danh, oh Undank
hoh^n.' > 1886 .... irrr weiß, oh sie DanJc oder rndanlc holm.'
IV 258, 30 Wo Jmifjfrnu Jhufniar freit, darf ich nicht fehlen
> 1886 .. . Dnpniar hochzeitet, .... IV 25g, 31 ff. /sV soll
mein seJiwnr:: Ge)ca)id »lir hrimjen: das ziemet mir hei dieser
Hochzeit. Und auch, vergiß dos nicht, mein alkrsrhdrfsfes
Schwert.' Ihr beide, wenn Ihr /rollt, dürft mich hcgleitrn!
> 1886 Er soll mein schwarzes Gewand bringen; das ziemt
mir bei dieser Rochzeit.' Und auch — mein all er schärfstes
Schwert! — Ihr beide, wenn's euch gelüstet, dürft mich begleiten!
1886 aber, in der Novellensamnilnnj]: „Vor Zeiten" «nnf^
Storni bei der endgültigen Redaktion des Textes noch einen
Schritt weiter. Er hatte im „Fest auf Haderslevhuns" ein ur-
altes Mittel epischer Kunst angevvaudt und die beiden wich-
tigsten Frauengestalteu der Dichtung durch ständig wieder-
kehrende Beiwörter gekennzeiclmet. Bei der Frau Wulfhild
wurde immer wieder ihrer „blauen Gluhaugen" oder ihrer
„glühe» Augen'' gedacht (IV 21,5, 25; 216, 31; 228, 2; 243, 16).
Alles aber, was die kleine Dagmar anging, bezeichnete Storni
mit dem Wort „süß", das- er dem „Tristan" Gottfrieds von
Straß])urg entlehnt hatte: IV 220, 36 die Meine süße Dagmar
IV 220, 42 die süße Dagmar IV 222, 25 0 süße Dagmar!
IV 224, 12 der süße Äugenschein IV 225, 12 so gramvoll
süße Bitte lY 22g, g da . . drang es in sein Ohr, so süß . . .
IV 230, 4 Gott wolV ein süßes Leben so süßem Geschöpfe gehen!
(aus Tristan 3267 ff.: de duin duze äventüre si duze creatiire)
I^" 245, 30 Nicht mehr, 0 Süße, Selige! IV 256, i 0 süße
Dagmar! IV 263, 5 süße, heilige Dagmar! IV 263, 16 0
Dagmar! Süße, Selige!
Bei erneutem Lesen aber mochte ihm doch dies Stil-
mittel einförmig oder geziert vorkommen; jedenfalls änderte
er an einer ganzen Reihe von Textstellen. IV 216, 31 mit
ihren blauen Gluhaugen > 1886 7mt ihren brennenden Augen
IV 228, 2 mit ihren glühen Augen > 1886 mit ihren funkeln-
yo, 3] Prolegomena zu einer Ausg. der Werke Th. Storms. 73
den Augen IV 243, 16 mit glühen Augen > 1885 mit fun-
Jielnden Augen IV 237, 15 der Laut der süßen Stimme
> 1886 . . , ihrer Stimme IV 238, 8 das süße Haupt > 1886
das Haupt IV 238, 39 der süße Schall > 1886 de)' Vogel-
schall IV 245, 44 an deinen süßen Schultefrn > 1886 an
deinen zarten Schtdtern IV 252, 22 über das süße Antlits
> 1886 . . das blasse . . Und erst bei solcher Maßhaltung
war Storm mit seiner stilistischen Leistung zufrieden.
16.
Ich bin am Ende meines Rechenschaftsberichtes. So viel
läßt sich wohl erkennen, daß aus dem Studium der Lesarten
viel Licht auf Storms Künstlertum, auf seine unermüdlich
treue Arbeit fällt. Hat auch sein Stil sich in den grundlesfen-
den Charakterzügen schon früh ausgeprägt, so hat er seine
letzte Verfeinerung doch erst bei der aufmerksamen Wieder-
durchsicht der älteren Drucke erhalten.
So weit bei mir selbst während der Vorbereitung meiner
Ausgabe die Aufmerksamkeit nicht nachgelassen hat, darf ich
den Text der Gedichte wie der Prosawerke jetzt wohl für ge-
sichert erklären. Ob die lange Arbeit sich gelohnt hat, müs-
sen andere entscheiden. Mir erschien sie als ein Werk der
Pietät, als ein Dank an den Dichter, den ich liebe. Ich kam
mir immer wieder wie ein Bilderrestaurator vor, der eine
große Reihe von Gemälden eines Meisters von häßlichen Über-
malungen befreit.
Die einzelne Textverbesserung, das weiß ich wohl, ist
eine Quisquilie. Man muß die ganze Summe ins Auge fassen.
Und da ist das Ergebnis dies: wenn ich aUe einfachen Druck-
fehlerverbesserungen, alle belanglosen Sicherungen der Ortho-
graphie und Interpunktion beiseite lasse, wenn ich die Richtig-
stellung der Flexionsformen von „unser, ander usw." nur in
ausgewählten Fällen mitzähle, so ist doch allein in den No-
vellen Storms der Text, gemessen an der jüngsten Gesamt-
ausgabe, an mehr als 1550 Stellen berichtigt worden.
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologiscli-historisclie Klasse
70. Band. 1918. 4. Heft
Richard Eeinze
Die lyrischen Verse des Horaz
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1918
Vorgetragen für die Berichte am 7. Juli 1917.
Das Manuskript eingeliefert am 12. September 1918.
Drucklertig erklärt am 27. Januar 1919.
Einleitung.
Die lyrischen Verse des Horaz untersclieicleii sicli von
denen der alten äolisclien Lyriker wesentlich in drei Punkten:
I. die Asklepiadeen, Glykoneen und Pherekrateen beginnen
(mit einer einzigen Ausnahme: I 15, 36) durchweg, die alkä-
ischen Elfsilbler ganz überwiegend mit einem Spondeus, wäh-
rend bei den Vorbildern statt dessen auch Trochäus und Jam-
bus, selten Pyrrhichius eintritt; 2. die vierte Silbe des sapphi-
schen Elfsilblers und die fünfte des alkäischen (mit einziger
Ausnahme von IIIs, 17) sind lang, so daß also in beiden
Versen vor der Cäsur Spondeus steht, während bei den
Vorbildern die betreffende Silbe doppelzeitig ist; endlich
3. — und dies ist das Wichtigste, für die akustische Wir-
kung der Verse Bestimmende — hat Horaz im Asklepiadeus
nach der sechsten Silbe, im sapphischen und alkäischen
Elfsilbler nach der fünften, im größeren Asklepiadeus nach
der sechsten und zehnten, im größeren Sapphiker nach der
fünften und achten Silbe regelmäßig Wortende eintreten
lassen, also die Verse durch ^Cäsuren' in zwei oder drei
Glieder zerfällt; diese Cäsur ist im Asklepiadeus niemals, im
alkäischen Vers nur zweimal vernachlässigt; im sapphischen
Elfsilbler ist sie in den drei ersten Odenbüchern ganz selten,
öfters im Carmen saeculare und den Oden des vierten Buches
zwar nicht vernachlässigt, aber um eine Silbe hinausgescho-
ben. Die Griechen haben dagegen alle diese Verse cäsurlos
gebaut.
Eine Erklärung für diese Abweichungen hat zuerst
Christ^) in der metrischen Theorie zu finden geglaubt, die
i) Die Verskunst des Horaz im Lichte der alten Überlieferung.
Sitznngsber. d. bayr. Ak. d.W. 1868, I i.
Phil. -bist. Klasse 1918. Ed. LXX. 4. I
2 K'nii viu) 11i.i\/.k: [70, 4
w ir heute als Dei iviitioiistheoiie l)e/eichn('n und deren älteste
Spur wir iu den nietriselien Fraj^menten Varros finden. Diese
Theorie verlangt ( nnch <'iiin.sr\ daß jeder \'erK, d. h. jedes
metrische Gebilde, das größer als ein Dinieter oder niclit kleiner
als ein Trinieter ist, ans wenigstens zwei Kola l)estehe: dem
/ufolcre weise jeder horazische 'Vers' eine ('ä.sur auf. llire
Stelle rielite sich nach der l'estset/ung dei- Kola, welche die
Theorie auf die gewöhnlichen, nicht-lyrischen Metra zuriiclc-
/.ufüliri'u bestrebt sei: da sie nun das erste (ilied des Askle-
])iadeu8 als Penthemimeres des daktylischen Hexameters, den
Pherekrateus und Glykoueus gleichfalls als daktylische Kola
lasse, so sei damit der spoudeische Beginn dieser V^erse er-
klärt. Und die Cäsur des aus trochäischem und jambischem
Gliede bestehenden sap^thisohen sowie des aus jambischem und
daktylischem Gliede zusammengesetzten alkaisclien Verses
empfehle spondeischen Abschluß des Kolons, also Länge der
bei den Griechen doppelzeitigen vierten oder fünften Silbe.
Christs Hypothese fand zunächst, soviel ich sehe, nicht
viel Beachtung; zu durchschlagendem Erfolge verhalf ihr erst
KlESSLiNG, der in seiner Abhandlung 'Horatius' ^) nachdrück-
lich auf sie hinwies und sie in seiner Ausgabe (zuerst 1884)
der einleitenden Darstellung der "metrischen Kunst' zugrunde
leo-te. Als Schöpfer der Theorie bezeichnet er den Philosophen
Herakleides Pontikos; als ihr wesentliches Ziel, alle Versformen
möglichst auf die beiden Grundformen des daktylischen und
jambischen Sechsfüßlers zurückzuführen, die selbst ursprüng-
lich eines gewesen seien.-) Das auf Grund dieser Theorie
i) Philolog. Unters., herausgeg. von Kiessling und v. Wilamowitz,
:. Heft (1881J S. 64ff.
2 Gleicli hier bemerke ich, daß man besser täte, Herakleides in
unserer Frage aus dem Spiel zu lassen. Daß daktylischer Hexameter
und jamb. Trimeter die ältesten Versmaße waren, wußte jeder, der
den Margites für homerisch hielt. Herakleides hat (nach Athenäen»
XV 701) lediglich entdeckt, daß beide Maße gleichzeitig vom Gott
Apollo erfunden seien. Daß die Derivanten sich diese Entdeckung zu
Nutze machten, um ihr System zu krönen, ist begreiflich, beweist
aber nichts für Herakleides.
70, *J Die lyrischen Verse des Horaz. 3
errichtete, ungewiß von wem durchgeführte metrische System
liege den scheinbaren Neuerungen des Horaz zugrunde; aus
ihm heraus sei auch das Metrum von 1 10 Mercuri facimde
nepos als beabsichtigte Variante des bereits I 2 gebrachten
sapphischen Maßes zu verstehen, so daß denn nicht — wie
Christ zuerst bemerkt hatte — neun, sondern elf verschie-
dene Metra an der Spitze des ersten Odeubuches ständen.
Diese letzte Beobachtung hat, wenn ich nach mir selbst urteilen
darf, vor allem dazu beigetragen, den Glauben an die Hypo-
these zu festigen. Vereinzelter Widerspruch, wie er mehr
beiläufig von Wilh. Meyer erhoben^) oder mit unglücklicher
Begründung von Jukenka^) vorgetragen wurde, blieb ohne
Wirkung-, Metriker vom Range von Wilamowitz und Leo"')
i) Sitzung.sber. d. bayr. •Ak. d. W. 1889 S. 236 fg.
2) Zeitschr. f. öst. Gyiun. lyoi, 673 fg
3) Leo zuerst in dem wichtigen Aufsatz ''Die beiden metrischen
Systeme des Altertums' (im folgenden zitiert 'Syst.'), Hermes 24 (1889)
28ofg. , in dem er gegen "Westphals damals herrschende Auffassung
zeigte, daß das hephästionische, die Verse auf ihre Grundmetra analy-
sierende und dabei auch mit dem Autispast operierende System älter
sei als das alle Verse in letzter Linie auf daktylischen und jambischen
Hexameter zurückführende 'varronische' oder Derivationssystem. Ltu
»erkannte im hephästiouischen System das der alexandrinischen Gram-
matiker und führte das jüngere, dem er nahe Beziehungen zur Rhetorik
zuschrieb, auf Pergamou zurück. Von Pergamon -wird man jetzt ab-
sehen (vgl. u. a. CoNSBuucH De veterum ic. TToirjficctog doctrina, Bresl.
Philol. Abt. II 3, 1890, 91%-); 3;Uch über das Verhältnis des Systems
zur Rhetorik denke ich anders als Leo, brauche aber darauf hier nicht
einzugehen. Was da,-< chronologische Verhältnis angeht, so hat Leo
gewiß Recht, sofern das ausgebildete derivierende System in Frage
kommt . (die Gegengründe von G. Schultz, Aus der Anomia [1890]
S. 58fg. , haben mich so wenig überzeugt, wie seine umstürzenden
Thesen über die Metrik des Philoxenos); aber der Ursprung der
Methode ist wohl sehr alt, älter als die alexandrinische grammatische
Systematisieruug der Metrik. — Leo ist auf die Geschichte der Metrik
dann mehrfach zurückgekommen: Die "plautin. Cantica (Abh. d. Gott. G.
d. W, 1897), 64 ff.; Ein metr. Fragm. aus Oxyrhynchos (zitiert im fol-
genden als 'Ox.'), Nachr. d. Gott. G. d. W. 1899, S. 495; Der satur-
nische Vers (Abh. d. Gott. G. d. W. 1905) S. 7 fg. (über Caesius Haasiis
4 KiCHAKi) Hkinzk: [70,4
Wehaiulolten die Frage aLs im Sinne von Christ eutsi-hioilcn;
und wenn die Inndläufigon 'ÜluTKicliton' sich mich wie vor
auf Mitteilung d(>r Tatsiiehen beschränkten und es vermieden,
sieh auf eine Erklärung ciir/ulasseu, so konnte dies als un-
wissenschaftliche Rückstäntligkeit erscheinen. Otto ScnuoKDKii
analysierte 1911 in seinem für Ajifänger bestimmten Leit-
faden 'Ilorazens Versmaße' die sämtlichen Metra auf Grund
jener Hypothese und formulierte nur nocli cutscliiedener als
seine Vorgänger und über Einzelheiten /u |iriuzii)ieUen Sätzen
vordringend die wesentlichen Untersclieidungsmomente: mit
einziger Ausnahme der loniker in III 12 gingen für Horaz
alle Verse in Daktylen, Jamben und Trochäen auf; von der
großartigen griechischen Kompositionslehre ('Stollengesetz')
blieb nur die Forderung übrig, daß jeder Vers in Kola zerfallen
müsse; Katalexe und Brachykatalexe waren vergessen, so daß
denn z. B. das Glied rohur et aes triplex (eigentlich Choriam-
bus und Jambus) zu zwei Daktylen, der eigentlich vierhebige
Parömiacus (_vu_ ^j^Cl) arhoribasque comue zu einem drei-
hebigen daktylischen Pentheinimeres geworden ist. 'Choriam-
bische, also die recht eigentlich äolischen Verse, waren dem
äolisch-römischen Lyriker unbekannt.'
Gegen diese Darstellung, der zum mindesten das Ver-
dienst eines konsequenten Zueudedenkens der Hypothese nicht
abzusprechen ist, hat Paul Maas in einer vortreftlichen Re-
zension wohlbegründeten Einspruch erhoben.^) Ich muß be-
kennen, daß ich, als ich 1912 die erste Hälfte der 6. Auf-
lage des von mir erneuerten KiESSLiNGschen Kommentars in
Druck gab, Maas' Argumente nicht gebührend gewürdigt
hatte; auch schienen mir manche von ihm nicht berührte
Punkte unwiderleglich für Christ-Kiessling zu sprechen.
Aber nach Abschluß der Ausgabe bin ich zu der Frage
zurückgekehrt und habe mich nun in der Tat, namentlich
und Varro). Wenn ich im folgenden Leo am öftesten widersprechen
muß, so brauche ich doch kaum zu sagen, daß er es ist, von dem ich
in diesen Dingen am meisten gelernt habe.
1) Berl. Philol. Wochenschr. 1911, 707 ff.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 5
durcli das Studium der Überlieferung der metrischeu Theorien,
davon überzeugen müssen, daß jene Hypothese unhaltbar ist.
Ich fühle mich verpflichtet, das auszusprechen und so ein-
gehend zu begründen, wie es die Wichtigkeit der Frage ver-
langt: hängt doch von ihrer Beantwortung die historische
Bewertung der horazischen Verskunst zum guten Teile ab.
Kapitel I.
(Grundsätzliche Frageu.
I.
Ich stelle einige Erwägungen allgemeiner Natur an die
Spitze. Mau tut gut, sich klar zu machen, daß das Deriva-
tionspriuzip an sich weder mit der Normalisierung der Quan-
titäten im Vers noch mit seiner Einteilung; in zwei Kola not-
wendig verbunden ist. Bei den unbeschränkten Möglichkeiten
der variatio konnte sich das Prinzip sehr wohl mit verschie-
denen Versformen abfinden; und in der Tat zeigt z. B. der
der Derivationslehre ergebene Metriker von Oxyrhynchos^),
daß die alten Freiheiten durch diese Lehre keineswegs be-
rührt wurden. Dagegen fordert die Beschi'änkung auf eine
Ableitung, etwa des Glykoneus aus dem Hexameter, des alkäi-
schen Elfsilblers aus Senar und Hexameter, sowie die An-
nahme, daß diese Entstehung in einer feststehenden Cäsar
nachwirke, in der Tat einen bestimmten Bau des Verses;
und dieser war der alten Lyrik nicht zu entnehmen. Die
Theorie hat also entweder, ihre Entstehung in hellenisti-
scher Zeit vorausgesetzt, jene Gesetze des Versbaus aus den
zeitgenössischen Nachahmern der alten Lyriker abstrahiert:
dann würde man auch für Horaz Nachahmung der helleni-
stischen Lyrik mindestens mit gleichem, wahrscheinlich aber
mit viel besserem Rechte anerkennen als Befolgung der Theo-
rie, und ferner — die hellenistischen Verse, soviel wir deren
haben, stimmen nicht zur Theorie, und es wäre ein seltsamer
Zufall, wenn uns gerade die für jene Theoretiker maßgeben-
i) Oxyrhynchos-Papyri CXX (Bd. II 1899), jetzt am besten zu
lesen in Consbrüchs Hephaestion (Lpz. 1906) S. 403 ff.
6 RiC'iiAiii» Hkin/k: l7o, 4
Ht'n sämtliili >piiil<>s vt'rlortii wären. Odor: die Theorie ist
nicht aus einer Praxis nl)striihiert, soiulern unabhängig von
ihr, jn in einem gewissen Gegensatz zu ihi- l'oriuuliert: das
widt^rspricht aber allein, was wir von antiker Metrik wissen,
die nicht nnrnmtiv, simdern deskriptiv odri- hestcufallH genetiscli
orkliireud vorgelit
Solchi' Erwägungen haben wohl mit bewirkt, daß Lko
annahm'), die Teilung der Verse in xö^iuKta, wie sie die
Derivationsmetrik Kdir»', habe mit der Cäsur gar nichts zu
tun. Das System, wie wir es aus Caesius und den übrigen
älteren Zeugen kennen, wisse nur von mcmhrn und incisa,
deren Schlüsse mit den Cäsurstelleu zum Teil zusammenfallen:
auch Horaz habe nicht sowohl Cäsur in die 'logaödischen'
Verse eintulireu, als die xö^^ata, aus denen der Theorie nach
der Vers bestand, vereinzeln und kenntlich machen wollen.
Von diesen Behauptungen ist die erste halb, die zweite ganz un-
richtig. Das Lehrbuch des Caesius sagt allerdings, soweit
wir es besitzen, nichtis von Cäsuren, und diese werden auch
durch adiecfio oder ddradio einzelner Silben oder Silben-
gruppen nicht berülut; avo abc)- ein Vers durch concinnnfio
zweier Kola entsteht, fällt die Kommissur nicht nur zum Teil,
sondern durchweg mit der Cäsurstelle zu!<ammen. Und dann
Horaz: nicht um seine Verse nach einem rhythmischen Prin-
zip zu modulieren, sondern lediglich um die 'Commata
kenntlich zu machen', also um den metrisch ungeschulten
Leser immer von neuem über die Herleitung des Verses auf-
zuklären, soll er sich die Mühe genommen haben, jeweils an
einer bestimmten Stelle Wortschluß eintreten zu lassen! Das
ist wohl das Ärgste, was einem rhythmisch stumpfen und
pedantischen Verseschmied zugetraut werden kann. Ich sehe
aber auch keinen Grund zu bezweifeln, daß Horaz seine
'Cäsuren' in den äolischen Versen ganz so verstanden hat
und verstanden wissen wollte, wie die Cäsuren im Hexameter
oder jambischen Trimeter. Der vielfache Zusammenfall von
i) Syst. 209 (300"), I.
70, 4] Dit LVRi.scuEN Veh&k de.-n Houaz. 7
Versteiliing und Satzteilung, die Unbeliebtheit ein-silbigej-
Worte vor der Cäsur^), die deutliche Parallelisierung von
Kolonende und Satzende durch Verteiluug zusammengehöriger
Wortpaare auf beide Stelleu (insbesondere von Substantiv
und Adjektiv), ganz analog dem z. B. im Pentameter so gern
geübten Brauch-; — alles das stellt die Auffassung der
'Cäsur' im 'logaödischen' Vers als solcher für mich außer
Frage. Und somit bleiben die oben nachgewiesenen allge-
meinen Aporien ungelöst.
Fräsen wir also, ob die Hvpothese selbst in unserer
Tradition so gut gegründet ist, daß wir genötigt sind, sie
jenen Aporien zum Trotz gelten zu lassen. Da ist zunächst
i) Dieser Punkt fordert eingeheude Behandlung im' Zusammen-
hang mit der Lehre von der Synalöphc. Die einzelnen Versarten M-eisen
interessante Unterschiede auf, auch in der Strenge der Vermeidung
von zvrei Monosvll. vor der Cäsnr (nie im Asklepiadeus und im Ver-
hältnis der verschliffenen zu den nicht verschUffenen Monosyllabis.
Ich kann darauf hier nicht eingehen und führe nur beispielsweise an,
daß im sapph. Elfsilbler sich Monos. vor der Cäsur etwa in jedem 24. Vers
findet ([niemals unverschliffen nach Polysyll. : das entspricht genau
dem Zahlenverhältniä in Tibulls Buch I, das nach den Zusammenstel-
lungen von Bhaüm (De monosvllabis ante caesuras hexametri latini
collocatis, Diss. Marburg 1906: sehr nützlich als Materialsammlung,
in der Beurteilung der Tatsachen weiche ich vielfach ab alle früheren
Hexametriker (außer Catullj in diesem Punkte an Sorgsamkeit weit über-
trifft. — Voraussetzung ist übrigens für Zulassung der Monos. am
Vers- wie am Kolonende Wegfall jeder Sprechpause danach; daher
8ehr häufig Interpunktion vor dem oder den Monos. ^uch das gilt
für den Hexameter, z. B. bei Properz sehr ausgeprägt;: ein Vers wie
sed non haec ynihi vis, nee tibi taUum IV 8, 9 ist ganz singulär. Diese
Beobachtung führt auch unmittelbar auf den Grund der ganzen Er-
scheinung, die Leo einst irrig aus den rhetorischen Kegeln für den
prosaischen Satzschluß herleitete (de Stati silvis, Gott. Progr. 189293
p. 7); auch mit dem Wortakzent hat sie nichts zu tun, wie gleichfalls
die horazische Praxis deutlich machen kann.
2) S. darüber Th. Eeichardt, de metrorum lyricorum Horatiano-
ram artificiosa elocutione, Disa. Marburg 1889.
8 Uicn\Ki> Hkinzr: f7<'. 4
/ii bomerktMi, »l:iB eine i'inlu'itliclii' 'ri:itlitii»ii üher tue liora-
zischen Metra, ilor \\\r uns einiacli ;iiisc-lili('ijt.'ii kruintcn, {jfJir
nicht existit'rt. Der ari^lose Aiitliiii^er könnte z. B. meinen,
(las System, das ihm ScnHOKDKK in so imponierender Ge-
schlossenheit und mit so apodiktischer Siclierheit vorträgt,
sei in dieser Form überliefert, aber weit gefehlt: Sciiroedkk
irreift z. B. für den alkäischen Elfer und Zeiiner eine der
verschiedeneu von C'aesius Bassus gebotenen Analysen her-
aus, während er den Neuner nach Atilius Fortunatianus, den
Asklepiadeus nach Diomcdes erklärt und nielit nur in der
Analyse der Verse von I 8 Lydia die per omncs und hoc deos
ofo Syharin cur properes amando, sondern auch in der
Auffassung des katalekt. jamb. Trimeters und des größeren
Asklepiadeus wie auch des Sapphikers in I lo Alerairi fa-
cunde nepos Atlantis sich von aller antiken Tradition entfernt.
Man sollte meinen, wenn dem Horaz eine Metrik der les-
bischea Verse vorlag, die ihm bis in die Regelung der Cä-
suren und der einzelnen Silbenquantitäten zur bindenden
Norm wurde, so hätten es ein Caesius sowohl wie seine Vor-
gänger und Nachfolger leicht gehabt, diese Metrik zu studie-
ren und ihren Zöglingen daraus ein sicheres Verständnis der
metra Horatiana zu erschließen. Statt dessen wird der, der
von den antiken statt von den modernen Metrikern ausgeht,
den deutlichen Eindruck gewinnen, daß jene, weit entfernt
von der Einmütigkeit der Modernen, an den horazischen
Versen selbst auf eigene Faust die Analyse vorgenommen
haben.
Diese Analyse tritt uns zuerst ungefähr gleichzeitig in
der Praxis Senecas^) und in der Lehre des Caesius Bassus
entgegen, also 8o bis 90 Jahre, nachdem Horaz Oden zu
dichten begann. Da Caesius gegen Vorgänger polemisiert, ist
die analytische Methode, wenn auch vielleicht nicht ihr völ-
liger Ausbau, älter als er. Aber aus welchem Grunde be-
hauptet man — abgesehen zunächst von den Schlüssen aus
i) Leo, Seneca I 132 fg.
70, 4] Die lyrischen Verse des Hor.\2. 9
Horaz selbst — sie sei älter als Horaz? Einzig und allein
deshalb, weil das Prinzip der Derivationsmetrik älter als
Horaz sei, da es uns schon bei Varro begegne. Wir müssen
also fragen, was wir denn von Varros metrischen Sätzen
wissen oder mit einiger Sicherheit vermuten können,
Varro hat aus dem jambischen Senar durch adiectio oder
detractio abgeleitet den jambischen Octonar, den trochäischen
und jambischen Septenar, den katal. jambischen Dimeter, wahr-
scheinlich auch den katalekti sehen Trimeter, die trochäische
Tripodie (Ithyphallicus) und den katalektischen trochäischen
Trimeter. Er hat ferner mit denselben Mitteln aus dem
daktylischen Hexameter abgeleitet den katalektischen Tetra-
meter und das erste Glied des archilochischen Asynarteten
'EQaGp.ovC8r] XccqCXue XQf}^(x xol yskolov, wahrscheinlich auch
das daktylische Penthemimeres und die clausula kA=?_uu_o.
Durch Zusammeufügung zweier Kommata ließ er den eben
genannten archilochischen Vers eutstehen, vielleicht auch den
Saturnier: aber das ist mindestens ganz ungewiß.^) Man
sieht: soweit wir Varrcs metrische Analysen kennen, unter-
scheiden sie sich von denen des Hephaestion eigentlich nur
durch die Formulierung, die sich danach richtet, daß der Be-
griff der Katulexe fehlt und daß von den Versen, Trimetern
und Hexametern, nicht von den Füßen ausgegangen wird.
Wenn aber Varro das 'EQc.6iiovCd)] XaQiXas als daktylischen
Trimeter mit vorgeschobener Silbe, Hephaestion dasselbe als
anapästisches Kolon bezeichnet, so läuft auch das ja im Grunde
auf eines hinaus. Dafür, daß Varro nach Analogie jenes
Asynarteten nun auch, mit prinzipiellem Verzicht auf vier-
silbige Füße, äolische Kola in je zwei Kommata zerlegt
und diese wieder aus Trimeter oder Hexameter hergeleitet
hätte, fehlt jeder Beleg. Man wird zunächst geneigt sein^
dies daraus zu erklären, daß Varro über die Maße der äoli-
schen Lyrik zu reden gar keinen Anlaß hatte: stammen die
metrischen Sätze, die uns erhalten sind, aus der Schrift De
i) S. üVjer das alles die Aueführungen unten S. 36 fg.
l<> Ik'iiumu» IIkinzk: l7*^\ 4
ner)))'>uc fjütixii (wie llriscHi, opusc 111.^8-' ff?, jmcliziiweiseii
versuchte), so ist es begroiflich, cljiß or sich lii«M- um Metra
nicht kümmerte, die in hiteiniselier Sprnelie mtcli nielil oder
<lo('h nur «^an'/, vereinzelt na('h^«'l)ildet waren. Ks bliebe da-
naeh die Möi^lichkeit, daU die durch Varro, und dann wieder,
\inabhiiugi{T von iiiin, durch llorazens Lehrei- überliel'erte
griechische Metrik die Derivationsmethodo auch auf die äoli-
schen Mai3i' anwendete. Nun kenneu wir aber |j;lückliclier-
weiseaus anderem ZuHamnienhan<.^e als dem l)iKher besprochenen
Varros Auffassung des Phalaeceus: Caesius 15assn.s nennt unter
seinen sieben divisiones des Phalaeceus an fünfter SteUe die
Ableitung aus dem Sotadeus durch dciracfio eines Anapilst
(_ _ [uw_] .- wu.^ _ w_ _) und fügt hinzu: ex quo non est miran-
dum quod Varro in cynodidascalico phalaeclum liictrimi ioni-
cum trimdrum appeUat, qiiidam ionicmn minorem (GL VI 26 1, 18;
sat. fr. 230 B.). Aus den einführenden Worten^) ist eistens
zu schließen, daß Caesius hier auf eigene Faust eine Erklä-
rung von Varros Bestimmung gibt, die sich aus dessen V\ or-
ten nicht entnehmen ließ, d. h. daß Varro in der Satire nur
beiläufig und ohne nähere Begründung seiner Definition auf
O DO
den Phalaeceus zu sprechen kam; und dann folgt weiter, daß
Varro auch anderswo diesen zu seiner Zeit in Koni vielver-
wendeten Vers nicht behandelt hat — sonst hätte Caesius
nicht zu der unklaren Äußerung in der Satire zu greifen ge-
braucht — ; d. h. er hat sich in seinen metrischen Studien
um die zeitgenössische Produktion nicht gekümmert, sondern
in erster Linie, wenn nicht ganz ausschließlich, die altlatei-
nischen Verse im Auge gehabt. Was ihn in jener Satire auf
die Definition des Phalaeceus geführt hat, wissen wir nicht;
definiert aber hat er ihn als ionischen Trimeter, also, wie
Westphal^) richtig verstanden hat, skandiert (i^)z_jw>.y_^_w__,
d. h. als TQi^STQov ävaxkäiiBVov. Dann hat freilich Caesius
zu Unrecht bei Varro eine Bestätigung seiner fünften divisio
i) S. dazu unten S. 57, i.
2) Metr. d. Griechen 'I 117, II 242. Wii.amowitz, Melanges H. Wk«,
(Par. 1898) 452.
70, 4] Die lyrischen VRuaE des Horaz. i i
zu finden geglaubt^); Yarros Benennung beweist, daß er den
Phalaeceus nicht 'derivieite', sondern hier — und dann doch
wohl auch bei anderen äolischen Maßen — ganz einfach mit
viersilbigen Füßen zu operieren gelernt hatte, wie es die
alexandrinische Metrik tut. Nun bleibt noch der Ausweg,
daß Varro in seiner Jugend, als er seine Menippeen schrieb,
noch der alexandrinischen Metrik anhing und erst in späteren
Jahren zur Derivation überging; ein bedenklicher Ausweg,
den man nur beschreiten dürfte, wenn feststünde, daß die
beiden metrischen Systeme wirklich von Anfang an rein und
unvermischt nebeneinander bestanden haben. Da ist aber
sehr zur rechten Zeit der Fund des Metrikers von Oxyrhyu-
chos gekommen: auch dieser 'deriviert', z. B. das Anakreou-
teum aus dem Phalaeceum durch Streichung der drei ersten
Silben: ' u>.;_ ^,_u-w: aber das Phalaeceum selbst hat er,
da er von der TtQCiX)] diitoöia spricht, nicht etwa aus einem
daktylischen Komma ^^- und einem jambischen u_u_u
i) Cae!<ius meint doch wohl, der Phalaeceus habe ein Recht auf
den Namen lonicus, weil er aus diesem entstehe: so erklärt er 262, 25,
der Galliambus habe ein Recht auf den Namen iambicus, denn etim
ex iambico quoquc trimetro nasci. So hat auch Terentianus den Caesius
verstanden, wenn er 2845 paraphrasiert genus hoc pJmlaeciorum . . .
Varro ad legem redigem ionicorum hinc natos ait esse. Er fiigt hinzu
scd minores (vgl. 2884 «MJnero/Jcditm minores), hat also in seinem Caesius-
text nicht quidam (statt dessen man alii erwarten sollte), sondern, wie
Westphal zu schreiben vorschlug (a. a. 0.), vermutlich et qxmlevi ge-
lesen und minorem auf den Gegensatz des Trimeters zum Tetrameter
bezogen. Dies m. E. mit Unrecht: ionicus minor kann nur, wie sonst
bei lateinischen Metrikern (/,. B. Apth. 64,9; 89,28; 93,2 u. ö. , vgl.
■ionicus maior in einem Exzerpt aus Caesius selbst 91,24; Diomedes
506, 2) den ionicus a minore meinen (Leos Deutung als Übersetzung
von TtaQiaviy.og [Ox. 499] war ein Fehlgriff, zu dem ihn die törichte
Erklärung des Terminus Ttagiaußag bei Apth. 44,44 — itagd enim
graeci minus dicunt — nicht hätte verführen sollen). Caesius meint
also, bei Varros Auffassung sei aus dem ionicus maior durch Tilgung
der drei Silben ein ionicus minor geworden, wie sonst durch Tilgung
von zwei Silben im Anfang (Apth. 91, 17 nach Caesius). Den Sota-
deus faßte Caesius gleichfalls als Trimeter auf ad^umptis in ultima
duabus lo^igis (ebenda 25).
I 2
RirnAwi» Hkinzk: l7"i 4
eitstehen lassen, soudern einfach so Bknndiort: ^ __>-.ju_u .|w-i^,
li. h. Antisi)a8t, Jambus, katal. Jambus, und vom Asklepiadeer
jjfibt er ganz eutsprechend den xaviöv ^_. vj u_ _ w | w_ w>^'. Lko
hat (Ox. 5(17) ausdiiickli(.'h davor gewarnt, ans diesem Buch
'eine Entwickhingsphase der metrischen Theorie zu konstruie-
ren, aus der die schärfere Trennung der beiden Systeme erst
hervorgegangen wäre': ich ghiuhe, die varronische Analogie
wird eben diese Konstruktion sehr wahrscheinlicli machen.
Ist es doch im Gnmdo eine ^)C^iY/o principii, die 'scharfe Tren-
nung der beiden Systeme' als erste Phase anzusehen: und
nicht einmal, dünkt mich, eine wahrscheinliclie. Wahrschein-
lich wäre vielmehr, schon a priori, daß die Derivationsmetrik
nicht allseitig und konsequent durchgebildet dem Haupte Dires
Schöpfers entsprang, soudern zunächst auf den Gebieten, wo
sie ohne jede Gewaltsamkeit durchzuführen war, versucht
-wurde, also bei den einfachen jambischen, trochäischen und
daktvlischen Maßen und bei den aus ihnen kombinierten
Asynarteten. Die hier geübte Betrachtungsweise wurde dann
auf die komplizierteren, von den Alexandrinern nach viersilbi-
o-en Metra analysierten Beihen so übertragen, daß man sich
umsah, ob sich aus längeren Versen andere, weniger umfäng-
liche, durch Streichung einiger Silben absondern, vielleicht
auch durch Umstellung andere gewinnen ließen: der Gesichts-
punkt ist hier, nach dem Oxyrhynchiten zu urteilen, nicht
der einer historisch-genetischen Erklärung, sondern der einer
praktisch brauchbaren und leicht merkbaren Veranschau-
lichung gewesen.^) Zum einheitlichen System wurde das erst
als man auch für diese Maße Herleitung aus Senar und Hexa-
meter postulierte; das ließ sich für die Tcud^uQo: so erreichen,
daß man, in unmittelbarer Fortsetzung der alexandrinischen
Lehre von der STriTcXoxij, Metra wie die Choriamben oder
loniker als solche aus Daktylen ableitete, etwa wie es Caesius
Bassus 264, 5 tut; dann konnte man die einzelnen Verse aus
den so gewonnenen Metra zusammensetzen. Für die ejiCiiixTu
i) S. dazu unten S. 55.
70, 4j Die lyrischen Verse des Horaz. i 5
mußte man, um die Vereinigung verschiedener Metra in einem
Kolon und damit die Hauptschwierigkeiten der alexandri-
nischen Metrik zu vermeiden, weiter gehen: erst der letzte
Schritt auf der Bahn der Derivation wird es gewesen sein,
daß man auch diese Maße direkt auf die aus zwei- und drei-
silbigen Füßen bestehenden Verse zurückführte, was dann frei-
lieh nur mit Hilfe der Zerlegung in Kommata möglich war:
und dafür, daß dieser Schritt schon vor Horaz, daß er über-
haupt je von einem griechischen Metriker getan worden sei,
vermisse ich jeden Beweis.
3.
Wie steht es nun mit dem zweiten, nach Kiessling
(Einl. S. 5) durch Varro überlieferten Grundgesetz dieser
Theorie omnis versus xara tö nXclötov in duo cola dividitur?^)
Hiemach soll jeder Vers, d. h. jede über zwei Dimeter hin-
ausgehende Reihe ([versus] incipit autem a dimetro Apth. 55, 12)
in zwei Kommata zerlegbar sein; so habe man denn z. B. den
sapphischen Elfsilbler aus der concinnaiio eines troch. und
eines jarab. Komma erwachsen lassen, und Horaz habe, um
die Kommata als solche sinnfällig empfinden zu lassen, nach
der fünften Silbe eine Cäsur eintreten lassen. Kiessling
scheint danach, ähnlich wie Leo (s. oben S. 6) angenommen
zu haben, daß erst Horaz aus jenem ursprünglich rein theo-
retisch gemeinten Grundgesetz die praktische Konsequenz der
Cäsur gezogen habe. — Hiergegen ist zunächst zu sagen,
daß die oben zitierte Formulierung des Gesetzes gewiß nicht
von Varro herrührt. Weder ist diesem zuzutrauen, daß er
die Worte ytarä tö Ttkelötov unübersetzt aus einer griechi-
schen Quelle herübernahm ^), noch ist wahrscheinlich, daß er
i) So Marius Victorinus, oder vielmelir Apthonius (als solchen
zitiere ich ihn im folgenden) GL VI 54,4.*
2) Der Gewährsmann des Apthonius hat das vermutlich nur der
Sicherheit wegen getan, weil er sich über die Bedeutung der Worte
nicht ganz klar war. Gemeint war wohl mit diesem plerumque, daß
gelegentlich auch Teilung in drei Kola vorkommt, z. B. wenn der Hexa-
meter zwei Cäsuron aufweist.
1^ HicuMii» Hi;in7-k: (70. **
ilie Glieiler, in ilii' ein Vers zerfällt, iils cola bezeichnet hätte:
noch l)ei Caesius Bussiis zeif^t sich, wie CoNSiturcn bemerkt
hiit'), die alte AutTasyuiig, ilnß die Strophe oder Periode sich
aus Kola zusanuneusetzt, der Vers daij^egen in Kommata zer-
fällt, und dieselbe 'rorminologie müssen wir bei Varro vor-
aussetzen. Über seine Lehre vom Vers belehrt uns authen-
tisch nur das leider verderbt überlieferte Zitat des Apthonius
55,11 ifr. 69 WiLM.-) versi4S est nt Varroni placet verboriim
iiiHctura quae })Cf (oficulos el commata ac thi/titnws (Variante:
arhythmos) modulainr in pedes, aus dem allerdings, wie man
es auch emendioreu und interpretieren mag"'), soviel hervor-
zuijehen scheint, daß Varro die Teilbarkeit in Kommata als
wesentlich für den Vers betrachtete. Daß diese seine Lehre
irgendetwas mit der Derivationstheorie zu tun hat, ist weder
bewiesen noch auch nur wahrscheinlich: alles spricht dafür,
daß lediglich gemeint war, jeder 'Vers' müsse eine Cäsur
haben. Zur Begründung dieser Forderung wird bei Aptho-
1) A. a. 0. (obeu S. 3, 3. 75.
2) Ich gebe für die Varrofragmente nur die VViLMAXN.'^schen Zahlen,
da aie hiernach leicht auch in der letzten Sammhmg von Götz und
Scholl (in der Ausgabe von de lingua lat , fjpz. 1910) ym finden sind.
3) Auffällig zunächst die Verbindung nrticulos et commata: man
faßt hier, soviel ich sehe, durcliweg articuh' als cola, aber, abgesehen
von der seltsamen Verbindung eines lateinischen und eines griechi-
scheu Terminus, uirg-ends brauchen m. W. die Metriker und Gramma-
tiker urticuhis im Sinne von memhrum, sondern entweder als caesuni,
neben memhrum, oder im Sinne von 'Geleuk' für die Versstelle, an
der die beiden Membra zusammenhängen. Dazu kommt, daß wir guten
Grund haben, dem Varro die Lehre von Kola und Kommata als Be-
standteilen des Verses nicht zuzutrauen: s. oben. Ich glaube also,
couimata war als Erklärung von articuU beigeechrieben und ist dann
in den Text gedrungen : vgl. 54, 1 1 ; 79, 6, wo membra durch cola glos-
siert war. Für arhythmos hat Westphal svgvQ'^oig vermutet: ich ziehe
ivQvQ-ficog vor, vgl. Varro 'selbst: poema est lexis enrylhmos, id est
verba plura modice in quandam coniccta formam sat. fr. 398 B. —
Verhorum iunciura sehr mit Bedacht gesetzt: der cri%oq ist die ge-
schriebene Zeile, im Gegensatz zum metrischen Schema. Vgl. übrigens
Herodians Definition ört;(oe icrl avXkußwv md i.^^i(ov cvv&iotg. Hepli.
p. 326 C.
70. 4] PiE rA-iuscHEx Verse des Horaz. i 5
nius der Satz omnis versus in cluo cola divid'diir herangezogen
für die Cäsur des Hexameters 65, 32; 70, 16, obwohl doch,
dieser Vers auch bei den Derivant^n nicht als deriviert ge-
golten hat; und in unmittelbarer Beziehung zu jener For-
mulierung steht 54, 16 fg. die Unterscheidung von dudQs6i$
und To.uf^.') Varro selbst hat über die Cäsur des Hexameters
gehandelt: 3/. Varro in libris disciplinnrum scripsitj observasse
sese in versu hexametro. quod omnimodo quinius semipes ver-
butn fmiret et quod priores quinqnc semipedes aeque magnam
vim lidberent in efpciendo versu afque aJii posteriores Septem^
idque ipsum ratimie quadani geometrica fieri disserit. Gell. n. a.
XVni 15. Wenn, wie auch Leo annimmt (Syst. 29g, i)^ die
von Heliodor und Hephaestion^) behandelte Cäsurlehre ein
'ur.sprünglicher Bestandteil der alexandrinischen Metrik' war^.
so halte ich Leos Annahme für undenkbar, daß Varro hiervon
i) P- 54> 16 ergo versus cum ex ea qua coniunctus erat parte dis-
solvüur, cola efficit; cum vero ex qua <^nony conmnctus erat parte ab-
sciditur, particida, cpcoe äiculsa ex eo est, comma dicitur, ut in ilJis versKs
solvatur, in Jus caedatur. Da,& hier coniynctui< nichtsvoLÜ coucinnatio zu tua
hat, ist sicher; ich nehme au, daß an die mncturae pedum oder sysygiarum
zu denken ist und habe daher non vor dem zweiten covhinctus einge-
fügt. WiLMANxs (de Yarr. libri?^ grammaticis p. 67, 2) setzte es vor
das erste und dachte also an die syziigiae selbst; aber es liegt in der
Natur der Sache, daß das coniunctiim sohitiir, das non coniunctum ab-
scidihir. Natürlich sclu-eibe ich die Sätze nicht ^vie Wilmanns (fr. 68)
dem Varro zu.
2) In seinem ausführlichen Werk, nicht im erhaltenen Handbüch-
lein: daß er hier von der Cäsur ganz schweigt, erklärt sich leicht da-
raus, daß sie für die jtsrptxTj im strengen Sinne nicht in Betracht
kommt: die Analyse der ahga. ist ja von der Cäsur ganz unabhängig.
Für die pjthagorisierende uovötxry' ('vgl. schon die Pythagoreer des
Aristoteles metaph. N ö p. 1095 a, Usesee, Altgr. Versbau 41) ist sie
dagegen ebenso wichtig, wie für die Praxis des Versbaus; und eben
dieser mag Hephästion in seinem Hauptwerk größere Beachtung ge-
schenkt haben. Leos Behauptung, daß Caesius nichts von der Cäsur
gewußt habe (a. a. 0.), rechnet nicht damit, daß wir seine Behandlung
der m^tra simplicia nicht besitzen: Terentianus bespricht 1669 ff. die
C^suxen des Hexameters, und ich sehe keinen Grand zu der Annahme,
«laß er sich gerade hier Ton Caesius emanzipiert habe.
ih KicHAKi) Hkinzk [70.4
nichts gewußt habe, sondern erst durch ingeiie lioobiichtung auf
die KxistiMiz einer Oiisur dos Ht-xanietcMS ^crillut worden sei.
Vielmehr hat er oftenhar im (le^ctisat/ zu der seiner Zeit
fif(*hiuH};('n Annalime mehrerer ii;leicliberechti<ifter Cäßuren aus
der Analyse lateini.M'hcr Hexameter die Pcnthemimeres als die
NormaU'äsur feststellen v.u können gemeint und daran seine
'geometrische' Spekulation gekniijift. Bestätigt wird dies
durch Augustiu, der uns, wie VVi:ih gesehen hat*), de mu-
sica V 26 eben jene ratio gcomeU'ica überliefert, und der auch
seinerseits behauptet, die Hexameter Vergils wüeseu mit
wenigen Ausnahmen die Penthemimeres auf.^) Augustin nun
liefert uns auch die bestimmteste Formulierung der in Varros
Definition an« bedeuteten oder vorgebildeten Lehre vom Vers:
scias a vdcrihus dociis defmitum et vocatum esse versum,
qui duohiis quasi memhris consiaret certa mmsura et ratiom
coniunctis (de mus. III 4): d. h. er fordert vom Vers nicht
nur eine Cäsur, sondern verlangt diese Cäsur stets an einer
und derselben Stelle des Verses (ob diese Zuspitzung schon
varronisch ist, steht dahin). Von der Derivationstheorie aber
weist sein Buch keine Spur auf^): ich meine, das vervoll-
ständifft den Beweis dafür, daß wir es in dem fraglichen Satze
Varros wirklich mit einer Theorie der Cäsur zu tun haben, die
in gar keiner Beziehung zu seiner Ableitung der Metra steht.
Nun könnte man behaupten, Horaz habe, auch ohne
z.B. den sapphischen und alkäischen Elfsilbler zu 'derivieren',
i) Stades de litt, et de rythmique grecques (Par. 1902) p. 142 fg.
{auB Fleck. Jahrb. 1862).
2) Ebd. III 3 ab hoc versu (sc. arma virumque cano) usque ad quem
volueris explora singulos; invenies ftnitam ]^artem orationis in quinto
semipede; etwas vorsichtiger V9 partem orationis in quinto semipede
semper aut paene semper terminari.
3) Die gegenteilige Behauptung Gkafs (Rhythmus und Metrum
[Marburg 1891] 67) ist irrig, sehr fraglich überhaupt, ob Augustin
■wirklich, abgesehen von der Terminologie, ''durchaus auf den Bahnen
des sog. älteren (varron.) Systems wandelt'. Augustin will keine Me-
trik schreiben, und von Varros musikalischen Lehren wissen wir noch
Tveniger als von seinen metrischen.
70, 4] Die lyrischen Verse des KorplZ. i 7
sich durch jene Van-onische' Theorie für verpflichtet gehal-
ten, die Cäsiir in diese Verse einzuführen. Um darüber mit
Sicherheit zu urteilen, müßten wir zunächst wissen, welche
Metra denn Varro als 'Verse' aufgefaßt hat. Nach Kiessling
jede über das Maß eines Dimeters hinausgehende Reihe: also
den Elfsilbler, aber nicht z. B. Glykoneen und Pherekrateen.
Er beruft sich dafür auf Apthonius, der nach dem besproche-
nen Varrozitat fortfährt incipit autum (versus) a dimetro et
p-ocedit usqiie ad hexanietrum, in his dumtaxat versibus qui per
singidos pedes dirimuntur, in Ulis autem qui per dipodiam,
usque ad tetrametrum vel pentametrum, non numquam, hexa-
nietrum procedit p. 55, 12 fg. Man braucht nur daneben zu
halten, was Aristides Quintilianus p. 33, 15J. vom 8axxvXix6v
sagt: ägy^stai ds aTto ÖL^ergov aal TCQosißtv ecog i^a^stQOv,
und vom La^ßixöv p. 34, ig: aQ^d^svov «jtö di^sxQov ngo-
XüiQcl ^i^XQi t£TQa[i£XQov xccl ßaCvstcci xatä (?t.^o(Jtav, um zu
erkennen, daß es sich bei jeuer Bestimmung des Apthonius
nicht um eine Unterscheidung des zusammengesetzten 'Verses'
vom einheitlichen Kolon handelt^), sondern um eine Bestim-
mung für die nBXQa im allgemeinen, welche — so müssen
i) Die Begrenzung des versus hier hat also nichts zu tun mit der
vorher 54,6 von Apthonius gegebenen: his (nänalich commatis et colis)
quidam adiungunt sticlmm, id est versum, sub huiusmodi differentia ut
sit versus qui excedit dimetrum, colon autem et comma intra dimetrum.
^rit itaquc Colon, cum integrae fuerint syzygiae, comma vero cum
imperfectae. Die griechische Fassung dieses Passus liegt uns noch vor
in den Hephästionscholien p. 262, 2C: Siacptqsi 6ri%oq v.ocl xwiov kccI
v.6inicc. GTLxog fibv yäg iari tb vjtSQ dlfisrgov Kai ^an rov ^isy^d'ovg
tovvo(i<x, TiäXov di ißti kccI nofi^cc xa ivrbg difi^xQov. &XXcc kwXov (isi'
xalsiTKi, orav oXö'^XrjQoi cbaiv ai cv^vyiui, v.6\nia S^, otccv äreXsts- Man
Bieht deutlich, wie Apthonius diesen Passus schlecht und recht in die
aus anderen Quellen geschöpfte Ausführung, in der des ßztxos nicht
gedacht war, hineingepaßt hat: daher die Wiederholung der schon
vorher (54, ifg.) gegebenen Unterscheidung von Komma und Kolon
(Schultz hat das nicht bemerkt und hat daher in seiner Analyse des
Kapitels, die auch sonst nicht glücklich ist, fehlgegriffen, p. 44 der
für die Analyse des Apthonius wegweisenden Dissertation Quibus auc-
toribus Aelius Festus Apth. de re metr. usus sit, Bresl. 1885).
PhU.-hist. Klaase 1918. Bd. LXX. 4. 2
i8 ]{irii\KD Hkinzk: [70,4
wir Varro, (l«in sich A}»tlu)niu8, wie i('l\ |^laiil)e, nwvh hier
anschließt, verstellen - versus seiu können, wenn sie niimlieh
Cäsur aufweisen. Auch liiir beetiitigt An^ustin, der 111 -'ol«»-.
als Mijulestniaß Mes Verses 4 Füße, d. li. 2 Syzy»^ien oder 8
teinporn iinsetzt, als Höchstmaß 32 tempore: das ist auch die
Grcn/e des ustqoi' nach den lleiihästionscholien p. 120. i;
210,21 (Holiodor: 11i:nni;, lleliod. Unters, p. 117). Augustin
i)egründet die Zahl 32 = 4x8 durch das Gesetz der proßrcsf^io
qaatermiria (vgl. über diesen jti<lclicrri))nis progrcdicndi modus
1 24): man wird diese pythagorisierende Hochschätzung der
Vierzahl angesichts der sonstigen Beziehungen des liuches
de mnsica zu Varro mit dessen bekannter Vorliebe für vier-
fache Gliederung in Zusammenhang bringen dürfen. Dann
ist bei der Bestimmung des Umfangs der dipodischen Verse
o-emeint: er richtet sich nach dem Umfang der Füße: bei
vierzeitigen Füßen, also z. \\. beim Anapäst, geht er bis zum
Tetrameter, d. h. bis zu 32 tempora, bei dreizeitigen können
es auch 5, beim Pyrrhichius auch 6 metra sein: mehr nicht,
denn hexameter versus metrorum omniimi finis ac summa
Apth. p. 53, 21 ovölv utTQov i0xiv vTceQ Tu f^dfisTQov schol..
Heph. 13?, 8. Wundom wir uns aber, wie Varro etwa die
Anerkennung des jambischen Dimeters mit seiner Forderung
einer festen Cäsur vereinigen konnte, so müssen wir uns über
das Gleiche bei Augustin wundern, der Y 2^ den jambischen
Dimeter ausdrücklich zu den versus rechnet. Zu den versus
rechnet er außer Hexameter, jamb. Trimeter und troch. Sep-
tenar (V5; 7) auch den Asklepiadeus und Phalaeceus (VI 12;
15), aber weder den Gljkoneus und Pherekrateus (IV 35),
den alkäischen Neun- und Zehnsilbler (IV 19), noch auch
— und dies ist nun sehr wichtig, aber bisher wie es scheint
stets übersehen — den alkäischen und sapphischen Elfsilbler
(IV 36; 18): das sind zwar 7nefra, aber keine versus^): ein-
i) Einen besonderen Namen für diejenigen metra, die nickt versuff
sind, hat Augustin nicht; für Yarro ist wohl das Gleiche anzunehmen.
— Den Schlußsatz des Apthoniuskapitels de versu (versus mitetn distat
a metro, qiiod in versu staiim auditur et meti-um, In metro non statim
70 4] Die lykischkn Ver«e des Hohaz. 19
facii weil sie der Forderung der Cäsur nicht eutspreoheo.
Es ist ganz ausgeschlossen, daß diese Unterscheidung von
Augustin selbst herrührt; weder die Lehre der jüngeren la-
teinischen Metriker, noch die Beobachtung der horazischeu
Praxis bot ihm dazu einen Anhalt. Dann gibt er also ältere,
varronische oder vorvarronische Lehre wieder. Diese müßte
also davon ausgegangen sein, daß zwar Phalaeceus und As-
klepiadeus, nicht aber alkäischer und sapphischer Elfsilbler
mit Oäsur gebaut werden; und erinnern wir uns daran, daß
jene in hellenistischer Zeit vielfach '/.ata art^ov verwendet
worden sind, diese nicht, so wird uns der Unterschied der
Praxis und damit die ratio der Nomenklatur deutlich. Es
erhellt aber zugleich, daß diese Theorie nun und nimmei-
den Horaz dazu veranlassen konnte, in den elfsilbigen Kola
seiner äolischen Strophen die Cäsur durchzuführen.
4.
Es hat sich gezeigt, daß uns die Überlieferung nicht das
Recht gibt, das System der Horazmetrik, das uns zuerst bei
Caesius Bassus begegnet, kurzweg als 'varronisches' System
zu bezeichnen. Erst Horazens Oden sind es gewesen, die die
römischen Derivanten dazu veranlaßten, die von ihm ge-
brauchten äolischen Metra in den Kreis ihrer Lehre einzu-
beziehen. Zu dieser Annahme führt nicht nur ein argumen-
versus 56, 12) verstehe ich leider nicht sicher, vielleicht ist gemeint
'wenn ich einen Phalaeceus rezitiere, so hört man sogleich, daß das
ein ionischer Trimeter ist; deute ich dagegen das Schema eines ioni-
schen Trimeters an, so hört man noch nicht, ob das ein Phalaeceus
sein soll, denn dazu wird er erst durch die Cäsur.' Dann wäre metrum
hier ''abstrakt' gemeint, wie in der von Diomedes 513, 1 zitierten
Distinktion (Varro dicit tnter rhythmum et metrum hoc interesse quod
inter materiam et regulam fr. 66 W.); das hindert aber nicht, daß Varro
daneben auch eine konkrete Silbengruppe wie sie te diva potens Cypri
als metrum bezeichnet hätte. — In jener Distinktion bedeutet übrigens
regulu nicht 'Maßstab, nach dem der ungeteilte StoiF zerlegt wird'
(so Geaf a. a. 0. 64), sondern das Richtscheit v.avöiv, das dazu dient,
einer Masse festbegrenzte Form zu geben; vgl. materia ''eines Estrichs)
ad regulam et libeUam eo:igitur Plin. n. b. 36, 188.
20
Kk iim:i) 11kin/,k: [70. 4
fum €X silenfio, soiulorn aiu^li ilio Komposition der älteren
uns keimtlichon Altrisse. 8io j^e])en kcino uiiilassende syste-
inatischo Darstellung, iu der auch die horazischcn Metra Platz
finden, sondern hän<^en ihrer naeli den einzeliu^n Füßen mehr
oder weniger systematiseli geordneten Übersicht ein Kapitel
de »ictns lioraiianis au, in dem, nach der Reihenfolge der
Oden, diejenigen Metra analysiert werden, die nicht in jeuer
(bersicht liereits ihre Stelle gefunden hatten oder zwanglos
finden komiten. Einen solchen Traktat de raetris Horatianis
hat uach Sciin/r/' schönem Nachweis*) der Metriker, den
Diomedes ausschreibt, mit einigen anderen Verslisten in eines
zu verschmelzen gesucht, um den verschiedenen Ursprung zu
verdecken, unbekümmert darum, daß nun bunteste Unord-
nung entstand. Der Traktat vertritt, wie gleichfalls ScHUi/rz
sezeiort hat, mehrfach Lehren, die älter sind als Caesius
Bassus, der gegen sie polemisiert: daraus allein könnte frei-
lich auf das Alter des Ganzen nicht geschlossen werden; aber
jene Lehren stimmen zur Tendenz des Ganzen so wohl, daß
wir iu der Tat ein einheitliches und dann wohl das früheste
uns kenntliche S^'stem der horazischen Metrik in ihm sehen
dürfen. Hier, und hier zuerst, begegnet uns die Tendenz, die
äolischeu Metra soweit irgend möglich aus den beiden Grund-
formen des daktylischen und jambischen Sechsfüßlers herzu-
leiten; hier die Vorstellung, daß mit dieser Herleitung der
Ursprung der Verse, also ihre metrische Natur erklärt sei:
und erst aus dieser Vorstellung heraus konnten die Normal-
formen der Verse als die einzig berechtigten aufgefaßt, aus
der Derivation also bestimmte Gesetze für den Versbau, bis
in die Quantität der einzelnen Silben hinein, entnommen
werden.2) Charakteristisch ist der geringfügige Gebrauch, der
i) Hermes 22 (1887), 260.
2) Haec metra, quae ex commatibus constant, unde partes habent,
inde et pedes sumiint 508, 31. — Übrigens erklärt auch Diouiedea den
Vers lioc deos vere etc. einfach als choriambisch und miserarnm est
neque amori als ionisch; ganz glatt ging also die Rechnung auch bei
seinem Gewährsmann nicht auf.
70, 4] Die lyrischen Veusk des Horaz. 2 1
von der conciimatio gemacht wird: von den Odenmaßen wird
nur der alkäische und sapphische Elfsilbler durch Zusammen-
fügung zweier Kommata erklärt. Um so ungenierter wirt-
schaftet dieser Mefcriker mit der uns von Varro her vertrau-
ten adiectio und detractio^): er läßt den Asklepiadeus ent-
weder aus dem elegischen Pentameter durch Wegfall einer
Silbe, oder aus dem Hexameter durch Tilgung zweier Silben
in der Mitte und zweier am Schlüsse entstehen ( u ^ -
[u ^] _ ^ u _ w o [_ _]), den Vers solvitur acris hiems grata vice
veris et Favoni durch Einfügung einer Silbe (der drittletzten)
in den Hexameter, den alkäischen Zehnsilbler gar durch
Streichung von sechs Silben aus dem Hexameter heraus
(._uw_ v^w_ w [v^ v^u] _::;): wie man sieht, ein ganz mecha-
nisches Operieren mit dem Versschema, ohne jedes Gefühl
für Wirklichkeiten der Yerskunst. Wenn dieser Traktat Horaz
zeitlich am nächsten steht, so steht er ihm doch künstlerisch
am fernsten: von ihm Aufschlüsse über Horaz' eigene Auf-
fassung erbitten, heißt vor die unrechteste Schmiede gehen.
Das Buch des Caesius Bassus-) de metris hat demgegen-
über immerhin einen Fortschritt bedeutet. Caesius ist höchst-
wahrscheinlich nicht Grammatiker von Beruf gewesen, was
aber nicht hindert, daß er, der erfolgreiche lyrische Dich-
ter, von Metrik mindestens ebenso viel verstand, wie irgend-
i) Auch die Metrik des Ps.-Ceusorinus (VI 610fg.), auf deren alter-
tümlichen Charakter Keil p. 6o6 und Schultz a. a. 0. 265 hingewiesen
haben, operiert in dem wenigen, das sie über die transfigit ratio metro-
rum gibt (6 16 fg.), nur mit adiectio und detractio und Verkürzung ein-
zelner langen Silben; sogar den Phalaeceus, den Diomedes, wie bei der
ersten divisio des Caesius, durch concinnatio entstehen läßt, leitet sie
aus dem Hexameter ab : u w [_ ^ u] _ w c> [_ u] *-- Leo urteilt von
dem Stücke ^es scheint ganz aus Varro zu stammen, aus dem es etwa
zur Zeit des Censorinus exzerpiert sein kann'. Ich finde gar nichts spe-
zifisch Varronianisches darin; varronischer Terminologie widerspricht
es, daß Qv&nög durch modus, {lirqov durch numerus wiedergegeben
wird: Varro stellte rhythmus qui latine tiumerus vocatur und metrwn
einander gegenüber: Diomed. p. 513, i fr. 66 W.
2) S. zum folgenden die Ausführungen unten S. 47 fg.
2 2 RionAKU Hkin/.k: [7>'. 4
eiu römisiber 'inimmatiker. Sein Buch liat iu dor röiuisclieii
.\rotrik Kpoflie gomacht: nicht als ol) Caosius rifr(>no noiu*
Wege gegangen wäre; er bliel) viclnifhr im l'rin/,ip bei der
Derivationstheorie, wie sie damals in K'oni gelelirt wurde;
aber er hat nicht lediglich die Versschemata angesehen, son-
dern die Verse gehcirt, und er hat aus griechischen Büchein
manche Kenntnis und manche Anregung gezogen, die sein
Buch über das Niveau eines Schulbuchs erhoben und es den
Späteren unentbehrlich machten, «soweit diese nicht, wie Juba,
es lieber mit der systematischen alexandrinisch-heliodorischen
Metrik hielten. Wir lernen durch Analyse seines Buches,
was uns der vielleicht gleichzeitige Traktat von Oxyrhynchos
bestätigt, daß die griechische Derivationsmetrik damals jeden-
falls noch keineswegs mit dem alexandrinischeu System ge-
brochen hatte, sondern in iiaher Beziehung zu ihm stand,
weit entfernt von dem verknöcherten Dogmatismus, der uns
bei dem Gewährsmann des Diomedes entgegentritt; daß z. B.
die äolischen Verse noch mit alleu ihren Freiheiten der Ge-
staltung gekannt und begriffen wurden, und von der Be-
schränkung auf ein festes Schema, an das sich ein Dichter
wie Horaz hätte gebunden fühlen müssen, noch nicht die
Rede war.
Caesius hat freilich seinen freieren Standpunkt nicht
konsequent gewahrt: er mochte vor allem für die horazischen
Metra die römische derivierende Erklärungsweise, die sich
durch ihre Einfachheit und Übersichtlichkeit scheinbar so
vorteilhaft von den alexandrinischeu Analysen unterschied,
nicht aufgeben, und so zeigt sein Buch ein zwiefaches Antlitz.
Aber auch in der Behandlung der horazischen Metra bewährt
er, trotz aller grundsätzlichen Fehler der Methode, doch einen
freieren Blick, als der ganz auf die Derivation aus Senar
und Hexameter eingeschworene Gewährsmann des Diomedes.-')
i) Die Theäe von Ernst (Der Lyriker und Metriker Cae.siu8 Bassus,
Progr. München 1901), daß das Kapitel de metris Horatianis eine Kom-
pilation aus Stücken des Caesius und einem älteren Metriker sei, ist
so schwach begründet, daß sie eine Widerlegung nicht verdient.
7o, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 2^
Er faßt den Asklepiadeus, Gl^^koneus und Pherekrateus als
choriambische Maße — wenn er auch daneben die Ableitung
aus dem Hexameter erwähnt — und lehnt die Derivation
aus dem daktylischen Pentameter ab (268, 24); er kehrt für
den Vers solvitur acris hiems grata vice veris et Favoni zu
der richtigeren hephästioniscben Auffassung — Komposition
aus daktylischem und trochäischem Gliede — zurück, in aus-
gesprochenem Gegensatz zur Auffassung als liexametcr maior
syllaha (268, 27). Für das zweite Komma des alkäischen
Elfsilblers stellt er seine Erklärung (Choriambus -\- Jambus,
= zweitem Komma des Asklepiadeus) mit einem potest etiam
videri neben die diomedische _ u ^^ _ w [u] _ (268, 16). Beim
alkäischen Zehnsilbler ersetzt er die ganz unsinnige diome-
dische Herleitung aus dem Hexameter (die später wieder
Atilius 302 als einzige vorträgt) durch die wenigstens etwas
vernünftigere aus dem katalekti sehen Tetrameter (26g, 13); aber
es ist ihm offenbar auch dabei nicht ganz geheuer, denn er
stellt daneben als zweite Möglichkeit, mehr in der Art des
Oxyrhynchiten, seine Herleitung aus dem Archebuleus durch
Tilgung der ersten drei Halbfüße: wahrscheinlich ein eigener
EinfaU.
Man sieht, hier ist alles noch im Fluß, noch zwei Gene-
rationen nach Horazens Tod. Fest steht allein das Prinzip
der Derivation, auf die äolischen Maße in ganz anderem
Sinne und in ganz anderer Ausdehnung wie es scheint an-
gewendet, als es die Griechen getan hatten. Aber die Ein-
zelheiten der Anwendung stehen im Belieben jedes Horaz-
metrikers; man experimentiert, man rät, zweifelt oder dekre-
tiert: aber man weiß offenbar von den Gesetzen, nach denen
Horaz seine Verse gebaut hat, nichts. Und doch, ich wieder-
hole es, hätte man es wissen müssen, wenn vor Horaz eine
Lehre von so hoher Autorität bestanden hätte, daß sich der
Dichter ihr blindlings fügte.
Ich fasse zusammen: die Durchmusterung unserer metri-
schen Üljerlieferung hat nichts ergeben, was uns berech-
tigte, die Anwendung der Derivationslehre auf die äolischen
2^ 1^'k II m;" Hkin/.k: IJo, 4
Verse wie sie von den römisoheu und den modernen Metri-
kern gelehrt wird, für älter /u halten als lloraz. Im (Jegen-
teil beweist der Zustand dieser Lehre iiuch in ufronischer
Zeit, daß sie nicht a\if alter «reheili«;ter Tradition beruht,
sondern willkürliche Ausdeutun<T des bei lloraz vorlie<rendon
metrischen Tatbestandes durch römische Oirammatiker ist, die
sich an «Griechische Theorien zwar anlehnten, aber das was
sie brauchten, bei den Griechen nicht aus<rebildet fanden.
5.
Aber hat nicht Horaz selbst die Derivatiou der äolischen
Maße aus Hexameter und Trimeter so unzweideutig aner-
kannt, daß durch dies maßgebende Zeugnis alles umgeworfen
wird was wir bisher festst(?llen zu können meinten'^ Ich
denke natürlich an die Verse im Brief an Maecenas, I 1 9, 2 i :
Libera per vacuum posui vestigia princeps,
non alima meo pressi pede. qui sibi fidit,
dux regit examen. Parios ego prmus iamhos
ostendi Latio, numeros animosfßie secutus
ihArchihchl, non res et agentia verbä Lycamben.
ac ne nie foliis ideo brevioribus ornes,
quod timui niutare modos et carminis artem:
temperat ÄrcJiilocIii musani pede mascula SappliOy.
temperat Älcaeus, sed rebus et ordine dispar,
zonec socerum quaerit, quem versibiis oblinat atris,
nee sponsae laqueum famoso carmine nectü.
Jmnc ego, non alio dictum prius ore, Latinus
volgavi fidicen.
KiESSLiNG^) hat diese Verse zuerst in den Dienst seiner-
Hypothese gestellt: 'nur wer gelernt hatte ... den sapphi-
schen Vers in seiner ersten Hälfte aus dem Tetrameter des
Archilochus abzuleiten, der durfte sagen temperat Archilochi
musam pede mascula Sappho ... So werden denn auch von
Bassus die beiden schließenden Kola der alkäischen Strophe^
der Neunsilbler aus dem Dimeter der archilochischen Epode^.
I) Philol. Unters. II p. 67 Anm.
70,4] Die lyrischen Verse des Horaz. 25
der Zebnsilbler . . . aus dem daktylischen Epodeu desselben
abgeleitet: temperat Älcaeus fährt Horaz fort'. Kiessling be-
schränkte sieh also darauf, diejenigen Metra heranzuziehen,.
deren Erfindung einstimmig dem Archilochus zugeschrieben
wird^): troch. Tetrameter, jambischer Dimeter und daktyli-
scher Tetrameter; sonach würde Alkaios zwar archilochische,^
oder aus archilochischen abgeleitete Verse in seine Strophen
'eingemischt' haben; daneben hätten jedoch nicht-archilochische
gestanden, und eben auf diese hätten doch die Gegner des
Horaz sofort verweisen können. Schröder^) hat denn auch
weiter gegriffen und bei Horaz 'die Lehren der Derivations-
metrik' bezeuQft oefunden, 'die alle lesbischen Maße . . . aus
dem sog. daktylischen Hexameter und dem jamb. Trimeter
abzuleiten wußte': wogegen denn freilich gleich eingewandt
werden muß, daß diese beiden Verse nach der Lehre jener
Metrik nicht Äychiloc/n pes sind, da sie vor ihm existiert
haben. Aber auch abgesehen von solchen Bedenken scheint
mir KiESSnyo.s sowohl wie Schröders Erklärung durch
den Zusammenhang als falsch erwiesen zu werden.
Ohne weiteres klar ist dies, wenn wir annehmen, der
Vorwurf des non mutasse modos beziehe sich darauf, daß Horaz.
keine neuen Metra erfunden habe. Denn unmöglich konnte
sich Horaz gegen diesen Vorwurf durch den Hinweis darauf
verteidigen, daß Sappho und Alcaeus — nicht etwa archi-
lochische Verse übernommen, sondern neue aus ihnen ge-
bildet, also gerade das getan hätten, was nicht getan zu haben
den Inhalt des Vorwurfs ausmacht. Bei dieser Auffassung
des V. 27 wären wir genötigt, wirklich archilochische Verse-
bei den Lesbiern zu suchen, wie es Bentley tat^): freilich
i) In der Ausgabe der Oden hat er dann das temperoet Sappho-
auf beide Kola des Hendecas., das temperat Alcaeus nur auf den Zehn-
silbler bezogen (p. "5-18): die ratio dieser Auswahl ist mir nicht er-
eichtlich.
2) Sitzungsberichte des Philolog. Vereins zu Berlin 19 16 S. 4.
3) 'Scias et Sapphonem et Alcaeum (qiios poetas!) musam suam
illiiis pede temperare; mas titrumque Archilocheos numeros mis lyrici>^
20
Kl. 11 vKi» IIkin/,i:: [7*^- «
fiiiid or sie nur mit Hilf»' des Postulats, daß all«» VcM-srormcu
d»M- Oden, also auch (nhoriliKSfii«' comae uiul (//<< K])hcson In-
matisce Cori>iflil und solrifur (uris liiotis grata vier rrns H
Favoni, die als an-iiilochiscli hozeugt sind, ■/,u<jfloieh icabisch
seien. Die Möglichkeit selbst /,u<i;e^ehen, würde doch aucii
hier der (Jejrner solürt eiuRewendet habcji: ^^egcuüber diesen
wenigen aus Arihilochos übernommenen Formen überwiegen
doch bei den Lesbiern die neu erfundenen so stark, daß ihr
Fall ganz anders liegt als der deine: du hast ja eben nichts
ueu erfunden!
Aber so leicht können wir uns die Widerlegung nicht
machen, denn jene Auffassung des v. 27 ist unzuläösig. Ja
wenn es sich noch um den Lyriker Horaz handelte! Von
dem konnte immerhin eine Bereicherung des überlieferten
Forraeubestandes erwartet werden: wir wissen ja, wie viele
hellenistische Dichter sowohl tnodos wie carminis artem in
lyrischen Versen geändert haben, und wie lange der Sport
der Erfindung neuer Verse bei Griechen und Römern betrie-
ben wurde. Aber es ist ja der Jambiker lloraz, der jenen
Vorwurf erfahren oder erwarfet hat, und in diesem yivo<^ ist
doch die Konstanz der Formen eine ganz andere: Klassiker
des Jambus wie Semouides haben nichts Neues erfunden, und
ebensowenig die römischen Jambiker vor Horaz. an die doch
wolü hier zunächst zu denken ist. Und dieser Gedanke führt
ininiscere\ Die Bedeutung 'mischen' ist von temperare hier ganz
fernzuhalten: die greuliche Vorstellung einer ''gemischten Muse' hätte
man Horaz nie zutrauen sollen. Zudem gewinnt tei}ix>erare die Bedeu-
tung 'mischen' doch nur auf dem Umweg ''das rechte Verhältnis geben',
'gehörig einrichten': diese Vorstellung liegt aber hier ganz fern. Die
Parallele testudinis dulcem quac strepiiwn IHeri temperas Od. IV 3, 18
stellt es vollends außer Zweifel, daß temperare hier nichts anderes sein
kann, als etwa 'ordnend beherrschen'. — Daraus folgt weiter, um das
gleich anzufügen, daß Archilochi pes hier nicht der Jambus sein kann,
weder als Versfuß (Wkil Fleckeis. Jbb. 1862, 336), noch als Versmaß
(Graf, Rhythmus und ^It-trum p. 6): beide Deutungen würden auf das
inmiscere zurückführen. Wie in Lesbium servate pedem Od. IV 6,35 ist
liier vielmehr 'Takt' ganz allgemein für metrische Form gesagt.
70,4] Die lyrischkx Verse des Horaz. 27
uns auch auf die richtige Deutung. Gerade das, was dem
Horaz, wie sein Buch zeigt, unter den archilochischen Formen
als besonders charakteristisch und wertvoll erschien, die epo-
dische Komposition und die Verbindung von daktylischen mit
jambischen Rhythmen, teils in gesouderten Versen, teils inner-
halb derselben asynartetischen Verse, war ja seit lano-em aus
der jambischen Poesie verschwunden; selbst der jambische
Trimeter war zurückgetreten hinter den dem Archilochos
noch unbekannten Versen, dem Cboliambus und ganz beson-
ders dem phaläcischen Hendecasy Ilabus: so waren in der
Tat nicht nur die modi, war auch die carminis ars muiata,
durch eine neue ersetzt. Man kann nicht daran zweifeln, daß
die aesthetischen Stimmführer in diesem Wandel einen Fort-
schritt erblickten: so sehr man die animi des Archilochos
bewunderte und in seinem Geiste dichten wollte, so unmodern
und überholt erschien die Form seiuer Jamben. Wenn nun
Horaz, voll ehrfürchtiger Bewunderung für den großen Dich-
ter, auch diese Form getreu nachbildete, weil sie ihm mit
dem Geist aufs engste verwachsen schien und er sich also
scheute (timuii), sie wegzuwerfen, so konnte ihm wohl der
Vorwurf der Rückständigkeit, des Klebeus an veralteten, längst
durch Besseres ersetzten Formen gemacht werden. Nachfolo-e
hat er ja mit diesem seinem Wiederbelebungsversuche noch
weniger gefunden als mit seiner archaisierenden Lyrik: Quin-
tilian nennt unter den Dichtgattungen neben Epos und Drama
Lyrik und Elegie nicht den Jambus, sondern schlechtweg
hendecasyllabi (I 8, 6), und wenn er neben Catull und Furius
auch den Horaz als Koryphäen der lateinischen Jamben nennt,
denen es geliftigen sei, der Forderung der acerbitas zu ge-
nügen, so fügt er einschränkend hinzu quamquam Uli ejjodiis
intervenit (X i, 96).
Also statt, wie er es gehofft hatte, für die Übertraguno-
der alten klassischen Gestalt des Jambus nach Latiura be-
sonderen Ruhm zu ernten, mußte Horaz seinen Ruhm als
Jambiker geschmälert sehen, weil er sich nicht frei gemacht
habe von dem Zwange der archilochischen Form, nicht archi-
28 Kii II \i;i) 11i;in/k: [70, 4
locbischen Geist, wie es andere Küliuere taten, in die neue
l'orin ge«;ossen habe. Er be^'egiiet diesem Vorwurl' zu unserer
und wobl aucb /u seiner /eiti^euössiscben Leser ÜberraBcbunjjf
mit der Berufung — nicbt auf einen .Ijimbofjfrjipben (und
freilich wäre es schwer gewesen, einen iiamliaften Vertreter
dieses yt'i'o^ als ^'()rgänger an/n führen), sondern auf Siiijpho
und Alkaios: auch diese seien dem Archilochos rehis et or-
d'me (fis^mrs, aber nnfneris pures gewesen, wie er selbst.
Etwas wie eine Ersohleichnng muß bei dieser Argumentation
vorliegen — darum kommen wir bei keiner Deutung herum:
'Gleichheit' der metrischen Formen im vollen Sinne kann
auch Horaz l)ei den hier verglichenen Dichtern nicht gefun-
den haben. Aber die Derivationstheorie kann, wenn wir v. 27
oben richtig erklärt haben, der Schlüssel des von Horaz uns
aufgegebenen Rätsels nicht sein. Erstens legt sie ja gerade
besonderes Gewicht darauf, daß durch die Variierung der alten
Metra neue entstehen und geht in diesem Punkte z. B. darin
über das andere metrische System noch hinaus, daß sie nicht
von der katalektischen und akatalektischen Form eines Me-
trums spricht, sondern beide als verschiedene Metra neben-
einander stellt. Sodann aber, was noch wichtiger ist: für
den Derivauten gehen ja alle metrischen Formen unterschied-
los in letzter Linie auf Hexameter und Ti-imeter zurück, also
auch die 'modernen' jambischen Maße, Skazon und Phalae-
eeus; für den Derivanten waren also Catulls Verse genau so
011t 'archilochische', wie die der Lesbier, und es hätte also
keinen Sinn gehabt, wenn Horaz sich für seine Praxis auf
diese berufen hätte, statt auf die modernen. Wir müssen
vielmehr nach Eigenheiten suchen, die die Lesbier mit Archi-
lochos gemein haben, und die sie andererseits von den 'mo-
dernen' Jambographen unterscheiden. Solche Eigenheiten sind
I. die Polyraetrie im allgemeinen, gegenüber der Beschrän-
kung auf ganz wenige, zwei bis drei Maße, unter denen
aer Skazon der Lyrik ebenso fremd ist wie dem Archi-
lochos; 2. die Verwendung daktylischer Maße sowohl wie
jambisch-trochäischer, und die Vereinigung beider zu einem
70, 4] DiK LYRISCHEN VerSP: DES HoRAZ. 2g
Vers^): 3. die Komposition der Gedichte nicht xcctcc atCyoi'
sondern als 6v6Ty]^att,xd''nud zwar als [lovoötQorpixä, wobei es
nach den antiken Lehren TtBQi jcoit^iiatog keinen Unterschied
macht, ob die Strophen zwei- oder vierzeilig sind: hat doch
auch Alkaios zweizeilige Strophen. Wie wenig Unterschied in
diesem Punkte Horaz zwischen der 'epodi sehen' Komposition
des Archilochos und den zweizeiligen Systemen der Lesbier
empfand, hat er ja dadurch bewiesen, daß er — wie ich im
(jegensatz zu Bentleys oben angeführter These annehme —
archilochische Epodenformen unter seine Oden aufnahm. Bei
den Worten carminis artem denkt er, meine ich, vornehm-
lich an diese Seite der archilochischen Kunst; die stichischeu
Formen des Archilochos hat er ja fast völlig vermieden, und
ganz ähnlich hält er es mit den Lesbiern: selbst die stichi-
schen Asklepiadeen gelten ihm nicht als vollgültig lyrisch-)
und außer ihnen hat er nur ein paar Mal den größeren As-
klepiadeus stichisch verwendet. Ofienbar schien ihm diese
Kompositions weise der moderneu zu nahe zu stehen, da-
rum ignoriert er sie so gut wie ganz. Endlich 4., worauf
aber wohl das geringste Gewicht zu legen ist, kann an ein-
zelne Verse oder Glieder der Asynarteten gedacht werden,
die den Lesbiern mit Archilochos gemein waren, wie den
daktylischen Hexameter, den katalektischen jambischen Tri-
meter, den Ithyphallikus. — Das alles zusammen reicht ge-
wiß nicht aus, um die Behauptung, daß die Lesbier musam
i) 'jQ^iXo^og . . . TtooGs^EVQS y.cd ri,v sie tovg ov^ ofioysvslg Qvd'-
uovg ivTccGiv Plut. de raus. 28. nqüTog df v-ccl tovroig {rotg aüwagti]-
toig) 'Aqx- iiiXQrircii, Hephaest. c. 15,2.
2) In der ersten Odensammlung hat er sie nur für den Prolog
und Epilog verwendet, die sich eben durch diese Gestaltung von den
Liedern abheben; im vierten Buch nimmt das in die Mitte gestellte
Gedicht donarem pateras als eine Art von Mesolog, wenn das Wort
erlaubt ist, die Motive jener beiden Gedichte in charakteristischer Um-
formung wieder auf, s. meine Einl. dazu. Der größere Asklepiadeus,
den er auch nur dreimal (I 11. 18, IV 10) stichisch verwendet hat, dar-
unter zweimal in ganz kurzen Gedichten, schien ihm wohl noch den
lyrischen Charakter reiner ausgeprägt zu tragen.
30 Kh'haki) Hr.rN/.K: |7". 4
Archilochi pcdc ivmpennü ernstbaft /.ii bcgriindou: aber, wio
scbon oben gesai^t, eine solcbe l^ogriiiidiing wax nnnuivflJcli,
iiml wir müssen also von ibrer Fordonmg abscbeii.
Ein Wort scbließliob noch über rchns ei online dispar
r. 2q. Die Erklärer denken bei ordo wieder an Metrisches:
an die verschiedenartigen Verbindungen der gleichen Verse
(Bentlky), oder die verscliiedenartige Gni})pierung, hier zu
zweizeiligen, dort zu vierzeiligen Strophen (Kiksslinc), oder
die verschiedenartige Vereinigung der mcmhra zu Versen (so,
wenn ich ihn recht verstehe, Scnu()DKi{). Aber wer soll der-
gleichen aus dem einfachen ordo herauslesen, zumal nach-
dem durch rehus der Blick vom Metrischen abgelenkt istV
und warum sollte Horaz bei Alkaios etwas hervorheben, was
für seine eigenen Jamben nicht galt? Neben den res, der
TTQay^ccTiia, kann ordo, meine ich, nur in dem Sinne stehen,
in dem es die antike Rhetorik und Poetik so oft jenem Be-
griff zugesellt: im Sinne von rd^ig. ohovo^Lu, dispcsitio^y.
so z. B. Dionys. de imit. 2 von Panyasis: TtQay^axBia xal
r/y xar' avTOv olxovo(.ii<x öirjvsyxev, und Horaz selbst: cui
lecta potenter erit res, nee facundia deseret hunc nee lucidus-
ordo a. p. 40. Horaz sagt nur, daß Alkaios sich im ordo
von Archilochos unterscheide, also auch in diesem Punkte
neu sei: er meint aber gewiß, daß dieser Unterschied einen Fort-
schritt bedeute. Das Gleiche gilt ja auch von den res; denn daß
Horaz die Gehässigkeit und Unerbittlichkeit des persönlichen
Kampfes, noch dazu gegen einstmals nahe Verbundene, so wenig^
echön findet, wie es die aesthetische Kritik des Altertums
überhaupt tat^), hört man aus seinen hier gebrauchten Aus-
drücken und liest man aus seinen eigenen Nachbildungen
heraus: er mag sich schon in seinen politischen Jamben dem.
i) Die Frage, wie ordo und disposito gegeneinander abzugrenzen-
seien und ob sie überhaupt zu unterscheiden seien, war umstritten f
Tgl. z. B. Quintilian i. 0. III 2, 8: VII i, i.
2) Ut videatur quibusdam, quod quoquam minor est (Arch.j, ma-
teriac esse, non ingenii Vitium Quint. X i , 60. (ibnipuiTO if av xig:
Aqxi^Öxov tt^v cTtoQ'iGLv Plut. de aud. 45 B.
70. 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 3 1
AJkaios^) verwandter gefühlt haben als dem Archilochos; und
wenn wir daran denken, daß im Werk des Alkaios t6 töv nolLn-
xü)v jtoLr,u(xrc3v yi&og (Dionys. de imit. 8), das der iKußixi) idecc
wenigstens nahe kam, so besonders hoch geschätzt wurde, ver-
steht man es auch besser, daß Horaz seine nguynaTeCa überhaupt
mit der des Archilochos vergleichen kann. 2) Worin nun Al-
kaios' olxovonCa von der des Archilochos sich — vorteilhaft —
unterschied, können wir freilich nicht sagen; daß Horaz aber
online bewußt über Archilochos hinausging, lehrt uns schon
der kunstvoll disponierte 10. Jambus im Vergleich mit dem
erhaltenen Fragment des Archilochos. Gibt doch selbst ein
Bewunderer des genialen Dichters, der Schriftsteller vom Er-
habenen, zu, daß er TtoXla ical c.voLXOvö^rjta jiccQccövQet
(c- 53, 5^-
6.
Damit ist denn der Weg zu einem historischen Verständ-
nis der horazischen Metrik frei gemacht. Die Christ-Kiess-
LiNGsche Hypothese zeigt uns einen Dichter, der, als er sich
entschließt, Oden zu dichten, zu einem jüngst erschienenen,
auf abstruse Theorie aufgebauten metrischen Handbuch greift
und mit peinlicher Beflissenheit Silbe für Silbe nachmacht,
was ihm da über 'richtige' äolische Verse vorsetraoren wird,
oder der gar über das dort Verlangte hinausgeht und, froh^
die Entstehung der Verse aus je zwei Kola begriffen zu haben,
sie nun auch seinen Lesern einhämmern will, indem er an
jedem Kolon ende Wortende eintreten läßt. Ich möchte dem-
gegenüber den Dichter zu Ehren bringen, der die lesbischen
Verse mit den Ohren seiner Zeit gehört hat und dessen
Verskunst mitten im Entwicklungsgange der hellenistisch-
i) Der in parte operis 'anno plectro'' merito üonatur, qua tyrannos
insectatus midtum etiam morihus confcrt (vgl. Horaz Od. II 13, 81)
Quint. X I, 63, im Gegensatz zu Archilochos, dessen Lektüre in Sparta
verboten war, ne plus morihus noceret quam ingeniis prodesset Val.
Max. XI 3, ext. i.
2) Welcher Art die iaiißi-Kcc waren, die man bei Sappho fand
(,Philodem. tc- Ttotruucrav II fr. 29 Hausr.), weiß ich nicht.
-^2 Rkuaiu) Hkinzk: [70. 4
röinisi-lien Verskuust diiriii steht, llora/ i)iUlet keine neuen
Formen: jeder seiner Verse hat ßicli, in der von ihm ge-
brauchten Form, fjcenau so auch bei den alten Leshiern ^o-
fundeu. Aber er normalisiert, durch Festlejrun«,^ der Quanti-
täten und der Verseinsehnitte. El)en diese Normalisierung
ist die Tendenz der ^resamteu hellenistisch-römiBchen Vers-
kunst. M Die einzelnen Tatsachen sind zumeist längst be-
obachtet; aber da sie noch nirgends zu überblicken sind, muß
ich hier zusammenstellen, was mii- erreichbar ist, ohne An-
spruch auf Vollständigkeit.
Den choliambi sehen Trimeter baut schon Hipponax
überwiegend mit Cäsur nach der Senkung des 3. Fußes, im-
merhin weist etwa ein Viertel der erhaltenen 122 Verse viel-
mehr Cäsur im vierten Fuße auf.^) In den etwa 175 aus-
reichend erhaltenen Jamben des Kallimachos finde ich diese
Cäsur (von der Freiheit der Eigennamen abgesehen) 2 2 mal,
also nur im achten Teil der Verse (Phoinix hat sie noch
öfter, in 74 Versen 21); daß in den 23 kenntlichen Versen
des anonymen Dichters im Pap. Heid. 310 (Gerh. p. 4%-) in
den vier Fällen, wo semiseptenaria anzunehmen ist, sich doch
überall auch Wortschluß nach der vorhergehenden Senkung
findet, mag Zufall sein. Catull hat in seinen 126 Choliamben
nur in sieben Fällen (also 1/18) die semiseptenaria, in dreien
davon würde die semiquinaria in die Commissur eines prä-
positionalen Compositum fallen. S) Die 81 Choliamben der
Priapea beschränken sich ausnahmslos auf die semiquinaria.
— Spondeus im fünften Fuße (also Versschluß ^) hat
Hipponax noch 9 mal, Phoinix 3 mal, Kallimachos und ebenso
Catull haben ihn durchaus verpönt. — Auflösung der He-
i) Das hat Maas a. a. 0. 711 als wichtig für die Erklärung der
horazischen Metra mit Recht hervorgehoben.
2) S. Pelckmann, Versus choliambi apud Graecos et Romanos
historia, Diss. Kiel 1908 (vor dem Fund der kallimacheischen Jamben
Oxyrh. VII und vor Gerhardt Phoinix von Kolophon, Lpz. 1909).
3) Cäsurlose Verse baut Catull natürlich nicht; die sieben Fälle,
die Pelckmann p. 47 aufzählt, sind zu streichen, sie beweisen nur, daß
auch Catull die Cäsur durch Synalöphe zu überbrücken für erlaubt hält.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. ^;^
bung in zwei Kürzen finden wir bei Hipponax 24 mal, in
den Jamben des Kallimaclios (eingerechnet die zahlreichen
bruchstückweis erhaltenen Verse) nur 7 mal, bei Catull nur
3 mal, ebenso oft in den Priapeis.
Von dem Archebuleum der alten Lyrik haben wir keine
Probe; aber wir wissen (Hephaest. c. 8), daß Alkman, nicht
nur im ersten Fuß, statt des Anapäst auch Spondeus eintreten
ließ. Kallimachos, vor dem wir nun ein erhebliches Stück in
diesem Maße besitzen'), hat darauf verzichtet; er hat auch,
wie wir nun sehen, nur ganz ausnahmsweise, dem Eigennamen
zu Liebe, im ersten Fuße Jambus zugelassen. Nach dem
dritten Anapäst ausnahmslos Diärese: auch das wird Neue-
rung sein, vielleicht des Archebulos, der den Vers zuerst
stichisch verwendete. Im Mustervers des Cacsius dement-
sprechend die Versteilung durch Anaphora betont: tibi nascitur
omne pecus, tibi crescit Jierbo.
Unter den 18 sog. größeren Asklepiadeen, die wir
von Alkaios besitzen, weisen 8 Worteinschnitt nach dem ersten
Choriamben, 4 solchen nach dem zweiten Choriamben auf,
während in nur 5 Versen^) sich beide Einschnitte verbinden,
also der mittlere Choriamb abgegrenzt erscheint (ein Vers ganz
ohne solchen Einschnitt). Bei Theokrit ist die Neigung zu
jener Abgrenzung verstärkt: unter den 57 Versen des 28. und
30. Gedichts findet sie sich 2 7 mal, also schon fast in der
Hälfte der Verse (im übrigen fast gleich oft der erste oder der
zweite Einschnitt allein, aber allerdings vier Verse ohne
solche).^) Catull hat unter den zwölf Versen seines 30. Ge-
dichts sieben mit beiden Einschnitten, keinen cäsurlos ge-
baut. — In den Anfangssilben hat Theokrit die lesbische Frei-
i) WiLAMowiTz, Neues von Kallimachoä, Sitzungsber. d. Berl. Ak.
1912, 524.
2) Aus den acht verstümmelten Versen Pap. Ox. 1233 fr. 8 (X p. sgfg.)
kommt wie es scheint nur einer hinzu.
3) Unter den drei von Kallimachos erhaltenen Beispielen (fr. 114
und 170, s. WiLAMOwiTz Berl. Klassikertexte V i p. 59, 11) haben zwei
den Doppeleinschnitt, der dritte nur den ersten; der Eingang in allen
dreien spondeisch.
Phil.-hist. Klaaae 1918. Bd. LXX. 4. 3
34 UirnAiiD Hkinzk: f7o. 1
lieit i^SponcUus. Trurhiiiis, .lanibus, l'yirliirliius) bewahrt., Cn-
tuU fühlt (Ion Sj)()n(hMi,s aMsiiiihnish)s (hirch, wie dann llorn/.^
iler auch dou Dopi)ehMuschnitt zun» (Jesi'tz orlieht.')
Im PhalaeoeuR*) hevor/ugten die maßgebenden Alexan-
driner, wie es scheint, den Kitisrliuitt nach dem ersten der
drei schließondon Trochäen: so durchweg die acht Verse des
l*hahiiko8 selbst (A. P. XIII 6), so in sechs von den acht
Versen des theokritischen Epigramms 22 (A. P. IX 5g8, im
.siebenten ist die Senkung des Trochaeus einsilbiges Wort),
so in vier von den fünf Phalaeceen der kallimacheischen Epi-
gramme 38, 40 (A. P. XIII 24, VII 728). •') Die Lateiner haben
sich davon emanzipiert, aber um so festere Regeln aufge-
stellt: von den 495 Hondecasyllaben Catulls (außer c. 55 und
58a) haben 331 Cäsur nach der dritten Hebung, 153 naeh
dem Daktylus, nur 1 1 Verse entbehren der regelmäßigen Cä-
sur; die wenigen (7) erhalteneu Hendecasyllaben Varros haben
mit einer Ausnahme (dfiktylisch) die Ilebungscäsur. Auch
von der Freiheit der beiden Anfangssilben wird bei jeneti
Alexandrinern beschränkter Gebrauch gemacht: bei Phalaikos
höchstens zwei Trochäen (der Überlieferung ist nicht ganz
zu trauen), bei Theokrit und Kallimachos je einer, sonst
alles Spondeen. Bei Catull kommt etwa auf jeden 20. Vers
i) Eine lihuliche Entwicklung läßt eich bei den äolischen dak-
tylischen FünffülUern beoVjachten, dei'en wir jetzt (Ox. X) von
Alkaios und Sappho eine größere Zahl besitzen: der männliche Eiu-
echnitt nach der dritten oder vierten Hebung ist dort eher venniedeu
als gesucht (nur fünfmal in 31 Versen); in Theokrits naidiKOv c. 2^
überwiegt er durchaus (33 unter 40 Versen), und 16 mal verbinden 8ich
beide Einschnitte: olvog w rp/if nai liytrat 1 xai aXd&tu. Horaz würde,
wenn er das Maß nachgebildet hätte, vermutlich auch hier die Tendenz
zum Gesetz gemacht haben.
2) W. Meyer, Cäsur im Hendecasyllabiis, Sitzungsber. d. Müncii.
Ak. 1889, 208.
3) In den fünf Phalaeceen der Sappho Berl. Klassikertexte V 2,.
p. 16 nichts von dieser Vorliebe; dagegen ist dort — zufällig? — die-
zweite Hebung regelmäßig ein MoncsjUabon, also wenn man will Ein-
schnitt nach der dritten Silbe: vgl. unten S. 84 zu des Alkaios Neun-
silblem.
70, 4] D^E LYRISCHEN VeRSE DES HORAZ. 35
trochäisclier, auf jeden 13. jambischer Eingang; Martial hat
in seinen 2054 Hendecasyllahen den Spondeus konsequent
durchgefükrt.
Den katalektischen ionischen Tetrameter hat ein alexan-
drinischer Poet — vielleicht KaUimachos — durch die reich-
liche Verwendung von Auflösung und uvdxkaöis zum auf-
geregten Galliamhicum gemacht; aber eben dersellje hat wohl
die feste Diärese nach dem zweiten Fuß eingeführt, die die
noXv^Qvlr]Tii xaQuöeCyyiaxa des Hephaestion aufweisen (c. i 2)
und die Römer durchweg innehalten: ein gleichfalls von He-
phaestion zitierter Yers des Phrynichos ignoriert sie. Die
Vielgestaltigkeit des griechischen Verses haben dann die Rö-
mer normalisiert: statt des regellosen Wechsels von reinen
und anaklastischen Dimetern, wie wir ihn bei den Griechen
annehmen müssen, hat Catull so gut wie ausschließlich die
anaklastische Form angewendet: in seinen 93 Galliambeu sind
nur zwei, auch diese vielleicht falsch, mit reinen lonikern
überliefert (63, 54; 60); das bedeutet einen Fortschritt wohl
noch über Varro hinaus, von dessen wenigen (7) überlieferten
Galliamben zwei einen reinen lonikus in der zweiten Vershälfte
geben. Fast zum Gesetze ist auch bei Catull Auflösung der
vorletzten Hebung geworden: nur fünf Ausnahmen liegen vor.
Diese Beispiele reichen aus, um die Tendenz ins Licht
zu stellen; an die bekannten analogen Erscheinungen in der
Geschichte des Hexameters und des jambischen Trimeters
kann ich mich begnügen zu erinnern. Horaz nun hat nichts
getan, als in derselben Richtung weitergehend die äolischeu
Verse so zu normalisieren, wie sie seinem Ohre wohl klangen.
Ob freilich ein Grieche diesen Schritt getan haben würde, ist
fraglich. Denn wir dürfen nicht vergessen: die besprochenen
Verse waren nicht eigentlich Verse aus Liedstrophen, sondern
zumeist stichisch angewandte Rezitationsverse. Daß dies für
die Normalisierung vor allem der Cäsur von Bedeutung ge-
wesen ist, kann man nicht bezweifeln: die Analogie der alten
Sprechverse, des Hexameters und des jambischen Trimeters,
mußte wirken, auch abgesehen davon, ob wirklich die Rezi-
3"
36 HiciiAiu» HniNzr.: I/O, 4
tatioii rinr Si>r('rli]i!iusc nw üusclit odor nötig imichto. Uoru7,
hat (Ion ITntorschii'd des Lied- von dorn Rezitationsv(M-ac nicht
i'nipfundrn, oder sagen wir lieber seine Oden /unäcliBt als
spreclibar, nicht sangbar konzipiert: dann war der Schritt,
den er tat, vorgezeiehuet, nnd es bedurfte keiner 'Theorie',
die ihn /ur niicht machte.
Im Trin/ip ist (bimit meine Auffassung gegeben; aber
es ist zu den einzelnen Versen noch manches zu bemerken.
A US nUir IUI 2:011 zu Kapitel I.
I . Zu V arros Metrik.
Das einzige wörtliche Citat aus Varros Ausführungen über
Ableitung der Metra giebt ims Kuhn (p. 556): fd in extrcmum
smarium totidcm semipcdihus adicdis fiel comicus quadrahis
ut hie: 'hcri aliquot adidescentuU coinms in Piraeo (Ter. eun.
539)'. Dieselbe Sache berichtet Diomedes (p. 515)^) folgender-
maßen (fr. 73W): septenarimn verswn Varro fieri diät hoc
modo, cum ad iamhicum irisyllalus pes additur et fit talc 'quid
inmerentibus noees, quid invides amicis?' similis in Tcrentio
versus est 'nam si remittcnt quippiam Thihmenac dolores (Hec.
349)' et in Flauto saepiiis tales reperiuntur. In der Form weicht
hier alles von der authentisch als varronisch bezeugten ab,
die Beispiele sowohl wie die Terminologie: iamhicus statt sena-
rius, sejytenarim statt comicus qnadrafus, trisyllalvs pes statt
tres semipedcs. Sollen wir annehmen, daß Varro sich zweimal
über die Sache geäußert und dabei im Ausdruck so stark va-
riiert habe? Ich glaube nicht. Die V^endungen similis in Te-
rentio versus est und in Plauto saepius tales reperiuntur rühren
offenbar von einem Grammatiker her, der nur eine sehr un-
deutliche Vorstellung von der Rolle hatte, die der jambische
Septenar in der Komödie spielt. Das Beispiel quid inmeren-
i) Wörtlich so von Rufin sowohl aus Diomedes (555, 5) wie ans
Charisius (ebd. 16) zitiert, also, falls Jeep das Verhältnis der beiden
^richtig auffaßt, von Diomedes aus Charisius abgeschrieben; doch s.
Götz RE V 828.
yo, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 37
ihm noces, quid invides amieis mit durchweg reinen Jamben
treffen wir wieder bei Caesius Bassus 266, 10 in einem Ab-
schnitt, der aller Wahrschi'inlichkeit nach nicht aus Varro
stammt: s. darüber u. S. 44. Daß schon Van-ü, wie es Diomedes
an unserer Stelle und sonst in dem Kapitel de versuum generi-
hus regelmäßig tut, den jambischen Senar kurzweg als ianibi-
rns bezeichnet habe^), ist nicht anzunehmen. Der Ausdruck
sepfenorius, den schon Cicero kennt ^), findet sich außer bei
Diomedes {trochaicns idem sepfenarms et qtiadratus 507, 2^
ianibiciis septenarius 518. 21) meines Wissens nur noch bei Ps.-
Censorinus 613, 12; schon Caesius Bassus scheint den Namen
vermieden zu haben; Terentianus gibt beiden Septenaren über-
haupt keine Namen. Und da der Terminus auch in dem ver-
mutlich auf Varro ^) durch Theomestus zurückgehenden Ab-
schnitt über die Metra der römischen Komiker bei Aptbonius
78, 19 fg. nicht erscheint, ist es immerhin möglich, daß Varro
ihn aus irgend einem Grunde vermieden hat. Er hat den jam-
bischen Septenar coniicus quadratus genannt (liipponadeus ium-
hicus quadratus sagt Caesius Bassus 263, 17; 266, 8), also den
Terminus tsrQccfistQov in Übersetzung beibehalten, obwohl er
ja den Vers gerade nicht in vier metra zerlegte und außerdem
mit seiner Terminologie einen Unterschied des katalektischen
quadratus vom akatalektischen, dem Oktonar, gar nicht aus-
i) Bei deD griecliischen Metrikern steht la^ßiKov ybirgov für den
Trimeter soviel ich sehe auch erst in später Zeit; so in Hörschel-
manns 'Lehrbuch der Metrik', Heph. p. 280, 4fg. ; 309, 23 fg. Der gleiche
Terminus im Bericht des Diomedes 515,9 über den Octonar (fr. 75 W.):
octonarius est, ut Varro dicit, cum duo iamhi pedes iamhico metro prae-
ponuntur, et fit versus talis Spater meus dicens docendo qui docet dicit
docens'. Das sinnlose Beispiel des Senars, der hier durch pater mens
erweitert wird, wollte wohl durch den Wechsel von die- und doc- die
verschiedene Behandlung der Senkungen recht eindringlich macheu;
dann stammt es also aus einer Darstellung des griechischen Trimetera.
Ob Varro das Beispiel erfunden hat, ist (trotz 1. 1. VI C2) ganz un-
sicher.
2) Tusc. I 106.
3) Vgl. CoNSBRucH a. a. 0. in, 2.
38 Rh iiAKi) IFkinzk: (70, 4
drücken konnte.') \h-v (it^fronpatz aber zu rowicus quachaius
ist, wio Aptlionius 134, 3- tf*) lehrt, ini[/irus (iiifulrafus, d.i.
der trocliäi.sche Scptenar; und daß Varro von dießeni unmittelbar
vorher gesprochen hatte, ergibt sich, wie Wk.stimial'*) sah,
aus totidrni srmipcdihus: also etwa cum trcs snnipedrs ad smn-
rii princitiiio» udicinninr fiel tragicus qiiadrahis ul hie: conqncri
fortunam advcrsam, non Inwottari dcrct. Man sieht, daß schon
um des Parallelismus der (idirdiones willen Varro nicht statt
fress€)>ii})cdfs mit Diomedes 507, 27 l)eim trochäischen Sept. vom
amphimacrus, beim jambischen mit Apthon. 135, 16 vom anti-
bncclius sprechen konnte; aber auch trisyllnlms pes, wie das
Referat des Diomedes. hätte Varro schwerlich gesagt: die ad-
iectio isi oifeubar für ihn kein Anstücken eines beliebigen Fußes,
sondern ein Wachsen des Verses nach oben oder unten, wobei
die Füße sich nicht ändern, nur vermehren. — Das ganze
Referat des Diomedes zeigt, verglichen mit dem authentischen
Zitat, wie wenig Verlaß in terminologischen Fragen auf solche
Berichte ist: ich werde mich im folgenden dabei nicht auf-
halten, sondern nur auf die Sachen eingehen.
Korrespondierende Paare von Metren scheint Varro auch
sonst zusammengestellt zu haben. Diomedes .sagt 51,5, 14 vom
daktylischen Trimeter hoc Varro oh Ärchüocho auctum dicit
adhmctü, sylhiha et factum tale ^omnipotente parente med': be-
merkenswert ist hierbei, daß Varro das Hephthemimeres nicht
einfach durch detractio der letzten sieben Silben des Hexameters
entstehen läßt, sondern vom akatalektischen Trimeter ausgeht,
dem Archilochus eine Silbe (vielmehr wohl: einen semipes) zu-
gefügt habe; den Trimeter selbst wird er, wie Diomedes, ex
i) comieum tetrametrum cntalecticum heißt der jambische Septe-
nar (innerhalb anderer jambischen Metra, so daß das Fehlen von iam-
bicum nicht auffällt) bei Sacerdos 524, 10.
2) in comicis . . nee mutantur pedes, ut in tragico quadrato, ideo
quod non sesquipes aliquis, id est trisyllabus, antepxynitur trimetro . . ita-
que ut versus tragicus anteposito sesquipede ex trimetro fit tetranietrus,
ita comicus apposito sesquipede in ultima sede versus adaeque trimetri
reddetur tetranietrus.
3) Metr. d. Gr. P [72.
70, 4] Die lyrischen Verse des Hoiiat:. 39
saper iore i)arte hcxametri (5 1 2, 4) abgeleitet haben. Das Gegen-
stück nun zu diesem Maße folgt bei Diomedes sogleich: Ärchi-
lodiium Vcuro aliud (illud Hss.) dicit quod est tale 'ex litorihus
properantes navihus recedunt\ also 'Egaö^ovCöri Xagilut iQfiiid
TOI ysXoiov: das erste Komma hiervon ist, wie Varro gesagt
haben wird (Diomedes gibt nur das Musterbeispiel Troiae qui
primus ab oris), trimeter ex inferiore parte hexametri, cui Ärchi-
lochus unum semipedem praeposuit. Und der gleichen gegen-
sätzlichen Paarung begegnen wir sogleich beim Dimeter, so
daß wir mit ziemlicher Sicherheit auch hier Varro als Quelle
nnnehmen können: dimetrum quod est ex superiore parte hexa-
metri Ärchilochus una syllaha auxit et fecit tale 'vuU tibi Titno-
'iees' (Timocles Hss.), sodann dimetrum et illud quod est ex infe-
riore parte hexametri Ärchilochus auxit praeposita una syllaba,
immo duabus quae pro una sunt et semipedem faciunt, et est tale
*nova munera divum' : statt una syllaba wird auch hier in
beiden Fällen unus semipes das Originale sein. Man sieht also,
Varro hat den Hexameter nicht in beliebige Stücke zerreißen
lassen, sondern seiner Übersicht der Metra, ganz wie die '^alexan-
drinische' Metrik, die soz. normalen Bildungen des Dimeters,
Trimeters usw. zu Grunde gelegt; statt aber dann mit der Kata-
lexe slg öiGvXkaßov oder slg övXXaßrjV zu operieren, hat er
einesteils neben den xd^/iaTo; ccQKrixd des Hexameters die relLzd
als Metra gelten lassen — diese Termini gibt uns nur Apthon.
74, 8 ff.: sie beweisen, was kaum des Beweises bedürfte, daß
die Methode nicht von Varro erfunden ist — , andererseits mit der
Erweiterung dieser Metra nach unten oder oben durch je einen
Halbfuß operiert. Die varronische Übersicht dürfen wir uns also
ganz ähnlich augelegt denken wie die des Diomedes 506, 15 ff.:
wenn dies Kapitel beginnt versuum genera praecipua sunt quin-
que, aut enim dimetri sunt aut trimetri aut tetrametri aut penta-
metri aut hexametri, so ist das nichts anderes als die Bestim-
mung bei Apthon. 55, 12 incipit (versus) a dimetro et p^'ocedit
usque ad hexametrum, deren varronischen Ursprung ich oben
S. 1 7 fg. vertreten habe. Die Anordnung der dann bei Diomedes
folgenden jamb. und troch. Maße wird nicht auf Varro zurück-
41) IxK'iiAiU) TlinN/.K: 1 71', I
gc'lien. Dioinedes h.uulelt vom jiiniU. 'rriinctcr ((V)nicus imd
lrn()icus),S]ii\7.o\\ imd (\)l()bus, sodaiiii von den dioi entspreclieu-
deu, durch Vorschub eines aiH2>hini(icnis entstandenen trochä-
iscben Maßen Septenar, Ska/on und Cob)bu8. Bei Varro war,
wie wir sahen, mit dem tioeb. der jainb. Septi'uar verbunden,
und so vermutlieh als korresj)oudierendes Paar Trimeter xo/lo-
fiög und a/Jcpakoi: Dioniedes' Fassung 511, 12 Archüoclms iia
nirfra co)isrcuif ut et \i)riniani sullabamy^) iamhico dcfrah^ret
mag auf diesen ursprünglichen Zusammenhang noeh hindeuten.
Von kleineren jambischen Gliedern hat Varro den akatal.
Dimeter, ohne ihn zu benennen, uuter den clausuhie") aufgeführt
(Kufin 556, 7 fr. 67 W.), ilen katal. Dimeter, nach Diomedes' Be-
richt^), aus dem Seuar hergeleitet: die Terminologie und Ausfüh-
rung dürfen wir auch hier nicht als varrouisch in Anspruch neh-
men"*), aber dem Diomedes doch soviel glauben, daß Yarro hier
1) Die beideu in den alten Hss. fehlenden Worte werden sonst
• nach detraheret eingeschoben.
2'i Varro in xepUmo: Clausula f^ quoqtie priiiium oppellatas dicvntf
quod daudcrent f^entevtiam , ut apud Aecium 'an haec iam obliti sunt
Bruges?^ nonnumquam ab his initmm fit, ut apud Caecilium 'di boni,
quid lioc?\ apud Terentium 'diserucior aitimi''.. Man sieht, Varro hat
den Terminus clausula für y.(aldQiov nicht 'eingeführt', wie Leo Syst.
291 behauptet, sondern vorgefunden; dieser würde also für die Bezie-
hungen der varrouischeu Metrik zur Rhetorik nichts beweisen, selbst
wenn sein Ursprung aus der Rhetorik feststünde. Aber es bedurfte
des Umwegs über die Rhetorik gar nicht, um für die kurzen Jtraia, die
ja wirklich z. B. bei Terenz (Baese, de canticis Terentiauis, Diss. Hai.
1903, p. 32 sqq.) eine Sinnesperiode sehr viel öfter abschließen als er-
öffnen, die Bezeichnung clausula zu erfinden.
3) 518, 14 <^exy iambico novum Carmen refert Varro (fr. 72'W.)r
hier ist novum (ganz anders 514, 6) ebenso auffällig wie Carmen für
mefruvi oder comma, wie endlich refert mit dem bloßen Nominalobjekt.
Es wird also eine schwere Verderbnis vorliegen; aber die Sache ist
durch das folgende gesichert.
4) si addas hie quae detracta sunt ex iambico, eundem iambicum
supplebis sie: vgl. aus dem Abschnitt über die Horazmetra si reddas ei
principia, supplebis iambicum sie 510, 24, si haec verba 'iam salis terris^
suppleas, facies integrum trochaicum sie 508, 25; supplebis hexametrum
sie 510, 9; zum folgenden potest tale esse quäle illud vgl. 510, 15. 20 etc.
70,4] DiK LYUISOHKN VerSE DES HORAZ. 4I
nicht, wie mau es vielleicht nach den vorliin besprochenen Proben
erwarten könnte, vom akatal. jambischen Dimeter ausgehend
diesen um eine Silbe hat verkürzen lassen, sondern den katal.
Dimeter unmittelbar als Komma des Senars bezeichnet hat.*)
Dazu würde es stimmen, daß nach Dioraedes 511,29 Arclü-
lochiis etiam de iamho coloho fecit comma tale 'huc ades Lyaee' \
auch dies wird, wie so viel Ärchilochisches bei Diomedes, auf
Varro zurückgehen, der dann also den Ithyphallicus nicht, wie
Caesius Bassus 266, 11, als einen um die Anfangssilbe ver-
kürzten katal. Dim. aufgefaßt, sondern unmittelbar ex colobi
parte inferiore abgeleitet hat: aus diesem, nicht aus dem Septe-
nar, mit guter Überlegung, da Archilochus, der Erfinder des
Ithyphallicus, den Septenar noch nicht kannte. Der Unter-
schied in der Methode der Derivation wird darauf zurückzu-
führen sein, daß die besprochenen Koka^ia an Umfang unter
einem Dimeter. dem kleinsten metnim und versus, stehen, also
auch nicht mehr als Variationen eines solchen gelten können.
Das einzige Beispiel der Entstehung eines Verses durch
concinnatio, das für Varro sicher steht, ist der oben erwähnte
archilochische Asynartet ex Jitorihus properantes fiavibns rece-
dunt: hier nahm ja auch die alexandrinische Theorie Zusammen-
setzung aus zvv-ei Kolis au, und wenn Hephaestion das erste als
anapästisches Hephthemimeres bezeichnete, Varro als dakty-
lischen Trimeter mit vorgeschobenem Halbfuß, so lief auch das
im Grunde auf eins hinaus.
Sehr fraglich dagegen ist, ob Varro die Vorzugsform des
Saturnius dahunt malum Metelli Naevio poetae als Zusammen-
setzung aus der zweiten Hälfte des jambischen Septenars und
dem Ithyphallicum erklärt hat, wie es Caesius Bassus 266
tut. Leo meint, das bewiesen zu haben (Sat. Vers 9, vgl. 2 4 2):
O Währeud z. B. Terentianus Manrus den dimetrus acephalus (troch
katal.) und den claudns i'jamb. katal.) parallelisiert 2458 fg.
2) Leo (und ihm folgend Wissowa, Geuethliacon für C. Robert [Berl.
1910] 59) sieht außerdem in Varro denjenigen Gelehrten, gegen den
Bassus im Eingang polemisiere : de saturnio versu dicendum est, quem
uostri cxistimaverunt proprium esse Italicae reyionis, sed falluntur. Dann
42 Richard Hkin/e: [70, 4
ich meiue, es läßt sich nicht oiunuil soviel beweisen, daß Varro
ül)erhaiipt eine metrische Erklärung des Saturniers gegeben
habe: wir sind über die metrische Literatur zwischen Varro
und Caesius und über Caesius' eigne Studien viel zu wenig unter-
richtet, um mit Leo schh'clitweg l)ehaupten zu können, daß
Caesius das Material von Suturniern, mit dem er operiert, nur
bei Varro gefunden haben könne; uud daß das Beispiel des
Septeuars, das Caesius anfuhrt, auch in Diomedes' Bericht über
Varros Herleitung dieses Verses auftritt, beweist nichts. Cae-
sius — oder sein Gewälirsraann — luit in seinem Handbuch
griechischer Metrik nach Vorbildern des Saturniers Umschau
gehalten und ist dabei mit gutem Blick auf die ccövvdQTijza und
7CoXv6ii}liöiti6xa^) verfallen: daß die beiden Hälften des Satur
niers den zwei Kommata eines a6x'väQtr]xov^ nicht denen etwa
eines Hexameters entsprachen, sagte ihm, wenn nicht sein Ohr,
würde man um so weniger glauben, daß derselbe Varro den alteinhei-
misch-italischen Saturnier aus griechischen Versen abgeleitet habe.
Aber jenen Eiugangssatz haben die antiken Benutzer des Caesius schon
richtiger verstanden : quem credidit vetustas tamqiKtm Italis repcrtum
Saturniuin vocandum Ter. Maur. 2500 ; cui prisca apud Latium actus
tamquam italo et indigenae saturnio sive faunio nomen dedit, sed fallun-
iur Mar. Vict. 138, 32fg. Die nostri sind nicht Gelehrte, sondern die
Alten, die den Namen Saturnius aufgebracht haben: was natürlich auch
Caesius nicht der Zeit Varros zuschrieb, f Gegen die Deutung des Na-
mens polemisiert wohl bereits latent der Gewährsmann des Diomcdes
512, 18 Saturnium in honorem dei Naerius invenit addita una sylldba
ad iambicum versuni: daß hier nicht Livius als tvQsrrjg genannt wird,
braucht nicht Ignoranz zu sein, vgl. Sueton-Hieron. z. J. 187 v. Chr.)
Varros eigne Äußerung de 1. 1. VII 36 hos (seil. Faunos) versibtis quos
vocant Saturnios in silvestrihus locis traditum est solitos fari, n quo
fando Faunos dictos, auf die sich Lko beruft, steht offensichtlich me-
trischer Theorie ganz fern: sie parajjhrasiert ja nur des Ennius Vers
versihus quos olim Fauni vatesque cancbant, von dem Varro wußte, daß
er sich gegen Naevius richtete: daher der Zusatz Satiirnios.
i) a Graecis carie et multis modis tractatus est meint doch wohl
eben dies: freilich wird der Begriff ausgedehnt, wenn Eupolideum, Archi-
locheum und Euripideum als cxriy-octa {generaj eines und desselben Verses
erscheinen; aber angesichts etwa der von Hephaestion zitierten polysche-
.matistischen Glykoneen der Korinna konnte das als zulässig erscheinen.
I
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 43
so das häufige Zusammentreffen zweier Hebungen oder zweier
Senkungen in der Versmitte. Saturnier freilich, die sich in
beiden Hälften mit den im Handbuch zitierten griechischen
Versen deckten, mag er nicht gefunden haben (wie sie sich
denn wenigstens unter den uns erhaltenen nicht finden); so mußte
er sich darauf beschränken, die griechischen Verse zu zitieren
— vielleicht ursprünglich im Original, das dann erst Caesius
durch lateinische Verse ersetzt hat^) (jedenfalls sind sie jünger
als Horaz und Vergil). Gerade diejenige Form des Saturniers
aber, die durch häufige Wiederkehr sich besonders auszeichnete,
nämlich Verbindung von jambischem und trochäischem Kolon,
ließ sich bei den Griechen nur dadurch belegen, daß man des
Archilochus 'EQaöfiovCdrj XagCXas als jambisch auffaßte (wozu
die Nebenform 'E^aöfiovCdr} Bd%-nin£ immerhin ein gewisses
Recht zu geben schien): dann konnte nicht nur duello magno
dimendo (was sich noch daktylisch messen ließ) sondern auch
fimdit fugat prosternit als identisch passieren. Dem Caesius nun
gilt diese Form schon so sehr als die eigentlich normale, daß
er nur für sie die metrische Erklärung giebt; und um diese
vorzubereiten, hält er es für nötig, als versus optimus den ganz
rein gebauten Metellervers hervorzuheben^), bei dem kein Zweifel
i) WissowAs Behauptung, daß Caesius diese lateinischen Verse
bereits vorgefunden habe, gründet sich darauf, daß er die Theorie, um
deren willen sie zitiert werden, verwerfe. Das halte ich nicht für richtig:
der in voriger Anm. zitierte Satz erkennt die Theorie ja unumwunden
an, und in der folgenden Auseinandersetzung widerspricht ihr nichts.
2) Daß aber, wie Wissowa zu beweisen sucht, Caesius diesen Vers
gelbst nebst seinem angeblichen Ursprung erfunden haben sollte, vermag
ich so wenig wie Marx (Ber. d. Sachs. Ges. d. W. 191 1, 66 fg.) zu glau-
ben. Die Gepflogenheit der Metriker, 'die besprochenen Versmaße mit
fingierten Musterbeispielen zu belegen' steht doch auf ganz anderem
Brett: diese Beispiele beanspruchen gar nicht etwas anderes zu sein
als Veranschaulichungen des Schemas; dagegen optimus est quem Me-
telli proposuerunt de Naevio aliquotiens ab eo vernu lacessiti wäre bei
WissowAs Annahme eine glatte Lüge, und ich sehe i.icht, was uns be-
rechtigte, dem Caesius eine solche zuzutrauen. Das Beispiel soll 'viel
zu musterhaft sein, um echt zu sein': musterhaft in Caesius' Sinne ist
nur der rein jambiach-trochäische Bau; daß er aber bei seiner Erfin-
44
HiLiiAKu Hkinze: I70, 1
über die metrische Struktur cbwaltcu kaun. Die Zuspitzung
aufjeue Normalform tritt noch deutlicher als bei Caesius bei
dem Gowährsmanu des Diomedes hervor, der (vgl. ob. S. 2 i) den
Saturnier schlankweg als Senar + eiue Silbe definiert, also sowohl
die Nebenformen wie überhaupt das Prinzip der Dikolie igno-
riert (512, 18): das ist die gleiche gro1)e Hand, die den archi-
lochischeu Asynarteteu >iolrihtr acrif^ hious usw. als Hexameter
mit eingefügter Silbe erklärte (509, 29), wogegen Caesius (s.
ob. S. 23) polemisiert. Dann ist also auch jene Vereinfachung
des Saturuierproblems älter als Caesius, und dieser ver))essert
mit Hilfe noch älterer, wenn nicht eigener Forschung seinen
Vorcräußfer, ohne sich aber ganz von dessen Tendenz freizu-
machen. Ob nun jene Forschung, der die Parallele zwischen
Saturnier und griechischen Versen, ferner die Hervorhebung
der einen jambisch-trochäischeu Form und ihre metrische Be-
stimmung zufällt, VaiTO oder einem seiner Nachfolger zuzu-
schreiben ist, wird sich niemals entscheiden lassen: gegen Varro
spricht, daß dieser sich für den daktylischen Charakter von
'EQa6noviöi] XagUat ausgesprochen hatte (s. ob. S. 39), und
also wenigstens in ein und derselben Schrift schwerlicl] eine
andere Auffassung vertreten hat. Weniger Gewicht lege ich
darauf, daß Caesius' Definitionen des katalekt. jambischen
Dimeters und des Ithyphallicus, wie es scheint, nicht die
varronischen sind (s. ob. S. 41): das berührt den Kern der
Sache nicht.
Daß Varros Metrik in erheblich größerem Umfange, als
wir es nachweisen können, von der concinnatio Gebrauch ge-
macht habe, wäre sicher, wenn er es war, der die vier Prinzi-
pien der Derivation, adiectio, detractio, concinnatio, permutatio,
festlegte. Der varronische Ursprung dieser Tetras gilt als
düng zufällig auch die Diäresen nach der zweiten Hebung beider Kola,
die in den früher gegebenen lateinischen Übersetzungen ganz vernach-
läsdgt sind, eingeführt haben sollte, wäre ein merkwürdiger Zufall.
Der Zusatz über die Herkunft soll den Verdacht verstärken: aber er
ersetzt doch lediglich das Zitat ex BegilH tabula oder apad Naevium
poetam.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. ' 45
Axiom ^), seitdem Kiessling kurz gesagt hat 'wer Varros Vor-
liebe für viergiiedrige Dispositionen und Schematisieruugeii
kennt, wird hierin unschwer seine Hand spüren (Horaz P S. 3)'.
Der Beweis scheint mir nicht zwingend, die Annahme selbst
nicht ohne Bedenken. Unser cältester Gewährsmann für die
Lehre ist Caesius Bassus, der 271,5 sagt, alle etwa neu er-
fundene Metra würde man auf die von ihm aufgezählten zurück-
führen können, cum omnia metra varieatiir aut adiectione aut
detractione aut concinnatione aut permutatione ; esse et alias spe-
cies non vjnoro, sed hae sunt praestantissimae. Es folgen Bei-
spiele horazischer Metra, eines für jede Kategorie. Man sieht,
Caesius übernimmt die Verantwortung für die Auswahl der
vier aus einer größeren Zahl; ich würde daraus allein noch
nicht folgern, daß er selbst diese Auswahl getroffen hat: aber
es ist doch bemerkenswert, daß, wo immer uns bei späteren
Metrikern die Tetras begegnet, unsere Caesiusstelle die Quelle
ist.^) Und dafür, daß sie Quelle im strengen Sinne ist, läßt
sich einiges anführen. Prüft man die Tetras selbst, so leuchtet
«in, daß gerade durch die conciunatio eine vorher bestehende
Trias erweitert worden ist: das hat Leo richtig gesagt, nur
hätte er diese Trias nicht aus der Rhetorik herleiten dürfen.')
i) Mindestens in dem Sinne, daß Varro sie in Rom eingeführt
habe; Usener, Ein altes Lehrgebilude der Philologie (Münch. Sitzungsber.
1892) S. 61 2 fg. schreibt die Erfindung dem Tyrannion zu, auf den er
die varronischen Tetraden zumeist zurückführt.
2) Atil. Fort. 294, 10; Apth. 52, 19; 100, 8.
3) Leo scheint davon selbst abgekommen zu sein: Ox. 496 fg.
sieht er einen Unterschied der griechi.schen Form der Theorie von der
varronischen darin, daß jene nur mit zwei Kategorien der Versbildung,
srgog'O'jfMT] und acpaiQsaig operiere. Aber der Anfang von col. III, aus
dem er dies schließt ( — TtacpvMtav yslvead'ai xcctä TtQos&T]xrtV kccI hutcc
ucpaLQSßiv ovvco Sr]lov6Tt. yal Ttoai xat 6j^ijiic^.6i rotg avrotg aa(p6v£QU
XQfjtui) bezieht sich doch offenbar nur auf die zwei bestimmten Verse,
die ün' aXXijXcov, meine. ich, entstehen, wenn mau dem einen etwas
wegnimmt, dem andern etwas zufügt (vgl. z, B. Apthonius vom Hexa-
meter und Archebuleus ex se per adiectionem detractionemque parantur
126, 4; eviißuivBi ovv Kccrä rag JtQoaO'Eßiig ^ äcpaiQ^CEig rdSs — näm-
lich Jamben und Trochäen — aUi]Xoig inntXiv.B6%-(xt, schol. Heph. 258 C):
46 Richard Heinzk: [7^^, 4
Vielmehr findet sie sich bereits, worauf CoNSHiacii hingewiesen
hat'), iu der alexandriiiischen Metrik: Hephaestion (p. 77 C.)
läßt die Ovyyh'eiu eines Metrums mit einem anderen entstehen
XÄtd a(fc(i'Qe6n>^ xatä nQÖöi^soiv, y.axä [.isTad^eöiv, •/.. B. durch
Wegnahme der ersten iSilbe entsteht aus dem daxToAtxdv das
ava':iai6xiv.6v^ durch Umstellen aus dem x^oyaXy.6v das loiVLxbväjtb
pf/^ofoj. Den Übergang dieser Lehre zur Derivationstheorie zeigt
iiufs sehöustf Apthonius (d. i. nach Schultz Diss. S. 16 Theo-
Miet^tus) in der über Archilochos handelnden Einleitung zum
IV. Buch: Archilochos hat zunächst aus dem dactylicum durch
adiectioncs, detractümes und iranslationes die übrigen Rhythmen,
<ien jambischen, trochäischeu, anapästischeu gebildet; dann erst
aus den Versen per incisionem singulorum atquc coniunctioneni
pleraque ntetrorum genera commentus est (141, 12 fg.). Die
alexaudrinisehe Metrik ihrerseits hat sich aber natürlich mit
ihren Kategorien an die Grammatik angelehnt: Aristophanes
und Apollodor, sagt Varro de 1. 1. VI 2, verba ex verhis ita
declinari scribunt, ut verha litteras alia assumant, alia mutant,
alia commident: da steht also nur an Stelle der fiEtu&söis die
tiXXolaöLg. Und wenn Varro die metrische Trias durch eine
Tetras ersetzt hat, so würde man erwarten, daß es adiectio, de-
tractio, permutatio, und commuUdio gewesen sei, entsprechend
seiner Vierzahl der Ursachen der Etymologie de 1. 1. V 6: wäre
doch eine der ältesten lariaiiones, die Erfindung des Skazon^
ein treffliches Beispiel für coinmutatio. Mau sieht, die concimia-
tio ist in diesem Kreise ein Fremdling oder Spätling; und in
der Tat kann von variari eines Metrums nur mit sehr zweifel-
haftem Recht gesprochen werden, wenn die abgeschnittenen
Stücke zweier Metra zu einem neuen dritten vereinigt werden.
Auf der verhältnismäßig primitiven Stufe der Variation stheorie^
die ich Varro zuschreibe, ist mir die Gleichsetzung dieser vier-
ten Kategorie mit den drei ersten nicht wahrscheinlich; sehr
Ton einer Beschränkung auf diese beiden Kategorien ist nicht die Rede^
and wenn im folgenden keine asräQ^saig vorkommt, eo besagt das bei
dem fragmentarischen Zustande de& Buchs nichts.
1] a. a. 0. (ob. S. 3, 3) 92.
70, 4] Die lyrischek Verse des Horaz, 47
viel wahrscheinlicher für Caesius, der so viel wir sehen al&
erster von der concinnafio einen sehr weitgehenden Gebrauch
auch für solche Metra gemacht hat, die bis dahin als einheit-
liche gegolten hatten. Aber ich räume gern ein, daß er die
Vierzahl bei dem Vorgänger gefunden haben kann, gegen den.
er sonst gelegentlich polemisiert.^)
2. Zur Analyse des Caesius Bassus.
Oaesius Bassus erklärt, das Buch de metris, dessen letzten
Teil wir besitzen, et paucis diehus et memoria tanfum modo
adiuvante geschrieben zu haben, also, wie er vermutlich im
Prooemium gesagt hat, fern von seinen Büchern, nicht in der
Situation, in der ihn sich Persius denkt: admovit iam hrmna
foco te Basse Sahino? (6, 7), sondern etwa irgendwo auf Reisen,
vielleicht auf Wunsch Neros, dem das Buch gewidmet war. In
i) Auffallend ist ja, daß er als Beispiel für die adiectio den Vers
solvitur acris Meni)^ usw. bringt, dessen Auffassung als Hexameter -f einer
Silbe er kurz vorher (268, 27) abgelehnt hatte. Spiko und Schultz
(Diss. p. 6, I ; zustimmend Keil in der Sonderausgabe des Caes. und
Atil. Fort., Hallenser Progr. 1885 S. VI) hatten daraus geschlossen, daß
der ganze Passus, der die Beispiele enthält (271, 7 — 22) aus Atilius
Fortunatianus interpoliert sei, wo er (294, 11) fast wörtlich wiederkehrt;
aber es ist an sich unwahrscheinlich, daß Caesius keine Beispiele ge-
geben habe, und die geringfügigen Abweichungen selbst — z. B. daß cae-
sura (^Atil. = --töfifio:) bei Caesius, der den Terminus auch sonst nicht
kennt, vermieden ist: daß bei Caesius Z. 22 auf 263, 4 verwiesen wird
— sprechen gegen die Vermutung. Leo nahm an (Syst. 281, 2), Cae-
sius habe den gangen Passus aus seinem Vorgänger abgeschrieben:
aber gerade wenn er, wie Leo annimmt, bei den Worten memoria tan-
tum modo adiuvante composui ein schlechtes Gewissen hatte, wird er
sich gehütet haben, den Abschnitt mit samt den Beispielen aus einem
Buche, das er in aller Hände wußte, abzuschreiben. Auch ist es mir
nicht wahrscheinlich, daß Caesius das, was er vorher zweimal (vgL
268, 29) auseinandergesetzt hatte, hier ganz vergessen haben sollte. Ich
claube vielmehr, er hat, in dem Wunsch horazische und möglichst ein-
fache Beispiele zu wählen, für die adiectio, die er sonst nur durch den
komplizierten Fall des Asklepiadeus hätte belegen können, das Bei
spiel herangezogen, das er ja prinzipiell für zutreiFend hielt, unbe-
kümmert darum, daß er selbst hier eine andere Erkliirung vorzog.
4S KuiivKD Hein/k: 17*^.4
der Tut kömiti' j»^der lu'uti^e Metrikor einen entsprechenden
Abriß mrmorid fanfum modo mUuvaute in weni<^en Ta<;en niedor-
schreihen; t'roilicli unter der Vorausst'tzu?!^, dali ersieh vorher
{gründlich mit d»Mii (lej^enstand l)eschilt'(igt, darül)or niclit nur
gelesen sondern auch nachgedacht hat. Und das Huch des
Hassus ist auch wirklidi für Uoui nicht ein beliebiges unter
'unzähligen anderen f.To/U'rJ/iaT«'') gewesen, in denen jjoesie-
bcllissene Dilettanten das was sie selbst gestern gelernt hatten
schlecht und recht wiederholten; die maßgebende Stellung, die
es Jahrhunderte lang besessen hat, spricht dafür, daß es nicht
eben viele seines Gleichen gehabt hat. Es sind auch nicht ganz
wenige Fälle, in denen wir trotz unserer jämmerlich dürftigen
Überlieferung annehmen dürfen, daß Caesius eigene Wege ge-
gangen i>t, auf denen ihm die Späteren gefolgt sind. Freilich
ein gelehrtes Handbuch zu schreiben ist ihm, wie schon jene
eingangs zitierte Äußerung lehrt, nicht beigekommen — nennt
er doch auch seine Vorgänger weder wo er ihnen zustimmt
noch wo er gegen sie polemisiert") — ; er hat, natürlich auf
Grund der vorhandenen metrischen Arbeiten, aber auf eigenes
Urteil nicht verzichtend, einen, soweit wir nach dem Vorhan-
denen urteilen können, alles für römische Leser Wesentliche
umfassenden, zw^ar eilfertig und flüchtig aber klar geschriebeneu
Abriß zu praktischem Gehrauch gegeben, in erster Linie für die
große Zahl derer, denen nur daran lag, sich in der verwirrenden
Mannigfaltigkeit der vorhandenen Metra zurecht zu finden, da-
neben auch für die wenigen, deren Ehrgeiz sich auf Erfindung
neuer Formen richtete. Er hat sich dabei, von den horaziani-
schen Metra abgesehen, auf die stichisch verwendeten Metra
beschränkt: ob er dazu gelangt ist, seinen Vorsatz einer Behand-
i) Leo üx. 506.
2) Mit Unrecht schließt" Leo Syst. 293, 1 aus 'Victorinus', daß
Caesius gegen Cornelius Epicadus polemisiert habe; der Verfasser
stellt einfach den Gebrauch der Form trimetrus bei Caesius dem hexo-
meter des Epicadus gegenüber. Beiläufig bemerkt, Henses Vermutung
(de Juba artigr. 139), daß Lactanz die Quelle des 'Victorinus' sei, schwebt
ganz in der Luft, und ebenso demnach das, was Leo a. a. 0. daran
knüpft.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 4g
lung auch der Metra melischer Poesie und tragischer Chöre
auszuführen, wissen wir nicht: er bereitet darauf vor, daß er
in diesem künftigen Werke auch griechische Beispiele werde
anführen müssen (272, 7) — während er in dem vorliegenden
Buch die griechischen Verse durch eigne lateinische Nachdich-
tungen ersetzt hat — ; gewiß wäre er hier nicht nur in den
Beispielen, sondern auch in der Theorie sehr viel abhängiger
von seinen Vorgängern gewesen, denn wenn ihm schon in dera
vorliegenden Buche de metris die Zurückführuug aller Maße
auf Seuar und Hexameter nicht leicht fällt, so hätten sich dort
die Schwierigkeiten verdoppelt. Leo hat 'einzelne Spuren der
alexandrinischen Theorie' bei Caesius nachgewiesen (Syst.
297 fg.) und stellt sich vor, dieser sei einem etwa gleichzeitigen
griechischen Metriker gefolgt, der die reine Derivationslehre durch
Anleihen bei dem alexandrinischen System verfälscht habe. Ich
glaube, das Verhältnis ist eher dasumgekehrte: auf weite Strecken
liegt bei Caesius eine Derivatioa sichre zu Grunde, die der reinen
alexandrinischen noch recht nahe stand; und die neuen Ein-
sichten sind dem so gut es ging einverleibt.
Caesius hat zu Beginn seines Buchs eine pedum demon-
stratio gegeben (264, 28) und dabei nicht nur die zwei- und
dreisilbigen, sondern auch die viersilbigen Füße vorgeführt, für
den Proceleumaticus auch, wie vielleicht vorher für den Mo-
lossus (Diomedes 513, 15), ein Versbeispiel gebildet.^) Diese
viersilbigen Füße kennt und verwendet er denn auch in seinem
Buch; daß sie ihm als pedes duplices gelten, im Gegensatz zu
den zwei- und dreisilbigen simplices, macht für seine Praxis der
Versanalyse keinen erheblichen Unterschied. Auch für Cae-
sius ist, wie für Varro, der Septenar ein iamhicus quadratus
(263, 17; 266, 8) = TSTQccnstQov. Er hat einen Abschnitt über
den proceleumatischen Vers, den er also vom pariambischen
unterscheidet; er kennt nicht nur das meirmn hacchicon oder
chorianibicum, sondern verwendet auch den Choriambus als Fuß,
i) Auch Terentianus gibt in seiner pedum demonstratio 1464 ganz
ausnahmsweise einen proceleumatischen Vers. Natürlich fehlt bei ihm
auch der Antispast so wenig wie er bei Caesius gefehlt haben wird.
PhiL-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 4. 4
50 Hi(H\Ki> Hkin/k: 17*^^.4
iiulem er /. H. tlas Koiiinia Li/dia die pn' onmcs aus Choriani-
l»us uu»l Aiitilmochius, (Ihn li'm«<tMt' ir tieos oro usw. ati«
tlrei (Jboriumben und Aiitil>acchius besteluMi IsiBt (270, lol'g.;
TK-1. 268, jot und den IMiilicius als hexumcirmn ex nmuero Imc-
chU'o contpi>sifi(ni mißt 1-04, 2); er zitiert Varros TeiniinuK loti/-
ru)n irinKfnnn für den IMialaeceus (-'öi, ki); <'1' kennt und ver-
wendet die vcrschiedontn Formen des Paeon und mißt nach ihm
den päonischen Tetraineter, der contposihts est ex co pacortc, qiit
(■(»istdt longa siflhtha et trihus hrccihus (264, 18): jranz begreif-
lich, daß er bier nicht 8a<>t (ousiat ex chorco et parinmho, denn er
wird in der (Hjersicbt die vier Päoue nach der Stellung der
laufen Silbe gescbieden hal)en, wie es Terentiauus tut: is pri-
mus rsf, longa cui locata printa est, qua»! rontimw tres aliae hre-
ves secuntur 1534. Es ist also nicht berecbtigt, wenn Leo nur
den Paeon als wirklichen viersilbigen Fuß lierausbebt und
scbließt, gerade dieser Paragraph sei aus einem Lehrbuch alexan-
driniscber Herkunft ül)eruommen (298). Wir werden vielmehr
sagen müssen, daß Caesius in der Lehre von den pe^^es- (abgesehen
freilieh von den Unterschieden, die sich aus dem Verzicht auf
das Prinzip der Katalexis ergaben) ganz auf dem Boden der
alexaudrinischen Lehre steht, mit der einzigen Abweichung,
daß er die viersilbigen Füße als duplaea nicht nur bezeichnet,
sondern auch beschreibt (z. B. profelenmaticns ronsfat ex dtiohus
pariamhis id est quaifuor hrevihus syllah^s). Aber auch Hephae-
stion denkt ja die viersilbigen Füße nicht eigentlich als Ein-
heiten, sondern als Paare; er spricht nicht von avti0:ia6tog oder
hoviy.ös, sondern von avri6ncc6Tiy.il und lavLxi] öt'^vyCa^), und
läßt beim Skazou nicht den letzten Fuß einen Antispast, son-
dern den letzten Jambus einen Trochäus sein (p. 17, 4 C).
i) Und so der Metriker vun Oxyrbynchos von einer jrp&jrTj xwqcc
oder SfJtoSiu statt von einem iv}Viv.6g oder uvtianuarog, was Leo Ox.
503 also nicht als Kennzeichen des 'varroniscben'' Systems auffassea
durfte. Ein mit einem uepos röiv icovr/.wv identisches Anacreonteum
hat Tov &vüjiaiarov ntJÜTov y.al xltv xqoxclIov t^fjg: vgl. Hephaestion vom
Sotadeus -/.utu rag rgsig ;^w()as dixitui ioirtxi,v 6v^vyi(cv . . ')] Ti]v ^| iiva-
Ttuierov x«! nvootyiov p. 36, 8 C.
70,4] Die lyrischen Vekse des Horaz. 51
Daß null die Derivatiouslehie, die ( 'aesius Bassus vorfand,
noch keineswegs auf das Gesamtgebiet der Metra systematisch
übertragen war, zeigen zunächst die Abschnitte über das päoni-
sche und proceleumatische Metrum: hier ist auf den Versuch der
Derivation ganz verzichtet und es bleibt einfach bei den vier-
silbigen Füßen. Die anapästischeii Metra hat Caesius nicht im
Zusammenhange behandelt^); er greift das Archebuleum (25Ö,
8) heraus, weil sich dies am leichtesten, durch detractio von
nur zwei Silben, aus dem Hexameter ableiten ließ, und fügt
die generelle Ableitung des avc::tca6tiy.6v aus dem öaxrvß.ixöv
hinzu, mit der hephästionischen S7Ti3i?.oy.)j-): das zeigt, daß er
früher nicht von anapästischeii Versen gesprochen hat. He-
phaestion erklärt das Archebuleum als i:vu%ai6Tiy,ov loyaoiäi-
xöv, rö (letci räöfJccgag :rödag ccvrbv sxov xhv ßay.yeiov: Caesius
modifiziert das, um Verwandtschaft mit dem Senar herauszu-
bringen: post fres anapaestos accedit ad iriinetrum. Er spricht
hier nicht von Entstehung aus dem Trimcter, denn die Deri-
vation geht ja, bei Anerkennung der drei Anfangsanapästen,
nicht rein auf: Terentianus hat denn auch, als konsequenter
Derivant der er ist, auf diese Ausführung verzichtet (1908 fg.).
Ich sehe nicht, was Leos Annahme empfehlen könnte (Syst.
299), daß uns in diesem Abschnitt des Caesius eine durch
alexandrinische Anleihen verfälschte Umgestaltung einer ur-
sprünglich reineren Derivationslehre vorliege.
i) Der anapästische Dimeter wird später gelegeutlich behandelt
(267, 18) als identisch mit dem Adonius. Das hat, soviel ich sehe, bei
den Späteren keinen Anklang gefunden (außer bei Atilius 297, 20); es
Aviderspricht auch der Derivation strenger Observanz, daß die Hebung
des Daktylus hierliei aufgelöst wird.
2) est antem hie versus anapaesticiis, iniia, aim piimus li^roi liexa-
metri dactyliis syllfibam amittit, rdiqiiae diiae breves /.unffiint se lonyae
inseqtienti et deinceps ceterae in eandem farmulain voiiunt: i'cTco arlxog
uXos öaxtvhnos . . tovrov tolvi^v TComtriv cifpaigw avX?.aßi]v Kul ro Xst-
^öfisi'ov yiitTcci iiva'nuiaxLv.öv schol. Heph. 259,7 C. — So ist auch beim
Philicius, der als einziger Vertreter der choriambischen Metra behan-
delt wird, vor der Ableitung des reinen choriamb. Tetrameters ans dem
daktyl. Pentameter die generelle Ableitung des Choriambus von dem
daktylischen Maß gegeben, 264, 5..
4*
52 RirnAKP Hf.inzk: ["o, 4.
Ganz besonder« lehrreich ist Cuesiu.s' großes Kapitel über
den Phalaeceus. Er zählt du sieben divisiones dieses Verses
auf (258 fl'.), deren Zusam!nenstellun«r otten]):ir von ihm selbst
herrührt'); sie finden sieh wieder nur bei den von ihm abhän-
gigen Meirikern Terentiunus und Apihonius, und zwar überall
in der gleichen Reihenfolge, die sich nicht von selbst ergeben
konnte. An der Spitze stehen zwei divisiones, durch die der
Vers in zwei Kommata zerfällt, die erste daktylisch jambisch
( kj u _ I u _ w _ ^), als vulgaris illa divisio bezeichnet, also
von Caesins' Vorgängern, vielleicht als einzige^), gelehrt; die
zweite daktylisch-trochäiseh ( v^ w _ ^ ] _ ^' _ w); sie repräsen-
tieren die beiden Formen des Phalaeceus, die Catull so gut wie
ausschließlich anwendet, mit Cäsur nach der fünften und der
sechsten Silbe; und die erstere überwiegt bei ihm und so viel
wir urteilen können auch bei seinen Zeitgenossen so stark,
daß es begreiflich ist, wenn eine auf Vereinfachung bedachte
Metrik sie als Normalform heraushob; auch daß der spondeische
Eingang hiernach als der normale erscheint, ist aus Catulls
Praxis erklärlich.') Es folgen bei Caesius vier divisiones, bei
denen kürzere selbständig auftretende Kola aus dem Phalaeceus
abgesondert werden, zwei vom Anfang — Glykoneus ( ^ -j
_w_|u__), hier als anacreonteum choriamhicum bezeichnet,
und Pherekrateus ( ^.y ^ _ kj | _ u_ _), unbenannt, aber mit Hin-
weis auf seinen Gebrauch bei Kalliraachos und Bakchylides —
und zwei vom Schluß, achtsilbiges Anacreonteum ianibicuni
( |uu_u_u__) und siebensilbiges, identisch mit dem Schluß-
glied des hipponadcus quadratus: w]w_w_v — Zwischen
die beiden Paare schiebt sich, als Nummer 5 der Reihe, die
Ableitung durch detractio dreier Silben aus dem Sotadeus*):
1) Bemerkt von Schultz Hermes 22 (1887) 271.
2) Als einzige erscheint sie bei Diomedes 509, 14.
3) s. ob. S. 34.
4) Quintilian bat nicht diese divit-io im Auge, wenn er I 8, 6 die
Phalaeceen als commata sotadeorum bezeichnet (denn durch Herausneh-
men dreier Silben entsteht kein Komma), sondern entweder — o» ] ^
_ -ui-z-u — u oder cäj uu_u_ ^ .
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 53
__[uw_]_uu_u_u Es scheint, daß Caesius selbst durch
Einschiib dieser divisio den Zusammenhang der ihm über-
lieferten beiden Paare zerrissen hat.
Die Nebeneinanderstellung der sieben divisiones erweckt
— wohl absichtlich — den Eindruck, daß hier sieben Ver-
suche aufgeführt werden, die Entstehung des Phalaeceus zu
erklären, durch concinnatio, defr actio und adiectio ;bo ist es denn
auch von Neueren verstanden worden.^") Sieht man näher zu,
so sagt Caesius dies ausdrücklich nur bei der ersten divisio:
docet cum partem hadere ex lieroo, pariem ex iamho; dagegen
sagt er im Eingang, jede divisio sei ex se efficiens aut ad ali-
quod pertinens metnim, und am Schluß, er habe durch sorg-
fältigen Nachweis der articidi (= Kommata) des Hendeca-
syllabus gezeigt, cum qiiof metris ei quaedam necessitudo con-
tingeret. Und zweifellos sind jene beiden Paare von divisiones
ursprünglich nicht als Herleitungen des Phalaeceus gedacht
gewesen, sondern haben umgekehrt die Entstehung von vier
Metra aus dem Phalaeceus, oder richtiger, die Möglichkeit, diese
Metra aus dem Phalaeceus herauszulösen, vorgeführt. Das ist
besonders deutlich bei der dritten divisio. Hier entsteht durch
Wegnahme der drei letzten Silben ein choriambisches Metrum,
d. i. der Glykoneus, über das wohl nichts weiter gesagt war
— die Stelle ist leider lückenhaft überliefert — als daß es
in der Mitte einen Choriamben hat^): also analysiert als __j
_uw_[o_; über die einrahmenden Silben paare scheint sich
i) Z. B. KiEssLiNG Philo!. Unters. IJ 67 und in der Einl. der
Ausgabe.
2) fit anacreonteon metnini syllabariim octo, qxiod musici bacchicon
i^ocant. grammatici choriambicon, <^quia medium habet choriambum,y
qui duplex constat ex longa et duabus brevibus et longa, id est ex clioreo
et iambg. So ist -wohl zu ergänzen, nicht mit Leo Syst. 297, 3 quod
^medium habet pedem quemy musici etc., denn das Metrum, auch der
Asklepiadeus (268, 21) heißt bei Caesius cJioriambicnm , der Fuß Chori-
ambus, wie gleich 259, 10 usf. Die Eingangsworte des Kapitels vom
Philicius (263, 23 fg.) scheinen, wie Lko selbst gesehen hat, inter-
poliert; dann hat dem Interpolator bereits unser lückenhafter Text
vorgelegen.
54 Hl« iiAKi' Hi;in/k: [7'">, 4
CaosiuK iiirlit f^eäuBt^t zu hiihen.M Die Dorivatiou des Koniina,
flio wir hier vormissen, wird allerdinijs später, nachdem ans
ihm «Irr kloinorr und <rröß(TO Asclcpiadeiis (beide also gh'ich-
falls chctriamhisehe Metra) entwickelt sind, nachgeholt: al)«M-
in sehr einfentfinilieher Weise. Znnäehst heißt «is 260, i 2 rx
hnc divisionr rt pria/H'Ks miscifur vcrsiis: die beiden Kommata
des Ver.ses hiinc litaim tibi drdiro conseeroquc Priapfi sind näni
lieh eben jenes Aiiaereontenm und seine nni t-ine SilVje ver-
kürzte Form (Pherekrateus). Der ganze l^riapens aber e.r
heroo venit hcranietro. nämlich ans Versen wie cui mm dictiis
Hylas pacr et Latonia Drh>s. Da hätten wir denn also die
vermißte Derivation des Anacreonlenm. das nun freilich plötz-
lich nicht als choriambisches, sondern als daktylisches Me-
trnm erseheint. Es ist meine ich klar, daß Caesius diese
Derivation von sich ans oder einem anderen Gewährsmann
folgend eingefügt hat: er hebt sie nämlich im Grunde
selbst wieder auf, indem er 260, 32 zugibt, daß der Pria-
peus zn Beginn statt des Spondeus auch den Jambus oder
Trochäus zulasse, was auch vom Pbalaeceum gelte; CatuU hat
diese Freiheit, Sappho und Anakreon und anderen folgend,
nicht als Verstoß geuen die Regel, sondern als legitim be-
trachtet: so muß denn der Priapeus, da er aus dem Phalaeceus
entsteht, die gleiche Freiheit haben. 'j Also die Herleituug
i) Terentianus sagt 26 11 fg. vou diesen Paaren evcremenia marjis
jiutant iiec dncuut numero j>eduiii , und enteprecheud Aptbonius 149
tarn primae quam ulfimac dnae syllahae incroiHntd mayis quam fe.rfni.
jicdum nrcc-sariac: das beruht wohl nur auf Mißverständnis von Cae-
siu?' Worten hoc jnetrum (seil, der Glykoneu.s increinentum accipit, die
sich auf das folgende, die Entstehung des Asclepiadeus durch den Zu-
wachs eines weiteren Choriamben beziehen: demns Uli incrcmentum , id
est pro UHO dxos dioriambos 259, 10, uud weiter demus cfiam iiunc
ilti untut< dioriatnbi iitcrementum 28. Augustinus analysievt de mus.
V 12 den Asklepiadens wie Caesius ^_ _ uv^ ^ ]' _ 1-1 ^ ^ u^ und läßt
die beiden äuUeren Siliteupaare sich zu einem dritten sechszeitigen
Fuße ergänzen. Alter und Herkunft der Lehre von der Taktgleichheit,
die hier zu Grunde liegt, bleibt zu untersuchen.
2) ex quibus sc. hendecasyltabis) quoniam priapeus nascttur; ne-
cesse est e<zsdcm habeat l>ber(ntes.
70. 4l DiK LYRISCHEN VeRSE DB.S HuRAZ. 55
aus dem Hexameter, der spondeischen Eingang fordert, ist
aufgegeben.
Ist demnach die Derivation des Priapeus, also auch des
Olykoneus und Pherekrateus, aus dem Hexameter ein unorga-
nisches Einschiebsel, so bleibt nur übrig, daß der Gewährs-
mann des Caesius ausging vom Phalaeceus und zeigte, wie man
von diesem zum Glykoneus gelangt. Das bestätigt sich aus
anderen Quellen. Diomedes trägt die gleiche Lehre vor: prae-
cistis hie (Anacreonteus) est de . . hem/ecasyllaho 509, 21, im
Widerspruch zu seiner Erklärung desselben Komma als ex
superiore parte hcxamdri 512,4 (die Identifizierung mit dem
ersten Komma des Priapeus kennt er nicht, er mißt dies viel-
mehr _ v.y _ w V _ u - 512, 28). Vor allem aber faßt der Me-
triker von Oxjrhvnchüs (col. VIII p. 405C.1, der sechsten
divisio des Caesius entsprechend, das achtsilbige Auacreonteum
u - _ V _ w _ _ nicht als Yorstnfe des Phalaeceus, sondern zeigt,
wie man es durch Abzug dreier Silben aus ihm entstehen
lassen kann. Ich sage absichtlich nicht 'wie es entstanden
ist'. Denn dieser Metriker wiU ja offenbar überhaupt keinen
Aufschluß darüber geben, wie die Metra entstanden sind: ja
man muß weitergehen: er will mit seinen Ableitungen gar
nichts über die Natur der einzelnen Metra lehren. Die me-
tritBche Natur z.B. das Phalaeceum und Asklepiadeum bestimmt
er kurz durch Hinschreiben des y.avcöv, der mit seinen vier-
silbigen Füßen ganz dem hephaestionischen Gebrauch ent-
spricht: das Anakreonteum bezeichnet er als di^iergov (col.
Vlll): für diese Dinge setzte er offenbar Kenntnis der vul-
gären alexandrischen Metrik voraus.^) Aber dann geht er
i) Es ist mir daher auch zweifelhaft, ob es bei den Griechen
derivierende Abrisse der Metrik gegeben hat, die es an Vollständigkeit
und Geschlossenheit dem des Hephaestion gleichtaten. Der Oxyrhyn-
ohit hat ja offenbar nichts weniger als systematisch disponiert, und so
ist denn auch Caesius keineswegs darauf bedacht, auch nur die häu-
tigen Yersformen vollständig und in gehöriger Folge aufzuführen, wie
es der Autor des Diomedes getan hat. — Leider ist die Aufgabe noch
nicht gelöst, die verlorenen Partien des Caesius aus Terentian und
Aphthoniiis zu rekonstnüercn ; wie denn überhaupt die Analyse und
5^ RiCH \ui> Hkinzk: [70,4
weiter: er labt (s. ob. S. 45, 3) das Pluilaikeion und das Nikar-
cheion aus oinander oiitstelieii: niiui } raucht mir eine Silbe
hiu/.u oder weij;/.utun. Er sagt von jenem Anakreouteuni, es
berülire' sicli mit den Jcniikern, wenn es eine bestimmte
Form babo; cfs entstehe aus dem l'hulaikeion, ebenso auch
aus dem i^raxilleion-, aucli vom jaml)isclieu Dimeter könne
nnm es ableiten^), der mit ihm zusammenfalle, wenn der erste
Fuß anapästiseh sei. ich meine, es ist klar, daß mit dem allen
nieht gemeint ist 'so oder so ist das Metrum entstanden',
sondern nur 'so oder so kann man sich die Gestaltung des
Kolon klarmachen': ei ^hv. w q)ClraTi. 6ccq:fg Goi tööe tö
xö^oi', y,((Tcc?.ei7Te xal fiij diu tcXslövov öxÖTtsi heißt es col. XI
p. 406 C. Und nicht anders ist es doch wohl aufzufüssen,
wenn ))ei Caesius der GaUiambus erst nascitur aus zwei ana-
kreontisehen Kommata, dann aus dem jambischen Senar durch
adieetio einer Silbe, dann erklärt wird, es bestehe auch eine
cognatio-) mit dem Sotadeus, da beide Verse durch eine mo-
dica translatio in einander übergingen (261 fg.)'): auch hier
hat sein Gewährsmann offenbar nichts über die wirkliche Ent-
stehung des GaUiambus aussagen wollen. Die Grammatiker
dagegen, gegen die er polemisiert, weil sie den Asklepiadeus
nicht als choriam])isch erkennen, sondern hoc putant metrum
de curtato pentamefro factum, oder weil sie den Vers solvikir
Rekonstruktion der lateinischen Metriker seit Schultz' vielversprechen-
den Arbeiten (1885 und 1887) kaum nennenswerte Fortschritte ge-
macht hat.
i) Nebenbei bemerkt: ist os reiner Zufall, wenn er nach Anfüh-
rung der Beispiele fitv icpaivs^' a osXccva \ oviäv rs Kai iysiav \ ccc cpvyonii
Ttuiäsg i'jßcc fortfährt övvuTai (U rig voui^Biv \ an' lafißLKwv diuhgcov |
■/.ciTuXriiiTiyi&v . . V
2) Der Terminus stammt aus der alexandrinischen Lehre von der
iTtmloy-i] : Gvyyivtia yivtrai \ibZQOV TCQog ^lirgov t(}ijws, v.axa äfpaiqsGiv,
-/.am nQÖe&bGiv. v.uzu ^Etä&tßiv Hephaestion p. 77 C.
3) Dem steht die Art sehr nahe, wie Dionys. Hai. de comp. 4
durch ^Btd&tais einzelner Worte aus Hexametern Priapeen und ionische
Tetrameter macht: auch hier keine Andeutung davon, daß diese Verse
aus dem Hexameter 'entstanden' seien.
7°^ 4j Die lyrischen Verse des Horaz. 57
acris h'iems usw. nicht ex duohus metris compositum putant, son-
dern ihn hcccametrum maiorem syllaha vocant (268, 24 fg.), die
haben wirklich gemeint, der Entstehung der Verse auf die
Spur gekommen zu sein und sie damit erklärt zu haben. Eine
solche genetische Erklärung lag nahe, wenn man, wie etwa
beim archilochischen iambus colohus oder dem hipponadens
quadratus sowohl den Erfinder kannte als auch genau wußte,
welches Material ihm für seine Neubildung vorlag. Die Über-
tragung aber solcher apodiktischer Weisheit auf die Gesamt-
heit der Metra ist meine ich erst die Tat römischer Gram-
matiker gewesen. Man sehe wie sich Diomedes ausdrückt:
von jenem archilochischen Vers: hoc ut fieret, indita est hexa-
metro syllaha ante duas uUimas, oder vom Asklepiadeus Jdc
potest, unde ortus est, ad pentam-etrum elegiaciim redigi addita
ana syllaha. usf. Erst in diesen Kreisen ist wahrscheinlich auch
die Lehre aufgekommen, daß alle Verse unmittelbar oder
doch über ganz wenige Mittelstufen aus Senar und Hexameter
entstanden seien. Diese Metriker bedurften denn auch für ihre
Zwecke keiner großen Gelehrsamkeit: wir werden uns die
Horazmetrik, auf die Diomedes zurückgeht — nennen wir sie
immerhin die des Remmius Palaemon^) — als einen knappen
dogmatisclien Abriß für Schulzwecke zu denken haben. Cae-
sius Bassus danken wir es, daß er, wenn auch im Prinzip auf
1) Auf ihn hat Kiksslikg Philol. Unters. II 65 hingewiesen und
Leo hat die Vermutung Syst. 293, i aufgenommen. Mit dem Bilde,
das wir una von Palaemons Grammatik machen, stimmt das oben über
die Metrik Gesagte gut iiberein. Daß der Gegner Varros das varro-
nische System vertreten habe, erklärt sich Leo dadurch, daß es eben
das von Horaz tatsächlich befolgte gewesen sei; wir werden nunmehr
sagen, Palaemon hat zwar das varronische Prinzip akzeptiert — von
dem er ja wußte, daß nicht Varro es erfunden hatte — aber in einer
Weise ausgebaut, die weit über Varro hinausging. Vielleicht hat er
dabei sogar gelegentlich gegen Varro polemisiert: Caesius' Bemerkung
ex (juo non est mirandum quod Varro . . phalaecion metrum ionicnm
trimttrum appdlat 261, 18 sieht doch so aus, als habe ein Vorgänger
dem Varro diesen 'wunderlichen' Irrtum aufgestochen. Caesius vertei-
digt also den Varro — freilich ohne ihn ganz zu verstehen, s. ob. S. 10 fg.
5^ RionARi» Hkinzk: [70,4
dem gleichen Boden stehend \), doch sich mit dieser diirn'u
Theorie uiclit begnügte, sondfirn auf die reicheren Darstollnngcn
der (Jriechen zurückgritt-. das hat seinem Hneh den lang-
<lanernden Erfolg verschatft.
Kapitel II.
Die ('in/eliieii Verse.
1 . Asklepiadeus.
Von den 43 Asklepiadeen des Alkaios, die soweit er-
halten sind, daß sie uns ein Urteil eriauben, weist die stark
überwiegende Mehrzahl Worteinschnitt nach der sechsten oder
nach der siebenten Silbe auf; nur vier Verse weichen davon
ab. Bei Horaz ist der Einschnitt nach der sechsten Silbe Ge-
setz: ob er dies selbst sich gegeben oder vorgefunden hat,
können wir nicht sagen, da uns Asklepiadeen aus helleni-
stischer Zeit nicht überliefert sind. Und doch hat, wie der
Name des Verses lehrt. Asklepiades ihn nicht nur gelegent-
lich angewandt, und bei der einflußreichen Stellung dieses
Dichters ist anzunehmen, daß er auch in diesem Punkte Nach-
ahmung gefunden hat. Der Grand dazu, dem Vers seinen
Namen zu geben, ist nicht wie bei anderen solchen Taufen
der, daß er den Vers zuerst stichisch verwandt hat: das war
ja alte Gepflogenheit. Es ist also wahrscheinlich, daß sein
Verdienst um dem Vers ein anderes war: das kann dann nur
seine Normalisierung gewesen sein, und da, wie wir oben
sahen, wahrscheinlich schon bei Varro, und dann also auch
in der griechischen Metrik, dem Vers eine Sonderstellung gegen-
über anderen äolischen angewiesen war, ist es wohl möglich,
daß schon Asklepiades die uns erst aus Horaz bekannte Cäsur
i) Das tritt vor allem darin zu Tage, daß er bei den ilolisclieu
Versen von den Analysen nach alexandrinischem System, die wie wir
sahen der Oxyrhynchit voraussetzt, ganz absieht. Sein Gewährsmann
hat gewiß den Phalaeceus als Trimeter definiert, sei es ausdrücklich
sei es durch Hinschreiben des xavoiv. ob als ionischen oder als anti-
spastischen, können wir nicht sagen.
"0, 4] Die lyrischen Verse des Hora/. 59
eingeführt hat. Die Wahl zwischen dei* sechsten und sieben-
ten Silbe war, wenn einmal gegeben, auch entschieden: da»
Zusammentreffen der beiden Hebungen in der Mitte bedingte
nach der ersten Hälfte des Verses ohnehin bei der Rezitation
•einen gewissen Halt, ganz wie im daktylischen Pentameter.
Ebenso wird schon in hellenistische Zeit zurückgehen die
Einschränkung (nicht Beseitigung) der Freiheit der ersten
beiden Silben zu gunsten des Spondeus, wie wir es oben S. 34
beim Phalaeceus sahen; schon Alkaios hat; wie es scheint, spon-
deische 'Basis' stark bevorzugt.') Christ und Kiessling
glaubten in der Festlegung des Spondeus für den Eingang
von Asklepiadeus und Glykoneus einen Beweis dafür zu haben.
<laß Horaz diese beiden Maße aus dem daktylischen Hexa-
meter hergeleitet habe: mit Recht hat schon Maas dagegen
bemerkt, daß die Theorie für andere, offensichtlich analoge
Fälle versagt. Wenn Horaz z. B. unter seinen 3 1 7 alkäischen
Neunsilblern nur 10 mal jambischen, sonst durchweg spondei-
schen Eingang hat, wenn er im sapphischen Elfsilbler aus-
nahmslos Spondeus vor die Cäsur setzt, so hat das mit der
Derivationslehre, die in beiden Fällen jambische Kola annahm,
nichts zu tun. Es kommt aber hinzu, daß, wie oben S. 34 be-
merkt, Catull schon den größeren Asclepiadeus durchweg mit
spondeischem Eingang baut: und Catull soll ja von jener
Theorie noch unberührt sein. Daß aber Horaz nicht etwa
meinte, durch den spondeischen Eingang der ersten Hälfte des
Verses daktylischen Charakter aufzuprägen, geht aus folgen-
der Beobachtung hervor: am Eingang des Hexameters galt
bekanntlich ein spondeisches Wort für unschön und Horaz
hat sich das demgemäß in den 76 Hexametern der Epoden
nur 5 mal, in den 48 der Oden nur 4 mal erlaubt; er hat das
auch auf die anderen daktylischen Verse ausgedehnt: die 10
iikatalekt. Tetrameter (erstes Komma des Archilochius I 4)
i) Bei den neiigefundeneu Asklepiadeen des Alkaios sind die An-
fangssilben leider fast durchweg zerstört; die Zahl der von früher be-
kannten ist zu geringe um Schlüsse zu ziehen, aber in Alkaios' großen
Asklepiadeen zähle ich 17 Spondeen gegenüber 4 Trochäen.
6o IJiniAKii Hi;inzk: [7^", 4
haben i Beispiel, die 34 katnlektisoheu Tetrameter {l 7. 28)
keines.*) Im Asklopiadeus zeigt sicli vou dieser Lehre keine
Spur: unter den 36 Versen z. B. von 1 i beginnen (wenn wir
quodsi nicht mitreclinen) 9 mit sjiondeischem Wort, unter
den 20 von I 3 nicht weniger als sechs.*) Nun liat zwar
Schultz (Ilerm. 22, 2-2) geglaubt, beweisen zu können, daß
Horaz den Asklepiadeus ebenso wie es Diomedes' Quelle tat
aus dakt. Peuthoniimeres und zwei Daktylen bestehen ließ.
Denn, so schließt er, hätte Horaz den Asklepiadeus wie Cae-
siiis Bassus als einen durch einen Choriambus er%veiterten Gly-
koneus aufgefaßt, so hätte er, wie er es bei dem größeren As-
klepiadeus getan hat, auch im kleineren den eingeschobeneu
( 'horiambus durch Worttrennung abgegrenzt. Der Schluß ruht
auf den wie ich meine falschen Voraussetzungen, daß Horaz
notwendig eine jener beiden Auffassungen geteilt haben müsse,
und daß jene im größern Asklepiadeus befolgte Kegel den
Choriambus als eingeschoben kennzeichnen soll, während sie
doch, wie wir oben S. 33 sahen, nichts ist als die Erhebung
einer schon früher vorwaltenden Tendenz zum Gesetz. Es kommt
aber hinzu, daß die Derivationstheorie zwar Wortschluß überall
da voraussetzt, wo zwei Kommata aneinandergerückt sind, aber
keineswegs da, wo der Vers aus einem kürzeren durch adiedio
eines oder mehrerer Füße entstanden ist: wie denn auch der
Gewährsmann des Caesius bei seiner Ableitung des Askle- 1
piadeus aus dem Glykoneus sich durch die fehlende Woi-ttren- |
nung keineswegs hat irre machen lassen. Müßte ich mich
für eine der beiden von Diomedes (p. 518, 32; 519, i) zur
Wahl gestellten Scansiouen (___uu|_;_uw|_wu und __ _
vw_ -.ww_'wu) entscheiden, so \^ürde ich unbedenklich die
choriambische vorziehen : für die erste Vershälfte aus dem oben
i) Ep. 12 hat durchweg daktylischen Eingang. Die daktylische
Penthemimeres (ep. 11. 13. od. IV 7) ist stets rein daktylisch.
2) Unter den 405 Pentametern von Tibull Buch I findet sich spon-
deischer Eingang ja sehr viel seltener als daktylischer, epondeische-s
\Vort aber nur 7 mal, stets vor Monosyllabum oder einsilbiger Präpo-
sition (wozu auch inter zu rechnen) im Compositum.
70, 4] DiK LYRISCHEN VeRSE DES HoRAZ. 6 I
angeführten Grunde, für die zweite, weil ich akatalektischen
daktylischen Yersschluß, d. h. Versausgang auf zwei ictus-
lose Silben, Horaz nicht zutraue: er hat sich ja auch vor den
sog. akatalektischen daktylischen Versen der Lesbier gehütet,
die doch bei Alkaios und Sappho reichlich vertreten waren.
Es ist bemerkenswert, daß auch Diomedes, obwohl er die erste
der oben genannten Scansionen bevorzugt, doch, wo er die
Herleitung des Asklepiadeus aus dem elegischen Pentameter de-
monstrieren will, diesem nicht die letzte, sondern die vorletzte
oder drittletzte Silbe entziehen heißt ^) (519, 4): d. h. er hat
den Tonfall der zweiten Pentameterhälfte, nur mit Ersatz der
zweisilbigen Senkung durch einsilbige, herausgehört. Wollte
aber jemand behaupten , Horaz habe die zweite Hälfte als
Daktylus und Creticus empfunden, so wüßte ich ihn nicht zu
widerlegen; ja die feste Cäsur wenigstens würde gar nicht
dagegen sprechen, daß Horaz schon gelernt hätte, den ganzen
Vers, wie es der Metriker von Oxyrhynchos und der Gewährs-
mann des Atilius p. 296, 10 tun, als antispastischen Trimeter
aufzufassen. Ich glaube nicht, daß wir in dieser Frage je zu
einer bestimmten positiven Entscheidung gelangen können:
genug, wenn wir wissen, daß für die metrische Praxis nicht
theoretische Analyse, sondern das Vorbild Früherer und das
Ohr des Dichters maßgebend gewesen ist.
2. Glykoneus und Pherekrateus.
Der Glykoneus erscheint in reichlich y^ der horazischen
Oden (28 : 103); er spielt also da eine erheblich größere Rolle,
als wir sie bei Alkaios und Sappho nach Ausweis der Frag-
mente — freilich ein unsicheres Kriterium — für wahr-
scheinlich halten müssen; bei Horaz wird Anakreons Ein-
fluß eher als der der Lyrik hellenistischer Zeit anzuneh-
men sein. Wenn er darauf verzichtet hat, Glykoneen anein-
ander zu reihen, wie es doch Sappho und Anakreon getan
hatten, also etwa Strophen aus drei Glykoneen und Phere-
i) Während Atilius p. 296, 6 sagt hui(^ (Äsclepiadco) st rrddas in
ultimo syllabam, integer eritpeutameter, ut 'Maecenas atavis edite rcgihus o\
62 KiiiiAUi» Hkin/-k: 17*^» +
krateus /u bauen, so hat wohl oben der Umstiinil, daß solche
Komposition in hellenistischer Zeit beliebt wiir, ihn davou
ab}^'ehalten. Er verbindet den Glykoneus ausschließlich mit
Asklepiadeen. entweder als Trooden oder als Abschluß einer
vi« rzeiliijen Strophe, uacii drei Asklepiadeen oder nach zweie»
und Pherekrateus, so daß also aut'fallenderweise die katalek-
tische Form des Verses der ukatalektiscbeu vorangeht. Daß
er alle diese Kombinationen bei Alkaios gefunden habe, ist
möglich, aber nicht sicher: die zweite der oben genannten
Formen ist uns aus Alkaios gar nicht, die beiden anderen
nicht zweifelsfrei überliefert (fr. 4.^ 82). Aus jener Beschrän-
kung aber möchte ich ächließen, daß Horaz Verwandtschaft
des Glykoneus mit dem Asklepiadeus empfunden hat; den)
entspricht es, daß er, wie den Asklepiadeus, so auch den Gly-
koneus (und natürlich den Pherekrateus) spondeisch beginnt
(mit einziger Ausnahme von I 15,36), wie das Auakreou*)
und vielleicht auch überwiegend Alkaios getan hatte: wenig-
stens ist das in dessen aus dem <Tlykoneus entwickelten
großen Verse uaQ^ut:LQ£i dl utya^ dö^os (fr. 15), «a^ch unse-
rem Fragment zu urteilen, der Fall gewesen.^) CatuU da-
gegen hatte vielleicht die Verse der Sappho im Ohre, wenn
er den Trochäus (besonders in 61) stark bevorzugte, daneben
den Spoudeus durchaus gelten ließ und auch den Jambus
nicht völlig ausschloß: in den Givkoneen^) (und Phaläceen)
i) Bi.Ass Rh. M. 29 ii«74), 153: sichere Ausnahme nur der Phere-
cvateus 2, 3 nogcpvQti] r 'Acpgoöirri. Wii.amowitz Chor. Dim. 24, i (Berl.
Sitzungsber. 1902, 888; hält fr. 8 das überlieferte iyä t' uv ovv' 'Anal-
9ir,c, als iambischen Dimeter.
2) II Spondeen, 2 Trochäen, i Pyrrhichius.
3) Ob man die Verse, die in SL 1= Supplementum Lyricum voa
E. DiKHi-, Lietzmanns kleine Texte 33/34, 3- Aufl. 1917) ^3 dem äoli-
schen daktyl. Tetrameter vorausgehen, als Glykoneen oder als daktylische
Trimeter fassen soll, ist freilich zweifelhaft: die antike Metrik wird
sich für Glykoneen entschieden haben, da Hephaestion äol. daktyl. Tri-
meter nicht kennt, p. 23 C. Ich glaube daher auch nicht, daK der-
jenige Derivijtionsmetriker, der zuerst den Priapeus mit dem herous
identifiziert hat, sich dabei an eine bereits früher geltende Definition
des Glvkoneus als äol. Trimetere anechließen konnte.
70,4] DiK I.YRISCHKN VeR8E DKS HoRA/.. 63
der neuen Sappholieder tritt der Jambus ganz hinter Trochäus
und Spondeiis zurück, der Trochäus überwiegt (wenn auch
nicht so stark wie bei Catull).^)
Von einer Gliederung des Glykoneus hat Horaz völlig
abgesehen; er will ihn als ganz einheitliche Reihe hören
lassen, wie er ihn offenbar bei seinen griechischen Mustern
gehöi-t hat. Worteinschnitt findet sich zwischen den beiden
Kürzen ( ^ w _ ^ _) seltener als an den übrigen Vers-
stellen 155 mal in 246 Versen); das liegt wohl daran, daß
hierbei diiambischer Schluß entstand: im Pherekrateus ist
dieser Einschnitt A-erhältnismäßig viel häufiger (17 mal in
35 Versen).
Gegen die daktylische Messung gilt das beim Asklepia-
deus Gesagte. Spondeisches Wort zu Anfang ist hier sogar
2anz besonders beliebt: es findet sich in etwa der Hälfte aller
Verse.
3. Der sapphische Elfsilblor.
Der sapphische Elfsilbler hat den Derivationsmetrikern
keine Schwierigkeit bereitet; sie sind einig darin'), ihn zu
erklären als entstanden durch coucinnatio eines trochäischeu
und eines jambischen Kolon: ein geringfügiger Unterschied
besteht nur darin, daß Atilius p. 297 das trochäische Kolon
als dimeiran brach i/rafalecfoii bezeichnet, also abteilt _^_. _u_w|
w_w_u, während die anderen entsprechend der überwiegenden
horazischen Praxis das jambische Kolon mit zweisilbiger Sen-
kuncf beo'inneu lassen: _v^--u_ ww_vj_^.
i) Im Päan des Aiistouoos haben immerhin etwa ' '^ der Glyko-
ueen jambische "Basis": trochäische erheblich weniger, spondeische
überwiegt (s. die Tabelle in Ckdsuts' 'Delphische Hymnen', Philol.
Bd. VIII (1894) Suppl. S. 24). Natürlich läßt das keinen Schluß auf
allgemein hellenistische Technik zu.
2) Nicht mit Recht zieht Kiessling (Einl. zu den Oden p. 6fg.) auch
die Analyse des Augustinus de mus. IV 18 (-v_ — ^^ _w_>^) und
die zweite des Atilius (.. w _ u _ w -. _ o ^ _) in den Bereich der Deriva-
tionsmetrik; da liegt im Gegenteil, wie besonders die Erörterung Au-
guetins ganz deutlich macht, die Auflassung als Trimeter (drei sechs-
zeitige Füße) vor.
^4 KicuARD Hkinzk: [7«, 4
Von den beiden Eigentüniliclikeiton des horazischcn Ver-
ses vermag diese Theorie die eine — Cäsur nach der fünften
Silbe — nur halb, die andere — Länge der 4. Silbe — gar
nicht zu erklären. Erklären könnte sie höchstens die Durch-
führung einer Cäsur: aber warum Horaz diese in den drei
ersten Büchern fast ausscliließlich, später ganz überwiegend
nach der fünften, nicht nach der sechsten Silbe ansetzt, bleibt
unerklärt. Alkaios' und Sapplios Verse haben keine Cäsur;
das können wir nach den neuen Funden mit noch größerer
Sicherheit als zuvor sagen. Zwar für Sappho stand es schon
immer fest: aber für Alkaios konnte der — wie sich nun
herausgestellt hat — zufällige Umstand, daß die sieben von
ihm in Zitaten erhaltenen Verse sämtlich Worteinschnitt nach
der fünften Silbe aufweisen, zu der Vermutung verführen, daß
Horaz ihn sich zum Muster genommen habe^): unter den
36 neuen Versen, deren Erhaltung uns ein Urteil gestattet
hat genau die Hälfte, 18, jenen Einschnitt nicht; 10 davon
haben auch nach der sechsten Silbe kein Worteude; so daß
also der Gedanke an eine beabsichtigte Zweiteilung des Ver-
ses hier noch weniger aufkommen konnte als beim Asklepia-
deus. Und geht man über solche äußerliche Statistik, bei
der die Zusammengehörigkeit der Worte ganz außer Acht ge-
lassen ist, hinaus^) und sieht auf den Sinnesabschnitt, so
haben diesen Alkaios und Sappho in der Mitte des Verses
ebenso wenig gesucht oder vermieden wie an anderen Stellen:
wenn er in (pKivstaC ^loi %y\vog niemals, in noiKiXdd^Qov
uQ'dvat ^AcpQodiTa verhältnismäßig häufig in der Mitte des
Verses auftritt, so ist das kein metrischer, sondern ein stili-
i) KiKssLiNG Philol. Unters. 11 67 Anm. 24.
2) Ich bemerke hier ein für alle Mal, daß ich, da ich die lesbi-
schen Verse nicht um ihr^r selbst willen behandle, in den Fragen der
Verseinschnitte ganz nach Analogie horazischen Versbaues gerechnet
habe; es mußte versucht werden, die Dinge so aufzufassen, wie sie
Horaz wahrscheinlich aufgefaßt hat. — Die dramatische Lyrik habe
ich ganz bei Seite gelassen; für Horaz ist sie schwerlich irgendwie in
Betracht gekommen.
70, 4] Die lyrischen Versr des Horaz. 65
stischer Unterschied, der mit dem verschiedenen Ethos der
Gedichte zusammenhängt: die leidenschaftliche Erregung von
(paCverai ;tot xfivog spiegelt sich auch darin, daß metrisches
und syntaktisches Kolon ungewöhnlich häufig nicht zusam-
menfallen, sondern ein Satzglied mit ein oder zwei Worten
in den folgenden Vers hinüberreicht oder kurz vor dem Vers-
Bchluß anhebt. Beim dritten Hendecasyllabus der Strophe
vor allem konnten die lesbischen Dichter um so weniger auf
eine Zweiteilung verfallen, als ja der Adonius für sie kein
vierter Vers ist, sondern zum dritten gehört: mit dem ihn in
der dritten Strophe von TtoixiXö&Qov ä&dvat ^AcpQodCxa Wort-
einheit, in der vierten, fünften und siebeuten die syntaktische
Gliederung (Kolonschluß vor der zweit- oder drittletzten Silbe
des dritten Verses) aufs engste verbindet.
Als einziges Dokument der Entwicklung in hellenisti-
scher Zeit müssen uns die fünf sapphischen Strophen des
Hymnus der Melinno auf Rom dienen (bei Stob. lU 7, 12),
der freilich erst dem letzten Jahrhundert v. Chr. entstammt;
aber was er etwa an Neuem aufweist, wird nicht gerade erst
Melinno geneuert haben: wir dürfen von ihm auf ältere Praxis
schließen. Hier ist nun ein deutlicher Fortschritt in der
Richtung auf Horaz hin festzustellen. Zwar ist die Cäsur
nach der fünften Silbe nicht durchgeführt, aber sie findet
sich in 10 unter 15 Versen, drei weitere haben sie nach der
folgenden Kürze; nur zwei also entbehren eines solchen Ein-
schnitts in der Mitte. ^) Fast wichtiger noch ist, daß deut-
lich die Empfindung einer Zweiteilung der Verse hervortritt,
indem die zweite Hälfte durch zwei eng zusammengehörige
Worte ausgefüllt wird — &vydTi]Q 'läQrjog, datcpQcov ävaööa,
XQat£Qä)v IsTtddvcov, TCoXiäs ^alcc60ag, 6 ^ayiövog aiäv, oder,
wie dann so oft bei Horaz, zwei Paare von Subst. und Adj.
1) Beidemale (13, 17) ist es der dritte Vers der Strophe: ob darin
noch das Bewußtsein von dessen Zusammengehörigkeit mit dem Adonius
wirkt? Durchweg bilden die beiden ersten Verse der Strophen in sich
gegenüber 3 und 4 eine Einheit; nur einmal (13) greift der Satz mit
einem Wort in den 3. Vers über.
PhU -hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 4. 5
ö6 KicHAiii» IIkinze: f7o, 4
in einem Vers verscliränkt sind: xvdo^ «()(>»JxTaj ßaöiXyov
aQX(^9i oder ein Pniir iiuf die KolaBchliisse vorlcilt wird: <ig)(>a
y.oi()ttvfjOV f';|^o((y« xa'pro«,' oder die Cilsur umgibt: öol ^6v<f
:TXyjötörioi> ovqov «();t«i,% xQutidTOix;; \ «rdpag, aix^i'ijTng ^fyd-
Xoxy^ Xoxevftg. wie iinderorseits auf Anfjiug und Schluß dos
Verses : öe^ivm' ci vaCfig ircl y&g "OXv^Ttov — alles aus Horaz
uns wolilbekanute Sclu'mata
Die Vermutung, daß wir Meliunos Teclinik als tvi'iHch
anseilen dürfen, wird dadurch bestätigt, daß CatuU genau die
gleiche aufweist: auch er hat sie gewiß nicht selbständig auf
Grund einer Analyse von Sapphos Liedern geformt, sondern
der Praxis hellenistischer Dichter nachgebildet. Von den
zwölf sapphischeu Hendecasyllaben von c. 51 haben neun
Wortende nach der fünften, die übrigen drei nach der sechsten
Silbe; unter den 18 Versen von c. 11 finden wir vier ohne
solchen Einschnitt^), Qmal fällt er nach der fünften, 5 mal
nach der sechsten Silbe. Das Verhältnis ist also ganz ähn-
lich wie beim Phalaeceus, wo CatuU gleichfalls zwei Cäsuren
anerkennt, der einen entschieden den Vorrang gibt, ausnahms-
weise von beiden absieht. Auch bei Catull weist die Gestal-
tung der Rede oft genug auf das Bewußtsein der Zweiteilung
hin: man lese nur
Furi et Aureli \ comites Catulli
sive in extremos j penetrahit Indos
und
und
sive trans alias | gradietur Alpes
Caesaris visens \ monimenta magni,
Gallicuni Rhenum
lingua sed torpet, \ tenuis sub artus
flamma demanat, \ sonitu suopte
tintinant aures, \ gemina teguntur
liimina node.
Hora/. hat nun den entscheidenden Schritt getan, die
Tendenz, die er bei seinen nächsten Vorgängern beobachtete,
i) In drei von diesen Fällen handelt es sich um den dritten
Uendecasyllabus: b. vorige Anm.
70» 4] Die lyrischen Verse des Hohaz. 67
zum Gesetz zu erheben; er hat die von jenen bevorzuo-te
Form des Verses mit dem Einschnitt nach der fünften Silbe
die auch ihm offenbar die schönste zu sein dünkte in dem
größten Teil seiner Produktion zur allein gültigen erhoben.
Die Einförmigkeit, die hierdurch entstand, ist ihm nicht lästig
erschienen, so wenig wie die regelmäßige Wiederkehr ein und
derselben Cäsur im Hexameter und jambischen Trimeter- ja
er hat diese Einförmigkeit noch durch weitere Beschränkun-
gen der Wortschlüsse gesteigert. Nicht nur, daß er vor der
Cäsur einzelstebende Monosyllaba so gut wie ganz vermied —
darüber wird gleich mehr zu sagen sein — : er hat auch nach
dieser Cäsur, offenbar um den anapästisch ansteigenden Rhyth-
mus der zweiten Vershälfte nicht zu hemmen, einsilbio-es
Wort, abgesehen von et, das sich für sein Ohr fast restlos
mit dem folgenden Worte verband, nur in sehr seltenen Aus-
nahmen zugelassen^); in der ersten Vershälfte aber überwiegt
Worteinschnitt nach der dritten Silbe so stark, daß z. B. unter
165 Versen des ersten Buches 122 diesen Typus (_ .^ _ I _)
aufweisen.
Als unverbrüchliches Gesetz der Versbildung, analog etwa
dem der Elfzahl der Silben, hat die Cäsur nach der fünften
Silbe dem Horaz zu keiner Zeit gegolten. Er hat sich schon
in den ersten Büchern, freilich äußerst selten, Ausnahmen
gestattet, für die ein besonderer Grund nicht ersichtlich ist:
I 12, 1 quem virum aut heroa lyra vel acri
I 30, 1 0 Venus regina Cnidi Paphique
I 25,11 Thracio hacdiante magis sub inter-
II 6, 1 1 fliimen et regnata petam Laconi
sowie dreimal in den 15 Versen von I 10:
I. Mercuri facunde nepos Atlantis
6, nuniium curvaeque lyrae parentem
i8. sedibus virgaque levem cocrces.
1) et findet sich an dieser Stelle i4mal; die übrigen vier Fälle
sind I 20, 2 cantharis, Graeca quod ego ipse testa, 22, 2 sive facturus
per inliospüdlem, 32, 2 lusimus tecum, quod et hunc ia annum, III 7, i
Martiis caeltbs quid agam calendis.
5
*
6S RiCHAUi) Hiunzk: 17*^.4
Das tritt daim häulif^or, nii-lit mehr als Ausnahme, son-
dern wie eine herechtigte Nebeutbrm, im ('iirmen saeculare
- 19 Fälle in h) Strophen — und in den Oden des vierten
Buches auf: 1 2 mal in Pindanim rinisquis (45 llendecasyll.),
dmal in Divc quem jyroles {^^i), 4 mal in Est mihi nonum (27).
Alle diese Verse sind nicht etwa cäsurlos, sondern die Cäsur
ist nur um eine Silbe weitergerückt: das ist also die zweite
der bei Iloraz' Vorgängern beliebten Formen. Es liegt auf
den ersten Blick nahe, die Tatsache, daß un^ der Umschwung
zuerst deutlich im Carmen saec. entgegentritt, so aufzufassen,
daß Horaz in dem für Chorgesang gedichteten Text geglaubt
habe, sich von seiner für den Rezitationsvers aufgestellten
Regel emanzipieren zu dürfen^): läge nur ein Verzicht auf
die Cäsur, nicht lediglich ein Wechsel zweier Cäsuren vor!
So ist der Fall m. E. im Prinzip nicht anders zu beurteilen,
als wenn etwa unter den 18 Hexametern von 1 28 sich drei
nicht mit Penthemimeres, sondern mit trochäischer Cäsur
(oder Hephthemimeres) finden; man wird sich mit der Fest-
stellung begnügen müssen, daß Horazens Ohr im Laufe der
Jahre seine Ansprüche in diesem Punkte, wie ja in anderen
bekanntlich auch (insbesondere betreffs der Zulässigkeit von
Synalöphen) geändert hatte.
Aus der Sonderstellung von I 10 innerhalb der ersten
Sammlung würde ich, wenn nicht reiner Zufall anzunehmen
ist, auf späte Abfassung zu schließen geneigt sein; Kiessling
dagegen knüpfte daran seine Hypothese, auf die ich schon
oben S. 3 hindeutete. Er beobachtete, daß I 10 noch eine
andere Eigentümlichkeit aufweise: unter 15 Hendecasyllaben
schließen 13 mit dreisilbigem Wort; einer viersilbig: reddi'-
cHsses, wobei Einschnitt nach der Präposition anzunehmen
sei, einer zweisilbig: Troiae, was als Eigenname nicht unter
die Regel falle. Indem Kiessling beide Besonderheiten kom-
binierte, glaubte er in dem Gedicht eine bewußte Variation
des sapphischen Metrums zu erkennen: hier liege nicht die Auf-
1) WiLAMowiTz, Die Ilias und Homer (1916), S. 353.
70, 4] Die lykischen Verse des Horaz. 69
u u u .
fassung _u !uw_;^_u zugrunde, sondern
concinnatio von einer glykoneischen Reihe, die als selbstän-
diges Kolon in I 8 (hoc deos vere Syharin) wiederkehre, und
Amphibrachys.^) Diese Auffassung ist, ura das gleich zu
sagen, nirgends überliefert, und die Analogie der Analyse
Augustins, auf die sich Kiessling beruft, habe ich schon
S. 63, 2 abgelehnt. Aber au6h abgesehen davon ist Kiess-
LiNGs Hypothese unhaltbar: sie schiebt dem Dichter, den sie
als Anhänger der Derivationstheorie zu erweisen sucht, Theo-
rien unter, die dieser Metrik, soweit wir sie kennen, fremd
sind, und sie traut ihm weiter zu, seine Theorien sehr unge-
schickt in die Praxis übersetzt zu haben. Es ist erstens
jenen Metrikern, wenn sie verschiedene Möglichkeiten für die
Ableitung eines Verses aufstellten, nie eingefallen, daraus
'Variationen' des Verses zu konstruieren: der Vers blieb einer
und derselbe, mochte er so oder so entstanden sein. Kiess-
ling beruft sich auf die sieben Divisionen des Phalaecens
bei Caesius, von denen die eine, ganz ähnlich wie es Horaz
in I 10 bei dem Sapphiker angenommen haben soll, den Vers
'aus dem Hinzutreten eines schließenden Araphibrachys zu
der achtsilbigen anakreontischen Reihe erwachsen läßt'. Ich
habe oben S. 53 zu zeigen gesucht, daß hier in Wirklich-
keit nicht eine Ableitung des Phalaeceus, sondern des Glyko-
neus aus diesem vorliegt; aber gleichviel: auch Caesius hat
nicht gemeint, daß es sieben Variationen des Phalaeceus gebe,
sondern er wählt nur mit castae Pierides meae \ Gamenae ein
Beispiel, an dem sich die divisio durch Streichen des letzten
Wortes recht anschaulich machen läßt; so wie ein anderer
Metriker, um die Entstehung des jambischen Septenars aus
i) Schröder p. 20 schließt sich ihm an, nur daß er (ganz ohne
antiken Vorgang) das erste Kolon als Daktylenhephthemimeres inter-
pretiert. In einem Verse wie lenis Ilitliyia tuere inatres läßt er dann
die beiden Interpretationen des Verses 'ineinander übergehen'. Ein
Daktylenhephthemimeres, in dem der erste Fuß durchweg Trochäus,
der zwoite durchweg Spondcus ist — darf man so etwas wirklich noch
Interpretation nennen?
70 EiciiAui) ITkinze: [70,4
ilcni Seiiar zu voninscbauliclicu, das Beispiel wälill quid in-
mercntihns noces, quid itividcs \<nnicis, aber natürlich nicht
sagen will, daß «liese Ableitung nur für solche Verse gelte,
die Wortschhiß vor den letzten drei Silben haben. Bei der
concinnatio steht es anders: da gibt die feste Cäsur des
Verses die Fnge der beiden Kommata an; die udiectio da-
gegen hinterläßt im fertigen Verse keine Spur, und der Me-
triker von Oxyrh^'nchos hält es denn auch gar nicht für
nötig, daß die Silben, die er bei seiner Demonstration ^veg-
schneidet, ein ganzes Wort bilden. Somit hätte Horaz, wenn
er sich darauf kapriziert hätte, seine Analyse in I 10 durch
Abtrennung der letzten drei Silben zu markieren, schwerlich
selbst beim Kenner auf Verständnis rechneu können; und als
'Variation' des Verses, die dem Metrum den Anspruch auf
einen selbständigen Platz neben dem sapphischen Metrum
von I 2 gäbe, hätte es der Kenner nicht gelten lassen. Weiter:
die seltsame Theorie wäre aufs ungeschickteste in die Praxis
übertragen. Sie macht, nach Kiessling, die Cäsur über-
flüssig: trotzdem behält Horaz in 12 von 15 Versen die regel-
mäßige Cäsur bei, und läßt nur in dreien — eine andere
eintreten, die ihm auch sonst gelegentlich als vollwertig gilt.^)
Endlich, statt nun wenigstens den dreisilbigen Schluß durch-
zuführen, führt er auch da den harmlosen Leser irre, indem
er zweimal sich Lizenzen erlaubt. Ich kann darin, daß gerade
hier diese Schlüsse so stark überwiegen, nur einen Zufall
sehen: so hat I 38, wenn wir analog dem reddidisses auch
adparatus und adlahores gelten lassen, nur dreisilbige Schlüsse,
aber durchweg die regelmäßige Cäsur, und I 30, worin nur v. i
"weibliche Cäsur hat, nur v. 6 zweisilbigen Schluß (NympJiae:
Name!) — weshalb denn freilich Scuröder auch dies Ge-
dicht mit I 10 auf die gleiche Stufe stellt. Andererseits fin-
den sich im CS. und in Buch IV unter den Versen mit tro-
chäischer Cäsur eine Anzahl — freilich die große Minder-
heit — mit zweisilbigem Wort am Schluß: wo also von
i) In zweien von diesen drei Fällen braucht man noch dazu nur
vor qiie einzi||SchDeiden, um die regelmäßige Cäsur zu erhalten.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 7 1
einer Wirkung jener Analyse nicht die Rede sein kann. Die
beiden Erscheinnugeu, von denen KiesslIng ausging, können
allerdings zusammenhängen, aber in ganz anderer Weise als
er meint: wenn Horaz in Buch I — III in allen Füllen, im
Buch IV wenigstens meist da, wo er die weibliche Cäsur hat,
auch dreisilbig schließt, so vermeidet er vielleicht absichtlich
die Wiederholung des trochäischen Schlusses: lUlhjm \ tuere\
matres mag ihm in früherer Zeit doppelt weichlich geklungen
haben. Ich halte das für denkbar, weil auch Catull die gleiche
Regel, und zwar ausnahmslos, 'befolgt hat.
Wenn nach dem allen die Durchführung der Cäsur von
analytischer Theorie ganz unabhängig gewesen ist, so dürfen
wir bei dem Versuche, etwas über Horazens metrische Auf-
fassimg des Verses festzustellen, jedenfalls von den beiden
durch die Cäsur gesonderten Teilen des Verses nicht ausgehen.
Gegen die Auffassung des ersten Teiles als trochäischen Ko-
lon, wie sie nach den antiken Metrikern Christ und Kiess-
LiNG lehrten, spricht überdies die Gestaltung des einzelnen
so deutlich, daß man glauben könnte, Horaz habe ihr ge-
flissentlich vorbeugen wollen. Zwei Besonderheiten treten hervor.
Erstens die ausnahmslos festgehaltene Länge der vierten Silbe.
Freilich hat Horaz auch in diesem Punkte nur zum Abschluß
gebracht, was sich schon vorbereitet hatte. Bei Alkaios und
Sappho überwiegt zwar die Länge, aber die Kürze ist so
häufig, daß man sieht, jenes Überwiegen ist nicht Absicht des
Dichters; Melinno dagegen hat in 15 Versen nur 2 mal, Catull
in seinen 30 HendecasyUaben nur 3 mal Kürze. Ich nehme an,
daß schon ihnen der rein 'trochäische' Eingang _ ^ _ u _ w . . .
den Vers zu leichtfüßig erscheinen ließ-, der Römer zumal
konnte befürchten, daß, wenn ein scheinbar trochäischer
Rhythmus zu stark ins Ohr falle, er an die volkstümlichen
trochäischen Verse erinnere. Das mag denn auch — zweitens —
dazu mitgewirkt haben, daß Catull — wie übrigens schon
Melinno fast ausnahmslos — Wortschluß nach der vierten
Silbe vermieden hat, der die vier Silben als trochäisches Me-
trum hätte empfinden lassen und zudem durch den Zusam-
7 2 RiOHARi» Hrinze: [70.4
luonschluß von Wortakzent und Versakzont, einen lässig vul-
gären Rhythmus erzeu^^t hätte: v<,M. etwa difjiia dignis, sie Sar-
»lentus habeai <rass(ix cornjicdes. Diesen Wortschluß liat CatuU
auch in den Versen vernneden, wo nach der t'iinften Silhe
nicht Cäsur eintritt, also auch nicht Monosylhihuin vor die
Cäsui- zu stehen gekommen wäre; zugelassen hat er ihn dar
gegen nach oinsilhigem Worte (4 mal): da waren jene be-
denken erhehlich gemildert. Daß l)ei Horaz in der weitaus
größten Zahl der Fälle Wortschluß nach der vierten Silhe
schon durch die nach der fünften Silbe eintretende Cäsur aus-
geschlossen war, liegt auf der Hand; nicht durchaus vermie-
den hat auch er, wie Catull, den Wortschluß nach Mono-
syllabum (so daß nun zwei Monosyllaba vor der Cäsur stehen):
der fin let sich 20 mal, während Wortschluß nach Polysylla-
bum au dieser Stelle, ohne daß die letzte Silbe verschliffen
ist, keinmal, mit Verschleifung nur 4mal eintritt: obwohl
doch in diesem letzten Falle der Wortakzent nicht hinderlich
sein konnte. Und auch in den 47 Versen, in denen die Cä-
sur trochäisch ist, findet sich nur i mal Wortschluß nach der
vierten Silbe, und da nach doppeltem Monosyllabum (IV 1 1, 29
setnper ut te digna sequare), woran das folgende Wort eng an-
schließt.^^
Mit dieser negativen Feststellung ist aber, glaube ich^
erschöpft, was sich über Horazens Auffassung des Verses mit
einiger Bestimmtheit sagen läßt. Wenn er, was ich für wahr-
scheinlich halte, den Vers als Trimeter aufgefaßt hat, so wird
die bei Augustin überlieferte Analyse _u_j__uw|_u_u den
Vorzug vor der des Atilius _k^_v^!_oi^_jv_u verdienen: das
Überwiegen des Worteinschnitts nach der dritten Silbe (s. ob.
S. 67) über dem nach der zweiten scheint anzudeuten, daß
Horaz den Eingang als kretisch gehört hat; was gegen trochä-
i) In seinen Trochäen fnon ebur neque aureuvi) hat Horaz Ein-
schnitt nach der vierten Silbe so wenig vermieden, wie es die trochä-
ischen Verse der Komiker tun, oder wie er selbst es in den jambischen
Versen tut: ep. i, 5. 15. 19. 24. dazu in diesem Jambus 9 mal nach
Monosyllabum, u. s. f.
70,4] Die lyrischen Verse des Horaz. 73
ische Auffassung spricht, haben wir oben gesehen. Aber
jedenfalls hat Horaz keinen Wert darauf gelegt, dem Hörer
den Vers als Trimeter zu demonstrieren: die Zweiteilung hat
damit ja nichts zu tun, und sie ist es, die dem Vers den
Stempel gibt. Sie wird, wie beim Asklepiadeus, aufs stärkste
betont durch die Wortgruppierung , insbesondere durch die
Verteilung von Substantiv und zugehörigem Adjektiv auf
die Schlüsse oder — seltener — die Anfänge der beiden
Hälften eines oder zweier aufeinanderfolgender Verse.
4. Größere Sapphisclie Strophe (od. I 8),
_u_ uu_ -jw-k^
Hier sind wii" in der glücklichen Lage, mit Bestimmt-
heit zu sagen, wie Horaz in seinen metrischen Handbüchern
die beiden Verse der Strophe analysiert fand — wenn er
sich die Mühe nahm, nachzusehen. Den kürzeren Vers er-
klärt die antike Metrik einhellig, sowohl Hephaestion wie die
römischen Horazmetriker, aber auch Augustiu, als choriam-
bisch: ob man sagt di^stQov xaxuXr^Kxizov (Heph. 9. Atil.
p. 300) oder, genauer, %OQiu^ßixbi' sqj&rjfiLfiSQsg tö slg ri)v
iccußLX7)v xardxkstda (Heph. 15 p. 55 C.) oder, äußerlicher,
ex cJioriamho et anfihacchio compositum est (Caesius 270 vgl.
Augustin. de mus. HI 8, 18 post choriamhum hacchium com-
perinms) bleibt sich gleich; auch Diomedes' Identifikation
mit dem zweiten Teil des längeren Verses (50g) läuft auf das-
selbe hinaus. Der längere Vers wird in der horazischen Form
von Hephaestion nicht erwähnt. Diomedes bezeichnet ihn
p. 508 einfach als choriambisch, p. 520, in den Metra Hora-
tiana, wo er ihn skandiert hippius secundus (= epitritus), duo
choriambi, bacchius, nennt er ihn Alcaicum metrum. Auch
Caesius 270 weiß, daß er von Alkaios erfunden und choriam-
bisch ist: aber ein genau entsprechendes griechisches Beispiel
hat er offenbar nicht gefunden, denn er behauptet, Horaz
habe die choriambische Natur des Verses verkannt und, ab-
weichend von Alkaios, fälschlich an zweite Stelle statt des
74 1\i(ii\Ki> TTkin/k: [70.4
.Iiinibus eiiioii Spondeus gosotzt Diese worfcreiclie, Tadel uiul
Entschuldii^uiig sell)st*jefiillif^ sibwiii^endf I*]x])ekt()ratioii ist
ottenltar Caesius' eigene L»'istung, mit der er Eindruck ge-
macht hat: Atilius schreibt sie ilim p. 3011 mich, fügt aber
dann, aus anderer QueUe, zwei griechische Beispiele hinzu,
nicht aus Alkaios, sondern aus Anakreou ccönCöa Qtil<as nora-
uov •/mX?aq6ov jtao öyi^ci^' und aus Sa])plio devra vvv aßQcd
XägiTeg y.aXXixouoi rf Movöca: dies der Vers, den Ilephaestion
als Beispiel für den (reinen) choriambischen katal. Tetraineter
gibt (p. 30 C). Daß er dazu ein gutes Itecht hatte, nehme
ich als sicher an: es müssen in dem Gedicht, das offenbar
mit jenem Verse begann, solche reiugebaute Tetrameter vor-
gekommen sein,^) Aber es wird auch niemand bestreiten,
daß die Bildung mit erstem trocMischem Metron für Sappho
möglich war: und daß Horaz solche Verse bei den Aoliern
vorfand, ergibt sich aus seiner Nachahmung. Nur darf man
bezweifeln, daß diese Bildung in einem ganzen Gedichte kon-
sequent festgehalten war: das würde äolischer Gepflogenheit
widersprechen. Dann hat also Horaz entweder hellenistischen,
uns unbekannten Vorgängern folgend, oder auf eigene Hand,
den vielgestaltigen choriambischen Tetrameter normalisiert:
genau wie er es bei den übrigen äolischen Versen tat. Die
römischen Metriker hatten es nicht ganz leicht, sich mit dem
Verse abzufinden. Der Autor des Diomedes scheint keinen
Anstoß dabei gefunden zu haben, ihn einfach als choriam-
bisch zu bezeichnen: ob er sich weitere Gedanken darüber
gemacht hat, wissen wir nicht, jedenfalls wußte er, daß Al-
kaios choriambische Tetrameter gedichtet hat. Caesius be-
merkte, daß die Rechnung nicht rein aufging, und legte sich
das, ohne sich weiter umzusehen, in seiner Weise zurecht.
Der gelehrte zweite Autor des Atilius suchte nach Beispielen;
wenn es ein Zufall wäre, daß er gerade zwei Verse anführt,
i) WiLÄMowiTz, der früher (Isyllos 133) den Vers der Sappho in zwei
äolische Kola --> ^u_ und _uu_^__ zerlegte, erklärt ihn Sitzungs-
ber. d. Berl. Ak. 1902, 885 (Choriamb* Dim. 21), gewiß richtiger, wie
Hephaestion als choriambischen Tetrameter, mit kurzer dritter Silbe.
70,4] Die lyrischen Verse des Horaz. 75
in denen die fragliche dritte Silbe auch lang gemessen werden
könnte, so wäre das ein seltsamer Zufall: der Anakreonvers ist
ja offenbar aus einem Gedichte geflissentlich herausgesucht.
Wie dem auch sei: von einer derivierendeu Auffassung
des Verses findet sich bei den antiken Metrikern keine Spur.
Die neueren haben diesem Mangel abzuhelfen gesucht. KiESS-
LING (Phil. Unters. II 69) erklärte, Horaz habe den kürzeren
Vers sicher nicht als choriambischen Dimeter gemeint: das
lehrten die offenbar absichtlichen daktylischen Worteinschnitte;
vielmehr sei es ihm ein Komma des sapphischen Hendecasjl-
labus, dem der anlautende Epitrit vorne weggeschnitten ist^;,
d. h. Avie er sich später ausdrückte (Einl. z. d. Oden 8), eine
daktylische Reihe, Spielart des Pherekrateus. Hierbei ist erstens
die unbewiesene Voraussetzung gemacht, daß Horaz die ihm
bekannte theoretische Analyse des Verses auch praktisch durch
die Worteinschnitte wiedergegeben haben müsse. Daß ferner
KiESSLiNG irrte, wenn er meinte, die von ihm hier präsumierte
divisio des Sapphischen Heudecasyllabus auch bei Atilius zu
finden, habe ich schon S. 63, 2 gezeigt. Die derivatio ist also
ganz willkürlich und könnte mit besserem Recht noch vom
alkäischen Zehnsilbler oder vom Archebuleum ausgehen, die
doch wenigstens selbst dem genus dactylicum angehören: m.
a. W., sie würde uns gar nichts zum Verständnis des Verses
nützen, selbst wenn sie richtig wäre. Ebenso unbefriedigend
ist KiESSLiNGs concinnatio des größeren Verses aus dem An-
fangskomma des Sapphikers und dem kleineren Verse. Die
Identität zwar des zweiten Teiles mit dem Prooden steht fest,
mag man diesen auffassen wie man wiU; für die erste Hälfte
aber stützt sich Kiessling auf seine Analyse des Sapphikers
in I 10, die ich oben S. 68 fg. widerlegt habe-, und er traut
zudem Horaz den seltsamen Widerspruch zu, daß, während
er dort die regelmäßige Cäsur, als für das Komm.a nicht mehr
i) L. Müller (de re metr.* 116), den Kiessling als seinen Vor-
gänger nennt, hätte das schwerlich gelten lassen: er stand der Christ-
Bchen Theorie sehr skeptisch gegenüber (82 fg.), ohne sich aber be-
stimmt darüber zu äußern.
76 luciiAiti» Heinzk: |7<'i-1
Hültii;, vernachliissigt hal)e, er sie hier, in jiietiiivollor l<]riij-
nerunj; an seinoii Ursprung, beihelinlten habe.
Wir werden besser tun, von der Theorie ganz a})/,usehen
und /n fragen, ob niclit das Heisjiiel der Vorgänger und das
eigene Gehör des Horaz zu der vorliegenden ßestaliiing der
Verse fuhren konnte.
Im kürzeren Vors fällt in dci- Tat der Wortschluß nach
dem Eingangsdactylns vor allem auf, der im Prooden aus-
nahmslos durchgeführt, im Epoden wenigstens fünfmal in
den acht Versen beobachtet ist. Unser griechisches Ver-
gleichsmaterial ist äußerst gering; und wenn unter den fünf
Versen der. Sappho, ihre choriambischen 'Asynarteten'
(Heph. p. 55 C.) eingerechnet, vier jene Abtrennung des Dak-
tylus aufweisen —
51 TCKQd-Evov üdvcpavov
QO i'ilßis ya/r/i^f, öol iihv
drj ydiiog, üg ccquo . .
TrapO'fVov, c?v ägao —
so werden wir nicht schließen , daß dies Verhältnis durch-
gängig gewesen sei; aber reichlich vertreten war der Typus
jedenfalls. Wenn ihn Horaz fast ausschließlich zuließ, so hat
er durch die Gliederung jl^^\ j.^\j.^ (neben der nur noch
_uv|_|u__ öfters auftritt) den fallenden Rhythmus der Zeile
so stark wie nur möglich betont, viel stärker als es durch
_uw_|^^__ oder durch _w!w_ju__ geschehen wäre; die Ab-
weichung in V. 14 _|ww_uj__ ändert daran nicht viel. Im
vollen Gegensatz dazu hat er im ersten Gliede des längern Verses
durch die männlichen Einschnitte den steigenden Rhythmus
hervorgehoben: .u^|_.i|uuj: (nur einmal _w| 1^-^-) — es
mag Zufall sein, daß die beiden Beispiele des Atilius, wenn
wir den Eingang epitritisch messen, genau die gleiche Glie-
derung aufweisen, aber an solchen Beispielen wird ihm die
Wirkung klar geworden sein, und an die Abtrennung des
vorletzten Anapäst in Theokrits daktylischen P'ünffüßlern
(oben S. 34, i) sei nebenbei erinnert. Daß das Metrum durch
diesen ausgeprägten Kontrast einen sehr pikanten Reiz ge-
70, 4] Die lyrischen Vekse des Hokaz. 7 7
winut, wird man uachempfiudeu, und wer will, mag darin ein
Symbol für den inhaltlichen Kontrast sehen, auf dem sich
das Gedicht aufbaut: dann kann man sogar die Abweichung
im letzten Verse in Lycias\proriperet\caUrvas, als gewollt,
weil mit dem Inhalt harmonierend ansehen: ich traue Horaz
derartiges rhythmisches Raffinement zu. »
Als Ganzes ist die Strophe ein treffliches Beispiel dafür,
wie Horaz, ganz unabhängig von einer theoretischen Analyse,
dem metrischen Material frei schaltend die Form gab, die
seinem rhythmischen Empfinden zusagte. Mag mau dies
Empfinden teilen oder nicht, bewundernswert auf alle Fälle
ist es, wie der Dichter das sprachliche Material beherrschte,
so daß nicht ein Wort den mannigfachen Zwang verrät, den
er selbst sich auferlegt hatte.
5. Der alkaisclie Elfsilbler.
Unmittelbaren Anschluß an das lesbische Vorbild wird
man nirgends zuversichtlicher erwarten, als in der Strophe,
die xar ^ ii,oxi]v die des Alkaios ist: der war ja wirklich, wie
Horaz selbst es sagt und wie sich immer deutlicher heraus-
stellt, sein eigentlicher Leitstern auf dem Felde der Lyrik,
und von heUenistisch-römischen Zwischenstufen ist uns wenig-
stens bei dieser Strophe nichts bekannt, anders als bei der
sapphischen Strophe, bei Asklepiadeen und Glykoneen. In
der Tat hat, was zunächst den Elfsilbler angeht, Horaz nur
alle die bei Alkaios noch schwankenden Bestimmungen des
Versbaues consequent in der Richtung normalisiert, die bei
jenem schon deutlich überwog. Unter 48 Versen des Alkaios,
die uns ein Urteil verstatten, weisen i"], also ca. % Wortein-
schnitt an der Stelle auf, an der Horaz die feste Cäsur
ansetzte^); die übrigen verschieben den Einschnitt mit
i) Wenn der Dichter des alten attischen Gedichts AP XIII 28
(behandelt von Wilamowitz Hermes 20, 62 = Sappho u. Simon. 218) sei-
nen Epoden bilden darf g_u_o _wu_-u^_u__, also das erste Glied
des alkäischen Elfsilblers mit dem alkäischen Zehnsilbler verbindet,
80 hat er den Elfsilbler offenbar schon gehört wie Horaz.
78 RiciiAui) Heinze: [7<^^ 4
ganz wenigen Ausnahmen eine Silbe weiter. Das wird lloraz
wie (las Schwanken von männlicher und weiblicher Cäsur im
dritten Fuße des Hexameters aul"«r(>ralit, den Vers als deut-
lich zweigliedrig empfunden haben: den Einschnitt nach
der vierten Silbe, durch die der Vers etwa in drei Metra
>j_>j_[__wuj.w- zerfällt werden könnte, hat Alkaios, außer
wenn ein Mono sy Ilabon folgte, fast vf'Ulig vermieden (sehr
im Unterschied, nebenbei bemerkt, zum sapphischen Elf-
silbler, wo .der Einschnitt nach der vierten Silbe sogar recht
beliebt ist). Die fünfte Silbe ist zwar bei Alkaios noch an-
ceps, aber doch in der Regel lang: icli zähle in 45 Versen
nur 6 Kürzen. Bei Horaz ist sie durchweg lang, mit einer
einzigen Ausnahme (III 5, 17), die ich nicht anzutasten wage,
und die immerhin, wenn sie zu Recht besteht, beweist, daß
Horaz sich der Möglichkeit kurzer Messung bewußt war. Die
erste Silbe ist bei Alkaios zwar gleichfalls überwiegend lang,
aber es kommen doch auf 31 kenntliche Fälle 8 Kürzen:
dem hat Horaz Rechnung ^getragen, indem er, ein ganz
seltener Fall in seiner metrischen Praxis, hier gleichfalls die
Kürze als berechtigt anerkannte, freilich selten genug (ig mal,
keinmal in Buch IV) zuließ: die Erscheinung wiederholt sich,
gleichfalls Alkaios zu Liebe, im Neunsilbler derselben Strophe.
Die Derivationstheorie läßt den Vers aus einem jambi-
schen Kolon und dem zweiten Gliede des Asklepiadeus, also
daktylischem oder choriambischem zusammenwachsen, d. h.
sie geht von der festen horazischen Cäsur aus: mit dem
Einschnitt nach der sechsten Silbe hätte sie sich natürlich
ebensogut abgefunden. Zur Erklärung der Länge der fünften
Silbe trägt sie vollends nichts bei: die jambische Messung
hätte hier gerade eine syllaba anceps erfordert. Gegen die
daktylische Messung der zweiten Hälfte gilt, was ich oben
beim Asklepiadeus sagte.^)
i) RicHARDSoN, Horace's alcaic stroplie (Univ. of California publi-
eations, class. philol. vol. I p. 175%., 1902) hat gemeint, von den hora-
zischen Worttchlüssen den Charakter des Verses als 'epionischen' Tri-
nieter (y _ y _ | _ _ uw | _ >. l_) ablesen zu können; ich gehe hiernuf nicht
70,4] Die lyrischen Verse des Horaz. 79
6. Der alkäische Neunsilbler.
Im dritten Verse der alkäischen Strophe hat Horaz, wie
zuerst Lachmann (in C. Frankes Fasti Horatiani [Berlin
1839] p. 238 f.) bemerkt hat, Wortende nach der vierten Silbe
außer nach einem Monosyllabon, Wortende nach der fünften
Silbe außer vor einem Monosyllabon vermieden. An klaren
Ausnahmen von dieser Regel gibt es, was die vierte Silbe an-
langt, in den 317 Versen nur eine, I 26, 1 1 : hunc Lesbio sacrarc
pledro. Dasselbe Gedicht hat im Neunsilbler v. 7 Einschnitt
nach der fünften Silbe, im Zehnsilbler v. 12 die, wie wir
sehen werden, gleichfalls sehr seltene Gliederung _ w ! w _ u '
u_ju__, im Eifsilbler v. 6 die unbeliebte Stellung zweier
Monosyllaba vor der Cäsur. Alle diese Abweichungen von der
Norm innerhalb von 12 Versen sind gewiß nicht Zufall; aber
auf frühe Abfassung der Gedichte möchte ich sie nicht (mit
Lachmann und Kiessling, denen ich mich bisher ange-
schlossen habe) zurückführen; ein so frühes Gedicht wie
I37 weist von allen diesen Besonderheiten keine auf Die
metrische Form lehrt uns auch hier, den Ton des Gedichts
richtig erfassen: es ist ein lebhaftes Impromptu, plötzlicher
Eingebung entsprungen, ein energisches, freudiges Sichauf-
raffen aus tristitia et metus: da taugt kein ebenmäßig feier-
licher Gang des Verses. Anders steht es um eine zweite schein-
bare Ausnahme, 113,27
sors exitura \ et nos in aeternmn
exilium impositura cymhae.
Da ist der Einschnitt durch die Elision überbrückt: aber die
Verse sollen überhaupt nicht normal klingen: vier Mono-
syllaba, dazu noch drei einsilbige Präpositionen in Zusammen-
setzung, drei Synalöphen, darunter die nur noch III 29, 35
begegnende zwischen dritter und vierter Zeile dieser Strophe,
ein, da ich seine Methode für garz verfehlt halte, und bemerke nur,
daß er den fundamentalen Irrtum begeht, die in allen lateinischen
Versen durchgehende Abneigung gegen Stellung eines Monosyllabum
vor der Cäsur zu ignori'ren.
8o liiciiAKi) Hkinzk: [70, 4
endliclulie ungewöhnliche Gcistiiltiin«ir des leUton Verses (s. unten
S. 86) — diese sich häufenden lleninuini,aMi des Rhythmus
sind beabsii'litjoft: sie sollen den Todes^edankeu wie mit wuch
tigen Schlägen iu stoß weis artikulierter Rede einhämmern.
Wortschluß nach der fünften Silbe vor mehrsil))igem
Wort ist etwas häufiger, aber doch auch nur 10 mal zugebissen:
I16, 3 pones iamhis, sive flamma
sive inari lihct Hadriano.
1113,27 Alcaec plectro, dura navis,
dura fugae mala, dura hdli.
II 14, II enavi(/anda, sive reges
sive inopes erimus coloni.
1119,7 laetalnr. eulioe! parce Liher,
parcc gravi metucnde thyrso.
ebd. 1 1 cantare rivos atquc Inmcis.
ebd. 19 nodo coerces viperino.
I 26, 7 gaudes, apricos necte flores.
129,11 pronos reldbi posse rivos.
I35>^^ regumque matres harharorum et
II 1 , 1 1 res ordinär is, gründe tnunus
Cecropio repetes cothurno.
In den drei ersten Fällen ist, wie man sieht, der Wunsch
maßgebend gewesen, mit hervorgehobenem Wort, das sich
zu Beginn des folgenden Satzgliedes wiederholt, kräftig ein-
zusetzen. W as es zu bedeuten hat, daß in II 1 9 sich die
Fälle häufen — der Vers hat in den acht Strophen über-
haupt nur einmal die sonst bevorzugte Gestalt — vermag ich
nicht zu sagen. Über I 26 ist oben gesprochen; in I 29, 1 1
kann man iu den drei aufeinanderfolgenden trochäischen
Schlüssen malende Absicht erkennen.
Fallen nun so die Einschnitte nach dem vierten und
fünften Fuße so gut wie ganz weg, so ergibt sich ohne wei-
teres, daß die häufigste Gestalt des Verses sein wird: _-u|
^^ju--^): sie findet sich mit dreisilbigem Wort in der Mitte
I) Die verschiedenen Grestaltungen des ersten und dritten Gliedes
bezeichne ich nicht, da sie ohne Interesse sind. Monosyllabum am
70, 4j Die lyrischen Verse des Horaz. 8 1
143 mal, mit Monos. + Disyll. 37, mit Disyll. + Monos, 27,
insgesamt 207 mal, also in % aller Verse. Demnächst ist mit
viersilbigem Wort (a) oder dreisilbigem + Monos. (b) zu er-
warten __ |o.__i_ |u__ (a: 29, b: 9 mal) und __u|_|__ul__
(a: 37, b: 11 mal). Die ganz wenigen Fälle von fünf- und
eechssilbigen Wörtern können hier außer Acht bleiben. Den
drei Hauptformen aber steht Horaz nicht ganz indifferent
gegenüber, so daß ihre relative Häufigkeit sich nur nach der
Häufigkeit der drei- und viersilbigen Worte richtete: die im
ganzen naturgemäß überwiegende Form _ _ u j | '-' - - ist in
den 53 Versen von Buch IV 41 mal, also in ca. ^5 der Fälle
vertreten, in den 72 Versen von HI 1—5 5 4 mal, also in %
der Fälle ^), in den acht Versen des Siegesliedes I37 7 mal 5
dagegen in den acht Versen der bacchischen Ode II 19 und
in den sechs Versen des lebhaft bewegten sympotischen Lieds
I27 nur je i mal. Man sieht, in feierlicher Stimmung, wo
des Dichters Herz nicht turbidum laetatur, sondern sich in
bewußter Klarheit erhebt, da ist die vöUig symmetrische
Gliederung des Verses in drei gleiche Teile mit ihrem Wech-
sel von weiblichem und männlichem Ausgang der entsprechend-
ste Ausdruck der Empfindung.
Die monosyllabischen Ausnahmen nun fordern geson-
derte Betrachtung. Daß nach der vierten Silbe Einschnitt
nur statt hat, wenn diese Monosyllabum ist (47 mal), hat na-
türlich nur dann Sinn, wenn dabei der Einschnitt so gut wie
ganz verschwindet, d. h. das Monosyllabum darf kein eigenes
Gewicht haben, vor allem nicht etwa inhaltlich das Vorher-
gehende abschließen. In der Tat finden wir an dieser Stelle
niemals eine Nominal- oder Verbalform, ganz selten Prono-
Versschluß findet sich 8 mal, nur imal {nee II 7, 19) ohne Verschleifung,
6 mal et, i mal in: also fast nur die leichtesten Formen; in Buch IV
keinmal.
i) Dagegen in den 12 Versen von III 6 nur 6 mal: ein unschein-
bares metrisches Indicium, das die aus dem Inhalt zu erschließende
seitliche Sonderstellung des Gedichtes bestätigt: es ist aus anderer
Stimmung geboren als i — 5.
Fhil.-hlBt. Klaese 1918. Bd. LXX. 4. 6
82 RicuAKu Heinzb: L?«^»*
luiiiii: 2 mal (juae zu Beginn des Reliitiv8iit/08, i mal mc nach
starker Interpunktion (I31, 15), i nuvl ebenso idem mit Syna-
löphe (111 4, 67); im übrigen Präpositionen (18 mal) und
Partikeln, die zumeist nicht ein neues Kolon einleiten, wo-
durch ein gewisser Nachdruck auf sie fiele, sondern parallele
Glieder eines Kolons verbinden oder trejinen, oder eng zum
folgenden Wort gehören (wie dcvota nun vxiinxit arbos, por-
Uisque non clausas, consalquc non unius (mni u. dgl.).
Um die (40) Monosyllaba an sechster Stelle steht es
anders. Zwar fehlen auch hier Nominal- und Verbalformeu;
aber das Relativpronomen erseheint 6 mal, das Personalpro-
nomen und PVagepronomen je 2 mal, Präpositionen nur 2maP);
auflallend häutig stehen die Pronomina oder die Partikeln
non, nee, num, iam, seu anaphorisch, so daß ein gewisser
Nachdruck darauf liegt, oder es leitet die Partikel mit Be-
tonung ein Satzglied ein^); im ganzen hat man bei dieser
Anordnung deutlich den Eindruck, daß der Vers durch die
Cäsur nach der fünften Silbe in zwei Teile zerfallt.*) Auf
den ersten Blick kann es seltsam scheinen, daß Horaz, der
im aligemeinen diese Cäsur vermeidet, sie da, wo er sie zu-
läßt, geflissentlich durch eine Siunespause verstärkt. Aber
gerade dieser scheinbare Widerspruch verhilft uns zum richti-
gen Verständnis der ganzen Erscheinung: was er vermeidet ist
im Grunde mehr noch als die Cäsur der schließende Doppel-
i) II 13, 3 produxit arbos, in nepotum. IV 9, 23 exeepit ictus j)ro
pudicis. Der dritte Fall wäre 1 27, 19 quantu lahorus in Charybdi:
aber hier ist die Überlieferung lahorahas in jeder Beziehung besser.
2) Z. B. II 17, 15 diveUet umquam: sie potenti lustitiae placi-
tumqiie Purcis; III 6, 47 nos nequiores, mox daturos progeniem viHo-
siorem; III 29, 43 dixisse 'vixi\ cras vel atra nube polum PaUr
occupato.
3) Man lese etwa nacheinander aus I 16 pones iambis, j sive flam-
ma; nmi Liter aeque, | non acuta; nee saevus ignis \ nee tremendo ,
stetere causae, \ cur perirent. Das Gedicht mit seinem Rückblick auf die
dulcis iuventa gehört gewiß nicht zu den frühen; daß gerade hier die
Cäsuren des Trimeters sich so häufen wie in keinem anderen Gedicht,
liegt vielleicht daran, daß eben von Jamben die Rede ist.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 83
trochäus; deshalb dürfen die abgetrennten vier Scblußsilben
nicht _ ^' _ u oder _ u | _ w ', müssen vielmehr _ | ^ _ _ gruppiert
sein, und um das zu betonen, darf das Monosyllabum nicht,
wie es die Präposition tun würde, mit dem folgenden Worte
fast zur Einheit verschmelzen, sondern muß sich möglichst
stark abheben: das wird am besten dadurch erzielt, daß es,
durch die Anapher oder sonstwie betont, ein neues Satz-
glied einleitet. Wir werden demnach die eingangs wieder-
gegebene LACHMANNsehe Regel zu formulieren haben: Horaz
vermeidet es, einen doppelten Jambus am Anfang und einen
doppelten Trochäus am Ende des Verses durch Wortschluß
so abzuteilen, daß sie als solche ins Ohr fallen. Theoretische
Analyse des Verses kann zu dieser Beschränkung nicht ge-
führt haben, mag er nun für den Dichter der Theorie nach
ein hyperkatalektischer jambischer Dimeter oder ein trochä-
ischer Dimeter mit Vorsilbe gewesen sein: Horaz hat im
jambischen Dimeter der Epoden den diiambischen Eingang
nicht streng vermieden^), obwohl die dadurch erzeugte Hal-
bierung des Verses ein starkes Moment dagegen sein mußte,
ebenso nicht im Trimeter, obwohl es dort die Penthemime-
res, vor die so ein Monosyllabum zu stehen kam, widerriet^)
i) In den 213 üimetern findet er sich I4mal.
2) In den 311 Trimetern 20 mal bei Penthemimeres, 7 mal bei
Hephthemimeres. Die Ausetzung der Cäsur ist freilich mehrfach zwei-
felhaft. Horaz hat, wenn er in die dritte Senkung ein Monosyllabum
(außer nach Monosyllabum) stellte, in der Regel auch nach dem folgendem
Trochäus eingeschnitten, so daß Hepbthemimeres möglich ist, vorzu-
ziehen gewiß in Fällen wie 5, 33 longo die bis terque mutatae dapis oder 61
quid accidit? cur dira barbarae minus; 8, 3. 7. In den seltenen Aus-
nahmen ist das Monos. durch die Satzgliederung eng an das vorher-
gehende angeschlossen: 5, 5 per liberos te, si vocata partubus ; 7, 11 neque
hie lupis mos, nee fuit leonibus ; 17,25 urget diem nox et dies noctem
neque est . .; dazu auch zu stellen quid amplius vis? 0 mare et terra
ardeo. In 6, 1 1 cave, eaoe, nawque in malos asperrimus ist die Cäsur
durch die nach dem Ausruf erforderte große Sprechpause illusorisch
gemacht; in dem leichtfüßigen Verse 2,-35 pavidumqtie leporem et ad-
venam laqueo gruem soll sie offenbar verschwinden; für 5,87 in Haupts
Fassung venena maga non fas nefasque, non valent wüßte ich keine
6*
B\ Richard IIkinze: [70,4
— die HejdiUu'niinieres ist ja sehr selten — ; im liypeikatal.
Diiueter, wo beide Gegeii^rüude fnrtH«'leu, müßte luiin er-
warten, jenen Eiiigaiij^ noch viel (if'ter zu linden, lloraz liat
auch im katalektisehen Trimeter der Oden (II 18) den tri-
trochäischen Ausiran<:^ nieht vermieden {scdf desÜnafa, tendis
aequa irllus), so weni}^ wie im jambischen Dimeter und Tri-
meter der Epoden den diiambischen, wenn dieser ein Wort
füllte'); im katalekt. troch. Dimeter von Od. 11 18 lallt auch
diese Bedinifung fort {nihil supra, dies die, slrais domos,
fcrens deos).
Vergleichen wir nun Alkaios, so wird uns sofort klar,
woher die horazische Regelung stammt. In den 20 Versen
und \ ersbruchstücken, die ich mit einiger Sicherheit glaube
heranziehen zu dürfen, findet sich einmal (SL. 26, i ttüv ^öqxlov)
Einschnitt nach der vierten Silbe (außer nach Monosyllabon),
einmal (fr. 34, 5 iiihyQov, avtaQ a^cpl x6q6<x) nach der fünften
(außer vor Monosyllabon). Normal ist Einschnitt nach der
dritten Silbe: er ist außer im jenem Verse SL. 26, i nur in
einem nicht ganz sicheren Falle (SL. 4, 11: [^-w] /uijtoj '|«v-
og aXXag) vernachlässigt. Der Einschnitt nach der sechsten
Silbe ist eben so häufig wie der nach der siebenten. Also:
Horaz hat, indem er den allzu auffallenden jambischen Ton-
fall zu Anfang, den allzu auffallenden trochäischen am Schluß
vermied, den Rhythmus seines Vorbildes genau nachgebildet;
weitergebildet nur darin, daß er, wenigstens in einer gewissen,
besonders hohen Gattung von Oden, ^Normalisierung auch des
zweiten Einschnittes und damit regelmäßige Drittelung des
Verses anstrebt. Möglich, daß er, was den Einschnitt nach
der dritten Silbe angeht, von der alkäischen Strenge etwas
nachgelassen hat: das läßt sich mit unserem Material nicht
I
Absicht des ganz ungewöhnlichen Rhythmus anzugeben (die Trennung
der Hebungssilben von der folgenden Senkung wäre an eich nicht an-
stößig: 2,23; 67).
i) In ep. I: periculum, euperstife, paravero und weiterhin offen-
bar ganz ohne Beschränkung; zwei jambische Worte nur i, 15 iuvetn
meo, 2, 7 decus precor, 9, 33 puer scyphos, 16 66 datur fuga.
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 85
sicher beurteilen, aber die Hauptsacbe wird dadurch nicht
berührt.*)
Normalisiert hat Horaz auch hier die Quantitäten der bei
Alkaios noch schwankenden Silben. Die erste Silbe ist bei Alkaios
15 mal lang, 2 mal kurz: bei Horaz verschwindet die Kürze fast
TÖllig: nur neunmal tritt sie noch auf; in den Römeroden einmal,
im Buch IV keinmal. Die fünfte Silbe ist bei Alkaios zehnmal
lang, siebenmal kurz: Horaz hat auch dies sich zu Nutze ge-
macht, um den jambischen Fluß zu hemmen, weniger stark ins
Ohr fallen zu lassen; die Silbe ist bei ihm ausnahmslos lang.
i) Ganz im Gegensatz zum alkäischen Neunsilbler bat Horaz in
dem um zwei Silben längeren jambischen katalektischen Tri-
meter (I 4 und U 18), der wirklich jambischen Tonfall haben soll, die
Normalcäsur des akatale-ktischen Trimeters sogar konsequenter als in
diesem selbst durchgeführt: keiner der 30 Verse ohne Penthemimeres.
Das gleiche gilt von der großen Mehrzahl der mir bekannten griechi-
schen Beispiele, darunter allen älteren und allen, in denen der Vers
als Epodos jenes unten S. 88, i besprochenen Asynarteten auftritt: Archil.
fr. 101; 103, 2; ii6. Alk. fr. 102. Sappho fr. 103. Alkman fr. i, 3; 4;
6; 7; 36, I. 2; Theokr. ep. XXI 3. 6. Ps. Simon. AP. XlII 20, 2. 4; 26,
2. 4. Asklepiades ebd. 23, 4. 6, Phalaikos ebd. 5, i. 4. 5. 6, cäsurlos da-
gegen 2. 3. 7, Asklep. a. a. 0. 2. Der gleiche ithyphallische Ausgang der
Verse in od. 1 4 ist also schon bei Archilochos und vermutlich auch
bei der Mehrzahl der vswtbqoi, die nach Hephaest. 50, 7 den Asynarteten
80 oft, und gewiß gern in der gleichen Verbindung anwandten, zu
hören gewesen. — Die erste Silbe des Verses ist in I 4 (außer v. 2)
lang, dagegen in 11 18, nach dem trochäischen Verse non ebur neque
aureuni, kurz (außer in v. 6 und 34); jenes ist ein archilochisches Sy-
stem, dies nach Caesius Bassus 270, 21 sumptum ab Alcaeo et ab illo
tractatum frequenter. So bestimmt wie üsener (Altgriech. Versbau 108,
21) möchte ich freilich nicht behaupten, daß die horazische Differen-
zierung auf die beiden Vorbilder zurückgebt: dazu reicht unser Mate-
rial — drei archilochische, ein alkäischer Vers — nicht aus; aber es
ist wohl denkbar, daß schon Alkaios den leicht beschwingten Rhyth-
mus des Prooden sich gern in reinen Jamben fortsetzen ließ; nach dem
gewichtigen Asynarteten war dazu kein Anlaß. Horaz hat in H 18 den
jambischen Fluß noch dadurch gefördert, daß er im ersten wie im letzten
Vers, dann auch v. 14 und 38 die fünfte Silbe kurz sein läßt, die in
I 4 stets lang ist: aus unseren griechischen Beispielen müßte man auf
völlige Freiheit der Quantität schließen.
86 Ki<niAui) Hi:iN/.i:: [7^^. 4
7. Dor alkaiscbo Zehnsilblor.
loh verzoiclme zunliohst die HiiuH^keit der für die Vers-
gliederunij; wichti«;en Einsclinilte in den 317 Versen:
1) _ wu _ wu_>^ ' _ _*) 163 mal
2) _uw_| wu_ ! w__*) 74 „
3) _«.wl_^w_lw__») 28 „
4)_uuj_ww_u|__) 23 j,
5) -w^j-juul.u-- ) 12 „
Unter den verbleibenden 17 Versen haben sechs Einschnitt
nach der fünften Silbe und mehrsilbigem Wort®), nur einer
beginnt mit Daktylus + Daktylus^); die übrigen Singulari-
täten werden vielsilbigen Worten, z. T. Eigennamen verdankt.
i) In der Mitte 127 mal viersilbiges Wort, 33 mal w^: _u, zwei-
mal w I i-- _ w, einmal ^ j 0 | _w. Die verschiedenen Zusammensetzungen
des ersten Gliedes notiere ich hier und bei den folgenden Schemata
nicht; den beoinnenden Choriamben bildet QO miil, also bemerkenswert
häufig, viersilbiges Wort. Wenn die vierte Silbe ein Monosyllabum ist,
kann man schwanken, ob der Fall zu 1.2 oder zu 3. 4 /u rechnen ist;
ich habe diese 23 Fälle sämtlich zu den bevorzugten Formen i. 2 ge-
zählt. Lehrreich hierfür sind die Römeroden IIT 1 — 5 (denn 6 steht auch
hier für sich, s. ob. S. 8t, i). In den 72 Vei-sen fällt der Einschnitt G4 mal
nach der vierten Silbe, wenn man die acht Monosyllaba zum Daktylus
zieht; in weiteren vier Fällen ist die vierte Silbe Präposition im Kom-
positum, so daß es wohl richtiger wäre, den Einschnitt auch da als den
normalen anzunehmen. Die übrigen vier Fälle treffen auf Eigennamen.
2) Das Mittelglied dreisilbiges Wort, nur viermal uw|_, einmal
j I v./ _. Das Schlußglied mit sechs Ausnahmen (w | _ _) dreisilbiges Wort.
3) In der Mitte choriambisdies Wort, nur dreimal _ w | c^ _ , ein-
mal _ j^vj_. Am Schluß dreisilbiges Wort, nur zweimal u|
4) In der Mitte fünfsilbiges Wort, nur einmal (II 13, 8) _u!vj_i-'.
5) Am Schlus.se stets viersilbiges Wort.
6) I 9, 8 0 ThaJvtrclie merum diota (Eigenname); 26, 12 teque tuas-
que decet sorores (zweifelhaft wegen que^ übrigens s. ob. S. 79); 31, 16
me eichorea levesque »lalvae; II 1, 36 quae caret ora cruore nostro (vier
weibliche Einschnitte: malend?) 3, 8 anteriore nota Falerni; IV g, 8 Ste-
sichorive grares Camenae: hier kann Einschnitt vor ve gehört sein.
7) IV 4, 72 nominis Hasdrubale interempto: Eigenname, und in die
folgende Hebung. In derselben Rede Hannibals der metrisch unklare
Vers 52 f allere et effugere est triumphus, wohl _>>/u_|wu_jw
k
70, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 87
Aus diesen Tatsachen ergibt sich: vermieden hat Horaz
einen Einschnitt nach der fünften') oder sechsten Silbe, der
den Eindruck einer Cäsur machen könnte: er hat den Vers
ebenso wenig wie den Neimsilbler als zweiteilig empfinden
lassen wollen^); darin sollten sich beide Verse von den Elf-
silblern ebenso abheben wie etwa Pherekrateus und Glykoneus
von zwei die Strophe beginnenden Asklepiadeen.
Bevorzugt ist Einschnitt nach der zweiten Hebung, also
choriambisch lautender Eingang: fast Yg aller Verse weisen
ihn auf; die große Zahl der hierzu gesuchten choriambischen
Worte läßt das besonders stark ins Ohr fallen. In den Fällen
aber, wo Wortende nicht nach dem Choriambus, sondern nach
dem Daktylus eintritt, ist, abgesehen von den Eigennamen,
die auch hier für sich stehen, ganz überwiegend die vierte
Silbe Präposition im Kompositum: fltimina constiterint acuto
I 9, 4 usf.; ich nehme an, daß Horaz auch hier den Eingang
als choriambisch gehört hat: an abweichenden Fällen bleiben
dann im ganzen nur zehn, die also klärlich als Ausnahmea
erscheinen.^) Es folgt mit Vorliebe Einschnitt nach der achten
Silbe, also weiblich, mit dem ersten kontrastierend; wieder
weist die große Zahl der an diese Versstelle gesetzten vier-
silbigen Worte (uu.v..) auf die Absicht des Dichters hin, den
Einschnitt hörbar zu machen. In den Oden III 1 — 5 ver-
binden sich beide Einschnitte 48 mal unter 64 Fällen des
ersten (vgl. ob. S. 81): _ww-. j uw_ w j_o ist also die für den
erhabenen Ton festgelegte Normalform, wie __u' 1^--
beim Neunsilbler.
i) Im ganzen 14 mal, darunter fünfmal nach Monosyllabum (ein
que eingerechnet).
2) Die beiden möglichen Cäsuren wären allerdings auch an sich
für Horaz mißfällig gewesen (Maas a. a. 0.), da dann beide Versteile
weiblichen Ausgang gehabt hätten. An sich ist der Einschnitt nach
der sechsten Silbe nicht gemieden (52 mal): nur ist Einschnitt nach der
vorausgehenden Hebung Voraussetzung, wodurch die beiden Kürzen zum
folgenden geschoben werden.
3) I 29, 4 regibus horribüique Medo\ 35,4. 36; II 1,4; 13,8; 17,8;
19, 24; m 6, 28; 21, 8; 23, 12.
88 RiCHAun lIi:iN/.r,: [7^,4
Die antiken lloraziuetrikor haben den Vers daktylinch
interpretiert; neuere tun es iliueu nach. Die Betrachtung des
Versschemas kann das auf den ersten Blick zu empfehlen
scheinen; die Betrachtung der Verse selbst widerspricht, la
den daktylischen Versen und Kola der Oden und Epoden ist
daktylisches Wort im Eingang häufig, etwa in Va der in Be-
tracht kommenden Fälle gesetzt — wenn man die Daktylen
mit folgendem MonosyUabon hinzu rechnet, sogar in über Yj
der Fälle; choriambisches Wort dagegen reclit selten: 14 mal
in 156 Fällen, darunter fünf choriambische Eigennamen. Im
Zehnsilbler dagegen steht daktylisches Wort nur in knapp Vg,
und mit folgendem Monosyllabuni in stark V5 der Fälle; un-
zweideutig choriambischer Eingang ist dagegen, wie wir sahen,
otfensichtlich angestrebt. Die Eigenart des Verses fällt be-
sonders stark ins Ohr beim Vergleich mit dem daktylischen
katalektischen Tetrameter, von dessen rein daktylischer
Form er sich ja äußerlich betrachtet nur durch das Fehlen
einer Kürze unterscheidet. Aber Horaz hat den Zehnsilbler
zunächst eher im Gegensatz zum Tetrameter gebaut, als mit
dem Wunsch, den gleichen Rhythmus zu erzielen; die Verse
stehen einander so fern, wie es bei der fast völligen Gleich-
heit des metrischen Schemas möglich ist. Erst allmählig hat,
soweit unser geringes Material einen Schluß zuläßt, der Zehn-
silbler Einfluß auf den Tetrameter gewonnen — , nicht um-
gekehrt — , ohne doch seine Eigenart ganz auf ihn zu über-
tragen.^)
I) In dem ältesten der betr. Gedichte, ep. 12, in dem die Verse
fast rein daktylisch (nur drei Spondeen in 13 Versen), also dem Zehn-
silbler besonders ähnlich sind, ist durch die Worteinschnitte der dakty-
lische Rhythmus noch stark hervorgehoben: fünfmal Wortschluß nach
dem ersten, ebenso oft nach dem zweiten (darunter dreimal ohne Wort-
echluß in der zweiten Hebung), ebenso oft nach dem dritten Daktylus;
Wortschluß nach dem ersten Choriamben, der in den Zehnsilblern so
stark überwiegt, nur fünfmal in 13 Versen, darunter ein choriam-
bisches Wort. Wie nach der sechsten, ist auch nach der fünften Silbe
Einschnitt zugelassen (zweimal). Man sieht, hier ist so gut wie alles,
was verschieden sein kann, verschieden. In od. I 28 steht der Tetra-
70, 4] Die lyrischen Verse des Horäz. 89
Im Negativen nun, der Vermeidung eines cäsurälmlichen
Einschnitts in der Versmitte, hat Horaz die bei Alkaios deut-
lich hervortretende Tendenz weiter verfolgt. In den 1 8 Fällen,
meter dem Zebnsilbler schon etwas näher: Wortschluß nach der fünften
(viermal iu 18 Versen) und sechsten Silbe (dreimal) ist zwar auch hier
nicht vermieden, aber der letztere ist nur einmal ohne vorhergehenden
Hebungsschluß, und dieser findet sich in der Hälfte der Verse (zweimal
choriambisches Wort zu Beginn); die Normalform des Zehneilbiers
_v-"-'_|w^_u|__ ist also noch nicht angestrebt. Über die Hälfte der
Verse (zehn) haben Wortschluß in der dritten Hebung, so daß der Ein-
druck des ersten Kolons eines normalen Hexameters entsteht: im Zehn-
silbler überwog, wie wir sahen, vielmehr der trochäische Einschnitt
nach der achten Silbe. — Endlich in I 7 ist der Tetrameter dem Zebn-
silbler noch näher gerückt: keinmal Einschnitt nach zweitem Troch.,
keinmal nach zweitem Dakt. (mit vorhergehendem Hebungsschluß), 14 mal
in 16 Versen nach dem ersten Choriamben, nur viermal Penthemimeres.
Freilich auch hier nur zweimal choriambisches Wort im Eingang, und
in der Mitte des Verses nur einmal die für den Zebnsilbler so charakte-
ristische Wortform vu_u. Man wird nach dem allen I 28 als Mittel-
stufe zwischen ep. 12 und od. I 7 ansehen und annehmen, daß der
alkäische Vers allmählich immer stärker den daktylischen beeinflußt hat.
— Der akatalektische daktyl. Tetrameter, der den ersten Teil
des archilochischen Asynarteten bildet, ist, um dies hier anzufügen, ganz
gebaut wie der entsprechende Teil des Hexameters, d. h. häufiger Wort-
einschnitt nach dem ersten Daktylus (sechsmal in zehn Versen), keinmal
choriambisches Wort zu Anfang; sodann ausnahmslos caesura penthe-
mimeres, danach ganz überwiegend (wie in den Hexametern von I 7)
Spondeus (nur zweimal Daktylus). Auch die griechischen Beispiele
haben außer der Diärese nach dem vierten Daktylus (die nur AP. XHI
28, 9 vernachlässigt ist) noch Cäsur nach der dritten Hebung (Archil.
fr. 100; 103, 3; 114; 115. Kallim. igr. Theokrit. ep XX 2 ; XXI 4. Pha-
laikos AP XHI 27, 5 Ps.-Simon. fr. 148 AP. XIII 28 [s. ob. S. 77, i] in den
sechs Versen durchweg. Theodoridas AP. XIII 8) oder — seltener — dem
dritten Trochäus (Archil. fr. 103, i. Ps.-Simon. fr. 112 AP. VIII 26, i. 3.
Phalaikos AP. XIII 27, i. Theokr. ep. XX 4. XXI i): Horaz hat auch
hier die Penthemimeres durchgeführt, wie in den Hexametern der Oden,
unter denen nur vier, und den Epoden, unter denen nur sieben eine
andere Cäsur aufweisen. Von der offenbar auch bei den Griechen sel-
tenen Länge der letzten Silbe des Tetrameters (Hephaest. p. 50, 4, der
einen Vers des Archilochos zitiert; dazu Theokr. ep. XX 2) hat Horaz
natürlich abgesehen.
go Hi< MARI) TIicinze: [70,4
die uns für diesen ein Urteil erlauben, findet sich Worteudo
nach der fünften Silbe einmal (SL. 26, 2), und da nicht abso-
lut sicher; Wortende nach der sechsten Silbe, ohne daß solches
nach der vierten vorherginge, viermal (fr. 1 H, 4 vor Monosyll. ;
SL. 4, 20; 26, lO: Eigenname; 27, 13^ darunter zweimal dop-
pelter Daktylus, eine von Iloraz besonders streng vermiedene
Form. Also auch der Einschnitt nach der sechsten Silbe
scheint bei xMkaios unbeliebt äxewosen zu sein. Daijejjen hat
er, im Gegensatz zu lloraz, den Einschnitt nach der dritten
Hebung, also vor den drei letzten Sill)en, oft in Verbindung
mit solchem nach der zweiten Hebung, stark bevorzugt: unter
I Q Fällen fehlt er nur fünfmal. IToraz ist davon abgesanofen,
vermutlich weil der Vers dadurch für ein römisches Ohr zu
deutlich als daktylisches Penthemimeres -\- Bacchius ge-
klungen hätte: was eben vermieden werden sollte. Das Resul-
tat also ist, daß Iloraz das alkäische Vorbild im wesentlichen
treu, aber nicht ohne eignes Urteil befolgt hat; von Einwir-
kung der von den Derivationsmetrikern ihm zugeschriebenen
Analyse könnte höchstens insofern gesprochen werden, als sie
ihn veranlaßt haben würde, sie in seiner Gestaltung des Verses
nach Möglichkeit zu verdecken.
Ich fasse zum Schluß das Wesentliche zusammen, was uns
die Betrachtung der lyrischen Verse des Horaz gelehrt hat.
1. Von Einfluß einer metrischen Theorie ist keine Spur
vorhanden.
2. Horaz hat alles getan, um in seinen äolischen Versen
den Eindruck des jambischen, trochäischen und daktylischen
Rhythmus zu vermeiden oder abzuschwächen; eine Analyse
also, die seine Verse in Jamben, Trochäen und Daktylen auf-
löst, ergibt das genaue Gegenteil dessen, was der Dichter beab-
sichtigt hat.
3. Mit seiner Normalisierung der Verse steht Horaz im
allgemeinen Zuge der hellenistischen und römischen Verskunst-
10, 4] Die lyrischen Verse des Horaz. 9 1
4. In der Festlegung der im griechischen Verse freien
Silbenquan^täten hat Horaz die von seinen Vorgängern be-
vorzugten Quantitäten durchgeführt.
5. In der Ansetzung der festen Cäsuren und bevorzugten
Wortschlußstellen hat Horaz mit selbständiger Auswahl Ten-
denzen, die er bei seinen lesbischen Vorbildern oder in der
hellenistischen Lyrik bemerkte, weiter verfolgt und teils zu
Regeln, teils zu Gesetzen des Versbaus erhoben.
i
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologisch-historisclie Klasse
70. Band 1918 5. Heft
Heinrich Zimmern
Zum
babylonischen Neujahrsfest
Zweiter Beitrag
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1918
Vorgetragen für die Berichte am 3. Februar 19 17.
Das Manusliript eingeliefert am 9. November 19 18.
Druckfertig erklärt am 31. Januar 19 19.
^
Hermann Guthe
zum siebzigsten Geburtstag
(lo. Mai 19 19)
Carl Bezold
zum sechzigsten Geburtstag
(18. Mai 191g)
freundschaftlich gewidmet
/■
Im folgenden behandle ich, in Fortsetzung meiner früheren.
Arbeit^ „Zum babylonischen Neujahrsfest" (= ZbN)^, wieder
eine Anzahl von Texten, die erst im Laufe der letzten Jahre
erschienen sind und in engerem oder weiterem Zusammen-
hang mit dem babylonischen Neujahrsfest stehen.
Von assyriologischer Literatur, die in der Zwischenzeit zur Sache
erschienen ist, nenne ich außer solcher, die unten im Zusammenhang
der Arbeit zur Erwähnung kommt, und abgesehen von etwaigen seit
Kriegsausbruch erschienenen, mir nicht zu Gesicht gekommenen Äuße-
rungen in französischer, englischer und amerikanischer Fachliteratur,
hier chronologisch folgende: Haupt, Purim (BA 6, 2), 1906; ZDMG Oi
(1907), 276f.; Amer. Journ. of Sem. Lang. 24 (1908), 128; OLZ 1909,
65 £F. (zu akltu). — Kuglek, Im Bannkreis Babels, 1910, S. ]2ff. —
KoLDEWEY, Die Tempel von Babylon u. Borsippa, 191 1 (dazu Meissner,
OLZ 1912, 4i6ff.) — Frank, Studien zur babyl. Religion, 1911, S. 2iff.,
45 f., 82. — Baudissin, Adonis und Esmun, 191 1, S. 107 f., 376 ff., 447/.
u. sonst. — Langdon, Die neubabyl. Königsinschriften, 1912. — Jeremias
i) Erschienen als 3. Heft des 58. Bandes dieser Berichte vom
Jahre 1906. Im Hinblick darauf, daß ich öfter wegen angeblich schwie-
rigen Bezugs dieser wie auch anderer meiner in den Belichten der
Sachs. Ges. der Wissensch. erschienenen Arbeiten angegangen werde,
bemerke ich, daß sie alle leicht als Sonderhefte zu verhältnismäßig
niedrigem Preis aus dem Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, auf buch-
händlerischem Wege zu beziehen sind.
2) Von sonstigen in dieser Arbeit öfter verwendeten Abkürzungen
beachte folgende: BA ^ Beiträge zur Assyriologie. — CT = Cuneiform
Texts (British Museum). — KB = Keilinschriftliche Bibliothek. —
KTAR = Keilschi-ifttexte aus Assur religiösen Inhalts, hsg. von Ebeling.
- MDOG == Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft. — MVAG
= Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft. — OLZ = Orienta-
listische Literaturzeitung. — R == Rawlinson. — SBAW = Sitzungs-
berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften. — VAT = Vorder-
asiatische Abteilung. Tontafel. — ZA = Zeitschrift für Assyriologie. —
ZDMG = Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.
Phil.-hiBt. Klasse 191S. Bd. LXX. 5. I
2 Hkinku'ii Zimmkkn: \7^,S
Hiuuib. (i. altorii'ut. »ii'i.steskuUur, 1913, S. i^)'-, '"<'■», .5>-tr. Scmkii.
et DiKri.AKOY, Esajiil, 1013. — Wkionkk, (M,Z i )I3, 22 (l)etr. I'rozes-
Bionsschitf). — Sausowsky, OLZ i<)i?, iH^ ^^/.ii nktlu). Haupt, OI/Z
'*>'3^ 532 (zu akitu). -- Koi.ur.wKv, Dns wiodtMerBtelioiule Haliylon,
it)i3, S. 2^ ff. (l'ro/.essionsBtraße), S. 2iiutl'. (KKaijilii) — Wkihsiiacii, OLZ
i<)i4, n)3tf. [ZU Esiigila iiud Ktemeiiaiiki). - Jknskn, KU VI 2, i (1915),
S. 24 ff. (Texte zum Viabyl. Neujahrsfest). — Lanushkiuikk, Kultischer
Kalender, 11)15, S. 12 ff. (zu akltu). — Dklitzscii , Zu II(>rodot8 babyl.
Nacbrii'htou S. 97 1. (Sachau-Festsrhrift 1915). — Stkkck, Assiirl>anij)al,
lOK), 8. 82", 248**, 271", 3iO*. — SciiKOKDKK, DaH Paiithoüii dor Stadt
Iruk (SBAW 1916 XLIX), S. Ii86f. (zu bd akitu in Uiuk). — Un(jnai),
ZA 31 (1917), 43f. (zu aktlu). — Koldewey, MDOG Nr. 59 (1918) (zu
Ksajrila und Ktemenauki). — Domhart, OLZ 191 8, 161 ff. (zu Ktemen-
aiikil — Koi.DKWEv, Das Ischtar-Tor in Babylon, 1918. — Nicht be-
rücksichtiirt ist hierbei die Literatur über die eventuellen Vorläufer dea
babylonischen Neujahrsfestes, das Neujahrsfest der Bau von Lagas und
das Neujahrsfest der „Herrin Ton Isin", sowie die sich daran anschlie-
ßenden viel erörterten Fragen über den Jahresanfang und die Monats-
folge in der älteren babylonischen Zeit.
I. Leiden und Triumph Bel-Marduks an seiuein
Hauptfeste, dem Neujahrsfeste im Frühling.
Vor acht Jahren schrieb ich^: ,,Der eigentliche Ursprung
des Mardukneujahrsfestes in Babylon wird darin zu erblicken
sein, daß Marduk als ein Gott des Lichtes und der neuen
Vegetation für seine Verehrer im Frühlincr besonders in die
Erscheinung trat; und, sofern er eben auch Vegetationsgott
war, ist es sehr wohl möglich, wenn auch bis jetzt, soviel
ich sehe, inschriftlich noch nicht ausdrücklich zu belegen,
daß auch von Marduk, entsprechend wie bei Tamüz, ein Ver-
schwinden, ein Hinabgehen zur Unterwelt, und alsdann ein
Wiedererscheinen, ein Emporsteigen zur Oberwelt angenom-
men wurde." Desgleichen^: „Allerlei Anzeichen sprechen da-
für, daß in Babylonieu selbst die eigentliche Tamüzverehrung,
wenigstens im offiziellen Staatskult, mit der Zeit immer mehr
in den Hintergrund getreten ist, und Feiern, die ehemals dem
Tamüz galten, dann auf andere Götter, wie Nin-ib und na-
1) Zum Streit um die „Christusmythe" 48. 2) Ebenda 36.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 3
mentlich Marduk, übergegangen sind. So könnte sehr wolü
— sicher belegen läßt es sich freilich noch nicht — in dem
schließlich alle andern Feste überragenden und absorbieren-
den Neujahrsfeste des Marduk zur Zeit der Frühjahrs -Tag-
und Nachtgleiche auch ein altes Tamüzauferstehungsfest auf-
gegangen sein." Dieser damals von mir noch vermißte deut-
liche insehriftliche Beleg für einen Kult des verschwundenen
und wiedererschienenen Marduk, und zwar eben an seinem
Hauptfeste, dem Neujahrsfeste im Frühling, liegt nunmehr in
dem aus den Ausgrabungen in Assur stammenden Texte VAT
9555; veröffentlicht von Ebeling KT AR Nr. 143, vor.^ Hier-
bei handelt es sich, ganz ähnlich wie in der ZbN 127 ff. von
mir behandelten Tafel K. 3476 (CT 15, 44), um einen kom-
mentarartigen Text, worin einzelne Festkulthandlungen, z. T.
auch einzelne Kultörtlichkeiten, mythologisch ausgedeutet
werden. Wir erhalten dadurch etwa folgendes Bild von
mythologischen Vorstellungen, die sich an Festgebräuche beim
Mardukneujahrsfest knüpften:
(i) [Bei (Marduk) wird im „Berge" ^ festge]halten. = —
i) Dazu kommt vou Z. 27 ab bis Z. 64 ein ebenfalls aus Assur
stammendes, vielfach ergänzendes Duplikat, VAT 9538, auf das mich
Ebeling freundlichst aufmerksam machte, und das ich mit Erlaubnis
der Deutschen Orient-Gesellschaft für diese Arbeit verwerten konnte.
Der Originaltext dieses Duplikates wird in einem der späteren Hefte
von KTAR von Ebeling veröffentlicht werden.
2) Unter diesem „Berge" {hursän) ist der Weltberg zu verstehen,
worin die Unterwelt, das Totenreich sich befindet. Vgl. die KyflFhäuser-
Sage und Verwandtes. Zugleich gilt dieser „Berg^', genauer ein Haus
am Rande dieses Berges als Gerichtsstätte, wohl im Hinblick auf ein
auch für die ßabylonier beim Übersetzen über den Hubur-Strom vor
dem Eintritt in das Totenreich anzunehmendes Totengericht. Ein
solcher „Berg" {Imrsün) als Gerichtsstätte, wohl als das irdische Gegen-
büd des kosmischen „Berges" Qiurscin) begegnet wiederholt auch in
juristischen Urkunden (vgl. dazu Peiser, OLZ 191 i, 477 f.). Es ist an
den betreffenden Stellen (KB IJI i, 160, Kol. IV 38, V 4. 14. 17; KB
IV 88, Kol. IV 16; KB IV 168 Nr. II 6f.) davon die Rede, daß jemand,
um ein Urteil über ihn herbeizuführen, nach dem ,, Berge" (Irursän)
geschickt wiid, oder „der Berg" für ihn bestimmt wird, wobei er dann
I*
^ Hki.nuicii Zimmkkn: [70. 5
(2 ff.) Ein Göttorbote läiil't umher (rufend): „Wor
wird ihn herausführen?" |Üütt ] j^eht diihin, ihn heraus-
zufüliren.' - (6) Nach dem ,,Bert^e" geht er dahin, -
(7) (Er kommt /um) Hause am Räude des „Beroes", worinnen
man ihn verhört.^ — (8) ([Nabu]) kommt wegen des VVohl-
uuter Umstilndea \vu seiner Scljuld frei werden [zakü) kann. Wie
Peiser durch Herauziebuu«,' der Stolle V 11 47, 3"f- „am Ufer des
Fluß(,gott)eB, woselbst der Streit der Leute geklärt wird" (pui itr
<'Kuri a^ar den ttiüe ibbirru, vgl. dazu Waltueu, Altbab. (ierichtsw.
226) wurde ich aus dem Sklavenzustande befreit, mit der Erklärung
ite ^Näri = hursän , richtig gesehen hat, handelt es eich dabei um
Gottesurteile, und zwar ursprünglich wenigstens um die Wasserprobe.
Falsch ist aber, wenn Pkiskh daselbst die Lesung hur-sa-an durch terlu
sa ili ersetzen zu mü-^seu glaubt. (Die endungslose Form von hursän,
an der Peiskk Anstoß nimmt, erklärt sich einfach dadurch, daß hursän
bereits zu einer Art Eigennamen geworden ist.) Vgl. auch noch aus
der assyrischen Brietliteratur die Stellen über hursän, hursän (Hakper,
Letters Nrr. 49 Rs. 4; 390 Rs. 16; 550, 10; 896, lo; 965 Rs. 12. 14; 1202
Rs 14) bei Ylvisaker, Zur babyk u. assyr. Grammatik 8 und Klaubek,
Amer. Journ. of Sem. Lauguages 30 (19 H), 276 f. — Die gleiche Vor-
ßtellung vom „Berge" bzw. dem „Rande des Berges" als Gerichtsatätte,
und zwar hier wieder im kosmischen Sinne, liegt auch dem vielbe-
sprochenen Ausdruck für „sterben" zu Grande: eynedu hadä-su „an sei-
neu Berg anlegen" (nämlich mit dem Kahn bei der Überfahrt über
den Totenfluß), wofür Sargon, Huit. camp. 150 emedu sahat sadi-su
„an den Rand seines Berges anlegen" bietet, wie andererseits an einer
ßoghazköi- Stelle hue-sag d. i. hursän emedu für sadä emedu steht
(WiNCKLEK, MDOG Nr. 35 S. 43). Auch hier ist Peiser auf falschem
Weo-e, wenn er.MVAG2i (1916), 171 £F. statt sadä-su .emedu wieder
eine seinerzeit vorübergehend von Delitzsch vorgeschlagene Lesung
7cur-su emedu zur Geltung bringen will, emid, iiemid in dieser Wen-
dung im selben Sinne wie vom Anlegen {itemid) der Arche an den
Berg Nisir.
3) Der entsprechende kultische Vorgang ist abgebrochen.
1) Von dem entsprechenden kultischen Vorgang ist nur noch er-
halten: „führt ihn heraus". Wegen des fragmentarischen Zustandes
des Textes ist in diesen Zeilen 2 — 5 übrigens auch nicht ganz sicher,
wie weit die Worte dem kultischen Vorgang oder der mythologischen
Ausdeutung angehören.
2) Entsprechend %vie [jemand . . . .] dahinfährt.
3) Entsprechend dem [ , zu dem jemand] kommt. — Es han-
/0, 5j Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 5
Befindens seines gefangen gehaltenen Vaters/'^ — (9) Man
sucht Bei, wo er gefangen gehalten wird.^ — (10) ([Belit-
Babili^]) fleht zu Sin, Samas also: „Mach Bei (wieder) leben-
jj-g4j«5 — ^jj-j gjg g^^ij^ 2um „Tor des Begräbnisses" und
sucht nach ihm.^ — (12) Wächter sind über ihn bestellt,
ihn zu l)ewachen.'^ — (i3f-) Die Götter haben ihn einge-
schlossen, er ist entschwunden aus dem Le[ben], [ins Gejfängnis,
von Son[ne] und Licht hinweg haben sie ihn hinabsteigen
lassen.'^ — (15) (Er trägt) Wunden, durch die er verwundet
worden ist, in (mit) seinem Blute [ Y — (16) (Eine
bei ihm weilende [Gött]in^°) ist wegen seines Wohlbefindens
hin[abgestiegen^^].^^ — (jyS.) Ein „Sohn Assurs", der (da er
kein Verbrecher ist) nicht mit ihm geht, ist als Wächter
über ihn bestellt, bew[acht] die Festung seinetwegen.*^ —
»lelt sich bei dem kultischen Vorgang wohl um eine besondere Ge-
bäulichkeit in Esagil.
i) Entsprechend wie [Nabu -pon Borsjipj^a kommt. — Es bezieht
bich dies wohl auf das Kommen Nabüs von Borsippa nach Babylon
am Neujahi-sfest.
2) Entsprechend den [ ], die auf den Gassen umherlaufen.
3) Bel-Marduks Frau. 4) Oder auch: „Laß Bei am Leben!"
5) Entsprechend der [Belit-Babili], deren Hände ausgebreitet sind.
6) Entsprechend dem [Tor] der [ ], 7,u dem sie geht. — Es
handelt sich wohl wieder um ein so benanntes besonderes Tor in Esagil.
7) Entsprechend den Zwillings-[. . . .], die am Tor von Esagil
stehen.
8) Die kultische Entsprechung ist verstümmelt.
9) Entsprechend den [ ], die unter ihm herankommen, mit
denen er bekleidet ist.
10) Es handelt sich wohl wieder um Bels Frau Belit-Babili.
11) Oder: hin [gegangen].
12) Entsprechend einer [Gött]in, die bei ihm weilt.
13) Entsprechend wie. [ein „Sohn Assurs" (?)] nicht mit ihm geht,
indem er spricht: „ich bin kein Verbrecher" und weiter: ,, nicht werde
ich geschlagen (?), die [....] Assurs haben mein Recht (?) vor ihm klar-
gestellte?) (wörtlich: geöffnet), haben mein Recht(?) ent[schieden (?)]". —
Es scheint sich also um jemand als Verbrecher angeklagten, aber ge-
rechtfertigten zu handeln. Nicht ganz klar ist, ob „Sohn Assurs" im
eigentlichen, mythologischen Sinne gemeint ist, oder ob es einfach sc-
6 Hkinuioii Zimmekn: l7^, 5
(2of.~) DtMi Kopf oines mit iliiii fo|rt>ferührt,en] und dann
[<:!;ot]()tet('n Verbrechers bindet man nn den N[acken(V)J der
Bölit Babili.^ — {22 f.) Nachdem Böl in den Ber^ ^regaii<;-en
ist, gerät die Stadt [seinet] wogen in Aufruhr und nuin stellt
Kampf darinnen an.^ — (24tl".) (Nabu) erblickt (bei seinem
Kommen) jenen Verbrecher bei Bei.'' — (27) Seine* Leute
■wehklingen] vor ihm.'' • — (28f.) Ein Herold weint vor (Belit-
Babili) also: „Nach dem Berge bringt man iliu weg"; sie
aber stößt aus(V): „0 mein Bruder! 0 mein Bruder! "^
— (30) Seine Gewänder br[ingtj man weg.' — (31) Seinen
Tempel [leert mau].^ — {32) In [
....]. 9 — (^33) (Istar) hatte ihn aufgezogen, ihm Huld er-
zeio-t. '" — (34 ff) Er ist gefangen gehalten, .... betet und fleht.
Der spricht also: „Guttaten vor Assur siod es, die
viel wie „ein Assyrer" bedeutet. Vielleicht ist übrigens — mit Lands-
BKRGER — in Z. i/fF. die Kulthandlung und deren mythologische Aus-
deutung überhaupt etwas anders abzugrenzen und zu erklären, als hier
und in der Übersetzung der Stelle unten geschehen ist, nämlich so,
daß durchweg vielmehr von Bei selbst als Angeklagtem die Rede ist.
i) Entsprechend einem [ ], der an den Türverschluß der Belit-
Babili gebunden ist.
2) Entsprechend dem [ ], der sich nach Borsippa zurück-
begiebt; dem Türv[erschluß(?)], worein er ... [ ] wird.
3) Entsprechend den . Schweinekofen vor dem Wege Nabüs, wenn
er v[on]^ Borsippa kommt, um zu huldigen, Nabu, indem er kommt,
herantritt, (sie) erblickt. — Der Verbrecher wird anscheinend mit einem
Schwein verglichen.
4") D. h. doch wohl Bels.
51 Entsprechend Beschwörern, die vor ihm (d. h. doch wohl Bei)
hergehen, eine Beschwörung hersagen.
6) Entsprechend einem Magier, der vor Belit-Babili einhergeht.
7) Entsprechend wie man seine Kleidung zur Belit-Uruk bringt.
— D. h. wohl aus Esagil weg nach dem Istartempel.
8) Entsprechend wie man Silber oder Gold oder seine (Edel)steine
aus Esagil nach den (andern) Tempeln hinausbringt. — Der in den
„Berg" hineingehende Bei muß sich also all seiner Kleidung und seines
Schmuckes entledigen, wie Istar, wenn sie in die Unterwelt eintritt.
9) Entsprechend einem Ähren('?)gewand, mit dem er bekleidet ist.
10) Entsprechend Milch, die man vor Istar von Nineve
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 7
ich(?) tat", ferner: „Was ist [meine (?)] Sün[de]?"i — (37) Er
fleht zu Sin und Samas also: „Mach mich (wieder) lebendig!"*
— (38) (Mau bittet), daß, da sein darauf gestellt
ist, er aus dem Innern des „Berges" (wieder) herausk[orame].'
— (39) ([• • • •]) ^i'ägt das eines Gefangenen, s[it]zt mit
ihm zusammen^ — (40 f.) Zur Verwalterin des Hau[ses
spricht(?) „...]... des Hauses kennst du", ferner:
„Das Haus bewache, mit deinen Händen rei[ß(?) heraus (?)
!"]5 _ (42 f.) Sie [wischt (?)] mit ihrer [Ha]nd das Blut
des Herzens, das vergossen ist, [ab].^ — (44ff-) Jene [Ver-
walterjin des Hauses fragen sie also: „Wer ist der Verbrecher?",
ferner: ,,. . [ ?".... die .. .] wegbringen, den Verbrecher
[töten (?)].' — (47 ö.) (Die folgenden 5 Zeilen sind zu ver-
i) Entsprechend wie man „Einst als droben" hersagt vor Bei, im
Monat Nisan ihm singt. — Mit „Einst als droben" {enuma clis) ist
natürlich das babylonische Scböpfungsepob gemeint. Durch diese, wie
die weiteren Stellen, an denen der Nisan, speziell auch der 8te Tag
des Nisan genannt wird, wird es auch so gut wie sichergestellt, daß
es sich in diesem Texte wirklich um Kultbräuche speziell am Neu-
jahrsfeste im Anfang des Monats Nisan handelt.
2) Entsprechend wie [der ], der den Himmel anblickt. —
Statt „mach mich (wieder) lebendig!" oben auch möglich: „laß mich
am Leben!"
3) Entsprechend wie [der , der] den Erdboden anblickt.
4) Entsprechend wie [ , der mit] Bei zum Festhause nicht
auszieht.
5) Entsprechend wie [Belit(?)-]Babili nicht in das Festhaus hinein-
geht. — Beziehen sich die Worte „Mit deinen Händen rei[ß(?) her-
au8(?) !!" vielleicht darauf, daß die Verwalterin des Hauses dem
durch einen Speer tötlich getroffenen Bei diese Waffe aus dem Körper
ausreißen soll? Vgl. dazu das Folgende.
6) Entsprechend wie [Belit(?)-]Babili schwarze Wolle an der Rück-
seite trägt, bunte (?) Wolle an der Vorderseite trägt. — Beim Abwischen
des vergossenen Herzblutes ist doch wohl an die Wunden und das
Blut Bels zu denken, von denen in Z. 15 die Rede war. Vgl. auch das
in der vorhergehenden Anmerkung Gesagte.
7) Entsprechend der [ ], vor der man am 8*6» Nisan ein
Schwein schl[achtet.] — Auch hier wird anscheinend der mit Bei ab-
geführte und getötete Verbrecher durch ein Schwein symbolisiert, ähn-
lich wie bereits oben in Z. 24.
8 Hkiniucm Zimmkun: [70,5
stümmolt, um eiiu- wtut liehe Wiedergabe hier zu lohnen.
Doch hißt sich wohl soviel daraus entnehmen, daß allerlei
auf Abwehr von lastendem Bann berechnete Kulthandlungen'
wieder auf die „Gefangensoliaft" Hels [und seine darnach fol-
gende Befreiung] bezogen worden.) — (S^ft-) Innerhalb „Einst
als droben" sagt man: aMss Himmel und Erde (noch) nicht
geschaüen waren, da ent[standj Ansar, als Stadt und Tempel
gemacht wurden, da entstand (Bei) selbst, die Wasser, die auf
Ansar [ein drangen (?), bezwang^?) erj; jener, dessen Sünde
in jener dem Wasser (?) war er bekleidet, ....
. . [ J.2 — (5 7 ff.) Assui- schickte den Ninurta betreffs
der Gefangennahme des Zu aus. Gott [....] sprach vor Assur
also: „Zfl ist gefangen'', Assur [sprach] zu Gott [....] also:
„Geh hin, den Göttern insgesamt verkünde (es)!" Er ver-
kündete (es) ihnen, sie aber [freuten (?) sich] darüber.' —
(61 f.) Die Götter, die Väter (Bels), [befeinden(?) ihn.]* —
(63) Gula sendet seinetwegen- einen Boten (Nusku).^ (^4^-)
(Kleider und Schuhe) läßt er der (Belit-Babili) bringen, darum
1) Darunter auch der Gesanj^ eines Liedes auf [Marduk(y)] als
den [Bez\v]inger(?) der Wasser; ferner ein im Monat Nisan [darge-
brachtes] sehr reichliches [Opfer].
2) Entsprechend dem Handwasser, das man herbeibringt, indem
man au8oagt(?), daß dieses die Seuche [wegnimmt (?)], (und) entspre-
chend dem Ähren(?)gewand, das (Bei) trägt, in bezug worauf man also
sagt: selbige (?) Wasser (bedeuten) Weben (?). — Es scheint, daß das im
Neujahrsfestkulte eine so große Rolle spielende „Handwasser" (s. unten
Nr. 2 beim Erechritual) hier zu den Wassern der Tiämat in Beziehung
gesetzt ist.
3) Entsprechend dem Schnelllauf, den man im Monat Nisan vor
Bei und allen Kultstätten anstellt. — Hier werden also kultische Schnell-
läufe direkt als Abbilder eines entsprechenden Vorgangs im Zü-Mythus
ausgedeutet.
4) Entsprechend den Reden insgesamt, die unter den ^aZw- Prie-
stern [geführt werden], von den Plünderern, die ihn ausplündern, die
ihn schlagen lassen. — Der Sinn ist wohl ähnlich wie oben Z. 30 f.,
wo von der Leerung des Tempels Esagil und dem Wegbringen der
Kleidung Bels die Rede war.
5) Entsprechend wie Nusku von E-sa-bad hinübergeht.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. TT. g
daß man ihn nicht losläßt, er nicht herausgehen kann. ^ -
(66) (Sein Wagen) stürmt ohne seinen Besitzer dahin.* —
(67) Sein Klageweib wimmert (?) aus der Stadt heraus.^ — -
(6 8 f.) Nachdem man ihn eingeschlossen hatte, er in das Haus
eingetreten war, man die Tür vor ihm verriegelt hatte, bohrten
die Götter Löcher in die Tür hinein, stellten Kampf drinnen an*
Durch den aus dem Vorstehenden sich ergebenden baby-
lonischen Mythus vom leidenden, im fin*^tern „Berge" ge-
fangenen, dann aber zur Neujahrsfestzeit im Nisan wieder
befreitvu Bel-Marduk ist nunmehr, wie bereits einleitend be-
merkt, in der Tat ein dem Tamüz-Mythus entsprechender
Bel-Marduk-Mvthus auch inschriftlich, und zwar mindestens
für das 8*^ vorchristliche Jahrhundert — aus dieser Zeit wird
wohl die Assurtafel stammen - bezeugt. Bemerkenswert ist
dabei, daß die unmittelbare Aussage von einem „Sterben",
vom „Tode" des Gottes Bei offenbar absichtlich vermieden
wird, vielmehr immer nur von seinem „Verschwinden", „Ge-
fangengehaltenwerden" im Berge u. ä. die Ivede ist.^ Die
i) Entsprechend wie man Kleider und Schuhe in den Tempel der
Belit-Babili bringt.
2) Entsprechend dem Wagen, der zum Festhause gefahren kommt.
3) Entsprechend einer vermummten(?) Göttin, die aus der Stadt
heraus wimmert (?).
4) Enti^preehend der sogenannten Fenstertür. — Damit ist offenbar
wieder eine besondere Tür in Esagil gemeint, an die sich dieser my-
thische Zug knüpfte. Bei dem letzteren liegt wohl die Vorstellung zu-
grunde, daß die Götter, die vorher ja allerdings als diejenigen er-
scheinen, die die Einschließung Bels bewirkt haben, nunmehr ihn auch
wieder mit Gewalt aus seinem Berggefängnis befreien.
.5) S. hierzu bezw. zu der gleichen Ez'scheinung im Tamüzmythus
meine Bemerkungen in: Zum Streit um die „Christusmythe" 43 f. —
In ein^t- gewissen, allerdings etwas entfernteren, Zusammenhang mit
dieser Vorstellung von dem verschwundeuen Bel-Marduk oder Tamüz
steht auch die Vorstellung von dem zürnend und untätig in seinem
Ekur daliegenden {salil, sa sallu), nicht aufstehenden {lä itebbi) Enlil,
den Istar auf einem mit den Farben einer Höllenfahrt geschilderten
Zuge aufsucht. S. dazu meine Besprechung der Texte Rkisnkk, Sum.-
bab. Hymn. Nr. 43 und 44 in Sumer.-babyl. Tamüzlieder S. 248 ff.
lo Hkinkich Zimmkkn: [70,5
Volksmeinnng vom „sterbenden" Gotte durfte bei einem Haupt-
gotte wie Bel-Marduk in der Priester! iteraiur offenbar nicht
so imverblüint zum Ausdrui^k kommen. Später wo, wenigstens
bei griechischen SohriÜstellern, von einem Eindringen in das
Grab des Belitanas (Ktesias § 21), bzw. des „alten Bei"
(Aelian, Var. ,Hist. XIII 3) durch Xerxes die Rede ist', ist
man in diesem Punkte anscheinend weniger sch(!U zurück-
haltend gewesen.
Von besonderem Interesse ist in diesem babylonisclien
Mythus auch der Zug, daß ein Verbrecher zugleich mit dem
Gotte Bei abgeführt und dann getötet wird. Wahrscheinlich
haben wir in dieser dem ganzen Zusammenhange nach eben-
falls in die Nisanfestfeier zu versetzenden Szene das Vorbild
zu dem „Spottkönig" ^ am babylonischen Sakaia- bzw. am
persischen Sakäenfeste^, von dem Berossos und Dion Chry-
sostomos erzählen.* Andererseits erinnert dieser mit Bei ab-
(diese Berichte Bd. 59, Heft 4) und Stellen wie Rkisnek a. a. 0. Nr. 29
Vs. i9if. (Rs. 16 ff.); Nr. 14 Rs. 24 f., sowie insbesondere IV R 23
Nr. I Kol, I 26flF., wo das Enlillied mu-lu nä-a e-lum mu-lu nä-a
li-sü ba-an-nä-a {sa sallu belum sa salin adi mati salil) (auch zi-
tiert KTAR Nr. 60 Rs. i) in einem kultischen Zusammenhang auttritt,
der auch aus andern Gründen auf eine bestimmte Jahresfeier deutet
(s. dazu unten S. 50 unter Nr. 6d zu der Jahresfeier für Enmeaara).
i) Vgl. dazu Lehmann-Haupt in Orient. Studien Nöldeke gewidm.
998tF. 1003; auch Baudibsin, Adonis u. Esmuu 447.
2) S. dazu Näheres im Anschluß an die Szene der Verspottunj?
Jesu durch die römischen Soldaten in meiner Schrift Zum Streit um
die „Christusmythe" 38flF.
3) In welchen beiden Namen doch wohl das babylonische Neu-
jahrsfest, Zag(muk), fortlebt.
4) Nach Berossos bei Athenaeus feierte man in Babylon am 16.
des Monats Loos ein fünftägiges Fest des Namens Sakaia, an welchem
die Sklaven über die Herren Macht hatten, und an dem ferner einer
der Sklaven mit einem königlichen Mantel bekleidet wurde und den
Namen Zoganes (d. i. vielleicht das bab. sukallu, Wesir) führte. —
Andererseits berichtet Dion Chrysostomos Orat. IV 67, daß die Perser
am Sakäenfeste folgendes tun: Sie wählen einen von den zum Tode
verurteilten Gefangenen aus, setzen ihn auf den Königsthron, legen
ihm das Königsgewand an und lassen ihn kommandieren, trinken und
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. IL 1 1
o-eführte und dann getötete Verbrecher auch sehr an die
beiden Verbrecher, die mit Jesus zusammen abgeführt und
gekreuzigt werden, wie denn auch im übrigen dieser neu-
gewonnene Mythus vom leidenden und triumphierenden Bel-
Marduk sich als ein neues wichtiges keiliuschiiftliches Seiten-
stück zu den neutestamentlichen Schilderungen von Jesu Leiden,
Tod, Grablegung und Auferstehung ergibt. Indem ich für
meine prinzipielle Stellungnahme hinsichtlich der Heranziehung
solcher Mythen, speziell auch aus dem babylonischen Kultur-
kreis, für die Leben- Jesu-Forschung mich einfach auf die
Ausführungen in meiner Schrift: Zum Streit um die „Christus-
mythe", insbesondere auf das in der Einleitung daselbst Be-
merkte, beziehe \ setze ich darum hier einfach die auf beiden
Seiten entsprechenden Züge einander gegenüber. Dabei kann
man natürlich über die stärkere oder schwächere Schlagkraft
der einen und der andern angeführten Parallele verschiedener
Meinung sein. Teilweise eine Änderung in der Reihenfolge
der einzelnen mythischen Züge auf der babylonischen Seite
hierbei vorzunehmen, wird durch den eigenartigen Charakter
des kommentarartigen babylonischen Textes an die Hand ge-
geben. Denn dieser gibt ja nicht in geordneter fortlaufender
Rede einen zusammeniiängenden Mythenstoif wieder, sondern,
wenn er auch stellenweise wohl die Aufeinanderfolge einhält,
80 tritt er andererseits doch auch wieder mehrfach aus der
Reihenfolge der einzelnen Mythentatsachen heraus und greift
nur sprunghaft und ohne Berücksichtigung des Vorher und
Nachher einzelne Züge aus dem ganzen Mythenkomplexe heraus.
Auch wird noch allerlei nicht direkt zu diesem Mythus Gehöriges,
so z. B. der Zü-Mythus, in unserem Texte mit hereingezogen.
schwelgen, auch mit deu Kebsweibern des Königs in jenen Tagen ver-
kehren: überhaupt darf ihn keiner hindern, zu tun, was ihm beliebt.
Danach aber zieht man ihn aus, geißelt ihn und hängt ihn auf. — Zur
Sitte der Freilassung von Sklaven oder Gefangenen aus Anlaß religiöser
Feiern in Babylonien vgl. auch die Belege in keilschriftlichen Texten
bei Landsbekger, Kult. Kalender 115 ff.
i) Vgl. auch bereits meine prinzipiellen Ausführungen in dieser
Einsicht in Keilinschr. u. Alt. Test. * 377.
12
Hbiniuch Zimmbun:
[70, 5
l^abyloniscli.
Bel-Marduks Geian»^ennahme.
Bels Verhör im Hause am Rand
des „Berges" (an der Ge-
richtsstjitte).
Bei wird geschlagen (ver-
wundet).
Bei wird nach dem „Berge"
abgeführt.
Zugleich mit Bei wird ein Ver-
brecher abgeführt und dann
getötet. Einaiiderer(V ), gleich-
falls als Verbrecher angeklagt,
wird losgelassen (V) und da-
her nicht mit Bei abgeführt.
Nachdem Bei in den „Berg''
gegangen ist, gerät die Stadt
darüber in Aufruhr, findet
Kampf darinnen statt.
Bels Kleider werden wegge-
bracht.
Eine Frau [wischt] das ver-
gossene Herzblut (Bels ?) [abl,
das, wie es scheint, von einem
herausgezogenen [Speere]
hen'ührte.
Bei mußte in den „Berg" hin-
absteigen, fern von Sonne
Neutestamentlich.
Jesu Gefangennahme.
Jesu Verhör im Hause des
Hohenpriesters und des Pi-
latus.
Jesu Geißelung.
Jesu Abführung zur Kreu-
zigung auf Golgatha.
Zugleich mit Jesus werden
zwei Verbrecher al)geführt
und gekreuzigt. Ein an-
derer Verbrecher, Barabbas,
wird von Pilatus dem Volke
freigegeben und daher nicht
mit Jesus abgeführt.
Bei Jesu Tod zerreißt der
Vorhang im Tempel (Syn-
opt.), erbebt die Erde,
spalten sich die Felsen, tun
sich die Gräber auf, kom-
men die Toten in die hei-
lige Stadt (Matth.).
Jesu Kleider werden unter
die Soldaten verteilt (Syn-
opt., Joh., vgl. Ps. 22^ 19).
Lanzenstich in Jesu Seite,
Herausfließen von Wasser
und Blut (Joh.). Maria
Magdalena und zwei an-
dere Frauen beabsichtigen,
den Leichnam Jesu einzu-
salben (Marc, Luk.).
Jesus im Grabe, genauer im
Felseugrabe (Synopt.), ins
70, 5]
Zum babylonischen Neujahrsfest. II.
13
und Licht; er ist aus dem
Leben entschwunden und
wird im „Berge'' wie in einem
Gefängnis festgehalten.
Wächter bewachen den in der
Bergfestung eingeschlosse-
nen Bei.
Eine Göttin, wohl Bels Gattin,
weilt bei Bei: sie ist seines
Befindens wegen gekommen.
Man sucht Bei, wo er gefangen
gehalten wird. Lisbesondere
eine bittfiehende Frau, wohl
Bels Gattin, sucht nach ihm
beim „Tor des Begräbnisses".
Desgleichen heißt es von der
Belit-Babili, Bels Frau, daß
sie, als Bei nach dem „Berge"
fortgeführt wurde, in den
Klageruf ausbracli : „0 mein
Bruder! 0 mein Bruder!"
Bei wird wieder ins Leben
zurückgebracht, kommt (wie
die Frühlingssonne) wieder
aus dem „Berge" heraus. Sein
Hauptfest, das babylonische
Neujahrsfest im Nisan zur
Zeit der Frühlings-Tag- und
Nachtgleiche, gilt zugleich
als die Feier seines Sieges
über die Mächte der Finster-
nis (das Weltschöpfungslied
„Einst als droben" als das
Neujahrsfestlied).
Totenreich hinabgestiegen
(i Petr. 3, ig; Matth. 12,
40; Act. 2, 24; Rom. 10, 17;
Dogma vom descensus ad
inferos).
Wächter am Grabe Jesu
(Matth.).
Maria Magdalena und die an-
dere Maria sitzen dem Grabe
Jesu gegenüber (Matth.,
ähnlich Marc).
Frauen, insbesondere Maria
Magdalena, kommen zu
Jesu Grab und suchen ihn
daselbst hinter der „Grabes-
tür". Von Maria Magda-
lena heißt es (Joh.), daß
sie weinend vor dem leeren
Grabe stand, weil man
ihren Herrn weggenommen
hatte.
Jesu Auferweckung durch
Gott, seine Auferstehung aus
dem Grabe (an einem Sonn-
tage). Sein Fest zur Zeit
der Frühlings -Tag- und
Nachtgieiche gilt zugleich
als die Feier seines Sieges
über die Mächte der Finster-
nis (vgl. z. B. Col. 2, 15).
14 Hkinuicu Zim-mkun: [70> 5
Hei der im folgemlrii mui <^eboteu( n Umschrift und Uber-
spt/uiig dos Text»'s VAT 9555 = KTAR Nr. 143 ist in der
ühlirlien Weise Ergänztes in eckige Klammern gesetzt. Das in
der Umschrift von Z. 31 bis Z. 04 in runde Khimniern Ge-
setzte stammt aus dem oben S. 3 Anm. 1 erwähnton l)u])likat
VAT 9538. Herrn Dr. Eiielolf bin ich zu Dank verpflichtet
(i) [ ^B('l sü-ü inii hur-sa-an ik-k\a-ii (2) [. .
\-vn-ni (3) [ ] ü-se-m-as-su
(4> [ i]-(la-la t"'"''''»/[ä]r s\ip\ri \s\d hele-su man-nu ü-äc-sa-
as-m (5) [ i]l lalc-u-nl u-se-sa-assü-ni (6) [. . . sd i]-ra-]cab-
u-ni a-na hur-sa-an sn-ii il-Iak (7) [. . . m] il-laJc-u-ni bltu st'i-ii
ina eli sap-fe sd hur-sa-an ina libhi i-sa-'-n-hi-su (8 ) [''Nalü sd
isiu Bdr-s]ip''' il-Jak-an-ni a-na sul-me sd ahi-su sd sa-hit-ii-ni
sü-ü illa-ka (9) [. . .y^'sd ina su-qa-qa-a-te i-du-lu-u-ni ^Bcl ü-ha-'u-
tna a-a-hi sa-bit (10) [. . . .] sd qdtd-sa tar-sa-a-ni a-na'' Sin ^Samas
tu-sal-la ma-a ^Bel bid-li-[s'\u (11) [&ä&...]^' H tal-lak-u-ni bäb
qa-bu-rat sü-ü tal-Iak hc-b[a-'-s]u (12) [. . .]. ma-a-se sd ina b[d]b
sd E-sag-il i-za-zu-u-ni '^'^^^ massare-su sü-nu ina muhhi-su paq-du
i-na-s[a-ru si(^ (13) [. . . .].-qu-ri [. .] e-pi-sü-ni a-hi iläni e-si-ru-
sü-ni ih-ti-Iiq ina llb-hi na\psäte\ (14) [ana bU ntje-si-ri sam-[su]
u nüru istu lib-bi us-si-n-du-nis-[sM^ (15) [. . .] sd ina sapU-m
i[q]-tar-ri-bn sä lab-bu-sü-ni mi-ih-si sd mah-lm-su-ni su-nu ina
däme-su [. . .] (lö) [(Ij-üiin sd is-lsi^-su kam-mu-sa-tu-ni a-na
sid-me-su ta-ta[rad'^] (17) [mär ''Assur{?) s]d is-si-su la i?-[Z]afe-
tt-wi ma-a la bei M-it-ti a-na-kn ma-a la us-sa-ia-am-mah-[has (?)]
(18) [. .]. '^Ässur d[i]-na-ni ina pa-ni-su ip-ti-ü di-na-ni i-d[i-mi\
(19) [. . sä is]-si-su la ü-lak-u-ni mär ^ Ässur sü-u-tü ma-su-ru
i) Oder: ta-ta-[lak].
70,5] Zum BABYLONISCHEN Neujahrsfest. II. 15
für eine orrößere Anzahl von Kollationen am Original der
Tafel VAT 9555, die mehrfach durch ein beigesetztes Aus-
rufungszeichen von mir kenntlich gemacht sind; Herrn Dr.
Landsberger für eine Reihe wertvoller Berichtigungen meiner
ursprünglichen Auffassung einzelner Textstellen.
(i) [ : Das ist Bei, tvie er im „Berge" fest-
ge]halten wird. — (2) [
] . . (3) [ ] führt ihn heraus: (4) [ es
lä\uft umher ein B[o]tc von seinen Herren (rufend): „Wer führt ihn
heraus?'' (5) [ ist es, der hin(j\eht, Um herausführt. — (6) [. . .,
der] daliinfälert : Das ist, tvie er nach dem „Berge" hingeht. —
(7) l^Das . . ., zu dem . . . .] kommt: Das ist das Haus am Bande
des „Berges", icorinnen man ihn verhört. — (8) [Nabu, der von
Bors\ippa kommt: Das ist, wie er wegen des Wohlbefindens seines
Vaters, der gefangen gehalten wird, kommt. — (9) Die [. . .], die
auf den Gassen umherlaufen: (Das ist), wie man Bei sucht:
„Wo wird er gefangen gehalfen?" — (10) [Die . . . ], deren Hände
ausgebreitet sind: (Das ist), tvie sie zu Sin, Samas also fleht:
„Mach Bei (tcieder) lebendig .''^^ — (11) [Das Tor] der [...],
zu dem sie geht: Das ist das Tor des Begräbnisses, sie geht hin.
su[cht nach i]hm. — (12) Die Zicillings-[. . . .], die am T[o\r von
Esagil stehen: Das sind seine Wächter, sie sind über ihn bestellt,
bew[achen ihn.] — (13 ) [• • • •]• ■[• ■ die] gemacht sind: (Das ist)
nachdem die Götter ihn eingeschlossen haben, ist er entschwunden
aus dem Le[ben,] (14) [ins Ge]fängnis, von Son[ne] und Licht
hiniceg haben sie ihn hinabsteigen lassen. — (15) [Die ....], die
unter ihm herankommen, mit denen er bekleidet id: Das sind die
Wunden, durch die er vencundet ist, in seinem Blute [....] —
(16) Eine [Göt]iin, die bei ihm weilt: Wegen seines Wohlbefindens
ist sie hiTi[algestiegen^.] — (17) [Der Sohn Ässurs(?), d]er nicht
mit ihm geht, indem er spricht „ich bin kein Verbrecher'"'' und weiter:
„nicht werde ich geschla[gen{y)], (18) [die ....]. Assurs haben
mein Becht(?) vor ihm klargestellt (?), habm mein Eeehti?) eni[schie-
de« (?)'':] (19) [. . . der m]it ihm nicht geht, selbiger ('^) Sohn Assurs,
i) Oder auch: Laß Bei am Leben! 2) Oder: hin[gegangen].
lü Hkin'uu'm /i.mmkun: [7<Ji 5
sii-i'< hui »luh-hi-su }ia-qid '^'"bir tii itia niuh-hi-§u i-}i\a-as-sar] (20)
[. . . m\ Uta '*tal-li sd '^ Bv-lit- linhili 'ula-an-ni (jaq'jadu sd bei
hi-i(-(i sd is si-sii i-i\ itl-du-su-tü\ ( 2 1 ) [/ <i]a-hi(su-ni sii-d't qwjqad-su
iiia ^"k[ii(idi{'n\ sd '' iic-lil-Iiahili c-{i(-'\-lii\ {22) [. .J M aiix
Bdr-sip*"' i-sa-h(n-n-ni illuk-u-iii ''l(d-[l]u{?) M ina libbi-su is-sa-
na-.[.] (23) [a/-Ä"/"J sd ^ bil ina hur sa an it-lik-uni alu ina miihlii-
[su] H-tn-bal-kid (ju-ia-bu ina libbi-sii u\i)]{'^)p\u\{'^)-su (24) [ad]'
ndti ' sd sähe sd ina mahur liarrän §d ''Nabu ki-i i[§tu\ Jidr-sip''*
il-la-kan-an-ni i-kai-ra-bu-ni (25) [.YNabü sd il-lak-an-ni ina
mulj-hi i-ea--u u-ni im-innr-u-ni bei hi-i(-(i sd itt't ''Bei sü-lü\-ni sü-u]
(26) [.J ki-i{\) sd itti ''Bei sd-iü-ni im-[m(i ar-su] (27) ^""•'^^' mahna^e
id ina ^j(i-««-^?/-s/f il-lak-u-ni si-ip-tn i-waan-nu-ii-m nise-su si'i-nu
ina pa-na-tU'SH n-nii-bui'^)[-i(] (28) ^'^'"^^'mahhu-u sä ina mahar
'^Be-ld-Babili ilhi-ku-u-ni "■'"^^ mu-pa-si-ru sü-u a-na irti-sa i-bak-
^[(..1 (2g) [.] ma-a a-na hur-sa-an ub-bu-lu-§u sl-i ia-ia-rad
ma-a ahu-u-a alm{^.)-u-a\. . .] (jo) [.] la-bu-su-sü sd a na ^Bllit-
Uruk ü-sc-bal-u-ni ku-zip-pi-sii sü-nu ii-tu-b\a-lu-ni^ (31) {lu-u)
sarpu lu-u huräsu lu-u abne-su^ sd is(tu) l{ibb)i E-sag-il a-na
ekurräte ü-sc-su-ti-ni blt-su sü-(u-tu) [. . .] (32J (?"'-«<) §e-ir-i-tu
{sd lab-b)u-sü-ni ina ka-dam-me [ ^] (ü) {si-i)z-bu sd ina
mahur ^Istar s{d JSinua i-hal-li-bu-7i)i ni-nii-il s!-i tu-ra-bu-su-ni
ri-e-mu d-ka-{al-litn-u)ls-su-ni] (34) {c-n)u-ma e-Iis {sd da-bi-
ib-u-ni ina mahar ''Be)l ina '^''"^^ Nisanrd i-za-mur-ü^-su-ni ina
muhhi sd sa-bit-u-ni [ ] (35) {s)u-ul-l{i-c-su-nu ü-sal-la)
su-ra-ri-su-nu i°-sa-r[a-ai-\ (36J (.) [ J. s{ü-tu i-da-bu-ub ma-a
damqa-a-te s)d ''Assur si^-tta e-ta-pa-as ma-a mi-i-nu hi-\it-lu-
*C^)] (37) [•■••] {ß^ same^ i-da-gul-u-ni ana '^Sin) ^Samas ü-sal-
la ma-a bul-li-[ta-an-n]i (38) [. . . sd] {qaq-qu-ru i-da-yal-u-ni hu-
ur-'ni-su ina mu)\h\hi-su kar{\)-ru-ni ina muhhi'^ sd isla libbi hur-
sa-an i[i-lak-u-\ni (39) [. . . . sa ittt] {^Bel a-na bit a-ki-ti la
ü-su-nt) . . -ü sä '^"'^'sa-ab-te i-na-us-si i-si-su i{?)[-ia-s]ab (40) \Be-
lit{?)-] {Bäbili sä ina libbi bit ä-ki-it l[a\ t[a\-a\l])-lak-u-ni Ha-
ki-in-tü sd bllti si-i] (41) [ ](• -^* ^^^^ tu-di-i ma-a blta
i) Geschr. [gJi-l'iü"- 2) su fehlt in Dupl.
3) Vgl. zu etwaiger Ergänzung unten Z. 56.
4) Fallit im Dupl. 5) Dupl. ü.
6) Kaum lirn-na zu lesen.
7) ina muhhi fehlt im Dupl.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 17
das ist der Wächter, er ist über ihn bestellt, die Festung be[ivacht
«r] sdnettvegen. — (20) [J)er . . . ., tZer] an den Türverschluß der
Bellt- Bahili gebunden ist: Das ist der Kopf des Verbrechers, den man
mit ihm fo\iiführt\ (21) {und dann) \t\ötd; seinen Kopf bind\ct\
man an den N\acken{^y\ der Belit-Babili. — {-'^^ { \ der
sich 'Wieder nach Borsippa zurUckhegibt ; der Tiirv[erscMuß{?)],
tvordn er . .[. . .] wird: {zt,) (Bas ist,) \nac1i\dem Bei in den „Berg'"'
gegangen ist, ti^e da die Stadt [seinet^ivegen in Aufruhr gerät, und
man Kampf darinnm anstellt. — (24) Die Schtvdne[]coYcn vor dem
Wege Nabüs, wenn er v[on^ Borsippa kommt, um zu hiddigen,
(25) Nabu, indem er kommt, herantritt, [sie) erblickt: [Das ist^
jener Verbrecher bei Bei, (26) gleich als ob es jener bei Bei wäre,
erb[lickt er es.] — (27) Die Beschtcörer, die vor ihm hergehen, eine
Beschwörung hersagen: Das sind seine Leute, vor ihm w-ehk[lagcn^
sie. — (28) Der Magier, der vor Belit-Babili einhergeht: Das ist
der Herold, vor ihr weint er (29) also „Nach dem „Berge'''' bringt
man ihn weg^\- sie aber stößt atis(?) „0 mein Bruder! 0 mein
Bruder!" [....] — (30) Seine Kleidung, die man zur Belit-Urivlv
bringt: Das sind seine Gewänder, die man wegbr[ingt.] — (31) Sei
es Silber oder Gold oder seine Steine, die man aus Esagil nach den .
Tempeln hinausbringf: Das ist sein Tempel [ ] — (1^2) Das
Ähren(?)geivand , ivomit er bekleidet ist: In [
] — (33) Milch, die man vor Istar von Nineve ;
(Das ist) weil sie es ist, die ihn aufgezogen hat, Huld ihm erzeigt
hatte. — (34) „Einst als droben", das man hersagt vor Bei, im
Monat Nisan ihm singt: [Das ist) darum daß er gefangen gehalten
ist, [ ] (35) *''^6 Gebete betet er, ihr Flehen
fle[ht er.] (36) . . [. .'j . . ist es; er spricht also „Guttaten vor Ässur
sind es, die ich(?) tat", ferner „Was ist [meine (?)] Sün[de?"] —
(37) [Der ], der den Himmel anblickt: Zu Sin, Samas fleht er
also: mach [mi]ch (wieder) lebendig!"^ — (38) [Der , der] den
Erdboden anblickt: (Das geschieht darum) daß sein .... darauf ge-
stellt ist, daß er aus dem Innern des „Berges" (wieder) heraus-
k[omm]e. — (39) [ cler mit] Bei zum Festhause nicht
auszieht: das eines Gefangenen trägt er, mit ihm zu-
sammen s[it]zt er. — (40) [Belit('^)-]BabiU, die in das Festhaus
nicht hineingeht: [Das ist] die Verwalterin des Hau[ses]: (41) [es
i) Oder: Laß mich am Leben!
Phil.-hiBt. Klasse 1918. Bd. LXX. 5.
i8 Hkinuich Zimmkkn: (7^0
u)s-H ina qäte-U H-s[u-uh-hi{?) . . .] (42) \. . . Be-lH{'^)\-{imhili .^ä
sipäti s(tlmnii^ ina hit-tal-li-s)(t-)ii si/iat tab-ri-mu'^ ina pa-ni
(.s')|a-»/ . . - .] (43) [ina muh/n sd qa-t\{n)iii-sa da-mu sä mr-ri
s{(i tah-h(-n^\i . . . .| (44) [. T.! (. H um Vlfl'^'"' sä "'''t :Msamn)
iähü ina pa-ni-sa i-([(i-ba-ku-ni . . .| (45) [-^m-ki-in-tKa m hiti
si-i i-sä-'u-ht-si ma-)a man-nu bei hi-it-fi ma-a .\.'. . .] (46)!....]
{. i'i-bal-u-ni bei h)i-it-ti i-[da-hi-niC^) ] (47) !•■•] {. il-lak-u-ni
As(V) MUT ^ LI -6-)a* a-ki imma a\h-ha-su.-ni . . .| (48') [ {-
»m" mc {dr-his i-za-am-m)\>(-ru . . .] (49) [. . . . ä-dal-l\{nh-hu-ni
d-sar-ra-ru-u-ni) mc [da-al-hu-te iu-n)[ii | (50J |. , .J
(. . bil{'^)-la['?) ba-ak-ieiy) i-kar-ra-ru-ni sä qa-du-ur-ti .) \ ]
(51) [. .] (ia ina libbi '"''^- Nisanni a-na ma-gal ma-'-du-ni kcmu^
[. .] ki-i sa-bit-u-ni .) 1- . .| (52) {me qätä sä d-qar-rab-u-m bi-id
ip-lu'^-ni ^)w-«f di--{a) [. . .J (53) ('^"'^^^ se-ir-'-i-tu M ina muh-hi-ki
sä i-qa-b)u-u-ni ma-a me s{lü(\'^)]-mi-[ti(?)]\^ si-li-'-a-te si-na)
(54) (sH-ü Ina libbi e-nu-ma c-lis iq-[fi-])bu-H\^ki-i same" irsi-i(im
la ib-ba-nu-ni An-sär it-)\tä-ab-sib\ (55) {ki-i aln u bliu ep-sü-n-n)i
sü-d it-tab-si mit sä (ina muhhi An-sär) [ ] (56) {sü-u-td' sd
hi-ti-^u ina libbi) ka-dam-me^ sd-tü e-si-ip la me^° lia-bis ka-d)[am-me^
• • •] (57) Qi-is-mu sä ina "''^~Ni)sanni ina mahar ''Bei ü ma-ha-
sa-a^^-ni (gab-bu i- .) [ ] (58) (ki-i '^Assur ^Nin-iir)ta ina muhhi
ka-sa-di sä '^Zi-i is-pur-u-{ni '^ .) [ ] (59) {ina mahar ^ Assur
iq-ti)-bi ma-a^^ ^Za-u ka-si-id '^ Assur a-na'^[ iq-ü-bi] (60) (ma-a
a-lik a-na) iläni"^ gab-bu pa-si-ir d-pa-sa-ar-su-nu ü su-nu ina
muhhi i[h(?)-du-u(?)] (61) (da-b)a-bu gab-bu sä ina Ub-bi ""'^'kale
[ ] (62) (sä ha)-ba-a-te sä i-hab-ba-tu-su-ni sä ti-sal-pa-iu-su-ni
sdrü iläni abe-su s[u]-nu . [,]. (63) (''■N[us])ku sä E-sa-bad ib-bir-
an-ni '^"'■^'■mar-sipri sü-u-td '^Gu-la ina muh-M-su ia-sap-pa-ra
i) Geschr. s'ig.mi.
2) So ist vielleicht mit Landsbeegee nach KTAR Nr. 141 Vs.12. 16
zu lesen. Allerdinga bieten beide Exemplare deutlich bu, nicht mu.
3) Oder HO gir
4) So Dupl. ; Haupttext anscheinend -s]ü.
5) Dupl. ü und davor noch der Rest eines mit senkrechtem Keil
schließenden Zeichens.
6) Geschr. ku.da. 7) Oder Ä:w? 8) Neue Zeile im Dupl.
9) Vgl oben Z. 32.
10) Doch wohl so zu lesen, nicht etwa la-a-mes.
n) Fehlt im Dupl. 12) ma-a fehlt im Dupl.
70,5] Zum B.VBYLONISCHEN Neujahrsfest. II. 19
sprich t(?) „ .] ... des Hauses kennst du", ferner ,,das
Haus beivacke, mit deinen Händen rei[ß /ieraus(?) "•] —
(42) [. . . Belit{j!)-]Bahili , die schwarze Wolle an der Rückseite
(trägt), hunfe{?) Wolle an der Vorderseite (jrä[fjt) . . . .J.- (43) (Das
ist) [darum daß sie^ mit ihrer [Ha^nd das Blut des Herzens, das
vergossen ist, [abuischiX?).^ — (44) [Die ....], vor der man am
ßten 2(isan ein Schivein schl[achtet ....]; (45) Jene [Vene alter \in
des Hauses fragen sie also „Wir ist der Verbrecher'::'", ferner
[„ i-'"] (46) [. . die . .] icegbringen, den Verbrecher [iöYew(?)J
[ ] — (47) [....] die kommen, , ela sie ge-
sch[lag€n werden ] — (48) [ ] . . die Wasser
schleunigst, sin[gcn] sie. — (49) [. . . . die sie trü]ben, ßeßen(?)
lassen: Das sind die trüben Wasser [ ] — (50) [ ]
die sie hinstellen [ ] — (51) [..]., elas im Monat Nisan
gar sehr reichlich ist, das Mehl [. .]; ... ah er gefangen war [ ]
— (52) Das Hemdwasser, das man herbeibringt, indem man aus-
sagtiyy, daß dieses die Seuche [weg nimmt (?)^; (53) das Ähren(?)-
geicand, das er trägt, in bemg tvorauf man also sagt „selbige{?)
Wasser (bedeuten) Wehen{?y': (54) Solches sagt man innerhedb
.,Einst als droben": Als Himmel und Erde (noch) nicht geschaffen
waren, da eni[stand] Änsar, (55) als Stadt und Tempel gemacht
wurden, da entstand er selbst, elie Wasser, die auf Ansar [ein-
drangen(?), hezwang(?) er]; (56) jener, dessen Sünde iti
jener dem Wasser (?) ivar er bekleidet, . . . . [ ]. —
(57) Der Sehnelllauf, den im Monat Nisan vor Bei und den Kiüt-
stätten insgesamt man an^stelW]: (58) (Das ist,) als Assur den
Nin-urta betreffs der Gefangennahme des Zu ausschickte, ^''°". [. .]
(59) sprach vor Assur also „Zu ist gefemgen". Assur [sprach] zu
^^"[ ] (60) also „Geh hin, den Göttern insgesamt verkünde (es)/"
Er verkündete (es) ihnen, auch [freuten(?)~\ sie sich darüber. —
(61) Die Beden insgesamt, die unter den kalü- Priestern [geführt
werden(?)], (62) von den Plünderern, die ihn ausplündern, die ihn
schlagen lassen: Das ist, die Götter, seine Väter, sie [• . •] —
(63) Nusku von E-sa-bad, der ftinübergeJit: Ein Bote ist es; Gula
i) Oder: Als bezw. wo er weggeführt war(?).
20 Hkinuicu Zimmiorn: [7O1 5
(64) (^si()[botu s\f>ui iid hm bd ''Bv-lit-liabili ub-bal-u-ni it-hu-vr^
sii-utii ii-<c-bal-(i.^-^i (05) [ny(\)-mi-il a-na m-u-tiu la ü-sar-u su-ni
la i(-su-i(-»i (66) varlcablu sd a-na bd a-ld-it tal-lah-u-m ta-la-lcan-
mi-hi b(iki la-as i!i( sä In beli ta-sa-bu- (67) ii ilfu sal-ha-l;u-Ui
ää istü all ia-lab-ba-an-ni ba-li-su si-i ishi aU tu-la-bi-a (68) dalhi
bir-ri sä i-qa-bu-u-ni iläni sh-uu i-td-as-ra-m ina blti eiar-ba daltu
ina päni-su e-te-di-li (69) hi-nu hu-nr-ra-a ie ina libbi dalti up-ta-
li-sii qa-ra-bu ina l'ib-bi up-pu-su
(70) man-nu sd tiip-pu an-ni-u e-mar-ra-qu-u-ni lii-u ina me
i-Jiar-ra-ar-u-ni (71) ü im-mar-u-ni a-na sd la ii-du-u-ni la ü-sa-
as-mu-u-nl (72) '^Assur ^Sin ^Samas ''Ädad ü ^Is-tar^Bel ^Nabü
^Net-ffal ^Istar sd Ninua^* (73) '^Tstar sä "'"Ärbu-il '^Tsiar sd Blt-
]cid-mur-r[i] {7^) iläni sä same^ irsi-üm ü iläni^^^'Assur^* ka-li-su-nu
(75) at'-i'ot itt nap-sü-ri ma-rn-us-iu li-ra-ru-sü-ma a-di üme bal-tu
a-a ir-sil r/-e-m[a] (76) süm-su .z'er-su ina mäti li-se-lu-tl slre-su
ina pi-i sä lab-bi Us-kun-lmi].
2. Die Neujahrsfeier iu Erech.
Der von Ebeling KTAR III Nr. 132 veröfi'entlichte Text
stellt eine Tafel dar^ die, wie mir scheint, nur versehentlich
unter die Assurfunde geraten ist, in Wirklichkeit vielmehr,
wie man schon auf Grund der Schrift vermuten kann, aus
den Warkagrabungen herrühren wird und wohl auch erst aus
spätbabylonischer, seleuzidischer Zeit stammt.^ Wie dem auch
sei, jedenfalls enthält der Text dieser Tafel eine Beschreibung
der Neujahrsfeier speziell in Erech. Und wenn die Nieder-
schrift des Textes vielleicht auch erst aus der jüngsten Zeit
1) Wohl Schreiberversehen für mi-it-hu-ur.
2) Die Richtigkeit dieser meiner Vennutuug wird mir nachträglich
auf meine Anfrage von Herrn Dr. Ehelolf auf Grund der äußeren An-
zeichen des Originals in jeder Hinsicht bestätigt.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 21
sendet (ihn) seinehvegen. — (64) Kl€i\der und 8]c/iuhc, die man in
den Tempel der Belit-BabUi 'bringt: Dies entsj)richt{?): er läßt {sie)
ihr bringen, (65) darum daß man ihn nicht losläßt, er nicht heraus-
gehen 'kann. — (66) Der Wagen, der zum Festhanse gefahren
kommt: {Das bedeutet,) sein Besitzer ist nicht darauf; ohne seinen
Besitzer stürmt er dahin. — (67) Auch die vermummte (J) Göttin,
die aus der Stadt heraus tvimmert{?): Das ist sein Klageiveib, aus
der Stadt heraus wimmert{T) sie. ■ — (68) D'ie sogenannte Fenstertür :
Das sind die Götter, nachdem man ihn eingeschlossen hatte, er in das
Haus eingetreten war, man die Tür vor ihm verriegelt hatte, (69) wie
sie da Löcher in die Tür hinein bohrten, Kampf drinnen anstellten.
(70) Wer diese Tafel zertrümmert oder ins Wasser uirff,
(71) auch wenn ein solcher sie zu sehen bekommt, der nichts davon
wissen, den man nichts davon hören lassen darf, (72) den mögen
Ässur, Sin, Sanias, Adael und Istar, Bei, Nabu, Nergal, Istar von
Nineve, (73) Istar von Ärbela, Istar von Bit-kidmuri, (74) die
Götter Himmels und der Erden und die Götter des Landes Assur
insgesamt (75) mit einem unlösbaren widerwärtigen Fluche ver-
fluchen, so daß er zeitlebens nicht Gnade findet, (76) seinen Namen,
seinen Samen mögen sie aus dem Lande entfernen, sein Fleisch in
eines Löwcn^ Maul legen!
des babylonischen Schrifttums herrührt, so ist der Text selbst
jedenfalls doch nur die Abschrift eines solchen aus viel äl-
terer Zeit und bietet darum ein getreues Bild davon, wie in
alter Zeit der Kult der Neujahrsfeier in Erech gestaltet war.
Hier sind natürlich der Stadtgott von Erech, Ann, seine
Gattin Antu und seine Tochter Istar die Hauptgötter", um
die sich alles dreht, während z. B. von Marduk-Bel (außer
etwa unter der Gestalt des Sulpaea) in dem ganzen Texte
überhaupt mit keinem Worte die Rede ist. Im übrigen aber
i) Doch wohl so, nicht etwa kal-bi „Hund" zu lesen.
2) Diese stehen auch noch in der Seleuzidenzeit an der Spitze
des Pantheons in Uruk; vgl. die übersichtlichen Zusammenstellungen
bei ScuROEDER, Das Pantheon der Stadt Uruk in der Seleuzidenzeit
(SBAW 19 16 Nr. XLIX).
22 Hkinuicii Zimmkkn: f?«, 5
gloiclit die hier für Erech t>'eschilderte Neujahrsfcier in iliren
Einzelheiten so selir der Form, wie wir sie i'ür Jiahylon teils
tatsächlich kenneu, teils nach mittelbaren Anij^ahen uns vor-
stellen müssen, daß man wohl nicht sehr viel fohlgihen wird,
wenn man entsprechend dieser eingehenden Schilderung für
Erech sich nun auch die Festfeier für Babylon in iliren noch
nicht bekannten Einzelheiten ganz ähnlich verlaufend vor-
stellt. Desgleichen dürfen wir nunmehr eben auf Grund un-
seres vorliegenden Textes vielleicht auch aussprechen, daß die
Neujahrsfeier, das große Mardukfest, in Babylon nicht so sehr
einem entsprechenden früheren Enlilfest inNippur, als vielmehr
einem ents])rechenden Anufeste in Erech nachgebildet sein wird.
Ich gebe nun zum besseren Verständnis des Textes zu-
nächst wieder eine eingehendere Inhaltsangabe unter Hervor-
hebung der einzelnen sich gegeneinander abhebenden Kultakte
dieses Festrituals und mit besonderer Berücksichtigung der
verschiedenen einzelnen Kultstätten, an denen die Feier statt-
findet, und lasse alsdann wieder eine vollständige Umschrift
und Übersetzung des Ganzen folgen.
Der Anfang des Textes fehlt. Es handelt sich jedoch
w^ohl nicht um eine allzu erhebliche Lücke. In dieser war
auf Grund des Folgenden wohl berichtet, daß zu Beginn des
Neujahrsfestes der König sich nach dem Eanna- Tempel zu
Erech begibt. Denn, avo der Text mit Vs. I i ff. einsetzt, ist
davon die Rede, daß jemand, und zwar wohl der König, die
goldenen Götterembleme des Anu, der Antu, der Istar vor
den zu deren Kapellen^ gehörigen Göttern und Göttinnen
vorüberziehen läßt. Es ziehen alsdann Enlil, Ea, Adad, Sin,
Samas, wie alle übrigen (zum engeren Gefolge Anus gehörigen)
Götter, sowie deren Waffen, „Sonnen" und Wagen, von ihren
üblichen Standorten auf einem königlichen Prachtgefährt (?)
nach der Anukapelle {du{l)maJihii) hinauf und richten sich
daselbst auf Anu hin. Nunmehr — die Schilderung spricht
auch weiterhin von den Götterbildern durchweg wie von
i) duiPjmahhu des Anu, du der Autu, Ubsukkinaku der Istar.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 23
lebenden Wesen — treten Enlil und Ea in die Anukapelle,
das „rechtmäßige, glänzende Thron gemach (?)" ein und setzen
sich zur Rechten und Linken Anus nieder. Die übrigen
Götter, Sulpaea, Ninurta, Misan'u, Nusku, Istar-LAL und
Nin-SAR+GUD, und andererseits Bunene, Girru, Zagaga, Ner-
gal, Lugalgirra, Il-Amurrü, Azagsud, Sa, stellen sich da-
gegen in zwei Reihen, mit Sin bzw. Samas an der Spitze,
zur Rechten und Linken des Tores der Anukapelle (papahu),
an dessen rechter Seite auch Adad Platz genommen hat,
auf. — I i3ff- berichtet nun weiter: Der König geht zur
Kapelle (papahu) der Antu; die Göttinnen Belit-ile, Sala, die
„Töchter Anus", A-a, Gula, Nin-esgal, Ama-sig-nu-du, . . .-nun-na,
Asrat und Sarrat-same^ begeben sich von ihren üblichen
Standorten weg auf einem königlichen Prachtgefährt (?) zu
Antu. Antu selbst aber wird vom König, umgeben von
Priestern aller Art, nachdem er ihre „Hände ergriffen^', in
feierlichem Zuge nach der Kapelle {duiljmahhu) Anus ge-
leitet und setzt sich, das Gesicht nach Osten gerichtet, an
ihrem Platz auf goldenem Sitze nieder. Die genannten Göt-
tinnen ihres engeren Gefolges stellen sich, auf Antu hin ge-
richtet, auf. Die Priester fällen vor Antu ihre Entschei-
duno-en. — I 23 ff. Der König und der erib-hiiP -Friester
begeben sich nach dem Palaste Unugal.' Der erib-bUi-
Priester bringt „Handwasser" für Istar. Darauf wird Istar in
gleicher Weise wie vorher Antu auf einem Prachtgefährt (?)
vom König, nachdem dieser „die Hände" der Istar und den
in der Istarkapelle befindlichen ,,Sitz" Anus „ergriffen" hat,
umgeben von Priestern aller Art in feierlichem Zuge nach
der Anukapelle (du{l)mahhii) überführt, desgleichen mit ihr
die ihr zugehörigen Göttinnen Nana, Ninsianna, Ninigizibarra,
Isirtu, Ninmeurur, Belit(?)-Eturra, Saggipadda, die „Töchter
von Uruk", die „Töchter von Eanna", Ninsun und Sarrat-
i) Hiervon ist Belit-ile die Frau Enlils, Sala die Frau Adads, A-a
die Frau Samass, Gula die Frau Ninurtas, Asrat die Frau Il-Amurrüs.
2) Geschr. ameiiv-E; gemeint ist der Oberpriester des Tempels.
3) Anscheinend Name des Istartempels in Erech.
24 Heiniuch Zimmkun: (70,5
parakki. lu der Anukapelle jingelangt [setzt siclij l.star an
ihrem Plat/.e [auf goldenem Sitze nieder]. Hier folgt nun
mit dem felilenden oberen Teile von i\ol. Jl eine größere
Lücke im Text, worin zunächst jedenfalls noch bericlitct ge-
wesen sein wird, wie die genannten Göttinnen des engeren
Gefolges der I§tar sich in der Anukapelle, auf Lstar hin ge-
riclitet, aufi^tellten; desgleichen wohl auch wieder, wie ihre
Priester vor ihr Entscheidungen fällten. — Vermutlich schloß
sich nunmehr eine feierliche Kulthandlung an, die vor den
sämtlichen von Anu, Antu und lstar in der Anuka])clle ver-
sammelten Göttern vorgenommen wurde. Sodann aber nmß
im folgenden wohl berichtet gewesen sein, wie diese Götter
alle von der Anukapelle aus in feierlicher Prozession, vom
König und den Priestern geleitet, samt ihren Emblemen,
Waffen, Wagen usw. nach dem „Schicksalsgemache" (parak
simäte) gezogen sind, wie sich daselbst Anu, Antu und lstar
auf ihren Prunksitzen niederließen, desgleichen Enlil zur
Rechten Anus und Ea zu seiner Linken, sowie Adad. An
diese schlössen sich dann wieder rechts und links stehend die
oben genannten Reihen mit Sin und Samas an der Spitze an.
Denn wo der Text mit II i ff. wieder einsetzt, haben wir
eben die Schilderung der Aufstellung dieser beiden Götter-
reihen vor uns. Es folgt weiter die Aufstellung des oben
genannten Antu-Göttinnengefolges mit Belit-ile an der Spitze
hinter Antu, desgleichen des gleichfalls genannten Istar-
Göttinneugefolges mit Nanä an der Spitze hinter lstar. Es
folgen nun in der Aufstellung noch weitere, im bisherigen
Text, wenigstens soweit er erhalten, noch nicht genannte
Götter und Göttinnen, unter den ersteren z. B. die Sieben-
gottheit, unter den letzteren z. B. Ningal, die Frau Sins, die
sich neben und hinter den vorher genannten Gruppen auf-
stellen, desgleichen Priester, darunter die Schwertträger {iiäs-
patri) im Dienste der lstar. Es folgt darauf wieder eine, je-
doch nur kleinere vollständige Lücke von etwa 10 Zeilen^,
i) Dies allerdings unter der Voraussetzung, daß die Tafel (was
nach einer Mitteilung Ebelings der Wölbung der Tafel nach das Wahr-
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 2 5
worin sich diese Schilderung der Aufstellung im Scbicksals-
gemache zunächst noch weiter fortgesetzt haben muß. Spe-
ziell scheint alsbald die Schilderung der Aufstellung der
Götterembleme und des sonstigen Götterzubehörs begonnen zu
haben. ^ Denn wo der Text mit 111 1 ff. wieder einsetzt, be-
finden wir uns mitten in der Schilderung der Aufstellung von
Götterwagen. Diese Götterwagen, die speziell als Kriegswagen
auftreten (mit kriegerischer Mannschaft, [Bogen, Pfeilen und]
Köchern), setzen sich zu einem Zuge mit dem Wagen Anus
an der Spitze in BewegU' g. Und zwar handelt es sich dabei
wohl bereits um den Aufbruch aus dem Schicksalsgemache.
Diesem Zuge schließen sich zunächst diejenigen Götter an,
die vorher bei der Aufstellung an letzter Stelle genannt
waren (die Siebengottheit usw.), sodann vor allem solche, die
zum besonderen Gefolge des Anu gehören, wie Lugalgirra,
Ninurta, Bunene, Zagaga, Samas und Adad, Nusku, Girru,
Il-Amurnl, Azagsud und andere. Dazu auch Papsukkal.
Ferner allerlei Arten von Priestern. Sodann noch rechts
und links von den Beschwörungspriestern zwei Tempelange-
stellte, die in Gefäßen allerlei kostbare Kultgeräte heraus-
tragen. Dahinter endlich der, nicht ausdrücklich genannte,
Oberpriester, der „Handwasser" für Anu und Antu bringt''^
und damit den König und das Volk ,,berührt". Darauf „er-
greifen" — merkwürdigerweise ohne daß anscheinend über-
haupt eine weitere größere Kulthandlung im Schicksalsgemache
vorgenommen worden wäre^ — nachdem der König das gol-'
'ö"
scheinlichere ist) nur 2, nicht etwa 3 Kolumnen auf jeder Seite gehabt
hätte. Im letzteren Falle würde es sich dagegen um eine große Lücke
von über 2 Kolumnen handeln. Beachte dazu das weiterhin unten in
Anm. 3 Bemerkte.
i) Doch beachte auch die vorhergehende Anm. 2) Oder: trägt.
3) Damit verhielte es sich allerdings anders, wenn, entgegen der
in obiger Anm. mitgeteilten Ansicht Ebelings und auch Ehelolfs, doch
vielmehr volle 2 Kolumnen fehlen würden. Denn dann könnte in dieser
großen Lücke natürlich eine ausführliche Beschreibung der Vorgänge
im „Schicksabgemache", nämlich der Schicksalsbestimmung durch die
versammelten Götter unter dem Vorsitze des Götterkönigs Anu, ent-
20 HioiNKicii Zimmrkn: [70.5
deue 8peiuler]joiiiß(y) vor Ami ^ctuliil lint, Piipsukkal, Nusku,
Su und der Kchiig „die Hände" Anus und führen ihn aus dem
Schieksalsgemache (parak .slnuife) heraus. Bei dem sich nun-
mehr in Bewegung setzenden Zuge vom Schicksalsgemache
weg, da Anu „zum zweitenmale aufbricht"*, schließen sich
zunächst wieder Enlil zur Rechten, J<]a zur Linken Anus
gehend an, während die ül)rigen Götter des Anugefolges,
Samas, Adad, Ninurta, Nusku usw. sich ja bereits an der
Spitze des Zuges befanden. Es folgen Antu, Istar und Nanä,
darauf die zu Antus Gefolge gehörigen Göttinnen. — Es folgt
nun zunächst wieder, mit der fehlenden unteren Hälfte der
III. Kolumne, eine größere Lücke im Text, worin jedenfalls
vorerst noch etwas weiter der Götterzug vom Schicksalsge-
mache weg geschildert war. Sodann aber muß von dem Ein-
treffen des Zugs im Festhause {hit alätu) die llede gewesen
sein. Denn, wo der Text mit Kol. IV i ff. wieder einsetzt,
befinden wir uns bereits in diesem. Hier, im Festhause an-
gelangt, wnrd Anu, nachdem der König wieder das goldene
Spendegefäß (?) vor ihn geführt hat, von Papsukkal und dem
König, die seine „Hände ergreifen", in die Kammer {du) des
Festhauses geleitet, wo er sich, sein Gesicht nach Osten ge-
richtet, auf einem Prunksitze (haragaUu) niedersetzt. Enlil
und Ea treten in die Kammer ein und setzen sich zu seiner
Rechten und Linken, desgleiclien Antu, Istar und Nanä auf
die Sitze hinter Anu, sowie auch Adad neben Enlil rechts
von Anu. Darauf treten die Götter insgesamt ein und stellen
sich in der Kammer des Festhauses vor Anu auf. Der, wie-
derum nicht ausdrücklich genannte, Oberpriester bringt „Hand-
wasser" für Anu und Antu und „berührt" König und Volk
damit. — Auch in dieser Kammer des Festhauses findet merk-
halten gewesen sein. Saclilicli spricht vieles für diese letztere An-
nahme, da mau nur ungern in diesem Texte eine solche Schilderung;
dessen vermissen würde, was gewiß auch in Erech gerade den Mittel-
punkt der Neujahrsfestfeier bildete.
i) Unter dem „ersten Aufbruch" ist also der Zug von der Ka-
pelle Anus zur Schicksalskammer zu verstehen.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrspest. II. 2 7
würdigerweise sonst keine weitere Kulthandluncr statt. Viel-
mehr führt der König alsbald wieder das goldene Spende-
gefäß (?) zu Ann und Antu, Papsukkal und der König „ergreifen
die Hände" Anus vom Prunksitze weg, d. h. sie führen ihn
von diesem weg. — Darauf tritt Anu in seine Kapelle
(papahu) ein und setzt sich daselbst nieder. Wir befinden
uns damit also wieder in demselben Raum, worin die erste
Götterversammlung stattgefunden hatte, ehe von da aus der
Zug nach dem Schicksalsgemache angetreten wurde. Nach
Anu treten Enlil und Ea in die Anukapelle ein und setzen
sich zur Rechten und Linken Anus. Desgleichen nimmt Antu
ihren Sitz in der Kapelle ein, sowie rechts und links von
ihr Sala und die j,Töchter-Anus". Ebenso Istar und rechts
und links von ihr Nanä und Ninsianna. Endlich setzt sich
Adad neben Enlil rechts von Anu, und Samas neben Ea links
von Anu. — Nunmehr folgt eine eigenartige Handlung, bei
der Papsukkal eine leitende Rolle spielt. Dieser tritt auf
bzw. stellt sich an den hihurrü des Tores der Anukapelle.
Darauf schließt man den goldenen Türverschluß (tallu)'^ des
Anu(?) auf, und ebenso den des Enlil, Ea, der Antu und Istar,
des Adad und Samas. Sobald der Türverschluß wieder ver-
riegelt (V)^ ist, geht Papsukkal wieder vom Tore weg und setzt
sich auf seinen Sitz. — Danach stellt sich [der Oberpriester]
zur Seite (Anus) und spricht vor ihm ein „Handerhebungs-
gebet" (sü-il-lu, nis qäti\ das mit den Worten „Großer Anu"
beginnt. Hier, wo vermutlich der Text gerade interessant ge-
worden wäre, wird er lückenhaft und bricht bald ganz ab.
Ich lasse nun wieder Umschrift und Übersetzung des
Textes folgen. Dabei gilt hinsichtlich freundlicher Beihilfe
von Seiten Ehelolfs und Landsbergers dasselbe, was be-
reits zu dem unter Nr. i behandelten Texte bemerkt wurde.
1) Vgl. zu tallu zuletzt Streck, Assurbanipal 290*. 630 und dazu
noch Meissner, OLZ 1916, 308. Meine Übersetzung durch „Türverschluß"
im Anschluß an Weis.sbach, Wädi Brtsä zu Kol. IIa 9. Vgl. auch noch
den oben unter Nr. i behandelten Text KTAR Nr. 143, Z. 20 und Z. 22.
2) So, falls it-tal-du, wie ich vermute, eine Metathesis für ütadlu darstellt.
28 Heiniucii Zimmkkn: [7^1 5
{Der rorheryeheniU- Teil der Koli(ninr fehlt.)
Kol. 1 (i) [ 1 (^) I • • • • /""■"\''" pa-ni ''Aimm
a-tia pa-ni\ ''Arnim /> iUnii iixi-lu hia dn{l)muhhi ii-§e-U-cq
(3) [••••] /'i'>'(i?i pa-ni An- tum a-na pa-ni '^Islarätr Sa ina
de ü-sc-ü-cq (4) |. . . . h]iinisi pa-ni ''Istar a-na pa-fii iläni
mala ina Ub-süukkin-nd-gr n-k-ti-eq (5) ['^J^:n-lü'^K]-a '^Adad'
^Sin ''Samdii ilan'i Inlama hMc mmsäli (6) [«] narhahäti
[ult\u sub-ti-sa-nu ina ma-a1c-ni{\)-tum ia na-mur-tum Mrri uhthu-
mm-ma (7) \'i-n\a d)i{l)mahhi ellü-ma a-na ''A-nmn ittarrasu
''En-lil errub-ma (8) [.]. m ki hara{y)-zi{d)-da a-na imitü '' A-mim
iilasub"' '^ E-a cirub-ma (9) [.]. hi ki bara{J)-azag-(ia a-na su-
min '^A-nnm itlasab'"' ''Sin ''Sul-pa-'e'-a (10) \''Ninu\ita '^Mi-mr-
ri "^Nuf^ku "Jslar-'LkL. ü ''Nin- sar+oud (ii) [ina i]mitii bäb
pa-paha ina idi ^ Adad iszam'" '^Samas '^Bu-nc-ne (12) \'^\Girru
'^Za-gd-gd ''Nergal ''Lugal-gir-ra '' ll-Amurrü ''Asag-sud (13) L'^]
^Sd ina sumeli bäb jja-iia-ha izzam''' sarru a-na pa-pa-ha An-tmu
ülak-ma (14) [us-]lxn-ni '^Be-lit-ile, '^Sä-la '^Märüte-'^Anum'' A-a
''Gu-la (15)* [^ N ]in-es-gal '^ Ama-sig'^-nu-dü ^ E{^)-gakm-^cu-'■''■nun-
na^Äs-rat (16) [?>] '' Sar-rat-same" idtu sub-U-si-na ina ma-ak-ki-
tum, sa na-mur-üi sarri (17) [usatbu]-nim-ma a-na An-tum iitar-
rasa surm ma-aq-qu-ü huräsi a-na An-tum (18) [i-r]id-di-c-ma
qätä An-tum ina '"""^masmase ''"'"kale '"'"h-amke sid-di qiie^
(19) [w] ma-aq-qu(^.) Imräsi imbbat^'^*-am-ma An-tum iltakf^^-ma ina
man-za-zi-su (20) [ina d]u{l)mahhi ina muh-M m-bat huräsi pa-
ni-su a-na slt-Somsi istakan^'^-ma ittasab"'' (21) [Ihtur\ate nap-
har-si-na a-na tar-si An-tum iszazir' {22) ["'""inas]mase "'""kale
ü ''^h-awke ina pa-ni su i-pär-ra-su {2^) [sarru] ü "•''"'' erib-
biti^ a-na\'s-gdl-la Unu-gal illak^^ P'-ma (24) [«""''] erib-biti nie
qätä a-na ^Istar inassf^'-ma sarru ma-ak-ki-tum sa na-mur-tü
(25) [a-n]a pa-ni '^Istar isabbat'""-ma qätä ^Istar ü sn-bat ''Anmn
sa lit pa-pa-ha ''Mar (26) [ina ''""'' mas]mase '"'""kale ''»^''ramke
sid-di qite^ ü ma-aq-qu-ü huräsi (27) [i^abbat^'^J-am-ma ''Na-
na-a '^Nin-sl-an-na ^Kin-igi^^-zi-bar-ra (28) [^I-si]r-tum '^Nin-
i) Für \<^Ba-ti'\y das nach II 5 III 24 hier zu erwarten ist, ist
wohl kaum Raum.
2) Geschr. pa.gan. 3) Oder m? 4) Geschr. ameiiv.K.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 29
{Der vorhergehende Teil der Kolumne fehlt.)
Kol. / (i) f- •] (2) [das goldene . . . des Angesichts des Ann]
läßt er [vor] Anu und den Göttern, soviel im „hehren Gemacli",
vorüberziehen, (3) [das\ goldene [. . .] des Angesichts der Antu läßt
er vor den Göttinnen, die im Gemache, vorübersiehen, (4) [das]
goldene [. . .] des Angesichts der Istar läßt er vor den Göttern,
soviel in Uhsukldnna, vorüberziehen. (5) [Enlil, E]a, Adad, Sin,
Samas, die Götter insgesamt, Waffen, Sonnen (6) [und] Wagen: von
ihren Sitzen iceg auf einem glänzenden Gefährt {^y des Königs läßt
man sie aufbrechen und (7) [na]eh dem „hehren Gemache" ziehen sie
hinauf, auf Anu hin richten sie sich. Enlil tritt ein tind (8) . ... im
„rechtmäßigen Throngemach (^)" zur Rechten Anus setzt er sich. Ea
tritt ein und (g) . ... im „glänzenden Throngemach (^f)" zur Linicen
Anus setzt er sich. Sin, Sul-pa-ii-a, (10) [Ninii\rta, Misarru, Nushu,
Istar-L,kL und Nin-SAR-{-GVD: (11) zur Hechten am Tore der Ka-
jyclle zur Seite Adads stellen sie sich auf. Samas, Bunene, (12) Girru,
Za-gü-gd, Ncrgal, Lugalgirra, Tl-Amurrü, Azag-sud (13) [und] Sd:
zur Linken am Tore der Kapelle stellen sie sich auf. — Der König
geht in die Kapelle der Antu und (14) [be]tet an. Belit-ile, Sala, die
Töchter-Anus, A-a, Gala, (15) Nin-csgal, Anid-sig-nu-du, -E(?)-
gasan-hj-^mm-na, Asrat (16) und Sarrat-same: von ihren Sitzen
weg auf dem glänzenden Gefährti^^) des Königs (17) \läßt man sie auf-
brechen] und auf Antu hin richten sie sich. Der König: das goldene
Spendegefäß zu Antu (18) [f]ührt er und die Hände der Antu inmitten
von Beschwörern, Sühne-, Spendepriestern, des .... (19) [und] des
goldenen Spendegefäßes ergreift er\ alsdann geht Antu dahin, darauf
an ihrem Platze (20) [im] „hehren Gemache" auf dem goldenen
Sitze richtet sie ihr Gesicht nach Sonnenaufgang und setzt sich dann.
(21) Die [Gött]innen insgesamt stellen sich auf Antu hingerichtet
auf. {^2 2^) Die [Besch]^ivörer, die Beinigungs- und Spendepriester
fällen vor ihr(T) ihre Entscheidungen. — {^'^3) [Der König] und der
Tempel-Priester gehen nach dem Palast Unugal: (24) Der Tempel-
Priester bringt Handwasser für Istar. Darauf der König: das
glänzende Gefährt(?) (25) [v]or Istar ergreift er, darauf die
Hände der Istar u/nd den Sitz Anus in der Kapelle der Istar
(26) [inmitten von Besch]wörern, Beinigungs- und Spendepriestern,
des .... und des goldenen Spendegefäßes (27) [ergreifjt er; als-
dann Nanä, Ninsianna, Ninigizibarra, (28) [Isi]rtu, Ninmeurur,
30 Hkinkich Zimmkkn: [70, 5
me-ur-ur Bi{?)-Iit-J:-ti()-ra '' Säg-fli-p(id-(i[(i\ (29) ['' Märale]- Uruk
'^ ]\Imiitc-E-a)i-iia ^Kin-sim U ''Sar-rat-\paraMi] (30) [ana
** Jstar ittarasa{'?)y"-'ni)n- ma '' Isiar a-nit di((l)mahlii clln-ma nm
man-:a-:i-su
{Der vorhergehende Teil der Kolumne fehlt.)
hol. II (i) '^üin ''lS[ul-pa- c'-a '^Kinuria '' Mi-'sar-ri'^ Nuslm 'Tslar-
LÄL u ''JN^i»-sAH4GUu] (2) inü idi '' Adad [izzazu ^Samas '^Bu-nc-
nc''Girru ''Za-gd-gd '^Na-gal\ (3) ^ Lugal-gir-ra ''Il-Am[urri( ''Äzag-
si(d i( ''Sä ] (4) ina idi '^Ea izzazu'" "^ Bc-l[it]-ilc '^Sd-la
^[Mdrüte-'^ Änum '^Ä-a'] (5) '^Gtda ^Ba-u ^Nin-fs-gal '^Ama-sig-
nu-d[ü ^ E{J)-gasan'ku-^"nun-na] (6) "^As-rat h '^Sar-rat-samc"
arki An-tum izlsaza"" ^Nana-a ^ Nin-st-an-na] (7) '^Nin-igi^-zi-
bar-ra ^I-sir-i[iim] ^ Ni[n]-me-u[r-ur Bi{7)-lit-E-iür-ra] (8) ü ^Säg-
gi-pdd-da ''Märä[ie-U]r[uJc '^Mürüie-Ean-na '^Nin-sun] (q) ü '^Sar-
rut-puraUi illal^''-a-m[a arki ^Istar izzaza'" ] (10) iUa1{f''-ma
a-na imitti ^Na-na-a izzaz-za ''[....] (i 0 '^Lvgal-mär-da "^Vll-hi
^Igi-du ''Ifes-lam t[a-e-a . . .'j (12) '^Pa-sag-gä ü ^Sü-hu-ld ina
mah-ri pa-ni-su{-nu a-na . . . -Samsi] (13) is-saJc-kan-nu-ma
ittezizu"'^'''' '^Sis-ka-su **[ ] (14) ^Nin-ur-bu '^Nin-gal ^Silam-Mr-
ra [ ] (15) arU '^Nin-si-an-na izzaza'" '^Sin{?) [ ] (16) sa
bäb c's-mah ittezizW' ^" ''.[ ] (17) bi-'-u(J) ia es mali '^Istari?)
[ J (18) rak-su '""''näs-patri '^I[btar{?) ] (19) ippar-su
a-na [ ] (20) sa paha[ri{?) . . . .] (21) bäb [ ]
(22) • [ ]
{Es fehlen bis zum Schluß der Kolumne etwa 10 Zeilen)
Eol. III (i) arki-su II . . [ ] (2) arki-su IV .[
. .] (3) arki öu II «^'"«'wm- . [ ] (4) arki-su '^''^''"'> narkabfu
narkahat-su [ J (5) arki-su narkabat ''Ninurta narka[bat . .
. . .] (6) arki-su narkabat ^Simal ü narkabat \^Adad ] (7) o^*-
na-a narkabäti ''""'ummäni"' [....] (8) is-paiP' elleti sa '^ Arnim
ü An-tu[m . . . .] (9) if-ti narkabat ^Anum illak''^ p'- ark[i-su ]
(10) w ^Liigal-mär-da arki-su '^ Vll-bi '^Ig[i]-d[u . . . '^ I'a-sag-gd]
(11) M '^Sii-bu-ld arki-su '^Lugal-g'ir-ra '^ Mes-lam-t\a-e' -a . . . .]
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 3 1
Belit{?)-E-tur-ra, Saggipadd[a], (29) [cHe Töchter] von Uruk, die
Töchter von E-anna, Xinsun und Sarrai-[parakki\ (30) [sind auf
Istar (jiri]chtet(?); darauf geht Istar nach dem „hehren Gemache"
hinauf und an ihrem Platze [setzt sie sich nieder.]
{Der vorhergehende Teil der Kolumne fehlt.)
Kol. II {\) Sin. S[uJpaea, Ninurta, Misarru, NusJcu, Istar-
LAL und JVin-sAR+GUD:] (2) Zur Seite Ädads [stellen sie sich auf,
Samas, Bunene, Crirru, Zagaga, Nergal,] (3) Lugalgirra, Il-Am[urrü,
Äsag-siid und Sä :] (4) Zur Seile Eas stellen sie sich auf —
Bellt- ile, Sala, [die Töchter- Anus, A-a^ (5) Gula, Bau, Nin-esgal,
Ama-sig-nu-d[u, E{7)-gasan-]cii-^"nun-na,] (6) Asrat und Sarrat-
same: Hinter Antum ste[llen sie sich auf — Xanä, Ninsianna,]
(y) Nin-igizibarra, Fsirtu, Kinmci([rur BiUt(?)-E-turra] (8) und
Saggipadda, die Töch[ter von Uruk, die Töchter von Eanna, Nin-
sun] (9) und Sarrat-parakki kommen un[d stellen sich hinter Istar
auf — . . . .] (10) kommt und stellt sich zur Rechten der Nanä
auf '"'""[. . . .] (11) Lugalmarda, die Siehengottheit, Igi-du, Mes-
lamt[aea . . .] 12] Pasagga und Suhula: Davor ihr[e] Gesicht[er
naäi Sonnen- . . . .] (13) richten sie und stellen sich auf. ^''"Ses-
ka-su, '^''"[. . . .], (14) Nin-tirbu, Ningal, Silam-kurra, [ ]:
(15) Hinter Ninsianna stellen sie sich auf. Sin{?) [....] (16) des
Tores des „hehren Hauses" stillen sich auf ^''"[ ] (i 7 j Eingang
des „hehren Hauses" der Istar{?) [ ] (18) • • • Schwertträger
der I[sfar{?) ] (19) tverden gehemmt zu [ ] (20) des
Töpf[ers{?) . . .] (21) Tor [ ] (22) .[ ]
(Es fehlen bis zum Schluß der Kolumne etwa 10 Zeilen.)
Kol. III (i) Dahinter 2 . . [ ] (2) Dahinter 4 • [ ]
(3) Dahinter 2 -Leute [ ] (4) Dahinter das Wagen-
gestirn, sein Wagen [ ] (5) Dahinter der Wagen des Ninurta,
der Wagen [des ] (6) Dahinter der Wagen des Samas und
der Wagen [des Adad . . . .] (7) Dicse(?) Wagen, die Krieger
[....] (8) die glänzenden Köcher des Anu -wid der Antu [..••]
(9) mit dem Wagen Anus kommen sie. Dahin[ter . . . .] (10) und
Lugalmarda. Dahinter die Siebengottheit, Igi-d[u, .... Pasagga]
(11) und SubuXa. Dahinter Lugalgirra, Meslamt[aea, ...] (12) Istar-
^2 Heiniucii Zimmkkn: [7*^'. 5
(12) ''Jitar-iAi. u '' Nin-sxii-^uuu ''Mas-tab-ba '' Tu-ma ..[ J (13)
arki-su ''Nhiurta ^Bu-nc-nc h '' Za-pn-ffä arki-su '^Samas u ^Ad\ad]
(14) arJäsu '^Pap-sulkal ''Niisku ''Girru '"'""ramkc ü """'kale
(15) arki-hi "'"'''oiüH ''Il-Amurrn ''Azap-sud '^Asilal ii """''masw?a6[c]
(16) im)ia II snniela sa '^'""'mtismasc II '^""''nia-bmi-nu-ü «'«gir za-
gm-iui gai-ra bu^ erini (17) i>ia '^"''P'"huhippak ina pa-ni-su uscsü-
nim-ma arki-su tue qäiä a-na ''Anum (18) ü An-ium inassf"* sarru
ü nisc u-lap-pat '^Pap-sukhd (ig) ^ Nuskii ü '^Sä a-na ^A-num
iüarrasii-ma s<(rru ma-aq-qu-ü huräsi (20) a-na pa-ni ^A-num
irid-di-e-nia ^Pap-sukkal ^Nusku '^Sd ü sarru (21) qätä '^A-num
iditi parak slmäü isabbal'"" P'--ma '^En-Iü ina imitti-su ü '^[E-a]
[22) ina simieli-su illdf^ ^^-ma satm'^-fa a-na na-mis-su arhl-su
'^[An-tum '^Istar] (23) ü '^Na-na-a arki-su ^ Nin-si-an-na '^Sd-la
ü [^Jläräte '^Anmn] (24) arki-su '^A-a '^Gula ''^Ba-ü ü ^Nin-i'S-
\gal\ (25) arki-su ^ Ama-sig-nu-du '^ E('^^)-gasan-ku-^"'nun-na '^As-
rat [ü ^Sar-rat same^^
{der folgende Teil der Kolumne fehlt.)
Kol.IV(i) [. . . .^kak1cu(?)sa "^A-numil) ina muh-hi a-ra-am
(2) [...]. .-ü iläni gab-bi(?) a-na pa-ni-su Haras'^f (3) [. . .] ^'qa-ru-ü
ir-rak-kas-ma (4) [. . . sa^rru ma-aq-qu-ü huräsi a-na pa-ni '^A-num
(5) [i-rid-di-e-ma '^]Pap-sukkal ü sarru a-na ^A-num iUaras^- f'-ma
(6) [^ä/ä] '^Anim isabbatu-ma a-na de bit ä-ki-tum errub-ma ina muh-M
(7) [bar]a-gal ina de blt ä-ki-tum pa-ni-su ana slt-Samsi istakan'^'^-ma
iltasdb°^ {^)\^ E^n-lil ü '^E-a errubu-ma imna sumela iitasab'^^ An-
ium ^Istar (9) ü '^Na-na-a ina muh-hi sü-baP'^ arki ^Anum ittasab'^
^Adad ina idi (10) ^En-Ul ana irnUW^Anum ittasab^^ iläni nap-
har-su-nu errubu-ma ina de blt a-ki-tum (11) ina pa-ni-su iezazi'^ ^'•
me qätä a-na '^ Arnim ü An-tum inassi-ma sarra u nise (12) ü-lap-
pat sarru ma-aq-qu-ü huräsi a-na '^Anum u An-tum i-red-di-e-wa
(13) '^Pap-sukkal ü sarru qätä ^A(\)-num istu bara-gal isabbat'"^' ^^-ma
errub-ma ina pa-pa-ha-su (14) \iltasahY'' arki-su '^En-lü ü ^E-a
errubu-ma imna u. sumela ittasab'^^ (15) [J.w]-^wm errub-ma ina
i) Nach Landsberger vielleicht im Hinblick auf sid-di isi (falls
BO statt qite zu lesen) Kol. I 17. 26 als Uddu zu fassen.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. IT. ^^
LÄL uml iV%-SAR+GUD, Mustabha, Tuma . .[. .] (13) Dahinter Nin-
urta, Bunene und Zagaga. Dahinter Samas und Ad[cid?^ (14) Da-
hinter PapsuMat^ Nusku, Girru, Spende- und Sühnepriester. (15) Da-
hinter HoQhpriester, ll-Ämurrü, Asagsud, Asilal und Beschwörer.
(16) Hechts und links von den Beschwörern 2 -Leute einen
Fußschemel{?) mit Lasurstein eingefaßt, ein . . . aus Zedernhols
(1 7) in einem -Gefäß bringen sie vor ihm heraus. Darnach
Handle asser für Ann (18) und Antu bringt er, den König und das
Volk berührt er [damit). Papsukkal, (19) Nusku wnd Sä richten
sich Ann zu; alsdann der König: das goldene Spendegefäß (20) führt
er vor Anu: darauf Papsukkal, Nusku, Sd und der König: (21) die
Hände Anus aus dem Schicksalsgemach heraus ergreifen sie; alsdann
Enlü zu seiner Fechten, [Ea] (2 2) zu seiner Linken gehen sie, in-
dem er zum zweiten Male aufbricht. Dahinter [Antu, Istar] (2^) und
Xanä; dahinter Ninsianna, Sala und [die Töchter Anus-] (24) da-
hinter A-a, Grula, Bau und Nines[gal-\ (25) dahinter Ama-sig-nu-du,
E{T)-gasan-hu-^''nun-na, Asrat [und Sarrat-same]
(der folgende Teil der Kolumne fehlt.)
Kol. IV {i)[... .] Waffe{?) Anus darauf (2) [••••]•• •
die Götter alle(?) vor sich richtet er (3) [• • • •] Mast{?) tcird gebunden,
darauf (4) [. . . . der Kö]nig: das goldene Spendegefäß vor Anu
(5) [führt er, darauf] Papsukkal und der König zu Anu richten sie sich,
darauf (6) [die Hände] Anus ergreifen sie, darauf in die Kammer
des Festhauses tritt er ein, darauf auf (7) dem Prunk[sitze] in der
Kammer des Festhauses richtet er sein Gesicht nach Sonnenaufgang
und setzt sich alsdann. (8) Enlil und Ea treten ein und setzen sich
alsdann zur Rechten und zur Linken. Antu, Istar (9) und Nanü
setzen sich auf die Sitze hinter Anu. Adad, zur Seite (10) Enlils
zur Fechten Anus setzt er sich. Die Götter insgesamt treten ein,
alsdann in der Kammer des Festhauses (11) stellen sie sich vor ihm
auf Handtcasser für Anu und Antu bringt er, alsdann den König
und das Volk (12) berührt er {damit). Der König: das goldene
Spendegefäß zu Anu und Antu führt er, darauf (13) Papsukkal
tmd der König: die Hände Anus von dem Prunksitze weg ergreifen
sie, darauf tritt er ein und in seiner Kapelle (14) setzt er sich als-
dann. Darnach treten Enlil u/nd Ea ein und setzen sich alsdann
zur Rechten und zur Linken. (15) [J.w]<« tritt ein und setzt sich
Phil.-lü»t. Klasse 1918. Bd. LXX. 5. 3
34 Heinkich Zimmern: "[70. 5
mith-hi st<bti-sii Utasah"'' ''Sd-la i( '' Märätc-'' Änum (16) [ana]
iniitti Jt sinneli sa Än-ium ifiasab"'' '^Istar irruh-ma ina muhhi sUh-
ti-su ittasab"^ (17) [''] Ka-na-a i\ '^ Nin-si-an-na hnna u sum'ela
.sa ''Istar itinsab"'' (18) [''J Adad errub-ma ina Uli ^Fm-IU a-na
imiili ''A-nu)n itiasab"'' (19) [''J Samas nruh-ma ina idi ^E-a
ana hamdi ''Ä-mim ittasab'^'' (^20) [f] Fap-suklcal ina Jcu-bur-ru-ü
bdbi pa-pa-ha iezaz-za ''ial-lu Imräsi sa{'^) ^A-num(T) (21) ü-se-el-
bi-ii sa '^E^i-lil ''Ea An-tum ''■Istar ^Adad n ''Samas ki-min-ma
{^22) [Ä]i sa '"tal-lu it-tal-du 'Tap-suMal Ulak^'^-ma ina muh-hi
sub-ti-su iUasab"^ {2^) [.]. ina [i]di izzas-za-ma An gal-e su-il-la-
kan a-na ^Anmn inassi" (24) [, . illak'^^] P'--ma ina sub-ti-su-nu
sa de ittasab'^ ^1-sim. illah°'^-ma (25) [. . . i-z\a-\m'\ar(J) sarru a-na
rmitfi ittasab"^ ^ Mes-sag-Unuif' illal^^-ma (26) [. . . . s\a '''Arnim
a-na §unieli itiasab^^ (27) [. . . s]a ^Anum ina pa-ni-su-nu i-sal-li-
(28) [. . . . su]-nu it-[t]a-[s^ab ....
{der folgende Teil der Kolumne fehlt.)
3. Die Hemerologie für das Neujahrsfest in Babylon.
Bereits ZbN 149 ff. habe ich eingehend ein Stück aus
den eng zusammengehörigen Texten DT 15 (IV ß 40 Nr. i),
im folgenden = A, DT .114 (= IV R 40 Nr. 2) = B^, und
DT 109 (Craig, Rel. Texts I i f . und Hehn, BA V 398—400)
= B2 behandelt, die in Form einer Hemerologie ein ausführ-
liches Ritual für die einzelnen Tage des Neujahrsfestes im
Nisau enthalten. Dazu ist unterdessen als weiteres Stück
dieser Tafelserie der äußerst wichtige Text MNB 1848 (Dhorme,
Rev. d'Ass. VIII 41 ff., Autographie von Thukeau-D angin)
= C getreten. Mit Hülfe dieses letzteren Textes läßt sich,
wie auch Dhorme selbst bis zu einem gewissen Grade schon
gesehen hat, ein großer Teil speziell des Rituals für den
4*^" und namentlich den s*®"" Nisan jetzt gewinnen. Leider
ist gerade für die folgenden Tage (6*^' bis 11*^'' Nisan), die
gewiß besonders interessant wären, weil in sie die Höhepunkte
der Neujahrsfeier fielen, bis jetzt noch nichts von dieser
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 35
alsdann auf ihren Sitz. Sala und die Töchter- Anus (i6) sdäen sich
[gur] Eechten und Linken der Antu. Istar tritt ein und setzt sich
alsdann auf ihren Sitz. (ly) Nanä und Ninsianna setzen sich
rechts und Unis von Istar. (i8) Adad tritt ein und setzt sich alsdann
zur Seite Enlils zur Hechten Anus. (19) Samas tritt ein und setzt
sich alsdann zur Seite Eas zur Linken Anus. (20) PapsuMal stellt
sich an den des Tores der Kapelle. Den goldenen Türver-
schluß des Anu (?) (21) schließt man auf, den des JEnlil, Ea, der
Antu, Istar, des Adad und Samas desgleichen. {22) [So]hald der
Türver Schluß (^wieder) verriegelt (?) ist, geht PapsuMal hin wnd
setzt sich auf seinen Sitz. {25) [Der . .] stellt sich zur Seite, darauf
erhebt er „Großer Anu" als Handcrhehu'ngs{gehet) zu Anu. (24) [Die
.... 'ko'ntm]en und setzen sich alsdann auf ihren Sitz im Götter-
gemach. Ikmi kommt uhd (25) [. . . . si'\ngt (?). Der König setzt
sich zur Eechten. Mes-sag-Unug kommt und (26) [....] Anus
zur Linken setzt er sich. (27) [. . . .] Anus vor ihnen sprengt (?) er
(28) [. . . ih^ien setzt er sich ....
{der folgende Teil der Kolumne fehlt.)
Textserie zum Vorschein gekommen. Den ganzen bis jetzt
zu erreichenden Text dieses Rituals hier mitzuteilen, muß ich
mir versagen. Einmal liegt er ja für den größten Teil be-
reits in Umschrift und Übersetzung vor.^ Sodann aber möchte
ich auch Landsberger nicht zu sehr vorgreifen, der bereits
vor mehreren Jahren eine ausführliche Behandlung dieser
Textserie für die Fortsetzung seines „Kultischen Kalenders"
druckfertig ausgearbeitet hatte und nur durch seine Teil-
nahme am Feldzug seit dem zweiten Kriegsjahre bisher an
der Veröffentlichung verhindert worden ist. Doch empfiehlt
es sich als Ergänzung zu dem in den Texten von Nr. i und
Nr. 2 dieser Arbeit Enthaltenen wenigstens die Aufeinander-
folge der einzelnen Kulthandlungen für diese Nisantage an
1) A I 1—32; IV I — 29; B^ I I — 17, IV Schluß bei Jensen, KB
VI 2, I S. 28f. — A I 1—32; Bi I I — 17; 11 1—8; Bj Vs. 1—26, Rs. 1—2
bei Hehn a. a. 0. 375 ff. — A IV 1 — 27 bei mir a. a. 0. 149 f. — C bei
ÜHORME a. a. U., allerdings melirfacb sehr der Verbesserung bedürftig.
3*
36 Heimuch Zimmern: I7"i5
der UjukI dieser liemerologie hier kurz vor/.ulegen. iJabei
nehme ich dankbar einige sehr scharl'sinnige Beobachtungen
Laxdsbkrükks^ zu diesen Texten schon jetzt im voraus auf.
2^^^ Nisan. A 1 i — 4: Noch zur Nachtzeit steht der
urigaUn („Großbruder'"'), der Oberpriester Marduke, auf, und
spricht, in ein besonderes Leinengewand gekleidet, vor Bel-
Marduk ein lluhiigung-sgebet, das im Worthiut, anfangs su-
merisch und akkadisch, weiterhin bloß akkadisch, mitgeteilt
wird (A I 5 — T)2). Das Gebet enthält einen Lobpreis Bels und
läuft aus in eine Bitte um Erbarmen für Babel, Esagil und
die Einwohnerschaft Babels. — AI 33—35 enthält wahr-
scheinlich dif Anweisung, daß während dieses Gebetes des
/(;7'(/f?//«-Priesters vor Bei niemand von der Priesterschaft außer
ihm allein im AUerheiligsten weilen darf. — AI 36 — 40^
enthält die Angabe, daß nach diesem Gebet des urigallu-
Priesters die Türen geöifnet werden, die erib-hiti^-'PnQ^ie,r
eintreten und ihren ständigen Dienst vor Bei und Bellt ver-
richten. In gleicher Weise auch die /caZw-Priester und die
Gesangspriester. — Schluß von Kol. I und Anfang von Kol. II
absrebrochen. — Wo der Text in II ö wieder einsetzt: A II
6 — 13 Anweisungen für Kulthandlungen am Morgen des
2ten Nisan, die sich u. a. auf die „Königsmütze Anus'^ be-
ziehen (die sich nach C II 25 zusammen mit der des Enlil
im Mardukheiligtum befand), sodann auf ein dreimal zu
sprechendes Gebet an Bei, das wieder im Wortlaut, diesmal
ausschließlich akkadisch, mitgeteilt wird (A II 14—39). Das
Gebet stellt sich dar als ein Beschwörungsgebet gegen die
„bösen Widersacher" und läuft wieder aus in eine Bitte für
Babel und E-ud-ul. Der Schluß des Gebets fehlt. — Es folgt
nunmehr wahrscheinlich eine große Lücke von über zwei
Kolumnen mit je über 40 Zeilen, im ganzen also wohl minde-
i) Dazu gehört u. a. auch die für die Erkenntnis des Zusammen-
hanga wichtige Feststellung Landsbergers, daß B, und B^ nur Teile
ein und desselben Tontafelexemplars sind.
2) EsentprechenAIIl33— 35; B^ II 12—14; C II 18—23; 11134—37-
3) Geschr. «»ne^Tü.E.
70, 5l Zum BABYLONISCHEN Neujahrsfest. It. 37
stens 100 Zeilen^ die sich mit dem weiteren Ritual für den
2ten j^isau befaßt haben müssen.
^ter Nisan. Wo der Text in der V.(?) Kolumne Avieder
einsetzt, folgt, nach der nur noch durch i Zeichen vertre-
tenen letzten Zeile (A III 3) des Rituals für den 2*^"^ Nisan,
für den mit A III 4 beginnenden 3*«° Nisan in A III 4 — 6
zunächst wieder ein entsprechender Passus wie A I i — 4, der
sich auf das Aufstehen des tirigallu-Friesters zur Nachtzeit
und sein Sprechen eines Gebetes vor Bei bezieht. Die.ses
Gebet (A III 7 — 32) wird wieder im Wortlaut mitgeteilt,
anfangs anscheinend bloß sumerisch, weiterhin bloß akkadisch.
Es läuft am Schlüsse wieder in eine Bitte um Huld für Babel
und Esagil aus. — Es folgt A III 33— [36] wieder ein ent-
sprechender Passus wie A I 36 — 40 mit der Angabe, daß
nach diesem Gebet des iirigalhi-FrieBters die Türen des Bei-
Heiligtums geöffnet werden, die erib-hUi -Vriesier eintreten
und ihren Dienst vor Bei und Belit verrichten, [desgleichen
die /ia?M-Priester und die Gesangspriester]. — Lücke von un-
bestimmt wieviel Zeilen bis zum Schluß der Kolumne. —
A IV I — II und 12 — 27 bringt nun in zwei Abschnitten den
bereits von mir ZbN 149 und auch von Jensen, KB VI 2, i,
2 8 f. im Wortlaut vorgelegten Passus, der für den Vormittag
des 3*®*^ Nisan als Vorbereitung für eine Sühnehandlung am
5ten J^isan die Anfertigung von zwei mit Gold überzogenen,
mit Edelsteinen besetzten und mit Tuch bekleideten Holz-
figuren durch einen Holzschnitzer, einen Goldschmied, einen
Steinschneider und einen Weber anordnet. Dabei wird die
Beköstigung dieser Kunsthandwerker aus der Priesterküche
des Beltempels für die mehrtägige Zeit ihrer Arbeit an diesen
Figuren festgesetzt. Auch wird das Aussehen dieser Figuren
und ihrer Beigaben im einzelnen näher beschrieben und dann,
bereits vorwegnehmend für den 6*®^ Nisan, die magische
Vornahme mit diesen Figuren zum Zwecke einer symboli-
schen Sühnezeremonie geschildert. — Damit schließen, ver-
hältnismäßig nur wenig umfangreich, die Kultvorschriften für
den 3'^^ Nisan.
jS Hkixrk'ii Zimmkkn: [7^,5
^ter Nigan. in den uniiiittelbaj- sieh auschließendon Vor
Schriften für den j'"" Nisau bringt zuniichst wieder H^ 1 i — 5,
entsprechend wie zn Beginn des 2^"^ und 3**" Nisan, die An-
gabe, daß der iirigalhi-Friesier zu einer bestimmten Stunde
der Nacht aufstehen, sich in Flußwasser waschen, in ein
Leiuengewand kleiden, und zunächst vor Bei ein Gebet sprechen
soll. Es folgt dieses Gebet Bj I 6 — 18 und weiter, nach nur
wenigen fehlenden Zeilen, Bj I i — 11. Der Text des Gebets
ist wieder in der ersten Hälfte sumerisch und akkadisch, in
der zweiten bloß akkadiscb. Dem Inhalt nach stellt das Ge-
bet einen Lobpreis auf Bel-Marduk als Götterkönig und
Weltenherr dar, und geht — im Munde des urigallii — dann
zuletzt wieder über in die Bitte um Gnade für Babel, Esagil
und die Bewohner von Babel. — Bg I 12 folgt die Zwischen-
zeile: „Von Böl geht er (nämlich der im^ö/^w-Priester) heraus
und spricht dann zu Beltija sein Gebet." Dieses Gebet ist
in seinem, diesmal durchweg akkadischen, Wortlaut vollständig
erhalten in Bg I 13 — 26 und dessen unmittelbarer Fortsetzung
in B^ II I — 8, sowie (von B2 I 21 ab) nochmals in dem
Duplikat dazu C II i — 14. Es enthält einen Lobpreis auf
Beltija-Sarpanitu und. ihre über alle anderen Göttinnen er-
habene Größe, preist sie als Helferin gegen Feinde und allerlei
Not, und bittet alsdann um gute Schicksalsbestimmung für
den König und um Huld für die Bewohner Babels durch
Eintreten für sie bei Marduk. Es folgt noch die Bitte um
Huld für den betenden Oberpriester selbst. — Darauf, voll-
ständig erhalten durch die sich gegenseitig ergänzenden Dupli-
kate B^ 11 9 — 14 und C II 15 — 20, die Angabe, daß der
Oberpriester nach dem „hehren Gemach" (duQ^mahlm) hinaus-
geht, sein Gesicht nach Norden richtet und dreimal ein Hul-
digungsgebet für Esagil spricht. Alsdann noch in demselben
Abschnitt wieder der A I 36 — 40 usw. entsprechende Passus
über Öffnung der Türen, Eintreten der en&-&^^^-Priester, Ver-
richtung des ständigen Dienstes; desgleichen der Ä'aZw- Priester
und Gesangspriester. — C II 21 — 26, für die beiden letzten
Zeilen auch etwas ergänzt durch das hier einsetzende Duplikat
70, 5j Zum babylonischen Neujahrsfest. IT. 39
ß 11 I — 2, enthält die Weisung, daß bis zum Tagesende der
tmgallu-Pi'iester von E-KU-a von Anfang bis zu Ende Enuma
elis d. i. das bekannte Weltschöpfungsepos vortragen solle \
unO. daß während dieses Vortrags die Königsmütze Anus und
der Sitz Enlils bedeckt bleiben sollten. — Damit schließen
die auch für den 4*^"* Nisan verhältnismäßig nur kurzen Kult-
vorschriften.
S'er Nisan. Zunächst bringt C II 27 — 31 (und Dupl.
B^ n 3—6) wieder die gleiche Weisung wie an den früheren
Tagen (A I 1—4 usw.), daß der urigallu-'PnesteY zu einer
bestimmten Stunde der Nacht aufstehen, in Tigris- und
Euphratwasser, wie es hier heißt, sich waschen, vor Bei ein-
treten, sich vor Bei und Beltija in ein Leinengewand kleiden
und zu Bei ein Gebet sprechen soUe. Das Gebet selbst folgt
im Wortlaut C 11 32 — III 16 (in den ersten 17 Zeilen auch
vertreten durch das Duplikat B2 II 7— 23, das alsdann ab-
bricht). In diesem in der ersten Hälfte sumerisch, in der
zweiten gemischt akkadisch und sumerisch gehaltenen Ge-
bete wird Bel-Marduk unter den verschiedensten Namen, da-
runter insbesondere zahlreichen Gestirnnamen, mit der Bitte
um Beruhig-ung angerufen. — Nach der Zwischeuzeile C III 1 7
„zu Beltija spricht er dieses Gebet" folgt C III 18—33 auch
dieses Gebet an Beltija im Wortlaut, in Form und Aufbau
ähnlich dem vorhergehenden an Bel-Marduk. Auch hier wird
Sarpanitu vorwiegend unter Sternnamen gepriesen. — C III
34—37 bringt wieder die Angabe (vgl. zu A I 36 — 40), daß
nach diesem Gebete die Türen geöffnet werden, die erib-
hlti-Friesier insgesamt eintreten und ihren ständigen Dienst
verrichten, desgleichen die lalü- und die Gesangspricster. —
Es folgt nun C III 38 — 43 und, in unmittelbarer Fortsetzung,
C IV 1—40 für den Vormittag des S^^"" Nisan, nachdem das
Morgenopfer für Bei und Belit vollzogen ist, eine ausführ-
liche Anweisung für kultische Reinigung (insbesondere mittels
i) Auch hier ist also die Rezitation des Enuma-elis-Epos als ein
Bestarultpil der Neujahrsfestliturgie direkt urkundlich bezeugt, wie in
dem Texte von Nr. i oben Z. 34; vgl. auch ebenda Z. 54.
40 Hkinkich Zimmkkn: [70,5
Besprengungeu, Aiixüiulen von iräuchcrwerk und VevwoiKluuf!;
der kupfernen Kesselpauke) der Kapelle {papahu) dos lidl uud
der Belit und anschließend der Kapelle des Nabu durch dön
Beschwörungspriester (masmasu) im Auftrag des urigallu. Es
wird hierbei ausdrücklich wiederholt (IV i f. 2 1 f.) hervorge-
hoben, daß während dieses Keinigungsiiktes der Hri^ttiZw- Priester
selbst (um sich nicht zu verunreinigen) sich im Heiligtum
nicht aufhalten darf, sondern im Hofe, außcrhtilb desselben,
weilen muß. Bei der Reinigung des Nabü-Hciligtums tritt
noch der bemerkenswerte Kultakt ^ hinzu, daß durch einen
herbeigerufenen „Schwertträger" {nas patri) einem Schafbock
der Kopf abgehauen wird, und daß dann vom Beschwörungs-
priester mit dem Rumpf des Schafbocks unter dem Hersagen
von Tempelreinigungsbeschwörungen der Tempel „bestrichen"
{kuppuruY wird. Der Rumpf des Schafbocks wird darauf
vom Beschwörungspriester zum Flusse hinausgebracht und in
diesen geworfen, worauf der Beschwörungspriester nach der
Steppe hinausgehen muß. Dasselbe geschieht durch den
„Schwertträger" mit dem Kopf des Schafbocks, worauf auch
der Schwertträger ebenso wie der Beschwörer nach der Steppe
hinausgehen muß. Solange Nabu während der Pestzeit in
Babel weilt, dürfen beide nicht nach Babel hineinkommen,
sondern müssen sich vom 5*®° bis zum i2*®°Nisan in der
Steppe aufhalten. Im Anschluß an diese „Reinigung" der
beiden Kapellen Marduks und Nabüs, die lYg Stunde in An-
spruch genommen hatte, läßt der M>"j^a?Zt(-Priester noch durch
Kunsthandwerker mit einem „goldenen Himmel", den er aus
dem Tempelschatze des Marduk herausgegeben hatte, die Nabü-
i) Dieser erinnert auffällig an den ,, Sündenbock" beim israeliti-
schen ,.Versölinungs"fest, das ja schon mehrfach, und wohl mit Recht,
mit dem babylonischen Neujahrsfest in Zusammenhang gebracht wor-
den ist.
2) Also derselbe technische Ausdruck wie beim „Versöhnungs"tag
(Jörn hak-l-ippürim) , der in Wirklichkeit, wenigstens seiner ursprüng-
lichen Bedeutung nach, ja gleichfalls die äußerlich rituelle Reinigung
des Heiligtums zu seinem Hauptzwecke hatte (vgl. Siegfried in Guthes
Kurz. Bibelwörterb. 181).
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 4 1
kapelle Ezida überziehen und stimmt dann gemeinsam mit
den Kunsthandwerkern einen kurzen, im Wortlaut mitgeteilten
Beschwörungshymnus an, worin verschiedene Götter, darunter
an erster Stelle Marduk, zur Reinigung des Tempels und Ver-
treibung von jeglichem Bösen daraus angerufen werden. —
Darauf verlassen die Kunsthandwerker die Kapelle (CIV 41). —
Es folgt unmittelbar ein langes, gegen 70 Zeilen umfassendes
Ritual (C V I — 44, dann, nach wenigen fehlenden Zeilen, B^
V 1—7 und unmittelbar darauf Bg VI i — 12), das Kulthand-
lungen des urigallu-Vriesiers für Marduk und Nabu, immer
noch im Verlauf dieses 5*^"^ Nisan, zum Inhalt hat. Er hat
zunächst vor Marduk ein Opfer, aus Fleisch, Broten, Salz,
Honicr, Räucherwerk und Wein bestehend, zuzur ästen und
ein kurzes, im Wortlaut gegebenes. Gebet zu Marduk zu
sprechen, das um Huld für den König bittet, der „die Hände
des Gottes ergreift." Nach diesem Gebet und nach Weg-
räumen des Opfers läßt der urigallu Kunsthandwerker des-
gleichen für Nabu ein Opfer hinstellen, das dann später auch
wieder weggeräumt wird. Unterdessen kommt Nabu auf sei-
nem Schijffe (aus Borsippa) an und gleichzeitig wird der König
nach Esagil hineingeleitet, während andererseits die Kunst-
handwerker das Heiligtum nunmehr verlassen. Es folgt nun
eine besonders eigenartige Szene, wobei der König die Stel-
lung eines Büßers einzunehmen hat. Sobald nämlich der
König zur Kapelle Marduks gelangt ist, tritt der urigallu-
Priester aus dieser heraus, nimmt dem König Szepter, Krumm-
stab (?), Wafie, desgleichen seine Königsmütze ab, bringt
diese Königsinsignien vor Bei hinein und legt sie vor Bei auf
einem Sitze nieder. Sobald er dann wieder herausgetreten
ist, schlägt er den König auf die Backe, führt ihn zu Bei
hinein, zieht ihn an den Ohren und läßt ihn am Boden nieder-
knien und ein Bußgebet sprechen, das im (akkadischen) Wort-
laut mitgeteilt wird. Der Inhalt des Gebets stellt eine Un-
Schuldsversicherung des Königs dar („nicht war ich lässig
gegen Deine Gottheit, nicht habe ich Babel zerstört, Esagil
nicht vernichtet" usw.). Das Ritual geht alsdann über in
42 Hkixru n Zimmkrn: f7". S
eine Ermahnung des Olierpricstors an den König, allen kul
tischen VerpHiclitungen richtig naclr/ukomnien, die Bel-Stadt
Babel, das Bel-Heiligtum Esagil und die Bel-Schützlinge, die
Bewohner Babels, gebührend in Obhut zu nehmen, um sich
dadurch die Huld Bels zu siehern. Nach diesen Ermalinungs-
worten gibt der Oberpriester dem König Szepter, Krumm-
stab (?), Waffe, Königsmütze wieder zurück. (In einer, wie
es scheint, als nachträglicher Zusatz zu den Worten „er
schlägt den König auf die Backe" zu betrachtenden Bemer-
kung heißt es noch: „Wenn beim auf die Backe schlagen
seine Tränen fließen, so ist Bei gnädig; wenn seine Tränen
nicht fließen, so zürnt Bei, ein Feind wird sich erheben und
ihn zu Falle bringen.") — Darnach folgt noch Bg VI 13 — 25
eine vom w>7^a^/'M-Priester und dem König gemeinschaftlich
vorzunehmende, als Sühneritus zu denkende Verbrennungs-
zeremonie, zu der anscheinend 4.0 drei Ellen lange unversehrte
Rohre benutzt werden. Während der Verbrennung sprechen
der König und der urigallii-Fiiester zu dem Feuergotte ein
wieder in akkadischem Wortlaut angeführtes Gebet. Nach
nur Avenigen fehlenden Zeilen, die eben den Schluß dieses
Gebets an den Feuergott enthalten haben müssen, liegt mit
Bi VI auch der Schluß dieser das Ritual des 4*«"^ und s'«-^
Nisan enthaltenden Tafeln B und C vor. Allerdings scheint
nach der sowohl auf B als auf C angegebenen Stichzeile auch
die bis jetzt noch fehlende folgende Tafel gleichfalls zunächst
noch vom Ritual des 5*®''. Nisan gehandelt zu haben — falls
hier nicht in beiden Fällen der 5*^ Nisan auf einem Ver-
sehen für den 6*®° Nisan beruht.
4. Die sieben Namen Marduks bei der
Neujahrsprozession.
Der eigenartige Text KT AR Nr. 142, der allerlei Sieben-
heiten unter Göttern^, Sternen, Dämonen, Heiligtümern^, Kult-
I) So auch T[ 2 5ff.: „7 große Götter beim üm[hergeben] des Zugs
im Monat Nisan, am Tage des (Neujahrs) llestes]" {VII iläni rabüti ina
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 43
statten aufführt, bringt an erster Stelle, Vs. i — 8, laut Unter-
schrift Z. 9 auch „7 Namen Marduks bei (seinem) Gehen und
Zurückkehren" {VII sumäti sa Marduk ina alciki u täri). Es
handelt sich dabei, Avie die einzelnen Namen, Handlungen und
Ortlichkeiten klar zeigen, um die feierliche Prozession Mar-
duks am Neujahrsfest. Als die einzelnen Namen, die hierbei
Marduk zukommen, und die einzelnen aufeinander folgenden
Akte und Orte der Feier werden folgende aufgeführt:
1 . „Im Kapellengemach" (ina hit papahi) trägt Marduk
den Namen „Ansar des Himmels" {Änsar samu). Mit dem
Kapellengemach ist gewiß E-KU-a, die Kapelle Marduks in
Esagil gemeint.
2. und 3. Für diese beiden Punkte sind die Handlungen,
Ortlichkeiten und Namen nicht ganz klar, zumal auch gerade
hier der Text etwas zerstört ist. Die erste dieser beiden Hand-
lungen ist jedenfalls ina hirit siddi „zwischen den siddii's",
wobei aber die Bedeutung von siddu, das jedenfalls eine
Kulthandlung bezeichnet, noch nicht sicher ist^; die zweite
wohl das unmittelbar folgende ma suhtP pa-an {Tcjakliab
[ — ] „auf dem Sitze vor dem Stern [ ]". Es folgt darauf:
„Der Sitz, der heilige Ort, der Wohnsitz des Gottes. [... .];
die Stätte ^(?), wo der Gott Enbilulu sich niederläßt und
sa[häri] täluku sa arah Nis\anni\ um a\]äii]), nämlich Ann, Enlil, Ea,
Mab (A[ruru]), Ninurta, Gula, Istar (Istar-Bäbili).
2) So werden u. a. II 11 ff. auch „7 Schicksalsgemächer" {VII
paralke '^simati) aufgeführt, nämlich in Nippur, in Babylon, in Borsippa,
in Der, in Uruk, in Akkad, in Hursagkalama.
i) Vgl. den häufigen kultischen Ausdruck siddu sadUdti und dazu
meine Bemerkungen zu Rit. Taf. Nr. 56, 10. In dem daselbst auch
bereits erwähnten Text 82-3-23, 3 (s. für einige Zeilen Bezold, Cat.
p. 1814) ist, nachdem vorher der Ausdruck siddi tasadad gebraucht war,
weiterhin ebenfalls von ina bi-rit sid-di die Rede. Vgl. ferner noch
siddi qite KTAR Nr. 132 I 17. 25 (oben Nr. 2).
2) Statt mit siihtu könnte ki.kü bzw. ki.dur auch mit dem daraus
entstandenen Lehnwort Jdturru umschrieben werden. Vgl- KTAR Nr. 146
Vs. 15b: sarru ina muhhi '".ki-tu-ri ussah.
3) Es liegt wohl das Zeichen gisgal für manzasu bzw. gisgallu vor.
44 Heinrich Zimmern: [7". 5
[. . . .|" Demnach lautet der dritte Marduknanio Eubilulu^,
während der vorhergehende zweite abgobroclien ist.
4. „Im Schicksalsgemach" {ina parak '^simaic'"^) trägt
Marduk den Namen Lugal-di[m-me-i]r-[an]-ki-a „König
der Götter Himmels und der Erdenk Dieser Name ist ja
auch anderweit bekannt als Bezeichnung für den Gott, der
am Neujahrsfeste im Schicksalsgemache die Geschicke be-
stimmt. Vgl. Neb. II 54flF. und dazu meine Bemerkungen
KAT3 402.
5. „Auf der Straße" (ina süqi) trägt Marduk den Namen
Asari-lü-dug. Es handelt sich bei der „Straße" jedenfalls um
die bekannte Prozessionsstraße Äi-lhur-sähüm.
6. „Auf dem Schiffswagen" (ina rukübP) trägt Marduk
den Namen [S]ul-ba-ab^, bezw. [S]ul-ba-u. Mit dem
Schiffswagen ist natürlich das Schiff ku.a bei der Neujahrs-
prozession Marduks gemeint.
7. „Im Festhause" {ina hit aklti) trägt Marduk den Na-
men „Gott des Gebetshauses" {il E-zür^ bezw. il Utihribi.^)
Auch diese Bezeichnung des hit alätu als hlt ikrihi ist ja
aus Neb. IV 7 usw. bekannt.
i) Im selben Texte III 19 wird Enbilulu, auch sonst ja ein bekannter
Name Marduks, als erster der 7 Adad's als Adad sa Babili bezeichnet.
2) slmtu mit dem Gottesdeterminativ, ebenso in II 15, findet sich
auch anderwärts so, s. Tdureau-Dangin zu Sargon, Huit. camp. 2.
3) So ist ?«»Mi.u nach SAI 2380 wohl am besten zu umschreiben.
4) Möglicherweise ist dazu zu vergleichen der hinter [Enjbilulu
erscheinende, auf bab-e-sul endigende Marduknamen in der wohl zu
Tafel II der Götterliste An = (ilu) Anum gehörigen Liste mit Marduk-
namen Sm. 78 U.SW. CT 25, 46.
5) Vgl. zur Lesung zur Delitzsch, Sum. Gloss. 227, und beachte
die Schreibung E-zür-ra bei Reisnee, Sum.-bab. Hymn. Nr. VIII
S. 145, Vs. 4-
6) Daß E-zür als hit ikrihi „Gebetshaus" und nicht, wie vielfach
geschieht, als hit niqe „Opferhaus" zu fassen ist, zeigt klar die akka-
dische Übersetzung durch hit ikrihi Nabonid-Stele IX 8, ebenso in dem
oben unter Nr. 3 besprochenen Texte MNB 1848 Rucks. II 18.
70, 5] Zum babylonischen Neujahrsfest. IL 45
5. Spuren von Mysterien am Mardukfeste?
Wir wissen bisher noch recht wenig Tatsächliches von
Mysterien in Babylonien im engeren Sinne des Wortes, d. h.
nicht bloß von „Geheimwissen" im allgemeinen, als welches
wohl alle Priesterweisheit mehr oder weniger in Babylonien
gegolten hat, sondern in dem engeren Sinne von Mysterien,
d. h. der Anteilnahme des Verehrers der Gottheit an deren
mythischen Erlebnissen (dga^sva), die ihm zum Unterpfand
seines eigenen Erlebens werden, so insbesondere des Mitlei-
dens („Sterbens") und Mittriumphierens („Auferstehens") mit
der Gottheit. Und doch weist insbesondere im Istar- und
Tamüzkulte mancherlei darauf hin, daß auch innerhalb der
babylonischen Religion solches Mysterienwesen im engeren
Sinne des Wortes nicht fehlte. Ohne hier auf weiteres in
dieser Hinsicht einzugehen^, möchte ich mich nur, weil viel-
leicht für Mysterien am babylonischen Neujahrsfeste in Be-
tracht kommend, mit einem Texte, KTAR Nr. 10 nebst Dupli-
kat Nr. 1 1 , befassen, auf den Ebelixg - mich hingewiesen hat.
Der Text gibt sich zwar im allgemeinen als Dankgebet
im Munde eines durch Marduk aus schwerem Leiden Erlösten.
Doch finden sich im einzelnen darin so eigenartige Aus-
drucksweisen und so merkwürdige symbolische Handlungen
und Bezugnahmen auf eine Prozession durch die verschie-
denen heiligen Stätten im Marduktempel Esagil, daß man in
der Tat auf den Gedanken kommen könnte, es handle sich
i) Für die große Ähnlichkeit mancher Erscheinungen in den baby-
lonischen Sühnriten mit solchen in griechischen und altcliristlichen
Mysterien vgl. Schrank, Babyl. Sühnriten (s. Register s. v. Mysterien).
2) Im Anschluß an meinen Nachweis, daß KTAR Nr. 143 (oben
Nr. i) den dramatischen Neujahrstexten nahestehe, warf dieser in einer
Zuschrift vom 12. April 1917 mir gegenüber die Frage auf, ob nicht
vielleicht auch KTAR Nr. 10 in diesen Kreis gehöre, da dieser Text
offenbar eine Auferstehungsszene enthielte, deren Schauspiel in Esagila
vor sich ginge. [Korrekturzusatz: Wie Landsberger sah, bildet KTAR
Nr. IG u. II vielmehr den Schluß zu dem babyl. ^,Hiob"-Texte Ludlul
hei mmeqil Damach nun auch im folgenden allerlei zu ändern.]
46 Heinuicii Zimmkun: [70, S
um ein Kultlied für Myston, die bei einer Prozession sfoi er an
der Stätte des Marduklieiligtunis Esat;il, dem „Hause des
Lebens'', Avie es anderwärts genannt wird, mit Hilfe des Gottes
dessen teilhaftig werden sollen, was auch der Gott selbst an
seinem Feste erlebt hat.
Der im Anfang lückenhafte Text beginnt damit, daß der
Gerettete die einzelnen Rettungstaten Marduks an sich auf-
zählt, so Z. 2: „er hat mich ergriffen", Z. 4: „er hat mich
lebendig gemacht" Z. 7!'.: „[Da mich der Widersacher zum
Flusse] Hubur' wegschleppte, faßte mich |Marduk] bei der
Hand", Z. 9 f. „[Da der Feind] mich schlug, erhöhte [MardukJ
mein Haupt", Z. 11 f.: „Er hat zerschlagen die Faust meines
Widersachers, zerschmettert hat seine Waffe Marduk." Nach
einer Lücke im Texte ist von einem „Schmaus der Bewohner
Babels" {kireti mär Bähili) die Rede, dessen Zubereitung nach
den noch erhaltenen Spuren im vorhergehenden geschildert
gewesen sein muß. Um was für einen Schmaus es sich aber
hierbei wahrscheinlich handelte, nämlich um den Leichen-
schmaus für den (symbolisch) Begrabenen, legen die unmittel-
bar folgenden Worte des Textes nahe:
Seine Bcgräbniskammer^ hatte man gemacht, beim Schmause [saßen
sie.]
Da sahen die Bahylonier, tvie er^ \thn\ lebendig machte,
alle insgesamt priesen (seine) Größe:
„Wer^ sprach davon, daß er seine Gottheit^ schauen sollte,
„in wessen Sinn kam es, daß er auf seiner Straße wandeln ^ sollte'^
,^Wer ivenn nicht Marduk hat ihn vom Tode (wieder) mm Leben
gebracht^,
„was für eine Göttin außer Erua hat ihm (^icieder) seinen Odem
geschenkt?
i) Der auf dem Weg zur Unterwelt zu überschreiten war.
2) Doch wohl hit ki-bi-ri-sü zu lesen. 3) D. h. Marduk.
4) D. h. welcher andere Gott außer Marduk.
5) Doch wohl irgendwie amär ilütisu gemeint.
6) Gemeint ist die Prozessionsstraße dös Gottes.
7) Wörtlich: sein Totsein (wieder) lebendig gemacht {mitütasu
uballit).
70, 5] Zum babylonischen Neujahrspest. II. 47
„MurduTc vermag es, aus dem Grabe aufsuer wecken^,
„Sarpanltu ist darauf bedacht, aus der Vernichtimg zu erretten."
Unmittelbar hierauf^ ist nun von der erstmaligen Lebens-
verleihung durch Marduk bei der Menschenschöpfung am An-
fang der Welt die Rede, möglicherweise aber auch in dem
Sinne, daß es sich um eine symbolische Kulthandlung als
Nachbildung jener ersten Menschenschöpfung handelt:
Als die Erde hingestellt war, die Himmel sich ausgebreitet hatten,
die Sonne erglänzte, Feuer aufleuchtete,
Wasser dahinfloß, der Wind tvehte,
I)a kniffen die {Dienerinnen) der Aruru ihre StäcJce^ ab,
die Verivalterin (?) des Lebensodems, [ihre) Schritte waren ge-
öffnet.
Hier wird der Text wieder lückenhaft, und es ist nur
noch zu erkennen, daß weiterhin zunächst wohl noch von
dem Lebendigmachen (bul[liitu]) von Lebewesen ([napsjätum)
durch Marduk die Rede ist. Wo der Text von neuem ein-
setzt, handelt es sich wieder um den Geretteten, der unter
Gebet, Niederwerfen und Seufzen in den Tempel Esagil [ein-
tritt]. In einem neuen Abschnitt rühmt nun der Gerettete
wieder mit eigenen Worten, wie er, durch die verschiedeneu
Tore des Esagiltempels dahiuschreitend, aus dem „Tode"
wieder zum „Leben" zurückgekehrt ist:
[Der ich hi'}nabgestiegen war ins Grab, bin ich wiedergekehrt zum
Tor der Leb[enden\,
[im Tor] der Lebens fülle umrde ich mit Lebensfülle besch[enkt'\,
\im T^or des großen Schutzgeistes kam [mir] mein Schutzgeist
wieder nahe,
[im] Tor des Wohlbehaltenseins erblickte ich Wohlbehaltensein,
im Tor des Lehens wurde mir Leben zuteil,
m lor des Sonnenaufgangs umrde ich unter die Lebenden gerechnet,
1) Wörtlich: lebendig zu machen (pulluta).
2) Der Abteilungsstrich zwischen Z. 14 und 15 steht wohl an
falscher Stelle, er sollte wohl eine Zeile früher stehen.
3) Nämlich Stücke aus Tonerde ; Einleitung zur Menschenschöpfung
aus Tonerde, wie sie ähnlich auch am Schlüsse des Atrahasis-Mythus
erzählt wird.
4^ Hkiniucii ZiM>tioKN: lyojS
im Tor der hellen Vorz(idi<n ivwäeii lueific Vorziehen hell,
im Tor der SüHdcnlösiwf) wurde mein Bann gelöst,
im 'Tor der Mundbefragung befragte mein Mund,
im Tor der Seufzerläsung irurde mein Seufzen gilösl,
im Tor der Wasscrreinigung irurde ich mit JReinigungsirasser be-
sprengt,
im Tor des Wohlbehaltenseins u-urdc ich zur Seite Marduks erblickt,
im Tor der Füllcausschütiung war ich zu Füßen der SurpanUu
niedergelegt. ^
In Gebet und Flehen seufzte ich vor ihnen,
gutes BäucherwcrJc legte ich vor ihnen nieder.
Die folgenden Zeilen bis zum Schluß des Textes ent-
halten noch weiterhin die Schilderung der Darbringung von
Speis-, Tier- und Trankopfern von Seiten des Erlösten für
die Schutzgötter von Esagil, und es folgt endlich noch eine
(am Anfang abgebrochene) Zeile mit mir nicht ganz klarer
Unterschrift zum Ganzeih
Verschiedene Texte.
Hier möchte ich wieder, wie früher am Schluß meiner
ersten Abhandlung zum babylonischen Neujahrsfest, in Kürze
auf eine Anzahl weiterer, zumeist gleichfalls erst neuerdings
veröffentlichter Texte hinweisen, die für das babylonische
Neujahrsfest mehr oder weniger noch in Betracht kommen.
a) Das Bruchstück KT AR Nr. io6 ist, wenn auch nicht
unmittelbar Duplikat, so doch nahe verwandt mit dem Gebet
an Marduk bei seinem Einzug in den Tempel Esagil am
Neujahrsfest (IV li i8 Nr. 2 und Weissbach, Mise. Nr. 13;
in Umschrift und Übersetzung bei Jensen, KB VI 2, i
S. 3 7 ff.) Rs. 5 7 ff.
b) KTAR Nr. 104, in Umschrift^ und Übersetzung bei
Ebeling, Quellen z. Kenntn. d. bab. Rel. I (MVAG 19 18, i)
i) Doch wohl so (annasik), nicht etwa „küsse ich die Füße" (annasiq).
2) In Ebelings Umschrift ist u. a. Z. 17 statt zikaru{?) pal-ki
i-da-at zu lesen: us-pal-ki-i da-ad-[me]; Z. 27 statt pi-lik-sn vielmehr
pe-tas-sü („ihm zu öffnen"); Z. 22 statt i-.-ni wohl i-[s]in-m', Z. 11 statt
pal-ti wohl bal-ti.
70, 5j Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 49
S. 73f., enthält einen Hymnus auf Nabu, der in seinem letzten
Teile in eine Schilderung des festlichen Auszugs Marduks
übergeht, der also anscheinend ein Kultlied aus der Neu-
jahrsfeier darstellt.
c) KT AR Nr. 125, ein sehr eigenartiges Textfragmeut,
worin eine große Schar von Vögeln, und zwar als Zugehörige
bestimmter Götter, handelnd auftreten. Da Marduk als Götter-
könig in dem Texte die Hauptrolle zu spielen scheint, auch
Gaga (Vs. 16, Rs. 8), ferner Kingu (Vs. 10) und Tiämat
(Ys. 19, Rs. 16) darin vorkommen, könnte man daran denken,
daß es sich um eine Art Festspiel ato Neujahrsfest handelte,
bei dem der Weltschöpfungsmythus zugrunde läge.
d) Eine deutliche Bezugnahme auf die Neujahrsfeier in
Babylon liegt auch vor in dem von PmCHES, Proc. Soc. Bibl.
Arch. 30 (1908), 80 ff. unter dem Titel „The Legend of Me-
rodach" veröffentlichten neubabylonischen Text. Es wird hier
in Kol. D gesagt: „Die Götter insgesamt, die Götter von
[. . . .], von Borsippa, von Kutha, von Kis, und die Götter
sämtlicher Kultstädte, um „zu fassen die Hände" des großen
Herrn Marduk, kommen nach Babylon und ziehen mit ihm
zum Fest(haus) {dkltu). Der König bringt vor ihnen eine
Spende {sirqii) dar. Am 6*«° (?) ^ Tage bei Hell werden kommen
Anu und Enlil aus Uruk und Nippur, um „zu fassen die
Hände" Bels, nach Babylon, und ziehen mit ihm in Prozession
nach dem Gebetshaus (hU ikrihi bezw. E-zür), Gleich (?)
ihnen kommen auch alle großen Götter nach Babylon. Die
Götter alle, die mit Bei nach dem Gebetshause ziehen: einem
König, dessen Heer versammelt (?) ist, gleicht es." — Im
selben Texte ist eingangs davon die Rede, daß Marduk dem
„Gefängnis" sich naht, worinnen die „gefangeneu Götter" sich
befinden — es handelt sich um das Totenreich — und im
Anschluß daran von einer durch Nergal verkündeten Drohung
i) AS vielleicht mit dem Lautwert ses zu lesen (vgl. ziz als su-
merische Lesung von as), falls nicht vielmehr in as eine Verlesung
für die Ziffer VI vorliegt. Oder ist doch bei der Lesung asm stehen
zu bleiben?
Phü.-hist. Klasse 1918. Bd. LXX. 5 4
b<^
HtJNRicii Zlmmern: I/^^, 5
Marduks gegenüber Enraesara, daß desseu sieben Kinder als-
bald vernichtet worden sollen, auf welche Nachricht hin En-
mesara in hiute Wehklage ausbricht. Auch weiterhin han-
delt der leider dann /um großen Teil nur ganz verstümmelt
erhaltene Text noch von Marduk und Enmesara.
Da der Schluß des Textes, wie oben dargelegt, nun aber
in eine Schilderung des Neujahrsfestes in Babylon übergeht,
so liegt es nahe, auch diesen mit Enmesara und seinen Kin-
dern verknüpften mythischen Vorgang kultisch im Jahres-
lauf festgelegt zu denken, wobei dann auch noch allerhand
astronomisch-astrologische Ausdeutungen hineinspielen werden.*
Und in der Tat begegnen wir ja auch einem „Weinen im
Monat Tebet für Enmesara" (hilutmn sa Tehet ana ^Enmesara)
ZA 6, 243, 36; desgleichen Reisner, Sum.-bab. Hymn. S. 146,
35 ([«wj« ^Enmesara isdlclcan hihUum) und ebenda 42 {[^E^n-
mesara ikkamü ^Gula ishim hikUum). So wird darum auch
der Brüsseler kultische Text aus Warka (Nr. 175), über den
ich ZA ^2, 63 ff. ausführlich handle, worin von Enmesaras
sieben Kindern eingehend die Rede ist, für eine bestimmte
Kultfeier im Jahre berechnet sein. Zu beachten ist dabei
namentlich auch, daß in diesem Brüsseler Text neben En-
mesara ebenso Lugal-dul-azag eine besondere Rolle spielt, wie
auch an der genannten Stelle ZA 6, 243, 36 unmittelbar vor
der Feier für Enmesara eine solche für Lugal-dul-azag auf-
geführt wird.*
e) In King, Chronicles conc. Early Babyl. Kings finden
sich mehrfach, insbesondere in dem „Religious Chronicle"
Nr. 35968, Bezugnahmen auf das babylonische Neujahrsfest.
Siehe dazu King, Vol. I 195 ff.; 2 27 ff.
i) Für die Z'amäww-Frage kommt übrigens — gegen Pinches a. a. 0.
und Langdon, Hist. and Rel. Texts 36 — dieser Text in keiner Weise
in Betracht, da, wie Landsbeeger richtig gesehen hat, das angebliche
wiederholte kaimänu in diesem Texte durchweg nur auf einer Ver-
lesung von PiNCHEs für sä beruht
2) Beachte ferner auch noch das oben S. 9 Anm 5 zu der Enlil-
hymne mulu nä-a e-lum mu-lu nä-a in IV ß 23 Nr. i Bemerkte.
70, 5l Zum babylonischen Neujahrsfest. II. 5 1
f) Über das bei den Grabungen der Deutschen Orient-
Gesellschaft 1906/07 in Assur gefundene „Neujahrsfesthaus"
(hu aklU) Sanheribs berichtet, unter Beigabe von A.bbildungen,
Andrae in MDOG Nr. 2>5 (iQo?) S. 240".; dazu Delitzsch,
ebenda S. 34ff. Vgl. auch die Abb. 141 auf Blatt 53 vor
S. 93 bei Andrae, Festungsbauten von Assur, Textband, und
ebenda im Tafelband die Stadtpläne von Assur auf Taf. I
und III mit Einzeichnung des Festhauses.
g) Endlich möchte ich hier, ohne mich auf die schwie-
rigen topogTaphisehen Fragen betreffs der örtlichen Fest-
setzung der einzelnen Heiligtümer beim babylonischen Neu-
jahrsfest, der „Schicksalskammer" (paraJc simäte) im Dul-azag
und dem „Gebetshaus" (E-zür bezw. hlt ikrihi), auch „Fest-
haus" (hu akiti) genannt, hier einzulassen, nur auf eine ur-
kundliche keilschriftliche Grundrißdarstellung zur Topographie
Babylons hinweisen, die, seit langer Zeit vorliegend, jedoch,
soviel ich sehe, bisher nicht die nötige Beachtung erfahren
hat, die aber wegen des darin eingezeichneten Arahtu-Kanals
auch für das babyionische Neujahrsfest eine gewisse Bedeu-
tung hat. Denn am Arahtu-Kanal entlang, eventuell viel-
leicht auch geradezu auf diesem selbst, bewegte sich ja die
feierliche Prozession mit dem „Schiffs wagen" bezw. dem Schiffe
Marduks am Neujahrsfeste.^ Es handelt sich um die im
Berliner Museum befindlichen Tontafelfragmente, die seiner-
zeit BoRCHARDT unter dem Titel „Ein babylonisches Grund-
rißfragment" veröffentlicht hat (SBAW 1888 V S. i29ff.).
Der Herausgeber mußte damals von einer näheren Bestim-
mung des Ortes, auf den sich dieses Grundrißfragment bezieht,
ganz absehen, da ihm über die keilschriftlichen Beischriften,
die sich außer den Ziffern der Maßangaben auf den Frag-
menten noch finden, von Winckler damals kein sicherer
Aufschluß gegeben werden konnte. Indessen sind die Bei-
schriften des kleineren wahrscheinlich einst die linke obere
i) S. dafür insbesondere die Wädi-Brisa-Inschrift Nebukadnezars
A V igff. = B Illa, i flf. (Weissbach, Wädi Biisä S. 18; Langdox,
Neubab. Königsinschr. S. 156).
4*
5- Heinkk u Zimmkun: /im r.AUVLUN. Nkitjahksfest. Tl. [70,5
Ecke bildpiulon Fragnionts hei näherem Zus(>hen ju /.inmlich
einfacli zu lesen und zu deuten. Und zwar stellt in der
oberen „Mauer" deutlioli' '""' yi-ra-a\h]-tu»i „Kanal Arahtu",
90 daß also keine Mauer, sondern vielmehr eben dieser KanaP
vorliegt. Es handelt sich demnach bei diesem Grundrißfrag
ment jedenfalls um den Grundriß einer Gebäuliehkoit in
Babylon und zwar einer in der Nähe des Arahtu-Kanals,
d. h. also, da wir es bei der komplizierten Anlage doch wohl
sicher mit einem Palast zu tun haben, wohl um einen Teil
des großen Palastes Nebukadnezars bzw. des Palastes eines
früheren Königs an derselben Stelle. Die Gruppe links,
AN. ZA. KAR, ist natürlich nicht, wie Winckler damals wollte,
als „Gott Za-l;ar", sondern vielmehr als dimtu „Pfeiler" auf-
zufassen. In der unteren „Mauer" ist die darin stehende
Gruppe E sarri doch wohl als iqii sarri „Wassergraben des
Königs" zu deuten, so daß es sich also auch hier nicht um
eine Mauer, sondern um einen Kanal ^ handeln würde. P^erner
ist der zwischen den beiden „Mauern" oder Kanälen befind-
liche, sich nach links zu verbreiternde Kaum keine „Straße",
wie BoRCHARDT meinte, vielmehr gemäß der darin stehenden
Beischrift eqil hltä^-nu „Feld des Palastes" ein zu dem Palast-
komplex gehörendes freies Stück Feld.
i) So namentlich auf dem Original selbst und auf der vom Ber-
liner Museum ausgegebenen Photographie klar zu sehen, aber selbst
in der Wiedergabe bei Borchakdt noch ziemlich deutlich zu erkennen.
2) Ähnlich wird der Euphrat und ein Kanal gezeichnet auf dem
Plan von Sippar CT 22, 49: 50644. Der ebenda veröffentlichte Plan
73319 bietet übrigens nicht, wie King in der Einleitung annimmt, einen
Plan von Babylon, speziell von Esagil und von der Prozessionsstraße
Ai-ibur-säbü, vielmehr, da ja blt '^En-Ul beigeschrieben ist, eher einen
solchen von Nippur und dessen Haupttempel.
3) Aber gewiß nicht um den bekannten ,, Königskanal".
4) Das Zeichen als liit^ nicht als tt, aufzufassen, läßt sehr wohl
der gemischt assyrische und babylonische Stil der Schrift in diesen
Beischriften zu. Dieser Schrifttypus scheint übrigens in etwas ältere
Zeit, als die neubabylonische, zu weisen, etwa in die Sargonidenzeit.
So ja auch bereits Winckler a, a. 0.
Bericlite über die Verhandlungen
der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologisch-liistorisclie Klasse
70. Band. 1918. 6. Heft
Karl Brngmann
Verschiedenheiten der Satzgestaltung
nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen
in den indogermanischen Sprachen
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1918
Vorgetraj^en für die Berichte am 7. Dezember iqi8.
Das Manuskript eingeliefert am 11. Dezember 1918.
Dructirtertig erklärt am 28. Januar 1919.
r.
Die Frage, was Satzlehre sei und wie sie vom Stand-
punkt sprachgeschichtliclier Betrachtung aus am zweckmäßig-
sten darzustellen sei, ist seit einem halben Jahrhundert, na-
mentlich seit W. Scherer's Aufsatz "Schriften zur deutschen
Grammatik lU", Ztschr. f. d. österr. Gymn. 29 (1878) S. logif.,
nicht von der Tagesordnung verschwunden. Sie hier von
neuem aufzurollen und zu den verschiedenen geäußerten An-
sichten Stellung zu nehmen, ist nicht meine Absicht. Nur
habe ich, damit die nachfolgenden Ausführungen nicht miß-
verstanden werden, das folgende dazu zu bemerken.
Die bis jetzt angestellten Erörterungen über die beste
Art der Behandlung des Satzes gehen im wesentlichen von
dem formalen und dem logischen Verhältnis der Teile des
Gesprochenen aus, die Darstellung der Syntax, der Syntax
einer Sprache oder einer Sprachengruppe, soll, um einen Aus-
druck von Behaghel (Synt. des Heliand p. VIII) zu gebrau-
chen, die Glieder der Rede an der Arbeit zeigen, den Zu-
sammenhang aufweisen, in welchen sie sich einfügen. Das
betrifft aUes die Form der Sätze. Nun verkennt aber nie-
mand, daß die Form des Satzes sehr häufig nicht dem ent-
spricht, nicht das widerspiegelt, was beim Sprechenden der
Grundtrieb für seine sprachliche Äußerung gewesen ist. Ich
wiU z. B., daß einer mit mir gehe, kleide meine Aufforderung
an ihn aber in die Form des Fragens: du liommst doch mit?
oder kommst du nicht mit?. Es ergibt sich somit die Frage
an die wissenschaftliche Grammatik, speziell an die mit der
Psychologie Hand in Hand gehende Satzlehre: welche Mittel
der Satzgestaltung stehen oder standen einer Sprache zu Ge-
bote, um die mannigfaltigen seelischen Grundfunktionen, die
zum Sprechen drängen, zum Ausdruck zu bringen?
PMl.-Mst. Klasse 1918. Bd. LXX. 6 I
2 Kari, Riuiomann: |7<^, ^»
Divs Seelenleben des MtMischon in seinem seh wer ühcr-
sehbureu Heiclituni an Enmtindnntjjen nnd Vorstellungen strebt
ja in sehr versehiedenen, «lie Unterschiede der seelisciien An-
triebe so i^nt als nir)svlich ansdrüekcnden Satzgestal tnn<^en sidi
verständlieh darzustt'lh'n. Dnreh die Sjirache äußert der
Menseh Lust- und Unlustempfindungen, Wünsche, Bitten, Be-
fehle, Beschwerden, er weist Vorstellnngen und Ansinnen al),
warnt, droht, verwünscht, bekundet Zweifel, tut Fragen und
beantwortet Fragen, stellt Behauptungen auf, urteilt über Vor-
gänge, Gegenstände und Personen u. dgl. mehr, und das alles^
jedes in seiner seelischen Eigenart, ringt nach möglichst un-
mißverständlicher Darstellung durch die Form des Satzes.
Wie verhält sich da entwicklungsgeschichtlich die jeweilige
Satzform zu tler psychischen Grundstimmung, aus der sie
hervorgegansfen ist?
OD O
Rücksicht o-euommeu wird in der wissenschaftlichen
Grammatik auch auf diese Seite <ler Satzgeschichte, aber in
unseru Satzlehren, wie sie nach äußeren, formalistischen Be-
ziehungen der Teile der Rede aufgebaut sind, doch nur neben-
her, bei gerade gegebener Gelegenheit, und nicht so, daß man
alles, was zu einem Satz als dem üblich gewordenen Aus-
drucksmittel einer bestimmten seelischen Gruudfunktion ge-
hört, beisammenhat und überschaut. Was z. B. einen Satz
charakterisiert, der einer Wunschregung entspringt, findet sich
zerstreut in der Moduslelire, der Lehre vom Verbum infinitum,
der Lehre von den Partikeln, Interjektionen, Konjunktionen,
der Lehre von der Wortstellung und noch sonstwo. Am
häufigsten noch wird in unsem Grammatiken dafür gesorgt,
daß mau in einem überschauen kann, was zum Ausdruck einer
Frage gehört. Doch muß auch hier immer noch dieses oder
jenes zur A'ervollstäudigung aus andern Kapiteln der Syntax,
z. B. bei uns Deutschen aus dem über die Wortstellung^
herbeigeholt werden. Manches aber, was für die Bestim-
mung der zu Grunde liegenden Seelenstimmung wichtig ist,
bleibt darum überhaupt unberührt, weil die Form, in der sich
die betreffende seelische Stimmung ausdrückt, im allgemeinen
70, 6] Verschiedenheiten der Satzge.staltung usw. 3
dieselbe ist, die auch für andere Seelenreguugen gilt, und die
etwaige Besonderheit der Satzbetonung nicht in Betracht ge-
zogen wird, z. B. die energische Versicherung einer Tatsache
im Kleid der Frage, wie hin ich etiva dein sMavc?, iver lann
wissen, tvann er sterhen ivird?.
Die mannigfaltigen seelischen Gruudmotive des Sprechens
haben von allem Anfang an die Satzgestaltung nicht nur be-
einflußt, sondern die Verschiedenartigkeit der Satzformen be-
ruht letzten Endes ganz auf ihnen. Müßte man also nicht
erwarten, daß die entwicklungsgeschichtlich vorgehenden
Grammatiker das Haupteinteilungsprinzip für die Satzlehre
gerade von hier genommen hätten und nähmen? Aber wer
tut das?
In der Theorie ist selbstverständlich längst zugegeben,
daß die Satzarten auch von dieser Seite her sich betrachten
und darstellen lassen, wie auch öfters schon in der Sprach-
wissenschaft von ihren geschichtlichen Wechselbeziehungen
die Rede gewesen ist. S. z. B. Th. Imme Die Fragesätze nach
psychologischen Gesichtspunkten eingeteilt und erläutert I
(Cleve 1879) S. 8 f., W. Wündt Völkerpsych. i"-, 2, 2 54 ff. (der
'Ausrufungs-', 'Aussage-' und 'Fragesätze' unterscheidet und
S. 262 f. auch den Wechselbeziehungen einen kurzen beson-
deren Abschnitt gewidmet hat) oder Rick. M. Meyer
Germ.-roman. Monatsschr. 1913 S. 644 (der die Syntax
einteilt in i) die Lehre von den Satzformen, d. h.
äußere Einteilung der Sätze, and 2) die Lehre von den
Satzarten, d. h. innere Einteilung der Sätze, mit Unter-
scheidung von 'Aussagesätzen', Tragesätzen' und 'Heische-
sätzen'). In der Praxis dagegen, d. h. in der Darstellung der
Geschichte einer bestimmten Sprache, merkt man, wie gesagt,
von dieser Betrachtungsweise der Satzarten wenig. Die meisten
Grammatiken geben überhaupt nichts Zusammenhängendes über
diese entwicklungsgeschichtliche Seite des Satzes. Und wo
sie etwas darüber bringen, bleibt es doch nur bei Andeutun-
gen, wie z. B. bei Schmalz in seiner Lateinischen Syntax^
S. 331 f. 467 oder in Behacihel's Heliandsyntax S. 237,
4 Kahl Bkuom ANN: l7o. '>
2.
Woher diese Vernachliissigung — so wird man es nenuon
dürfen — kommt, ist nicht schwor zu sehen. Der Ursachen
sind mehrere. Insbesondere kommen zwei Schwierij^keiten in
Betracht, die sich der Forscliiing, noch niclir aher der Darstel-
lung auf Schritt und Tritt entgegenstellen.
i) Die seelischen Regungen, die Stimmungen und Gefühle,
die zu sprachlichen Auß(Mungon tndhen, sind so mannigfaltig
und oft in sich so kompliziert, daß daraufhin eine sachge-
mäße und zweckentsprechende Einteilung der Satzarten, auch
wenn man sich auf Berücksichtigung der in den Sprachen
konventionell gewordenen Ausdrucksweisen beschränken will,
sehr schwer zu erzielen ist. Ein Satz ist ja oft niclit Aus-
druck eines einfachen Gefühls- oder VorstcUungsverlaufs, son-
dern Ergebnis eines mehr oder weniger verflochtenen psy-
chischen Prozesses.
Hierauf hat von den Sprachforschern am nachdrücklichsten
G. VON DER Gabei.entz hingewiesen in dem Buch Die Sprach-
wissenschaft S. 315. Nachdem er eine Klassifizierung der Satz-
arten nach Maßgabe der psychischen Antriebe versucht hat,
sagt er, man befinde sich hier mitten drinnen in dem üppigen
Gewirre psychologischer Möglichkeiten. „Wir müssen darauf
gefaßt sein, jetzt die eine oder andere mitteilende Redeweise
in ausrufendem Sinne, jetzt diese oder jene Art des Ausrufes
statt der Mitteilung, der Frage oder des Befehles angewandt
zu sehen. Es ist denkbar, daß im Leben einer Sprache die
ausrufenden Redeformen die mitteilenden geradezu verdrängen,
ersetzen, und so mag in vielen Fällen die Kunst der Klassi-
fikation überhaupt versagen, weil der seelische Tatbestand
nicht festzustellen ist, vielleicht weil er an sich ein unsicherer,
gemischter war".
2) Die in Rede stehende Aufgabe kann am ehesten bei
lebenden Sprachen gelöst werden. Am leichtesten natürlich
so, daß der Forscher sein eigenes Sprechen beobachtet. Des
Sprachgenossen Rede, die an sein Ohr kommt, muß er inbe-
zug auf die ihr zu Grunde liegenden Impulse immer erst
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 5
interpretieren, und dabei muß er den Maßstab zum Verständ-
nis Ton seinem eignen Empfinden nehmen. Er läuft aber
häufig Gefahr, falsch zu interpretieren, weil so manche Satz-
^»•estaltung, die auf einer Umformung der dem Grundtrieb ent-
sprechenden Satzgestaltung beruht, in dem Maß konventionell
geworden ist, daß die wahre Seelenstimmung des Sprechenden
nicht zu erkennen ist.
Ist man nun auf geschriebene Rede, also nicht auf die
Sprache selbst, sondern ihr in so vielen Hinsichten so dürf-
tif^es Abbild ano-ewiesen, so häufen sich die Schwierigkeiten.
Man entbehrt hier der wichtigsten Hilfsmittel zu sicherer
Interpretation, der Hilfsmittel, die dem lebende Sprache Ver-
nehmenden in den meisten Fällen, die Zweifel aufkommen
lassen können, das Richtige ohne weiteres an die Hand geben:
es fehlt die Gesprächssituation, die lebendige Anschauung
dessen, worüber gesprochen wird, es fehlen die die Rede be-
gleitenden und sie erläuternden Gebärden, und in der Regel
ist auch ganz unbekannt die Satzbetonung mit ihrer aus den
Grundstimmungen fließenden und diese widerspiegelnden und
erläuternden Mannigfaltigkeit. Wo der Erforscher des leben-
digen Wortes auf Grund dieser Beihilfen den psychischen
Hintergrund sofort klar erfaßt, steht ihm der auf das Schrift-
bild Angewiesene etwa ebenso benachteiligt gegenüber, wie
jemand, der auf Grund von Bildern und Plänen den Verlauf
einer Schlacht erzählen soll, zu dem steht, der den Kampf
selbst aus der Nähe von einem den Überblick gut ermöglichen-
den Standort aus angeschaut hat.
3-
Sind nun die in § 2 angedeuteten Schwierigkeiten so
groß, daß die entwicklungsgeschichtliche Sprachwissenschaft
darauf verzichten muß, ein ins einzelne ausgeführtes Bild von
der Geschichte der Satzarten nach Maßgabe der psychischen
Grnndfunktioneu zu entwerfen?
Mit dieser Frasre hat sich von der Gabelentz a. a. 0.
S. 308 ff. eingehend beschäftigt. Seinem theoretisch ange-
6 Kaki, BkrcMAJiN: f7f>, '>
8telltr>n Vorsnoh, Hif Siitzgostaltiinj2foii uutor jenem (lesichts-
punkt zu klassifizieren, spricht er selber die praktische Ver-
wertliarkoif nl>, er hält es nicht für an<;iln;j;i;j^, liierniich die
Sat/lehro ir<:joud einer Sprache darzustellen, und er schließi
das fjanzc Kapitel mit der Hemerkuug: „Fruchtlos aber war die
Untersuchung, wenn anders sie gelungen, darum doch nicht.
Sie hat zur Entwicklung einer Keihe von HegrilFen geführt, mit
denen die Sprachwissenschaft fort und fort hantieren mufV.
Auch Paui- Prinz.* 133 Fußn. 1 lehnt es ausdriicklicb
ab, daß die psychischen Grundstimnninsceu einen Einteiluntrs
grund für die Satzarten abgeben könnten.
Ganz so ungünstig liegen nun meiner Ansicht nach die
Verhältnisse doch nicht, daß gänzlicher Verzicht am Platz
wäre. Mau darf nur nicht die seelischen Grundfunktionen zu-
nächst in abstracto ohne Rücksicht auf tatsächlich vorliegen-
den sprachlichen Ausdruck klassifizieren wollen, um dann nach
einem so gewonnenen Schema die sprachlichen Erscheinungen
einzuteilen und ihre geschichtliche Entwicklung^ zu verfolgen.
Vielmehr hat man zuzusehen, was die Sprache selbst in der
Vielheit ihrer Ausdrucksmittel an die Hand gibt für eine
psychologische Einteilung der Satzarten, und dies als Anhalts-
punkte zu benutzen, um zu einer Gliederung des ganzen Stoffs
zu kommen. Für eine ganze Reihe von einfacheren und kom-
plizierten seelischen Autrieben zum Sprechen, auch für feinere
Nuancen, zeigen unsere idg. Sprachen teils von uridg. teils
von jüngerer Zeit her bestimmte mehr oder weniger konvoi-
tionell gewordene satzbildende Ausdrucksweisen, von denen
wir annehmen dürfen, daß sie seit der Zeit, in der sie in
unseren Gesichtskreis treten, gerade diesen und keinen andern
grundfunktionellen Bedeutungsgehalt gehabt haben, z. B. die
sogen. Imperativformen. Andere Formen zeigen seit ältester
Zeit zwar psj^chologisch mehrseitigen Gebrauch, z. B. der Op-
tativus als Wunschmodus und als sogen. Potentialis; aber wir
vermögen dann solche Sinnesverschiedenheiten meistens doch
auf weite Strecken hin mehr oder minder deutlich auseinander-
zuhalten.
70, 0] Veuschif:dknheitkn dek Satzgestaltung usw. 7
Berflcksichtigea wir solche durch die Sprache selbst an
die Hand gegebenen Tatsachen, so ist zwar 7a\ keinem psycho-
logisch in sich geschlossenen System zu kommen, zu keiner
Gliederung des Sprachstoffs, die der Gliederung genau ent-
spricht, welche der die Grundlagen des Vorstellens, Fühlens
und Denkens untersuchende Psychologe für sich vornimmt.
Es ist aber immerhin eine wissenschaftlich begründete Über-
sicht zu gewinnen, bei der das sachlich Zusammengehörige
jedesmal zusammensteht. Und nur so ist d;inn auch zu er-
warten, daß uns Aufklärung über mancherlei in der Sprach-
geschichte zuteil wird, was bei dem üblichen nur gelegent-
lichen Hinschauen auf die Grundmotive übersehen oder, wenn
«s auch ins Auge fällt, doch nicht tief genug erfaßt wird.
4-
Die hauptsächlichsten Erkenntnismittel, die uns die idg.
Sprachen für unsern Zweck bieten, habe ich bereits genannt:
<lie grammatische P"'orm des Einzelworts und des Satzes in
Zusammenhang oder ohne Zusammenhang mit der Bedeutung
des Einzelworts, die Satzbetonung, die Gesprächssituation und
<lie die Rede begleitenden Gebärden. Aber nur für die Inter-
pretation des gesprochenen und gehörten Satzes sind sie alle
vier unmittelbar zu benutzen.
Im einzelnen mag dazu noch folgendes bemerkt sein.
i) In vielen Fällen kann uns mit größerer oder geringerer
Sicherheit leiten die grammatische Form des Wortes oder
des Satzes auch ohne die Beseelung, welche die Satzbetonung
der Rede verleiht.
Eindeutig sind so gut wie immer z. B. die Imperativ-
formen, mögen sie für sich allein oder im Zusammenhang
mit andern Elementen einen Satz ausmachen. An sich selbst
gewähren sie nur insofern keinen genaueren Einblick in die
Seelenstimmung des Sprechenden, als sie von jeher in der
ganzen Stufenleiter von der flehenden Bitte bis zum schroffen
Befehl verwendet worden sind und noch heute verwendet
8 K.\UL Bbuumann: [7^1 f^
wt'rden. *^ Entspn'cheud weist eine indikativische JViiterital-
forni iu der Kegel auf Mitteilung, Bericht, Ei/iihluug, also
auf Aussagesat/.eharakter. Anderseits sind Sätze /.. B. mit
Formen des Pronomens *5''o-, auch abgesehen von lUni üe-
braueh als Indetiiiitum, i'a.st in allen idg. Sprachen durch das
Pronomen seihst iiibe/.ug auf das (irundmotiv des Sprechens
nicht genügend gekennzeichnet: z. B. wie viel hast du verloren
kann ebenso gut als Ausruf wie als Frage gemeint sein. Der
Indikativ des Präsens kaim in Sätzen erscheinen, (h'c die ver-
schiedensten Gruttdstimmungen ausdrücken; vornehnilicli
kommt er vor in Aussage-, Ausruf-, Aufforderun g.s- und Frage-
sätzen. Ebenso kann ein Vokativ vielerlei sein: Anruf, Aus-
ruf, Aufforderung, Warnung, Drohung u. dgl. mehr.
Die Wortstellung unterstützt oft das Verständnis. Z. B.
wi^ teuer das ist, für sich allein gesagt, wird man )mr als
Au.sruf verstehen fwährend wie teuer ist das sowohl Ausruf
als auch Frage sein kann).
Viel häufiger noch ist es die ganze materielle Be-
deutung eines Wo-rtes oder einer Wortgruppe, die die Grund-
stimmung erkennen läßt. Viele Interjektionen sind in dieser
Beziehung eindeutig, wie bei uns etwa pfui, owch. Im älte-
ren Griechisch konnte ein Satz mit {iri nur so verstanden
werden, daß der Sprechende sich gegen eine Vorstellung in-
nerlich wehrt (§ 12).
Schließlich darf in diesem Zusammenhang auch noch die
Wiederholung erwähnt werden, die durch gehobenes Gefühl
des Sprechenden veranlaßt wird, wie ei ei, ach ach, geh geh,,
lat. age age, arma arma^), Italien, subito suhito usw. Vgl. Verf.
i) Das voluntative Bedeutungselement der Imperativform kann
freilich auch ganz im Hintergrund bleiben, namentlich wenn man nur
eine Bedingung für etwas ausdrücken will, wie lass dich den teufel hei
einem haare fassen, and du bist sein auf ewig, ahd. Otfr. 3, 20, 155
leset allo huah, ni findet ir = 'wenn ihr (auch) alle Bücher lest, so
Ändet ihr nicht' f% 9).
2) Ovid. Met. 12, 241 certatiffique omnes tuio ore arma arma lo-
qnwüur, vgl. mhd. wäfena uüfen.
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 9'
Grundr. 2^, i, 46 f., K. Stiebeling Stilist. Untersuch, über
Gottfried vou Straßburg, Halle 1 905, S. 1 7 ff., J. Ae. Wartena
De geminatione figura rhetorica omnibus exemplis illustrata,.
quae e fabulis Plautinis et Terentianis afferri possunt, Gro-
ningen 19 15. —
In allen solchen Fällen vermag also auch schon das ge-
schriebene Wort ohne Beigabe von Akzent- und sonstigen
Lesezeichen die richtige Interpretation an die Hand zu geben
oder wenigstens vor gröberen Mißverständnissen zu schützen.
2) Noch wichtiger ist die Satzbetonung. Diese beruht
bekanntlich auf dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren.
Eine wesentliche Rolle spielt die Ordnung und Distance der
musikalischen Töne, der Tonfall oder die Satzmelodie. Dazu
kommt der Grad der Exspirationsstärke, der Nachdrucks-
akzent. Auch sind dabei für die Interpretation oft nicht gleich-
gültig Verschiedenheiten im Tempo des Sprechens, oder ob
Artikulationssilben legato oder staccato gesprochen werden.
Überdies die Stellung der Sprachwerkzeuge, wie sie von ge-
wissen Reflexbewegungen und der ethischen Gegenwirkung-
gegen sie (z. B. Unterdrücken von Weinen oder Lachen, Be-
herrschung des Luftstroms beim Stöhnen) abhängig ist. AUes
das nuanciert die Satzakzeutuation ununterbrochen und bringt
im Zusammenwirken die seelische Grundstimmung gewöhnlich
ebenso deutlich zu Tage, als wenn sie der Sprechende eigens
durch ein sie materiell bezeichnendes Wort kundgibt: man
vergleiche etwa ich wundere mich über ihre Schönheit mit wie
schön sie ist!.
Das Bedeutsamste ist die Modulation. Sie ist nicht nur
Mithilfe zur Unterscheidung, sondern oft auch das einzig Un-
terscheidende (sofern wir vou den Hilfsmitteln der Gesprächs-
situatiou und der begleitenden Geste absehen), vgl. z. B. ivie
teuer ist das als Ausruf und als Frage, und sie läßt oft auch
feinste Abschattungen der Stimmung genau hervortreten.
Freilich schafft sie dem Satz nicht immer Eindeutigkeit.
Z. B. Jcommst du mit? kann in gewissen Gesprächssituationen
bei gleichem Tonfall sowohl als Ja-Nein-Frage Avie auch als.
fO K.viJi, Hiu!c,mann: l7^',<>
Aufforderung gciueiut sein. Ich bekomme kaff'r, zum Kollucr
gesprochen, ist Auffordorun«^, und in gleicher Weise zu einem
neben mir sitzenden (Just auf dessen Frage, was ich mii- be-
stellt habe, geäußert, ist es einfacher Aussagesatz. J
Die Exspirationsstärke, wenn sie sich auf den gesamten I
Satz, nicht bloß auf eine Einzelheit in ilim, erstreckt, gibt im
ganzen genommen mehr von der Stärke des Impulses Kunde,
der einen zu der Äußerung veranlaßt hat, als von seiner spe-
zifischen Art. Man betont gewisse Aussagen {das ist nähr),
Ausrufe i^ivie (]id!), Wünsche {kam' er doch noch!), Aufforde-
rungen [laß das sein) usw. das eine Mal mehr, das andere
Mal weniger energisch.*) Doch kann auch diese Verschieden-
heit dem Verstehen der besonderen Art des Grundtriebs dienen.
Z. B. bei oh du herijehst? ! oder gehst du her'::'.', in eri-egter
Stimmung gesprochen, kennzeichnet der größere Nachdruck
<ien Satz leicht als aus Aufforderungsabsicht geboren gegen-
über etwa von oh er heute noch kommt r' oder ist die zeitumj
schon da?, was beides immer nur eine einfache Frage (Ja-
Nein-Frage) sein wird. So zeigen auch die in Frageform ge-
kleideten Ausrufe des Unwillens, der Entrüstung, etwa ueißt
du das wirklich nicht?.', du begreifst das immer noch nicht?.',
«ine stärkere Exspiration als die gewöhnliche Frage. Vgl. die
hierauf bezügliche Skala, die Imme Die Fragesätze 2, 31 für
die Fragesätze im Deutschen aufstellt, im allgemeinen aber
über das Exspiratorische der Betonung auch W. Reichkl
Von der deutschen Betonung (Jena i888).^j
Wie blutwenig ist nun das, was wir in allen diesen Be-
ziehungen von den nur zu lesenden, nicht mehr zu hörenden
i) Hervorhebung bloß einzelner Glieder eines Satzes deutet in
der Regel nur darauf hin, daß der Sprechende dem betreffenden Be-
griff eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet wissen möchte, /.. B.
komm hierher, gib es mir, fähr heim.
2) Versuche, die traditionelle Satzbetonung des Neuhochdeutschen
genauer graphisch darzustellen, sind schon mehrfach gemacht worden.
Ich verweise auf Fr. Pompk Die Laut- u. Akzentverhältnisse der Scho-
kauer Mundart, Leipzig 1907, S. 71 ff. und R. Bllmel Einführung in die
Syntax, Heidelberg 1914, S. 213 tf.
70, 6] Verschikdenheiten der Satzgestaltung usw. i i
Sprachen der Vergangenheit wissen. Wie wenig ist von dem,
was an exspiratorischeu und rhythmisch-melodischen Eigen-
schaften dem lebendigen Wort anhaftet, in der Schrift sym-
bolisiert! Man denkt da natürlich zunächst an die 'Interpunk-
tionszeichen' genannten Lesezeichen, die ja nicht nur Kenn-
zeichnung von Satzgrenzen sind oder von logischen Beziehun-
o'en, in denen zusammengehörige Sätze zueinander stehen,
sondern auch Hinweise auf die psychische Grundfunktion des
Satzes. Bei den Ausrufezeichen usw. sehen wir — hat einmal
ein AVitzbold gesagt — nur Glockenstricke von Kirchtürmen
bammeln, von den Klängen der Glocken aber vernehmen wir
nichts. Bei uns Deutschen sind .' und .^ in Übung, auch .'/
und '^? sowie ? '. und .'?. Aber im Gebrauch herrscht wenig
Übereinstimmung, und wie wenig wird mit diesen Zeichen
erreicht, wenn es auf feinere Unterschiede in den Grundstim-
mungen ankommt !\) Was bei den anderen Indogernianen in
i) Das Ausrufezeichen setzen manche hinter beliebige Interjekti-
onen, beliebige Vokative, beliebige Imperative, mir um deren Wort-
charakter anzudeuten, wo er durch den Zusammenhang nicht klar ge-
nug hervortritt, aber auch ohne das. Allgemeiner üblich ist seine An-
wendung hinter sogen. Satzfragmenten (^vgl. § 5, i), die zwar keine von
jenen Wortarten enthalten, aber, ohne es durch sich selbst auszusagen,
aus Willensregungen hervorgegangen sind und sie ausdrücken sollen,
z. B. hierher! = l:omm hierher. Eingeschränkter ist der Gebrauch von .',
um auf irgend etwas in der geschriebeneu Rede die besondere Auf-
merksamkeit des Lesers zu lenken (wo auch Unterstreichung bezieh.
Sperrdruck üblich ist), z. B. Gerh. Hauptmann Der Ketzer von Soana
(Berlin 191 8) S. 113 Er hatte den Stolz des Priesters noch keineswegs ab-
(fcsf reift: es ist dies der xvildeste und unbeugsamste! und dieser Stolz
war aufs tiefste verletzt worden, S. 135 Der Sindaco hörte ihn ruhig an,
Francesco hatte ihn glücldicherweise zu Hause getroffen! und nahm in
der Sache den Standpunkt des Priesters ein.
Größere Übereinstimmung herrscht in der Verwendung von ?.
Doch gibt es auch hier verschiedene Schwankungen, z. B. darin, daß
in Ausrufen mit n/e, ivelcher usw. manche ? setzen, wo andere (ange-
messener) .' gebrauchen. Die Kombinationen ?! oder !? erscheinen teils
bei Fragen, die in größerer Erregung getan werden, z. B. iver von euch
hat das getan?!, teils bei Fragen, die im Grande energische Aufforde-
rungen sind, wie kommt denn keiner zu hilfe?!, ob du hergehst?!, gehst
12 Kahl Biu'Omann: f 70i (>
dieser Beziehung heuti' in Übung ist, verdeutlicht nicht mehr
■An diese bei uns benutzten Zeichen, und je weiter man bei
deu einzelnen Völkern in der litenirischen Überlieferung zu-
rückgeht, um so mehr versagt die griii)]iisc])e Darstellung,
um so mehr beschränkt num sich auf die 'logizistische' Ver-
wendung von Interpunktionszeichen (vgl. ■/.. B. K. Kaiser De
inscriptionum (iraecarum interpunctione, Berlin 1887).
Nennenswert ist nur das Zeichen der Plutieruny: bei den
alten Indern {pli(tl 'verschwininiende, gedehnte Aussprache
eines Vokals'), da es nicht nur Darstellung des Fragetons,,
sondern auch allerhand anderer Aäektbetouung war, bei
Drohung, Versprechung, Lobeserhebung, beim Grüßen usw.
An nicht wenigen Stellen, wo Pluti überliefert ist, bleibt
freilich der Verwendungsgrund für uns ganz im dunkeln, und
das Schematische der Anwendung für recht verschieden «e-
artete Fälle gibt uns keine Möglichkeit, irgendwo den leben-
digen Klang genau zu reproduzieren; vor allem fehlt bei der
Pluti die Darstellung der Tonhöhenabstufungen. Ausgegangen
ist diese Bezeichnungsweise vermutlich von gewissen Fällen^
in denen die Grundstimmung des Sprechenden auch bei uns
und bei andern heutigen Indogermanen Vokaldehnung in der
Ausgangssilbe hervorrufen kann, z. B. im Zu- und Anruf mit
dem Vokativ, wie ai. ägnaSi, devadattäSa für die gewöhnliche
Schreibung ägne (äliex "^dgnäi, 'o Feuer'), devadatta (^o D.');
nhd. Otto mit mehrmorigem -o und Analoges anderswo
(s- § 7, 2). Vgl. Wackernagel Altind. Gramm, i, 97 ff., Bez-
ZENBERGER BB. 1 5, 296, DELBRÜCK Altind. Sjnt. 549 ff.,
du her?!. Die Verschiedenheit der Stellung der beiden verbundenen
Zeichen zueinander finde ich bei Fedor von Zobeltitz in den Dienst
einer Bedeutungsunterscheiduug gestellt : Die papieme Macht (Stuttgart
1902) I, 71 liest man „Scherst dir raus!?''' schrie Nagel, wo Aufforde-
rungssinn dominiert, und gleich danach „Was grinst du denn ewig?!"
schrie Dassel ihn an. ,,Kannst du denn nie ernst hleiben?!'\ wo mehr
die Frage als solche hervortritt. Freilich ist das so nicht durch die-
sen ganzen Roman konsequent durchgeführt, vgl. 2, 79. 89. 118. 119.
136. 138.
Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 13
Vergl. Synt. 3, 87, Kirste Wiener Sitzungsber. 160 TigoS) i^
S. 5ff.
Auf welchen andern Wegen man zu hinlänglich genauer
Einsicht in die Satzbetonung, namentlich in die für uns in
erster Linie in Betracht kommende Satzmelodie älterer Texte,
z. B. altgriechischer oder lateinischer, gelangen könne, ist vor-
läufig nicht abzusehen. Ich begnüge mich mit einem Hin-
weis auf Thumb 'Satzrhythmus u. Satzmelodie in der alt-
griech. Prosa', in Marbe's Fortschr. der Psychol. i, 3, i39ff.,
'Musikalische Formung des Satzes' in Brugmann-Thumb's
Griech. Gramm.^ 6650". Dort ist noch andere einschlägige
Literatur genannt.
Man hat sich daher mit der allgemeinen Vermutung zu
begnügen, daß, wie in den modernen, so im allgemeinen auch
in den alten Sprachen den verschiedenartigen seelischen Grund-
stimmungen Verschiedenheiten der Satzbetonung entsprochen
haben. Dabei läßt sich am sichersten weitgehende Überein-
stimmung inbezug auf die Unterschiede der Exspirationsstärke
annehmen. Li dieser besonderen Hinsicht möchte ich nicht
unterlassen, auf die ansprechenden Vermutungen von Loewe
PBrB. 41, 3040". zu verweisen.
3) Ein weiteres Hilfsmittel für die Erkenntnis- des dem
gesprochenen Satz zu Grunde liegenden Motivs ist durch die
Gesprächssituation gegeben, d. h. durch die Dinge, Per-
sonen, Verhältnisse, welche die Gesprächspersonen umgeben.
Die gemeinsame Anschauung schafft bei diesen Personen
Gleichheit der Vorstellungen, so daß z. B. am Fahrschein-
schalter des Bahnhofs Berlin zweite genügen kann für gehen
Sie mir eine fahrharte zweiter Masse nach Berlin. Dieses
Situationsbewußtsein erspart dem Redenden, wenn er nicht
gerade über räumlich und zeitlich Fernes zu sprechen hat, viele
Worte und läßt namentlich in den 'Kurzsätzen' (vgl. § 5, i)
leicht erkennen, ob etwas so oder so, z. B. als Aufforderung
oder als schlichte Aussage, gemeint ist.
Der Lesende dagegen ist stets nur auf den ganzen Zu-
sammenhang, in dem der Satz steht, darauf, daß dieser Zu-
14 Kaki. 1?riiomann: |7^,6
sanuu(Miluiug es ihm (.'luiögliclio, sich div Sit»iat,ion /u ver-
gegouwJirtis^t'Li, äuge wiesen.
4) Eine Holle spielen emilicii aiidi die (itbilideu, wel
che die Rede begleiten, die niiniiseheu und die pantonüiui-
seheu, die unwlllküiiieheu und die absichtlichen. Von den
Vorstellungen, die sich im Bewußtsein des Sprechenden drän-
gen, findet immer nur ein Teil iiiutsprachliehen Ausdruck.
Das Gebärdenspiel geht ergänzend luul erläuternd nebenher.
Als Interpretatiousbeihilfe waren die Gesten im Beginn der
menschlichen Sprache überhaupt unentbehrlich, man muß an-
nehmen, daß damals Laut- und Gebärdensprache noch völlig
gleichwertige, aufs innigste verbundene und sich gegenseitig
erfordernde Ausdrucksbeweouno'en gewesen sind. In vielen
Einzelfällen ist das bis heute bei allen Völkern so geblieben.
Man denke beispielsweise daran, wie schon dadurch oft Worte
erapart werden oder das Gesagte sein Verständnis bekommt,
daß das Auge des Sprechenden die Richtung auf eine Sache
oder Person nimmt, die gemeint sind.
Hatte nun schon in schriftlosen Zeiten die Lautsprache
allmählich das Übergewicht bekommen und die Gebärden-
sprache zu einer bloßen Gehilfin der Lautsprache herabsinken
lassen, so wurde mit der Einführung der Schrift die Gebärde
für die schriftliche Übermittlung der Gedanken geradezu aus-
geschaltet. Glücklicherweise konnte jedoch fast alles, was die
Gebärde bis dahin den Gesprächspersonen geleistet hatte und
was sie ihnen noch heute leistet, in der geschriebenen Rede
durch Worte, wenn auch in mehr oder weniger umständlicher
Weise, ersetzt werden. ^)
i) Hinweisende Gebärdeu, die der Dramatiker bei der .schriftli-
chen Abfassung eines Dramas im Auge hat, wie wenn es z. B. bei
Terenz Ad. 163 beißt tu quod te posterius purgcs, harte iniuriam mihi
nolle I faciain esse, hidtis non faciam oder in Körners Zriny i. Akt,
I. Auftr. Herr! diese Frage kann nur der dort lösen (nämlich Gott),
kommen hier natürlich nicht in Betracht. Denn der Dichter faßt von
vornherein schon den das Drama in wirkliche Sprache umsetzenden
Schauspieler ins Auge. In gleicher Weise stellt sich der erzählende
"0, ('] Verschiedexhkiten der Satzoestai/fung usw. 1 5.
5-
Die Eigenart imseres Themas macht es notwendig, zu-
vor noch auf ein paar Tatsachen von allgemeinerem Belang
den Blick zu lenken. »
i) Wenn von Satzgestaltung und Satzarten gehandelt
werden soll, muß man sich zunächst über den Begriff 'Satz'
verständigt haben. Nun brauche ich mich hier nicht auf eine
Schriftsteller bei derartigem Gebrauch von deiktischen PronomiHa in
dramatischen Teilen seiner Erzählung die zugehörige pantomimische
Greste vor, und er überläßt es dann dem Leser, sie auch seinerseits sich
hinzuzudenken oder aber bei etwaigem Vorlesen sie leibhaftig anzubrin-
gen. Es sei erlaubt, hierfür aus unserer deutschen Erzählungsliteratur
einige Belege herzusetzen. Gust. Freytag Soll und Haben i (Leipzig
1889) S. 106: Fink sagte... ,,Was meinen deutschen Adel betrifft, so
fiel darauf!", i, 200 : „Herr Wohlfart, ein kleines Buch in rother Seide,
so groß, ist hier im Saale von Theone Lara verloren". P. Heyse No-
vellen, Auswahl fürs Hau.s 2' (Berlin, W. Hertz) S. 270 : „Plötzlich fühl'
ich einen kleinen Stich am Herzen — hier — , daß ich auf einmal still
steJm und mich besinnen muß". Fr. Gerstäckers Ausgewählte Er-
zählungen u. Humoresken, 5. Bd. S. 6: „Papperlapapp", brummte der
Förster, „auf das Geschwätz geb' ich nicht so viel und kenne meine
Leute'-'. Bei H. Hesse, Nachbarn" (Berlin 1909) S. 91, sagt zu einem,
verbummelten Studenten seine Mutter: „I)^^ hast doch meiner SeeV nicht
so viel studiert". Korfiz Holm, Thomas Kerkhoven S. 188: „Ich kann
dir bloß sagen", erwiderte sie, „daß ich so viel auf diesen TheateHratsch
geb'!". C.Viebig, Das tägliche Brot (Berlin 19 15) S. 369: „Warum biste
denn so? Du hätt'st ihr vohl reinlassen können. Kuckste, so stand se
hier und so'ne Äugen machte se und kloppte un lauerte", S. 148: „Dtt
hast keen Herz vor deine Kinder. Wenn der" — sie wies mit dem Blick.
nach dem voranschreitenden Courmacher — „dir so'n Radau machen hört,
schnappt er jleich ab". R. Stratz, Die Faust des Riesen (Stuttgart)
I, 23: „Ich kann dir nur sagen: Papa hat die Geschichte jetzt dick bis
dahin! Er hat erklärt.. .", S. 135: „Ich scliwöre dir, ich könnte mei-
nen Kopf und mein Herz dttrchstöbern — ich fände keinen Mann, der
auch nur so viel Einfluß auf mich hätte. Bis jetzt ^venigstens !" . VgL
auch L^hland, Siegfrieds Schwert: Und von der letzten Eisenstang'
Macht er ein Schivert so breit und lang. Ob außei-halb des Dramas
solcher Gebratpch von Demonstrativpronomina in der Literatur auch
älterer idg. Sprachen vorkommt, ist mir nicht bekannt (vgl. Verf. De-
monstrativpron. S. 7).
i6 Kaki. BRiKiMANN: [70.6
Erörterung der in den letzten Jahren immer von neiumi uu-
ternommenen Versuche einzuhissen, den Hogriff Sat/, unzwei-
deutig und nach allen Seiten liin einwandfrei zu definieren.
Ich darf mieh an die hindlilufige Auffassung halten, die un-
gefähr dahin bestimmt werden kann, daß ein Satz eine in
artiknlatorischer Hede erfolgende Äußerung sei, die ihrem
Sinne nach dem Sprechenden und dem Hörenden als ein in
sich zusammenhängendes und abgeschlossenes Ganzes erscheint.
Danach sind für mich nicht nur z. B. icJi habe durst oder
lomm Sätze, sondern auch leider/ oder herein/ oder weh mir/
oder (futen tag (als Grußformel) oder du/ (drohend).
Bei der letzteren Gattung von Äußerungen wird oft von
"^fragmentarischem' oder 'elliptischem Satz' gesprochen. Hier-
auf muß etwas näher eingegangen werden.
Von einem Satzfragmeut sollte, streng genommen, nur
dann die Rede sein, wenn jemand in der Abwicklung einer
beabsichtigten satzlichen Äußerung von außen her gestört und
unterbrochen wird oder sich selber auf einen dazwischen ge-
kommenen Impuls hin unterbricht.^) Denn was man gewöhn-
lich so nennt, ist in der Regel darum doch etwas Vollstän-
diges und Abgeschlossenes, weil Betonungsart, Situation und
Gebärde das volle Verständnis des Gesagten vonseiten des
Hörenden bewirken. Es kommt für die Beurteilung nicht
darauf an, daß bei Äußerungen wie tveh mir/, wie schön/,
schon surück von der reise?, daß du so spät heute kommst/
der Grammatiker etwas an Vollständigkeit vermißt, oder
daß dem Sprechenden, sei er grammatisch geschult oder nicht,
in dem Augenblick, wo er sagt schon zurück von der reise?
zum Bewußtsein kommt, daß er auch hätte sagen können
du bist schon zurück von der reise?. Sondern das ist das We-
sentliche, ob auch die knappere Ausdrucks weise so aufgefaßt
wird wie sie gemeint war, ob sie ebenso gut und sicher
verstanden wird wie der sogenannte vollständige Satz.
i) Zu letzterem gehört großenteils das, was man Anakoluth nennt:
gewöhnlich ist es Zerstreutheit oder Erregung des Sprechenden, die
die Fort- und Zuendeführung des angefangenen Satzes hindern.
70, 6] Verschikdenheiten der Satzgestaltung usw. i 7
Letzterer ist jedoch in vielen Fällen doch nicht wirk-
lich 'vollständig'. Denn könnte man nicht auch wieder z. B.
du bist schon siirücJc von der reise? für fragrmentarisch oder
elliptisch erklären gegenüber du bist schon zurück gekommen
von der reise? Man sollte also von der sXXsiipig in der Satz-
bildimg nicht so viel Wesens machen in der Grammatik,
wie es seit alten Zeiten der Fall ist. Wenn man aber denn
doch einen Terminus braucht, um vollere und kürzere Satz-
gestaltung auseinander zu halten, so rede man von Kurz-
satz und YoUsatz in Anlehnung daran, daß man beim ein-
zelnen Wort Kurzformen (Kurznamen) und Vollformen (Voll-
namen) einander gegenüberstellt, z. B. bocJc und hocJchier, Frieda
und Friderike.
Beim Satz ist übrigens diese Unterscheidung in einer
großen Anzahl von Fällen, z. B. bei tveh mir.', mhd. wol dir!
und 2vol dich!, lat. me miserum!, vae mihi!, hene tibi! und
hene te!, agriech. co-^ol (co^ol), ngriech. cj'i^eva, nur für die
Zeit angebracht, in der neben diesen Kurzsätzen auch noch
die entsprechenden volleren Sätze mit dem gleichen Kasus
lebendig waren oder sind. Denn während man z. B. bei den
Grüßen (/iden tag, guten abend u. dgl. wegen ich wünsche dir
^'inen vergnügten tag, ein fröhlichen abend usw. noch eine Vor-
stellung davon haben kann, wie der Akkusativ als solcher zu
nehmen ist, ist in den Fällen wie iveh mir!, wol dir! ein Ge-
fühl für die ursprüngliche Beziehung des Kasus kaum mehr
vorhanden. Solche Wendungen sind in der Zeit, in der sie uns
entgegentreten, schon in ähnlicher Weise starr geworden, wie
gewöhnlich die aus lebendigen Kasus erwachsenen Adverbia.^)
Nun kann kein Zweifel sein, daß die primitivsten Satz-
gebilde nur aus einem 'Wort' oder ganz wenigen Wörtern
bestanden haben, vor allem überall da, wo stärkere Affekt-
i) Den von Wegener neuerdings (IF. 39, iff.) angewandten Aua-
dnick Wortsatz für das, was ich Kurzsatz genannt habe, halte ich
für wenig angemessen. Denn 'Wortsätze' sind auch z.B. komm!, kommt!,
iceh!, pfui!, Karl!: diese bestehen nur aus einem Wort, dabei lassen
«ie aber in grammatischer Hinsicht nichts vermissen.
Phil.-hi8t. Klasse 1918. Bd. LXX. 6. 2
l8 Kaui. Bi:r(;M\NN: (70,6
TCLjnn^oii lauts))riiehlicho Ausdrncksbcwpgungeii vcranlaBten.
So möchte man denn «gerade auch die Satzgestaltiingen, die
ich als Ivurzsätze bezeichnet habe, wegen der Knappheit des
Ausdrucks für besonders altertümlich halten. Und doch weisen
sie durch die mit einer bestimmten Flexionsendung, z. B. mit
einer bestimmten Kasusendiuig, versehenen Formen, die einen
bestimmten syntaktischen Zusammenhang Toraussetzen, auf
ausgebautere Satzbildungen als Grundlage und Vorlauter hin.
Wie ist das zu beurteilen? Sicher ist jeder einzelne Fall von
besonderer Art und daher zunächst für sich ins Auge zu
fassen. Im großen Ganzen aber dürfte der Entwicklungsweg
der folgende gewesen sein. Die Wörter, die nominalen, pro-
nominalen und verbalen, hatttn einmal in uridg. Zeiten nicht
diejenige Art von Flexionsendungen, die in den historischen
Sprachperioden erscheinen, und die wir ihnen auch schon für
die letzten Zeiten der Urgemeinschaft zusprechen müssen.
Was diese Endungen für das Verständnis des Satzes von
uridg. Zeit her leisten, wurde in noch älterer Zeit hauptsäch-
lich durch Gebärde, Situationsbewußtsein der Sprechenden,
Betonungsweise u. dgl. geleistet. Nachdem man aber, bei fort-
schreitender Entwicklung des syntaktischen Denkens, immer
mehr verschiedene Wortformen mit einer bestimmten syntak-
tischen Rolle im Satzbau dazubekommen hatte, wurden die
bis dahin allein üblich geweseneu Formen in den Kurzsätzen
nunmehr denen der dem Sinne nach entsprechenden Vollsätze
angepaßt. Man ist also aus dem uralten Zustand des Sprechens
in Kurzsätzen niemals ganz herausgekommen, hat nur in der
Gestaltung des Kurzsatzes selbst vielfach feinere Differenzie-
rungen der Wortformen vorgenommen, bei denen man sich
von den im Bewußtsein daneben vorhandenen Gestaltungen,
von VoUsätzen leiten ließ.
Dadurch wurden die Kurzsätze oft unmißverständlicher.
Z. B. deinen stocJ:!, die akkusativische Gestaltung in Auf-
forderungstonart, wird als Aufforderung, den Stock zu geben,,
leichter verstanden als bei gleicher Gelegenheit das nomina-
tivische dein stock!. Die richtige Interpretation des letzteren
70, 6] Vehschledenheiten der Satzgestaltung usw. 1 9
wäre nur durch eine begleitende deiktisclie Gebärde zu er-
reichen.
2) Wenn man sagt wie spät du kommst/, tvie spät kommst
du.' oder kommst du spät!, so drückt man damit dieselbe
Empfindung aus, wie wenn man sagt ich wundere mich über
dein spätes kommen oder ich wundere mich, daß du so spät
kommst. So läßt sich der Antrieb, der eine sprachliche Äuße-
rung zur Folge hat, jedesmal durch ein besonderes diese
seelische Grundstimmung bezeichnendes Wort ausdrücken: hilf
mir neben ich fordere hilfe von dir, fordere dich auf mir zu
helfen; iväre ich gesund! neben ich wünschte gesund zu sein;
wenn er sich nur nicht verspätet! neben ich fürchte, er verspätet
sich; das ist wahr neben ich behaupte, daß das wahr ist; ivie
heißt der? neben ich frage, wie der heißt usw.
In jeder von diesen der psychischen Grundlage nach ver-
schiedenen Satzgattungen können natürlich auch feinere Schat-
tierungen in dieser Grundlage zugleich auf die eine oder
andre Weise zur Darstellung kommen, in der ersteren Art
der Satzgestaltung etwa durch die verschiedenen Grade des
Nachdrucksakzents, oder durch Zusatz von Partikeln u. dgl.
Mit Flexionsformen, die durch sich selbst deutlich dem Aus-
druck einer bestimmten psychischen Grundfunktion dienen,
wie z. B. mit den Imperativformen, sind oft Partikeln, die
einer solchen feineren Nüancierung dienten, fest verwachsen
und haben großenteils dann mit der Zeit durch Mechanisie-
runo- des Gebrauchs diese besondere Bedeutsamkeit wieder
eingebüßt, z. B. lit. du-k(ij 'gib' (so vielleicht auch uridg.
*i-dhi 'geh' ai. ihi, neben *ei 'geh' lat. *).
Eine ganz gewöhnliche Erscheinung ist es nun, daß ein
Nebensatz^) oder ein ihm gleichwertiges Redeglied für sich
allein in derselben Bedeutung gebraucht wird wie der die
i) Über A. Dittmar's Bekämpfung der Unterscheidung von Haupt-
und Nebensatz und dessen, was damit zusammenhängt (Syntakt, Grund-
fragen, Progr. Grimma 191 1), denke ich wie E. Hermann Griech. Forsch.
I (1912) S.'if. 328 f. und R. Blümel Die Haupttypen der heutigen
nhd. Wortstellung (19 14) S. 65 ff.
2*
20 KaKI. I>Kt;(JMANN: [7O1 '^
Grundstim mmig rlurcli ».'in l)e<i()ii(InroR Wort, %. B. uh, ivnndre
mich, ich icünachc usw., ausdiiiclvfude Il!iu|»tsatz in Verbindung
mit diesem ahliängigfii Satz oder Satzglied. Doch handelt es
eich dann nicht etwa ])loß um Herstellung eines einfachen
Kurzsatzes durch Beschränkung der Hede auf Grund von
einer Beihilfe, die dem Verständnis durch eine Gebärde, durrh
die Gesprächssituation oder dgl. zuteil wird. Denn wähi-end
Äußerungen wie icli hin dartihcr veru'undcti, daß . . ., ich flehe
dich an, daß du . . . immer nur einfache Aussagesätze sind,
die freilich oft auch (wie alle einfachen Aussagen) mit be-
sonderer Nachdrucksl^etonung gesprochen werden, haben die
entsprechenden gleichbedeutenden Kurzsätze — wenn man
diesen Ausdruck auch hier anwenden will — den Tonfall des
Ausrufungssatzes, z. B. wie spät du hommst!, wie Jcall es heute ist!,
daß du so spät kommst!, ebenso z. B. lat. tantam esse inscitiam!
(woueben miror tantam esse inscitiam); ferner haben Sätze wie
daß du gleich tviederJcomnist! (neben ich iihU, ich wünsche, daß
du . . .), still stehn! (neben ich iviinsche, daß du still stehst) den
Tonfall des Aufforderuugssatzes, oh er heute noch kommt ? (neben
ich iveiß nicht, oh er . . .) den Tonfall des Fragesatzes usw.
Neben diesen beiden Ausdrucksformen gibt es nun noch
eine altüberkommene Ausdrucks weise, die eine Zwischenstufe
darstellt. Ganz gewöhnlich ist nämlich in den verschiedensten
idg. Sprachen die Erscheinung, daß sich die jeweilige Grund-
stimmung der Seele zunächst in einer Interjektion (dies Wort
im weitesten Sinne genommen) äußert und dieser sich dann
das, worauf die Stimmung sich bezieht, wie ein abhängiger
Satz ebenso anschließt wie den Sätzen ich wundere mich, ich
will usw., z. B. mhd. Nib. 2260 o/re, da^ vor leide nieman wol
sterben mad, Nib. 2 2 hei, tvaj er guoter degene ze dirre iverlde
gewan!, gi-iech. u 2)^ w tcoxol, oiov 8t^ vv dsovg ßgorol
altiöavtaL, lat. Ter. Euu. 730 vah, quanto nunc formosior\videre
mihi qiiam dudum!. Die besondere affektische Satzbettmung
setzt sofort bei der Interjektion ein und zieht auch das, was
sich der Interjektion anschließt, in ihren Bereich. Dabei haben
die Interjektionen, so lange sie nicht einem Satz so einver-
70, 6] Verschiedenkeiten der Satzgestaltung usw. 2 1
leibt sind, daß sie uiit Aufgabe ihrer Eigenbetonung nur als
einfache Satzglieder empfunden werden, selbst Satzcharakter.
Und wenn man nun bei den Ausdrücken daß er immer noch
nicht l'ommt.', ivie schön sie ist.', daß er doch bald Mme!, ob
ir hahJ Tiommt?, griech. Plato Euthjphr. 15 e oia Tcoistg^ g)
iTiÜQS von verselbständigten Nebensätzen oder zum Hauptsatz
erstarrten Nebensätzen (Sütterlix Die deutsche Spr. der
Gregeuw.* 421 f.) sprechen darf, so liegt es wegen der Be-
touuugsart jedenfalls näher, diese Satzgestaltuug aus dem
Typus mit der die Äußerung einleitenden Interjektion hervor-
gegangen sein zu lassen als (mit Sütterlin) aus der Aus-
drucksform wie z. B. ich wundere mich, daß . . . Eine Paral-
lele hierzu bildet übrigens die Entstehung von vielen sogen,
sekundären Interjektionen. Gebilde nämlich, die aus Wörtern
wie gott, himmel, teufel mit vorausgehender primärer Interjek-
tion zusammengesetzt sind, wie z. B. ach gott!, 0 himmel f, pfui
teufel!, sind entstanden aus zwei ursprünglich bis zu einem
gewissen Grad selbständigen Teilen: ach! gott!, 0! himmel!,
pfni! teufel! In vielen Fällen aber darf für sich allein ge-
sprochenes interjektionales gott!, himmel!, teufel! so zu sagen als
Kurzform zur zweigliedrigen Ausdrucksweise angesehen werden.
Von den Satzformen, die man als verselbständigte Neben-
sätze bezeichnet, wird unten, bei der Erörterung der einzelnen
Satzarten nach ihrer Grundstimmung, noch zu handeln sein.
Jetzt haben wir uns noch der Wortklasse der Interjektionen
zuzuwenden, die in den Affektsätzen aller Art eine hervor-
ragende Rolle spielt.
3) Man ist heutzutage in bezug auf die sogen. Inter-
jektionen im allgemeinen wohl über den Standpunkt hinaus,
daß man sie mit den stimmlichen Äußerungen des Schreiens,
Scliluchzens, Jauchzens u. dgl. in einen Topf wirft und sagt,
sie gingen, wie diese, den Erforscher der menschlichen
Sprache nichts an.^)
i) Bei Kihnkr-Blass AuBführl. Cxramm. d. griech. Sprache i', 2,
252 heißt es: „Die Interjektionen sind bloße Empfindungslaute und
sind daher füi- die (iramniatik bedeuttingslos".
2 2 Kari. BiiuOMAhfN: [70. '>
Wer so urteilt, macht sich nicht kbir, dsiß tust ;ille
Sprach ontwickluD}:; von jeher auf fortschreitender, sich ver-
foinenuler Organisation /um Zweck der Vorstündii!;ung zwi
sehen Menschen beruht. Das Interjnktionale stellt das primi-
tivste Mittel in diesem Vervollkonimnuugsgang dar. Da es
aber noch am Leben ist und den gleichen Zwecken dient wie
in den Anlangen menschlicher Sprache, hat die Sprachwissen-
schaft ihm dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden wie allen
andern Teilen des Sprachstoös.
Man begegnet aber mitunter auch der Auffassung, eine
Interjektion werde erst dann zu einem Bestandteil der Sprache,
wenn sie die Stufe einer unwillkürlichen, ohne einen Mit-
teilungszweck erfolgenden stimmlichen Äußerung überschritten
habe, wenn sie also zum Ausdruck eines Wunsches, einer
Warnung, einer Drohung u. dgl, an eine andre Person, even-
tuell auch an ein Tier (vgl. z. B. huss als Iletzruf, schu schu
als Seheuchruf) gerichtet werde. Auch diese Auffassung ist
zu eng. Gegen sie macht 0. Dittrtcii Die Probleme der
Sprach spy eh. 191 3 S. 7 6 f. mit Recht geltend, wenn z. B.
beim Anblick einer bunten Glaskugel ein Kind im Gefühl der
Freude darüber ei! ausrufe, sei das darum Sprache und Satz,
weil es dasselbe sei wie wenn ein Erwachsener ivelcJi schöne
Tcugclf rufe, der sprachliche Charakter dieses letzteren Aus-
rufs stehe aber ja außer Frage. Eif, hei, aha!, ui! und über-
haupt alle die Interjektionen, die von Anfang an reine Natur-
laute gewesen zu sein scheinen, dürfen aber, ebenso wie die
aus grammatisch sinnvollen Wortformen erwachsenen, wie
holla!, hurra!, schon darum nicht vom echt Sprachlichen
ausgeschlossen werden, weil sie, im Gegensatz zu den Äuße-
rungen des Schreiens, jammernden Weinens, Winseins u. dgl,
artikulatorisch dem Lautmaterial der echten Sprache an-
geglichen worden sind und zusammen mit allem andern, was
zur Sprache gehört, vom Kind seiner sprechenden Umgebung
abgelernt und so traditionell weitergegeben werden. Die
Grenze gegenüber den unsprachlichen stimmlichen Ausdrucks-
bewegunsen ist freilich überall eine fließende, wie ja auch.
70, 6j Verschiedenheiten der Satzgestaltung u.svn'. 2^
bei den mit den Interjektionen wesensverwandten Vokativ- und
Imperativformen sich in erregterer Rede oft nebenher stimm-
liche Elemente geltend machen, die, weil mit den gewöhn-
lichen Sprachlauten nicht in Übereinstimmung, sich schrift-
lich nicht fixieren lassen, und die demnach in den Augen des
Grammatikers den Formen wie etwas außerhalb der eigent-
lichen Sprache Stehendes anhaften.^)
Daß ein irgendwiegroßer Teil von den primären Inter-
jektionen, die in der geschichtlichen Zeit der idg. Sprachen
begegnen, schon in der uridg. Periode vorhanden gewesen ist,
kann nicht bezweifelt werden. Nur ist es bei dem größeren
artikulatorischen Spielraum, den sie, wie die onomatopoieti-
schen Gebilde, gegenüber dem sonstigen Material der Sprache
überall haben, schwer, ja unmöglich, in derselben Weise wie
bei den andern Bestandteilen der Sprache idg. Grundformen
in der üblichen graphischen Darstellung anzusetzen.^) Es ist
auf Grund der Überlieferung auch gar nicht festzustellen, ob
i) Die menschliche Sprache hat sich ohne Zweifel nur sehr all-
mählich aus der Gesamtheit derjenigen Ausdriicksbewegungen, die als
Merkmal psychischer Vorgänge das animalische Leben kennzeichnen,
herausentwickelt und ist, wie nicht oft genug betont werden kann, bis
auf den heutigen Tag noch nicht in allen Einzelheiten etwas grund-
sätzlich anderes als die Tiersprache.
2) Folgende Interjektionen dürfen unter der Voraussetzung, daß
sie von jeher reine Gefühlslautungen gewesen sind, als '^urverwandt'
gelten, a) Griech. m, w. Lat. ö. Ir. o (auch ä geschrieben), mkymr.
corn. a. Got. 0 (das nicht nur a>, sondern auch ovä übersetzt, also wohl
nicht zu den Gräzismen zu rechnen ist), mhd. nhd. ö (S. 32), mhd. -ä in
nein-ä nein, bliuw-ä lliu, väh-ä väch u. dgl. (vgl. Eur. Kykl. imuy m
vnay m Ksgaara, Ov. Metam. 14, 842 duc 0 duc). Wohl auch ä in av.
ä-vöya 'wehe!' neben voya- 'Wehruf, vayUi 'wehe!'. Zweifelhafter
bleibt Zugehörigkeit von ai. ä (Ausruf eines sich auf etwas Besinnen-
den) und lit. a, ä, lett. a. b) Ai. uve, av. vayöi avöi ävoya npers.
väi. Arm. vay. Griech. oiai (spät), ngriech. ßdi. Lat. vae. Ir. fe, kymr.
gwae. Got. wai, ahd. mhd. nhd. we (ö-we) ags. wä. Lett. uai. Vielleicht
Zusammenhang mit lat. au, mhd. ou nhd. au. c) Griech. ort', ul, cciai,
ot, oi'or, ngriech. ai, wi. Lat. ez, hei (wozu das Verbum eiuläre). Mhd.
nhd. ei. Lit. al, et, lett. ai, ei. d) Griech. qpsü, ngriech. (pxov. Lat. /'«,
fue. Nhd. pfui. Hierzu lit. hiau-rüs 'häßlich, greuelbaft. unrein'??
24 Kaki. Bkuhmann: |7<J, ^>
in den Volkssprachen seit urid^. Zeit die Zahl der allgemein
gebrauchten Interjektionen ah- oder zugenommen hat, wenn-
gleich a priori zu vermuten ist, daß die [)riniär('ii Interjektionen
g»'gen die sekundären seit jener Zeit an Zahl zurückgc^treten
sind, und daß im ganzen eine Abnahme interjektionaler Aus-
drucksweise stattgefunden hat.')
Es ist khir, daß von allen stimmlischen Aus(h-u('ks-
bewegungeu in der menschliclien Sprache die interjektionalen
der primitivste Bestandteil ist. Wie viele aber von den Inter-
jektionen, die in den historischen Zeitläuten der idg. Sprachen
erscheinen, und von denjenigen, die man mit einiger Wahr-
i) WuNDT Völkerpsycb. i*, i, 308 f. glaubt auf Grund der er-
haltenen Literatur zeigen zu können, daß die alten Griechen und Römer
noch eine größere Anzahl von eigentlichen Interjektionen besessen
hätten als die neueren Völker. Nachweisbar ist aber vielleicht nur, daß
jene Völker häufiger als die neueren Völker den Interjektionen in der
Literatur, im Drama und in dramatischen Bestandteilen von Kizählun-
gen und Reden, Zutritt gewährt haben. Ob dieser Beweis zu führen
ist, möcht' ich jedoch im Hinblick z. B. auf Wkinhold Mhd. Gramm.*
S. 345 ff. bezweifeln. AllerdingH dürfte Anpassung vielsilbiger inter-
jektionaler Gebilde an das Metrum in der Art, daß sie einen ganzen
längeren Vers füllen, wie bei Sophokles Philo]it. 745:
änolcolu, ttKvov ßQVKonat,, xskvov nccnal,
anannaTtai, ^iccTtccitnaitannccTiaTinanat ,
in neuerer ernsthafter Literatur unerhört sein und würde jetzt jeden-
i'alls als Geschmacklosigkeit empfunden werden. Doch hierauf kommt
wenig an. Die Hauptfrage ist die, wie es mit den Interjektionen im
Volksmund heute steht und bei den Alten gestanden hat. Aus der
großen Masse von Interjektionen in der Literatur der alten Griechen
und Römer (auch der alten Inder, s. Benfey Vollständ. Gramm. 1852
S. 346, Kurze Sanskrit- Gramm. 1855 S. 348 f.) ist natürlich auf eine
mindestens gleichgroße Masse in der Alltagssprache des Volkes zu
schließen. Aber neuere Volksmundarten stehen hiergegen schwerlich,
zurück: ich verweise auf 0. Büttgeu Der Satzbau der erzgebirgischen
Mundart, Leipzig 1904, Anhang I Die Gefühlsausdrücke S. 157 If. und
K. Ehelicher Zur Syntax der Sonneberger Mundart: Gebrauch der
Interjektion, des Substantivs und des Adjektivs, Leipzig 1906, S. i2if.
— Wie ich nachträglich bemerke, spricht sich auch schon Sittbklix
Das Wesen der sprachl. Gebilde, Heidelberg 1902, S. 25 gegen
WuNUT aus.
70, 6j Verschiedenheiten üeu Satzgestaltung usw. 25
scheinlichkeit zu dem Bestand der schon in uridg. Zeit ge-
brauchten zählen kann, von jeher wirklich nichts anderes als
'Naturlaute' gewesen sind, d. h. durch einen natürlichen Draug^
nach lautlicher Reaktion heivorgerufene Stiramlaute , wie sie
schon der Vorstufe der menschlichen Sprache angehört und
als Überlebnisse eines vorsprachlichen Zustands in die sprach-
liche Zeit hinein sich erhalten haben, wird nie ermittelt
werden können. Wir sehen, wie überall in der geschichtlicheji
Zeit sinnvolle Wortformen bei Affektbetonuug in den Bereich
der Interjektionen hineingezogen worden sind*) und dabei oft
von ihrer ursprünglichen Lautung so viel eingebüßt haben»
daß das Gefülü für Identität mit der Wortform, der sie ent-
stammen, ganz abhanden gekommen ist. Bei jesses! mag mau
vielleicht noch an Jesus, bei leider! an leid erinnert werdeu,.
vielleicht auch der Italiener bei tie.' und tef noch an fene, bei
giiarf an guarda, der Grieche bei özoXXcar}/ (etwa Mu kannst
mir was!', ironisch) an sig tcoXXcc sxy] ('auf viele Jahre !'^
Grratulatiousformel), der Lette bei a jjass ! an a paslicd C^ei
sieh doch'), und so mag auch dem Römer z. B. bei pol! noch
Pollux ins Gredächtnis gekommen sein. Aber die Fäden sind
abgerissen z. B. bei holla!, das ursprünglich Zuruf an den
Fergen gewesen ist ijiol-o hol-a, ferg, hol), bei hurra!, das
ebenfalls Imperativ war, zu mhd. hurren 'sich schnell bewegen^
wild losrennen' — beide mit dem verstärkenden -a wie in
mhd. blimv-ö, s. S. 2;^ Fußn. 2 — , bei oje!, ojemine!, ojerum
u. a. dgl., die Jesus enthalten, bei heda !, worin das Adverbium
da steckt, bei ngriech. ^tiqs! ('heda!') aus iiaQS^ und so war
es auch vielfach bei Interjektionen alter Sprachen, z. B. bei
lat. eml, aus dem Imper. eme ('nimm, da hast du'). Wer
kann also wissen, ob nicht auch unter Interjektionen wie
i) Bekannte Beispiele sind u. a. griech. aye, qp^ps, lat. age, nhd.
halt, geh, ai. ehi (Vevf. Gruudr. 2-, 3, 822f.). — Ist nicht das qq von
homer. ^qqs '^pack dich! geh zum Henker!' (vgl. Wackebnagel Sprachl.
Unters, zu Homer S. x) afiektische Gemination gewesen? Zuverläösigen
etymologischen Anschluß an Außergriechisches hat igoi noch nicht
gefunden.
2 0 Karl Bkuümann: [70, <>
etwa ai. iivc arm. vay usw., griech. q^ev hit fit usw. (S. 2;^
Fußn. 2) diese oder joue aus i'iner wirkliclien Wortforni um-
gestaltet worden war'? Mit dtii 'Lautj^csetzen', wie wir sie auf
die Formen anderer Wortklassen au/nwenden pflegen, ist hier
ja eine Kontrolle nicht zu üben.^)
Das Hauptgebiet der Interjektionen sind naturgemäß von
jeher die Satzarten gewesen, deren Grundlage Gefühle und
Empfindungen waren. Sie treten hier noch vielfach als selb-
ständige Sätze auf, und sie stehen oft auch noch dann, wenn
sie durch Einverleibung in einen andern Satz zum Satzglied
herabgesunken sind, im Dienste des Ausdrucks der besonderen
seelischen Grundstimmung.
i) Gewissermaßen das Gegenspiel dazu, daß echie Wortformen zu
reinen Getuhlslautungen werden, bildet die Erscheinung, daß aus Inter-
jektionen Wortformen referierender Bedeutung, rein aussagenden In-
halts geschaffen werden. Der Empfindungston, der vorlianden ist, wenn
der Sprechende selbst der Träger und das Subjekt der Empfindung ist,
wird dabei von dem, der aus dem Gefühlslaut ein Wort macht, zu-
nächst vielleicht noch bis zu einem gewissen Grad, so zu sagen, ono-
matopoietisch beibehalten, verliert sich aber mit der Zeit. So nihd.
ächzen echzen nhd. ächzen zu ach!, n\\x(\.. jüwcn jüwezen %\iju!, juchezen
uhd. juchzen zu juch!, nhd. jucheen jucheien zu jucke! jucheU, griech.
(pivta 'wehklage' zu qptv, lat. eiulo zu ei!, ai. RV. aJMMU-kftya
"jauchzend', 'den Ruf akhkhala ausstoßend', ferner die Substantiva
■wie nhd. das iveh zu tveh!, av. avaetät , gewissermaßen 'das Wehtum'
(wie es Baktholomak übersetzt), zu avöi (vgl. S. 23 Fußn. 2), lett. ivai-
mana 'Wehklage' (mit dem Verbum imimanät 'wehklagen') zu ivai
man! 'weh mir!'. Solche Wortbildungen kommen okkasionell immer
noch neu auf: z. B. bei lt. Puesber Das Mädchen vom Nil' S. 159 ruft
einer „Aha!"; daraufsagt ein andrer „Gar nichts aha! Du ahast immer
viel zu fruit." Man mag auch vergleichen die Bildung von Personen-
namen auf Grund von gefüdlsbetonten Wunschausdrücken, z. B. Gott-
helf, Waltsgott, Leberecht, Turecht, der Gottseibeiuns, spätlat. Vincemalus
(zu vince malos), oder appellativische Nomina wie russ. sudibogi 'Klagen,
in denen oft sudi bog! gesagt wird", ai. kändis- 'ein Flüchtiger', zu
kä disam 'nach welcher Richtung [soll ich mich wenden]?', ferner die
Benennungen von Sachen und Lebewesen auf Grund von gehörten
Schällen und Geräuschen, wie die ticktack 'Uhr', kuckuck guvkguck
griech. xÖhxvI usw., ai. kiki-h (kiki-dli>ih) griech. v-ieau xi'rra (aus *>ciHia)
ahd. hehara ags. hi^era 'Häher'.
70,6] VeRSCHIEDEKHEITKN DER SATZGESTAliTUNG USW. 27
6.
S. 6 ist darauf hingewiesen, daß für unsere Betrachtimg
der Satzarten diese nicht wohl eingeteilt werden könnten
nach Maßgabe einer solchen Einteilung der psychischen Ge-
bilde, namentlich der Affekte und Willensvorgänge, wie sie
von der Psychologie ohne spezielle Berücksichtigung der
sprachlichen Ausdrucksbewegungen vorgenommen wird. Die
psychischen Vorgänge selbst sind fast immer reicher und kom-
plexer als ihre verschiedenen Ausdrucksformen, und es fehlen
besondere Namen für alle unterscheidbaren Schattierungen.
Bei der Gruppierung des Stoffes hat man daher sofort die
von der Sprache selbst gebotenen konventionellen Ausdrucks-
formen als Anhaltspunkte und Leitfäden zu benutzen.
So gehen wir denn jetzt der Reihe nach die Satzarten
durch, wie sie in unsern idg. Sprachen in den Dienst des
Ausrufs, des Wunsches, der Aufforderung, der Ein-
räumung, der Drohung, der Abwehr und Abweisung,
der Aussage über eine vorgestellte Wirklichkeit und
der Frage getreten sind. In diesen Fällen sind für den
Sprachforscher die Grundmotive des Sprechens am leichtesten
erfaßbar. Dabei ist dann im einzelneu zu untersuchen, wie
die vorhandenen Ausdrucksmittel dadurch abgeändert worden
sind, daß Satzformen zu" ihrer ursprünglichen Bedeutung noch
neue Bedeutungen hinzubekommen haben, und wie sie sich
dabei den neuen Verhältnissen angepaßt haben.
Daß es inbezug auf die Grundstimmung Mischformen
gibt, Satzgattungen, die genau genommen in zwei von den
angesetzten Kategorien zugleich gehören, darf kein Hindernis
für unsere Einteilung bilden. So gibt es z. B. Sätze, die man
zugleich als Ausruf ungs- und Fragesätze zu bezeichnen hat,
wie z. B. (staunend) du schweigst? .', lat, taces?!, und daß
etwas unter verschiedene Gesichtspunkte zugleich fällt, be-
gegnet auch sonst in allen Teilen der Grammatik.
Es soll aber hier nur eine einigermaßen orientierende
Umschau geboten werden, nicht eine vollständige Vorführung
28 Kahl Bkigmann: [70,^'
des überall in üppigster Fülle ont^'o^entrekMulen Materials.
Kür/e ist umsoniehr niöglii'li und i^eboten, als es sicli im
wosentliclieu ja um nicht Un))ekanntes handelt. Das Neue liegt
daher allermeisteus nur in der Zusaujuieustellung und Grup-
pierung des sacldich Zusammengehörigen; eingehendere Be-
handlung, die vermutlich mancherlei Neues, auch grundsätz-
lich Neues, wird hinzubringen können, überlasse ich andern.
Zum Beispiel hoöe ich, daß tiefer schürfende Einzeluuter-
suchun«»- wenn sie in den von uns angedeuteten Richtungen
vorgeht, uns eine klarere Einsicht bringen werde in das ent-
wicklungsgeschichtliche Verhältnis, in dem die verschiedenen
von uridg. Zeit nebeneinander hergehenden Gebrauchsweisen
des Konjunktivs und des Optativs zueinander gestanden haben.
Ich habe besonders solche Erscheinungen berücksichtigt,
die in mehreren idg. Sprachen in gleicher Weise entgegen-
treten, dabei aber durchaus nicht Wert darauf gelegt, jedes-
mal alle diejenigen Sprachen namhaft zu machen, in denen
sich die gleiche Erscheinung vorfindet.
7-
Satzbildung im Dienste des Ausrufs. Unwillkür-
liche Ausrufe sind das Primitivste im Sprachleben. Sie sind
reflexartige Ausdrucksbewegungen mit dem Vorstellungsinhalt,
der den jeweiligen Affekt begleitet. Da sie absichtslos und
mehr oder minder unbewußt hervorbrechen, sind sie zunächst
'monologischer' Art. Von dieser Art sind aber nicht etwa
Idoß solche interjektionale Gebilde wie achf, ei!, au!, sondern
auch ausgebautere Sätze sind in den Dienst des unwillkür-
lichen Ausrufs geraten, nachdem der Mensch im Verkehr mit
seinesgleichen bereits zu einer höheren Stufe im sprachlichen
Ausdruck der Gefühle und Gedanken gekommen war: so z. B.
wenn einer im einsamen Zimmer für sich ausruft donner-
Lvetter, hob ich mich geschnitten!^) Ausrufe erfolgen aber nicht
i) So sicher es ist, daß jeder Fortschritt, den die menschliche
Lautsprache gemacht hat, durch das soziale Zusammenleben der Men-
70,6] Verschiedenheiten der Satzge.stat.tuno u8w. 29
nur rein mechanisch ohne Rücksicht auf Mitmenschen. Sie
richten sich auch an einen andern Mensclien, in welchem
Falle sie Reaktionen eines Willens, Willenshandlungen (das
Wort Wille in seinem landläufigen Sinne genommen) sind.
Sie sind dann zugleich Zurufe. Wenn der andere dadurch zu
einer Tätigkeit veranlaßt werden soll, werden sie zu Auf-
forderungen. Diesen letzten Fall besprechen wir besonders (§ 9).
Der Ausrufsatz ist diejenige Satzart, die am wenigsten
von den andern Satzarten, wie wir sie in § 6 unterschieden
haben, abgesondert werden kann. Es rührt das daher, daß
man es auf diesem Gebiet am häufigsten mit Kompliziertheit
der seelischen Regungen zu tun hat und bei der Interpreta-
tion des Gesprochenen so oft nicht einmal das herauszuhören
ist, welches von den in einander verflochtenen Motiven der
redenden Persönlichkeit das dominierende gewesen ist.
sehen bedingt gewesen ist, so ist es doch nicht richtig, das monolo-
gische Sprechen, wie z.uweilen geschieht, darum, weil es nicht als Ver-
kehrsmittel erscheint, wie etwas anzusehen, das ganz außerhalb der
eigentlichen Sprache und ihrer Geschichte steht. Zunächst haben schon
bei der ersten Entstehung der Sprache zwecklose automatische Laut-
äußerungen dann, wenn sie von andern Menschen gehört und von ihnen
so oder so verstanden wurden, deren stimmliche Äußerungen ebenso
beeinflussen und sie ebenso zur Nachahmung anregen können wie die
aus Mitteilungsabsicht hervorgegangenen Äußerungen. Ferner ist für
das Sprechen des sprechenleruenden Kindes im Spiel mit Puppen oder
im Verkehr mit Haustieren, mag man da auch von anomaler oder
illusionistischer Störung des Situationsbewußtseins reden dürfen, zu be-
achten, daß solches Sprechen mit zu den Übungen gehört, wie sie das
Kind nötig hat, um in den Vollbesitz der Sprache zu gelangen. Weiter
aber wird niemand es als etwas Abnormes, Wesenswidriges im Ge-
brauch der Sprache brandmarken wollen, wenn sich einer Aufzeich-
nungen macht in der Absicht, sie nur für sich späterhin zu verwenden,
wobei also dieselbe Person Sprachgeber und Sprachempfänger ist. Was
im Verkehr von Mensch zu Mensch entwickelt worden ist, verliert
durch Verwendung außerhalb dieses Verkehrs sein Wesen ebenso wenig
wie etwa ein Messer, das zum Schneiden fabriziert worden ist, aufhört
Messer zu sein, wenn man es auch einmal zum Einschlagen eines Nagels
benutzt. Vgl. hierzu 0. Dittrich Zeitschr. für roman. Phil. 30 (1Q06)
S. 480.
30 Kabl Brlumann: [70,6
Die primitiviste, ursprüu^lichste Gattung der Ausrul-
sätze sind
i) ilio luterjektiouen (G efilhlslaut ungen). Sie
haben uus oben S. 21 ff. schon so weit beschäftigt, daß hier
nur weniges hiuzugel'iigt z.u worden braucht.
Sic hissen sich nach verschiedenen Gesiclitspunkteu iu
Gruppen sondern, /.. B. danach, ob sie unwillkürlich heraus-
kommen, wie gewöhnlich z. B. ach!, au!, oder auf Grund eines
Willensvorgangs, wie z. B. pfui! , oder danach, ob in ihnen
eine Lust- oder eine Unlustempfindung hervorbricht, vgl. etwa
das S. 22 genannte ei! des Kindes, das etwas ihm Wohl-
gefälliges erblickt, und anderseits hü! oder pfui!.
Ihren Satzcharakter zeigen die Interjektionen nicht bloß
in ihrem Auftreten für sich allein, als in sich geschlossene
verständliche Äußerungen, sondern auch dadurch, daß sie, wie
die andern Satzarten, satzverbindende Partikeln zu sich
nehmen können, z. B. Goethe Ged. (Hemp.) i, 59 Aher ach!,
griech. Pkt. Phaedr. p. 263a »^ y(^Q?, etwa 'nicht wahr?' (in
Frageform umgesetztes versicherndes r] yccQ).
Überaus häufig bildet in allen Sprachen eine Inter-
jektion in der Weise eine Art Einleitungssatz zu einem
nachfolgenden Satz, daß sie zunächst einer Affektregung für
sich Ausdruck gibt und ein sich anschließender Satz dann
die Vorstellung ausdrückt, welche den Affekt begleitet, z. B.
ach! das ist schön!, bezieh, (in einheitlicherer Aussprache)
ach das ist schön!. Öfters aber folgt die Interjektion auch
nach, oder sie wird eingeschoben, in welchen Fällen sie ihre
Selbständigkeit, ihren Charakter als Satz aufgegeben hat und
nur noch als Glied eines Satzes oder gar nur als Anhängsel
an eine einzelne Wortform erscheint, z. B. mhd, blimr-ä hliu
(S. 23).
Von den mannigfachen Arten von An- und Eingliederung
des aus der Interjektion bestehenden Satzes an und in andere
Sätze sei hier noch genannt die Gattung der Kurzsatzformen,
wie weh mir!, mhd. öwe mir!, ach mines libes!, lat. vae mihi !,.
0 nie miserwn!. griech. co-uot. Die Herstellung des Kurz-
70, 6] Veusciüedenheiten der Satzgestaltung usw. 3 1
Satzes (S. 17) ist hier durch die vorausgehende Interjektion
wesentlich begünstigt worden: je klarer die Interjektion
schon für sich die seelische Grundstimmung kundgibt, um so
leichter verträgt der auf denselben Ton gestimmte Gedanke,
der sich anschließt, eine die Meinung des Redenden nur an-
deutende sprachliche Gestaltung.
2) Der Vokativ. In welcher besonderen Seelenlage diese
nominale Form, ursprünglich nur die Stammgestalt des
Nomens, als Satz zu allererst angewendet worden ist, wird
nicht zu ermitteln sein. Delbrück Grundfragen S. 144 sagt,
als Äußerung habe der Vokativ die Aufgabe, durch Nennung
des Namens im Rufe die Aufmerksamkeit zu erregen. Eben-
so Ottmau DiTTRKii Wundt's Philcs. Stud. 19, 104, der
'gewünschte Aufmerksamkeit des Angeredeten' als die eigent-
liche syntaktische Bedeutung des Vokativs bezeichnet. Viel-
leicht ist es richtiger, nur die sprachliche Hinwendung an
eine vor Augen stehende Person (oder auch Sache) im all-
gemeinen als 'Grundbedeutung' hinzustellen und das Zweck-
motiv, als ein zwar häufig vorhandenes, aber nicht notwendig
mit zu Grunde liegendes Element, beiseite zu lassen. Vom
Nominativ unterschiede sich dann ursprünglich der Vokativ
nur dadurch, daß er den N-ominalbegriff nicht in einen syn-
taktischen Zusammenhang hineinzog, sondern als eine in sich
abgeschlossene Äußerung frei und selbständig ließ.
Ausrufcharakter hat der Vokativ (und die so oft an seine
Stelle getretene Nominativform) vor allem dann, wenn der Spre-
chende an das Wesen, die Eigenschaften, die Stellung der Person
denkt und diese Vorstellung ihn seelisch erregt: z. B. vaterf,
etwa wenn der Sohn den Angeredeten an seine Vaterpflichten
erinnern will, ferner auch entweder ein bloßes du! in Fällen
wie bei A. Meinhardt Ein Regentag (Reclam n. 5312) S. 28
0 du!, schluchzt sie, wie oft hast du nicht sonst gesagt, du
würdest alles tun für die Mutter, oder in Verbindungen wie
du guter!, du liebes mädchcn!, du schuft!. Oder als Gefühls-
ausbruch f/ott!, herrgott!, herrjesus!, hinimeH, lat. pol! usw.,
was alles, teils für sich allein, teils im Zusammenhang mit
22 \\Kiu. Bin (»mann: [7<^«6
Intoijoktioüon, z. 1^ ach (loH!, n (fofff, sclhor «^pijkUv/.u inter-
jektionale Oeltunj^ bekonmien hat, so daß also clor Vokaiiv
als eiiio an eine konkrete Vorstellung gebundene Interjektion
erscheint.
Minder proß ist die seelische Erregung im allgemeinen,
wenn der Vokativ als An- und Zuruf dient. Meistens l)ildet
er dann die Einleitung /u allerlei Arten von Äußerungen, zu
Aufforderungen, Mitteilungen, Fragen u. dgl. So steht er denn
y.uuächst voran, dann aueli eingeschoben oder naeligestellt. *)
Auch so kann er sieh mit einer Interjektion verl)inden. Ver-
breitet war so besonders die Vorausstellung von *o, im Grie-
chischen (w), Lateinischen (ö) und Keltischen (ir. a und a
geschrieben^ Im Griechischen 6 namentlich in vertraulicher
Anrede, wie w cpCle, co (fiXoi. co iitTiov. Im Lateinischen o
bei stärkerer Emphase, wie Cic. Arch. lo, 24 0 fortunatc
ndulesccns, qiii hiae virtutis Homenim praeconem inveneris.'.
Am festesten war die Verbindung, am engsten auch in laut-
licher Beziehung im Irischen, z. B. ä-fir 'Mann!', a-phopul
'Volk!', a-cJiosm 'Füße!' (mit Lenieruug des Anlauts des
Nomens).^) Konventionelle Anreden, wie sie bei Ansprachen
beliebt sind, z. B. meine lierrn, griech. (ca) avÖQsg 'A^y]valoi^
werden bei längerer Rede gern wiederholt, sei es um die
Aufmerksamkeit auf den Sprecher überhaupt wach zu halten,
sei es um für eine Einzelheit der Rede die besondere Auf-
merksamkeit zu erbitten.
Der Vokativ als Ausruf, Anruf, Zuruf ist der verschie-
<3ensten Tonmodulatiou fähig, wie natürlich auch der
verschiedensten Grade der Exspirationsstärke. Dadurch tritt
für den Hörenden die Grundstimmuug des Sprechenden
i) Für das Altindiscbe s besonders Thommen Die Wortstellung im
nachved. Altindisclien (Gütersloh 1903) S. 7.
2) Unser hd. seit dem 13. Jahrb. auftretendes ö als Begleiter des
Vokativs gilt als Latinismus. Vielleicht bat aber der Latinismus nur
darin bestanden, daß ein schon von älterer Zeit her vorhandener echt
germanischer Gebrauch der Interjektion vor Vokativen durch das La-
teinische größere Verbreitung gewonnen hat.
/0, 6] Verschiedenhkitkn der Sa-Tzgestaltung usw. ii^i
meistens weit klarer hervor als sie sich dem Lesenden zu
enthüllen vermag. Mit der Tonart verbinden sich, worauf
schon S. 12 f. hin2;ewiesen ist, oft Dehnungen des sonantischen
Elements der Scblußsilbe. Bei uns wird in Namen wie
Otto, Emma der Schlußvokal namentlich dann stark gedehnt^),
wenn der Angeredete weitab ist, oder auch wenn er auf ein
«rstes Anrufen nicht reagiert hat und nun erneut angerufen
wird. Im Altindischen wurde nach den Angaben der Natio-
nalgrammatiker im Vokativ Tluti' angewandt beim Ruf aus
<ler Ferne, bei Androhung und im ersten von zwei gleich-
lautenden Vokativen im Satzanfang, wenn Neid, Lob, Arger
oder Tadel ausgesprochen werde — was lauter Gelegenheiten
sind, in denen solcher Quantitätszuwachs auch bei uns oft
statthat; bei den in der älteren Literatur handschriftlich über-
lieferten vokativischen Plutierungen ist freilich der besondere
Anlaß nicht immer erkennbar, z. B. SB. 14, 9, i, 1 tarn
udilsyuhliy üväda himäraS iti sä hhoS iti präti susräva 'nach-
dem er ihn erblickt hatte, redete er ihn an: „Knabe!", der
antwortete: „Herr!"' Im Kleinrussischen wird, wie Hanüsz
Über die Betonung der Substantiva im Kleinruss., Leipzig
1883, S. 36 bemerkt, im Vokativ beim lauten Nachrufen ge-
Avöhnlich die letzte Silbe gedehnt, so daß sie betont zu sein
scheine, z. B. panicü (Hanusz vergleicht damit lit. pone,
deve, (ike , sUnaü u. dgl.). Die Plutierung des Vokativs —
wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck auch für andere Spra-
chen als das Altindische anzuwenden — ist bei uns oft mit
Ansteigen der Stimme in der letzten Silbe verbunden. Das
ist das Kennzeichen der Spannung, mit der der Redende
Reaktion vonseiten des Angerufenen erwartet.
Die verschiedenen Akzentuierungsarten des alten Vokativs
«ind überall auf die norainativischen Formen übergegangen,
so weit diese für die Vokativform eingetreten sind. Daher
z. B. im Altindischen dyaiih d. i. diyauli '0 Himmel' neben
dyaiih 'der Himmel'. Ob der Nominativ im Plural und Dual
i) Ich las diese Dehnung in einer humoristischen Erzählung durch
die Schreibung Ottoooo! dargestellt.
Ihil.-hist. Klasse 1918. Bd. IjXX. 6. 3
34 Kaut, Brucjmann: [7^1 '•
\on Anfang- Jin nur noniiniitivisclio Knnl<tion g(>lml)t Imt und
erst sekundär auch vokativiscli hpuut/.t worden ist, ist nicht
7.U wissen. Yernnitlich enthalten alx-r die bcirell'enih'n Kornion
üborhrtupt kein Kasus-, sondein nur ein Nuinerus/eidien, wie
auch /. li. die singuhirisdien Nominative prieeli. iln«, ai. divi
ohne Noniinutivendung sind. Hetonun'^suuterseljiede zwisclien
Nominativ und \'okativ im IMural und Dual sind, so weit
wir riu'kwärt.s zu schauen vermö(i;en, ebenso alt wie die Be-
tonungsunterschiede im Singular, vgl. /,. li. ai. Noin. Flur.
devah ('Götter'), Vok. Plur. dcräh.
In die Tonlage des Vokativs, sei es des alleinstehenden
oder des mit vorausgehender Interjektion verbundenen, werden
gewöhnlieh Genitive, Adjektive und was sonst etwa sich dem
vokativischen Substantiv enger anschließt mit hineingezogen,
z. B. du lieber himmd! Im Ai. bekundet sich das in der
Schreibung wenigstens hinsichtlich der Exspirationsstärke: der
Vokativ mit seinem Zusatz zusammen steht im Satzant'ang
unter einem Akzent auf der ersten Silbe des ersten Wortes,
z. B. rdjan söyym, somn räjan, pänca janah, während in andrer
Stellung die ganze Grupi)e gleich dem alleinstehenden Vokativ
nn akzentuiert ist, z. B. RV. i , 1 1 , 2 saJihfß ta indra vajino
md hhemn savasos pate 'in deiner, des kräftigen, Freundschaft,
o Indra, sollen wir uns nicht fürchten, Herr der Stärke'.
3) Der Ausruf kleidet sich in die Form des einfachen
Aussagesatzes, namentlich bei Verwunderung. So nhd.
der ist groß!, der kann schreien!, Rosegger Das lichte Land
(Leipzig 1917) S. 248 Meiste^- Liician Flnrihiis war der
musttrsclmster in Trumhach. Dos gab Stiefel! Oft auch mit •
vorausgeschickter Interjektion, wie ei, das ist schön! So überall
in unsern idg. Sprachen.-')
i) Beiläufig eine Bemerkung über die altertümliche Wortstellung
in nbd. Ausrufungssätzen wie Mos. i, 26, 27 (Luther) hasset ihr mich
doch! oder ist der dumm!, bist du groß geworden!, wurde der memch
zm-nig! (vgl. Erdmann Grundz, i, 187). üegenüTjcr der im schlichten
Aussagesatz üblich gewordenen Wortstellung (der mensch wurde zorni(j)
und der Satzformuug mit e« vor dem Verbum (es icurde der mensch
70,6] Verschiedenheiten di:i{ Satzgestaltung üsw. 35
Dazu überall auch Kurzsätze, wo denn je nach der Situ-
ation die Betonung- verschieden ist. Nhd. ein hasef, dieser
äummhopf!, sieg!, ich armer!, lat. Ter. Ad. 304 hocine saeculnm!,
griech. d 292 äXyiov' ov yaQ ot n xd y tjqxsös XvyQov
b?.£d-Qov 'recht schlimm!, denn dies hat ihm in keiner Weise
das böse Verhängnis abgewehrt'. Auch mit einleitender
Interjektion, wie ei, ein hase!, nihd. Parz. 326, 28 ach ich arm
unsaelec man!
Solche Kurzsätze haben vielfach den Charakter von
Interjektionen bekommen. So nhd. leider!, ursprünglich Kom-
parativ des Adjektivs leid. Lät. malum, besonders oft in Frage-
sätze eingeschoben, bei zorniger Erregung, etwa wie bei uns
ziim donnenvetter! (ivo zumdomKrivetter hUihst du denn?),
zum hichicJi! u. dgl.: PJaut. Amph. 403 quid — malum —
non sum ego servos Amphitruonis Sosia?, Cic. off. 2, 15, 53
quae te — mahtm — ratio in istam spem induxit? Ai. l'astam,,
etwa Veh!', Neutr. zu liastnli 'schlimm, arg', auch dJiiMastam
mit der Interjektion dhiJi (P. W. 2, 191). Lett. te pa galam!
bei getäuschter Erwartung, 'jetzt ist's am Ende!, da haben
wir'sl' —
Eine Grenzlinie, von der an man einer in lebhafterer
Stimmung geäußerten Aussage den Charakter des Ausrufungs-
satzes zuzusprechen habe, ist naturgemäß nicht zu ziehen.
Daher das starke Schwanken, das man im Gebrauch des Aus-
rufezeichens in diesem Fall beobachtet.
4) Daraus, daß Staunen und Verwunderung Unsicherheit,
Zweifel, Verlegenheit in sich schließt, erklären sich die Aus-
rufungen in Form des Fragesatzes. Besonders oft erscheint
diese Ausdrucksweise, wenn Unwille, Mißbilligung, Entrüstung
sich zugesellt. Nhd. du List schon nieder zurücli? !, so früh
zornig) hat hier der Ausrufcliarakter ebenso isolierend und konservie-
rend gewirkt, eine in alter Zeit weiter verbreitet gewesene Wortstellunff
ebenso geschützt, wie es in der lebhaften Erzählung deren psychischer
Grundcbarakter getan hat, z. B. Job. 4, 9 (Luther; spricht zu ihm das
weih. Vgl. SüTTERLiK Die d. Spr. der Gegenw.* 29of., Verf. 13er. d.
Sachs. Ges. d. Wis?. 1917, 5. Heft, S. 44 f.
3*
3^ IvAia, Bia.ciM.vN.N: [70, (>
schon anff!, ich ein li((jiicr ':!.', ha! hisi das, vnräter? ! Lat.
Plaut. Mil. 8_nj L. i\o/< jmnnpsi. V. Ncf/as'f'f, Cure. 41 e/mwi
taccsY!, Pers. 275 scclcratc, ctiam rcspicis?!, Aniph, 813 vir cyo
tuos sim?.' 'ich soll doin Manu sriu?!', besonders auch, wenn
eine Zumutunjr, etwas zu tun, zu rück<^e wiesen wird, wie Hacch.
627 P. )ion tacf'S insipiens':' M. taccam';' ! 'icli soll schwei-
gen VI', Mil. 49b S. vicinc, ansculfa, gnncso. P. cfjo auscidtcm
tibi':'! (A. R. An'dkkson Pepudiate Questions in (jireek Drama
and iu Plautus and Terence, Transact. of the Anier. Philol.
Ass. 44 (1913) S. 43 ff., KüHiNER-Stkgmann Ausf. Glranim. 2,
501 f., Bexnett Synt. of early Lat. i, 25, Schmalz Lat. ßynt."
472). Vgl. Lmmk Die Fragesätze 2 (Progr. von Cleve iSSi)
S. 1 1 f., Paul Prinz.* 137.
5) Die (fo- und die ?ö-Sätze als Ausrufe. Es handelt
sich hier um Sätze, die mit Formen der Pronominalstämnie
*2"o- (bezieh. *q~i-, *q'Mi-) und *io- eingeleitet sind, die mit
g-o-Formeu sind von Haus aus teils unabhängige teils ab-
hängige Sätze, die mit */o-Formeu, du dieses Pronomen in
diesem Fall nur älteres Relativum gewesen sein kann, zu-
nächst immer abhängige Sätze gewesen. Gemeinsam ist allen
diesen Satzgestaltungen die Grundstinimung, aus der sie
fließen, im wesentlichen freudige oder unfreudige Verwunde-
rung, und gemeinsam deshalb auch die Beionungsart; für ver-
gangene Zeiten läßt sich das letztere freilich nur vermuten.
. Bezüglich der Entwicklung dieser Ausrufungssätze er-
heben sich mehrere Schwierigkeiten, die uns nötigen, auf sie
etwas ausführlicher einzugehen.
Klar ist zunächst die Entstehungsgeschichte der iö- Ausruf-
sätze, wie sie im Altgriechischen und im Slavischen vorliegen.
Griech. Beispiele: «410 oiov avuti,ag äcpaQ alj^tcu Vie
er aufgesprungen und hurtig davongegangen ist!', Plat.
Euthyphr. p. 156 oia xoLslg, a» hulQS. Meist im Anschluß an
an einen Vokativ, eine Interjektion u. dgl.: <!> 441 vrjnvrt,
ci)g avoov XQadiy,v e%£s^ Soph. Ant. 572 w cftltud^' Aliiov^
&S (?' aTuittt,€i TiarrJQ, Ai. 923 a övö^ioq' Al'ccg^ olog hv oXag
sX^ig, a 2)2 ü tcöttol, oiov drj vv Q-sovg ß^orol aitiocovtai.
70,6] Verschiedenheitex deu Satzgestaltung usw. 37
Dieselbe Gattung von Relativsätzen findet sich auch im An-
schluß au Worte, die selbst Verwunderung bezeichnen, wie
a 382 Tr^^tuctiov d-avuat,ov^ ö d-aQöaXsojg ayÖQSvsv 'sie
bewunderten den T., was er kühn redete', Plat. Civ. p. 35od
asT(< idQcoTog d-avfic(6rov o'^ov, vgl. auch Herodot 3, 113
aTiö^si ds rr]g Xt^Qv^g rfjg 'jQaßirjg d^sö^ceöiov 63g ijöv 'es
duftet von Arabien her, unaussprechlich wie lieblich', Plat.
Charm. p. 155c iv^ßltxl^B ^loi rotg öcp&al^iolg G^atjxavöv n oIoik
Noch weiter als in den letztgenannten Fällen ist die Ein-
verleibung gegangen in solchen Sätzen wie Plat. Phaed. p. 63 a
avÖQsg aocpol tog cchjd-ög (vgl. Kühner-Gekth Ausf. Gramm.
2, 415 f.). Über die besondere Art der Satzbetonung in den
verselbständigten Sätzen mit cbg, oiog usw. ist nichts über-
liefert; sicherlich war aber die Tonmodulation, wo keine
Einverleibung stattgefunden hat, nicht wesentlich verschieden
von der in nhd. ivie kalt es heut ist! Und mit dieser nhd.
Satzart mit Nebeusatzstellung des Verbums ist die griechische
innerlich auch insofern enger verwandt, als auch im Grie-
chischen der Charakter als untergeordneter Satz noch lange
muß empfunden worden sein. Übrigens kommt es nicht da-
rauf an, ob man diese /o-Sätze zu den Relativsätzen oder zu
den indirekten Frag-esätzeu rechnet. Denn zwischen beiden
ist in der historischen Gräzität ebenso wenig mehr scharf zu
scheiden wie im Altindischen (vgl. z. B. RV. i, 170, 3 vidma
hi te yätJiä mänali 'wir wissen ja, wie deine Gesinnung ist',
Delbrück Vergl. Synt. 3, 43 1 f.).
Von dem in alexandrinischer Zeit im staunenden Ausruf
für og eingetretenen xCg wird unten zu sprechen sein.
Im Slavischen treten Relativ- und g-o-Pronomen im Aus-
ruf beide schon in aksl. Zeit auf. Mit je- z. B. aksl. Psalt.
Sin. 8, 2 gospodi nah, jalo cjiuhno imjc tvoje po Vbseji zemli
'unser Herr, wie herrlich dein Name über die ganze Erde
hin ist!', 103, 24 jalio vb^velicisj^ sjg dcla tvoja, gospodi/ 'wie
erhaben deine Werke sind, Herr!'; poln, jak tvieJJä jest Bog!
S. VONDKÄK Vergl Slav. Gramm. 2, 294 f. Über die ko-
Sä,tze unten.
^8 K \i;i. Itui liM \nn: (70, 6
Im Griecliisclu'ii uiul kSluvihcliiii liinulflt vs sich also um
selbsüiutiig gowonlcuo lu'lativsätzo.') Wo nun (j"o- für ?'o For-
men erscheiueu, Tragt es sich, ob uud wie weit man es mit
alten Ilauptsätzeu 7.u tun hat oder mit alten Nobensätzen und
weiter im lot/,tereu Fall, <»b und wie weit mit indirekten Frage-
sätzen oder, weuu das ^^"ö-Prouumeu zugleich die J3edeutuug
als Kehitivum bekommen hatte, mit Ivelativsiitzen.
Wie im Nhd. heute die llau|it.s;itze ivic teuer isl dtts!
und nie teuer ist das:' oder wie viel hast du vcrloicn.' und
tvic viel hast du verloren:' in der Bedeutung verschieden sind,
so muß das auch schon in uridg. Zeit gewesen sein. Denn
diese Gesceusätzlichkeit tindet sich außer im German. seit ältester
Zeit im Arischen, Italischen, Baltisch-Shivisehen und. wohl auch
im Griechischen. Daß auch die Satzbetonung überall von
Anfang an verschieden war, wie sie es überall in denjenigen
modernen Sprachen ist, die diese Satzdoppelheit noch auf-
weisen, läßt sich zwar historisch nicht nachweisen, ist aber
durchaus wahrscheinlich. Nun leiten Wegener Grundfr. 64 f.,
Paul Prinz.^ 138, v. d. GabelejsTZ Die Sprachwissenschaft
310 u. andre die Ausrufbedeutung aus der Fragebedeutung
her, und zwar soll die sogen, rhetorische Frage (vgl. § 13, 4)
die nächste Grundlage für den Ausruf gewesen sein. Psycho-
logisch ist das aber wenig wahrscheinlich. Der Interrogativ-
gebrauch der 3"- Pronomina stammt sicher aus uridg. Zeit
(§ 14), aber aus dieser stammt auch der exklamative Gebrauch
dieser Pronomina, und da fragt es sich docli, ob nicht die
exklamative Anwendung, der Gebrauch mit Verwunderungston,
an der Spitze der ganzen Gebrauchseiitwicklung gestanden
hat. Daß dies der Fall war, ist die Ansicht von Th. Imme
a. a. 0. I, S. 19 ff.: er führt hier die sämtlichen Formen der
Q —Pronomina auf eine uridg. Interjektion der Verwunderung
„*Ä:«.''' (heute würde man hierfür eher "'q-a.'. bezieh, '-q-c' oder
q^f schreiben) zurück und vergleicht sie mit unserm nhd.
i) An dieser .\uffaäsuug macht mich nicht irre, was A. Dittmak
Syntakt. Grundfr. 63 if. gegen sie vorbringt. Vgl. E. Heemann Griech.
Forsch. I, if. 328.
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 39
bei Staunen hervorbrechenden ha!^) Daß eine mit <£-- be-
ginnende Interjektion zu Grunde gelegen hat, ist auch mir
wahrscheinlich. Doch will ich auf diese Vermutung kein Ge-
wicht legen. Jedenfalls ist es von psychologischer Seite her
weit wahrscheinlicher, daß die Anwendung in Sätzen verwun-
derten Ausrufs, wenn man in Verlegenheit und Unsicherheit
etwas, das einem gegenübertritt, bestaunt, die Grundlage für
die Anwendung in einfachen Fragen (und damit zugleich für
den Gebrauch als Indefinitum) gewesen ist als das Umgekehrte.
Man lese die eingehenden Betrachtungen von Imme hierüber,
die mich wenigstens überzeugt haben (wenn man sich auch
in manchem Punkt heute etwas anders auszudrücken hätte
als Imme). Wegen der sogen, indefiniten Bedeutung begnüge
ich mich mit Hinweis auf Delbrück Vergl. Synt. i, 5 10 ff.,
Wegener a. a.'O. 76 und Cacek Grammatica militans^ 214.
Beispiele für den exklamativen Gebrauch sind folgende.
Für das Indische kommen Sätze in Betracht wie Säk. 117, 3
Burkh. hi nu khalu gitärtham äkarnifestajanavirahäd rte 'pi
balavad utkanditö 'smi 'wie bin ich doch, nachdem ich des
Gesanges Inhalt vernommen, auch ohne Trennung von der
Geliebten höchst sehnsuchtsvoll!', 20, 20 präkr. Jcäö vaq pa-
rittädu (Ice ävq, pariträtuni) 'wer sind wir, um beschützen zu
können!'. Ferner die Komposita mit kim-, Jeu-, liö-, Jcavä-,
kad-, kd-, wie kim-purusä- 'Mißgeschöpf, Kobold', ku-carä-
'gewaltig schreitend', Jcu-varsa- 'Platzregen', kat-payä- 'schreck-
lich anschwellend', ka-püya- 'sehr, arg stinkend', wozu aus
dem Avestischen kü-nffrt- 'schlechtes Weib, Hurenweib'. Ur-
sprünglich waren das Ausrufe des Staunens: 'was für ein Ge-
schöpf!' usw., die mit der Zeit, ähnlich wie im Griechischen
die einstens exklamativen a^ alrjd'äg, ag stsQcog u. dgl , andern
Sätzen einverleibt worden waren. S, Wackernagel Altind.
Gramm. 2, i, 82 ff. Psychologisch begreift sich leicht, daß
sich die Auffassung gewöhnlich in malam partem wandte.
1) Imme denkt au etymologische Identität seines *ka! mit diesem
haJ. Das ist sicher unrichtig.
40 Kaki. HuidMANN: (7". '►
N'orwmuh'ruiig v'\i\v giüBi-ic Kullc sitielte al« liownnderuiig.
Zur \ orbiiulimg dieser proiU)nii]ialeii Präfixe mit Suhstaiitiva
vgl. uhd. u)ini< lisch, unniassc, griodi. ^Ivü jtuqi^ w. dgl. Wie
W. öriiULZK KZ. 33, 243 t'. erkannt liat, hatte auch (his (irie-
ehisehe diese Kompositiousart in böot. :Tov-Xinog 'lleiBhunger'
(woran sich der Personenname Ux^kiiiiäÖa^ aiigesclik>ssen hat).
In IF. 39 habe ich aus dem Griechischen weiter noch dazu-
gestellt öK-g:tjg oa-cptivijg, ursprünglich Svie klar!', daiui 'sehr
klar', das mit Tl-tvqo^ gleichbedeutende und niil rvXog 'Pe-
nis' (zu tti- 'schwellen, strotzen') zu verbindende 2Jä-xvQog,
ursprünglich 'was für einen Penis habend!'*), (>«-/Ji;TTog 'weib
liclies Schaniglied' neben gleichbedeutendem ßvxTog ßvaaog
(zu ßi^aaog 'Tiefe'); 6a- = meg. öd ion. öad att. tt«, Plural
zu tC, identisch mit lat. quin {quianani':' 'weswegen? warum V),
dem Plural zu quid. Weiterer Einzelheiten *wegen verweise
ich auf den genannten Aufsatz in den IF.
Das Griechische verwandte also ebenfalls einmal die q--
Pronomiua im Ausrufsatz. Seit Homer erscheint dafür der verselb-
ständigte relativische Nebensatz mit '^io-. Und wenn im hel-
lenistischen Griechisch (in gewissen Dialekten wohl auch schon
früher) für og auch rtg in Ausrufungssätzen neu aufgekommen
ist, wie es dann bis ins Neugriechische in dieser Anwendung
verblieben ist (z. B. tl ^ai) ;^apüt\a£i'7j ! 'was für ein frohes
Leben!', ri xalccl ^wie schön!'), so ist das in syntaktischer
Hinsicht keine Rückkehr zu jeuer urgriechischen Weise von
:cov-2,T^og, 6a-(frjg usw. Vielmehr beruht es auf Verselbstän-
digung von Nebensätzen und zwar auf der bekannten Ver-
mischung der Relativ- mit den indirekten 'Fragesätzen'
(Bkugmann-Thumb Griech. Gramm.'* 646).
Als unmittelbare Fortsetzung der uridg. ^"-Sätze dürfen
auch angesehen werden die germanischen Ausrufsätze mit
Formen von '■•'q^o- (got.) ka-. Z. B. Matth. 7, 14 han aggwu
ßata daiir jah praihans ivigs sa hrigganda in lihainai! 'ort
I; Vgl. ved. kä-prth- und ka-piiM- 'Penis', ursprünglich Vie .sich
ausdehnend!', 'sich sehr ausdehnend', zu pratJt- (Johansson IF. 14, 312).
70,6] Vkuschiedknheiten deu Satzgestaltung usw. 41
(v. 1. Tt) öxevri i) nvXr] xul re^ki^fiävi^ i] oöbg /j ccTcdyovöa elg
Tfjv ^coT^i'' (Vulg. quam angusta etc.), ahd. Otfr. 2, 6, 3g «raj
er, Zei<;e5, ivunni! 'was hätte er doch, ach, erreichen köuneu!',
Notk. Boeth. i, i ah se sere, uio uhilo er die wencyen gcJioret!,
mhd. Nib. 19 nie sere si daj räch.' Im Nhd. begegnet eben-
sowohl die Wortstellung der unabhängigen Sätze, z. B. wie
Icalt ist's heute!, icas hat er schon durchgemacht!, wie die der
abhängigen Sätze, z. B. wie halt es heute ist!, ivas er schon
durchgemacld hat!, eine Doppelheit, die bei den zeitwortlosen
Kurzsätzen wie wie halt!, ttelche zähigheit! natürlich nicht
hervortreten kann. Da fragt es sich denn, wie lange das
Germanische den ursprünglichen unabhängigen Ausrufsatz mit
q"o- festgehalten hat und wo und wann man bei dieser Art
Ausruf zur Nebensatzform gekommen ist. Die Untersuchung
dieser Frage muß ich andern überlassen. Nur folgendes sei
dazu bemerkt. Nach dem, was S. 19 f. dargelegt wurde, ist
mir wahrscheinlich, daß Empi^idung für abhängigen Satz sich
zunächst da eingestellt hat, wo dem Ausrufsatz eine gleicher
Stimmung entsprungene Interjektion vorausging, wie Nib. 22
/<e«, 'ivao er sneller dcgene se den Burgonden vnnt!, Heinr.
V. Freiberg 1604 hiu, iva^ man rittcrschffte jiflac in dem tan!,.
Ub-ich von Türheim 540, 13 ahl, wie wol si künden küssen
mit den munden!. Hierbei wirkten assoziativ ein die Neben-
sätze mit dem g'" -Pronomen, welche von Verba des Sich-
wunderns, Hörens usw. als sogen, indirekte Fragesätze ab-
hingen: so schon im Gotischen Luk. i, 21 jaJi sildaleiki-
dedun, ha latidedi ina in ßizai alh 'und sie wunderten sich,
was ihn in dem Tempel aufhalte', Mark. 3,8 gahausjaudans,
Imn filii is tawida ' welche hörten, wie viel er verrichtete '.
Vollends gewann der Nebensatzcharakter dann noch eine
Stütze da, wo die ^"-Formen auch noch die Geltung als Re-
lativpronomina bekamen.
Im Slav. erscheinen gleichzeitig /jo-Formen mit zo-Formen
im Ausruf: aksl. Matth. 7, 14 koh qz^ka vrata i' tcsm pqtt
Vivod^b Vi Hvott! 'ort (v. 1. ri) örsvri i] nvXrj y.ccl rcd-Ximisvi]
i} 6dbs ij uTtv.yovöa aig r))v JIcot^i^', Psalt. Sin. 30, 20 koh (Cod.
42 KakI. UlllKiMANN: [7*^'. '>
ßucur. j(i/io) imtKK/o nnio':hslio hinj/osfi tvujrj^'^ i/ospodif] nhul^.
hikri cndcsn nc stavnt^ na s/v'Ya/, uniss. hdi'd li nulostu!
(v^l. VoNDKAK VjM-gl. Sliiv. (imnim. 2, 294 f), Dali sicli iuicli
hier Nebcnsaty.eharukter cinj^estHllt hat, ist wej^t'ii der Vcr-
st'lbstämli^uu»; der /o Sat/forni im AusiuC wahrscheinlich.
I)ü(di vermag ich über den Umfang dieser Erscheinung nichts
zu sagen. *)
Im Lateinischen herrschen die g^-Pronomina schon seit
Beginn der Überlieferung gUMchmälilg in unal)hiingigea Aus-
rufsätzt'n, in Ausnifsät/en hinter interjektionalen Aus(hücken,
in direkten und indirekten Fragesätzen und im Rehitivsatz.
Daher ist der Entwicklungsgang, den die Ausrufungssätze ge-
nommen haben, nicht mehr zu enthüllen. Ter. Ad. 555 quae
harc esf' miscria!, Phorm. 51 1 ijiiam inclüjnum facinu.sf, Euft 730
vah, quanto nunc formosior ! vidcre mihi quam dudiim!, was
ebenso wohl mit 'ach, wie viel schöner erscheinst du mir jetzt
als vorher' wie mit 'ach, wie-, viel schöner du mir jetzt als
vorher erscheinst!' übersetzt werden darf, H. T. 250 vae mi-
sero mihi, qunnta de spe decidif, Eun. 472 en eunuchmn tibi,
quam hhcrali facie, quam aetate inteiira! Daneben z. B. Ter.
Hec. go non dici potcst, quam cupida eram huc redeundi und
das den griech. ^av^aöxöv, ^ccv^icculov entsprechende mlrum
in Sätzen wie Liv. 2, i, 11. id mirum quantum profuit ad con-
cordiam civitatis, Cic. Att. 1 3, 40, 2 mirum quam inimicus ihat
(Kühner-Stegmann Ausf. Gramm, i, 13 f.). Der Charakter
als abhängiger Satz tritt deutlich erst seit Einführung des
Konjunktivs für den Indikativ in die Erscheinung, z. B. Liv. i,
1 6, 8 mirum, quantum Uli viro nuntianti haec fides fuerit. Vgl.
Kroll Glotta 3, 5.
Im Baltischen liegen die Verhältnisse wie im Lateinischen,
da *io- im Ausrufsatz fehlt. Alte unabhängige Ausrufungs-
sätze können noch sein solche wie lit. kek menkai iü iszlei-
i) Über dae chrouologieche Verhältnis der io- und der Äro-Formen
im allgemeinen im Baltisch- Slavischen b, E. Hermann Über die Ent-
wickl. der litau. Konjunktionalsätze, Jena 1912, S. 84 ff.
70, 6] VEUt^CHIEDKNHEITEN DER S ATZGESTALTUNG USW. 43
dai/ 'wie wenig liast du verausgabt!' (oder 'wie w. du ver-
ausgabt hast!'), Jcöks, äklas äs.z buvaüf 'wie blind war ich!'
(oder 'wie bl. ich war!').
6) Wie im Ausruf abhängige Sätze sich verselbständigen,
so sind im Griechischen und Lateinischen auch Infinitiv-
koustruktionen selbständig geworden. In sie kleiden sich
Äußerungen von Unwillen, Arger, Betrübnis u. dgl., weshalb
•dieser Infinitiv auch Intinitivus indignantis genannt wird.
Solche Infinitive hingen zunächst von verbalen Aus-
drücken ab, die die betrelfeude Gemütsstimmung bezeichneten,
z. B. Plaut. Capt. 600 crucior lapidem non habere me' ut Uli
■mastigiae cerehrum excutiam (vgl. Lindsay Syntax of Plau-
tus 75).
Brauchte hiermit nun noch keine Affektbetonung der
Infinitivkoustruktion verbunden zu sein, so wurde dagegen
der Infinitiv in diese Betonungsart sicher hineingezogen, wenn
mit dem Infinitiv ein selbst schon interjektionaler oder über-
haupt afi'ektischer Ausdruck, gewöhnlich ihm unmittelbar vor-
ausgehend, verbunden war. Menand. K. 402, 10 o£'ftot, Kqco-
ßvkviv Xaßtiv h^Li^ Soph. Ai. 410 oj dvöxdXaiva^ roidd' ävöga
IQriöiyiov (pcoveZv, Aeschyl. Eum. 837 i^a jta^slv räds, (pev,
ifis jiaXat6q.Q0V()C xard re yäg oixstv drCsrov, ohne interjektio-
nale Einleitung Demosth. 21, 209 tovxov ö\ vß^t't,siv^ avuTtvslv
ds (Kühner-Gerth a. a. 0. 2, 23, Stahl Krit.-hist. Synt. 660 f.),
Plaut. Epid. 521 ei, sie data esse verbal, Capt. 945 vae misero
mihi, propter meum caput labores homini evenisse!, ohne interjek-
tionale Einleitung Gas. 89 non mihi Heere meam rem me solum
ut volo\loqui atque cogitare sine ted arbitrof, Bacch. 66 penetrare
huius modi in ■palaestram! (Kühner-Stegmann Ausf. Gramm.
1, 719t'., Schmalz Lat. Synt.^ 434f-, Bennett Synt. i, 423ff.).
Entwicklungsgeschichtlich lassen sich mit diesen infini-
tivischen Ausrufsätzen unsere nhd. Sätze mit daß vergleichen,
wie daß mir das passiert ist! neben ei {ach), daß 7nir d. p>. i.!
und neben ich ärgere mich, d. m. d. p. i.
Im Griechischen tritt vor die Infinitivkonstruktion häufig
To, z. B. Soph. Phil. 234 w (pCkxaxov (fcovrj^a' (pev tb xal Xa-
44 K AKi- Hkiiumann: l7^\t>
ßfh' \ :TQ60rfi)fy}i(C xoioviY (.v()()o>; /r ;i;()oj'(i) ttaxoij) '»» will-
küinnmer L.nut! acli, daß man luicli 80 langer Zeit auch nur
die Anrede eines solchen ]ManneB (eines kriechen) erhält!',
Eur. Alk. 832 öilkcc öov, tö jtn"/ (jQciöat 'o über dich, daß (hi
mir nichts gesa*j;t hast!', Aristoph. Nub. 819 t»"]^' }icooCu^, to
^{f( louf^fiv TijXixovTOVt' Mio Torheit, daß einer in solchem
Alter an Zeus gUiul)t!' (Iuunkk Gkkth a. a. O. 2, 46). Durch
t6 erscheint hier, wie sonst, der in der Inti)iitivkonstruktiou
lieirende (Jedanke einheitlich sul)stantivisch zusammengefaßt,
und die Form des Ausrufungssat/es ist der unter 3) S. 35
genannten Kurzsatzform angenähert.
Im Lateinischen zeigt die Infinitivkonstruktion oft »c,
wie Plaut. Cure. 695 hocine pacta me ahripü, Ter. Audr. 253
iantamne rem tarn neclcgcnter agere!, Eun. 225 adeon homincs
immutarier! Dieses -ne ist dasselbe Element, das in cgo-nc,
tü-nCj hici-ne u. dgl. in beliebigen Satzgattungen auftritt, wo
es affirmativen Sinn hatte, z. B. Plaut. Cure. 13g tibine ego^
si fidem servas mccum, vineam pro aurca statua statuani
(Wakuen Am. Jouru. of Phil. 2, 5of., Peksson IF. 2, 2i7f.,
Verf. Grundr. 2-, 3, 996).
8.
Satzbildung im Dienste des Wunsches. Reflektiert
man bei einem Wollen und Begehren einfach auf Verwirk-
lichung des Vorstellungsinhalts, der sich mit dieser seelischen
Reguncr verbindet, so redet man von Wunsch. Dem Wunsch-
satz steht der Aufforderungssatz nahe. Sic unterscheiden sich
dadurch, daß bei der Aufforderung über das einfache Wünschen
der Verwirklichung hinaus diese durch einen Angeredeten
oder andern Anwesenden oder wenigstens durch deren Bei-
hilfe erwartet wird. Die Grenze zwischen Wunsch und Aul^
forderung ist für den Hörer naturgemäß häufig fließend und
die Interpretation des Gesprochenen im Hinblick auf die Grund-
stimmung des Sprechenden daher oft zweifelhaft.
Auch hier sehen wir uns zunächst nach den Mitteln um,
die seit alter Zeit in unsern idg. Sprachen zum Ausdi-uck 6.e\'
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 45
hier in Rede stehenden besonderen Grandstimmung zur Ver-
fiio-unc orestanden haben. Als ältestes formales Ausdrucks-
mittel ist
i) die sogen. Optativ form von der Gattung der griech.
(pEQOL und £iT] zu nennen.
Diese Formation zeigt seit uridg. Zeit neben der Wunsch-
bedeutung zugleich Potentiale Bedeutung {slt] etwa 'das mag
sein'). Es ist möglich, daß der letztere Gebrauch der ursprüng-
lichere war und aus ihm die Wunschbedeutung hervorgegangen
ist. Das könnte u. a. so geschehen sein, daß interjektionale
Ausdrücke des Wüuschens sich der potentialen Verbalform
bedient und so ihr ihre besondere Art mitgeteilt haben.
Aber auch der umgekehrte Entwicklungsgang ist wohl denk-
bar, und er wird von der Mehrzahl der Sprachforscher, mit
größerer oder geringerer Bestimmtheit, angenommen. (Wenn
man hierfür sich entscheidet, darf man fragen, ob nicht das
Bildungselement dieses Modus -ie- : -l- ursprünglich eine
Wunschinterjektion gewesen ist.) Endlich ist aber auch zu
erwäcren, ob weder der potentiale noch der wünschende Sinn
an der Spitze der Gebrauchsentwicklung gestanden hat, son-
dern eine dritte Gebrauchsweise, aus der diese beiden Bedeu-
tungen abo-eleitet wurden und die in der historischen Zeit
unserer Sprachen verloren gegangen ist.
Jedenfalls ist man zu der Annahme voll berechtigt, daß
der Wunschgebrauch des Optativus aus uridg, Zeit mitgebracht
war, ferner, daß die so gestalteten Wunschsätze in uridg. Zeit
auch schon eine eigene Tonmodulation hatten. Sicher konnte
der Wunschsatz damals auch schon von Interjektionen und
mit ihnen verwandten Ausdrücken begleitet sein, namentlich
so, daß diese vorangingen, nach Art von nhd. ach, war' ich
gesund!
Beispiele. Ai. RV. 7, 59, 12 mrtyor muJcsitja 'ich möchte
vom Tode frei werden' oder 'möcM' ich vom Tode frei wer-
den!', TS. I, 7, I, 3 2/rt hlmäyetäpasuh syad iti 'derjenige, von
dem er wünscht: möcht' er ohne Herde sein!', RV. 8, 18, 22
ye cid dlii mrtyuhändhava ddityä manavuh smäsi prä sü na
46 K \iti, Bim'Omann: l70i^
(ii/iir jivasf tiritfoia 'in(»ohlot ihr, A., diis Lcboii von luis
Menschen, die wir ilem Todo verwandt sind, verlängern!'.
2J g8 arrCxa TsOfuhj)' 'ich möchte sofort tot sein', 'wäre ich
sofort tot!'. So})h. Ai. 550 co icai, ysvoio TTaxQog EvrvytGTfQoq
'Kind, möchtest du glücklicher worden als dein Vjiter!' Got.
Rom. 15, 5 ?/> giij) jiula'mais jah ßrofsicinais (p'hai izwis juita
snmo frtipjau '6 füe dsbg TYJg vjronovijg xal r^g naQuxXyascog
dcpt] v^iiv Tu ccvTO q)Qov{:tv\ Luk. 20, 16 nis-sijai V'/ yi^voiro',
alul. Otfr. Lud. 5 ihenio sl iamer Jieill 'ihm sei immer Heil!',
mhd. Iw. 5997 got griicjc hichf, Wulth. 75, 8 öwc, gcscehe ichs
(= ich .•?/) wider Ironcf, Nib. 983 ei, ivoJdc got der ivärc!,
nhd. hätV ich doch einen totenschein!, lang lebe der Mnig!. Im
Lat. erscheinen infolge des Synkretismus zwischen Konjunktiv
und Optativ auch alte Konjunktivformen: Plaut. Aul. 182 sal-
Hos atque fortiinatus, Eudio, semper sies, Cic. Mil. 34, 93 va-
Jeant dies mei, valeant, sint incolumes, sint florenies.
Im Griech. und im Lat. trifft man als Einleitung des
Wunschsatzes sehr häufig f/, ei yäg, si&e, ai, <xi yuQ^ cd%'£ und
ut, uti-nam. So z. B. y 205 cci yuQ fuol ro66i]vÖ€ ^sol öv-
vaiiiv TtSQi^slsv, I tsCöaöd-ai iivrjGrfjQag, A 670 h^' log 7}ßcooiiu
ßCr} TS ^OL eumdog fl'Tj, üg o-ttot xtL, Soph. 0. R. 863 ei fioi,
i,vv£Lr} cfbQovTi (ioiga täv kyvuav Xöyav, Ter. Ad. 713 ut,
Syre, te cum tua | nwnstratione tnagmis perdat Juppiter!, Plaut.
Amph. 632 utinam di faxint!. Diese Partikeln hatten wahr-
scheinlich von Haus aus keine interjektionale Natur, hatten
dem Satz auch nicht einen Nebensatzcharakter gegeben, son-
dern dienten, ähnlich wie unser so in so niöcht' ich doch,
daß...!, so gib doch!, ursprünglich dazu, den Wunsch an
die Situation, aus der er entsprungen ist, anzuknüpfen. Mit
diesem si ist wohl nächstverwandt das auf demselben Prono-
minalstamm beruhende ai. aija 'so' beim Optativ, wie RV.
6, 17, 15 ayd vdjq devähitq sanema 'so möchten wir den
von den Göttern bestimmten Wohlstand erlangen', und lat. ut
scheint sich mit av. tiHi 'so' zu decken. S. Verf. Grundr. 2-, 3,
982f. 990, Ander| über ut, utinam Schmalz Lat. Synt.'^ 479.
569. Vgl. auch unten § 9, 9.
70,6] Verschiedenheiten der Sätzgestaltung usw. 47
Eine besondere Schattieruucr der Wnnscbstimmuncr ist
die, daß sich mit dem Begehren die Vorstellung der Nicht-
verwirklichung, der Unerfüllbarkeit verbindet. Hierfür
hat es, wie es scheint, in uridg. Zeit noch keine besondere
Gestaltung der Verbalfortn gegeben, es kann jedoch sein, daß
dieses Sinneselement in der Betonungsart geueben war.
Nichtverwirklicbung versteht sich von selbst, wenn der
Wunsch auf etwas Vergangenes geht, wie z. B. in wäre er
nicht so früh gestorhen!. Die hierfür vorhandene Ausdrucks-
weise, die das Zeitstufemnoment dei Vergangenheit mit zum
Ausdruck brachte, bat sich in einigen Sprachen auch da ein-
gestellt, wo der Wunsch einem gegenwärtigen Zustand gilt
und dabei den Wunsch die Vorstelluuo- der Unerfüllbarkeit
begleitet. So hat im Griech. diese Nebenvorstellung iür die
Gegenwart ihren Ausdruck bekommen durch die W^abl eines
Indik. Prät., wie Eur. El. 1061 eW dx^Sj ^ rr/.ovGa^ ßslriov^
(pQsvag, im Germanischen durch die Wahl des Opt. Prät., wie
got. I. Kor. 4, 8 inu uns ßiudanodedu]); jah irainei piudano-
dedeij), ci jah weis izivis mißjjiudanonm 'xoQtg i]yLüv sßaöi-
Xtvöars ' y.al cxpekov yt tßccöiXsvöars, Iva xccl rjfietg vutv 6vfi-
ßaöilevöco^sv, im Lateinischen durch die Wahl des sogen.
Konj. Imperf., wie Plaut. Rud. 533 idinam fortnna nunc hie
anatina uterer! S. Verf. Grundr. 2^, 3, 863 f. 86gf. 885.
Wie im Griechischen hier, im Zusammenhang mit vor-
ausgehender Wunschpartikel sl {ild-e, al y^g), der Indikativ
von Präterita in Wunschsätze zu stehen gekommen ist, so
wurde in dieser Sprache auch auf andere Weise der Indik.
Prät. zum Träger von Wunschbedeutung. Die Präterita aqs-
Xov, 'dicpsXkov bedeuteten von Haus aus 'debebam' und bilde-
ten mit zugehörigem Infinitiv einen Aussagesatz. So läßt sich
diesem ursprünglichen Sinne nach noch z. B. Xen. An. 2, i, 4
«AA' (hcpEks ^Iv KvQog triv interpretieren, wenn man es sich
in der Betonung des gewöhnlichen Aussagesatzes gesprochen
vorstellt Aber schon seit Homer ist cjcpaXov mit Inf. Aor.
oder Präs. auch bereits unter die Affektbetonung des Wün-
schens gekommen. Das bekundet sich durch zweierlei. Erstens
48 K AKi, Hkikjmann: 170,0
durch den Auschluß dieses l*räterituiii8 au die Wuusolipjirti-
keln sl&£, sl ycxQ, wp, z. B. 7^428 i?jAi>i>«g i-x Tioltfiov' cog
torpfXfg Kvr6d' öXt'tJd-ca | avögl dccfieic; xQcasQcf) 'wärst du doch
daselbst zu Grunde ge«^au^en!', Soph. El. 102 1 fi'{>' o'}(pfXe>^
roiäde rijv yi'cö}i)ji' 7T(CTi)os | Tfi'i'jiixomOii dvcci 'hättest du
doch schon beiui Tod des Vaters so liohen Sinn gehabt!'.
Zweitens durcli /o; für ov (v*fl. i? 12), /. li. I 698 (itjd' o(jp£-
Xeg Uüöföd-ca d^iviiova ni^leiiow: 'hättest du doch den Fre-
uden nicht gebeten!', Domosth. 25, 44 o)cpslt yccfj ^ir^ödg äX-
Xos l4Qi6toysirovi iuC^elv})
2) Der Wunsch, kleidet sich überall oft in die Form
einer Frage. So nhd. hilft mir einer von euch?, -wer von euch
hilft mir? = tnöge mir einer von euch helfen! Soph. 0. R. 139 1
xi ,u ov Xaßojv \ sxrsivag svd^vg^ cog sösl^cc iiyJTiore | ffiavrbv
ccvd'Qio-JtoKjiv h'd-sv ij yeycbg? Vas gabst du mir, nachdem
du mich aufgenommen, nicht gleich den Tod, damit ich der
Welt niemals meine Abkunft kund getan hätte?'; hier weist
das cjg sdsi^a deutlicli darauf hin, daß die Frage rt ^i ovx
fKtuvag im Grunde ein Wunsch ist.
In andrer Weise fand im Griechischen der Wunsch Aus-
druck durch Pronominalfragen mit dem Optativus potentialis:
der Wünschende fragt, wie das, was er wünscht, sich erfüllen
könne, oder wer es erfüllen könne. So schon bei Homer
o 195 NsörogCdr], Ticog x£v iiot xmoßjjSiievog tslsGaiag \ ^iv^ov
lli6v? 'wie könntest du wohl vollenden?' d. i. 'könntest du
wohl irgendwie vollenden?', K 303 xCg xev ^01 töds €Qyoi>
'6;toö;i^d^£Vog reXedeis \ öcÖqg) stcl fieyäXc)? 'wer könnte wohl
vollenden?' d. i. 'könnte wohl einer vollenden?" Dieses ;rög
äv erscheint dann weiterhin ganz formelhaft, so daß eine
Übersetzung mit 'wie' nicht mehr möglich ist, bei den Tra-
gikern, wie Soph. Phil. 531 Tiäg äv v^lv e^(pavr}g | «pyco ye-
voLfiTjv, cag ft' ed^söd^s 7ioo6(pLXr}? d. i. 'könnt' ich durch eine
Tat es irgendwie euch zeigen, welchen Freund ihr euch in
i) Über die Form otp^Xov im Wunschsatz vgl. Wackkrhaokl Sprach-
liche Untersuch, zu Homer, 19 16, S. 199 f.
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestalt ung usw. 49
mir gemacht habt!', Eur. Med. gj Id) (lOi (tot, nag ctv 6X0C-
fiuv? d. i. 'könnt' ich doch irgendwie zu Grunde gehen'/.
Ähnlich mit r/'g äv z. B. Aesch. Ag. 1450 (pev, rCg civ ev rä-
X8L uökoi? Vgl. Kühner-Gerth Ausf, Gramm, i, 235.
Vielleicht mit Recht wird diesem :icbg das lat. Adverhiura
qul ('wie') verglichen in Wunschsätzen wie Plaut. Gas. 279
qui illiim di perdant!. Nach Lucilius erscheint dieses qul nur
noch vereinzelt. S. Schmalz Synt.* 479, Bennett Sjnt. i, 193.
Man kann in qul aber auch eine Art 'relativischer Anknüpfung'
an vorher Gesprochenes oder an die dem Sprechenden vor Augen
stehende Situation sehen, eine Deutung, die zugleich für ag
in Wunschsätzen wie 2J loy d)g SQLg ex xs d-eäv ex x ävd^Qcb-
7CC3V ccKoloLxo annehmbar wäre. In beiden Fällen, bei qul und
o)g, hätte sich das Gefühl für ursprüngliche Bedeutung der
Wunschpartikel mit der Zeit verloren.
3) Verselbständigte abhängige Sätze kommen zum
Ausdruck von Wünschen wohl noch häufiger denn als Aus-
rufungssätze vor (S. 36 ff.). Die Wunschstimmung war oft
schon gegeben durch vorausgehende auch ihrerseits schon
wunschbekundende interjektionale Elemente; deren Tonart er-
streckte sich mit auf den Wunschsatz.
a) 'Daß'-Sätze. Besonders in neueren idg. Sprachen. Es
ist dieselbe Satzart, die nach 'ich wünsche' u. dgl. üblich ist.
Nhd. Offenb. Joh. 3, 15 ach, daß du kalt oder warm wärest/,
ahd. Otfr. 4, 26, 37 tha^ sallg si in güvissl thiu Jcindes um-
iera slf, mhd. Klage 1508 da^ ich erstorben ivcere! Vgl. Erd-
mann Unters. 2, 65, Grundz. i, 126, Paul Mhd. Gramm.'^ 187.
Lit. äk, Tiäd tu heh sävo iszganytojui vernas pasillktumbei! 'ach,
daß du doch deinem Heiland treu bliebest!', Märch. Md ß
vaeiutu sü tu Jcetvertu arJcliü namö ö ynümetn i)aVüdu szitq
kumeükq/ 'daß sie doch mit ihrem Viergespann heimführen
und uns die kleine Stute ließen!', Dain. kdd äs3 turcczau nört^
motinel^f 'daß ich doch wenigstens ein Mütterchen hätte!';
lett. mit ka, z. B. ka wlnsch ifputetuf 'daß er verstäuben
möchte!' (Verwünschung), vgl. Bielenstein D. lett. Spr. 2,
354- 356. Franz. que, Italien, che, span. qite: franz. que dieu
Phil -hlit Klasse 1918. Bd. LXX. 6, 4
50 K \ni. BuroMANN: [7<»i <>
reille sur vous!, italien. che dio vi hcncdicn!, spiin. qne diofi le
guardc de mal! Nengr. 6 ^ehc; vä oäg öiöan xah)v vyEi'uv!
'Gott gebe dir gute Gesnndlieit!'.
b) 'Wenn'-Sätze. Man kaun diese Ausdrucksforni in
der Weise als Kur/satz ansehen, daß l)ei ihrer ersten Ent-
stehung ein Naclisatz des Sinnes '(dann) wäre es gut (ge-
wesen)' oder 'wie gut wäre das (gewesen)!' u. dgl. vorge
schwebt habe. Nhd. z. B. trenn das gelänge!, rcemi er »wr
hnld läme.', wenn er doch rechtzeitig gelommcn ivärc! Aus dem
Lat. stellt sieh der im Altlat. nur vereinzelt auftretende, mit
si, 0 si eingeleitete Wunschsatz hierher: Attius 53 tutn autem
Äegistus si med eodeni lecto comitasset pairü, Verg. Aon. 8, 560
0 mihi praeteritos referat si Juppiter annos! (Blase Histor.
Gramm. 3, i, 134, Kühnek- Stegmann Ausf. Gramm, i, 184).
Weitere Verbreitung fand dieses si im Roman.: franz. oh si je
pouvais le voir!, italien. 0 se potessi dormire!, span. oh si sn-
pinra qnien es!.
Dem nhd. wenn das gelänge! stehen nahe Wunschsätze
wie wer mir hiirge wäre! 'wenn einer mir bürge wäre!', eilende
wolhen, segler der lüfte, iver mit euch wanderte! wer mit euch
schiffte! Vgl. Erdmann Grundz. i, 126, Paul D. Wtb.^ 650.
4) Kurzsatzformen sind häufig. Als Wunschsätze sind
sie, abgesehen vom Wortsinn, vor allem durch den Satzton
gekennzeichnet.
Ai. svasti 'Heil! Glückauf!' (P. W. 7, ^öof.), z. B. Säk.
52, 18 Burkh. svasti hhavate 'Heil dem Herrn!' (Begrüßung
des Königs). Got. Mark. 15, 18 hails, jdudan ludaie! ''yalQe
ßaöLlsv T03V 'IovdaCo3v\ mhd. so {sam, sem) mir got! 'so möge
mir Gott helfen!'. Cic. Att. 4, 7, i gui di Uli irati! (vgl. qui
illum di perdant! S. 49).
Eine Art Gegenstück zu denjenigen Satzgestaltangen,
die verselbständigte Nebensätze waren (S. 19 ff.), bildet im La-
teinischen der Wunschsatz ita mc di ament!, z. B. Ter. H. T.
383 minim.eque — ita mc di ament — miror, Plaut. Stich.
685 ita MC di ament, lepide accipianmr, quoniam hoc recipiamur
in loco. Ursprünglich hatte man etwa gesagt ita me di ame^ri.
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 5 1
id verum dico oder iit iusiurandum servaho oder dsl., vgl.
Plaut. Cure. 208 ita nie Venus amct, iii ego te . . . mmquam
sinam in domo esse. S. Wünsch Rhein. Mus. 69, 123!?.,
Kühner-Stegmann Ausf. Gramm, i, 190 f. Wahrscheinlich ist
auch nacli Aufgabe des ?i^- Satzes die ursprüngliche Beto-
nung des ?7rt- Satzes wenigstens eine Zeitlang noch festge-
halten worden, ähnlich wie bei uns jetzt auch nach Wegfall
des nachfolgenden abhängigen Satzes der verbliebene Haupt-
satz noch mit nach dem Schluß zu ansteigender Stimme ge-
sp rochen wird z. B. in es tvar eine liiize heute . . . .', er redete
so auf mich ein . . .!^) (ebenso franz. il s'cst mis dans ime
furcur . . . f).
9-
Satzbildung im Dienste der Aufforderung. Der
Gtundtrieb für den Aufforderungssatz ist das Streben des
Sprechenden nach Verwirklichung einer Vorstellung in der
Art, daß die Verwirklichung durch einen Angeredeten oder
andern Anwesenden oder wenigstens durch deren Beihilfe er-
wartet wird. Daß die Grenzen zwischen Wunsch und Auffor-
derung fließend sind und deshalb die Interpretation des Ge-
sprochenen mit Rücksicht auf die Grundstimmung des Spre-
chenden oft zweifelhaft ist, sei auch hier (vgl. S. 44) betont.
Für den Aufforderungssatz stand seit uridg. Zeit als ge-
läufigstes Ausdrucksmittel zu Gebote
i) der sogen. Imperativus. Die unter diesem Namen
zusamm. engefaßten Formen stellen für keine Sprache und für
keine Sprachperiode seit uridg. Zeit ein bezüglich der Grund-
bedeutung der verschiedenen Formen einheitliches System dar.
Sie gehörten, welchen Zeitpunkt der Sprachentwicklung man
auch ins Auge fassen mag, jedesmal von älterer Zeit her ver-
schiedenen 'Modi' an, waren dabei aber in der Weise bedeu-
tungsgleich oder sind es mit der Zeit geworden, daß dadurch
i) Korfiz Holm, Thomas Kerkhoven S. 234 „Die liebe Familie liot
sich (jegen wich so benommen .. .!".
4*
52 Kaki- Buuomann: [7^1 ^
der Umfiiug und die Art der urid«^. Imperutivbedeutuug ge-
wahrt goblioben ist. S. Yorf. («ruudr. 2-, 3, 563 ft'.
Teils sc'liou in iiridg. Zeit teils im EinzcUebeji der idg.
Sprachoii sind gewisse interjektionale (iebilde oder l'artikeln
mit einzelnen Imperativiormen imiverbiert worden und haben
dann ihre ursprüngliche Eigenbcdeulung, die dem Imperativ-
sinu anfangs eine besondere Schattierung z.ugebracht haben
muß, aufuej^eben. So ist das wohl schon in uridg. Zeit ge-
schehen mit dem der 2. Sing, angehängten '''dhi: nirgends
mehr bedeuten Formen wie *i-<Uu == ai. iht griech. lAtt etwas
anderes als Formen ohne dieses augefügte Element wie *ci
= griech. (£|-)ft, lat. ei l (a. a. 0. 2-, 3, 569). Im vorgeschicht-
lichen Litauisch ist der Partikel */a in ei-Ji(i) 'geh', dU-Jc{i)
'gib' u. a. ihre noch konstatierbare ursprüngliche Sonderbe-
deutuug abhanden gekommen (a. a. 0. 2^, 3, 566f. 811. looi).
Andere ursprünglich selbständige Elemente dagegen, die
sich einzelnen Imperativformen zugesellten und die Bedeutung
dieser Verbalforraen so oder so modifiziert haben, lassen diese
Sinnesmodifikation in der historischen Zeit noch durcherken-
nen. Dahin gehören die in uridg. Zeit zustande gekommenen
Formen auf '■^'-fM, wie lat. veJä-to{d) ai. vaha-tät: sie unter-
scheiden sich noch in historischer Zeit von den Formen wie
velie, vdlia dadurch, daß sie eine Aufforderung bezeichneten,
der erst in einem gewissen Zeitpunkt oder in verschiedenen
Zeitpunkten der Zukunft nachgekommen werden soll, was
durch den Sinn des Adv. '^'tßd an die Hand gegeben war (a.
a. 0. 2^, 3, 571 ff. Siyfi'.). Aus späterer Zeit sei genannt die
rahd. Imperativformation auf -U, wie väh-a, die, neben und
gewöhnlich in unmittelbarer Verbindung mit der einfachen
Imperativform gebraucht (vähä väcli), die Aufforderung drin-
gender gemacht hat (S. 2:^ Fußn. 2).
Sehen wir von solchen sekundären Gebrauchsschattie-
rungen ab, so zeigt die Übereinstimmung in der Verwendung
der Imperativformen in allen idg. Sprachen, daß diese For-
men von der Zeit der idg. Urgemeinschaft her aUen Arten des
Verlangens vom schroffsten Geheiß bis zur flehentlichsten
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 53
Bitte herab Ausdruck geben konnten; von jeher sind also
auch Ermahnung, Ratschlag, Erlaubuiserteilung, Aufmunte-
rung u. dgl. eingeschlossen gewesen.
Oft wird die Ausführung einer Aufforderung als Voraus-
setzung für ein anderes Geschehen hingestellt auch dann,
wenn der Sprechende gar nicht an wirkliche Ausführung
denkt. So ist in unsern Sprachen der Imperativ auch eine
dem Bedingungssatz nahe verAvandte Ausdrucksform geworden.
Z. B. ahd. Otfr. 4, 30, 28 stig nidar liera in uär, icir güoubcn
{hir sär d. i. Venu du herniedersteigst, werden wir dir glau-
ben', mhd. Marner i, i, 18 du sitz, du stant, du ivat, du sivim:
du soU dich slner (d. i. gotes) helfe niemer entänen, nhd. Goethe
nehmt die freunde m euch, laßt sie iceg — alles ist einerlei,
Lessing laß dich den teufel hei einem haare fassen, und du
bist sein auf etvig, lit. (Sprichwort) iszelk nevalgqs, pareisi
iszcUk^s 'geh ohne gegessen zu haben aus, so kommst du
hungrig nach Haus', griech. Plat. Theaet. 154 c ö^lxqov Xaßh
^jtaQccösiyiicc, ''icd Ttdvra el'öet, a /SotUo/ica, Dem. 18, 112 dsc-
^dto, y.äyd) ötagtco aal 6ico7Cijöo^ai^ lat. Plaut. Bacch. 1024
em specta, tum scies, Cic. Tusc. i , 30 tolle hanc opinionem,
luctum sustuleris. Hierüber und über gewisse Erweiterungen,
die dieser Imperativgebrauch erfahren hat, s. Erdmann Unters.
1, 105 f, Grundz. i, 120, Kühner- Gerth Ausf. Gramm, i,
237, Kühner-Stegmann Ausf. Gramm. 2, 165, Verf Grundr.
2^, 3, 810.
Der weite Umfang und die Mannigfaltigkeit des Gebrauchs
des Imperativs bekundet sich in den lebenden Sprachen durch
die große Verschiedenheit der Betonungsart des Imperativ-
satzes in Hinsicht der Exspirationsstärke und der Tonmodu-
iation. Ohne Zweifel hat man es hier mit bereits uridg. Be-
tonungsverschiedenheiten zu tun. Mit diesen Unterschieden
mögen dann in den einzelnen Sprachen noch diese und jene
andern Unterschiede an den Imperativformen zusammen-
gehangen haben, vermutlich z. B. die altlateinische Doppel-
heit dlce und die, dfice und düc. Im Altindischen zeigt sich
Plutierung in einem kleinen Teile der Imperativsätze, wie
3 1 K.VKL BllLMi.MANN: [?'■>, ^
TS. 7, I, f>, I (isIk }ur ^triip'ilji (isla hio ity (ibnitam \'.a sei
auch mir ein Anteil diivoii. „(uit, es sei!" .sprachen sie'.
2) Injunktiv- und Kon junktivl'ornien der 2. und
3. Person. Dio beiden Modi nui^tii liier zusiinimcngenomnien
werden wegen iler senniutisehen Venniscliung, die sie in den
meisten Si)rnclien schon in vorhistorischer Zeit erfuhren hüben.
Injunktivische Formen. Ai. KV. lo, 6g, 3 sd reväc
clioca sii (liro jusasva sä väjq darU sä iliä srävo dhali 'du
leuchte Reichtum herbei, nimm unsere Lieder an, eröffne uns
Besitz, gib uns hier Keichtum', KV. 7, 15, 6 stma vetu vä-
safhrtim agnir jüsata niv f/irah 'er komme zu diesem vasat-
Kuf, Agni nehme meine Lieder an'. Griech. cptQso 'trage dir',
q)tto 'sag', t7Tl-6yBg 'halt an', lat. es 'iß' aus '*cd-s, ir. airre
'erheb dich' aus *-rcJiS-s, lit. te ei preuss. ei-lai 'er gehe' aus
*ci-t Hierher gehört auch die ital.-kelt. Konjunktivbilduug
mit -ä- (wie lat. ad-renat, ir. -cria), weil sie von Anfang au
durchweg sekundäre Personalendungen hatte; daher sind hier
auch Stellen wie Plaut. Poen. 134g low, in ins eas zu nennen.
Aus dem Litauischen ist ferner hierher zu ziehen der Gebrauch
des sogen. Permissivus in Sätzen wie Genesis i, 3 if Btvas
tär'e: te-si-randa szvl'sä 'es werde Licht!'.
Daß die Lijunktivformen von idg. Urzeit her zugleich
'indikativische' Bedeutung aufweisen, ist nicht im geringsten
auffallend. Voluntativer (konjunktivischer, imperativischer)
Sinn wurde ihnen im Zusammenhang mit der voluntativen
Satzbetonung zugebracht, und in weiterem Zusammenhang mit
Geberde und Situationsbewußtsein wurde die richtige Liter-
pretation stets ebenso sicher ermöglicht, wie du schiveigst, du
bist still durch eine bestimmte Tonart eindeutig Imperativi-
schen Sinn bekommen (s. unten 4).
Konjunktivische Formen, z. B. ai. KV. 4, 31, 3 ahM
Sil nah säkhinäm avifd jaritfndm \ satäm hhaväsy ütibhih 'komm
herbei als Helfer unsrer lobsingeuden Freunde mit hundert
Hilfsleistungen', RV. 5, 40, 4 yuUvd häribhyäm üpa yäsad
arvän mddhyudim sdvane matsad indrali 'nachdem er an-
geschirrt hat, komme er mit den Falben herwärts, an dem
70, bj Verschiedenheiten DER Satzgestaltung USW. 55
Mittagsopfer erfreue sich ludra', el. Inschr. SGDI. 1172, :i2
t6 öh 7pdq)i6[ia . . . ccvatsd-ä sv to iaQOv 'der Beschluß soll
in dem Heiligtum aufgestellt werden'. Audi bei den Kon-
junktivformen muß, namentlich wegen der Identität des kon-
junktivischen -t-: -0- mit dem sogen, thematischen Vokal des
Indikativs, durchaus mit der Möglichkeit gerechnet werden,
daß der Imperativische Sinn nur im Zusammenhang mit der
besonderen Satzbetojmng zustande gekommen ist. S. Verf.
Orundr. 2\ 3, 837.
Für die Beurteilung des Verhältnisses der Meinung der
Imperativformen zu der Meinung der Injunktiv- und Kon-
junktivformen ist wichtig, daß, wenn auf einen Imperativ oder
eine imperativische Interjektion noch eine weitere, sachlich
zugehörige Aufforderung folgt, diese sich in eine Injunktiv-
oder Konjunktivform kleiden kann. So ai. RV. i, 139, 7 0 sw
m agne srnuhi tväm llito devebhyd hravasi yajniyebhyah 'hör
auch du, o Agni, auf uns, nachdem du angefleht bist, sprich
zu den verehrungswürdigen Göttern' (SB. i, 2, 5, 2 häntemq
prthivi vibhäjämahai 'auf, laßt uns diese Erde unter uns
teilen!'), Soph. Phil. 30g q)SQ\ « tenvov, vvv aal xo rf}s
vrjöov ^dd-rjg. S. Delbrück Altind. Synt. 43f. 309ff., Verf.
Grundr. 2^, 3, 8390*. Die Rolle des Injunktivs und Konjunk-
tivs hat in diesem Fall (wie auch sonst vielfach) im Goti-
schen die Optativform übernommen, wie Luk. 17, 3 jabai
fmivaiirJcjai broßar jieins, gasah imma, jah ßan jabai idreigo
sik, fraletais imma 'eäv d^aQtr} 6 ccdsXcpög 6ov, hnixi^ri^ov
«VTö, xul häv ^etavoT^öTj, äcpsg avxä\ Mark. 7, 14 hauseil)
mis allai jah fraßjaiß 'ccxovsxe [xov Ttdvxsg xal övvCsxe .
S. Streitberg Got. Elem.^ 204. Dies Verlassen der Impe-
rativform bei der an die erste Aufforderung angeschlossenen
zweiten Aufforderung hat ihre Parallele in dem Übergang
Tom Injunktiv zum Optativ bei der i. Plur. in der delibera-
tiven Frage, wie Matth. 6, 31 ni maurnaij) nu qißandans:
ha matjam aißßau ha drigkam aißßau he wasjaima'f' xl
tpayco^sv t) xC tcCcj^sv tJ xl 7t£QLßaXcb[i£d-a?' (§ 14, 6). Wahr-
scheinlich hing dieser Wechsel mit dem sonstigen reichlichen
56 Karl Buuomann: (70,6
Gebrauch tlos Injuiiktivs und Konjunktivs und ihrer got. Fort-
setzung, des Optiitivs, in ahhiingigen Sätzen vohmtativer Fär-
bung zusammen. Die hätiiige Vereolbständigung aber von
Nebensätzen der Aufibrderung (unten o) hat Anteil daran ge-
habt, daß auch ohne vorausgegangene im})erativi8che Form
80 oft injunktivisclu' und koujunktivisclie Formen auftreten,
wo man imperativische erwarten könnte.
3) In den Sprachgebieten, wo der Konjunktiv-Injunktiv
und der Optativ im Beginn der Überlieferung noch gcHchiedon
geblieben sind, begegnet man nicht selten der Optativ-
forni da, wo mau nach 2] eine Imperativ- oder eine Konj.-
Inj.-Form erwarten könnte. Man hat für diesen Optativ-
gebrauch den Namen 'präskriptiver Optativ' aufgebracht. Z. B.
ai. SB. II, 6, 1 . 2 prdh^ putraka vrojatät. tätra yät päses iän
ma d caJcslthäh 'Geh nach Osten, mein Sohn; was du dort
sehen wirst, teile mir mit', £1 149 x^ov| reg ol eitoixo ysQccC-
TSQog 'ein älterer Herold folge ihm', kypr. SGDI. n. 60, 6
rj dvJ^dvOL jn' a{v)Tl reo UQyvQco^f (oder aQyvQov?) Töde 'oder
er gebe anstatt dieses Geldes . . .'. S. Verf Grundr. 2^, 3, 863.
An sich kann dieser Optativgebrauch, da bei ihm, so weit
ich ihn überschaue, eine besondere Schattierung im Gebiet
des Sinnes der 'Aufforderung' nicht hervortritt, ebensowohl
an die alte Wunschbedeutüng als an die alte potentiale Be-
deutung dieses Modus (S. 45) angeknüpft werden, zumal da
wir die Tonmodulation, in der solche optativische Aufforde-
rungen in den ältesten Zeiten des historischeu Arischen und
Griechischen gesprochen worden sind, nicht kennen. Immer-
hin ist aber wahrscheinlich, daß im Griechischen der Ge-
brauch zum Teil auf dem alten Potentialis beruht. Dafür
sprechen die nur als potential deutbaren Stellen mit dem
Optativ wie el. SGDI. n. 1149, 2 6vvu.u%ia x sa exarbv fixEo,
'das Bündnis gelte hundert Jahre', J5 250 (zu Thersites ge-
sagt) rci ovx av ßaöLXfjug avä 6r6\l e^cov äyoQSvoig 'drum
führe du nicht die Fürsten laut im Munde'. Mag hier im
Anfang, beim Aufkommen dieser Ausdrucksweise, eine gewisse
Zurückhaltung des Sprechenden in der Aufforderung das
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestai^tung usw. 57
Motiv gewesen sein, ähnlicli wie wenn wir du Tcannst (könntest)
jetzt gelin für geh jetzt sagen, so muß sich dieser Modus-
gebrauch doch mit der Zeit so stark mechanisiert haben, daß
man sich auch bei energischerer Aufforderung dieser Aus-
drucksweise bedienen konnte. Das muß sich auch in der
Änderung der Betonungsart dargestellt haben. Vgl. Verf.
Grundr. 2^, 3, 857. 863f.-, Caüer Gramm, mil.^ i44f.
In weitem Umfang sind im Germanisehen und im Sla-
vischen Optativformen in das Gebrauchsgebiet der imperati-
vischen und konjimktivisch-iujunktivischen Formen eingerückt.
Sie haben sämtliche Funktionen dieser Formen übernommen,
z. B. ahd. Sit got. sijai]) 'seid!', aksl. vedHe 'führt!'. S. Del-
brück Vgl. Synt. 2, 396, Verf. Grundr. 2^, 3, 8i4ff. Wie sich
diese Entwicklung im einzelnen abgespielt hat, ist nicht mehr
zu erkennen.
4) Ist bei einer Aufforderung die seelische Grundstim-
mung vorwiegend die, daß man die Ausführung einer Hand-
lung vom Angeredeten ganz sicher erwartet, so stellt sich
der Indikativus Futuri oder der futurische Indikativus
Präsentis als nächstliegende Ausdrucksform ein. Die Ton-
art, der Aufforderungston, gibt dann dem Angeredeten die
richtige Interpretation leicht an die Hand. So nhd. du kommst
mit!, ihr kommt mit! oder du ivirst mitkommen!, ihr werdet
mitkommen! (Erdmänn-Mensing Grundz. i, 96). Griech. Plat.
Prot. p. 338 a Gig o'bv 7ioi7]6sTS, Lykurg. 67 xo^aörJov söxl
tovtov, sl iiiXlexE rovg äXXovg TtoUrag ßsktiovg jtoirjöSLV, xal
ov rovto Xoyi£Lö&£^ sl dg sßti uövog 6 avd-Q(07tog, aXX'
sig xb TtQäy^u. Im letztgenannten Satz läßt ov die Einklei-
dung der Aufforderung in die Form eines Aussagesatzes deut-
lich erkennen. Doch kam neben ov im Attischen auch ^rj
auf, herübergeholt aus anderen Bezeichnungsweisen des Ver-
bots, z. B. Lys. 2g, 13 xcil firjds^Cav ai>toig aösiav d(o6£tE.
S. Kühner-Gerth Ausf. Gramm, i, 176. Lat. Plaut. Cure. 728
tu, miles, apud me cenahis, Asin. 373 ^m cavehis^ ne me attin-
gas, si sapis, Cic. Att. 12, 28, i si igitur illum conveneris,
scrihes ad nie, si id videtur; mit non, entsprechend dem ov,
^8 K AKi, Hin (iMAN.N : f?^, <>
z. B. Cic. Faiu. 5, 12, 10 tu initrm tum crssdhia vi ra, (/ikic hahcs
insfi(t(f", pcrpolici (KriiNKR-STKCMANN Ausf. (Jramin. 1, 144).
5) Eine l)esomlere Stt'lluiijjj iiclmicii die Ausdiücke ein,
die iu versehiodonen Qraniinatiken verschiedener Spraclieii
als erste Personen des Duals uud des [Muralfl dos Im-
perativs bezeichnet und mit den oben unter i l)is 4 be-
handelten zweiten und dritten Personen im 1^'orineusysteni
verbunden werden. Sie besaji^eu, daß der Sprc'chcnde zu etwas,
was er tun will, zugleich einen Anwesendi'n oder mehrere
Anwesende auffordert, wie lat. ca»ius 'gehen wir!, laß(t) uns
gehen!' ^) Die Verbalformen, um die es sich hier bandelt,
werden von den systematisierenden Grammatikern teils zum
Imperativsyetem gerechnet (so im Altind., Kelt. , German.,
Balt.-Slav.), teils zum Konjunktiv (so in den klassischen
Sprachen).
Ai. UV. 1, 25, 17 sq mi vöcävahai punar yätö nie mddhv
dbhrtam 'hiß uns nun wiederum miteinander uns besprechen,
nachdem mein süßer Trank herbeigebraclit ist', AB. 2, 25, i
te 'bruvan: hantajim aijäma 'sie sprachen: wohlan, laßt uns
einen Wettlauf anstellen'. S. Delbrück Altind. Synt. 306 ff.
Griech. -9- 133 dsms, (pCloi, töv i,eivov iQco^u&a 'hier-
her, Freunde, laßt uns den Fremdling befragen', z/ 418 aXX
aye d») xal vai iisdcb^iE&a d'ovQiÖog uXxjjg 'wohlan, laß auch
uns beide stürmischer Abwehr gedenken'. S. Kühneu-Gerth
Ausf. Gramm, i, 2191
Lat. Plaut. Stich. 147 abeamus intro, Cic. Off. i, 41 me-
minerimus etiam adversus infimo^ histitiam esse servandton.
S. Kühner-Stegmann Ausf. Gramm, i, 180.
Dem Sprachgefühl der Litauer waren diese Aufforde-
rungen 'Imperative', wie man daran sieht, daß sie z. B. elkime
i) Daß man, wie es oft geschieht, auch bei der i. Sing. Konj.
oder Inj. , z. B. ai. hrarä, vöcam 'ich -will sprechen', griech. dw ''ich
will geben', alat. adeam 'ich will herantreten', von Aufforderung,
nämlich des Sprechenden an sich selbst, redet, entspricht nicht der
wahren Meinung dieser Formen. Diese Sinnesbestimmong ist nur
durch den Gebrauch der i. Du. und i. Plur. veranlaßt worden.
70,6] Verschiedenheiten der bAxzGESTALTUNG usw. 59
*laßt uns gekeu' und eikiva 'laß uns gelien', ebenso wie die
2. Plur. elliite und die 2. Du. eihita, auf Grund der 2. Sing.
ei-Jc(i) (S. 52) geschaffen haben. Daneben sind aber auch
noch die Injunktivformen eime und eivä in demselben Sinn
erhalten geblieben. Sie sind yermutlich aus stoßtonigen
^eime, *eiv6 hervorgegangen, und diese hatten im Zusammen-
hang mit der Aifektbetonung eine Vokaldehnung nach der
Art der Piutierung des Altindischen erfahren. S. Verf. Grundr.
2-, 3, 621. 815. Im Slavischen, wo größtenteils der Optativ
die Funktion des Imperativs übernommen hat (S. 57), haben
sich unsere 1. Plur. und i. Du. hiermit in Übereinstimmung
gesetzt, z. B. vederm 'laßt uns führen', vedcve laß uns führen',
wie 2. Plur. vedHe, 2. Du. vedlia. Über vidhm, vidive s. Verf.
Grundr. 2^, 3, 561. 812.
Am schwierigsten ist die Beurteilung der Verhältnisse
im Germanischen. Über sie ist oft gehandelt worden, zuletzt
von Behaghel „Der got. Adhortativus" PBrB. 43, 325 und
in unmittelbarem Anschluß an diesen Aufsatz von W. Bkaune
„Der german. Adhortativus" S. 3276".
Im Got. und Nord, nämlich erscheint als i. Plur. (die
1. Dual, kommt nicht in Betracht, weil sie in diesem Sprach-
zweig schon in vorhistorischer Zeit der i. Plur. gewichen ist)
eine Form, die, äußerlich betrachtet, mit der Indikativform
identisch ist: got. hindam aisl. hindom '■laß(t) uns binden'.
Ich erklärte die Form für alten Injunktiv (Grundr. 2-, 3, 521).
Wenn Braune, der darin alten echten Indikativ sieht, gleich-
wie Behaghel, betont, daß im Got. diese Indikativform ganz
besonders bei perfektiven Verben adhortativ auftrete, und die
auf die Zukunft weisende Bedeutung der Perfektiva die i . Plur.
leicht habe als adhortativ, nicht als Aussage über etwas
Wirkliches verstehen lassen, so ist das an sich richtig. Nur
hätte der Hinweis auf den Unterschied der Satzbetonung (vgl.
du Jcommst mit! S. 57) nicht fehlen dürfen: diese Tonver-
schiedenheit treonte auch ein duratives gaggam als Adhorta-
tivus von voru/verein von einem nicht adhortativen gaggam
'wir gehen'.
6o Kaul Buuomann: |7'\^
Im liot. orsclu'iiit mm in ^leii-hein Siim oll die Optativ-
loriH, z. H. Köm. i,>, 13, {larcdalxi gn<igaima ' svOi^i^iövoq
zfQi:TaT)jö(o^isv , 'lasset uns rhrbarlicli wandeln', mul im Wcst-
irermanisclien mit Ansnahme des lld. lierrsclit dieser Modus
durchaus. Die 1. Plur. Ojit. hat sieli im Zusammenhang^ mit
dem imperati vischen Gebrauch in der 2. Person (vgl. 3 S. 57)
eingestellt und war die jüngere Ausdrucksweiso.
Das Hochdeutsche zeigt die dem got. huidam aisl. hhulom
entsprechende Stammform mit der viel erörterten Endung
-mcs und /war sowohl in adhortativer Avie in indikativischer
Bedeutung: hiniumcs, gamts usw. Braune a. a. 0. S. t,2()
Fußn. I lehnt alle bisherigen Erklärungen des -7ncs ab und
benierkt, er könne iu der -m?.S'- Frage über ein Non liquet
nicht hinauskommen. Ich halte mich an die Tatsache, daß
,,im Imper. das -mcs viel fester haftet als im Indikativ, bei
Otfr. geradezu für den Imp. charakteristisch ist" (Bkaune
S. 33 0> ^^^ bleibe bei meinem Deutungsversuch in Gruudr.
2^, 3, 621 (der, wie es scheint, Bkaunk nicht bekannt ge-
worden ist, jedenfalls von ihm nicht erwähnt wird). Hiernach
war -mes, gleichw^ie lit. '■'•'■eime, woraus historisch eime (S. 59),
in der adhortativen Verwendung aufgekommen im Zusammen-
hang mit der adhortativen Affektbetonung. Diese hatte, ebenso
wie bei der ai. Plutieruug., der Schlußsilbe mit der Vokal-
dehnung noch einen stärkeren Nachdruckston zugebracht, aus
dem sich das Verbleiben des -5 erklärt {-tnes = dor. -^sg).
Später hat sich dieser Nachdruckston verloren, wodurch be-
wirkt wurde, daß man die Formation nunmehr auch indika-
tivisch gebrauchtet), ferner daß das e voji -mt's blieb, nicht
zu ä geworden ist.
Die ahd. Formen auf -)ms waren hiernach von Beginn
an Indikativformen gewesen, nicht Injunktive, da -mes wegen des
-s nur als primäre Personalendung verständlich ist. Ob da-
gegen auch got. hindam, aisl. hindom als Adhortative alte In-
i) Im Ahd. treten auch optativische Ausgänge im Indikativ auf,
8. Bkaune Ahd. Gramm. ^ 254
70,6] Verschiedenheitek der Satzgestaltung usw. 6i
•dikativibrmeii gewesen sind, muß dahin gestellt bleiben.^)
Übrio-ens hat unter allen Umständen — was nicht genügend
beachtet worden ist — die adhortative Affektbetonung von
Anfang an im Gebrauch eine schärfere Abgrenzung gegen den
Indikativgebrauch ermöglicht.
6) Die Absicht, etwas zu fordern, verbindet sich leicht
mit dem Zweifel, ob der Aufforderung auch Folge geleistet
werde. Daher häufig die Form des Fragesatzes: kommst du
mit?, icürdest du mitkommen?. Faßt man dabei die Eventua-
lität der Nichterfüllung des Verlangens ins Auge, so ergibt
sich Zusatz der Negativpartikel: liommst du nicht mit?, ivür-
dest du nicht mitliommen?.
Im allgemeinen kamen diese Arten der Aufforderung da
auf, wo man dem Geheiß einen milderen Ausdruck geben
wollte: mit der Frageform ordnet man ja den eignen Willen
dem des Angeredeten bis zu einem gewissen Grad unter.
Doch bediente man sich dieser Form der Aufforderung mit
der Zeit wohl überall auch bei schärferer Mahnung, was dann
zu schärferer Tonart" führte: gehst du hcngel gleich her?!, willst
du gleich herkommen? .'
Ob auf dieser selben Grundlage auch die kurzen Auf-
forderungen mit nachgestelltem Personalpronomen, bei denen
heute wenigstens nichts von der Fragebetonung zu spüren
ist, wie nhd. gehste! (gehst du), gehmer! (gehen loir), mhd. den
volgen ivir! 'diesen laßt uns folgen' (vgl. Baesecke Ein-
führung in das Ahd. S. iQQf., Braune a. a. 0. S. 329f-)j ^®"
ruhen, lasse ich unentschieden.
Ai. Säk. 172, 9 Burkh. evq hho na me säsane tiSthasi
'he, wirst du nicht so meinem Befehl gehorchen?', RV. 8, 7,
30 kadd gachätha maruta itthd viprq, hävamänam 'wann, o
Maruts, werdet ihr zum rufenden Sänger hierher kommen?'
d. i. 'kommt bald'. Griech. rj 22 a tsxog, ovx (xv aoi öo^ov
i) Zugunsten alten Indikativcharakters darf nicht (mit Braunh
S. 331) die adhortative 2. Du. hindats mit ihrer Primärendung geltend
gemacht werden. Denn dieses -ts erscheint auch in hindaits und hun-
duts^ Formen, die ja ursprünglich Sekundärendung gehabt haben müssen.
62 Kaui- Bkihsmann: |7o, 6
«i'f'()oc i^yijöaio^ !/Ax/j'd<)r.^ 'Kind, würdrst du mir nicht den
VVojr woison /um Haus lincs Mannes, des A.V. Lat. Plaut.
Amph. 516 (il)in c conspcctu tnro?, Cure. 189 dinm dispcrti-
miiii':', Ter. Andr. 743 »0» w/?7// respondcs? , Ser. Sulj). bei Cic.
Farn. 4, 5, 4 i'/.s>?r tu te coJiihcrry
Solche Fragen werden auch mit 'was (warum) nicht?'
pebikh't: man erwartet mit Ungeduld von jemand den Vollzug
einer verlangten Handlung und kleidet so die Aufforderung
zur Ausführung in diese Art Frage. Nlid. ivas (ivarum)
Ixommd du nicht':'. Griech mit xi {ovv) ov: Aristoph. Ach. 359
rt ovv ov ktysig?^ Xen. Kyr. 2, 1,4 xC ovv, ecprj 6 Kvqo^,
Ol' xcd x)]v övva^av Blei.äg uoi? (Kühner- Gerth Ausf. Gramm.
I, 165 f., Stahl Krit.-hist. Synt. 135. 353). Im Lat. so (juln,
aus qiä-ne 'wie nicht?, warum nicht?', wie Plaut. Capt. 592
quin fugis?, Men. 1000 quin me mittitis?.
Durch Mechanisierung dieser Aufforderungsform ist es
im Lateinischen schon zu Plautus'Zeit dahin gekommen, daß
quin auch vor Imperative gesetzt wurde, offenbar mit gänz-
lichem Verlust des Fragetons: z. B. Plaut. Bacch. 276 quin
audi, was man sich als quin audis? -\- audi denken mag^),
Men. 416 quin tu iace modo, Cic. Rose. com. 25 quin tu hoc
crimen aut ohice aut , . . S. Schmalz Lat. Synt.^ 594 f., Ben-
nett Synt. I, 24 f. 350, Wegener IF. 39,8 f.
7) Mancherlei Interjektionen bilden durch sich selbst
Aufforderungssätze. Als solche darf man alle die ansehen^
die den Angeredeten auffordern, dem Sprechenden seine Auf-
merksamkeit zuzuwenden. Sie werden teils für sich allein ge-
sprochen, teils bilden sie die Einleitung zu Aufforderungs-
sätzen, die den Willen des Sprechenden inhaltlich genauer
angeben, zu Sätzen also mit Imperativen usw. Z. B. nhd. Ite,
lat. hcus, eho (chodmn), ai. hänta, e, ai] ferner lat. und hd.
st, Schweigen gebietend, gi-icch. xr] lit. te 'da!, nimm!' u. dgl.
Mannigfaltig sind die an Tiere gerichteten iuterjektionalen
Aufforderungen, z. B. nhd. hü!, hott!.
i) Vgl. Plaut. Most. 815 quin tu is iniro atque otiose perspecla.
70, 6] Vkuschiedexheiten der Satzgestaltung üsu'. 63 ■
Manche interjektionale Gebilde, die Aufforderungssinn
haben, sind selbst ursprünglich Imperativformen gewesen und
kommen zum Teil daneben auch noch mit ihrem ursprüng-
lichen Gedankeniuhalt vor. Die Erstarrung zur Interjektion
kann sich an verschiedenem kundtun, z. B. daran, daß die
2. Sinar. auch im Zuruf an mehrere gebraucht wird. So z. B.
nhd. halt!, holla!, griech. äys, (ftQS, lat. age (agedum), ai.
m. Vgl S. 2iff.
8) Ferner läßt sich auch hier wieder der Vokativ nennen,
insofern er, wie die Interjektion, dazu dient, die Aufmerksam-
keit des Angeredeten für den Sprechenden überhaupt oder für
etwas besonderes, was er sagen will, zu fordern. Vgl. S. 3 1 .
9) Verselbständigte abhängige Sätze kommen un-
gefähr ebenso häufig vor wie bei den Wünschen (S. 49 f.). Selt-
ner aber als beim Wunschsatz wird dann beim Aufforderungs-
satz eine Interjektion vorausgeschickt, z. B, he, daß du mir
gleich wiederhommst!.
a) Sätze mit finalem 'daß', wie sie auch in Abhängig-
keit von den Verba des Forderns u. dgl. üblich sind, z. B.
nhd. daß du mir gleich wiederhommst ! , daß er si(Ji beeile!.
Naturgemäß ist es für den Hörer oft zweifelhaft, ob er es
mit einem bloßen Wunsch oder einer Aufforderung zu tun
habe: vgl. Goethe Tasso i, 2 0 daß er sein gemiit an deinen
lehren bilde!, mhd. Nib. 1423 das ir des ane zwivel Sit!, Iw.
42 14 das ^s got erbarme! (Konj. Prät. erscheint nur im Wunsch:
daß du mir wiederMinst!).
Im Griech. OTtcog, in jüngerer Zeit auch iva. Aristoph.
Plut. 326 oxcos ds ^loi xccl xalXa 6v\i%aQa6xäx ai s6e6&s xai
6(orr,Qss 'daß ihr mir Gehilfen seid!', Xen. An. i, 7, 3 ö^03g
ovv S6S69-S ccvÖQSs a^ioi tijg iXsvd^SQCag, vgl- TtoCsi, ÖTicog . . .,
imuslov, Ö7C(og ... NT. Eph. 5, i2> V dh yvvri Iva (poßrjtai
TOI' ävÖQu, vgl. Mark. 6, 25 ^Üa iva öäg fiot. S. Kühnek-
Gerth Ausf. Gramm. 2, 376, Brugmanx-Thumi>. Griech.
Gramm.* 639.
Im Slav. da mit Indik.: aksl. da vcsi 'wisse', vgl. chosfq,
da dasi mi. In den 3. Personen ist diese Ausdrucksweise für
64 Kaki, Hkikjmann: [7O1 6
Aufforderung' die einzig vorliaudene (gleichwie im Krunzösi-
schen 7'^/' bei den 3. IVrsonen unentbehrlich geworden ist:
(ju'il nitre' , qiCU le fasse!). Z. H. uksl. Matth. 6, 0 da svt^tih
S(; i»i{' troji' 'ccyiaö^iirco to örou« Oov\ Mattli. 5, 16 tdko da
prosv^titi Sf svrl-b t'ash 'ovicog XKuxjjcirco to qnös" v^m'\ russ.
da zdrarstvujct liossija.' 'es lebe Russhind!'. Vgl. DiiLiudCK
Vergl. Synt. 2, 396, VonohAk Vergl. Slav. (iranini. 2, 281.
Im Altlat. kommen Aufforderungssilt/e mit ut vor, wie
Plaut. Baccb. 739 maic, patrr nii , proin tu ah co ut caveas
td)i, Ter. Ad. 280 at ut omnc reddat (Blase Higt. Gramm. 3,
I, 129). Wie sich dieses ut entwicklungsgeschichtlich /u dem
uf (^ul/nam) im Wunsclisatz (S. 46) verhält, ist unklar.
b) Wenig verbreitet ist der indirekte Fragesatz neben
dem direkten (oben 6 S. 61): oh du mitliommst?. Im Nhd. ist
diese Außerungsform geläufiger bei energischer Aufforderung:
oh du gleich hergehst?!
10) Verselbständigte Infiuitivkonstruktionen, ur-
sprünglich von einem Verbum voluntativen Sinnes abhängig,
erscheinen im Germanischen, Griechischen, Italischen, Arischen
(vgl. das nämliche Selbständigwerden des Infinitivs im Ausruf,
S. 43).
Nhd. langsam gehn!, den Fuß vorsetzen! (J. Grimm D.
Gr. 4, 92 ff. Neudr.). Griech. E iid^ d^ccQö&v vvv, zliöfirjdsg,
ijtl TQcbiööi ^iccxeö&ai 'mutig kämpfe jetzt, D., gegen die
Troer'. Lat. Val. Flacc. 3, 4 1 2 ergo uhi puniceas oriens ascen-
derit imdas, j tu socios adhibere sacris. Ai, RV. 6, 15,6 agnim-
<ignj vah samidhä duvasyata priyq,-priyq vö dtithj grnisäni
'verehrt euren Agni mit Holz, euren lieben Gast preiset'.
S. Verf. Grundr. 2-, 3, 339 ff.
Ursprüngliche Abhängigkeit von einem Verbum tritt im
Griechischen darin deutlich zutage, daß bei 3. Personen der
Accusativus cum inf. erscheint: F 28,5 si de x ^iXa^ccvdQov
xrsLvri ^avd-bg Mavilaog^ \ Tgäag btcei^ 'Ekevrjv xccl xrij^ata
xävr (iTCodovvuL 'dann sollen die Troer die H. und alle
Schätze zurückgeben', kret. SGDI. n. 4991, 10 tä Öl XQÖvca
xov dixa6tav öuvvvru xqCvev 'wegen der Zeit aber soll der
70,6] Verschiedenheiten DER Satzgestaltung USW. 65
Richter unter Schwur entscheiden'. S. Brugmann-Thumb
Griech. Gramm."* 597, Verf. Grundr. 2^, 3, 941 f.
11) Kurzsätze begegnen in der verschiedensten Art.
So z. B. vielfach Adverbia der Bedeutung 'hierher' u. ähnl.
im Sinn einer Aufforderung, an eine gewiesene Stelle zu
kommen: nhd. herein!, heran!, griech. N 481 devre, (pikoiy
xal liolco d^vvste, prakr. Säk. 51, 10 Burkh. ido ido hha-
vantä (skr. ita itö hhavaniäu) 'hierher, hierher, ihr Herrn!'.
Vgl. Paul Prinz.^ i34f.. Wegener Grundfr. 144 f., IF. 39, 4 ff.
10.
Satzbilduno' im Dienste der Einräumung. Die
seelische Grundstimmuug ist: man wünscht oder fordert ein
Geschehen, eine Handlung, doch entspringt dabei die Willens-
regung nicht der freien, unvermittelten Initiative des Sprechen-
den, sondern dieser fühlt sich einem gewissen Widerstand
gegenüber, der entweder in seiner eigenen Seele liegt, oder
an ihn von außen herangetreten ist. Eine besondere mo-
dale Verbalform als Ausdruck dieses Grundstimmungskom-
plexes hat es in den idg, Sprachen von der Zeit der Urge-
meinschaft her nicht gegeben. Die besondere seelische Ver-
fassung kann jedoch, wo nicht die Situation oder der Zu-
sammenhang ohne weiteres das Verständnis sichern, ebenso
im Tonfall und in begleitender Gebärde, namentlich in mi-
mischer Gebärde, Ausdruck finden wie durch Zusätze zum
Verbum wie immerhin, meinetwegen, lat. sane u. ähnl.
Für gewöhnlich erscheinen der wünschende Optativ und
der Imperativ, die in diesem Falle auch als Concessivus
und Permissivus bezeichnet werden. Dabei ist der Bedeu-
tungsunterschied zwischen den beiden Modusformen derselbe
wie in dem Fall, daß Wunsch und Aufforderung aus der freien
Initiative des Subjekts hervorgegangen sind.
i) Optativus. Nhd. lioste es, was es wolle; möge er zür-
neti, ich tu' es doch, mhd. Nib. nu si sivie starc si welle, ine
läse der reise niht. Got. Luk. i, 38 qa^ ßan Mariam: sai,
PhiL-hist. Klaaae 1918. Bd. LXX. 6. 5
üO Kakk Hki'omann: |7f. '>
piui fratijins, nairjnii mis hi icaurda Jicinamma 'löov i) dovkti
xx'qCoi\ yt'i'ot.TÖ /u)f xc(T(( TM (>t]u(x 6ov' (Vgl. liVlk. 2, 2i)).
IJ riech, il 2 2() avxUa yäij ^u xuTUXT.u'vftfi' .'-/;i;<AA/^j>i,' | dyxccg
ekovr ^/<(»J' vlöv 'meiuotwcgeii luaj^ mich AchiUcs sofort
tütou', 0 -'71 ineira öl xai ri 7cä\)oiui '(hiiiii mag- mich
meiuohvegcii das Sdiicksal treflfii', Sl 139 t/^ö' «t? " J)g aTiotva
(pEQOi, xcu vfXQov «j'OiTo, (( 402 XTtj^ucTU ö' uvtog «JJOIC," ««i
ÖMuccßiv olöiv ävccöaoii: (Küiinkr-Gkkth Aiisf. Gramm, i, 228).
Lat. Plaut. Trin. 979 sis mca rausa qnUuhct, Att. trag. 203
odcrint, dum mdKont, Cato bei Gell. 6, 3, 50 sint sane sur
pirhi, quid id ad nos attinct?, Cic. Verr. 5, 4 sit für, sit saeri-
legus, sit flacjitionon oninium vitiorumquc princeps: at est ho-
nus Imperator (Kühner -Stegmann Ausf. Gramm, i, 189 f.).
Im Litauischen hat die alte Optativform der 3. Personen
so vorwiegend diese Bedeutung, daß sie hiernach in der
Grammatik überhaupt den Namen Termissivus' ])ekommeii
hat, z. B. te-ateini' 'er mag fmeinetAvegen) kommen', tesc 'er
(es) mag sein'.
2) Imperativus. ^hA. geh meinetwegen, geM meinetwegen.
RV. 10, 108, 6 anisavyds tanväh santu papili \ ädhrstö va
etavd astu pdnthä hrhaspätir va uhJiaijd nn mrlät 'mögen eure
bösen Leiber schußfest sein, mag undurchdringlich der Weg
zu euch hin sein, B. wird euch in keinem von beiden Fällen
gnädig sein', Mhbh. 14, 6, 8 gaccha vä mä vä 'du magst
gehen oder bleiben', z/ 29 eQÖ]' araQ ov toi xdvteg inaivio-
fisv dsol akXoi 'tu es (immerhin), aber nicht sind "wir andern
Götter alle damit einverstanden', Soph. Ai. 961 of d' ovv
yeXdivrav 'x&:ti%aiQ6vxcov xaxolg \ rolg tovd'' l'öwg rot - ■ ■ \
d^ccvovT av ol^ä^siav iv %Qtkc doQog 'mögen sie lachen und
sich freuen über die Leiden dieses Mannes: vermutlich werden
sie noch, wenn er tot ist, in der Not des Kampfes ihn be-
klagen', Plat. Symp. p. 201 c ovxag exita, 6)g 6v Isyeis 'es mag
so sein, wie du sagst', kret. SGDI. 4991, 6, 6 a T^ Öd x av-
xhg näösxai . . . , a;to(5t(Jd^)"^^G^, ai xa kr} 'was er selbst er-
worben hat, mag er verkaufen, wenn er will' (Kühnek-Geetu
Ausf. Gramm, i, 236 f.). Lat. Plaut. Pers. 500 cedo sane, Trin.
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 67
384 tibi pcrmitto, posce, duce, Men. 727 mca qiddem her de
causa vidua vivito 'meinetwegen magst du als Witwe leben',
Men. 1029 mca quidem hercle causa liher esto atqiie ito, quo
voles, XII Taf. 3, 3 f. vincifo . . ., aut si volet maiore vincifo; si
volet siio vivito. Oft esto so wie sit saue. S. Küiiner-Steg-
MANN Ausf. Gramm, i, 199, 202. Aus dem Litauischen sind
hier zu nennen die mit den alten optativischen Formen (s. i)
gleichbedeutenden injunktivischen Bestandteile des Permissivus,
z.B. te-suJca 'er drehe (immerhin)', vgl. Verf. Grundr. 2^^ 3, 522.
II.
Satzbildung im Dienste der Drohung. Die seeli-
sche Verfassung des Sprechenden bekundet sich außer durch
begleitende mimische und pantomimische Geberden nament-
lich durch die Art der Satzbetonung.
Ich erwähne diese seelische Grundstimmung darum be-
sonderSj weil bei ihr in mehreren Sprachen übereinstimmend
verselbständigte Nebensätze mit 'wenn' auftreten.. Dabei hat
im Nhd. die Stimme eine bis zum Schluß ansteigende Be-
wegung. So wenn du das noch einmal tust!, lat. Ter. verbum
si addideris!, quem quidem si ego sensero! .
Dazu den Nebensatz verkürzende Satzformen, wie nhd.
weyin du noch ein wort!, Ter. verhum si mihi unum praeter
quam quod te rogo!
12.
Satzbildung im Dienste der Abwehr und Ab-
weisung. Was hier vorzubringen ist, gruppiert sich im
wesentlichen um die Geschichte der uridg. Trohibitivpartikel'
*me, die sich erhalten hat im Arischen als ma, im Armeni-
schen als mi, im Griechischen als ^iij, im Albanesischen in
mos, das aus uridg. me -j- s 'nicht' ^) besteht.
In den meisten andern Sprachzweigen ist das einfach ne-
gierende uridg. *ne *ne an die Stelle von *me getreten, wobei
i) s aus lat. dis- ist zunächst an zusammengesetzten Verben er-
wachsen (G. Mkyer Et. Wtb. der alb. Spr. 376).
5*
68 • Kaki. Bkucimann; [7u, o
im Lat. die ikHli'utiiun-söi'hattitMun^ von "''nie spo/iell auf *He
überfifoi^angon ist. Diese \ i'riiiiaeliun«^ mit ''■/?', die meist mit
der Zeit zur viillijren ^'(•r(ll•älll,a^n«J; von *»ic «^erülut hat, ist
dadurch angehahnt worden, lUiü im (Jehiet der voluntativon
Sätze zumteil von uridt;. Zeit her nehen *ni(' schon '*nr im
(lehrauch war. Bei dem Übergang /,u *ni' ist wahrsclieinhch
üherall auch ilie hcsoudere Betonungsart der *;>iP-i5ätzo mit
üheruommeu worden, ^'gl. Verf. Gruudr. 2^, s, ^27 f., 974 f.
Ohne Zweifel aus uridg. Zeit erer])t war die Verbindung
von '""'mc mit dem Inj unkt. Aor., bzw. dem frühzeitig an
dessen Stelle getretenen Konjunkt. Aor. Diese Verbindung
diente dem Verbot, sowie der Bitte, daß etwas nicht gescheiie.
So ai. RV. I, 104, 8 ?)id nö vadhlr indra ma pdrä da md
nah priyd hhojanäni jirä mös'ih 'töte uns nicht, Indra, gib
uns nicht preis, entziehe uns nicht die liebe Nahrung', SB.
II, 5, I, I aJiämq sma ma ni padyasai 'der uiclit danach Be-
gehrenden sollst du nicht nahen', E 684 IjQia^Cdrj, ^r] di] ,u£
eXcjQ ziavccoiöLv idöyg \ xdad-ca Tr., laß mich nicht als Beute
für die Dauaer daliegen', arm. Matth. 16, 18 drunU dzoxoc sna
nii yalCaharescen 'die Pforten der HöUe sollen sie (die Ge-
meine) nicht überwältigen', lat. Ter. Andr. 789 ne me altigas.
Wie der Injunktiv im Gebot nicht von Haus aus den vo-
luntativen Sinn hervorgebracht hat, sondern ihm dieser Sinn
erst im Zusammenhang mit der Satzbetonung zugebracht wurde
(S. 54), so hat er diese Bedeutung auch im Verbot durch
die Tonart erhalten, hier aber zugleich durch den ursprüng-
lichen Sinn von *me. (Beim Injunktiv erscheint im Ved. mö,
wenn keine voluntative Bedeutung vorliegt, z. B. RV. 7, 20, 6
nü cit sä hhresate jdnö nä resat 'nicht wankt das Volk, noch
wird es zu Schaden kommen'.) S. Delbrück Vergl. Synt. 2,
355 f- 519, Verf. Grundr. 2-, 3, 808. 974 f.
Weniger sicher, aber nicht unwahrscheinlich ist, daß Wic*
in der Zeit der idg. ürcremeinschaft auch schon im Wunsch-
satz gebraucht worden ist. Im RV. erscheint hier zwar ge-
wöhnlich nci, doch kommt auch mehrfach vor ma hhujema
70, 6] Yehschiedenhetten der Satzgestaltung usw. 69
'möchten wir nicht zu fühlen (auszukosten) bekommen!'. Im
jüngeren Av., im Apers,, im Armen, und im Griech. ist diese
Ausdrucksweise bei Wunschäußerung geläufig: av. V. 4, 46 mä
gdus mä väsfrahe hatö adWtim vaocoit 'man möge nicht von
Verweigerung eines wirklich vorhandenen Fleischstücks oder
Kleides reden', apers. D. 4, 3 abiy imäm dahycmm mä äja-
miyä^ mä hainä mä dusiyäram mä ärauga^ 'zw diesem Land
möge nicht ein Heer, nicht Mißwachs, nicht Lug kommen',
armen. Matth. 16, 22 mi elici Uez aid 'dies möge dir nicht
widerfahren', griech. 7 601 ^rjds 6s dai^cjv \ ivxavd-a tgeifsis,
cpiXog 'und möge dich nicht ein Dämon dahin vertreiben,
Freund'. Entsprechende Sätze im Lat. mit ne, neben dem hier
aber auch nön vorkommt (Schmalz Lat. Synt.'^ 478)-
Auch beim Imperativ erscheint *me übereinstimmend
im jüngereil Avesta, im Armenischen und im Griechischen,
wofür wieder rie im Lateinischen.
Ich vermute in *me eine alte Interjektion, mit der man
sich von einer einem unangenehmen Vorstellung abwandte,
etwa gleichwertig mit 'bewahre! behüte! das sei ferne!'. In-
terjektionen desselben oder ähnlichen Sinnes im Bereich der
historischen idg. Sprachphasen sind u. a. nhd. pä! (mit jähem
Decrescendo vom Silbeugipfel ab), lat. a, ah (Ter. ah, ne saevi
tanto opere), olie (Ter. ohe, desiste), ai. lium^ Isoliert, als Satz
für sich, kommt *me in historischer Zeit nirgends mehr vor;
denn Sätze wie ai. mä maivam (Säk. 18, 18. 185, 19 Burkh.),
griech. ^i] xovto (Eur. Ion 1331), arm. mi (Matth. 13, 29
Ixamis zi erficiiJc V alescuU zain i hac. ev na ase cnosa: mi
'willst du, daß wir hingehen und es [das Unkraut] beseiti-
gen? Und er spricht zu ihnen: Nein', d.i. 'tut es nicht') sind
natürlich Kurzsätze gewesen. Das Wort ist demnach in Sätzen,
an deren Spitze es auftritt, schon in uridg, Zeit ebenso in
diese Sätze einverleibt gewesen, wie das mit vielen andern
'Partikeln' in einzelsprachlicher Zeit geschehen ist. ^) Dabei
i) Eine Anzahl solcher Fälle bespricht Wackernagel Verm. Beitr.
2iflF. Vielleicht gehört dazu auch das dem \ii] eemantisch nahestehende
lat. haud, s. Thukneysen IF. 21, 179, Walde Lat. et, Wtb.* 361,
70 Kakl Bhu(jmann: [70.6
wurde ilie Tonart, in cIlt *)>ir «gesprochen wurde, t'iir den
ganzen Satz. niaßgi'l)enil.
Im Vedisehen ersclieinl so um nur erst in unal)hängigen
Sätzen, noch nicht als nebensatzeiuleitende Konjunktion. Ebenso
ist hierfür im Altiranischen kein sicherer Beleg. Wo die Par-
tikel zur Konjunktion geworden ist, geschali das hauptsäch-
lich infolge davon, dali man häufig auf einen Aufforderungs-
satz, um die Aufforderung zu motivieren, einen Prohibitivsatz
folgen lieli: z. B. Ind. Spr." 4844 nid vami chiiuklhi saryiighrq
ma vi/df/lira nlnah)) vandt 'haue nicht einen von Tigern be-
wohnten Wald nieder, damit nicht die Tiger aus dem Walde
verschwinden', Plaut. Pseud. 942 vide, nc tituhcs.
Im Griech. und Lat. spielen (ly und iie in Äußerungen
von Befürchtung eine größere lloUe. Sie wurden hier hinter
Verba des Fürclitens die ständigen nebensatzeinleitenden Kon-
junktionen. Z. B. E 488 u^i ^cog . . . ärÖQuöi övOßevi'f-aöi tlojQ
xcd y.vQucc yEvrjö&s 'daß ihr nur nicht für feindselige Männer
Kaub und Beute werdet!', £ 473 deCdicc, firj &riQEG6tv i'XcoQ xal
xvQuu yerai-iai, Plaut. Pseud. 284 nam id liic metiiü, ne illam
vendas. Im Arischen usw. erscheinen hier andere Ausdrucks-
weisen, wie TS. 2, I, 4, 3 yadi hihhiijdd duscärmä hhavisyamili
'wenn er fürchten sollte: ich werde hautkrank werden' (Del-
brück Altind. Synt. 292, Vergl. Syut. 2, 521. 3, 29of.).
Auch für Warnung war der *»<e-Satz geeignet, z. B.
1? 195 fijj XI io?.co6ä[.uvos Q^ifi xay.bv ^nag yliaiüv Maß er nur
nicht im Zorn Leid den Söhnen der Achäer zufügt!', A 2t
fii'l 6e, ysQOv, xoUr]6iv iya TtaQu Wii-öl v.iyr^io 'daß ich dich,
Alter, nicht bei den hohlen Schiffen antreffe!'.
Der Bedeutungsunterschied zwischen *me und *«e, wie
er aus der Zeit der idg. Urgemeinschaft ererbt war, hat in
keinem Sprachzweig für den Sprechenden die Möglichkeit so
feiner Sinnesabschattung beschaffen wie im Griechischen. Ich
setze, um das zur Anschauung zu bringen, eine Stelle aus
Cauer's Grammatica militaus'^ her. S. 56 heißt es: „Daß ein
griechischer Fragesatz entgegengesetzten Sinn bekommt, je
nachdem ob er mit oux oder yuli eingeleitet wird, hat seinen
70, 6] Verschiedenheitex der Satzioestalti'ng usw. 7 1
Grund in der Stimmung des Redenden, die sich in Worten
nicht äußert [sicher aber doch in der Satzbetonung zutage
trat!]-, wer ^i^ sagt oder hört, empfindet dabei etwas wie einen
negativen Wunsch, eine Abwehr: t] (it] xCg ösv ^ij^.a ßQox&v
M'KovTOs ilavvet-^ {i 405) 'es treibt dir doch nicht einer dein
Vieh weg?' Die begleitende Empfindung kann sich sogar,
obgleich das nicht häufig ist, in Aussagesätzen äußern. Mi]
pbhv eyco xovqij BoL6r,idc yßQ eit^veixa: so schwört Agamem-
non (T 261)', er gebraucht fir/', weil er den Wunsch hat, die
Möglichkeit, daß es doch geschehen wäre, weit von sich ab-
zuweisen. 'Es ^hv axQoaöiv Xacjs t6 ^i] (ivd^ädsg uvrCn> cctsq-
:r£6t€Qov (pavsttai, schreibt Thukydides I 22, 4, und meint:
die Ablehnung des Sagenhaften. Ähnlich bei Demosthenes
I. Phil. 15, oluai eyco xavta Xaysiv ex^iv, ^li] xcolvcov d xvg
kUos hjiayyilXaral xi'. Ich meine dies sagen zu können;
doch fern sei von mir, einen andern zu hindern, der sich zu
etwas erbietet". Auch hier wäre ov logisch richtig und dem
Gebrauche gemäß, aber ^tj ist psychologisch verständlich und
lebendig wirkend." Daß in der späteren Gräzität firj dem ov
ein gut Teil Terrain abgewann, rührt nicht etwa daher, daß
man gegen den Bedeutungsunter.schied der beiden Negationen
unempfindlich geworden wäre, sondern daher, daß man in
gewissen Fällen, wo ov und /atj an sich gleich angemessen
erscheinen konnten, bestimmte Wendungen mit ^iri, die schon
in älterer Zeit vorhanden waren, mehr und mehr gegenüber
solchen Wendungen bevorzugte, in denen von älterer Zeit
her Ol'» seinen Platz hatte. S. Brugmann-Thumb Gr. Gr.*
572. 611.
13-
Satzbildung im Dienste der Aussage über eine
vorgestellte Wirklichkeit. Diese vorgestellte Wirklichkeit
kann der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft an-
gehören, und es stellen sich hierher Behauptungen, Erklärun-
gen, Urteile, Berichte, Erzählungen u. dgl.
In unsern idg. Sprachen kann man zwei Hauptformen
dieser Satzart unterscheiden, den nominalen Typus, der vor-
'}2 Karl Bruomann: (70,6
zu^sweise der ErkliiruTif^ und Beaclireibnng dioni, wi«» omnin
pracvhira rata, und den verl)iiloti Typus, in dcMu niiin na-
niontlich beriolitot, erzählt, schildert, wie niairr ahiif.
Der AuBsagesiitz ist von aUcn Siitz«ratlun<^on die syn-
taktisch am iiKinni<^raIli<;jsten und reichsten entwickelte
\\ ährcud die Satzarton, die auf dem Hoden des rein Gofülils-
iniißii^en erwachsen siud, in der Alltajrssprachc» von jeher kurz
und weniijf get^liodert waren und hier überdies die Form des
'Kurzsatzes' immer besonders beliebt war, hat der Aussago-
satz sowie der auf ihm beruliende Fragesat/, mit der wach-
senden sprachlichou Gliederung komplizierterer Gesamtvor-
steDungeu überall die Pcriodenbildung gefördert.
Diese sprachliche Ausbildung des Aussagesatzes hat
aber mit der Zeit auf die Gefühlssätze in der Art hinüber-
gewirkt, daß auch diese sich syntaktisch in sich mehr und
mehr Ijereicherten. Diese Wirkung macht sich ganz beson-
ders in der geschriebenen Rede geltend. Denn so ließ
sich vielfach eine Art Ersatz schaffen für die dem Verständ-
nis dienenden Hilfsmittel, die dem geschriebenen Wort ab-
gehen, die Satzbetonung, die Gebärde und die Situatiousan-
schauung.
Im gewöhnlichen Aussagesatz spielt die Tonart für das
Verständnis eine weniger wichtige Rolle als anderwärts. Ge-
meinsam hat er mit allen andern Satzgattungen, daß eine
Äußerung gegenüber einem andern ausgesprochenen oder nur
vorgestellten Gedanken, sei es, daß zwei Gesamtvorstellungen
oder nur zwei Einzelbegriffe, eventuell zwei Sätze oder zwei
Worte einander entgegengestellt werden, dadurch gehoben
werden kann, daß ein Nachdrucksakzent darauf gelegt wird.
Hierdurch erfährt also die Natur des Aussagesatzes an und
für sich keine Änderung. Und wie in den Gefühlssätzen die
Wirkung, die durch die besondere Art der Satzbetonung er-
zielt wird, zumteil auch durch besondere Wörter, Interjektio-
nen und Partikeln, erreicht werden kann, so haben auch die
Aussagesätze als solche ihre der Exspirationsverstärkung un-
gefähr gleichwertigen Zusatzwörter interjektionalen Charakters,
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 73
wie lat. nae ne griech. vccC v»^; av. hä arm. ba lit. 6a; nhd. ja,
fürivahr; lat. profecto, sane; gi-iech. f/, [iijv, öi/rraj; ai. tvi,
araga, addhä.
Am schwierigsten sind Grenzlinien zwischen Aussagesatz
und Ausrufsatz zu ziehen. Man wird darauf Gewicht legen
müssen, ob stärkere Betonung nur aus dem Bestreben, das
Verständnis des Gesagten beim Hörer zu sichern, hervorgeht
oder aus stärkerer Gefühlsteilnahme. Im letzteren Fall wird
man den Satz zu den Ausrufungssätzen rechnen, z. B. der ist
groß!, das ist herrlich/ (S. 34). Entsprechend sind Sätze in
Aussageform, die aus der Absicht hervorgegangen sind, je-
manden zu einer Handlung zu veranlassen, z. B. du Jcommsi
mit!, als Aufforderuugssätze zu bezeichnen (S. 57). Für den
Hörenden können in allen solchen Fällen kaum je Zweifel
entstehen: für ihn sind die Tonmodulation, die Situation und
die begleitenden Gebärden wegweisend.
Die Tonart der Aussagesätze ist mit der Zeit von man-
cherlei angenommen worden, was ursprünglich andern Satz-
arten angehört hat, manches hat konventionell, durch Mecha-
nisierung in dem Maß die Natur seiner ursprünglichen Satz-
art aufgegeben, daß es mit der Bedeutungsmodifikation ganz
den Tonfall des echten Aussagesatzes bekam, z. B. er ver-
schwand hast du nicht gesehn um die ecke (ursprünglich er ver-
schwand — hast du nicht gesehn? — um die^cJic) mit derselben
Satzbetonung wie etwa er verschivand eilenden Schrittes um
die ecke, oder er läßt sich wer weiß was aufhinden etwa wie er
läßt sich alles mögliche aufhinden, oder griech. ag aXrid-ag, ur-
sprünglich *wie wahr!', z. B. in ävÖQsg ao<pol cjg aXrjd'öjg etwa
wie avÖQSs ovrog <3o(pol bvtsg (S. 37. 39).
Elemente, die ursprünglich nicht der schlichten Aussage
angehört haben und in sie erst herübergenommen worden sind,
finden sich am häufigsten in der Erzählung. Hier machen
sie sich als die Erzählung belebende dramatische Bestand-
teile geltend. Beispiele hiervon werden unten noch vorzu-
führen sein.
Im einzelnen bemerke ich noch folgendes.
7-1 Kari. Biukimann: \7^^,(^
\] Die i^cläiiiigsto l''orin des riiliij^(Mi, roiii vorKtiUules-
niiißijioii verbali'M AussagesatzoB z»'i}^t, wenn dif Aussage vom
(lefülil der Gewißheit des Mit/.iitoiK iidcii getragen wird, seit
uridg. Zeit diejoiiig<ri W'rljall'onmMi, dio in der Grammatik
Indikative heißen.
Dazu sind von vorn herein aucli die sogen. Iiijunktiv-
formen /u reclnion, soweit sie nicht, im Zusammenhang mit
der aus der Willensstimmung entspringenden besonderen Be-
tonuugsart. in den Dienst voluiitativer Äußerungen gestellt
Avorden sind (S. 54). Der Injunktiv erscheint in dieser indi-
kativischen Geltung vor allem in den augmentierten Verbal-
formen, d. h. in denen, die mit dem auf die Vergangenheit
weisenden Sprachelemeut *c versehen sind, z. B. griech. €-cpsQ£
ai. ähliarat arm. c-her (Verf. Grundr. 2^, 3, loff.).
2) Für Aussagen, die nicht von dem Gefühl vcilliger Ge-
Avißheit bezüglich der Wirklichkeit des Vorgestellten begleitet
sind, hatte man seit uridg. Zeit die Optativforraen, die in
diesem Fall als Potentialis bezeichnet werden, z. B. lat.
dixerit qimpiam^), griech. y 231 Qila ^a6g y' td^eXav aal
Ti]k6iyev üvÖQa öcmdia 'leicht errettet wohl ein Gott, wenn
er will, einen Manu auch aus der Ferne', ai. RV. 10, 117, 7
■prndnn äpir nprnanfam ahhi syät *ein Freund, der schenkt,
übertrifft wohl einen, der nicht schenkt'. Im Griechischen
bekam dieser Sin^ der Optativform noch einen besonderen
Exponenten durch den Zusatz der Partikeln xtv und av, die
ungefähr das bedeuteten, was wir mit allenfalls, eventuell,
unter umständen bezeiclinen (Brugmann-Thumb Gr. Gr.'* 572.
621. 62 6 f.). Vgl. Verf. Grundr. 2 2, 3, 85 6 ff.
Auf demselben Motiv der Unsicherheit des Urteils beruht
der Gebrauch des futurischen Indikativs, wo von etwas
Gegenwärtigem oder Vercrangenem die Rede ist. Z. B. das
wird so sein, das wird so genesen sein etwa so viel als das
dürfte so sein, gewesen sein, lat. Plaut. Pseud. 677 profecto hoc
i) Die von Kroll Glotta 7, iiyfF. über den Ursprung des poten-
tialen Konjunktivs im Lateinischen entwickelte Ansicht ist m. E. un-
haltbar. Vgl. Steomann Jahresber. des philol. Vereins 44, S. 66 ff.
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltüng usw. 75
sie erit 'dürfte wohl so sein', Plaut. Pers. 645 haec erit hono
genere nata: nil seit nisi verum loqui, Herenn. i, 11 de exordio
satis erit dietum (vgl. Cic. Ac. 2, 29 satis dictum sit, Inv. i, 30
satis dictum videtur). Die Wahl des Futurums beruht auf der
Erwartung des Sprechenden, daß sich seine Aussage als rich-
tig erweisen werde, vgl. Lessing Juden i, 2 ich werde Martin
Krumm heißen = ich heiße, wie man sehen wird, M. K., Ter.
H. T. nisi me animits fallit, haud multum a me aberit infor-
funium. Vgl. Verf. Grundr. 2^, 3, 791 f.
Diesem Gebrauch des Futurums steht nahe der bei Vor-
führung allgemeiner Wahrheiten. Man will ausdrücken, daß
nach den bisherigen- Erfahrungen das Eintreten eines Vor-
gangs oder Zustands erwartet werden kann, z. B. Herodot 5,
56 ovdslg dvd^QG)7t(ov ädixäv rCöiv ovk ccTCorsCöei 'kein Übel-
täter wird der Strafe entgehen', Ter. Ad. 55 nam qui mentiri
aut fallere insuerit patrem, fraudare tanto magis audebit eeteros,
lit. Sprichw. Jcäs vöks, nepralöps Ver stehlen wird (stiehlt),
wird nicht reich werden'.
3) Bei der Unsicherheit, in der man sich dem Künftigen
gegenüber hinsichtlich seiner Wirklichkeit oder Verwirklichung
oft fühlt, ist es begreiflich, daß sich mit Ausdrücken, die die
Zukunft eines Seienden oder Geschehenden bezeichnen, wie
er wird Tiommen, Ausdruckweisen gemischt haben, die ein
'modales' Bedeutungselement in sich enthalten.
Die sogen. Konjunktivformen des Arischen und Grie-
chischen werden seit vorhistorischer Zeit auch rein futurisch
('prospektiv', was Voraussicht ohne gemütliche Erregung be-
sagen will) gebraucht, z. B. RV. i, 48, 3 uvasosa uchac ca mi
'die Morgenröte ist vordem erschienen und wird auch jetzt
erscheinen', ^262 ov yccQ na roCovg Xdov ävsQug ovös l'dcoftat
'ich habe noch nicht solche Männer zu sehen bekommen und
werde sie nicht zu sehen bekommen'. In diesem griechischen
Satz ist ov zu beachten (gegenüber fiTJ mit Konjunktiv z. B.
in X 123 ^7^' (iLv ayco ^sv ixco^ai 'ich will ihm nicht nahen').
Ferner kommt in Betracht, daß bei diesem futurischen Ge-
brauch «V und xhv ebenso hinzutreten wie zum Indik. Fat.,
76 Kaut. Bruqmann: [70,6
7. B. A 387 oux CLV rot XQalöatpi ßibi; xccl ragcphg ioi 'niclits
wird dir lielioii der Bo»:;en und die diclitcn Pfeile'.
Eine Anzahl von kurzvokalischcn Konjunktiven im Grie-
cliischen und Italischen erscheinen ganz vorzugsweise in der
rein zeitlichen liedeutun^-, weshalb sie in der einzelsprach-
lichen Grammatik geradezu als ludieativi futiiri bezeichnet
werden, wie z. B. griech. fdo/i«r, xQE^icca^ lat. erOy faxo (Verf.
Grnndr. 2^, 3, 836).
Was ist nun bei den Konjunktivbildungen das Ursprüng-
lichere gewesen, die rein zeitliche oder die (den Zeitbegriff
eo ipso einschließende) voluntative Bedeutung? Hierüber
gehen die Ansichten auseinander. Was nicht zu verwundern
ist. Denn sieht man sich in den Gebranchsveränderuncren
um, die verbale Formensysteme in den im Lichte der Ge-
schichte stehenden Sprachphasen erfahren haben, so lassen
sich Analoga sowohl für die Entwicklung vom Futurischen
zum Voluutativen als auch für den umgekehrten Weg vor-
bringen. Vgl. Cauer Gramm, mil.^ 145 f., Verf. Grundr. 2^^
3, 748 ff. 834 ff. Jedenfalls haben bei der Gebrauchsdifferen-
zierung auch hier wieder Verschiedenheiten der Betonungs-
art als unmittelbarster Ausfluß der Seelenstimmung eine Rolle
gespielt.
4) Versicherung und Behauptung kleiden sich oft, na-
mentlich wenn sie nachdrücklich auftreten, in die Form des
Fragesatzes. Es sind das die sogen, rhetorischen Fragen,
Fragen, die selbst ihre Beantwortung in sich tragen. Nhd.
Jiab ich nicht recht gehabt?, hin ich etwa dein sMave?, wer gibt mir
hierfür auch nur einen dreier?, wer Itann ivissen, wann er ster-
ben ivird?, mhd. Ulrich v. Türheim 587, 6 wer vernam so
j(Bmerllc1ien tot an zwein gelieben ie me?. Ai. Säk. 59, 6 Burkh.
M Jcathä bänasqdhane 'welche Rede kann von Pfeilauflegung
sein?' so viel als 'keine Rede kann von Pf. sein', 76, 14
hhadre, Jcj hahiinä 'Beste, was bedarf es vieler Worte?', eigent-
lich 'wozu mit vielem?'. Griech. A iii, n&g yccQ rot da6ov6i
ysQag ^isyd^vfioL 'iiaioi? 'wie wird es den A. einfallen, dir
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 77
ein Ehren geschenk zu geben?', Xen. Oik. 12, i älXu yccQ,
scprjv iyäy fit] ds xaraXva aniivai ijör] ßovlon^vov? . Lat. Plaut.
Amph. 403 non sum ego servos Amphitruonis Sosia?, Tac.
Ann. 13, 21 vivere ego Britannico potiente rerum poteram?] oft
quid midta? . _
Diese Aussageforin kam in dem Fall auf, daß der Spre-
chende sich in engstem seelischen Kontakt mit dem Ange-
redeten fühlt. Man will etwas einem als richtig zu Gemüte
führen und sucht das dadurch zu erreichen, daß man sich
stellt, als wisse man das nicht, was man weiß; der Angeredete
soll sich selbst befragen, und der Fragende erwartet Zustim-
mung zu seiner Ansicht. Diese Form der Versicherung, die
G. V. D. Gabelentz Die Sprachwiss. 241 f. passend mit allerlei
sprachlichen Ironisierungen und Euphemismen vergleicht, ist
vielfach so konventionell geworden, daß sie gegenüber dem
gewöhnlichen Aussagesatz nur als eine etwas lebhaftere Form
der Äußerung erscheint.
Auf die nahe Berührung, die zwischen den rhetorischen
Frao-en mit g'-^o- und den Ausrufungssätzen der Verwunderung
mit 5"o- besteht, ist S. 38 hingewiesen worden. Wir haben
dort aber die übliche Herleitung des Ausrufsatzes mit q^-
aus der rhetorischen Frage abgelehnt.
In den rhetorischen Satzfragen wird oft 'nicht' ange-
wandt, indem der Redende die Negation eines Gedankens in
Frage stellt, um dadurch die Zuversicht in die Richtigkeit
des Gedankens anzudeuten, z. B. hah ich nicht recht?. Zu einer
völligen Mechanisierung dieser fragenden Ausdrucksweise hat
dies geführt bei griech. ovx-ovv und ai. nä-nu. Die mit
ovxovv ('nonne igitur') eingeleiteten Fragesätze waren ur-
sprünglich immer Fragen mit Erwartung bejahender Antwort,
wie Xen. An. i, 6, 7 ndhv 6 KvQog rjQara' Ovxovv v6t£Qov,
ag avtbg 6v biioloyelg^ ovöiv vTt e^ov ädixov^svog . . . xaxcbg
kitoisig ti]v ifiriv x^Qav? 'hast du also nicht später, wie du
selbst eingestehst, obwohl ich dir kein Unrecht zufügte, mein
Land geschädigt?'. Indem nun so eingeleitete Fragen geradezu
zu Behauptungen umgedeutet wurden, verblieb dem ovxovv
78 Karl Bkuomann: [70,6
nur noch die Funktion des Folgernd. Der Fnigetou verlor
sich dabei, und die als Einheit empfundene Partikel ouxovv
leitete nunmehr auch beliebige iiuderc ISatzarten ein, z. B. So])h.
Ant. Qi ovxof'i', orav öi) ^1) öOt'vco^ TteTtavOo^icct 'so werde icli
denn, wenn ich nicht mehr kaini, davon abstehen', Plato
Phaedr. p. 278 b ovxovv {'lÖrj Tcencdöi^co ^isr^Ciog ii^iv ra 7tei)l
Xöycjv (KüHNEK Geutii a. a. 0. 2, 163a'.). In ähnlicher Weise
wurde ai. nä-nu zunächst, in vorklassiseher Zeit, nur im Sinn
einer Negation augewendet, wie AB. 5, 14, 6 tq pituhravln
nanu te pHirahädn3r iÜ 'zu ihm sprach sein Vater: haben .sie
es dir, Sohn, denn nicht gegeben?'. Dann aber kommt es
auch, ohne Frageton, in Aufforderungen vor, z. B. nunUcyatüm
'es soll doch gesagt werden'. Vgl. Bkugmann-Thumb Gr.
Gr.'* 63 2 f.
Auf eine andre Art und Weise erscheint die Frageform
in der Erzählung, wenn ich z. B. sage: ich giruj (jestern in die
Stadt; wer begegnete mir da?, mein alter freund N. N. Man
spricht so, als ob man mit Neugierde des Zuhörers rechnete.
5) Im Verlauf der Erzählung von Geschehnissen geht
man von einem Tempus der Erzählung zum Impera-
tiv über.
Der Erzählende redet eine Person, von der er etwas er-
zählen will, so an, als wenn sie gegenwärtig sei. Besonders
bekannt ist diese 'ßTrocjTpoqti/' aus dem griechischen Epos,
wie zJ 12"] ovde 6t'&si>, Mavskas^ 9sol fiäxaQeg Xskd&ovro^
I 55 T^ov d^ ä:iaiisißö^evos TtQoöätprj^j Ev^aie avßüra.^) Irgend-
wie wird diese Darstellungsl'orm bei den Griechen an echt
Volkstümliches sich angeschlossen haben. ^)
i) Äußerliche, kaum zugleich an solches, was in der deutschen
Erzählungsweiae von früher her üblich war, anknüpfende Nachahmung
ist es, wenn Voss in der Luise sagt: Drauf antwortetest du, ehrivür-
diger Pfarrer von Grünau, und Goethe in Herrn, u. Doroth. : Doch du
lächeltest drauf, verständiger Pfarrer, und sagtest.
2) Di^ zuweilen, z. B. bei H. Düntzeb zu z/ 127, legegnende Auf-
fassung, diese Form der Anrede sei aus metrischem Bedürfnis her-
vorgegangen, ist Bieter verfehlt.
70,6] Veuscuiedenheitkn der Satzgestaltung usw. 7Q
Von andrer Art ist das Folgende. Wenn der Bericht-
erstatter, zu Ereignissen übergehend, bei denen es lebhaft
hergegangen ist, sich selbst besonders lebhaft in den Gang
des Geschehenen versetzt, kommt er dazu, den Handelnden,
von dem er erzählt, aufzufordern, das, was er getan hat, zu
tun. So in Scheffel's Trompeter: Dort hei Prag am tveißen
herge \ wird um Böhmens Jiron gewürfelt. \ Pfahgraf, 's ivar
kein kurzer winter, | pfalzgraf, hast die Schlacht verloren, \ sporn
den gaul und such das weite. Die Aufforderung hat aber oft
weniger den Anstrich, daß sie für den in Rede stehenden
Einzelfall erteilt wird, als den eines für derartige Situationen
allgemeingültigen Ratschlags: Heinrich v. Freiberg 1804 islicher
von dem andern sluoc \ da mangen stehelinen rinc. \ nii slaha
slah, nu dlnga ding, in dem Gedicht auf den Tod Adolfs von
Nassau V. 472 koninck Adolf voyr den sinen nä: | stich, slach,
vaa va\ Plaut. Trin. 288 f. qiiod manu non queunt tangere, tan-
tiim fas habent quo manus apstineant: \ cetera rape, trahe, fuge,
late: lacrumas hacc mihi, quom video, eliciunt, russ. izdali uvidit
lesca da i chvat' jego zubami 'aus der Ferne sieht er einen
Brassen und nun pack ihn (== packt er ihn) mit den Zäh-
nen'. Derartige Imperative nehmen leicht die Natur einer
interjektionalen Partikel an, wie nhd. husch: er sprang auf
und husch in den wald hinein, russ. davaj, eigentlich '^gib, be-
gib dich an...', dann 'vorwärts, nun los': haha hrosilas v
chvatku, uvidela cto d'evocka usla i davaj hit' kota 'die Alte
stürzte in die Hütte, sah, daß das Mädchen fort war, und nun
vorwärts schlug sie auf die Katze los'. Am verbreitetsten
ist dieser Imperativ für das erzählende Präteritum im Sla-
vischen. S. Delbrück Vergl. Synt. 2, 396 f., Verf. Grundr. 2^,
3, 826 f., VONDRAK Vergl. Slav. Gramm. 2, 281.
Zumteil hat man wohl den slav. 'Infinitivus historicus*
hier anzureihen, nicht mit dem Infinitivus historicus andrer
Sprachen (s. unten 6) auf gleiche Stufe zu stellen. Nament-
lich gilt das für den Fall, daß die auffordernde Partikel nu
(nutko) hinzugefügt ist, wie russ. Märchen guoje vylezli i nu
kumu hit' *zwci schlüpften heraus und nun los mit Hieben
8o Kaul Buuomann: [7°. <>
auf den Gevatter'. S. üklhuück Vfjrl. Synt. 2, 4581, Von-
DKÄK a. a. 0. 2, 415.
6) Der sogcuannte 'Infiuitivus historicus' begegnet
im Lateinischen und Baltisch-Slaviscben. Z. B. Plaut. Amph.
1 107 post(jna})i in cunas conditust, devolant angues . . . ego cunas
rece^sim rursuin vormm tfalicrc et diicere, Sali. Cat. 60, 4 maxima
vi cerfatnr. iiiterea Catilina cum expcditis acie versari, lahoran-
tibus süccurrere, integros pro Saudis arcessere, omnia providere,
midhun ipse piignare, saepe hostem ferirc. Lit. Märch. pashil
jisal pasmulie: „aJkim, vm mäno hrölei, vyJcim Jcatrq äsz atsi-
vedzau". tai je visl ß vyt 'drauf rief er: auf, alle meine Brü-
der, daß wir der, die ich hergebracht habe, nachsetzen; und
sie setzten ihr alle nach', lidlvis parrj^s tajaüs i visüs hampüs
jeszliöt 'als der Schmied nach Hause kam, suchte er sogleich
in allen Ecken', russ. Märch.: es wird erzählt, daß einer seine
Tochter zur Heirat zwingen will, dann folgt Älenuka plaJmt',
nicego ne pomogajet 'AI. weint, es hilft nichts'.
Wahrscheinlich ist hier nicht vom Imperativischen Ge-
brauch des Infinitivs anzugehen, wonach diese Erzählungs-
form mit 5) zu verbinden wäre, sondern mit Kretsciimer
Glotta 2, 2 70 ff. davon, daß der Infinitiv oft die RoUe eines
als Subjekt oder Objekt fungierenden Nomens bekommen hat.
Wie Schilderungen mittels freier, absoluter Substantiva ge-
schehen können — z. B. D. v. Liliencron Flatternde fahrten |
und frohes gedränge, \ fliegende kränze \ und siegesgesänge — ,
so können Infinitive, aus Satzzusammenhängen herausgelöst,
zum Zweck des Schilderns für sich selbständig angewandt
werden. Ehe solche Darstellungsart habituell wurde, schwebte
etwas wie 'das geschah', 'das tat er' vor, wonach der lufini-
tivus historicus seiner Entstehung nach zu den Sätzen ge-
hörte, die ich oben Kurzsätze genannt habe. Vgl. Verf.
Grundr. 2', 3, 944 ff.
7) Hat man etwas, was von andern oder auch von einem
selber früher gesagt oder gedacht war, zu berichten, so
war von Haus aus Wiedergabe in der originalen Satz-
gestaltung das übliche: er sagte: ich bin krank. So ist es
70, 6] Verschieuenueiten der Satzgestaltung usw. 8 1
nicht nur im Altindisclien bis in die historische Periode hin-
ein geblieben, sondern hat sich vielfach auch bei andern
Völkern in der lebendigen Rede, wenigstens in der Sprache
des gemeinen Mannes, als die übliche Art der Wiedergabe
erhalten. In der Regel ging nun dieser Reproduktion etwas
wie 'er sagte', 'er meinte' voraus, und so ergab sich das Ge-
fühl für eine 'Abhängigkeit' des als fremde Rede oder Mei-
nung Wiedergegebenen. Dieses Gefühl für 'Oratio obliqua'
bat auf die Satzgestaltung in mannigfacher Weise eingewirkt.
Eine von den dabei vorgekommenen Neuerungen mag
wegen ihres besonderen Interesses für die Satzgestaltung hier
genannt sein. Es heißt z. B. bei Thuk. 2, 12, 3 toGovds htccov,
8xL r]da i] rjfiSQa rolg "ElXriöi ^syakav xaxäv ccq^si^ i, 137, 4
idrjkov ö' i] ygcccprj^ ön ®eixi6toxXy}g ijuco TtccQcc <?£, vgl. auch
Plat. Phaed. p. 50c löag av sinoisv^ ort ;ti) d'av^iaQB tä ksyö-
fisvci-, für ort auch cog. S. Stahl Krit.-hist. Synt. 5 64 f., Brug-
mann-Thumb Griech. Gramm.* 648. Entsprechendes im Ai.:
Lassen's Anth. Sanscr.^ 38 he sata tvani mamägra iti jalpasi
ifat tvq vinä mamänyä vallabhä nästi 'he du Lügner, bei mir
redest du so: außer dir habe ich kein anderes Liebchen'
(BÖHTLINGK Käl. Sak. S. 157 f., JoLLY Ein Kap. vergleich. Synt.
110, Speyer Sanskr. Synt. 382 f.). Zur Erklärung dieses 'daß'
darf man nicht in die Zeiten zurückgehen, wo die Nebensatz-
konjunktion noch demonstrativen Sinn gehabt hat, wo also
z. B. er sagt, daß es regnet noch so viel als er sagt das: es
regnet war. Vielmehr hat, nachdem durch eine Verschiebung
der syntaktischen Gliederung ort und pat längst zu Neben-
satzkonjunktionen geworden waren, eine neue Gliederungs-
verschiebimg in entgegengesetzter Richtung stattgefunden: die
Konjunktion wurde in der Auffassung der Satzgestaltung
wiederum zum Satz mit dem Verbum des Sagens geschlagen. ^)
i) Dies geschah nicht, wenn das Verbum des abhängigen Satzes
in den Modus obliquus (Optativ) übergeführt wurde. Aber auch nicht,
wenn zwar das Verbum in dem Modus der direkten Rede verblieb,
aber Personenverschiebung eintrat, wie z. B. Lys. 24, 15 Xiysi, mg vßgi-
Pha-hist. Klaiae 1918. Bd. LXX. 5. 6
82 Kari. Huuomann: I7O1 ^
Ähnliches bei old' ort ('sicherlich'), öijXov otl, driXov6Ti ('ofleu-
bar'), £<y#' ÖT£ ('bisweileu'), hit. forsan forsitnn = fors sit an,
got. fcait-ei ('vielleicht, etwa'), nur dali in diesen Fällen diese
Entwicklung bis zur völligen Wortverschmelzung vorge-
schritten ist.
Wenn im Litauischen Märchen im lebendigen Vortrag
mit lad ('daß') beginnen, z. B. lad hüro hoäliHS 'e.s war (ein-
mal) ein König' (Leskikn-Buugmann Lit. Volksl.u. Märch. 160.
326), so geschah das wohl in der Absicht, kundzutun, daß
man von andern Gehörtes vortrage. Es schwebte also etwas
wie säl-o, lad ..., 'man erzählt, daß . . .' vor, wovon dann in
der Aussprache nur das 'daß' übrig geblieben ist. Wie weit
sich dieses einleitende lad in den Gegenden, wo es begegnet,
mechanisiert hat, ist mir unbekannt.
8) Kurzsatzformen sind hier verhältnismäßig selten.
Am seltensten jedenfalls in der Vorführung vergangener und
künftiger Geschehnisse, und zwar aus dem Grunde, weil hier
am wenigsten durch Gebärden und Situationsbewußtsein Worte
ersetzt werden können.
Die meisten 'Ellipsen' beruhen hier darauf, daß ein an-
deres Wort oder andere Wörter desselben Satzes, also der
Wortzusammenhang, oder auch der Zusammenhang von
Sätzen die richtige Interpretation des Gesprochenen an die
Hand geben, z. B. nhd. er auf und davon (vgl. die Beispiele
von abgekürzten Au.ssagesätzen bei Delbrück Vergl. Synt.
5, 122 ff.).
H.
Satzbildung im Dienste des Fragens.*) Der sprach-
liche Verkehr bewegt sicli zu einem großen Teil in Frage
ffTTjs sifxt xal ßiaioe, wo ein Angeklagter sich über einen Vorwurf des
Gegners beschwert und nun rög ei^i in erster Person von seinem eig-
nen Standpunkt aus sagt, den Indikativ aber noch aus dem Sinne des
Gegners gebraucht, über dessen Vorwurf er berichtet.
i) In mancher Hinsicht grundlegend für die wissenschaftliche Be-
handlung der Fragesätze ist die oben wiederholt genannte Abhandlung
von Th. luME Die Fragesätze nach psychologischen Gesichtspunkten
70, 6] Verschiedenheiten der SATZGESTALxuNa usw. 83
und Antwort. Beim Fragen muß eine, wenn auch sehr un-
vollständige, Kenntnis von der Sache schon vorhanden sein;
wo jedes Wissen fehlt, ist eine Frage unmöglich.
Es entsteht im Verlauf der Gedanken eine Stockung,
die als Spannung empfunden wird. Um diese zu beseitigen,
wendet mau sich an eine anwesende Person. Nun kann das
Fragen in der Form des gewöhnlichen Aussagesatzes vor sich
gehen, wenn man nämlich die Grundstimmung selber durch
ein besonderes sie bezeichnendes Wort kundgibt, z. B. ich
ivünsche über das und das etwas von dir zu hören. Auch kann
sich die Grundstimmung in die Form einer Aufforderung
kleiden: sage mir dein alter. Gewöhnlich aber baut sich der
Fragesatz auf dem Grund der Mittel, die auch für anderes,
namentlich für die Aussage, zu Gebote stehen, in der Weise
auf, daß nur der Frageton die Absicht des Fragens erkennen
läßt: du bist gestern abend angeJcommen?.
In allen idg. Sprachen unterscheidet man Ja-Nein-Fragen
(alias: Bestätigungsfragen, Satzfragen, Entscheidungsfragen,
Totalfragen), z. B. er ist geJcommen?, ist er gcJcommen?, und
Pronominalfragen (alias: Ergänzungsfragen, Bestimmungs-
fragen, Wortfragen, Partialfragen), z. B. tver ist gekommen?.
In den lebenden Sprachen steigt bei der ersteren Klasse die
Stimme in der Regel gegen den Schluß hin zu größerer Ton-
höhe an und hat sie in der zweiten Klasse am Schluß eine
steigend-fallende Kadenz. Vennutlich ist das im wesentlichen
so auch in den älteren Perioden gewesen. Bei der Ja-Nein-
Frage kommt oft noch eine — die Erwartung des Redenden
bekundende — Yerlangsamung des Tempos hinzu. Diese fand
bei den ludern in Plutierung ihre Bezeichnung: z, B. SB. 14,
8, 2, 4 vy äjnäsistäS 'habt ihi-^s verstanden?' (Autwort vy
äjnäsisnm), AB. 7, 28, 2 vettha hralimana tvq tq hhaJxsäSm 'kennst
du, 0 B., diese Speise?' (Antwort veda hi), TS. 6, 5, 9, i iq
eingeteilt nnd erläutert, 2 Teile, Cleve 1879. 1881. Daneben hebe ich
hervor Delbrück Der Gebrauch des Conj. u. Optat. im Sanskr. u. Griech.,
Halle 1871, S. 74ff., Vergl. Synt. 3, 259 flF.
84 Kaul Buuumann: [70. (»
VI/ äciliitsaj jnliävänlr^ mä hausiilm iti 'mit Jiozug auf den über-
len-te er: soll ich opforuV soll icli nicht oi)fc'rnV'.
Eine findere Doppelheit, die iille Spnu'hcn kennen, ist
foloeude. Entweder bezieht sich der Fra<;e8atz auf einen Tat-
bestand, z. B. er Icommt?, Icomnit er?, wer lammt?, oder aber
man will wissen, was oder ob etwas zu tun ist (sogen. Deli-
berativus), wofür man seit uridg. Zeit den Konjunktivus
verwandt hat, z. B. lat. quid faciam? (vgl. unten 6).
Daß die Wortstelhing im Fragesatz in uridg. Zeit eine be-
sondere Rolle gespielt habe, eine Avesentlich andere als in den
übrigen Satzarten, ist nicht ersichtlich.
Entspringt eine Frage meist nur dem reinen Wissens-
trieb, so drängen sich bei ihr doch oft diese und jene Affekte
dazwischen, Unlustgefühle des Zweifels und der Verlegenheit,
Staunen, Entrüstung, Unwille usw. Das gibt sich alles in
der Satzbetonung kund. Am häufigsten grenzt die Frage so
au den Ausruf, s. § 7, 4 S. 35.
Die sogen, rhetorischen Fragen sind ihrem Wesen
nach überhaupt nicht eigentliche Fragen, Erkundigungen,
sondern Versicherungen, Behauptungen. Sie sind demgemäß
schon in § 13, 4 S. yöff. zur Sprache gebracht worden. In
ähnlicher Weise läßt oft die Absicht, einen zu etwas aufzu-
fordern, die Form des Fragesatzes wählen, worüber § 9, 6 S. 6 1 .
1) Die auf einen Tatbestand gehenden Ja-Nein-
Fragen. Beantwortung wird entweder für den ganzen Inhalt
der Frage gewünscht, z. B. regnet es?, oder, indem ein Teil
der Fräse von vornherein als bereits bekannte Tatsache au-
gesehen wird", nur für den übrigen Teil, z. B. er ist gestern
gekommen?, ist er gestern gekommen?.
Die letztere Klasse steht mit den Prouominalfragen in-
sofern auf gleicher Stufe, als auch hier die zu behebende
Ungewißheit sich nur auf einen einzelnen Begriff innerhalb
der GesamtvorsteUung bezieht. Wie das pronominale Wort
hier seit uridg. Zeit an der Spitze des Fragesatzes steht als
das wichtigste Satzglied: wer Jiat das getan?, wo warst du?,
so heißt es, dieser Spitzenstellung entsprechend, im Nhd. z. B.
70,6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 85
gestern ist er geliommen?, ihn hast du getroffen?. Vgl. Erd-
mann-Mensing Gruudz. i, 186.
Die Ja-Nein-Fragen werden meistens gestellt, weil der
Fragende Bescheid über etwas haben will, über das er selbst
noch völlig im unklaren ist, z. B. Jcoynmt er morgen zurück?.
In diesem Fall erscheint in unsern idg. Sprachen oft neben
der einfachen Frage die disjunktive Form, z. B. liommst du
oder kommst du nicht?, kommt er schon morgen an oder erst
ühermorgen? Hierüber unten unter 8.
Oft aber legt man in den Fragesatz selbst schon hinein,
ob man mit der Wahrscheinlichkeit rechnet, ein Ja, oder mit
der, ein Nein als Antwort zu bekommen.
Erwartet man die Antwort Ja, so wird dem Verbum
'nicht' beigegeben: indem das Nicht- sein in Frage gestellt
wird, legt man den Gedanken an das Sein nahe, z. B. heißt du
nicht Emil?, got. Luk. 4, 22 ni-u sa ist sunus Josefis? 'ov^
ovtög Böxiv 6 vibg 'Iojdr](p?', ai. AB. 5, 14, 6 nanu te ■putrakä-
düSr iti 'haben sie es dir denn nicht gegeben?', griech. 0 352
ovicixi väL j öXXv^Evav /luvacov y.sxuöri<36}isd^ vötdriov tcsq?
Verden wir uns nicht, wenn auch so spät, um die im Unter-
gang begriffenen Danaer kümmern?', O 18 j) ov ^e^vr]? 'er-
innerst du dich denn nicht?', lat. Ter. Eun. 334 eho, nonne hoc
monsiri similest?, lit. ar tu jj ne-maici? 'hast du ihn nicht
gesehu?', aksl. Matth. 13, 55 ne Sh li jestt tektonovb sijm, ne
mati li jego naricajet^ s§ Marija? 'ov% ovtög iöxiv 6 rov tbk-
rovog rto'g, ovx'' i] pjtt;o avxov Isystai M(xqiu[.i?\
Dagegen geht die Ausdrucksweise in den idg. Sprachen
in dem Fall ganz auseinander, daß mau Nein als Antwort
, erwartet. Das Hauptuuterscheidungsmittel wird ursprünglich
die Art der Satzbetonung gewesen sein. Ai. RV. 10, 146, i
nä tvä liliir iva vindatiSn 'dich ergreift doch nicht etwa eine
Art Furcht?'. Lat. num in solchen Fragen (z. B. Plaut. Trin.
69 num quis hie alius praeter nie atque te?) war ursprünglicli,
auch noch im Beginn der Überlieferung, Fragepartikel über-
haupt (s. 3), und wie man dazu kam, ihren Gebrauch gerade
nach der Seite hin einzuschränken, daß als Antwort Nein
8ö IC \Ki. [{iti'ci.M.vNN: [70. ö
vorschwebt, ist uaklai- (vgi. Dkluhi'ck Verf^l. Syiit. 3, 264).
Durchsichtig sind (higegou griedi. /oj iiud got. ihai: ihre Au-
wcudung beruht, da sie auch sonst als 'l'rohibitivj)artii{elu'
fungieren, auf der Abwclir eines vorschwebenden Gedankens,
z. B. i 405 7) (u>^ Ttg o'fu iiiilcc /i(>ürojr atxomot; iXcci)V£L'r' 'es
treibt doch wohl nicht einer von den Menschen gegen deinen
Willen dir die Herden wegV', Luk, (), 39 ihai ma<j hlinds hlin-
(laud UuIküi? '^lyjri dvvccTui, rvcpXbg rvcpXbv b8i]yHv'f'\
2) Die auf einen Tatbestand gehenden pronomi-
nalen Fragen, z. ß. tver hat das getauY. ö. 38 sahen wir, daß
der Interrogativsiuu der Pronominalstämme *g"o-, *q'~i-^ '*q'-u-
zwar sicher aus der Zeit der idg. Urgemeinschaft ererbt war,
daß aber der andere, ebenfalls uridg. Gebrauch dieser Prono-
mina im staunenden Ausruf wahrscheinlich nicht so, wie man
meistens glaubt, eine Weiterentwicklung der Anwendung beim
Fragen gewesen ist. In der Pronominalfrage werden dem
Gefragten die Elemente des Urteils in fertiger Gestalt ge-
boten, und es ist nur eine Lücke auszufüllen: es fehlt im
Ganzen nur ein Baustein, auf den das Pronomen mit einer
man könnte sagen iuterjektionalen Kraft hinweist, und den
nun der Augeredete herbeischaäen soll. Bei diesem Charakter
des Interrogativpronomens ist es sofort verständlich, daß es
an die Spitze des Satzes tritt als das Element der Rede, das
in der Gesamtvorstellung des Satzes sich am stärksten her-
andrängt.
Eine Art von Zwitterdiug zwischen Frage und Aussage
ist es, wenn das Fragepvonomen im lauern des Satzes bei
einer Wortfolge erscheint, wie sie dem Aussagesatz eigen ist,
z. B. Karl der große ist wann? gehören.
3) In keiner Satzgattung spielen Partikeln als Charak-
terisierung der Satzart eine so große Rolle wie im Fragesatz. |
Die Ja-Nein-Fragen waren ursprünglich nur durch die
besondere Art der Satzbetonung gekennzeichnet. So auch
vielfach in historischen Sprachphaseu, z. B. RV. 10, 34, 6
prchämänö jesydmiti 'iutlem er sich fragt: werde ich siegen?',
A 2^1 Tovvsxd Ol ngo^iovöiv övsCdsa i.ivd"yjöKa&aL? 'stellen
70,6] Vehschikdexueiten der Satzgestaltung usw. 87
Bie ihm darum frei, Schmähimgen auszurufen?', Plaut. Amph.
962 aetatem meam scis?, got. Luk. 7, 44 gesaihis ßo qinon?
'ßkijia? ravzriv xfjv yvvaiw.?\ russ. Tolstoj Cem Ijudi zivy 6
idti mozeV? 'kannst du gehn?'.
Hier, zumteil aber auch in den Pronominalfragen, fanden
sich nun schon in uridg. Zeit häufig adverbiale Wörter ein,
die verschiedene, durch die Fragesituation nahe gelegte Begriffe
zum Ausdruck brachten, und deren Gebrauch sich dann in
dem Grade mechanisiert hat, daß sie im Zusammenhang des
Satzes schließlich nur noch die Fragestimmung des Sprechen-
den mit zu charakterisieren hatten.
Am weitesten verbreitet als Fragepartikel ist *nü 'nun,
jetzt': ai. mi nu, griech. vv vvv, got. nu nu-h, lat. num. Seine
ursprüngliche Bedeutung war der Hinweis auf die gegen-
wärtige Lage, deren Betrachtung den Sprechenden zu seiner
Fratre veranlaßt. Diese zeitliche Bedeutung läßt sich oft auch
noch in der historischen Zeit unterlegen: z. B. SB. 14, 6, i, 4
sä hainq papracha tvq nii khälu nö tjäjnavalkya hrähmisthö
'si3 iti 'er fragte ihn (nachdem Yäjnavalkya sich des für den
Weisesten ausgesetzten Preises bemächtigt hatte): bist du denn
nun, o Y., der weiseste von uns?'.^) Im lat. num ist diese
Funktion in der historischen Zeit schon erloschen (in der
zeitlichen Bedeutung hatte sich die Erweiterung niin-c an die
Stelle von num geschoben), und num ist nur als Fragepar-
tikel verblieben. S. Verf. Grundr. 2 2, 3, 993 f.
Andre Fragepartikeln sind von ähnlichen VorsteUunofen
ausgegangen, z. B. griech. äga (in ccqu lesb. dor. ijQa aus rj
äQCi) und lit. af (älter auch er) davon, daß sich die Frage
inhaltlich an die dem Sprechenden vorliegende Situation an-
schließt. In mehreren Sprachzweigen zugleich erscheinende
Partikeln dieser Art sind noch ai. ha lit. -gi -gu slav. 2e,
gthav. -nä lat. -ne (Glöckner Wölfflin's Arch. 11, 491 ff-,
I) Man vergleiche auch die Kurzsatzfrage nhd. nü? oder nun?,
i. B. wenn einer lange auf sich hat warten lassen und ich rede ihn
bei seinem Eischeinen an: nu? kommst du endlich?.
88 Kaku Brlomann: |70, 6
DKLHuiCK Vorgl. Synt. 3, -'(>:,, Verf. Gniiulr. 2-, ^, 995), Ut
a» got. au (Vorf. (iruudr. 2^, 3, 985).
Im iillgeitieiuon vgl. noch Dklhuück a. 11. O. Ö. 260 ff.,
Verl", a. a. 0. S. 979 ff.
4) Verselbständigte abhängige Fiagcsätze.
Im Deutschon bilden sie gewöhnlich die Aufnahme und
Wiederholung einer solion getanen Frage, /,. B. ob er kommen
uird'c' nach: wird er hommniY , oder ivunn crkommtY nach: wann
kommt er?. Doch erscheinen sie auch ohne das, indem dem
Sprechenden ein 'ich weiß nicht' oder dgl. nur vorschwebt:
oh er noch kommen wird?. S(j schon im Mhd. und zwar mit
dem Konjunktiv, z. B. Wolfr. Parz. ^t^ 22 wie er gemnieret sl?,
Walth. 25, 26 oh ieman spreche? 'ob wohl jemand sagen mag?'.
S. Ekdmann-Mensing Gruudz. i, 124.
Aus dem Altindischen sind zu nennen die mit kuvid 'ob'
eingeleiteten Sätze, die sich dadurch, daß das Verbum in ihnen
betont ist, formal als Nebensätze bekunden. Z. B. RV. 4, 5i; 4
kuvit sä devlh sandijo näv'ö vä ydmö hahhüydt 'ob das wohl, o
Göttinnen, eurer alter oder neuer Waagen sein mag?', 8, 91, 4
kuvic chäkat kuvit kdrat 'ob er wohl helfen, ob er wohl tun
wird?'. Die Grundlage waren also Perioden wie 8, 26, 10 as-
vinä SV fse stuhi kuvit te srävatd hdvam 'die Asvin, o Sänger,
lobe, ob sie etwa den Ruf hören'. S. Delbrück Altind. Synt.
315. 550, Vergl. Synt. 3, 261. 2731
5) Aus Stimmungen des Unwillens, der Mißbilli-
gung, Entrüstung gehen Fragesätze hervor mit der ihnen
eignen, auf der Mischung des interrogativen mit dem exkla-
mativen Element beruhenden Tonart, z. B. was?! ich ein
lüfjner?!. Sie können ebenso gut hier als auch beim Ausruf
untergebracht werden. S. § 7 S. 35 f.
6) Die 'deliberative' ('dubitative') Frage. Tritt bei
der Geltendmachung eines Willens eine Stockung ein, die zu
der Frage Anlaß gibt, was oder ob etwas geschehen soll, so
war in diesem Fall seit uridg. Zeit der Konjunktiv im Ge-
brauch. Das voluntative, nicht einfach futurische Piedeatungs-
70,6] Verschiedenheitek der Satzüestaltung usw.- 8g
element des Konjunktivs in diesem Fall erhellt u. a. aus der
Negation ^tj im Griech., wie Xen. Mem. i, 2, 45 cioreQov ßCau
(p&^sv r] firj (päiiev eivai?. Meistens handelt es sich um i. Per-
sonen, wobei man sich entweder von dem Willen eines an-
dern abhängig zeigt (vgl. vis, vocem huc ad te? Plaut. Capt.
360) oder von der eignen Überlegung (vgl. nescio: quid di-
cam? Plaut. Merc. ^zt^).
Maßgebend für die Bestimmung des Ursinnes des Modus
sind auch hier das Indische und das Griechische, da diese
Sprachen den Konjunktiv rein erhalten haben.
RV. 10, 95, 2 liini etd väca krnavä 'was soll ich mit die-
ser deiner Rede machen?', SB. i, 6, i, 6 hvahq bJiaväni 'wo
soll ich bleiben?', RV. 5, 41, 11 Jcatha mähe rudriijäya hra-
väma 'wie sollen wir zu der gi-oßen Marutschar sprechen?',
I, 65, 6 Jid j varät'e 'wer soll ihm wehren?', TS. 6, 5, 9, i tq
vy äciJcitsaj: juhäväniS ma hausaSm 'inbezug auf den überlegte
er: soll ich opfern, soll ich nicht opfern?'. Griech. o 509 n^
yccQ sya, (pCke tsxvov, l'cj, rev da^ad-' ixb:>ncci? 'wohin soll ich,
liebes Kind, gehen, zu wessen Haus mich begeben?', Eur. Ion
758 ei'Ttcj^sv 7] 6iyG)!.i£v? 'sollen wir reden oder schweigen?',^
Soph. Ai. 404 TTot rig ovv (pvyr]? 'wohin soll man fliehen?'.
Lat. Enn. tr. 231 quo nunc me vortam? quod iter inci-
piam ingredi?, Plaut. Capt. 208 quo fugiamus?, Ov. Met. 3, 204
quid faciat? repetatne domum et regalia teda \ an lateat silvis ?.
Daß die i. Personen bei dieser Grundstimmung auch im 'In-
dikativ. Präs.' erscheinen, z. B. Plaut. Most. 774 T.eow.^ vocohuc
hoyninem? S. i, voca, beruht wahrscheinlich darauf, daß die
I. Sing, formal zugleich Indik. und Konjunkt. gewesen ist,
z. B, eo = ai. Konj. ayä (Verf. Grundr. 2-, 3, 52 8f. 849).
Im Gotischen erscheint bei der i. Sing, die sogen. Op-
tativform auf -au, die aber tatsächlich der Konjunktiv auf •#
mit angehängter Partikel u gewesen ist (Grundr. 2^, 3, 536):
Joh. 12, 27 ha qipau? 'xC dna?'', vgl. Phil. 1,22 hapar ivaljau,
ni Jcann 'was von bei dem ich wählen soll, weiß ich nicht'.
In der i. Plur. tritt die Injunktivform auf: Matth. 6, 31 ha
go Kaul Huuomann: l7u. ö
vuttjattt ai/)/ an Ira dri(jham (hJi/kih he wasjainia? 'tC ipdycoiitv
>] TL JTi'aufv i] xl ;^fo//i«A(o«£»^a.'''; über den Uberj^aiig /um
Optativ HUt.yniiHd a. S. 55.
7) K ui/.sat'/foriii ist aiu'li liioi- nicht selten. Am häu-
liusten erscheint sie in der Prononiinalfnigc, wie /viei^, woher,
nah in':', trohin des ueijs'^, «^riech. txol dt) xcd :T6&ev?; was
weiter^, Uit. quid prackrcaY.
8) Der Zweifel, der zum Fraj^eu drängt, ))ringt es mit
sicli, daß der Fragende oft niclit nur eine Vorstellung, die
ihm gekommen ist, ausspricht, sondern zwei oder auch mehr
Vorstellungen, zwischen denen er schwankt und bezüglich
deren er eine Entscheidung anstrebt. Es sind das die sogen,
disjunktiven Fragen. Diese Fragen scheinen, wie die ein-
fachen, in uridg. Zeit nur erst durch die Fragetonart gekenn-
zeichnet worden zu sein. Diese einfachste Gestaltung findet
sich am häufigsten noch im Altind., wo entweder in jedem
Glied oder wenigstens in einem Plutierung erscheint. Z. B.
RV. 10, 129,5 cbdhäh svid äslSd upäri svid äslSt Var es unten,
(oder) war es oben?', TS. 6, 5, g, i tä vy äcikitsaj juhäväniS
nid hausdSm iti 'mit Bezug auf den (den Soma) überlegte er
hin und her: soll ich ihn opfern, (oder) soll ich ihn nicht
opfern'?', TS. i, 7, 2, i chinätti sä nä chinattio iti liövaca 'er
sagte: schlägt sie, (oder) schlägt sie nicht?'.
Die Alternative als solche wurde im Av. und im Griech.
durch die Partikel *uc bezeichnet, die sowohl einzelne Satz-
teile als auch ganze Sätze in Gegensatz zueinander stellte
(av. va, griech. ii-fs rj-Ss). Y. 31, 17 Jcatärdm asava va drDgva
vä V9r^nva'te mazyö 'was ist das Größere, was der Anhänger
des Asa oder was der der Drug glaubt?', N 2^1 ^i ti ßtßlTjai,,
ßs^Bog ÖE 6£ tSLQSL axojxr'j, j rj£ rsv ä'yyskCi]^ fisr Sfi ^Iv&sg?
'bist du irgend getroffen und quält dich des Geschosses Spitze,
(jder kamst du einer Botschaft wegen zu mir?'. Vgl. Del-
brück Vergl. Synt. 3, 268f., Verf. Grundr. 2^^ 3, 987 f., Brug-
mann-Thumb Griech. Gramm.* 618. 624.
Im Av. konnte katärdtn, im nachhomer. Griech. tcötsqov
oder nötSQU, im Lat. atrwn, im Aisl. huärt 'welches von
70, 6] Veuschibdenheiten dek Satzgestaltunö usw. 9 1
beiden?' der Doppelfrage vorausgeschickt werden als ein zu-
nächst für sich stehender Satz. Es folgten dann im Av. vä
. . . vä, im Griech. im zweiten Glied ije, im Lat. ebenda an,
im Aisl. ebenda eda 'oder'. Durch Verschiebung der ursprüng-
lichen Gliederung wurde aber mit der Zeit das 'welches von
beiden?' nur noch als eine überhaupt fragesatzeinleitende Par-
tikel empfunden. Für das Av. vgl. außer der schon genannten
Stelle Y. 31, 17 noch N. 3 Jcatärom ä&rava ad^a"rundtn vä pa-
rayat gaed-anam vä aspar^m avat 'soll ein Priester auf Prie-
sterdienst (aus dem Haus) ausgehn, oder soll er für die Un-
versehrtheit seines Hausstands sorgen?'. Herodot i, 88 03 ßa~
öiksv^ xörsQOv liySLv tiqos «?£, tä voecov xvyyßivci^ ri Giyäv
hv Tip naQBÖvxL %qyi?. Plaut. Pers. 341 utrmn pro ancilla me
hohes an pro filia?. Aisl. Skirnism. 12, 1 Jiuart estu feigr eda
estu framgengimi '^ 'bist du ein Todgeweihter oder ein Toter?'.
Veränderung des ursprünglichen Sinnes von 'n6xtQov und
utrum ergibt sich auch daraus, .daß sie vor mehr als zwei-
gliedrigen Fragen auftreten: uoxi^ov . . . ij . . . ^ . . ., utrum
. . . an . . . an.
Im Got. erscheint meist im ersten Glied die Fragepartikel
-M, im zweiten Glied ßau, hinter dem -u wiederholt wird, im
Lit. in beiden Gliedern ar, wie in der einfachen Frage, oder
vor dem zweiten Glied überdies noch arbä 'oder', im Slav.
li in beiden Gliedern, dafür auch li — li, ili — ili. S. Delbrück
Vergl. Synt. 3, z-joL, Stkeitberg Got. Element.^ 221 f., Von-
DRAK Vergl. Slav. Synt. 2, 292 f.
Nachtrag zu S. 23 Zeile 8flf.
Eine gewisse Breite des Schwankens der Lautung besteht
natürlich überall von jeher auch außerhalb des Gebietes der
interjektionalen und onomatopoietischen Sprachäußerungen.
Das ist von der idg. Sprachforschung immer angenommen
worden, auch seit das Axiom von der sogen. Ausnahmslosig-
keit der Lautgesetze oder Regelmäßigkeit (Konsequenz) der
mechanischen Lautbewegung auftauchte und Anerkennung
92 Kahl üuikjmann: [70,6
fand. Ich nuH'hte das hier ausdriicklich l'est.stclK'u mit Ifüi-k-
sirht auf die ueuerlicbt'n, mir während des Druckes dieser
Al)handUmg /u Gesicht gekomnienoti Hemerkuufrou über die
Lauttijesetzfrane von Licn SriTZKic im Literaturljhitt für pjerni.
und rom. Phil. 191 8 S. 5 ff. Was dieser wie einen <fruud-
sätzlichen Unterschied im Verfahren der jetzif^en 'Sprach-
vergleicher' und 'Komanisten' hinstellt, halte ich für un-
iiuüjobracht. Daß man, wie SriTZKU sagt, um Ordnung in die
01)jekte einer Wissenschaft zu bringen, zuerst die vereinheit-
lichende, meist grobschlächtig verfahrende Klassifikation der
Erscheinungen vornehmen und dieser dann die 'Feiusortie-
rung' und Individualisierung folgen lassen müsse, ist sicher
richtig. Die Indogermanistik sei aber, fährt Spitzer fort,
heute noch im allgemeinen bei der Anschauung von der
'Gleichförmigkeit der Welt' stehen geblieben, ihr fehle die
differenzierende Betrachtung, wie sie bei den Romanisten
heute vorherrsche, und — wie man nach dem Zusammenhang
doch Avohl annehmen mnß — fehle auch die Einsicht in die
Notwendigkeit dieses Verfahrens. Ich denke, das Verständnis
dafür, daß von jeher überall nicht nur zwischen den verschie-
denen Angehörigen derselben Sprachgenossenschaft, sondern
auch bei demselben Individuum bei aller Gleichmäßigkeit
auch allerlei Unregelmäßigkeiten und Schwankungen in der
Lauthervorbringung eines Wortes an der Tagesordnung ge-
wesen sind, ist in beiden Wissenschaftszweigen gleichmäßig
vorhanden. Der Romanist hat freilich weit mehr Gelegenheit
als der Indogermanist, jene feineren Differenzen zu bemerken
und ihnen nachgeben zu können, und das macht den Unter-
schied. Denn der Romanist hat es in weit höherem Maße
mit lebenden Sprachen oder der Gegenwart näher stehenden
Sprachphasen zu tun, und wo er nur auf Grund schriftlicher
Überlieferung aus vergangeneu Zeiten arbeitet, ist die älteste
Handschrift, in der Regel wenigstens, nicht durch die Hände so
sehr vieler Abschreiber gegangen. Wo zwischen der Urschrift
und der ältesten auf uns gekommenen Fassung eines Literatur-
werks eine längere Reihe von Jahrhundf^rten liegt, sind die
70, 6] Verschiedenheiten der Satzgestaltung usw. 93
ursprünglichen Ungleichm'äßigkeiten gewöhnlich stark zerstört,
sei es durch die Untugenden der Abschreiber, sei es durch
nivellierendes Eingreifen schulmeisterlicher Grammatiker, sei
es durch noch andere Umstände. Daß die %Sprach vergleicher' auch
für das Sinn haben, was Spitzer bei ihnen allzusehr vermißt,
zeigen u. a. zahlreiche Bemerkungen über die Sprache inschrift-
licher Urkunden, alter Papyri, Fluchtafeln u. dgl, die sich in
ihren Arbeiten finden. Wo sie ins Vorhistorische hinein-
steuern, mangelt es bei ihnen allerdings an der Teinsortie-
rung', aber doch nur aus denselben Gründen wie etwa bei
dem Paläontologen, der mit Tier- und Pflanzenresten aus ferner
und fernster Vergangenheit zu tun hat.
1*
SITZUNG AM 2. FEBRUAR 1918.
Herr Hkinze spricht über die Art der Erzählung in Ovids
Fasten und ihre Vorläufer in der hfUenistischen und römischen
Dichtung. Wird später in den Berichten erscheinen.
Eine von Herrn Dr. Buchwali» geplante Sammlung von Leip-
ziger Uuiversitütsredon aus dem 15. Jahrhundert wird für die Ab-
handlungen angenommen.
Für das Arabische Wörterbuch des Herrn Fischer werden
6000 M. bewilligt füi- deu Fall, daß diese Summe nicht vom Kar-
tell übernommen wird. Herrn Kötzschke werden weitere 800 M.
ausgeworfen zur Durchführung seiner Studien auf dem Gebiete des
Agrar- und Siedlungswesens in Belgien.
SITZUNG AM 4- MAI 1918.
Herr Bktre spricht über Medeaprobiemo. Gedioickt in den
Berichten Bd. 70, Heft i.
Der stellvertretende Sekretär Herr Hkiszk logt eine Abhand-
lung von Herrn Koscher über den Omphalosgodanken vor und eine
weitere von Herni HiitzEL hinterlassene tmd von Hen-u Goetz
herauszugebende über den Namen. Erstere ist in den Berichten als
Bd. 70, Heft 2 erschienen, letztere als 2. Heft des 36. iJandes der
Abhandlungen.
Für das Corpus Inscriptionuiu Etruscarum werden 1500 M.
bewilligt.
An Stelle des verstorbenen Sekretärs Heiru Haück wird Herr
SiEVERS für den Rest der laufenden Amtsperiode als Sekretär gewählt.
ÖFFENTLICHE GESAMTSITZLNG AM 29. MAI 19 18
zur Feier von Königsgeburtstag
s. Berichte der mathematisch-physischen Klasse.
SITZUNG AM 6. JULI 1918.
Herr Stieda trägt vor über das deutsche Element au der
früheren Universität Wilua. Wird in den Berichten erscheinen.
GESAMTSITZUNG AM 15. JULI 1918.
Die Herren Murko und Körte werden zu Mitgliedern der
philologisch-historischen Klasse gewählt.
l'hil.-hLit. Klasie loifc. F.d. LXX. -. i
j* SrrziiNusnEKicuTK.
(iESAMTSITZUNG AM 21 OKTOBER 19.8.
Frau Dr. AvKNARius-Hoidclbcrcj h;it tcstiiniontiiriscli oino Avo-
tiarius-Stittung zur Fördorun^ wissenscliaftliclicr Arbeiten errichtet,
welche die Theorie und Geschichte des menschlichen Erkonneus von
psychologischen Gosichtspuiikten aus behandeln, und hat die Süchsi-
iiche Gesollschaft der Wissenschaften an erster Stelle in den Genuß
der Stiftung eingesetzt. Die Stiftung wird angenommen.
In der an die Gesanitsitzuiig angeschlossenen Sitzung der
philologisch-historischen Klasse legt Herr Köstkh Prolegoniona zu
einer Ausgabe der Werke Theodor Storms vor, die inzwischen in
den Berichten als Bd. 70, Heft 3 erschienen sind, und Herr
SciiMARSow eine Abhandlung über Kompositionsgesetze frühgotischer
Glasgeniälde, die sich als 3. Heft des 36. Uandes der Abhandlungen
im Druck befindet.
GESAMTSITZUNG AM 14. NOVEMBER 1918
s. die Berichte der mathematisch-physischen Klasse.
Die Gedächtnisreden auf die in diesem Jahre verstorbenen Mit-
glieder der philologisch -historischen Klasse, die Pferren Hirzel
und Hauck, werden von den Herren Kürte und Seelioer gehalten.
Gedruckt S. 3* ff-
In der anschließenden Klassensitzung wird das Springerstipen-
dium HeiTn Dr. J. JAHN-Orlandshof verliehen, aus dem Ertrag des
Härteischen Legats die Summe Von je 2000 M. den Herren Dr.
E. F. Weidneu- Perleberg und Dr. Tu. 0. H. Achelis- Hadersleben.
SITZUNG AM 7. DEZEMBER 191 8.
Der Sekretär legt eine Untersuchung des Herrn Brugmann vor
über Verschiedenheiten der Satzgestaltung nach Maßgabe der seeli-
schen Grundfuuktionen in den indogermanischen Sprachen. Sie ist
in den Berichten als 6. Heft von Bd. 70 erschienen.
Für die Jahre 19 19 und 1920 wird Herr Sieveks als Sekretilr,
Herr Heinze als stellvertretender Sekretär gewählt.
Für die Muharaedanische Enzyklopädie wird für das Jahr 1919
eine Unterstützung von 500 M. bewilligt.
3*
Worte zum Getlächtiiis an Rudolf Hii'zel
(1846 — 1917).
Gesprochen am 14. November 1918
von
Alfred Körte.
Wenn ich es auf Wunsch des Herrn Sekretärs unter-
nehme, das. Leben und Scbaflen des am 30. Dezember 1917
verstorbenen Rudolf Hirzel rückschauend zu würdigen, so
empfinde ich lebhaft, wie wenig ich für diese Aufgabe befähigt
bin. Es ist mir leider nicht vergönnt gewesen, Hirzel per-
sönlich kennen zu lernen, auch in brieflichem Verkehr habe
ich nicht mit ihm gestanden, die Fühlung mit dem Menschen
Hirzel fehlt mir also durchaus, und doch wird jeder, der
seine Werke liest, die lebhafte Empfindung haben, daß hinter
ihnen eine reiche, feine Persönlichkeit steht, die vielleicht das
Höchste und Eigenste mehr noch in persönlichem Verkehr
als in Büchern zu geben vermochte. Schwerer wiegt noch,
daß ich mir nur über einen Teil seiner überaus fruchtbaren
wissenschaftlichen Arbeit ein fachmännisches Urteil zutrauen
darf. Aber mit beiden Schwierigkeiten würden auch wohl
die anderen Vertreter der klassischen Altertumswissenschaft
in unserer Gesellschaft zu kämpfen haben. Hirzel war eben
eine Persönlichkeit, die sich nicht leicht und nur wenigen
erschloß, und er ging in der Wissenschaft so sehr seine eige-
nen Wege, daß die Zahl der klassischen Philologen, die ihm
mühelos überall zu folgen vermögen, nur klein ist. —
Hirzel ist ein Sohn unserer Stadt und hat die größere
Hälfte seines Lebens in ihr zugebracht. Sein Vater Salomon
Hirzel, aus einer alten Züricher Patrizierfamilie stammend.
l* AbVKKu Kökik: [71^7
war der Schwager TuKonoi: M0MM8l;N^, der Verlog^^r und
Freund Hkinbich v. Tkkusimikkb imd (Justav Krhytag^. In
den Erinnerungoi'. aus Hoiuom Leben hut Fklytao iliiu ein
schöuos Denkmal g«sotzt. ') Am 20. Miiiz 1846 goboron,
wucliJ» RuDOiii" HiHZKL in einem Hause auf, in dem feinst*'
Geisteskultur eelbstverständliche Lebensluft war, dm-ito doch
s«'in Vater für eip.en der besten Goothekenner und erfolg
reichsten (Toethesamniler seiner Zeit geilten. Der Eintiuß des
Elteruhause«, besonders des Vatert» auf Rudolf Hikzkl war,
wie mir Freunde bestätigen, ein sehr t^tarker und nuchhnl
tiger. x\.uf der Th(»masbehule erwarb 1 r die gediegene hunia
nistische Bildung, die das schöne Erbe der alten sächsischen
Gelehrtenschuleu ist; von seinen Lehrern gedenkt er in der
Vita seiner DiKsertatioii mit besonderer Wjlrme Ecksteins.
Im Frühjahr 1804 bezog er die Universität Heidelberg. Über
daf? dort verbnurlite Jahr berichtet seine v<.»n der üblichen
Schablone stark abweichende Vita freimütig „K(»echlvum,
Zellerum, Haeusserum, He.ltzmaunum ita audivi, ut rogionis
8ummae amoenitati siniul vacarem". Für seine wissenschaft-
liche Ausbildung fruchtbarer waren zweifellos die vier in
Göttingen verbrachttju yemesLer, wo ihn vor allen Hewmann
Sauppk fesselte, dem auch zusammen mit dem Vater seine
Dissertation gewidmet ist. Aber ihren Ab.schluß fanden seine
Studien nicht in Göttiugen, sondern in Berlin, der Stadt „tjuae
nunc ut futura Germanorum imperii sedes nemini praetereunda
est'*. Hier hat vor allem Moritz Haupt auf ihn gewirkt.
La Berlin wurde er am 29. Juli 1868 auf Grund einer Disser-
tation De bouis in fine Philebi euumeratis zum Doktor
promoviert. Auffallend ist, daß er während .seiner ganzen
Studienzeit der Universität .seiner Vaterstadt fern blieb, ob-
wohl doch gerade damals hier die pliilolugischen Studien
unter HiTSCHLs Leitung eine vielgefeierte Blüte erleijten. Der •
Gedanke liegt nahe, daß .schon der Student [RZlC'>. eine innere
Abneigung gegen die UiTSCHLsche Schule verspürte, die seiner
J- Ges. Wt-rke I iRf; ff.
70, 7] Worte zum Gedächtnis an Rldolp Hirzel. 5*
späteren [iichtung diametral entgegengesetzt war; ausschlag-
gebend für die Wahl der Hochschulen waren aber doeh wohl
die Freundschaft, die sein Elternhaus mit Koechly, Sauppe
und Haupt verband, und die verwandtschaftlichen Beziehungen
zu MoMMSEN. Auf das Studium folgte das Dienstjahr, und
bald darauf der Krieg 1870. Als Unteroffizier der Reserve
rückte er aus, nahm an der Schlacht von Sedan teil, lag dann
lange vor Paris und wurde, inzwischen zum Leutnant befor-
dert, am 2. Dezember durch einen Arm- und Brustschuß ver-
wundet. Mit dem Eisernen Kreuz geschmückt kehrte er als
Verwundeter in die Heimat zurück. Die ohne sein Wissen
als Manuskript gedruckten Feldbriefe ^) gewähren einen fes-
selnden Einblick in sein Kriegsleben; besonders charakte-
ristisch ist der Eifer, mit dem er sich den eintönigen Vor-
postendienst vor Paris durch die eifrige Lektüre französischer
Klassiker, Voltaire,?. Montesqcieus, Chateaubriamds, ver-
kürzte. Noch im Herbst 187 1 habilitierte er sich mit einer
Schrift „Über das Rhetorische und seine Bedeutung bei Plato"
in Leipzig, aber der Beginn der akademischen Lehrtätigkeit
wurde durch eine lange Studienreise nach Italien und Sizilien
bis zum Herbst 1872 hinausgeschoben. Die folgenden Leip-
ziger Dozentenjahre waren reich an fruchtbarer Arbeit, aber
nicht reich an äußeren Erfolgen. Die Art seiner Studien stand
dem damaligen philologischen Betrieb in Leipzig so fern, daß
man ihn kaum als Philologen gelten ließ und ihm die üm-
habilitierung für Philosophie nahelegte. Er wurde zwar 1877
zum außerordentlichen Professor ernannt, übernahm auch 1885
zusammen mit Otto Crusius die Leitung der Proseminar-
übungen, aber die Berufung auf einen selbständigen Lehrstuhl
ließ bis 1886 auf sich warten, und die Zahl seiner Hörer war
gering. Einen weiteren Wirkungskreis erschloß ihm erst der
Ruf nach Jena, wo er zunächst als außerordentlicher, vom
i) Briefe von R. H. währead des Feldzuges 1870, vor gänzlichem
Vergilben gerettet und zu bleibender Erinnerung für die Familie ohne
Wissen des Verfassers in Druck gegeben durch H. H. Leipzig, Weih-
nachten 1881.
6* Alfred Körte: [70, 7
5. Miii 1888 au als orclentlioher l'rofcssor gelehrt liat. Biilri
nach der Jcueuser herufiuij^ liolte er sich aus der Vaterstadt
die Gattiu, Dorothea SruiNGKK, Antox Spkinokks Tochter,
die ihm bis zum Tode als treuestc, verstäudnisvolisto Gefährtin
zur Seite stand. Dor Kindersegen blieb diesem Bunde ver-
sagt. Der schönen, kleinen '.IhüringeM- Hochschule treu zu
bleiben, wurde ihm von den deutschen Universitäten uicht
eben schwer ^eniaclit, nur einmal (1897) erhielt er einen Ruf
nach (ließen, den er ausschlug, große Universitäten haben
sich nie ernstlich um ihn bemüht, und im Grunde hätte wohl
auch das Leben an einer großen Universität mit der starken
Belastung durch äußere Berufsarbeiten für seine stille, feine
Gelehrtennatur wenig Verlockendes gehabt. Daß gleichwohl
seine Forschertätigkeit in immer steigendem Maße im Kreise
der Fachgenosseu und darüber hinaus Anerkennung fand,
lehren die Wahl zum Mitglied unserer Gesellschaft (13. i. 1896),
zum Mitglied der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissen-
schaften (18. II. 191 1) und die Ernennung zum Ehrendoktor
der Leipziger juristischen Fakultät (5. 2. 1913). Von äußeren
Erlebnissen seiner späteren Jahre nenne ich nur noch zwei
längere Studienreisen nach Griechenland und Kleinasien, 1898
und 1908, deren zweite auch seinem Plutarchbuch zugute
kam. Im Herbst 191 2 befiel ihn, der sich bis dahin bei den
alljährlichen Schweizerreisen noch große Bergbesteigungen
zumuten durfte, eine schwere, nicht ganz aufgeklärte Krank-
heit, die ihn 19 14 zur Einreichung seines Abschiedsgesuches
veraulaßte. Wider sein eigenes Erwarten besserte sich aber
sein Befinden allmählich, er konnte von dem vorbehalteuen
Recht, Vorlesungen anzukündigen, Gebrauch machen, aber zu
einer wirklichen Aufnahme der akademischen Tätigkeit ist es
dann im Kriege nicht mehr gekommen. Wohl aber gewann
er wieder Kraft und Stimmung zu wissenschaftlicher Tätig-
keit, eine größere Arbeit über den Namen, die demnächst in
den Abhandlungen unserer Gesellschaft erscheinen wird, war
fast abgeschlossen, als ihm am 30. Dezember 1917 der Tod
die Augen schloß.
70, 7] Worte zum Gedächtnis an Eudolk Hirzel. 7*
So ist sein äußeres Leben, wenn man von dem heroischen
Zwischenspiel des Krieges 1870 absieht, in stillen, glatten
Bahnen, ohne Stürme und fast ohne Klippen verflossen, eis
typisches deutsches Gelehrtenleben. Um so eigenartiger, vom Her-
kömmlichen abweichender ist das Bild des Forschers Hirzel
Es hat in den letzten 50 Jahren wohl kaum einen klassischen.
Philologen gegeben, der so ganz unbeirrt von herrschenden
Strömungen seinen eigenen Weg gegangen ist, dessen Lebens-
arbeit so ganz ohne äußere Anstöße und fremde Einflüsse
aus der Tiefe der eigenen Natur organisch herausgewachsen
ist. ,,Ich habe die Probleme nicht gesucht, sie sind mir zu
gewachsen,'"' sagt er selbst in einem Dankbrief für die Glück
wünsche seiner Fakultät zum 70. Geburtstag*), das trifft den
Nagel auf den Kopf. In der Zeit seiner Entwicklung zum
Forscher galt die recensio, die Herstellung und Säuberung
der antiken Texte, durchaus als die wichtigste, manchem
sogar als die einzige Aufgabe der klassischen Philologie,
HmzEL aber hat niemals einen antiken Text herausgegeben,
ja er hat niemals eine Arbeit veröffentlicht, die ganz oder
vorwiegend der Textkritik gewidmet war. Schon seine Dis-
sertation dient der anderen philologischen Hauptaufgabe, der
interpretatio, und dieser Aufgabe ist er sein Leben lang
treu geblieben; den Gedankeninhalt der antiken Literatur zu.
verstehen und zu erklären, sein Fortleben durch die Jahr-
hunderte bis auf unsere Zeit zu verfolgen, ist stets sein
Hauptziel gewesen. Aber auch seine Exegese beschränkt sich
scheinbar auf ein kleines Gebiet. Keine seiner Arbeiten be-
handelt die antike Poesie, von einem mißglückten Versuch,
eine hellenistische Philosophenkomödie zu rekonstruieren*)
und einer 2 Seiten langen Miszelle zu Aristophanes' Wolken^)
abgesehen, fast niemals hat er sich zu den attischen Rednern,
i) Die Kenntnis dieses Schreibens und andere wertvolle Mittei-
lungen verdanke ich Herrn Geheimrat Goetz in Jena.
2) S. Schriftenverzeichnis Nr. 15.
3) S. Schriftenverzeichnis Nr. 6.
S* Alpubd Köktk: 1/0,7
nur einmal zu viurm griechischen Historiker^) goäubcrt, uio-
mals eine grieihische oiler lateinische Inschrift erklärt. Diese
Kinseiti^jfkeit ist aber nur eine schciiibim', deun seine Werke
eigen immer wieder. <l;ilJ er mit <ler Ljriochischen und römi-
schen Toesie im weitesten ümlun^ innig vertraut war'-), Ived-
ner und Historiker genau k:innt»', auch Inschriften für seine
Zwecke sehr wohl zu benutzen wnßti . Kr fühlte nur nicht
das Bedürfnis, sich zu diesen Gebieten in besonderen Arbeiten
zu iiubern, du ihn die Probleme ganz in Anspruch nahmen,
die ihm von innen heraus immer neu zullos.sen. (yharakte-
-istisch ist auch, daß er niemals eine fremde Arbeit rezensiert
Qat, auch das schien ihm \vohI eine Ablenkung von den
eigenen Aufgaben.
Bei fast allen seinen Arbeiten sind die 1^'äden noch deut-
lieh zu erkennen, die sie ideell mit seiner Dissertation über
die Güterliste am Schluß von Piatons Philebos verbinden.
Aul' diese Erstlingsschrift, die mit jugendlichem Wagemut
<iine sehi- schwierige Frage der Platonischen Philosophie auf-
zuhellen suchte, folgte die Habilitationsschrift über das Rhe-
torische und seine Bedeutung bei Plato, und an diese schlössen
sich eine ganze Reihe von Aufsätzen verschiedenen Umfaugs
an, die entweder Einzelfragen der Platonischen Lehre behan-
delten, ich nenne Über den Unterschied der ötxuioövvri und
der 6o3(pQo6vvri in der Platonischen Republik^) und Pytha-
goreisclies in Piatons Gorgias*), oder sich mit der Philoso-
phie von Piatons Vorgängern und Nachfolgern beschäftigten;
dahin gehören z. B. Demokrits Schrift ütegl «v^v/itV/g^), über
den Protreptikos des Aristoteles^), über Entelechie und En-
i) S Schriftenverzeichnis Nr. 24.
2) Für das Werk seines Freundes Gardthalsen über Augustus und
seine Zeit hat er Übersetzungsproben beigesteuert (s. Schriftenverzeich-
nis Nr. 30).
3) S. SchriftenTerzcichnis Nr. 3.
4) S. Schriftenverzeichnis Nr. 8.
5) S. Schriftenverzeichnis Nr. 10.
6) S. Schriftenverzeichnis Nr. 4
yo, 7] Worte zum Gedächtnis an Rudolf Hirzbl. 9*
delechie^), de logica stoiconim.^) Die Hauptfrucht der Leip-
ziger Jahre aber waren die umfassenden Untersuchungen zu
Ciceros philosophischen Schriften, die Ton 1877 — 1883 in
drei Teilen erschienen.^) Ciceros philosophische Schriften
sind eine unserer Hauptquellen für die Kenntnis der nach-
aristotelischen griechischen Philosophie, und die Untersuchung
ihrer Quellen daher eine für die Kenntnis der jüngeren grie-
chischen Philosophenschulen außerordentlich wichtige Aufgabe.
Wenn sich auch natürlich bei weitem nicht aUe seine Ersreb-
o
nisse dauernd in der Wissenschaft behauptet haben, so haben
doch seine Untersuchungen die weitere Forschung nachhal-
tig angeregt, und seine Grundanschauung, daß Cicero in der
Regel nur eine Quelle, auch diese oft nur in Auszügen be-
nutzt, ist jetzt wohl die herrschende. Besonders wichtig aber
ist sein Nachweis der Wandlungen, die im Laufe der Zeit
die nacliaristotelischen Schulen, Tor allem die Stoa, dui'ch-
m achten.
HiRZELS Antrittsrede als ordentlicher Professor in Jena
(5. Mai 1888) gab ihm Gelegenheit, seine Auffassung vom
Wesen seiner Wissenschaft vor einem weiteren Kreise zu
entw^ickeln.*) Er tritt hier in verschiedenen Punkten einer
berühmten Kektoratsrede Hermann Useners, Philologie und
Geschichtswissenschaft, entgegen, die er freilich teilweise miß-
verstanden hat.'') Hatte Usener der Philologie den Rang
einer eigenen Wissenschaft abgesprochen und sie für eine
Methode der Geschichtswissenschaft, und zwar die grund-
legende, maßgebende erklärt, so verficht Hirzel entschieden
die Ansicht, daß die klassische Philologie eine selbständige
Wissenschaft mit eigenem Leben und eigenen Zielen sei. Ihr
i) S. Schriftenverzeichnis Nr. 16.
2) S Schriftenverzeichnis Nr. 1 1 .
3) S. Schriftenverzeichnis Nr. 9, 12 und 14.
4) S. Schriftenverzeichnis Nr. 20.
5) Es ist Ü8EKER nicht eingefallen, die Konjektnr für die Blüte
der philologischen Tätigkeit zu erklären, „zu der alles Übrige, der
£;aBze ungeheure Apparat, sich nur wie das Mittel zum Zweck verhält."
lu* Ai>KRKi> Köktk: [70,7
Gedeihen ist ihm von dem /ustrom nouon Materiuls, iiuf den
er nicht mehr holVt, <]ronau so uniibhiingi}]; wie z. B. das der
Mathematik, denn jede Zeit richtet an das gleiche Material
neue Fragen, und die Wissenschaft ist so lange lebendig, als
sie sich neue Probleme stallt. Wenn er am Schluß die Sün-
den der zeitgenössischen Philologie freimütig zugCHteht und
sagt: „Die Zeit hat sich von den Philologen abgewandt, weil
die Philologen sich von der Zeit abgewandt liaben. Sie stehen
in der Kegel nicht auf der Höhe der modernen Bildung . . .
sie haben vergessen, daß der erste, der sich einen Philologen
nannte, Eratosthenes, einer der universalsten Geister des Alter-
tums war'' — so hatte er ein besonderes Kecht zu diesem
V^orwurf, denn seine eigene Bildung war von staunenswerter
Weite und Tiefe. Eine bis in das Alter festgehaltene pein-
lich genaue Zeiteinteilung ermöglichte es ihm, den Weg „des
ewigen Lernens und Lesens'' immer weiter zu verfolgen, den
er in dem erwähnten Brief an die Fakultät als den ihm ge-
mäßen bezeichnet. Weit über die Grenzen der eigenen Wis-
senschaft hinaus führte ihn der unermüdliche ßildungsdrang.
Die klassische Literatur aller Kulturvölker, vor allem die
französische, italienische, spanische, englische von der Rcnais-
sancezeit bis ins 19. Jahrhundert war ihm wohl vertraut^);
mit besonderer Vorliebe versenkte er sich in die Schriftwerke
der englischen und französischen Aufklärungszeit.
Der lleichtum seiner Bildung tritt schon eindrucksvoll
zutage in dem ersten Hauptwerk seiner Jenenser Zeit, dem
1895 in zwei Bänden erschienenen Dialog. 2) Von den ersten
Anfängen an wird die Kunstform des Dialogs ausführlich
durch das ganze griechisch-römische Altertum und dann skiz-
zenhaft durch Mittelalter, Renaissance, Aufklärung, Romantik
bis auf Stkausz und Schopenhauer verfolgt. Eine beson-
ders günstige Kunstforra für eine so weit gespannte Mono-
graphie war der Dialog im Grunde nicht. Denn wenn Hirzel
i) Freilich nicht die moderne Forschung über die Literatur, was
ihm Vorwürfe eingetragen hat.
2^ S Schriftenverzeichnis Nr. 25.
70, 7] Worte zum Gedächtnis ax Kudolf Hikzkl. i i*
im Eingang mit Recht betont, Dialog sei nicht Gespräch, son-
dern Erörterung, so zeigt sich, daß der echte Dialog, die Er-
örterung, die in gemeinsamem Suchen und Forschen neue
wissenschaftliche Ergebnisse hervorbringt, nur in einer kurzen
Spanne Zeit bei den Sokratikern wirklich lebendig gewesen
ist. Schon Aristoteles setzt den lehrmäßigen Vortrag eines
Hauptredners, neben dem die übrigen Mitunterredner keine
gelbständige Bedeutung haben, an Stelle der gemeinsamen
schöpferischen Erörterung, und damit ist der Dialog im Grunde
getötet. Weitaus der größte Teil von Hirzels Werk be-
schäftigt sich also mit dem künstlichen Scheinleben einer in
Wahrheit abgestorbenen Gattung. Die Wirkung des ebenso
gelelirten wie gedankenreichen Buchs wurde durch gewisse
schriftstellerische Schwächen beeinträchtigt, die Hikzel nie
ganz überwunden hat. Es wurde ihm schwer, die Haupt-
linien einer Entwicklung klar und scharf herauszuarbeiten,
die Darstellung fließt in einer stets geschmackvollen, von
jeder falschen Rhetorik freien, aber auch der fortreißenden
Höhepunkte entbehrenden Sprache dahin, ungern versagt er
sich, auf Nebendinge, die ihn gerade interessieren, ausführlich
einzugehen, und vor allem fröhnt auch er der alten stilisti-
schen Untugend deutscher Gelehrter, zu viel Stoff in An-
merkungen unterzubringen; Seiten, die bis auf wenige Zeilen
ganz von Anmerkungen gefüllt sind, finden sich nicht selten.
Um die Jahrhundertwende begann Hirzel ein neues,
man darf sagen sein eigenstes Gebiet zu pflegen, die philo-
sophisch-historische Würdigung der antiken Rechtsgedanken.
Der ''AyQag)og vo^og, 1900 in den Abhandlungen unserer Ge-
sellschaft erschienen, war die erste Frucht dieser Studien^),
die im letzten Grunde auch wieder mit seinen platonischen
Forschungen zusammenhängen; es folgten der Eid (1902),
Themis, Dike und Verwandtes, wohl sein tiefstes Werk (1907),
der Selbstmord (1908), die Strafe der Steinigung (1909), die
Talion (191 1), OvöCa (1913), die Person (1914). Allen diesen
i) S. das Nähere im Schriften Verzeichnis.
12* Alvmikd Köktk:
'^ I
Arbeitt'U iuL dio Verltimlunij voti Philosophisrhom, Juristischem,
Volkskundlithfin und llolij^iöscm ^fineiusain, \\\9,<^ uueh iliis
Mi8cliuu«;-8v»>rliiUtuis fliewer Bestatidtrilr in den einz«dno)i Wer-
ken sehr wtichsoln. Alle /-eiiduK'ii sirli iius (hirch «'ine er-
staunlii'lie Behevr.si-hung des hei ^y^w v. rschicdeiiat«!!! Völkern
und in den verschiedensten Zeiten ^•♦'Buniinelten Muteriul«, das
seinen Schwerpnnkt stets im griechisch-rominchen Altertum
findet. Weiter ist ihnen allen ein ungemein feines (iefühl
für die leisen Sch.ittierungen eigen, di^; in den verschiedeneu
Bezeichnungen für ähnliche lieehtsbegritVe beschlossen sind.
Überall fesseln Uirzi:l nicht so sehr die Bestimmungen des
formalen Rechts als die Gedanken, die in den Ke(;ht8nornien
zum Ausdruck kommen, und die in den LFntersuehungeu der
Philosophen sogut wie im Sprachgebrauch tles Volkes nach
Verkörperung ringen.
Die umfassendste und am tiefsten schürfende Unter-
suchung der (jirundgedanken des griechischen Rechts und
ihres Wandels im Laufe des Jahrhunderts bietet das Werk
'fbemis, Dike und Verwandtes. Scharf geschieden werden zu-
nächst die Begriffe Themis, der gute Rat, der zum Gegen-
stand ein Künftiges, erst zu Verwirklichendes hat, und Dike,
die richterliche Entscheidung, die auf ein Vorhandenes geht,
das nicht verwirklicht, sondern nur gefunden zu werden braucht,
die Wahrheit. Auch wer lliRZKLs Etymologie des Wortes
Dike von Ümüv werfen unvl seine Erklärung, es bezeichne
ursprünglich den Schlag des Richterstabs, der zwischen die
Streitenden fährt imd die Entscheidung fällt, nicht gutzu-
heißen vermag^), kann ihm darin zustimmen, daß Dike zu-
nächst nur die richterliche Entscheidung ist, die von den
Parteien angerufen wird. Aber die Macht der Dike, die ur-
sprünglich nur im privatrechtlichen Streit um Mein und Dein
die Wahrheit findet, wächst weit über diese begrenzte Auf-
gabe hinaus. Der Richterspruch fordert Vollziehung, und so
i) Ich vermisse durchaus den Nachweis, daß ein solcher Schlag
oder Wurf des Richterstabs im griechischen Recht je eine Rolle ge-
spielt hat.
7o, 7] WoüTt ZUM GkdächtiSI.s an Kuüolf liiuzEL. 13*
wird Üike zur Vergeltung-, die das uls wahr und recht Er-
kannte im Leben des Einzelnen wie des Volkes durchsetzt,
zur ernsten, erhabenen Göttin, die zu ihrem Werke selbst des
Zornes bedarf". Die von ihr abgeleiteten Worte dCy.caog und
dt,xcao6vv)i verkörjiorn in einer immer stärker von Rechts-
gedanken erfüllten Zeit die Summe alier Pflichten, die der
Mensch gegenül^ec der Gesamtheit hat, dixccioövvvf wird der
lubegriif aller bürgerlichen Tugend. AUe Verhältnisse des
Staates werden der Macht der Dikt; unterworfen, über den
Kreis menschlichen Lebens hinaus sieht man ihr Wollten so
gut im Leben der Tiere wie in der Ordnung des Weltganzen.
Einen ähnlichen Aufstieg von beschränkter privatrechtlicher
Geltung zur beherrschenden Stellung in der Weltauffassung
zeigt dann Hirzel in dem vo^og, der vom Brauch des Ge-
wohnheitsrechtes zum unbedingt Staat und Einzelmenschen
bindenden Gesetz und schließlich zum Begriff des Natur-
gesetzes wird. „Aus wie verschiedenen Quellen auch Hecht
und Gesetz bei den Hellenen in ihren Haupterscheinuugen
als ^iuib'f dCxij, d^£6^6g und voiiog geflossen sind, ihren letzten
und einzigen Ursprung haben sie doch alle im menschlichen
Leben und seinen Bedürfnissen" ist der Schlußsatz des ge-
dankenschweren Buchs.
Jeder Altertujusforscher wird ausHiKZKLs rechtsgescbicht-
lichen Werken eine FüUe von Belehrung schöpfen, lange noch
werden die in ihnen ungeschlagen«.')! Töne in der Wissenschaft
fortklingen. An Widerspruch kann und darf es freilich auch
hier nicht fehlen, denn in der Behandlung der Einzelheiten
ist HiKZEL oft nicht glücklich, und stärker noch als im Dia-
log macht sich hier vielfach der ihm eigene Mangel an tek-
tonischem Sinn bemerkl^ar. Wie er selbst es nicht selten
unterläßt, das Ergebnis seiner Forschungeu in knappen, klaren
Sätzen zusammenzufassen, .so ist es auch für den Leser mit-
unter schwer, den ilüuptinhalt der Arbeit in scharf umrisse-
nem Bilde bei sich festzuhalten.
Eine eigene Stellung nimmt unter Hikzels Altersschriften
dip für die Sammlune- das Erbe d^r Alten verfaßte über Plutarch
I4''' Ai.ruKn Köuii;: |7^w
ein (1912). Eine warme Ziincigun«;-, ja mehr noch, oiiio inn»*re
Seelenverwandt si'haft, verbindet HiK/,i;ii mit dem j^üwiü nicht
<;enialen, aber durch und durch ^osundeu und ehren wcrt«^n
Philosophen von (^haironeia, auC deswen Leben nnd Schritten
ein letzter Abglanz der strahlenden »Sonne l'lutons liegt; <leR-
halb war er in besonderem vSinne geeignet, die P<,'rs(">nliciikeit
l'lut^inhs und ihre überraschend starke Nacliwirkuug durch
die Jahrhunderte hindurch zu schildern. Was Plutarch für
die \N'eltliteratur bedeutet, uird auch vIcKmi Philologen erat
durch IIiRZKLs Buch klar geworden sein, und wenn ihm nicht
mit Unrecht zum Vorwurf gemacht worden ist, daß er die
moderne neuphilologische Literatur über Plutarchs Einfluß auf
die Dichter der Kenaissancezeit nicht genügend benutzt hat^),
so wiegt das nicht schwer gegenüber der Tatsache, daß ihn
seine Avunderbare Belesenheit befähigte, unmittelbar die tau-
send Fäden zu überschauen, die Plutarch mit den englischen,
französischen, deutschen Schriftstellern des 16. bis ig. Jahr-
hunderts verbinden.
Ein an Arbeit und Gedanken reiches Forscherleben, in
sich geschlossen und vollendet wie es wenigen Gelehrten bo-
schieden ist, war Rudolf Hirzel zu führen vergönnt, und
der Segen dieses Lebens wird unserer Wissenschaft unver-
loren sein.
Schriften vou Rudolf Hirzel.
i) 1868. De bonis in fine Philebi enumeratis, Berliner Dissertation,
Leipzig 1868, 79 S.
2) 1871. Über das Rhetorische und seine Bedeutung bei Plato, Habi-
litationsschrift, Leipzig, 75 S.
3) 1874. Über den Unterschied der dtHaioevvri und der 6(a(pQ06vvr\ in
der Platonischen Republik, Hermes VIII, 379 — 41 1-
4) 1876. Über den Protreptikos des Arißtotelcs, Hermes X, 61 — 100.
5) — Ein Rbetor Protarchos, Hermes X, 254—259.
6) — Zu Aristophanes' Wolken, Hermes XI, 121 — 122.
7) — Zur Philosophie des Alkmaion, Hermes XI, 240—246.
i) S. Max Foepstkr, Jahrb. der deutsch. Shakespeare-Ges. XXIX,
1913, 254.
70, 7] Worte zum Gedächtnis an Rudolf Hirzel. i 5*
8) 1877. Pythagoreisches in Piatons Gorgias, Comm. in honorem Momm-
seni II — 22.
9) — Unlersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften I. Teil.
De natura deornm, Leipzig, 244 S.
10) 1879. Demokrits Schrift jrfpl £v&v(itr}?, Hermes XIV, 354—407.
11) 1880. De logica etoicorum, Satura philol. Herrn. Sauppio obtulit
amic. coli, decas, 61 — 78.
12) 1882. Untersuchungen zu Ciceros philos Schriften H. Teil, De fini-
bus, de officiis, 2 Abteil., Leipzig, 913 S.
13) — Der Demokriteer Diotimos, Hermes XVII, 326 — 328.
14) 1883. Unterbuchnngen zu Ciceros philos. Schriften III. Teil, Aca-
demica priora, Tu.sculanae disputationes, Leipzig, 576 S.
15) — Ein unbeachtetes Komikerfragment, Hermes XVIII, i — 16.
i6) 1884. Über Entelechie un-i Endelechie,Pthein. Mus. XXXIX, 169—208.
17) 1885. Über Rundzahlen, Her. der Sachs. Ges. d. Wiss. I, 2 S. 1—74.
18) 1886. Zur Bedeutung von über, Rhein. Mus. XLI, 153—155.
ig) 1887. Polykrates' Anklage und Lysias' Verteidigung des Sokrates,
Rhein. Mus. XLII, 239 — 250.
20) 1888. Über die Stellung der klassischen Philologie in der Gegen-
wart, Akademische Antrittsrede in Jena, 35 S.
21) — Ein Symposion des Asconius, Rhein. Mus. XLUI, 314 — 317.
22) — Die Eupatriden, Rhein. Mus. XLIII, 631—635.
23) 1890. Aristoxenos und Piatons erster Alkibiades, Rhein. Mus. XLV,
419—435-
24) 1892. Zur Charakteristik Theopomps, Rhein. Mus. XLVII, 359—389.
25) 1895. Der Dialog, 2 Bde, Leipzig, XIV 565 und 473 S.
2b) 1896. Die Homonymie der griechischen Götter nach der Lehre an-
tiker Theologen, Ber. der Sachs. Ges. der Wiss., 277 — 337.
27) — . Rede zur Feier der Wiederaufrichtnng des Deutschen Reiches.
28) 1900. "Aygafpos vo^ios, Abh. der Sachs. Ges. der Wiss. philol. -bist.
KL XX. Bd, 100 S.
29) 1902. Der Eid. Ein Beitrag zu seiner Geschichte, Leipzig 1902,
225 S.
30) 1904. Philosophie im Zeitalter des Augustus, bei Gakdtiiaosen,
Augastus und seine Zeit I, 3 S. 2256 — 1317. (Im selben Werk
sind zahlreiche metrische Übersetzungen von Hirzel, vgl. I
Vorrede VIII.)
31) 1905. Was war die Wahrheit für die Griechen? Rede, gehalten
zur Feier der akad. Preisverteilung (24. 5.), 30 S.
32) 1907. Themiü, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte
des Rechts bei den Griechen, Leipzig, 445 S.
33) 1908. Der Selbstmord, Arch. f. Religionswiss. XI, 75 — 104, 243 — 284,
417—476.
lÖ* AlvKKI» KÖKTl.: WoUTK. 7,. (tUUACHTN. an UuOOUK HlR/.KL. [7u, 7
34) 1909. Die Strafe der StoinipiinK, Äbh. <lor "^Ichc. «Jox. cl««r Wias.
j)hilol.-hi8t. Kl. XXVII7, 44 S.
35) 191 1. Die TalioD, Piniol. Snppl. Ud. .\1, 401-482.
36) 1012. l'lutarcb, Dan F>be der Alten, Leipzig', \'1II .:ii S.
37) 1913. OWiOi, rinlol. 72 (N. F. 26), 42—64.
38) 19 J 4- Die PerBuii. licpriff und Name derselben im Altertum, Her
der Hayr. Akad. der WisH. philod. -philo), und luHt. Kl. 54 S.
39} 191 8. Der Name. Kiu I>eitra{; zu seiner (Jescbichto im Altertum
und bcHondera bei den Griechen, Abb. der Sich», («ea. der
Wias philol.-bist. Kl. XXXVI. 2
Dmckfertts} #rkUrt 16. 11, tofo."
17*
Albert Hauck.
Von
Geehakd Seeligek.
Eine erstaunliche Jugendlichkeit hatte sich Albekt Hauck
noch in hohen Lebensjahren bewahrt. Wer die schlanke
aufrechte Gestalt mit raschen elastischen Schritten voran-
schreiten sah, der hätte nicht ahnen dürfen, daß er einen
Zweiundsiebzigjährigen vor sich habe. Das Haupthaar hatte
die Farbe und die Fülle der Jugend bewahrt, das Gesicht die
gesunde Frische des reifen Mannes. Nur die treue Sorge der
Gattin bemerkte in den letzten Monaten die ersten Zeichen
einer Ermüdung, die Folge von leichten Herzbeschwerden, die
der Gatte den Seinen liebevoll verschwieg und nur heimlich
dem Hausarzt anvertraute. Ein liüchtiger Ohnmachtsanfall im
Kolleg Ende Januar schien rasch überwunden zu sein. Aber
am 29. März zwangen ihn asthmatische Beschwerden, das
Krankenlager aufzusuchen. Noch schien Genesung zu winken.
Am Sonntag den 7. April durfte er das Bett verlassen, um
es indessen bald wieder aufsuchen zu müssen. Nach kurzem
Tode.skampf verschied er. Auf seinen Wunsch hin fand die
Beerdigung am ii.Api-il nur in Gegenwart der Familienmit-
glieder und des Kollegen statt, der das geistliche Geleit gab.
Erst nach der Beisetzung durfte nach dem Willen des Ver-
ewigten die öffentliche Anzeige erscheinen.
Hauck hat glücklich gelebt, er ist glücklich gestorben.
Der Weltkrieg hatte ihn tief ergriffen und an seiner Lebens-
kraft sjezehrt. Den Tod eines Sohnes auf dem Schlachtfeld
konnte er innerlicli nicht überwinden. Er sah tief traurig
hinaus in die Zukunft unseres Volkes. „Uns Alten leuchtet
V!ii1.-bi8t. Klasse ioi8. Bd. LXX 7. 2
lg* Geuhahi) Rkemuek: !70' 7
das Licht am Abend nicht", so schrieb or schon 191 7 an
einen Freund. Noch hat er den furchtl)!iren Zusammenbruch
nicht erleben müssen. Er ist t;h"icklich vm preisen.
Albert Uauck entstammi einer alten Familie von Be-
amten und Juristen, die im hohenzoUernschen Kranken wirk-
ten vornehmlich in Ansl)ach. Er hat immer diese Stadt als
seine eigentliche Heimat angesehen, obschon er am <). De-
zember 1845 in Wassertrüdingen ails Sohn eines Rechtsanwalts
geboren war. Früh starb der Vater, die Familie zog nach
Ansbach, hier wuchs der Knabe im Kreise der Geschwister
htTan unter dem bestimmenden Einfluß seiner Mutter, in deren
,,stillen, sanften Weise", wie Hauck später schrieb, „ein un-
gewöhnlich großes Maß von Energie und Konsequenz, von
Bestimmtheit des Willens und Klarheit des Denkens verbor-
gen" war. In Ansbach besuchte er bis 1864 das von stren-
gem protestantischem Geist geleitete humanistische Gymna-
sium. Dann studierte er 1804— 1868 in Erlangen, zwischen-
durch in Berlin. Nach Abschluß der Universitätsstudien ward
er 1868 Mitglied des Münchener Predigerseminars, fand bald
als Vikar Verwendung, ward 1871 als ständiger Vikar nach
Feldkirchen bei München versetzt und kam 1874 als Pfarrer
in seine geliebte fränkische Heimat nach Frankenheim. Hier
crründete er 1876 eine eigene Familie, die ihm Freude und
Licht im ernsten arbeitsreichen Leben des Pfarrers und des
Universitätslehrers war.
Auch die hingebende Tätigkeit des Seelsorgers hat ihn
nicht gehindert, wissenschaftliche Forschung zu pflegen. Ihm
selbst galt seit seinen Kinderjahreu der Beruf des Pfarrers
als Ziel des Strebeus, er hat die in diesem Beruf liegende
praktische Tätigkeit, den sittlichen Einfluß und zugleich die
allgemein liebende Fürsorge, die von Mensch zu Menschen
geht, als sein höchstes Ideal angesehen, er hat sein ganzes
Leben lang' die Wirksamkeit des protestantischen Pfarrers
hoch eingeschätzt und noch in späteren Lebensjahren seine
stille Sehnsucht jenem Streben der Jugend zugewendet.
Aber er war doch im Grunde stets der geborene Forscher
70, 7] Alüert Hauck.- 1 9*
/
und Mann der Wissenschaft. Schon beim Studenten in
Erlangen hatte man diesen wahrsten Beruf in der Person-
lichkeit des stillen Jünglings wahrgenommen und seine
Habilitation vergebens gewünscht. Nachdem der Pfarrer des
kleinen Ortes sein erstes wissenschaftliches Werk veröffent-
licht hatte: TertuUians Leben und Schriften (1877), ward
er 1878 als a. o. Professor nach Erlangen berufen und vier
Jahre später mit dem Ordinariat für Kirchengeschichte und
Enzyklopädie der Theologie ausgestattet. 188g folgte er einem
Ruf nach Leipzig. Unserer Leipziger Universität und der
theologischen Fakultät blieb er treu, obschon ihm 1902 der
verlockende Antrag gemacht wurde, den Lehrstuhl Rankes in
der philosophischen Fakultät der Berliner Universität zu über-
nehmen. Wiederholt verwaltete er das Dekanat, 1898/99 lei-
tete er als Rektor magnificus die Geschäfte der gesamten
Universität, oft hat ihm das volle Vertraueu der Kollegen im
Senat und in Kommissionen eine besondere Wirksamkeit über-
tragen. Sein weiser Rat, seine ruhige Überlegenheit, sein
klares Urteil, das sich mit entschlossener Festigkeit verband,
machten ihn zu einem hochgeachteten Mitglied der Universi-
tät und der weiten Kollegenschaft.
Alle Ehrungen, die dem Gelehrten großen Stils zuzukom-
men pflegen, hat er erfahren. Er wurde Mitglied aller deut-
schen wissenschaftlichen Akademien: unsere Gesellschaft der
Wissenschaften wählte ihn am 23. Januar 1891 zu ihrem ordent-
lichen Mitgliede in der historisch-philosophischen Klasse, die
ihn Ende 1914 zu ihrem ersten Sekretär bestimmte; der Ber-
liner, Göttinger und Münchener Akademie der Wissenschaften
gehörte er als korrespondierendes Mitglied an. Den Titel eines
Ehrendoktors der Theologie erteilte ihm 1882 Dorpat, den der
Philosophie 1897 Leipzig, der Jurisprudenz 1902 Freiburg i. Br.
Der Preis, für den alle fünf Jahre eine preußische Kommis-
sion von neun Historikern das beste Geschichtswerk über
deutsche Geschichte vorzuschlagen hat, der zur Erinnerung
an den Vertrag von Verdun 843 sogenannte Verduupreis,
wurde ihm verliehen.
20* (iBKU.VIU) SKi;LHii;K: 1/*^', 7
Seine gewissenhafte Tiitijjjkeit im Kolle«]; und im Seminar,
seiuü ijorgtaltii:^ ausgearbeiteten Vorlesungen, die die Icloiiiston
Fortschritte der Forschung berücksichtigten, und seine (ibun-
gen, in denen er mit methodischer Schärte und (hirch(hingen-
der Khirheit l*robleme der Wissenschaft bospracli, haben nicht
so ilcn Anfänger und Liebhaber v.u fessebi vermocht, als viel-
mehr den schon Aorgebiidetc)! und mit wahrem wissenschaft-
lichen Streben Krfüllten in den wissenschaftlichen Hetri«^b
ein/-udringeu veranlalit.
Nach der einen Seite besaß Ilauck oü'ejibar ein starkes
Bedürfnis, unmittelbar und rein persönlich zu wirken, er hat
als Prediger und Seelsorger, als theologischer und historischei
Lehrer manch tiefen Einfluß auszuüben vermocht, aber nacli
der anderen Seite mußte der breite sichtbare Erfolg auf die-
sem Gebiet ausbleiben. Denn nicht nur das dünne Organ stand
dem entgegen, sondern eine Zurückhaltung und eine heimliche
Scheu, sich vor den andern zu erschließen und in den eigenen
Quell an bedanken und Gefühlen hineinblicken zu lassen.
Eine Persönlichkeit von Schlichtheit und Einfachheit, festge-
fügt in ihrer durchsichtigen Lauterkeit des innersten Wesens
wohlwollend, ja gütig, aber trotzdem nicht leicht zugänglich,
für den Fremden fast unnahbar — so zeigte er eine eigen-
tümliche Verschlossenheit, die nicht auf dem Mangel an Liebe
zum Nächsten, sondern auf einer gewissen Keuschheit der
Seele beruht, die das eigene Innenleben streng verhüllt und
das leichte Geben von Person zu Person verhindert. Haucks
wahres Gebiet, wo sich der ganze Reichtuöi seines Innern
entfalten konnte, war daher die Studierstube, sein eigentlich-
stes Mittel, mächtig zu wirken, war das geschriebene Wort.
Hauck war durch und durch Gelehrter. Gewiß nahm er leb-
haften Anteil an dem gewaltig vorwärtsdriugenden, überall
Neues suchenden Leben dej- Gegenwart, er nahm verständnis-
voll Anteil jJs protestantischer Theologe, als Mann des deut-
schen Volkes und Staates. Aber in die Kampfarena hinabzu-
steigen, wünschte er nicht, daran hinderte ihn seine scheue
Gelehrtennatur. Selbst wenn er in Woi-t und Schrift sich zu
70, 7] Albert Haiick. 21*
einer die Gegenwart bewegenden politischen Frage äußerte,
wie zur Frage der Trennung von Staat und Kirche, so ge-
schah das von einer dem Parteieifer entrückten hohen Warte
aus, ganz überlegen, leidenschaftslos, getragen vom Verständ-
nis für die Notwendigkeit einer stets fließenden Entwicklung.
Hauck war in allererster Linie Historiker. Wohl hat ihn
innerste Neigung zur Theologie geführt, und wohl fühlte er
sich stets als Theologe. Er stand auf positivem Boden. Er
wollte als echter „Erlanger" gelten, er hat diese Richtung nie
verleugnet, er hat sie als Grundlage seines Lebens festgehal-
ten. Aber obschon er ein festes Bekennen und eine unerschüt-
terliche Einordnung in das Kirchentum, eine unwandelbare
Unterordnung unter das ein für allemal feststehende Dogma
begehrte, so blieb doch bei ihm stets der in den reformato-
rischen Ideen schlummernde Subjektivismus und der Freiheits-
gedanke wirksam. Konnte auch ihm, dem dogmenfesten Theo-
logen, nicht alles, das Dogmatische und Offenbarungsmäßige,
als historisch Menschliches gelten, konnte für ihn jene Dul-
dung nicht walten, die vom Menschlich-Beschränkten und
Relativen aller, auch der eigenen religiösen Wahrheiten und
Glaubenssachen ausgeht, so stellte er gleichwohl alle histo-
rischen Erscheinungen ganz unter den Gesichtspunkt des
Wandelbaren. Sein Geist steht so vollständig unter dem Bann
der Entwicklung, daß seine Geschichtsauffassung nie oder
fast nie eine bestimmte konfessionelle Bindung zeigt. Er war
und blieb in seiner geschichtlichen Forschung frei.
Zwei Werke bilden sein großes wissenschaftliches Ver-
mächtnis: die Enzyklopädie und die Kirchengeschichte D^eutsch-
lands.
Als jungen Erlanger Professor haben ihn Herzog und
Plitt für die Mitherausgabe der 2. Auflage des Sammelwerkes
„Realen zyklopädie der theologischen Wissenschaften" gewon-
nen. Zuerst wirkte er neben den beiden, nach deren Tod, seit
1883, als alleiniger Herausgeber. Die 3. Auflage, deren i.Band
i8q6 und deren letzter, der 24., 191 3 erschien, hat er allein
besorgt und ihr vielfach ein neues Gepräge verliehen. Von
22* ' Gerhard Skki.kjku: [70.7
ihm selbst rühren »»twa vierhundert Heiträge her: unerwartet
droheuile Lückon wurden von ihm ;uiS}Tefüllt und unum-
giinglich neue Bearbeituntjon rasch vorgenommen. Während
der Beirründer der Enzyklopädie IIkrzoo d:ia Ebenmiiß des
Ganzen vornehmlich in der Gleichartigkeit des theologischen
Standpunktes <l»*r Verfasser sah, hat Hauck sich von diesem
noch in der 2. Auflage wesentlich herrschenden Gesichtspunkt
gelöst und von Band zu Band die Einheit ausschließlich in
dem wissenschaftlichen Wert der Einzelartikel gesucht. Er
befürchtete für die Kirche von der freien Forschung keine
Einbuße. Er glaubte trotz seines eigenen strengen lutherischen
Standpunktes auf dem Gebiet der Wissenschaft allen die Wahr-
heit Suchenden das Tor öffnen zu sollen. Denn, so erklärte
er, „die echte Wissenschaft zerstört nicht, sondern sie erbaut".
In der Enzyklopädie aber ist nicht nur das theologische, son-
dern ein reiches historisches Material gesammelt, sie ist ein
grundlegendes, wegweisendes Nachschlagewerk auch für die
weite historische Forschung.
Zur vollen Höhe des produktiven Gelehrten, zur Meister-
schaft als Geschichtsforscher und Geschichtsdarsteller ist
Hauck erst emporgestiegen durch seine Kirchengeschicbte
DeutscUands. Geplant war eine Kirchengeschichte, auf weiter
selbständiger Forschung aufgebaut, eine Kirchengeschichte,
die dem tiefer gebildeten Nichtfachmann Aufklärung und zu-
gleich dem gelehrten Historiker neue Richtlinien und An-
regungeu bieten sollte. Das tiefgründige Werk Rettbergs,
das Schätze von Gelehrsamkeit und Scharfsinn barg, aber
durch die ausgedehnte Einzelkritik die Geschlossenheit und
Übersicht des Ganzen verloren hatte und im Material erstickt
war, sollte erneuert und fortgesetzt werden. Hauck hat von
vornherein mit klarer Bestimmtheit die festen Richtlinien ge-
zogen und sie stets streng eingehalten. So schuf er ein Werk,
das die gesamte Entwicklung in großen Linien führte, das
aber zugleich das Charakteristische der Einzelerscheinung be-
achtete und wirklich geschichtliches Leben zeichnete, ein
Werk, das auf sorgsamster Einzelforschung beruhte und dem
/o, 7] Albert Hauck. 23*
wißsenschaftlicheD Historiker die quellenmäßige Begründung
darbot, das aber dabei die Bildung des Ganzen und den künst-
lerischen Aufbau der Darstellung niemals vermissen ließ.
Der Kirchengeschichte Deutschlands hat Hauck sein arbeits-
freudiges Leben bis ans Ende gewidmet. Ihr war die Erlanger
Antrittsvorlesung vorausgegangen: Die Bischofswahlen unter
den Merowingern (1883), die den Übergang von der engeren
theologisch gerichteten Historie zur Kirchenofeschichte mit
ihren weiten Verbindungen der politischen und Kulturgeschichte
eröffnete, die zugleich den ersten Vorläufer des großen Lebens-
werkes bildete. Mit eisernem Eifer und mit einer erstaunlichen,
nie erlahmenden Zusammenfassung aller Kräfte widmete sich
Hauck der einen großen Aufgabe. Wohl beschäftigte ihn,
den weitschauenden Geist, auch anderes. Hatte er doch von
Jugend auf starke künstlerische Neigungen: er zeichnete und
malte, er übte diese Kunst in häuslichen Mußestunden aus.
Er hatte tiefes Kunstvei-ständnis und ausgebreitete Kenntnisse
auf dem Gebiet der älteren kirchlichen Kunstgeschichte. Er
las über diese Gegenstände und führte mit besonderer Liebe
die Studierenden in diese Sonderdisziplinen ein. Die kirchlich-
archäologische Sammlung der Universität hat er zu einer
eicrenartigen Musteranstalt erhoben, die nicht nur dem Unter-
rieht, sondern auch der Forschung dient. Und er selbst hat
das Ergebnis seiner Studien wohl auch in verschiedenen
Einzelabhandlungen niedergelegt. Aber zu einer größeren
zusammenfassenden kunsthistorischen Veröffentlichung kam er
nicht. Dazu ließ ihm die Kirchengeschichte keine Zeit.
Unter den Monographien, die regelmäßig einem neuen
Band der Kirchengeschichte vorangingen, haben manche ihren
selbständigen Wert auch nach dem Erscheinen der zusammen-
fassenden Darstellung bewahrt und werden ihre Wichtigkeit
behalten. Denn alle forderten wesentlich die Forschung, alle
sind ungemein feinsinnig, elegant und scharf geführt, im Stile
der vollausgebildeten kritischen Geschichtsforschung. Manche,
wie die über den Gedanken der päpstlichen Weltherrschaft
bis auf Bonifaz VIU. oder „Deutschland und die päpstliche
24* »iKKiiAHii Skkmgkk: !7t>»7
WeltherrschatL" vt'rfulj;;eii in großen Zus:imiiM'uli;in"j,oii \v(Mte
ideongesi'hiohtlich«' und politische Entwicklungen, iin<l(Te, wie
die Aul'sätze über „Die Rezeption und Umbildung der :dlge-
rneiuen Synode im Mittelalter" oder „Studien zu Johann lluli"
sind mehr kritisch gerichtet. In der einen werden die allge-
meinen Konzile durch die dalirliunderte verfolgt und das Er-
wachen jener allgemeinen Konzilsidee, die eine Teilnahme der
Laien fordert, auf die Vertiefung und Verallgemeinerung des
Kirchenbe<'-riüs im i 2. Jahrhundert zurückgeführt. Die andere
schließt sich LosERTliS überraschendem Ergebnis an, daß die
neue tschechische Kirchenlehre in allem Wesentlichen wörtlich
den Schriften AViclifs entnommen ist, sie bietet eine ungemein
feine Analyse von Hussens kirchlich-dogmatisclien und kirch-
lich-politischen Ansichten in ihrer merkwürdig schwankenden
Entwicklung, sie zeichnet das Bild des Gottesstreiters und
tschechischen Volksmannes, der unerschrockenen Mut und un-
widerstehliche Kraft besaß, aber bei seinem überstarken Selbst
«■efühl und einem hervorstechenden, agitatorischen, alles über-
wuchernden nationalen Streben nicht zur reinen Größe des un-
bestechlichen Kämpfers für Wahrheit und Christentum ge-
lano-en konnte. Diese Abhandlung war der letzte literarische
Niederschlag von Haucks emsiger historischer Forscherarbeit.
Inzwischen w^ar die Kircheugeschichte fortgesetzt, geför-
dert und dem Abschluß näher gebracht worden.
1887 war der i. Band erschienen, der mit dem Tode
Bonifaz' schloß, schon 1889 der 2., der die karolingische Zeit
umfaßt, 1893 und 96 die beiden Hälften des 3. Bandes mit
ihrer Darstellung des Ottonischen und Salischen Zeitalters,
1902 und 1903 die beiden Hälften des 4. Bandes, der die
Entwicklung bis zum Tode Friedrichs IL betrachtet und end-
lich 191 1 die erste Hälfte des 5. Bandes, die das spätere
Mittelalter zu behandeln beginnt und bis 1347 reicht. Die
zweite Hälfte des Bandes liegt im Manuskript fast völlig
druckfertig vor und wird alsbald von pietätvoller Hand ver-
öffentlicht werden. Sie wird das äußere und innere Leben der
Kirche bis o-egen Mitte des 15. Jahrhunderts beleuchten, bis
70,7] Albert Hauck. 25*
zu dem Punkt, wo die alten Grundlagen des Mittelalters zu
wanken, wo der vordringende Humanismus und die neuen
Volkswünsche den alten Bau des katholischen Kirchentums
in Deutschland zu erschüttern und eine andere kirchliche
Grundlage zu fördern beginnen Ein wirklicher Abschluß ist
leider nicht gewonnen.
So ist auch dieses monumentale Werk ein Torso o-e-
blieben. Wir stehen vor einem herrlichen Bau, an dem die
vollendenden Schlußgiebel fehlen. Und niemand vermöchte
den 6. Band, der die Darstellung bis zur Reformation führen
sollte, an Haucks Stelle zu schreiben. Denn diese Kirchen-
geschichte trägt ein einzigartiges, ihr allein eigentümliches
Gepräge. Sie ist einerseits die absolut objektive Arbeit des
mhig abwägenden Historikers, sie ist anderseits das Subjek-
tivste, das man sich denken kann. Sie ist streng objektiv,
denn die gesamte Forschung beruht auf der klaren, scharf-
sinnigen und nüchternen Verwertung der Quellen. Hauck ist
frei von jeder Tendenz, er forscht und schreibt nie als Partei-
mann, er läßt sich von keinem bestimmten konfessionellen
oder politischen Gesichtspunkt leiten, er ist in seiner Forschung
weder Protestant noch deutsch-national, er ist Historiker.
Aber der Historiker muß über das, was schlechthin der
Interpretation der Quellen zu entnehmen ist, weit hinausgehen.
Er muß das Wachsen und Wogen der kämpfenden Kräfte
aus den Grundvoraussetzungen der geistigen und wirtschaft-
lichen Mächte, der Personen und der allgemeinen Faktoren
erklären, charakterisieren, bewerten. Und dabei wird natur-
gemäß leicht ein persönliches Moment des Verfassers wirksam
sein. Auch wenn ein bestimmter nationaler oder kirchlicher
und politischer Standpunkt vermieden bleibt. Das subjektive
Moment der wissenschaftlichen Persönlichkeit waltet immer.
Gewiß kennt auch hier die Wissenschaft nur ein „richtio-"
oder „unrichtig". Es gibt nur ein Ergebnis der Wahrheit.
Diese sucht der Historiker zu erringen und selbst unter dem
ausdrücklichen Verzicht auf Klarheit und Bestimmtheit in
manchen Fällen zu gewinnen.
26* (iKUHAun SiiKi.K.Ku: |7<J. 7
Schwii-rig ist bei dieser letzten unci ii(»i'li8toii Arbeit des
Forschers und Darstellers die Überwindung" des eigenen Indi-
viduellen, das den Weg zur ^^ nhrheit verlegen kann. ISie
muß versueht werden. (Jeradc der Historiker aber, der die
besten geistigen Voraussetzungen l'ür die liöchsteu Aufgaben
besitzt, wird zugleich den größten (Jeiahren der Wissenschaft
liehen Subjektivität entgegengehen — nichl im Sinne einer
bestimmten Tendenz, sondern in dem Sinn, d;iß er das Er-
kennen uncli da für siclier liält, wo keine Sicherheit zu ge-
winnen ist. ^^'ird überall volle Klarheit und Restininitheit
verlangt, ist zugleich die Fähigkeit gegeben, das Lebensvoll-
Wirkliche der Vergangenheit voll zu erfassen und zu zeich-
nen, dann, gerade dann tritt diese Gefahr der wissenschaft-
lichen Subjektivität auf Das war bei Hauck der Fall. Besaß
er doch eine glänzende Gabe, entschwundene Zeiten und füh-
rende Persönlichkeiten lebensvoll zu erkennen und darzustel-
len, war er doch von einer Schärfe der Auffassung, die sich
nur auf Selbsterkauntes stützte, von einer Selbständigkeit
des Urteils, das sich nie an Herkömmliches anschmiegte, wollte
er doch eine fest umrissene Charakteristik von Personen und
Zuständen entwerfen, die nichts Schwankendes und Nebel-
haftt'S duldete. Nichts aber ist verkehrter, als deshalb die
Zuverlässigkeit seiner Forschung zu bezweifeln. Hauck, dieser
Mann der peinlichsten Ordnung im Kleinsten, dieser gewissen-
hafte Sucher der Wahrheit, bleibt immer der sorgsamste, die
Quellen befragende Historiker, unbestechlich, wahrhaftig, im
ganzen Denken echt historisch. Aber sein Bedürfnis nach
Klarheit und Geschlossenheit und dazu die Wirksamkeit einer
schöpferischen Phantasie ließen ihn manches bestimmt sagen,
WtiS anfechtliar oder zweifelhaft i.st. Die starke wissenschaft-
liche Persönlichkeit schuf einen starken, über das Künstlerische
der Dai-stellung hinausgehenden Subjektivismus.
Zwei Vorzüge der Hauckschen Darstellung wurden seit
dem Erscheinen des ersten Bandes mit Recht als bedeutsam
empfunden: die Schilderungen der Persönlichkeiten und die
Schilderungen der allgemeinen, vielfach das Volk selbst er-
70i 7] Albert Hauck. 27*
greifenden Zeitströmungen. In seiner ungemein sehlichten,
äußeren Glanz und Schwung versehmähenden, knappen, rein
sachlichen, dabei von allgemeinen Gedanken durchleuchteten
und eigentümlich sentenzreichen Sprache entwirft Hauck Cha-
rakterbilder der einzelnen Persönlichkeiten, besonders der
Kaiser und Päpste, Charakterbilder von packender Lebendig-
keit, durchaus eigenartig und immer fesselnd, obschon in
ihrer mitunter überraschenden Neuheit nicht immer schlecht-
hin überzeugend. Und die Bilder, die er von der Entwick-
lung der Religiosität und Sittlichkeit, von kirchlichen Ideen,
von der theologischen Gedankenwelt bietet, zeichnen sich
durch eine bisher ungeahnte Feinheit und Tiefe aus, sie sind
vielleicht die ersten wissenschaftlich begründeten Darstellungen
dieser Art auf dem Gebiet des Mittelalters und als grund-
legende Beiträge zur Entwicklung der deutschen Volkspsyche
anzusehen.
Überall greift Hauck weit über das eigentlich Kirchliche
hinaus und berührt nach allen Seiten hin die Geschichte der
politischen Entwicklung, der gesellschaftlichen Organisation
mannigfacher Art, der materiellen und besonders der geistigen
Kultur überhaupt. Wahrlich, der theologische Verfasser der
Kirchengeschichte hat sich als ein „Doctor philosophiae" und
als ein „Doctor juris utriusque" bewährt: ihm kamen diese
Ehrentitel mit vollem Recht zu.
Haucks Kirchengeschichte ist ein Werk von bleibendem
Wert. Es gehört zu den klassischen G es chichts werken imserer
Literatur. Hauck ist nicht Bahnbrecher, er ist Wahrer und
Vollender. Er wiU nicht neue Methoden der Forschung an-
wenden, sondern nur die bewährten handhaben. Er blendete
nicht, er verkündete seine Ansichten nicht als erstaunliche
Neuheit. Aber er verbreitete neues Licht und neue Wärme.
Er woUte nur die Wege Rankes wandeln, seines Berliner
Lehrers, den er unbegrenzt verehrte, den er als den größten
Mann zu bezeichnen pflegte, der ihm im Leben begegnet sei.
Sein höchstes Ziel war, ein Werk im Sinne Rankes zu schrei-
ben: über seiner Kirchengeschichte schwebt in der Tat Rankes
:8* <Jkuiiakd 8KEi>i(ii;it: • l7^«7
ahgekliirtcr historischer <i(isl. Aber «t ii;vhi üht'v IJanke
hinaus.
In riiuMH Zeitalter, da «lii- (Jcsflnchtswissonscliuft alto
Kiehtuii^on v.u verwerfen strebte, da Neuerer auf neuen Bah-
nen in Unrast einherjagten, ihren eigenen Ruhm virkündeten,
das Alte vielfach entstellten und sehmähten, ging Ilauck, un-
beküuunert um den Lärm, ruhig seinen Weg weiter: forschte
und schrieb. Er erhol) nie den Anspruch, ein Neuerer zu sein,
er ging überhaupt nicht darauf aus. Neues zu bieten, aber er
entdeckte auf seinem stillen Forscherweg viel, sehr viel des
Neuen. Und er faßte die Aufgabe der Cieschichtschreibung in
einer Weite und Tiefe, die das Herkömmliche hinter sich ließ.
Er nahm nie teil an den stürmischen Hufen nach einer all-
gemeinen Reform der Geschichtswissenschaft, nach eineiu
Hinausgehen über Personen- und politische Geschichte, nach
einem Zusammenfassen zur allgemeinen Kulturgeschichte, er
stand scheinbar ganz abseits, ein Vertreter des Alten. Und
doch hat er einen entscheidenden Schritt nach vorwärts ge-
tan. Er hat das Widerspiel individueller und kollektiver
Kräfte in der historischen Entwicklung, er hat die Einheit
und den Zusammenhang der mannigfachen historischen Bil-
dungen zu erfassen cresucht, er hat von der Geschichte der
Kirche aus, die ja im Mittelalter den Mittelpunkt des ge-
schichtlichen Lebens überhaupt bildete, tiefsinnig Kultur-
geschichte im wahren Sinne geschrieben und das erfolgreich
getan, was manche bewußte Reformer nicht zu erreichen
vermochten.
Der stille Gelehrte, der nie nach dem Erfolg fragte, hat
Unvergängliches geschaffen. Ein Mann von großer Schlicht-
heit und zugleich von schlichter Größe.
(
70, 7j AliBERT HaUCK. 2Q*
Anhang.
Hancks Schriften.
Tertallians Leben und Schriften. Srl&ngen 1877.
Die Entstehung des Christustypus in der abendländischen Kunst. Heidel-
berg i83o (Sammlung von Vorträgen III, 2).
Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, in zweiter
durchgängig verbesserter und vermehrter Auflage herausgegeben von
J. J. Hkrzog, G. L. Plitt und A. Hauck. Bd. 8 ff . Leipzig 1881 ff.,
von Bd. 12, 1883, an bis Bd. 18, 18S8, allein fortgeführt von A. Hauck.
Vittoria Colonna. Heidelb. 1882 (Sammlung von Vorträgen VII, 2).
Die Bischofsvp^ahlen unter den Merowingern. Erlangen 1883.
Prof. Dr. H. Schmid, Lehrbuch cfer Dogmengeschichte. 4. Aufl. neu-
bearbeitet von Hauck. Nördlingen 1887.
Zur Missionsgeschichte Oberfrankens (Blätter für bayerische Kirchen-
geschichte 1888).
Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. i — 5». 1—4. Aufl. Leipzig 1887
bis 1910.
Die Entstehung der bischöflichen Fürstenmacht (Leipzigei Universitäts-
programm zur Feier des Reformationsfestes) 1891.
Die Erklärung von Ekkehards casus S. Galli c. 87 (Festschrift zum
deutschen Historikertage in Leipzig. Ostern 1894).
Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl.
herausgeg. von A. Hauck. 22 Bände und 2 Ergänzungsb. Leipzig
1896— 1913.
Der Kampf um die Gewissensfreiheit. (Hochschulvorträge für Jeder-
mann. Heft 6.) Leipzig 1898.
Friedrich Barbarossa als Kirchenpolitiker. (Leipziger Rektoratsrede.)
Leipzig 1898.
Über die Exkommunikation Philipps v. Schwaben (Berichte über die
Verhandlungen der Sachs. Gesellsch. d. Wissenschaften 56/3). Leip-
zig 1904.
Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VUI.
(üniversitätsprogramm zur Feier des Reformationsfestes). Leipzig
1904.
Worte zum Gedächtnis an Oskar von Gebhardt. Gesprochen am 14. Nov.
1906 (Berichte der Kgl. Sachs. Gesellsch. d. Wissensch. 1906). Leipzig.
Die Rezeption und Umbildung der allgemeinen Synode im Mittelalter
(Historische Vierteljahrscbrift Bd. 10). Leipzig 1907.
Die angeblichen Mainzer Statuten von 1261 und die Mainzer Synoden
des 12. und 13. Jahrhunderts. (Theolog. Studien, Th. Zahn zum
10. Okt. 1908 dargebracht.) Leipzig 1908.
30* (Jeuiiaui» Skki.iuki:: Amikim' IJauck. l70, 7
Die EntHteliuni^' der ;;oisUichen Territorit'ii (Alihandluugeri iler Kgl.
Sachs. (Jpsellsch. d. WisspiiHch. 27). Leii)/.ip i90<).
Deutschland und die päpstliche Wcltherrschart (Universitütsprogramin
zur Feier des Reform iitionsl'estoa). Leipzig lyio.
Kleinigkeiten I: Zu Mechthild von Magdeburg (Th. Briegers Zeitschrift
für Kirchengeschichte 32). Leipzig loii.
Die Trennung von Staat und Kirche. Ein Vortrag. Leipzig ifji2.
Gedächtnisrede am Sarge des l^rofessor DI)r. Theodor lirieger, geh. am
II. Juni 1015. 0. 0. u. .1. (Leipzig 1915).
Studien zu Johann Huss (Universitiltsprograinm zuj Feier des Reforma-
tionsfestes). Leipzig 1916.
Evangelische Miesion und deutsches Christentum (Flugschriften der
deutschen evangelischen Missionshilfe. Heft 4). Gütersloh 1916.
Deutschland und England in ihren kirchlichen Beziehungen. Acht Vor-
lesungen im Oktober 1916 an der Universität Upsala gehalten.
Leipzig 19 17.
Apologetik der alten Kirche. Leipzig 19 18.
Die Reformation in ihrer Wirkung auf das Leben. Sechs Volkshoch-
schuivorträge. Leipzig 191 8.
9
Drucki'enig erklärt i6. IL 1919.]
Ordentliche einheimische Mitglieder der philologisch-
historischen Klasse.
Geheimer Hofrat Eduard Sievers in Leipzig; Sekretär der philol.-
histor. Klasse bis Ende des Jahres 1920.
Geheimer Hofrat Richard Heime in Leipzig, stellvertretender
Sekretär der philol.-histor. Klasse bis Ende des Jahres 1920.
Geheimer Hofi-at Erich BetJie in Leipzig.
Geheimer Hofrat Erich Brandenhurf/ in Leipzig.
Geheimer Eat Friedrich Kart Bnigmann in Leipzig.
Geheimer Hofrat Karl Bücher in Leipzig.
Professor Angtist Gonrady in Leipzig.
Professor Berthold DelhrücJc in Jena.
Geheimer Hofrat August Fischer in Leipzig.
Geheimer Hofrat Max Förster in Leipzig.
Geheimer Rat Georg Göts in Jena.
Geheimer Hofrat Alfred Körte in Leipzig.
Geheimer Hofrat Albert Köster in Leipzig.
Professor Paul Koschaicer in Leipzig.
Geheimer Hof rat Johannes Kromayer in Leipzig.
Geheimer Rat Hermami Lipsius in Leipzig.
Geheimer Rat Ludwig Mittds in Leipzig.
Studienrat Eugen Mogk in Leipzig.
Professor Matthias Murko in Leipzig.
Geheimer Regierungsrat Joseph Fartsch in Leipzig.
Geheimer Hofi-at Wilhelm Boscher in Dresden. ^
Geheimer Hofrat August Schmarsow in Leipzig.
Geheüncr Hofrat Richard Schmidt in Leipzig.
Geheimer Hofrat Gerhard Seeliger in Leipzig.
Geheime)- Rat Wolde^nar von Seidlits in Dresden.
Geheimer Hofrat Georg Steindorff' in Leipzig.
Geheimer Hofi'at Wilhelm SUeda in Leipzig.
Geheimer Rat Frans Studniczku in Leipzig.
Professor Uaris Stumme in Leipzig.
1919. a
]| Mitoi.ikdkk-Vkmxkiciirin
ricbeimor Rat Grotß Tmi in nrt>>d('M.
(lehoiiner Hofrat -Johannes Volhdl in Leipzig.
Oebeinior Hut K<irl Wocrnunw in Dresden.
• teheimer Hofrat llrinriih Znmt\nn in ljpii)'/.ig.
Frühere ordentliche eiiiheiuuHclie, gej^enwärtijj; ttuswärtigt
Mitgliedor der philoloj^iscli-historischen Klasse.
Gebeimer Hofrat Lnjo Brentano in ^lüncben.
Geheimer Rej^ierungsrat Friedriclt Delifzseh in Bf^rlin.
Gebeimer Hofrat Fruilrieh Kluge in Preibiirg i. B.
Gebeimer Regierungsrat Friedrich Marx in Bonn.
Gebeinior Rat Frieli Mitrcls in München.
Professor Ulrich ^V>lcken in Berlin.
Ordentliche einheimische Mitglieder der mathematisch-
physischen Klasse.
Geheimer Hofrat f)tto IJölder in Leipzig, Sekretär der mathem.-
phys. Klasse bis Ende des Jahres iQ^Q-
Gebeimer Regieningsrat Fritz JRinne in Leipzig, stellvertretender
Sekretär der matbem.-pbys. Klasse bis Ende des Jahres IQIQ.
Geheimer Bers:ra,t Richard Beck in J'^reiberg i. Sa.
Gebeimer Hofrat Wilhelm Biedermann in Jena.
Geheimer Medizinalrat Ihidolf Böhm in Leipzig.
Geheimer Hofrat Heinrich Brxms in Leipzig.
Gebeimer Hofrat Theodor Des Coudres in Leipzig.
Gebeimer Rat Oslcar Drude in Dresden.
Gebeimer Rat Wilhelm Ellenberger in Dresden.
Gebeimer Rat Faul Flechsig in Leipzig.
Gebeimer Hofrat Fritz Foersfer in Dresden.
Profpssor Siegfried Garten in Leipzig.
Gebeimer Hofrat Wilhelm Hallwachs in Dresden
Geheimer Hofrat Arthur Hantzsch in Leipzig.
Professor Hrns Held in Leipzig.
Professor Gustav Herglotz in Leipzig.
Gebeimer Hofrat Ludteig Enorr in Jena.
Geheimer Bergrat Franz Kossmat in Leipzig.
iVllTULlKUEI^-VRHZBICaHlS. 111
Geheimer Rat Mariin Krause in Dresden.
Geheimer Hofrat Max Le Blanc in Leipzig.
Professor Eobert Luther in Dresden.
Geheimer Rat FeUx Marcfnind in Leipzig.
Professor Johannes Meisenhelmer in Leipzig.
Geheimer Rat Carl Neumann in Leipzig.
Professor Arthur c. Octiingen in Leipzig.
Geheimer Hofrat Wilhelm Ostivald in Groß-Bothen.
Geheimer Hofrat Karl Paal in Leipzig.
Geheimer Rat Wilhelm Pfeffer in Leipzig.
Geheimer Hoft-at Karl Hohn in Leipzig.
Professor Max Siegfried in Leipzig.
Professor Ernst Stahl in Jena.
Geheimer Rat Johannes Tlimnae in Jena.
Geheimer Hofrat Otto Wiener in Leipzig.
Wii-klicher Geheimer Rat Exzellenz Wilhelm Wundt in Leipzig.
Außerordeutliche Mitglieder der mathematisch-physiscibieB
Klasse.
Professor Johamies Felix in Leipzig.
Professor Hans Stobhe in Leipzig.
Frühere ordentliche einheimische, gegenwärtig auswärtige
Mitglieder der mathematisch-physischen Klasse.
Geheimer Hofrat Ernst Bechmann in Berlin.
Geheimer Hofrat Vilhelm Bjerknes in Christiania.
Professor Friedrich E^igel in Gießen.
Geheimer Regiertmgsrat FeUx Klein in Göttingen.
Archivar :
Julius Erich Schröter in Leipzig.
IV.
^iroi<iKi>i';K-\ KRZKicum».
Verstorbene Mitglie<ler.
Ehrenmitgliodor.
Falk e)},<f ein y Joho>iv Pattl von. 1882.
Gnbcr, Carl Frioiruli ro)}. 1891.
Sei/drwiis, Kurt Damm Paul van. U)io,
Wiciersheim, Karl Atwusft Wühdm Kduard ron,
1803.
l*hilologisch-his
AJbrechi, IJdvard. 1876.
Anituon, C}iri'ito2)h Friedrkh von,
1850.
Beck.er, Wühelw Adolf, 1846.
Berger, Htigo, 1904.
BircJi-HirscJifeJd, Adolf, 191 7.
Böhtlxngli. Otto. 1904.
BrockJmus, Hernumn, 1877.
Bursian, Conrad, 1883.
Ourtius, Georg. 1885.
Droysen, JoMnn Gustav, 1884.
Ebers, Georg, 1898.
Ebert, Adolf, 1890.
Flecl-eiseth Alfred, 1899.
Fleischer, Heinr. Lcberedd, 1888.
FliigeJ, Ghistav, 1870.
Franke, Friedridi, 187 1.
Gabdenü, Hans Cono-n von der.
1874.
Gabdentg, Hans Georg Corton
von der, 1893.
Gebliardt, Oscar von, 1906.
Gdne^-, Hdnrich, 1906.
Gersdorf, Ernst Gotthdf, 1874.
Gattung, Carl, 1869.
Giitsdimid, Hermann Alfred von,
1887.
Höwe?, Gustav, 1878.
Hand, Ferdinand, 1851.
Hartenstein, Ghisfav, 1890.
torisclie Klasse.
Ha^'sr, Friedridi Christian Au-
gust. 1848.
Hauch, Albert, 1918.
Haupt, Moritz, 1874.
Hdnrici, Gemg, 1915.
Hcinse, Max, 1909.
Hermann, Gottfried, 1848.
Hirzd, Budolf, 191 7.
Hulfsch, Friedrich, 1906.
Jacobs, Friedrich. 1847.
JflJw. Otto, 1869.
Janitsdidx, Hubei-t. 1893.
Ä'ei/, Bruno, 1916.
Kohle)-, Beinhold, 1892.
Krdil, Ludolf, 1901.
Lampredit, Karl, 19 15.
Lange, Ludwig. 1885.
I/ßskien, August, 191 6.
Marquardt, Carl Joadivm, 1882.
Blam'enbr edier, Wilhelm. 1892.
Meister, Bichard, 191 2.
Miasliowshi, August von, 1899.
Mtdidsen, Andreas Ludtoig
Jacob, 1881.
Momwsen, Theodor, 1903.
Nipperdey, Carl, 1875.
Noorden, Carl von, 1883.
Overbedc, Johannes Adolf. 1895.
Pertsdi, Wilhelm, 1899.
Besdid. Oscar Ferdinamh 1875.
MlTÖLIKDER - VeHZEICHNIS .
Peter ^ Hermann, 1914.
Preller, Ludici{/, 1861.
Rätsel, Friedrich, 1904.
Bihhed-, Otio, 1898.
RifsdiL Friedrich Wilhelm, 1876.
Rohde, Erwin, 1898.
Röscher, Wilhelm, 1894.
Bvge, Sophus. 1903.
Sauppe, Hermann, 1893.
Sclileichet\ August, 1868.
Schrader, Eberhard, 1908.
Schreiher, Theodor, 191 2.
Seidltr, August, 1851.
Seyffarth, Gustav, 1885.
<Söm, Albert, 1899.
ÄoÄw, Rudolph,, 191 7. '
Springer, Anton, 1891.
-StorA;, Cad Bernhard, 1879.
Stohhc, Johann Ernst Otto, 1887.
TwcZt, Friedrich, 1867.
I/Äer^ Friedrich Augmf. 1851.
F<%<, Georg, 1891.
F(%/, Moritz, 1905.
Wachsrrmth, Curt, 1905.
Wachsmuth, Wilhelm, 1866.
TTäc/ifer, Cad öcw^ vow, 1880.
We5<erwiöww, _4w^o», 1869.
Wiwt^wcÄ, Ernst ^ 191 8.
TFM?Ä;er, Richard Paul, 1910.
Zarnche, Friedrich, 1891.
Mathematisch-physische Klasse
^7j?>^, A'ms/, 1905.
Arrest, Heinrich d', 1875.
ßaltzer, Heinrich Richard, 1887.
Besold, Ijudivig Albert Wilhelm
von, 1868.
HanJcel, Wilhelm Gottlieb, 1899.
Hansen, Peter Andreas, 1874.
HarnacJCj Axel, 1888.
Hempel, Walter,, 1916.
Hering, Eivald, 1918.
Braune, Christian Wilhelm,, 1892. fi^is, Wilhelm, 1904.
BruJms, Carl, 1881.
Carus, Carl Gustav, 1869.
Cartis, Julius Victor, 1903.
C/mw, iTaW, 191 4.
Cohnhdm, Julius, 1884.
Credner, Hermann, 191 2.
Döbereiner. Johann Wolfgang,
Hofmeister, Wilhelm, 1877.
HuschJce, Etnil, 1858.
Knop, Johann August LudwiAj
Wilhelm, 1891.
iToZ&e, Hermann, 1884.
Krüger, Adalbeii, 1896.
Kunze, Gustav, 1851.
Lehmann, Carl Gotthelf, 1863.
1849.
DroUsch, 3Toritz Wilhelm, 1896. LeucJcart, Rudolph, 1898.
Erdmann, Otto Limid, 1869, Ü6', Sophus, 1899.
Fechner, Gustav Theodor; 1887, Lindenau, Bernhard August von,
Feddersen, Wilhelm, 1918.
Fischer, Otto, 1916.
Funice, Otto, 1879.
Gegenbaiir, Carl, 1903.
Geinitz, Harns Bruno, 1900.
1854.
LuduAg, Carl, 1895.
Marchand, Richard Fdix,
Mayer, Adolf 1908.
Mettenius, Georg, i8ö6.
1850.
VI
Mitoijkdkk-Vkkzkioinih
Hföbius. Ati;iHst Ft'rdiHnml. i8ö8.
Müller, Wühdm, iqog.
Xnunidnn, Carl Friedrich. 1873.
Pöppig. Ednord, \ 868.
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Rnch, Frrdinovd, 1882.
Richihofni, Firdimmd r., 1905.
ScJicnrr. Theodor, 1875.
Schcibvcr, \Vdhd)n, 1908.
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Srhicidcn, Matthias Jacob. 1881.
Schlöm ilch , 0<icar . i » )0 1 .
Schmitt, liudolf Wilhehn. 1898.
Sdiumann, Victor, 19 12.
SchwägricJicn. Christian Fried-
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Secherk. I/itdicifj Friedrich 1177-
hdm August, 1849.
Stein, Säumet Friedrich Natha-
nael von, 1885.
Stahmann, Friedrich, 1897.
Töpler, Au/iu.st, 191 2.
Volkuvinn. Alfred Wilhelm, 1877.
Wcbtr. Eduard F'riedrich, 1871.
Wß6«-. 7?r//>7 Heinrich, 1878.
Wc&n-. Wilhelm, 1891.
W/c<?c>Hrt/m, Gustav, 1899.
ir/w/c^r, Clemens, 1904.
M%ü/rm?/s, Johannes, 1902.
Zeimer, Gustav Anton, 1907.
Zirkel, Ferdinand, 19 12.
Zöllner, Johann Carl Friedrich,
1882.
Leipzig, am 31. Dezember 1018.
V![
VcrzeiclmiH
d«r bei der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
im Jahre 191 8 eingegangenen Schriften.
I. Von gelehrten Gesellschaften, Universitäten und öffentlichen
Behörden herausgegebene und periodische Schriften.
Deutschland,
Abhandlungen der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Philos.-
histor. Klasse. 1917, Nr. 7.8 1918, Nr. i — 14. Eintse, 0, Gedächt-
nisrede auf Gust. V. SchmoUer. Physikal.-math. Klasse. 1918,
Nr. 1 — 4. Waldeyer-Hartz, W. v., Gedächtnisrede auf Aug. _Brauer
Berlin.
SiUungsberichte der K. Preuß. Akad. der Wissensch. zu Berlin. 191 7,
Stück 39—53. 1918, Stück 1—38. ebd.
Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin. Jahrg. 51,
No. I — 12. 14 — 16. Nachtrag zum Mitgliederverzeichnis. Januar
1918. ebd. 1918.
Wissenschaft!. Abhandlungen der Physikal.-techn. Beichsanstalt. Bd. 4,
' H. 3. Berlin 19 18.
Die Tätigkeit der Physikal.-techn. Reichsanstalt i. J. 1917. (S.-Abdr.
aus: Zeitschrift f. Instrumentenkunde. 38.)
Jahrbuch der K. Preuß. geolog. Landesanstalt und Bergakademie. Bd. 36,
T. 2, H. I. 2. Bd. 37, T. I, H. I. 2. Berlin 1915— 17.
Beiträge zur geolog. Erforschung der Deutschen Schutzgebiete. H. 13.
14. Berlin 1916.
Ergebnisse von Bohrungen. Mitteilungen aus dem Bohrarchiv der K.
Geolog. Landesanstalt. H. 7. Berlin 1915.
Bericht über die Tätigkeit des Zentral bureaus der internationalen Erd-
messung i. J. 19 17. Berlin 1918.
Beiträge zur kommunalen Kriegswirtschaft. Bd. 2. Nr. 11 — 39. Bd. 3.
Nr. I — 6. Berlin 0. J.
Politische Correspondenz Friedrichs des Großen. Bd. 37. Berlin 1918.
Bonner Jahrbücher. Heft 124. Bonn 1917.
Berichte über die Tätigkeit der Provinzialkommiseion f. d. Denkmal-
pflege i. d. Rheinprovinz (zuvor: Berichte der Provinzialkomm. f.
Denkmalpfl. . . . innerhalb der Rheinprov.). i. 4. 1914 — 31. 3. 1916.
— Beilage zu Heft 124 der Bonner Jahrbücher.
Vlll VkRSKK IIMS KUH KIK'UrriANOKNKN ScHMiyTKN.
Verhaiuiluiigou der tltutschou physikaliBclion (iüBcllHchalt i. .Jaliro 11)17.
.I:ihr;r- i9, Nr. 21--24. 20, >ir. 1 — 20. HiaunBch weij^ 1017.
l>ie Fortschritte dur Physik im Jahre 1916. Jahrj». 72. Dorj^estollt
von iler ileutscben ph\ sikalischtni (leBcllschaft. Abt. 1 — 3. llrauii-
schwi'io^ 1917.
B»mcht des wcstpre^ißisclioii liotanisch-zoolo^isc.hon Vereinn. 40. Han-
xig i9ivS.
Schriften der iiiiturlorsciieudeu Ge«ellscliafL iu Dan/.ig. N. F. Bd. 14,
H. 4. ebd. rgiS.
Statistisches Jahrbuch f. d. Köui^r. Sa»;h8«'n. Ilersg. v. K. Silchs. Statist.
Landt'Bamte. Aus}i;abo 43. 191O/17. Dresden [1918).
Jabresbi'richt der K. idFoutlichen lUbliothek zu, Dresden auf »ta« Jahr
1917. Nebst einer Beilage. Dresden 1918.
.Jahresbericht der GesellBchaft für Natur- und Heilkunde in Dresden
1916/17. München 1918.
Sitzungsberichte und Abhanillungen der naturwisscuHchaftlichen GeBcll-
Bchaft Isis in Dresden. Jahrg. 1917. Dresden 1918.
Verzeichnis der Vorlesungen und Übungen au der K. Sachs. Techni-
schen Hochschule f. d. Somtnersem. 1918. Wintersem. 1918/19. —
l'ersonalverzeichuis. Nr. 57. Sominersem. 1918. Dresden 1918.
Zeitschrift des K. Sachs. Statist. Landesamtes. Jahrg. 62. 1916. — 63.
19 17. Dresden.
Mitteilungen der Pollichia, eines naturwissenschaftl. Vereins der Rhein-
pfalz zu Bad Dürkheim. No. 30. Jahrg. 71/72. 191 6/ 17. Bad
Dürkheim 1917.
Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. 19 17.
Bd. 29. Düsseldorf 1918.
.Jahrbuch f. d. Berg- u. Hüttenwesen im Königr. Sachsen. Jahrg. 1917.
91. Jahxg. Freiberg i. S.
Programm der K. Sachs. Bergakademie zu Freiberg f. d. 153. Studien-
jahr 1918/19. Freiberg 1918.
Verzeichnis der Vorlesungen auf der Großherzogl. Hessischen Ludwigs-
Univers. zu Gießen. W.-S. 1917/18. S.-S. 1918. W.-S. 1918/19.
Personenbestand. W.-S. 1917/18. S.-S. 1918. — Schian, M., Volk,
Religion, Kirche. Akad. Rede zur Jahresfeier ... i. 7. 1917. —
Weihnachtsgruß der Univ. Gießen. 1917. — i Habilitationsachrift.
— 42 Dissertationen a. d. J. 1917/18.
Abhandlungen der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.
Philologisch-historische Klasse. N. F. Bd. 16. No. 6. Berlin 1917-
Nachrichten von der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.
Math.-phys. Kl. 1917, H. 2. 3. Beiheft. — Philol.-hist. Kl. 1917.
H. 3—5. 1918. H. I. 2. Berlin d. J.
Abhandlungen der Naturforschenden Gesellsch. zu Halle a. S. Neue
Folge. No. 1—6. Halle a. S. 1912 — 18.
Leopoldina. Amtl. Organ d. Kais. Leopoldinisch-Carolinisch deutschen
Akad. der Naturforscher. H. 54. Halle 1918.
Nova Acta Academiae Caes. Leopoldino-Garolinae germanicae naturae
curiosorum. Tom. 103. ebd. 1918.
VeHZKICHNIS DEK EINtiEGAKQKNKK ScHHIFTEN. IX
Jahresbericht der Hamburger Sternwarte in ßergedort" f. d, J. 1917.
Hamburg 1918.
Abhandlungen der Heidelberger Akad. der Wissensch. Philos.-hiat. Kl.
Abh. 4. Heidelberg 1917.
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wisöenschaften.
Mathem.-naturw. Kl. A. Bd. 8. Jahrg. 1917. Abh. i — 17. B. Bd. 8.
Jahrg. 1917. Abh. 4 — 7. — Philos.-histor. Kl. Bd. 8. Jahrg. 1917.
Abh. 2 — 13. — Jahreshett 1917. ebd. 1917. 18.
Neue Heidelberger Jahrbücher. Bd. 20, H. 2. ebd. 1918.
Verhandlungen des Naturhistorisch- Medizinischen Vereins zu Heidelberg.
N. F. Bd. 13. H. 3. ebd. 1917.
Fridericiana. Großherzogl. Badische Technische Hochschule zu Karls-
ruhe. Jahresbericht über das Studienjahr 1916/17. — Vorlesungs-
verzeichnis f. d. S.-S. 1918. Studienj. 1918/19. — 2 Dissertationen
a. d. J. 1918/19.
Verzeichnis d. Vorlesungen a. d. Universität zu Kiel. S.-S. 19 17. W.-S,
1917/18. — 91 Dissertationen a. d. J. 1917.
Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg
i. Pr. Jahrg. 54 (1913) — 58 (1917). Leipzig u. Berlin 1914— 18.
Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes. Bd. 14. 15, No. i.
Leipzig 1918.
Jahresbericht der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft. Leipzig, im
Mai 19 18.
Encyclopädie der Mathematischen Wissenschaften. Bd. 3, i. Heft 6.
3, 2. Heft 7. 6, iB. Heft 4. Leipzig 1918.
Mitteilungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertums-
kunde. Heft 13. Nr. 5 — 10. Lübeck 1917 f.
Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertums-
kunde. Bd. 19. H. 2. Lübeck 1918.
Mainzer Zeitschrift. Zeitschrift des Römisch - Germ. Central-Museums.
Jahrg. 12/13, 1917- 18. Mainz 1918.
Jahresbericht der Fürsten- u. Landesschule St. Afra in Meißen. 1916/18.
Meißen 19 18.
Abhandlungen der K. Bayer. Aka^i. d. Wi.tis. Mathem.-phys. Kl. Bd. 28,
Abh. 9. 10. München 1918.
Abhandlungen der K. Bayer. Akademie der Wissenschaften. Philos.-
philolog. u. histor. Klasse. Bd. 30, Abh. i. ebd. 191 8.
Jahrbuch der K. Bayer. Akademie der Wissenschaften. 1917. ebd. 1917.
Sitzungsberichte der mathem.-phys. Kl. der K. Bayer. Akad. der Wiss.
zu München. 1917. H. 3. ebd.
Sitzungsberichte der philos.-philol. u. der histor. Kl. der K. Bayer. Akad.
d. Wiss. zu München. 1917, Abh. 5 — 10. 1918, Abh. i. ebd.
Mitgliederverzeichnis April 1917 (für beide Klassen).
Finsierwalder, Sebastian, Alte u. neue Hilfsmittel der Landesvermessung.
(Festrede geh. i. d. öffentl. Sitzung der K. Akad. d. Wiss. München
15. II. 1916.) ebd. 1917.
Bericht über die 58. Vollversammlung der historischen Kommission bei
der K. Bayer. Akad. d. Wiss. ebd. 1918.
X VkKZWCHMS l»KK KINOKUANUKNKN ScilHIKTKN
1
VerwaltunK»li«'richt iiber das 14. «ioacliilitsjftlir i<)i6 -1917 . . . den . . .
Di'iitsclu'u Musouiiiö Mümhen 1917.
Neue Annalen der K. Sl.-inwarte in Müiirlicii Auf KohIcu livt K. Rayer.
Akad. der Wiöseii>oli. liers- lUi 5, Hfft i. i-l.d. i<M7-
Mittelalterliche Hil.liotliekHkatalo^'O Deutschlands und der Schwei».
IUI. i. München 1918.
45. Jabresberiiht des Westfälischen Provinx-ial-Vcreins für WissenHchaft
und Kunst. Münstor 1917.
AnzeiRer des Germanischen Nationahnuseunis. .lahrj,'. 1917- H. 1—4.
Nürnberg 1917-
Abhaudlunpen der N'aturhistorischen iicsellHcbaft /u Nürnberg. Bd. 21,
H 2 Nürnberg 1917.
.Jahresbericht der naturbistorischen Gesellschaft zu Nürnberg über das
Jahr 1917 Nürnberg.
Mitteilungen des Vereins für vogtlilnd. Geschichte u. Alti-rtumskunde
zu Plauen i. V. 28. Jahresschrift auf d. J. 1918. Plauen d. .1.
Historische Monatsbliitter. lU'ilage zu der Zeitschr. der Histor. Gesellsch.
f d. Pjovinz Posen u. der Histor. Gesellsch. f. den Netzedistiikt.
Jahrg. 17 (1916). 18 (1917)- Posen 1916. 17.
Veröffentlichung des K. Preuß. Geodätischen Institutes. /Totsdam ) N. F.
No. 75. Berlin 1918. — Meissner, 0., Tabellen zur isostatischen
Reduktion der Schwerkraft. Abdr.aus den Astron. Nachr. Nr. 4924— 25.
(Bd. 20'j>. — Febr. 1918.) Kiel IQ18.
Indogermanisches Jahrbuch. Im Auftr. der Indogerm. Gesellsch. hersg.
Bd. 5. Jahrg. 1917. Straßburg 1918.
Schriften der wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg. H. 32—36.
Straßburg 191 8.
Württembergische Vierteljahrsschrift für Landesgeschichte. Heraueg.
von der Württembergischen Kommission f Landesgeschichte. N. F.
Jahrg. 36. (1917). H. 3 u. 4. Stuttgart 1918.
Tfaarander forstliches Jahrbuch. Bd. 69 u. Sonderheft. Berlin 1918.
Ulm. Oberscliwaben. Mitteilungen des Vereins für Kunst u. Altertum in
Ulm u. Oberschwaben. H. 21. Stuttgart 1918.
Jahrbücher des Nassauischen Vereins für Naturkunde. Jahrg. 70.
Wiesbaden 1918.
Österreich -Ungarn.
Rad jugoslavenske akademije znanosti i umjetnosti. Knjiga 216 =
Razreda bist -filol. 94. — 217 = Mat.-prirodosl. razred 62. Zagreb
(Agram) 19 17.
Kjecnik hrvatskoga ili si-pskoga jezika. Na svijet izdaje jugoslav. akad.
znau. i umjetn. Svezak 35. Zagreb (Agram) 19 18.
Vjesnik kr. hrvatsko-slavonsko-dalmatinskog zemaljskog arkiva. God.
19. Sveska 1/2. Zagreb (Agram) 1917.
Zbornik za narodni äivot i obicaje juznih slavena. Na svijet izdaje
jugoslav. akad. znan. i umjetn. Kniga 22. Zagreb (, Agram) 19 17.
Magyar Tudomanyos Akad^mia Almanach. 1918-ra. [Budapest] 1918.
Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark. Jahrg. 16. Graz
1918.
Vehzeichnis der bingkIbangenen Schsiptes. XI
Mitteilungen des naturwissenschaftlichen Vereines für Steiermark. Bd.
53 (1916), 54 (1918). ebd. 1917^-
Carniolia. Izvestja Muzejskega drustva za Kranjsko. N. F. Letn. 9, i. 2.
V Ljubljani (Laibach) 1918.
Kwartalnik etnoffraficzny Lud. Organ towarzystwa ludoznawczego zalo^
zony przez Antoniego Kaling. T. 20. Zeszyt i. 2. We Lwowie
(Lemberg) 1918.
Sitzungsbericht der K. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften.
Mathem.-naturw. Kl. Jahrg. 19 17. — Kl. f. Philos., Geschichte u.
Philol. Jahrg. 1917. Prag 1918.
Jahresbericht der K. Böhm. Gesellschaft der Wissensch. f. d. Jahr 191 7.
ebd. 1918.
Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen.
Jahrg. 55 (1917). 56 (1918). ebd. 1917. 18.
Lotos. Naturwiss. Zeitschrift. Hrg. vom deutschen naturw.-mediz. Verein
für Böhmen „Lotos" in Prag. Bd. 65. ebd. 1917.
Almaaach Ceskd Akademie Cisafe Frantiska Josefa pro vedy . . . 1914.
Itocnik 24 — 1917. Kocnik 27. V Praze 1914 — 17.
Historicky Archiv. Vydävä i. Tfida Cesk6 Ak. Cis. Frant. Jos. . . . 191 5.
Öislo 39. 40. 1916. Lislo 41. 42. V Praze 1915. 16.
Biblioteka klassiku feckych a fimskych, vydävana 3. Tfidou Öesk^
Ak. Cis. Frant. Jos. . . . Cislo 22 — 29. V Praze 1913— 17.
Bulletin international. Rdsumes des travaux presentes. Classe des
Sciences mathämat., natur. et de la medecine. (Acad. des sc. de
l'emp. FrauQ. Jos.). 1913. Ann^e 18 — 1916. Annee 20. Pragae
1913 — 16.
Novoceskä Knihovna. Cislo i (1917) — 3 (1918). V Praze 1917. 18.
Staroceskti Knihovna. Cislo i (1917). 2. (1918). V Praze 1917. 18.
ßozpravy Oeske Ak. Cis. Frant. Jos. . . . Tfida i. 1913. Öislo 49. 50. —
1916. Cislo 55—58. — Tiida 2. 1913. Rocnik 22 — 1916. Rocnik
25. — Tffda 3. 1913. Cislo 37—1917. öislo 44 — 46. V Praze
1913—17-
Sbirka pramenüv ku poznäni literärniho zivota v cechäch na morave a
v slezsku. Skupina i. 1913. Öislo 10. 1914. Cislo 10, Kada 2. —
Skupina 2. 1913. Öislo 18 — 1915. Cislo 22. V Praze 1913 — 15.
Sbornik filologicky. Vydävanä 3. Tiida Ceske Ak. Cis. Frant. Jos. . . .
1912. Kocnik 3 — 1917. Kocnik 6. V Praze 1912 — 17.
toupis rukopisü, knihoven a archivü zemi ceskych, jakoz i rukopisn^ch
bohemik mimocesk/ch, vydävanä i, a 3, Tiidou Öeskö Ak. Cis.
Frant. Jos. . . . 1910. Öislo 2. 1915. Öislo 3. V Praze 1910. 15.
Vestnik Ceske Ak. Cis. Frant. Jos. . . . 1913. Rocnik 22 — 1916. Roc-
nik 25. V Praze 1913 — 16.
'Einzeldchriften der Böhmischen Kaiser Franz Josef- Akademie f. Wissen-
schaften, Literatur u. Kuust.J — Simäk, J. F., Die Handschriften
der Graf Nostitz'schen Majoratsbibliothek in Prag. Prag 19 10. — ^
Sala" , Ant., Isis, Sarapis a bozstva sdruzenä. ... V Praze 1915. —
Kadlec, Kar., Valasia valasske prävo ... V Praze 19 16. — Wenig,
Kar., Dejiny fecnictvi iecköho. Dil. i. V Praze 1916. — Randa,
Ant. Kytif, Prävo vlastnickö die rakouskeho prava . . . Seste vydani.
V Praze 1917. — Eisner, L'ud. V., ßibliogi-afie pisemnictvi slovens-
yyr VbK/KICHNIS diu KINUKOANnK.NKN ScilUIKTKN .
ki'lio. ... I, 1. V l'razo n;«/. - lSii8la, Jos., Dvö knihy cc«k^'cb
de^jin. Kuiha prvm*. V Praze 1917. — TruhUif , Ant., Uukovit
k ]iiKomni(tvi huiiiftiiirtiickriiMi, •/vU'irite In'iHtiickt'mii v ('schnell a na
Moiavi> VC stoloti K«. l)il 1. V i'razt; i<)i.S.
Zur Kunde der Balkanhalbinscl. i. Reläen u. Bt^obacbtun;,'tii. Heft i')-
20. — 2. QiM>llen u. For8chniit»(Mi. lieft 0. Sarajevo 1917. iH.
Almanacli der Kais. AkailtMiiif der WisscnHcliiii'lcn. Jahrjf. 67. Wien
1917.
Anzei)?er der Kais. Akademie d. WisHenscb. iVlatb.-phys. Kl. Jubrg. 54.
ebd. I9I7-
DenkHchriftcn der Kais. Aka<)eniie d. WiKHcnncb. Matb.-natiirw. Kl.
Hd. 93. - rhilos.-biölor. Kl. Bd. 56, Abb. 2. 3. üo, j\bb. i. 3.
02, Abb. i. ebd. 1912. 17. 18.
SitzuDgsbericbte der Kais. Akad. d. WiBöenscb. Matb.-nalurw. Kl.
1kl. 126 (1917) I, Heft 1—9. II", Heft 1—9. H'', Heft i — 10. —
Bd. 127 (1918) Hb, Heft 1/2. — Philos.-histor. Kl. Bd. 180, Abh. i.
iSi, Abh. I. 5. 6. 182, Abh. i. 4 183, Abb. 4. 184, .\bh. 4. 5- 185,
.Vbh. 3. 4. 5. 186, Abh. I. 2. 3. 187. Abh. i. 2. 18S, Abh. 4. ebd.
Fotites reram anstriacarnm. ÖHterreichische GeschichtHqupllen. (Kais.
Ak. der Wiss. in Wien. Philos.-hist. Kl. Histor. KommiBsion). 2.
Abt. Diplomataria et acta. Bd. 68. III. i. ebd. 19 18.
Mitteilungen der Erdbeben-Kommission (Kai.s. Ak. der Wims. Math.-
naturw. Kl.). N. F. Nr. 49. 50. ebd. 1916. 17.
Abhandlungen der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien.
Bd. 9. H. 4. ebd. 1917.
Verhandlungen der k. k. zoologisch-botanischen Geöellschaft in Wien.
Bd. 67, H. 7—10. 68, H. 1—5. ebd. 1917. 18.
Annalen des k. k. naturhistorischen Hofmuseums. Bd. 31. ebd. 1917
Jahrbuch der k. k. geologischen Reichsanstalt. Bd. 66 (1916), H. 2. 3/4.
67 (I9'7)j H. I. ebd.
Verhandlungen der k.k. geologischen Keichsanötalt. .Jahrg. i9i7,Nr.9 — 18.
ebd. 1917.
Verhandlungen der Österreich. Kommission f. d. Internation. Erdmes-
sung. Protokolle über die Sitzungen 1916. 1917. ebd. 1917. 18.
Mitteilungen der Sektion für Naturkunde des Österreichischen Touri-
sten-Klub. Jahrg. 29. ebd. 1917-
Berichte des Forschungsinstituts- für 0.sten u. Orient in Wien. Folge i.
März — Juli 1916. 3. Nov. 1916 — Dez. 1917. ebd. I9i6ff.
Polen. Wochenschrift für polnische Interessen. No. 157 — 208. ebd. 1918.
Dänemark.
Det Kong. Danske Videnskabernes Selskabs Skrifter. Hist. og tilos.
Afd. 7. Pisekke. Bd. 3. No. 3. — Naturv. og math. Afd. 7. Raekke.
Bd. 7, No. 2. — 8. Rajkke Bd. 2, No. 6. Bd. 3, No. i. Kj0ben-
havn 1917. 18.
Oversigt over det Kong. Danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger.
Juni 1917 — Maj 1918. ebd. 1918.
YEKZKICUinS DKK KINGEGAmiKNES ScHKIFTKN. XHI
Det Kong. Danske Videnskabemes Selskab. Bioloj^ske Meddelelaer. i,
3. 4. — Historisk-filolosiske Meddelelser. i, 2. 3. 5—7. 2, i. 2. —
Mathemat-fysiske Meddelelser. i. 3—8. ebd.
Conseil permanent international pour l'exploration de la mer. Publica-
tions de circonstance. No. 71. Copenhague 1918.
Holland.
Verhandelingen d. Kon. Akad. v. Wetenschappen. Afdeel. Letterkunde.
Nieuwe Reeks. Deel 18. No. i. Amsterdam 1917.
ProgTamma certaminis poetici ab Acad. Reg. discipl. Nederlandioa ex
legato Hoeafftiano indicti in annum 1919 Amstelodami 1918.
Rev-ue semestrielle des publications matbematiques. T. 25. (Deux. partie:
1916, Oct — 1917, Avril.) — 26. (Prem. partie: 1917, Avril — Oct.)
ebd. 1917. 18.
Nieuw Axcbief vor mskunde. 2. R«eks. l)eel 12, St. 3. — Wiskundige
opgaven met de oplossingen. Deel 12, St. 5. ebd. 1918.
Archives du Mu&ee Teyler. (Fondation de P. Teyler van der Hülst.)
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Jahresbericht 1017 der Goworhoschult» Zwickiiu. M. JU'ilape: Dan <;^erftde
Zweiblatt u. seine Hei^lcitor.
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BERICHTE
ÜBER DIE
VERHANDLUNGEN
DER SÄCHSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU LEIPZIG
PHILOLOGISCH-HISTORISCHE KLASSE
EINUNDSIEBZIGSTER BAND
iQig
MIT 2 TAFELN UND 3 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
BEI B. G. TEÜBNER
INHALT.
Heft Seite
I E. Bethe, Die Ichneutai des Sophokle3 i — 29
n J. Partsch, Die Stromgabelungen der Argonautensage . . . i — 17
III A. Schmarsow, Das Franciscusfenster in Königsfelden und
der Freekenzyklus in Assisi i — j8
IV M. Förster, Die Beowulf-Handsclirift. Mit 2 Tafeln. . . . 1—89
V W. H. Röscher, Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl
und ihr Verhältnis zum Altpythagoreismua. Mit 3 Figuren i — 114
VI A. Körte, Zu neueren Komödienfunden i — 40
VII R. Heinze, Ovids elegische Erzählung i — 130
Vin B. Keil, Beiträge zur Geschichte des Areopags i — 100
IX J. H. Lipsius, Lysias' Rede gegen Hippotherses und das
attische Metoikenrecht i — 12
X Verzeichnis der Mitglieder der Sächsischen Gesellschaft der
Wissenschaften. Verzeichnis der eingegangenen Schriften I— XVI
Sitzungaprotokolle i — 2
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschafteii
zn Leipzig
Philologisch-historisclie Klasse
71. Band. 1919. i. Heft
E. Bethe
Die Ichneutai des Sophokles
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1919
Vorgetraofen für die Berichte am i. Februar 1919.
Das Manuskript eingeliefert am 14. Februar 19 19.
Druckfertig erklärt am 30. März 1919.
I
/
Die Ichneutai des Sophokles sind nach der ersten Aus-
gabe nur durch Wilamowitz N. Jahrb. XXIX (1912) 453
und von Robert Hermes XL VII (1912) 536 von verschie-
denen Seiten beleuchtet, besonders haben sie sich bemüht, das
lustige Stück lebendig zu machen und zu inszenieren. Man-
cher Widerspruch, der sich sogleich bei mir regte, hat sich,
als ich nach laugei- Pause wieder an sie gins, zu festen Er-
gebnissen verdichtet, die wesentlich von diesen grundleo-en-
den Arbeiten in der Auffassung des Ganzen wie einzelner
Szenen, der Inszenierung und Datierung abweichen. Das
einzigartige Stück verdient und lohnt eindringende Beschäf-
tigung. Der Krieg hat sie wohl verhindert. Nur Ergänzungs-
versuche sind mehrfach noch und nicht ohne Glück gemacht,
obgleich der Rahm natürlich gleich abgeschöpft war. H.
ScHENKLs hübsche Entdeckung (Hermes XLVIII (19 13) 154)
des von Pollux X 34 zitierten Bruchstücks in Vers 309 des
Papyros wird noch evidenter durch die Lesung der beiden
einzigen Handschriften Falkenburgianus-Paris. Bibl. Nat. 2646
und Salmanticensis I 2. 3, die diese Stelle überliefern: Uu-
(poxXijg d' SV 'Ixvevralg aatvQOig £<py]' 'svVjXara §vAa ZQCyo}i(pu
dLccroQogfiQstrca de\ Das einst übergeschriebene de war nur
vom Schreiber der gemeinsamen Vorlage falsch gesetzt, der
Papyrus hat . . opog i^SLÖsruL. So muß der Widerspruch von
LuDOViCA KOETTGEX (Dlss. Boun 19 14. 68) gegen die scharf-
sinnige Einfügung an dieser Stelle verstummen.
I. Der fehlende Anfang.
Der Papyrus beginnt mit der Verkündung eines Preises
auf das Ergreifen eines Diebes, der dem Paion (37) seine
Kuhherde gestohlen hat. Vergeblich hat der Bestohlene die
Länder bis zur Kyllene durchirrt. Nun ruft er's hier aus
ob ihn ein Hirt, Bauer, Köhler höre oder ribv öq\6co3v vv^jl-
ffoyBvvii\[rov yevovs | d-rjQäjv ng, was man nach dem Satyr-
2 K. ni'/iMF,: |7', >
spii'lrest ()x\ ili. l*a|i. 108. i. 7 mit Heclit auf Satyrn deutet.
Herzu läuft (431 der alli' Siloii, erbiUi^ Mas Diii^ /u crja^^en'
Die foI«;(Muleii Verse sind ar^ zcrstiirt. I'.r hat noch erwähnt
47 Tccdda^ d ffiovg öööoiOi. und vom I'hms gesprochen (48)
F.iJC€() ty.relag ä'.Tfj) Ityeig^ über den dann in kh'iner Sticho-
nivthie von q Versen Apoll mit ihm verhandelt (49 f.), um
ihm schlielilieh die Freiheit /.u versjirecdien 57: iki^v&titO:;
6v [:Täv TS ytvog i'ßrca Tty.v\(tn'. Dann ist A{»ü11 verscliwuuden,
bis er im zweiten zerstörten Teil des Dramas (Col. XV 11^
auf Ruf des Chores wieder erscheint. Die Satyrn treten 58
auf. Trotz der Zerstörung ist sicher, daß sie sogleich wissen,
es handle sich um einen Diebstahl (62 fj^ri^t x}M:t . . 67
xZfiujwaTa), um Gold und Freiheit, die der Gott als Beloh-
nung für sie und Vater Silen versprochen (6g ttutqC t' ^-
ksvd-£Qov . . ^abg o <pCXog ccvsrcy TtovoDg 7tQ0(f)y\vag aQCt,i]k«
jfQvGov uTaQadeiyfiaTu).
Dieser Anfang- enthält des Verwunderlichen viel. Und
doch hat sich noch niemand so recht darüber verwundert.
Der Chor weiß alles, was die Zuschauer eben erfahren haben.
War er denn schon vorher zugegen V Aber Silen kam doch
allein herbeigesprungeu auf Apolls Ruf: 39 eztxkvoif^ 42
öot, ^Giß" "JitoXkov 7t(jo6(pLli]g £vs\Qysri]g\ %tko^v yeveö&ai
Tcotö' 67ta66v^riv dpo'/Ltrat, äv Ttag tÖ XQrj^a rovro 60L xvvrjftöco.
Von sich allein spricht er auch weiter 45 /ioi xfif.i£vov.
Das besagt freilich nicht viel, denn auch nachher in Gegen-
wart des Chors betet er 74 xmieIv ^e TiQccyovg ov Öqu^t^^'
iTCsiysTat. Die ersten Worte des Chores aber 57 l^ ays
verlangen wenigstens in diesem Zusammenhange die Deutung,
daß der Chor jetzt erst herbeikommt. So hat die für 48
vorgeschlagene Ergänzung etwas für sich Tcaldag d'e^ovg
0660L6L . . . I n^£jw;rot/x.]' \ü\v. Wenn nun der Chor 65 mxtqixckv
yriQ[vv erwähnt, so ist man versucht, dort ein 'hören zu
erufänzen. Aber Silen hat nicht gerufen. Man müßte da
schon hinter Apolls Abgang 57 den Au.sfall einer Parepigraphe
annehmen, etwa <'^6vQi6fiay. Aber da der Chor schon vorher
l'n;t#i xX(x):i . . vnövoaa (mir unverständlich l . . und öiavvxcav . .
71, i] Die IcHNEUTAi DES Sophokles. 3
gesungeü hat und im Verse nach %axQixäv y^Qlvv ein neuer
Satz beginnt Tt&g Ttäi xä Xdd'Qia . . yAe^uaru tcocjöC^ so liegt
es wohl näher, Öucvvrav mit "/t^Qw verbunden zu denken.
Doch kommt man damit in neue Schwierigkeiten; denn Silen
hat zu den Satyrn noch nichts gesagt.
So bleibt nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten':
entweder ist zwischen 58 und dem Auftreten des Chors ein
größeres Stück ausgefallen, oder der Chor war schon wäh-
rend des Gesprächs, ja schon während der Rede Apolls, die
er ja auch gehört haben muß, also Ton Anfang an zugegen.
Im ersten Falle müßte recht viel ergänzt werden: das Herbei-
rufen des Chors und Darlegung; des Sachverhalts durch Silen.
Dann wäre 58 tO^' äys als Aufforderung zu verstehen, sogleich
das Suchen der Spur aufzunehmen. Und noch wär's nicht
genug. Nach aller Analogie würde man, wird einmal eine
Lücke hier angesetzt, eine ordentliche Parodos annehmen
müssen. So würde man auch bei srerino'er Bemessunff des
ersten Gresanges auf einige Dutzend Verse kommen.
Nur an Ausfall könnte man denken. Und da käme nur
Nachlässigkeit oder Versehen in Betracht. Denn solche Be-
schädigung des Originals hätte doch auch die ersten 58 Verse
mitgerissen. Ein Regisseur aber hätte das Stück nicht zur
Unverständb'chkeit verschnitten für eine spätere Aufführung,
die Verkürzung der Chorpartien forderte: an Euripides He-
rakliden sehen wir solch Verfahren.-^)
Ein derartig großer Ausfall ist nun doch recht unwahr-
scheinlich und ohne Beispiel. Und nähme man ihn an, so
würde man den Silen ja noch einmal erzählen lassen müssen,
was die Zuschauer schon gehört: das Stück würde verschlechtert.
So bleibt nur das andere: der Chor war von Anfang
an da. Aber Apoll spricht nicht zu ihm, sieht überhaupt
niem.anden, wie 32 ff. beweisen, und Silen, der von seinen
Satyrn nicht zu trennen ist, kommt ja erst herbeigesprungen
(43 i7ts66vd-rjv Öqöucol). Da gibt es, nur eine Lösung: Silen
I) T. WiLAMowiTz, Hermes XVII (1882) 337.
4 K. Bktiik: |7'- ■
war mit den Satyrn schon vor Apolloii aulgetreten und sie
hatten sich l)ei seinem Nahen /.urüekge/.ogcn, versteckt. He-
greiflich sind sie doch feige niid Apdil kommt im Zorn da-
lier; ihm /n hegegnen könnte getälirlich werden. DaL^ es
Apoll ist, werden sie von weitem erkannt nnd ihn den Zu-
sehanern angekündigt haben. So dürfte er mit dem ersten
erhaltenen Verse aufgetreten sein. Im Versteck mtn hören
sie alles mit an, was er sagt, nnd kommen, vom Lohn ge-
lockt, hervor, zuerst Silen, dann die Satyrn.') Bei dieser An-
nahme fallen die aufgezeigten Unverständliclikeiten fort. Hat
der Zuschauer sie schon um üit gesehen und gehört, sieht
er sie vielleicht auch wähi'end Apolls Rede lauschend und
gestikulierend, daiin versteht er, daß sie alles wissen, Dieb-
stahl der Herde, Goldlohn und Freiheit, auch daß sie sich
sogleich ans Suchen machen, ohne von Silen autgefordert
und angeleitet zu werden. Der Dichter hätte auf solche
Weise geschickt und munter seinen Chor eingeführt und die
Exposition ohne lästige Wiederholung gegeben.
Dieser Schluß ist, meine ich, zwingend. Noch andere
Erwägungen führen auf dieselbe Folgerung. Silen und seine
Satyrn sind Knechte. Silen hat das nicht gesagt, Apoll auch
nicht. In den zerstörten Versen 52 — 5 kann's kaum ge-
standen haben. Aber 57 stellt Apoll die Freiheit ihnen in
Aussicht, der Chor nimmt das üq auf, er redet, als wüßten
wir längst, daß sie Sklaven sind. Und als Kyllene 215 sie
schilt und ihren Herrn erwähnt, nennt auch sie ihn nicht,
aber spricht, als wisse jeder, wer es ist:
rCg ^stciörccötg tiovojv,
ovg :rQÖ69sv elxsQ di6:n'ny]i ydgiv (ptQov,
vfitv 6g kIsI vaßQivijL xad^r^u^svog
doQKl J(^SQOtv Xe d^VQÜOV EVTlaMl (fBQGiV
OTttö&sv evLci^ar' äj-icfl ruv ^aov
6vv iyyovoig vv^q)aL6t xal Ji^uiyöoji^ ö^Awt.^)
i) So hat Odysseus im Philoktet prelauscht und tritt 974 plötz-
lich hervor.
2) So v. WiLAMowiTz, nrödüjv Pap.
71, i] Die Ichneutai des Sophokles. 5
Wir raten vergeblich. Ob die Athener die Nuß schnell
geknackt hätten, darf man fragen. Aber was sollte hier über-
haupt ein Rätsel? Und wie kann man glauben, daß Sophokles
erst hier von ihrem Herrn und gar noch dunkel gesprochen,
von vornherein aber stillschweigend vorausgesetzt habe, das
Publikum wisse von Knechtschaft und vom Herrn der Sa-
tyrn? Man täusche sich doch nicht mit der ad hoc erfuu
denen Hypothese, im Satyrspiel sei die Knechtschaft üblich
gewesen. So kecke Erfindungen das Satyrspiel liebte, so ist
doch für manche Titel die Annahme einer Knechtschaft kaum
denkbar, z. B. Aischylos Prometheus (fg. 207). Auch im
hübschen Bruchstück Oiyrhynchos Pap. 1083 führt nichts
darauf — BccxxCov vni]QtTai sind sie auch in Freiheit. Im
einzigen erhaltenen Kyklops sind sie freilich Sklaven, aber
Euripides hat ihre Sklaverei breit erklärt und sogleich nennt
er ihren Herrn Polyphem (25). So gehört sich's. Und so
muß es in jedem Stücke gewesen sein; es gibt kein Drama,
das sich nicht aus sich selbst erklärt. Wenn Euripides noch
am Ende seiner Laufbahn — denn dahin gehört der Kyklops,
wie R. Marquart, Leipzig. Diss. 191 2 gezeigt hat — die
Knechtschaft des Satyrnchors sorgfältig motiviert, dann ist
es unwahrscheinlich, daß Sophokles dies Verhältnis still-
schweigend vorausgesetzt haben sollte. Er muß es erläutert
und muß ihren Herrn genannt haben. Ln erhaltenen Stück
ist dafür kein Platz: folglich fehlt der Anfang.
W^eiter. Der Papyrus beginnt mit einer Rede, aber man
ahnt nicht, wer i-edet. Rinder können jedem gestohlen wer-
den. Endlich ,37 nennt der Sprecher seinen Namen: toi'
(pG)Qa t&v Ilaicjvog. Das ist wieder ohne Beispiel. Alk-
Tragiker, ob sie Chor, Gott oder Mensch beginnen lassen,
stets stellen sie die Person sogleich vor: Athene im Aias
sogut wie Hephaist im Prometheus, wie Aphrodite im Hippo-
lyt, obgleich sie doch wohl, sollte man meinen, kenntlich
hätten gemacht sein können. Ja sogar Silen spricht trotz
seines typischen Kostüms, das jeden Zweifel ausschließt, im
Anfang des Kyklops so, daß auch der Blinde sofort weiß, das
f) E. Hkhik: f?', '
ist Sileii: Co Bqö^ii^, öu\ öl /ii'(U(M's' i';^« Jtoi^ots' 1 »'vv xioz'
tv i'ißij Toviioi' tivifii'fi dt^iXi;. Es ist falsch, Apoll in der
Alkestis als HtMspiol jm/iifiihnMi. Er ikmiiiI. tVeilich soiiion
Namen nicht, aber soviel wie ein normaler Tertianer haben
438 die Athener doch auch von der Mytholo«rie gewußt, daB
sie spätestens nueh dem dritten Verse wußte», das ist Apoll:
u) döj^ar 'Iduyrei\ iv olg hX^jV eyoj
/,1-vs yc(Q xciTCiXTcci^ Tialda rbv tfibv «iViotj
yioxh/TCuw^ öTt'QVoiöiv i^ißakiov qjXoyu.
Folglich fehlt der Anfang der Spürhunde.
Was war voran tgegangenV Die Parodos und wahrschein-
lich auch ein Prolog des Silen, ähnlich wie im Kyklops. Da
war erzählt, daß er im Waldgebirge der Kyllene mit seinen
Kindern haust und daß sie dort einem Dionysgenossen (220)
— wir ahnen nicht wem — zu Dienst verpHichtet sind. Und
die Satyrn haben sich hereingetummelt und eine rechte Par-
odos mit drolligen Sprüngen getanzt. Denn wo gäb's ein
Drama ohne Parodos? Und was wäre ein Satyr.spiel ohne
SatyrtanzV Wir besitzen nur den ersten Teil der Spürhunde.
Das Suchen der Spur ist dramatisch, gestaltet mit spar-
samer Verwendung von Gesang, und die Unterhaltung mit
Kyllene ist auch nur durch wenige ganz kurze lyrische
Stücke belebt. Wo bleibt der Chorgesang in diesen 450
Versen? Das Entscheidende aber ist: die Unmöglichkeit ge-
nügender Erklärung erzwingt die Annahme, daß der Anfang
der Spürhunde verloren ist.
Die Verszählung in unserem Papyrus i^eweist dagegen
nichts. Freilich stimmt sie, so gut und schlecht wie das
üblich ist, mit den erhaltenen Versen überein. Wer sie an-
brachte, hat aber nicht mehr gelesen als wir. Der Schreiber
unseres Papyrus hat sie natürlich mit abgeschrieben. Sie geht
zurück auf alexandrinische Zeit. Die Bibliothekare .stellten
durch sie den Umfang ihrer Texte fest. Die Verszahl einiger
heroischer Epen hat das kleine Bruchstück einer 'Bilder-
chronik' K bei Jahn-Michaelis S. 77, Tfl. VI erhalten xai
71, i] Die Ichneutai des Sophokles. 7
^davaidag G(p' BTCSiv xal xov .. ri]v Olötxöösiav rrjv vno Kivai-
d^covog xov . . I . . XE$ a:tSiV ovöav 61' v7Cod^rJ6o^sv &rjßaiöa . .
So^ar in den Prosaschrillen war Zeileuzählung durchgfeführt,
wie die in Photios Bibliothek cd. 176 p. 1 20 B 40 erhaltene
Notiz zeigt, Theoponip habe nicht weniger als 20000 exr]
epideiktischer Reden und mehr als 150000 sonstiges ge-
schrieben.
In die alexandrinische Bibliothek sind die Ichneutai nur
in einem verstümmelten Exemplar gelangt. Hesiods Ge-
dichte, die Homerischen Hymnen, Aischylos Sieben mit dem
unechten Schluß, Euripides Iphigenie in Aulis mit dem
doppelten Anfang, seine Herakliden mit den verkürzten
Chören, der Rhesos mit drei Prologen geben Analoga, wenn
ich auch ein am Anfang verstümmeltes Stück nicht anführen
kann.
Satyrspiele haben sich schlecht erhalten. Der eine
Kyklops s^ Tragödien gegenüber steUt ein schlimmes Ver-
hältnis dar. Der Grund ist klar. Die Didaskalien des
IV. Jahrhunderts CIA 11 973 = Wilhelm, Urkunden dram.
Auff. S. 40 zeigen, daß das Interesse für das Satyrspiel im
Erlöschen war. Auf 6, ja 9 neue Tragödien und eine
klassische fiel ein einziges Satyrspiel und zwar ein neues.
Daß 'alte' Satyrspiele wie 'alte' Tragödien damals aufgeführt
sind, dafür fehlt jedes Zeugnis.^) So ist es nur zu begreif-
lich, daß die Texte zugrunde gingen, man las sie auch nicht
mehr. Als sich die Alexandriner wieder für diese Raritäten
interessierten (AP VII 37, 707), war es für viele zu spät.
Ov 6(p^£xca steht zum Satyrspiel in der Medeahypothesis.
Auch nur in Titeln, <reschweio-e denn Bruchstücken können
wir nicht viele mehr nachweisen. Sie nahmen natürlich was
sich bot, auch wenn es unvollständig war.
i) Meinen Widerspruch Prolegomena 245 f. gegen die Ergänzung
der angeblich rhodischen vielmehr, wie Wilhklm wahrscheinlich machte,
römischen Inschrift IG. XII i. 125 = Wilhelm S. 205 durch Kaibel
muß ich auch gegen Hili-eu aufrecht erhalten, wie auch Wilhelm
jsweifelt.
8 K. üktiik: [71, '
2. Di«' IitM<'i*kI;iii^e und das Horaiistrommrlii.
Apoll verkündet im K vlleiie<i;el»irge den l)iel)stalil seiner
Kinder und verheißt dem iMiuler reichen liolin. Silen liüpfi
herbei, verspricht, sie zurück/uliel'ein und nuiclit sich sogleich
;in die Arbeit — mit einem (lebet an Tvche und den 'Lenker'.
]\Tan verkennt den Spaß, wenn man ihn seinen Aufruf 4iat's
einer gesehen oder gehört, der sag's' (//), an die Zuschauer
richten läßt. Nein, der faule Alte will sich nicht unnüt/
Mühe machen. Er versucht erst, andere vorzuspannen. »So
wiederholt er, was el)en Apoll verkündet, nur. ohne J>eloh-
nuug in Aussicht zu stellen. Und der (Jhor brüllt nach.
Das wäre ja zwecklos, hätte er sich an die Zuschauer ge-
wandt, desto mehr Sinn hat das Ausschreien in den Berg-
wald hinein. In der Komödie, die zu dieser Auslegung ver-
führte, werden die Herren Zuschauer l)ei solchen Gelegen-
heiten angeredet. Hier nichts davon. Die Faulheit und
Dummverschraitztheit wird so drollig charakterisiert. Erst
als sich wirklich niemand meldet — es sind Pausen des
Lauscheus und Wartens hinter 81 und 84 zu denken —
macht sich der Alte selbst an's Werk — 86 ist hübsch in
diesem Sinne ergänzt eoixev rjörj x\ ccl JtQÖg Igy ÖQfiäv (is \ delv \
— und stellt nun die Satyrn an.
Sie finden rasch die Spuren der Rinder. Nie gehörte
Klänge von der Leier des verbororenen Hermesbuben er.
schrecken sie so, daß sie davon ablassen (125). Die Straf-
predigt des Silen und sein energisches Drängen treibt sie,
die Fährte wieder aufzunehmen. Ein zweiter Klang erregt
sie noch mehr, sie vergessen die Rinder und drängen, den
geheimnisvollen Ton zu enträtseln (205 vgl. 252 fi".), brüllen
und trampeln, bis Kylleue erscheint und ihnen das Geheim-
nis enthüllt. Als sie gehört, daß Hermes zur Konstruktion
seiner Lvra etwas vom Rinde verwendet habe, kombinieren
sie schlau (326;: er ist der Rinderdieb. AjjoU wird herbei-
gerufen (435) — da bricht der Papyrus ab. Es muß dann
Hermes selbst aufaetreten sein. Mit seiner Lyra wird er
71, i] Die Ichneutai des Sophokles. 9
Apoll so entzückt haben, daß er wie im Homerischen Hym-
nus mit ihm zu friedlichem Ausgleich kam.
Man sieht, wie geschickt Sophokles das Rinder- und
Lyramotiv ineinander gesponnen hat. Auf die Wirkung der
Musik hat er sein Stück angelegt. Wie gut ihm das ge-
lungen ist, zeigt die schöne - Beobachtung, daß Euripides in
seiner Autiope das nachgeahmt hat. Wie dort Amphion
(Frg. 1023), so vrird Hermes im zweiten Teil der Ichneutai zur
Lyra gesungen haben. Um das vorzubereiten, hat er klug
schon in der ersten erhaltenen Hälfte des Stückes die Lyra
ertönen lassen, in drolliger tlbertreibiing ihren Effekt auf die
'Thiere' vorgeführt, daß sie Rinderspuren, Lohn und Freiheit
vergessen, und dann, sobald dies Motiv erschöpft ist, es mit
plötzlichem Ruck zur Entdeckung des Rinderdiebes benutzt.
Nun wollen wir prüfen,, wie Sophokles das hübsche
Motiv im einzelnen durchgeführt hat. Kaum haben sich die
Satyrn an's Schnüffeln gemacht, so finden sie gruppenweise
die Rinderfährte — daß sie hier schon in drei Teile aus-
einandergehen, ist eine nicht berechtigte Vorwegnahme der
zweiten Suche 168; gerade die Abwechslung ist doch er-
wünscht — , prüfen und bestätigen sie (95 — 104). Da sagt
emer 105 'komm mal einer schnell her, ob er das Gebrumm
der Kühe höre'. Ein anderer antwortet 108 'ich höre die
Stimme noch nicht deutlich, aber die Fußtapfen selbst und
der Pfad der Kühe, die sind deutlich, das kann man merken.'
Und weiter geht die Prüfung der Fährten bis 117, ohne daß
von einem Ton weiter die Rede ist. Da plötzlich ist Silen
wieder da 118: 'Was hast du da für eine neue Kunst er-
funden, so an die Erde geschmiegt zu jagen? Du liegst ja
hingefallen wie ein Igel im Dickicht. Ich versteh das nicht.'
Der Chor macht nur 'Hu hu'. Und wieder fragt Silen 126
'wovor fürchtest du dich? Was bist du außer dir?' Der
Chor verlangt Schweigen und Horchen. Silen fragi 133
xal Tt&g äy.ov6[o3 ay]dsv]bg (pojvrjv yiXv(üv\ und wieder mahnt
der Chor 'horch nur eine Weile, ein nie gehörter Ton hat
uns so erschreckt'. .
lo K. Hktiik
■I, I
Die \Virkunj5 des ersten Leicrkhmi^os, den die Welt «ge-
hört, ist hiev diiri^estellt Der wunderbiire ^oiieiiiiiiisvoll aus
der Einsamkeit seluilloiide Ton hat die Satyrn heftig er-
schreckt. Wann ist er erkhint^enV Vor den ersten Fragen
Silens i iS 'was ist (his für eine neue Manier, was liei^t ihr
daV oder naeii ihnen erst 124? Für dies hat sich WlLA-
MOwrrz entschieden: fr denkt sicli die Satyrn mit dei' Nase
eifrig schniifl'elnd auf (Um- wirren Rindertahrte. Das verbietest
aber ilie ganze Sihi'urede. Sie zeigt ja, daß die Satyrn gerade
nicht suchen, daß sie das Gegenteil tun, wie könnte er sich
sonst über diese neue Manier wundern? Wie könnte er,
wenn sie hin und her suchten und tappten, sie mit einem
Igel im Gebüsch vergleichen? Der liegt zusamraengekugelt,
unbeweglich. So liegt auch der Satyrnchor: yMöat xteäv
(121). Regungslos liegt der« Chor. Das ist die 'neue Art
zu jagen', das ist's, was Silen in Erstaunen setzt und auf-
bringt. Haben die Satyrn natürlich wie die Hunde auf allen
Vieren die Nase voran gefährtet, so waren sie doch in leb-
haftester Bewegung und ganz besonders lebhaft von 1 1 1 an,
wo sie entdecken, daß die Spuren durch- und gegeneinander
laufen. Jeder Hundefreund sieht doch bei dieser Schilderung
des Sophokles die Jagdhunde vor sich wie sie flie gerade
Fährte aufnehmen, verfolgvn und nun plötzlich, wo der Hase
Haken geschlagen hat, umkehren, hin und wider rennen. Kein
Gedanke daran, daß sie auch nur einen Augenblick verweilen,
daß sie sich lesfen. Unmöglich, sie mit dem Igel im Busch
zu vergleichen. Nein, es muß plötzlich etwas Unerwartetes
zwischen die Satyrn gefahren sein: hingeschlagen sind sie
und liegen reglos da. Kein Zweifel: der erste Leierklang
hat sie umgeworfen. Also vor Silens Scheltrede 117/8 ist er
erklungen: da müßte eine Parepigraphe stehen, wie Robert
547 richtig gesehen hat. Wie hübsch hat Sophokles den
Eflekt herausgearbeitet. Die Spur wird gesucht, gefunden,
geprüft. Da gehen die Gruppen schnüffelnd den Fährten
nach. Nun verwirren sie sich, kehren um. Mit ihnen die
Satyrn. Lebhafter springen sie. Es gibt ein wildes Durch-
71, ij Die Ichneutai des Sophokles. i i
einander. Auf einmal klingt der helle Leierton — und wie auf
einen Schlag fällt das ganze Rudel auf die Nase, rollt sich
jeder wie ein Igel zusammen und bleibt regungslos erstarrt.^)
Nun aber wird diese wirkungsvolle Steigerung der aller-
liebsten Szene unterbrochen nach dem Papyrus durch einen
Qoißdog. Dies Wort gibt er in besonderer Zeile mitten in
der Verfolgung der Fährten 107. Mau nimmt es für eine
Parepigraphe. QotßÖog kann nur vom Gebriill von Rindern
verstanden werden, wie denn Robert auch tut. Vers 107
QoCßdrj^' mv xig rav [/3oöi' d\i ovg . . stellt das sicher.^) Aber
unmöglich kann hier ein \'viuh' ertönt sein. Es hätte ja
elektrisierend auf die Satyrn wirken müssen. Man stelle sich
das doch lebendig vor. Sie suchen eine gestohlene Rinder-
herde^ finden die Spuren. Da hören sie sie brüllen. Was
nun? Selbstverständlich Triumphgeschrei: 'hurrah, da sind
sie! hin und holt sie!' Aber nichts von alledem. Sie suchen
ruhig die Fährten weiter ab. Das soll man glauben? So
blöde und stumpf sollen die eifrigen Spürhunde, die lohn-
gierigen Satyrn sein, dieselben, die 325 wie ein schlauer
Detektiv sofort kombinieren: 'der Junge, der die Lyra erbaut
hat, ist der Rinderdieb' V Er sollte nicht nur den Effekt des
unerwartet erschallenden Tones vorweg nehmen und ab-
stumpfen, und dann sollte er ihn nicht einmal ausnutzen?
Diese Überlegung schließt auch die andere Erklärung aus:
WiLAMOWiTZ 455. 2 meinte, Qolßdog sei keine echte Parepi-
graphe, stamme nicht vom Dichter selbst, das Wort sei falsch
gewählt und solle den ersten, aber noch undeutlichen Leier-
klang andeuten. Es wird ja im schärfsten Gegensatz zur
Wirkung des Tons auf die Satyrn 1 1 8 ff. in den auf Qoißdog
folgenden Versen 108 — 117 überhaupt nicht von einem Ton
mehr gesprochen, nachdem in größter Ruhe 108 einer gesagt
hat 'ich höre noch nichts'. Vielmehr wird, als wäre nichts
i) Parallelen für die Wirkung plötzlicher Töne unten S. 19.
2) Weiter kann ich ihm darin nicht folgen. Nichts im Text
führt hier auf unterirdischen Ton. Richtig hat Wilamowitz 94 »sog
als Ruf gedeutet und 97 ccnoiKia auf die suchenden Satyrn.
12 K. Hktiik: (71, 1
Absoudtrliches geschehen, die Prüfung' ih^v Fillirte eifrig fort-
sjesetzt.
Ohne die venneintliche I'arepigraphe oof/jdoj,' hätte nie-
mand auf den Gediinkeu kommen können, <laB hier sclion
ein Ton erklungen sei. Sie ist falsch, ist keine 'eehte Paro-
pigraphe'; ist sie denn ül)erhau|>t eine? Lassen wir diese
irreführende, unerklärliche Notiz bei Seite und prüfen die
allein zuverlässigen Verse. Ist auch 105 unsicher und 106
ganz zerstört, so ist doch 107 genug: ''Komm einer schnell
her und . . ob er Gebrumm der | liinderj höre'.
107 (wCßöiju' eciv Ttv? Töv [ßocöv d\L ovg ....
und ganz sicher ist die Antwort
108 ovx siaaxovc) Ttcj [roQCöY\g rov (pd'tyuicroL;^
(UA' avTcc ai]V i'iviq te x^ ßtt'ßog rüde.
Dafür gibt es keine andere Erklärung als diese: die Fährte
ist gespürt und verfolgt, nun kommt einer angesichts der
fr-ischen Tapfen auf die naheliegende Vermutung, die Rinder
könnten in der Nähe sein und fragt, ob jemand sie brummen
höre? Man spitzt die Ohren — Nichts, 'ich höre noch nicht
ihre Stimme, aber dies sind hier ihre Spuren'. Die Ver-
mutung ist also erledigt, und die Satyrn halten sich an das,
was sie sehen. Mithin ist QotßÖog in jedem Sinne falsch.
Es ist zu streichen. Es ist keine Parepigraphe. Ver-
mutlich ist es nur durch Schreiberversehen so groß in eine
Zeile gemalt, während es in seiner Vorlage als Variante zu
Qolßdrjaa notiert war, das ja im Text wunderlich verschrieben
ist Qotßd.st und erst vom Korrektor die Besserung T]f.L über
der Zeile und am Rande erhalten hat.
Zum erstenmal ertönt also ein Klang und zwar ein heller
Leierklang mitten im lebhaften Durcheinander 1 1 7 und wirft
die Satyrn in Erstarrung. Silen hat nichts gehört. Das stellt
Vers 133 sicher
y.cd Tciög «/covö[co if)^dev\oq (pov^v '/.lvoyv\
Die Ergänzung ist doch .sicher. Folglich muß die Her-
stellung von 128
ä[yyov ng f/;f£]i xsQ^vog . ifi€iQ6i[g\ ficc&atv Tr[tg f/v;
7', i] Die Ichnkutai des Sophokles. 13
oder jedenfalls die Erklärung von Wilamowitz 458. 5, der
den Lyraklano- unter xtg^vog versteht, unrichtig sein. Ist doch
y.SQXvog = Yi xgaxvty^g tilg (paQvyyog, 6 ev rtöi %veviiovi ipöcpog
ein Wort, das auf jedes andere Geräusch besser paßt. Robert
dachte deshalb au den Habicht, der sonst XEQxvy] heißt. Man
Avird es besser, wie schon Vollgraff (Mnetuosyne XLII 181)
vorschlug, als Frage nehmen: 'tönte in der Nähe ein Krächzen?'
oder besser 'schrie ein Habicht naheV Da Silen nichts sre-
hört hat, liegt es nahe, mit Wilamowitz 456 anzunehmen,
daß Silen nach 93 abgetreten ist und erst 117 wieder er-
scheint.^) Das findet Bestätigung 163 ff. Da bittet ihn der
Chor nciQLov i.i£ <3vaxo8riytT£i und das gewährt der groß-
schnauzige Silen 166 sya nciQbv avtog 68 ^iQoeßißä und
169 sya d' ev äQyoig TtaQuivav ö" axsvd^vvu) Bei der ersten
Suche g4 ff. hatte er sich also zurückgezogen, faul wie er ist
Bei dev zweiten übernimmt er großsi^urig die Führung: nun
kann's nicht fehlen! Sein Abgang 93 ist so wenig ange-
deutet oder motiviert wie der Apolls 57. Sein Wiederauf-
treten 1 1 7 wird veranlaßt durch das plötzliche Verstummen
und Erstarren der Satyrn, die sich eben noch so lebhaft ge-
tummelt und geschrien hatten. Da will er sehen, was es sibt.
Nach seiner reuommistischen Strafpredigt hetzt er nun die
Spürhunde wieder an und beteiligt sich als Kommandeur, bis
196 wieder der wunderbare Ton erklingt. Auch hier fehlt die
Parepigraphe.
Wieder erstarrt der Chor in Entsetzen. Nach langer
Pause fragt er den Silen 197 'V"atev was schweigst du? hörst
du oder bist du taub?' Dann gibt es ein kurzes Hin und
Her. Einer will weglaufen, ein andrer widersetzt sich. End-
lich ermannt man sich, der Sache auf den Grund zu gehen,
man ruft, man trampelt. Schließlich erscheint Kyllene.
In diesen Versen 197 — 214 ist die Personenverteilung
des Papyi-us von den Herausgebern geändert, von Pearson,
i) Doch hört auch Neoptolemos 201 nicht den ersten Schmerzens-
schrei des Philoktet, den der Chor vernimmt, der freilich zur Höhle
hinaufgegangen ist, während N. unten blieb (145).
14 i^. -Uetiu;: (71,1
VOLLGKAFF, A. KoKUTK (Aicliiv 1". Papyrusfoisch. V (1913)
560) verteidigt. Die eii(l<^illti<i^e Losung «1er Fru^e ist für
die Autlassunij; des Stückes nnd fiii- weitere F<)l<x<'riingen von
Wiehtiukeit.
Kvlleiics erste Worte sind diese:
215 i>7/of(j, ri tövÖs iXofQov vkäÖi^ Träyov
f/•|^>/()()J' lOQfUJifljTe ai'V TTOllfjL ßofjL:
Die uiunittelbar vorlierj^'clieude AuHordcninuf /uin lleraus-
tromnu'hi der üöttiu <raben die Heraus<;eher und Erklärer
eutgegeu dem Pajiyius dem Sileii. Und doch hätte schon
Vers 216 davou abhalten sollen, an das Trampeln eines ein-
zelnen zu denken: Wie könnte er wohl mit seinen Beinen
ein stärkeres Geräusch als die Kehlen des Chors hervor-
bringen? An einer Holztür kann man ja wohl mit kräftigen
Tritten, besser freilich mit Schlägen ein tüchtiges Krachen
hervorbringen, aber von einer Tür will man nichts wissen.
Mit Recht lehnt sie ItonioiiT ab: sie paßt nicht in den Borg-
wald und längst hätte der Chor sie bemerkt haben müssen.
In der einzigen analogen Szene, in Aristophanes Vögeln 54
wird die Auflorderung des Peithetairos rä ßxelsi dtve xi]v
%ixQav von Euelpides mit dem Vorschlag beantwortet 6v de
xfi xscpakij, und sie schlagen dann als praktische Leute
lieber mit einem Stein gegen den Fels und rufen dazu.
Kyileue redet eine Vielheit an •i^i^Qtg, wendet sich
also nicht au Sileu. Von ihm verlautet überhaupt nichts
mehr in der ganzen folgenden Szene, und auch in den letzten
erhaltenen Versresten 433 ist er vor dem ersten Ruf nach
Apollon ohne jede Gewähr ergänzt. Also kann nicht Silen
allein getrampelt haben, sondern Kyllenes Rede muß eine
stürmische Bewegung des ganzen Chors vorangegangen
seiu.^) Mithin muß, nachdem 206 — 210 vergeblich gerufen
i) V. WiLAMowiTz 459 läßt dea Chor beim Anblick der Kyllene
entsetzt auseinander stieben'. Auf manchen Vasenbildern sehen wir
das allerdings, aber im Text steht nichts davon. Im Gegenteil. Kyllene
schilt sie ja wegen ihrer Frechheit, mit vollem iiecht nach ihrer Tram-
pelei. Und wie sollen sie sich vor Kyllene entsetzen, die ihnen so
71, ij Die Ichneutai des Sophokles. 15
war, die Aufforderung 211 zu stärkerem Lärmeu an den
ganzen Chor gerichtet sein. Diese notwendige Auffassung
darf nicht durch den Singular der Ankündigung ins Schwanken
kommen 2 1 1
akl' sya xäya
ff\GiQ\5iv xTVJtov nidoQtov a^avayxdöio
nrjdrjiiaöLv xQuinvolöt y.ccl laxtiöfiaöiv,
äßr SLöaxovöai ad kiccv xcocpog ttg tjl.
Das aAA' iyca 211 ist nicht als Gegensatz zu dem vergeb-
lichen Rufen zu fassen, sondern zu dem negativen Vers-
anfang 6 d' ov (pavetxai toiöiv: dennoch werd' ich's er-
zwingen.' Der Führer setzt sich unwillkürlich mit seiner
Gefolgschaft gleich; sie bilden zusammen ein Wesen. 'Ich
greife an' meldet der Oberst und schickt seine ersten Schützen-
linien vor. 'Ich werde ihn heraustrommeln' sagt der Chor-
führer und gibt das Zeichen zum Tanz. Daß der Chor im
Singular so gut wie im Plural von sich singt und spricht,
so auch zum Chor gesprochen wird, ist aus Tragödie und
Komödie ganz geläufig. Dem entspricht die ausgeschriebene
Aufforderung in den Spürhunden: Nicht ihr Sprecher allein,
der ganze Chor soll nriöriiLaöL xQamvolöi xsl Iccxti'öiiaöi,
einen Lärm aufführen, den auch ein Stocktauber hören müßte.
Also folgte nun ein toller Chortanz ohne Gesang.^) Das
ist mehr als Vermutung, denn die Interpretation erzwingt
diese Folgerung. Aus der Komödie kennen wir dergleichen.
Am Schluß der Wespen rühmt sich Aristophanes, zum ersten-
mal den Abgang mit Tanz geschmückt zu haben: 'da war
ein Solotanz von ein Paar Knaben eingelegt, die er schon
vorher verwandt hatte' erläutert v. Wilamowitz, Berl. Akd.
Sitz-Ber. 1903. 455. So kann ein stummer Tanz der Satyrn
wohl bekannt ist (237) wie sie ihr. Sie erwarteten ja doch, daß
schließlich jemand erscheine.
i) Die Zahl der gesangloaen, nur von der Flöte begleiteten Tänze
ist nicht klein gewesen. Piaton teilt in den Gesetzen Vli 795 E die
Gymnastik in öoxricig und Ttdlri ^°d redet dann besonders von Pyrriche
und Emmeleia Näheres über solche bei Lukian nsgi öp^uijCfco? 8 ff.
Phü.-hiBt. Klasse 1919. Bd. LXXI. i. 2
i6 E. Hkthk: (7«, >
nicht, befremden, zuniül er eigentlich ^ar nicht stumm ist,
sondern einen mächtigen Lilrm mit wildem Stampfen uus-
führte, durch den Worte doch nicht (iurchgedrun^'en wären.
Ob man ihn Sikinnis nennen darf, scheint nicht sicher, da
die Parodos im Kyklops nach 37 als solche «gelten muß, zu
der der Chor sang. Aber die Hauptstelle über Sikinnis bei
Athenaios XIV 630 C lehrt, daß sie ein Tanz im schnellsten
Tempo war. Nachdem der Name von einem Kreter Sikinnos
abgeleitet und versichert ist, daß die Kreter als Jäger die
Schnelligkeit der Füße besonders ausgebildet hätten, fährt er
fort: eiöl de rivig ot (paai zrjv gCxlvviv TioLrjTcaäs (bvofidad^at
ccxb ri]g xivyjöscog^ rjv xal ol öätvQot, (iQiovvrui ra^vratriv
ovOav. ov yuQ ixsi ^j9-og avrr] rj oqxV^^^ ^^^ ovde: ßQaÖv-
v£L. 6vve6trjxsv de xcd öarvQixi} %ä6a TtoCrjöig rö TraXavhv ix
XOQäv äg xal i] rörs rgayondia. Im Presto Prestissimo
kann man schlecht zugleich tanzen und singen. Hier hätten
wir zum erstenmal den echtest satyrmäßigen Tanz festge-
stellt. Doch wie man diese tolle Hopserei auch nennen mag,
die Interpretation der Stelle erzwingt die Annahme eines
solchen Poltertanzes. ^
Auch für den Aufbau des Stückes ist diese Feststellung
von Bedeutung. Die Sikinnis trennte hier die bewegte Spür-
szene wirkungsvoll von dem ruhigen Dialog mit KyUene.
Die im Kyklops und in den Tragödien vom Chor g es an g
ausgeübte Funktion übernahm hier der gesanglose Tanz
des Chors.
Wenn nun einer von den Satyrn zur Sikinnis 211 — 14
autfordert, so ergibt sich die im Papyrus überlieferte Per-
sonenverteilung nach 198 von selbst. Auch 204 — 6 muß ein
Choreut sprechen: Vir wollen jetzt wissen, was dahinter
steckt', worauf der Chor 207 — 210 ruft. Den 204 abgewehrten
Fluchtversuch machte also Silen, dem 200 — 203 gehören und
vorher 199 das eCya und ov fieva.
7\, l] Die ICHNEUTAI DER SOPHOKLRS. I7
3. Die Inszenierung.
Eids kami ganz sicher gesagt werden: vom Auftauchen
der Kyllene aus der Erde, von einem unterirdischen Gang
oder von Hohlräumen unter dem Schauplatz kann jedenfalls
bei den Ichneutai nicht die Rede sein. Die Interpretation
verbietet das. Trotzdem hatte Wilamowitz so gut wie
Robert es fast als selbstverständlich, eines Beweises kaum
bedürftig hingestellt. A. Kcerte (Archiv f. Papyrforsch. V 563)
LuDOviCA KoETTGEN (Diss. Bonn 19 14. 78) und Vollgraff
(Mnemosyne XLII (1914) haben widersprochen. Robert 539
läßt Kyllene in der Mitte der Orchestra aus dem unterirdischen
Gang auftreten, während Wilamowitz 457. i das für eine
"bare Erfindung' erklärt. Dafür kämpfe ich seit mehr als
20 Jahren und hoffte es in den Gott. Gel. Anz. 1897 -715
endgültig und überzeugend dargelegt zu haben. Hat doch
DÖRPFELD festgestellt, daß es im Dionystheater zu Athen
solchen Gang nicht gibt: folglich kann er auch in allen an-
deren Theatern, die doch sämtlich Ableger des attischen sind,
kein notwendiges Inszenierungsmittel gewesen sein. Wer
den einzigen aufgedeckten im Theater zu Eretria durch-
schritten hat und aus ihm in der Orchestramitte herausge-
klettert ist, der weiß, daß nie ein Schauspieler sich aus dieser
Kajütenluckenenge mit einiger Würde herausdrängen konnte.
Wilamowitz denkt sich die Orchestra mit einem nach hinten
zu ansteigenden Holzboden überbaut und rügt, daß man viel
zu wenig damit rechne, daß zu jedem Feste besondere Holz-
bauten errichtet wurden. Das wäre aber nicht nur für jedes
Fest, sondern für jedes einzelne der 3x4 Stücke nötig ge-
wesen, um für jedes, wie er das wünscht, einen individuellen
Schauplatz zu schaffen. Ich fürchte wie Vollgraff, er hat
sich doch nicht recht deutlich gemacht, was dazu an Mate-
rial, Zeit und Arbeit gehört, um einen Raum von fast 200 qm
mit ansteigendem Holzboden zu überbauen, und wie wider-
wärtig die Lauferei und Schlepperei und Hämmerei die Feier-
lichkeit der Spiele und die Stimmung stören mußte. Und wie
i8 E. Hktiik: [71. »
würde solch hölzerner llolilniuin unter jedem Schritt und
dem Tanz des Chors nun gar von Satyrn gedröhnt habcm!
Wozu bereitet man denn einen wr-iten, fbenen, runden Tunz-
plat'z mit Mühe und Kosten — und die waren im attischen
Dionystheater nicht gering — wenn man ihn nicht zum
Tanzen benutzte sondern überbaute? Die Thymelehypothese
des seligen \N'iksklkk steht niutatis mutandis wieder auf: er
überbaute die halbe Orchestni oder mehr, um eine Verbin-
duiK*" zwischen dem auf ihr agierenden Chor und den Schau-
spielern auf der hohen hellenistischen Bühne zu schaöeu.
Jetzt wird sie überbaut, um einen Hohlraum zu schaffen für
Kyllene. die bei Sophokles sicher nicht aus der Tiefe auf-
tauchte. Doch auf die Entwicklung des dramatischen Schau-
platzes muß ich noch einmal im größeren Zusammenhange
zurückkommen und zu den in letzten Jahren lebhaft er-
örterten Fragen Stellung nehmen. Hier beschränke ich mich
auf die Ichneutai und befrage ihren Text, ob und was er für
ihre Inszenierung ausgibt. Das ist das Erste und Wichtigste,
und das muß bei jedem Drama einzeln geschehen. Dabei muß
zunächst das Objekt streng isoliert und ohne jede Rücksicht
auf andere Dramen untersucht werden oder gar auf allge-
meine Vorstellungen, mag. man sie auch noch so gut be-
gründen zu können glauben. Wilamowitz 456 geht von
einer allgemeinen Betrachtung aus: 'Hinten ist nichts einem
Gebäude, einem Eingang Ähnliches; der ganze Spaß beruht
darauf, daß die Anwesenheit eines Wesens, das Musik macht,
unbegreiflich ist; die Höhle ist also unterirdisch und aus der
Tiefe erscheint dann Kyllene ganz überraschend'. Über-
raschend? Doch höchstens insofern, als die Satyrn einen an-
dern als die Nymphe erwartet haben könnten. Wer schreit
und trampelt, um über einen Ton Auskunft zu erhalten, der
kann doch nicht überrascht werden, wenn sich endlich jemand
zeigt. Es findet sich auch davon nicht die leiseste Spur im
Text, daß der Chor beim Anblick der Göttin entsetzt aus-
einanderstiebe, wie Wilamowitz das 459 nach Analogie von
bekannten Vasenbildern annimmt. Daß jemand erscheint und
71,1] Die Ichneutai des Sophokles. 19
zwar gerade da, wo sie erscheint, hat der Chor erwartet, wie
215/6 beweist, er kann also unmöglich überrascht und er-
schreckt werden.
Ich kann auch nicht zugeben, der ganze Spaß beruhe
darauf, daß die Anwesenheit eines Musikanten unbegreiflich
sei. Der erste Leierklang wirkt auf sie so überwältigend, daß
sie in Angst erstarren (115 ff., vgl. oben S. 11), weil er nie
gehört wurde (138) und seine Entstehung rätselhaft ist. Im
„Unheimlichen Gast" schildert der Gespensterseher Th. Ama-
deus Hoffmann die lähmende Wirkung eines unerhörten
unbegreiflichen Lautes auf ein ganzes Heer in einem spani-
schen Lager. Mir ist unvergeßlich der überwältigende Ein-
druck einer Streichmusik, die unversehens hoch über uns
durch den Bergwald ertönte, als wir vom Vierwaldstättersee
an einem Sommermorgen den steilen Hang zum Bürglenstock
hinauf klommen: wir blieben alle wie gebannt stehen und
lauschten atemlos der zunächst uns unerklärlichen d-aöTiLg
avdd. Sie kam von einem Streichquartett der Kurhausterrasse.
Daß der Ton aus dem Waldgebirge, dem iloEQog vX6dr,g
Ttayog (215) komme, das ist den Satyrn klar, und gewiß haben
sie durch Gebärden Vater Silen dahin gewiesen; wie könnte
er sich ihnen sonst als Beispiel vorstellen, der -^ötpoiGL rav
ÖQatxQocpcßv ßoT&v niemals erschrocken sei? Nein, das Un-
heimliche ist ihnen die Neuheit, das Überirdische dieses
Götterklanges, der zwischen Fels imd Busch nicht paßt.
Nach dem zweiten Leierklange gehen sie ihm ja tapfer nach,
heran an den vXaörjg Ttayog, aus dessen Busch heraus er
tönte. Kyllenes erste Worte machen es aber ebenso sicher,
daß dieser dargestellt war, wie daß der Chor sich unmittel-
bar an ihn herangemacht hatte:
2 1 5 d^fiQsg xC rövds x^oeqov vXibdrj ziäyov
Svd^TjQOV COQlll^&rjtE 6vv iTToAAfjt /3o^t ;
Dies ist der unverrückbar feste Punkt, von dem die
Untersuchung über die Inszenierung auszugehen hat. Darge-
stellt war, darüber kann kein Zweifel sein, ein waldiger
Hügel, eine Kuppe des övGßarov Kvkkrivrig x&qov (31). Da
2 0 E. Hr. IHK: [71,1
wohut natürlich die Ortsnyiupbe Kylleiie. Da hegt sie in
Verbori^enhcit das Wunderkind Hornies (276 f.), o^ evöov
idrlv iyxfxh]i^iEvo^ (30oV Das lietjt in der Wiej^e (269),
trotz seiner sechs Tajjfe sclioii ein aus}jjewaclisener Bengcl
(274^ und erfreut sich am Sjiiel seiner sell)8t('rfundenen Lyra
(280, 3 IQ K^vQ(ov mit BrriiKRKR). Ihr nocli nie gehörter Ton
ist's, der die Satyrn ersclireckt zu<rleich und angezogen hat.
Seineu Ursprung zu erfahren, halten sie die Kyllene heraus-
getrommelt.
Für den \ orurteilslosen ist damit die Frage entschieden:
Kyllene tritt aus dieser Dekoration des vAcodr/j,'
:ra7'o^' heraus, die über der Orchestra aufgeragt haben
muß. Und doch soll Hermes unter der Erde seine Leier
spieleu und aus den Tiefen der Erde soll Kyllene auftauchen V
Das 276 für Hermes' Aufenthaltsort gebrauchte Wort xtr^öavQÖg
führt nicht darauf: den %^y]0avQ6s des Rhampsinit denkt sich
Herodot H 121 als ein oixrj^u U^ivov über, nicht unter der
Erde und das so bezeichnete mykenisclie Kuppelgrab liegt in
einem anstehenden Hügel mit seiner Grundfläche auf der-
selben Horizontale wie der Boden vor dem Hügel. Das ist
genau das, was die Literpretation des Textes für den &r,aav-
QÖg im :td'yos der Kyllene ergibt, wo Hermes von der
Nymphe gepflegt in der Wiege liegt.
Alle anderen Stellen, die unterirdische Höhle beweisen
sollen, sind ergänzt und so ergänzt, daß die eingesetzten
Worte entweder schon an sich nicht befriedigen oder nur dem
gefallen können, dem Kyllenens Auftauchen aus der Tiefe
schon Überzeugung war. Kyllene schließt ihre Erzählung von
Hermes' Erfindung
282 roiövös d-YjQog ix d-av6vtog r^dovfig
6li(ia6tov (i[yyog £vq£ zjal xarad . . .
Ist schon ayyog sehr bedenklich, so ist die Ergänzung des
Schlusses zu xul xdra dovti = 'er spielt sie unten' ent-
schieden falsch. Kann doch niemand erwarten, daß der Ort
angegeben wird, wo Hermes sie spielt, und wenn's geschähe,
würde es Sophokles sicherlich anders ausgedrückt haben.
71, i] Die Ichneutai des Sophokles. 21
Aber er kann es hier gav nicht gesagt haben; denn er hatte
ja Kyllene schon längst erzählen lassen, daß Hermes im
Berge versteckt in der Wiege liegt:
xadf^iu^Ja y.al Tioxiixa xal y.oifirjucra
TfQog öTtccQyccvoig uevovGa hTivltiv rQO(pi]v
270 i^£vd'£TL^C3 VVV.Xa ZCcl iCK^' ri^SQccv .
So hat denn auch Kcerte in 283 xaradlLxöv für das un-
mögliche y.arco d[ovsi vorgeschlagen. Aber die Zugehörigkeit
der Versschlüsse zu diesen Zeilen ist nach Hunt sogar
zweifelhaft.
Ganz grundlos ist die Ergänzung des Chorverses 243:
'sag uns
SV TÖTtocg roi6\d£ xCg vEQd^a y&g ad' äya-]
öTög iyccQvöe d'eöTitv uvÖccv.
Die zerstörte Antistrophe gibt keinen Anhalt zur Bestimmung
der Zeilenlänge. Da aber bis auf 325^ der 4 Kretiker hat,
sonst stets nur 3 in der Zeile stehen, ist an sich wahr-
scheinlicher, auch 243 so zu ergänzen, und das ergibt sich
sehr leicht
iv röjioig roiö^ds rCg (JijT dya-^
GXGjg iyaQvöe d'iöTCiv avdccv.
Eine Stelle beweist aber sogar, daß der Leierklang sicher
nicht von unten kam. Der Chor singt
321 6Qd-o4>ccXaxx6g rtg 6^<pri xccxoi-
Xvet xo^ov.
Soll auch nicht das 'von oben her' gepreßt werden, Von
unten herauf kann xccxoixvet nimmermehr heißen.
Hermes liegt und spielt also nicht unter der Erde und
seine Wärterin taucht nicht aus ihrer Tiefe, auch nicht über-
raschend auf. Dem 'göttlichen Laute' nachgehend sind die
Satyrn dicht an den dargestellten vXiodijg Ttdyog herange-
kommen, und haben ihn bestürmt (^caQ^ijd^rj xs 216): Aus ihm
nur kann Kyllene hervorgetreten sein, wie man das von der
Bergnymphe erwarten muß.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder trat Kyllene
aus der senkrechten Felswand hervor, die hinter ihr hoch
2 2 K. Ükthk: (71, i
anstiiud, oder sie tauchte oben auf der Kv^lskuj)})!' uuf, so daß
ihre Füße auf ihrer hiichsten Erh('bun<; zu stehen kamen. So
hißt Aischylos das Eidolon des Dareios auf der llrdie seines
Grabmals erscheini-n. Datin hätten wii' für (he Jchnoutai
aischyleische liühnenvorhältniese auzunelimen, sie würden also
vor 458 au7Aisetzeu sein, was zu Wii.AMowrrz' Ansicht gut
stimmen würde, daß sie ein .lugend werk des 8oj)hoklefi seien.
Leider hält sie näherer Prüfung nicht stand, wie sich so-
gleich zeigen Avird. Es führen aber einige Andeutungen auf
die andere Möglichkeit, daß Kyllene aus der senkrechten Fels-
wand vorn herausgetreten ist. In der Stichomythie zwischen
Kyllene und Chor, der den Hermesbuben des Itinderdiebstahls
bezichtigt, heißt es
390 .y. 6 ctalg bg avöov iörlv eyxsxXrji^ävog.
K. Tov :Jiidda %av6ai xov dihg [jcaxwg keycjv.
X. Ttuvoi^av £i rag ßovg xig k\i,£läv d^tXoi.
K. i^dri }ie jcviyeig xal 6v xa\i ßösg ös^sv.
X. ... XiLGSTCQ . . . V .[^£]^sXat)v . .
Die Ergänzung von 392 ergibt sich mit Sicherheit aus dem
überliefei-ten e^sXavv 394. Wie können die Rinder heraus-
getrieben werden, wenn die Felshöhle, in der der Dieb sitzt,
keinen Eingang hättet Die Rinderfährte haben die Satyrn
ja bis unmittelbar an die Felswand verfolgt (216, 2^2). Da
erst verwirrten sie sich, kehrten sich um und wiesen wieder
zurück, weil der Schlingel die Kühe an den Schwänzen in
die Höhle gezogen hatte. Das paßt vortrefflich zusammen
und stützt sich gegenseitig. Dazu kommt der Chorgesang,
der das letzte Spüren begleitet: da heißt es
185 £VL ßovg £VL TCOVO . .
[iri ftfd^ijf ZQOxCccg . . icptnov . .
195 tTCL^i Bnsx alöid^i Id^i . .
Und wenn die Satyrn unmittelbar vor dem Felsen stehend mit
Rufen, Stampfen und Trampeln Kyllene herauszwingen, so liegt
Hunts Ergänzung des einleitenden Verses doch sehr nahe:
XQiv yccv 6a](pü)g
206 sida^sv öv[tlv] £[vdov ^d%£t ßtsyr]
71, i] Die Ichneutai des Sophokles. 2^
und entsprechend die des Kylleneversee
231 xai tavx acpelöa 6vv Tiodäv Xuxriöfiaöi
aXrjdcov ofiov iidatpvQx BysiTv[ia ötsyt}.
Da könnte man freilich ebenso gut Tistga schreiben, aber
261, wo erzählt wird, daß Zeus heimlich zur Maia gekommen
sei, die ihm dann in diesem Verstecke den Hermes geboren
habe, dieselbe Höhle also gemeint ist, kann kaum ein anderes
Wort als 6tiyr^ gefunden werden.
Zsvg yccQ XQV(p\aCax' ig ötsjyiiV 'AtkavtCdog . . .
So heißt J^hiloktets Höhle bald ntxQu 16, bald ötiyri 286.
Wir kommen nicht herum: der dargestellte vXtjör]s ^(xyog
hatte einen sichtbaren Eingang nach der Orchestra hin.
Die Dekoration war also in den Ichneutai dieselbe, was schon
VoLLGRAFF und KcERTE befürworteten, wie im Kyklops und
in den Vögeln. Hatten dann nicht aber die Satyrn schon
längst auf den Verdacht kommen müssen, die gestohlenen
Rinder seien da hineingeti-ieben? Nein, die Spuren kehrten
ja vor der Höhle um (115). Bei der letzten Suche nehmen
sie aber auch diesen Verdacht auf: 185 evl ßovg und woUen
eindringen 195 sm^t Im^ sißid'i i'd'i.
Schluß: wir haben für die Ichneutai die normale Bühnen-
einrichtung anzuerkennen. Hinter der Orchestra erhebt sich
die Szene, die als waldige Felskuppe dekoriert war und vorn
einen Eingang hatte, aus dem die Bergnymphe und später
der Hermesbube selbst heraustreten.
4. Die Zeit.
Dies Ergebnis, daß die Ichneutai aufgeführt sind vor
einer Dekoration, die eine waldige Felskuppe mit einem
Höhleneingang darstellte, verbietet das Stück zu den ältesten
des Sophokles zu zählen. Hat doch sicher bis 467 die Szene
niemals einen Eingang von der Orchestra her gehabt, seit
458 aber gibt es kein Stück, das nicht Schauspieler vor
Augen des Zuschauers in Haus, Höhle, Wald hinein- oder
aus ihnen heraustreten läßt. Wald, Fels und Höhle können
wir erst in den Vögeln von 415, im kaum älteren Kyklops
24 1^- i^ tuf: [71, I
und im IMüloktet von 409 uucliweisou, mii' der /weite Teil
des Aias spielt noch in einem einsiimon liuschigen Tal. 80
große Vorsicht beim Mangel an Hramen für die drei De-
zennien vor dem ))eloponnesscli('n Kriege geboten ist, so darf
man docli fragen, <»b 10iui|)ides 431 schon die Mögliclikeit
gehabt habe, eine Höhle darzustellen, da er seinen Philoktet
vor einer Hütte spielen ließ.
So werde ich in meinen anfänglichen Zweifeln bestärkt,
ob wirklich die Ichneutai ein .lugendwerk des Dichters seien.
WiL.VMOWiTZ, der mit dieser Behauptung wie es scheint all-
gemeinen Beifall gefunden hat, begründet sie zunächst mit
der Vermutung, Sophokles habe selbst den Hermes gespielt,
könne das nur in früher Jugend gewagt haben; ernstlicher
mit Beobachtungen über die dramatische und metrische Tech-
nik. Jene Hypothese, so anmutig sie sich gibt, hat doch
kaum Wahrscheinlichkeit. Gewiß hatte Hermes im zweiten
Teil des Stückes eine größere Rolle, wohl die Hauptrolle,
um sich mit Apoll wegen der gestohlenen Rinder auseinander-
zusetzen und als Erfinder der Lyra bewundert zu werden:
das erhaltene Stück ist ja nur die Vorbereitung darauf. Die
Hauptleistung des Hermes aber war Leierspiel und Gesang:
denn Kyllenes Erzählung 318, daß er in der Wiege zur Lyra
singe, bereitet darauf vor, und wo gäbe es damals Lyraspiel
ohne Gesang? Das muß nun notwendig eine Soloarie ge-
wesen sein: unmöglich konnte seine göttliche Musik (244)
von den tierischen Lauten des Satyrnchores begleitet werden.
Die erste Soloarie aber, die wir kennen, ist das Klagelied des
Sohnes um Alkestis 438. Da hatte Euripides offenbar einen
guten Sängerjungen, wie sie die Kyklischen Knabenchöre aus-
bildeten, an der Hand und benutzte ihn zu dem was er
konnte: zu sprechen hat er kein Wort.^) Da ist es doch
sehr mißlich eine Schauspielerarie früher anzusetzen.
Doch auch die Technik weist die Ichneutai vielmehr
aus der Frühzeit heraus. Freilich ist richtig, daß hier nie-
I) Vgl. N. .Jahrb. XIX (1907) 87.
71» i] Die Ichneutai des Sophokles. 25
mals drei Spieler zugleich das Gespräch führen. Aber wo
soUen drei herkommen in dem erhaltenen Teil? Zu Apoll
tritt Silen. zu Silen der Chor, zum Chor Kyllene. Sollte
etwa der Silen in Gegensatz zum Chor treten? Im zweiten
Teil wäre die Möglichkeit gegeben, Kyllene, x\poll und Chor
(Silen) und nachher Hermes zugleich auftreten und streiten
zu lassen, aber der ist verloren. Dies Argument sresren
spätere Zeit fällt also fort. Zweifellose Anzeichen aber
weisen sie dahin.
Auffallend häufig sind jambische Monometer und Di-
meter, zwischen die Trimeter des Dialogs in den Ichneutai
gestreut sind: 101, 103, iii, 130, 132, 134, lauter kleine
Sätze wie a^Q£i acü.a^ öCya u£v ovv. Unartikulierte Ausrufe
wie V V V V 125 sind nicht in Betracht gezogen. Das ist
eine Besonderheit des Sophokles.^) Aber auch er verwendet
sie keineswegs gleichmäßig. Sie finden sich nur in Trach (2)
OR (3), El (2), Phil (4), OC (2), fehlen aber ganz in Anti-
gene und Aias. Ihre Häufigkeit hängt von der Erregtheit
der Handelnden ab, so haben Philoktet und das Satjrspiel
am meisten. Aber Antigone und gar Aias haben wahrlich
nicht weniger lebhafte Handlung und Bewegung wie Trachi-
nieriunen oder Elektra. So weist diese Beobachtuns die
Ichneutai in die späteren Jahre des Sophokles.
Denselben Ansatz erfordern die Brechungen des Tri-
meters. Die Ichneutai haben, auf 200 Verse zwei
99 Tt; TOiöt, tavrr] ctag doxet; — doxst Tcdvv.
19g öiya. — XL £6ttv'^ — ov (isvä). — /xeV ei dvvac.
So ist dieser Vers im Papyrus in vier Zeilen abgesetzt und
diese überlieferte Teilung habe ich oben S. 13 gerechtfertigt.
Wie Aischylos hat auch Sophokles in Antigone noch keine
Antilabai. Aias bricht einige Trimeter doch nur in Halb-
i) V. WrLAMowiTz, Hermes XVIII (1883) 246. Die einzigen zwei
Stellen bei Aischylos stehen in der Kassandraszeue : 12 14 iov iov m m
xaxa und 1315 ioi ^svoi sind Ausrufe und der erste leitet den Wahn-
sinnsanfall ein. Sie sind jenen sophokleischen Stellen nicht durchaus
\ ergleichbar
20 E. Bkthk: [71, 1
verse nach der Penthemimen'S (591 — 4, g8i — 4), einmal q86
nach der Hephtheniiniercs. Die beiden Antilabai der Ichiicutai
aber scheiden das letzte Metroii ;il) und igg den ersten Fuß.
Beides tindet sich erst in OR, Trach, Phil, OC. Dreiteihing
des Ljesprochenen Tri niete rs kinmen wir bei ihm nur aus
Elektra 1502, Phil 810, 814 und OC 832. Eine Vierteilung
aber, wie sie 199 der Ichueutai zeigt, gibt es nur einnial
noch im l^hil 753 vom .lahre 40g.
Die Häufigkeit der Auflösungen im Trimeter ist
nicht ohne weiteres für den Zeitansatz zu verwerten. So ge-
wiß sie im allgemeinen zunimmt, so ist doch bei Sophokles
wenigstens mir so viel sicher, daß sie auch vom Ethos der
Reden abhängt. Das springt deutlich in die Augen in der
Szene 0 R 934 ff., wo der Bote aus Korinth der lokaste und
ihrem Gemahl den Tod des Polybos meldet und sie erleich-
tert aufjauchzen: da häufen sich 934 — 942 und 955 — 967
die Auflösungen im starken Gegensatz zur Anfangsszene,
967 hat sogar drei Auflösungen. Noch deutlicher wird die
bewußte Verwendung von Auflösungen zur Charakteristik
aufgeregten Sprechens in den leidenschaftlichsten Szenen
zwischen Neoptolemos und Philoktet 740 ff., 914 ff'., 13 14 ff.,
wo sich 927, 1327 je zwei, 932 drei Auflösungen in dem-
selben Verse finden. Für die herbe Strenge der Elektra
schien das dem Dichter nicht passend: dies Stück hat von
der Antigone abgesehen am wenigsten Auflösungen. Ihr am
nächsten, wenn auch im großen Abstände, steht das postume
Werk OC, offenbar auch, weil die Unruhe der vielen Kürzen
der würdevollen Hoheit nicht angemessen schien. Trotzdem
ist anzuerkennen, daß Häufigkeit der Auflösungen ein Stück
nicht gerade für die Frühzeit empfiehlt, angesichts der Tat-
sache, daß Aischylos gegen sie strenger ist als Sophokles und
dieser strenger als Euripides, und daß Antigone sich in dieser
Hinsicht von den übrigen sophokleischeu Stücken absondert.
Da nun der Kyklops durch verschiedenste Anzeichen ein-
stimmig der Altersperiode zugewiesen wird und auch nach
der Zahl der Auflösungen sich zu ihnen stellt, ohne jedoch
7ii i] Die Ichneutai des Sophokles. 27
dieselbe Häufigkeit wie Orest. Bakchen, lA zu erreichen, so
ist der Schluß berechtigt, daß auch die Ichneutai zu den
späteren Werken des Sophokles gehören: haben sie doch ver-
hältnismäßig die größte Zahl von Auflösungen.^)
Für die Zeitbestimmung verwendbar scheint mir auch
die bisher noch nicht beobachtete Wiederholung des-
selben Wortes in derselben Form unmittelbar hinter-
einander. Aischylos wendet das nur in den äußersten Stei-
gerungen des Schlußkommos der Perser und der Ägypterszene
der Hiketiden an.^) Euripides hat dies pathetische Mittel
aufgegriffen, verwendet es in den Klagegesängen schon der
Alkestis reichlich {222, 2^2, 259, 266, 27of., 400, 872, 888),
später bringt er es besonders in seinen Soloarien übertrieben
und nicht immer bloß an den Stellen höchsten Effektes an,
so daß die Wiederholung oft leer erscheint und den Spott
des Aristophanes mit Recht erfahren hat (Frösche 1337,
i) Die Ichneutai haben auf etwa 200 Trimeter 16 überlieferte,
9 mit Sicherheit ergänzte Auflösungen, dazu eine 112 (val ^cc ^la) mit
Eigennamen, die ich grundsätzlich ausgeschlossen habe, das macht auf
etwa 7—8 Trimeter eine Auflösung oder rund 13 %. Nach meiner
Zählung — ich habe je 4—500 Verse aus den verschiedenen Teilen
jeder Tragödie gezählt, die Eigennamen fortgelassen, Philoktet ganz
durchgezählt — ergibt sich- die Reihe
Antigone mit i Auflösung auf je 33 Trimeter = 3,5 *•/,
Elektra
OC
Aias „
OR
Philoktet
RuMPEL, Philolg. XXV (1867) 54i der die Eigennamen mitrechnete, er-
hielt aus der Gesamtzählung Elektra (i Auflösung auf 21,5 Trimeter),
Antigone (20,9), OC (15), OR (14,2), Aias (13,5), Trach. (12), Phil. (8,4).
2) Für Prometheus 688 ovTtox o^Ttor i\^iovv, 691 «^ftara: Xv\iaxK
äsi^atcc (was Wilamowitz mit S. Hermann tilgt}, 694 ico uoTqu fioiQu,
887 7j 6oq)6g T] 6oq)bg, 894 jatjäots (ii^nors wüßte ich aus Aischylos wie
für manche andere Sonderbarkeit keine Parallele zu erbringen, aus
späteren Tragödien, besonders des Euripides desto mehr. Meine Über-
zeugung, daß Prometheus nicht in echter aischyleiächer Form vorliege,
ist nicht erschüttert.
^"O -1
" ■
Ji/D /
17
=
6%
15
=
6,5 7o
11,5 M
=
80 Vo
IG „
=
10%
28 K. Bkthk: |7', i
1332 Ö'.). Sophokles ist auch hierin /urnekhaltende)-. Wendet
«T (livs Mittel in der Antigoiie ül)erhiiuj)t noch iiielit an, im
OK, lOlektra, Aias spilrlich, so hat er davon in den Traehi-
Jiieriunen und noidi mehr im IMiiloktet und <)C auspriebig
Gebrauch gemacht. Und wieder stellten sich die Ichneutai
zu der späten (iruppe mit den autVaHend vielen Wortwieder-
h(dungen im Spiirliede (174 elrilvifi-v, tkijXviffv^ lyS oi)Qi'a^
ovQi'ag^ 183 öTpo'riOs' ürgaTios^ log ^(ptnov ttps(pov^ dazu
noch 177 6 ÖQäxi^ b yQä:ns, vgl. 185, 195).
Berücksichtigt man, wie ich es getan, die Eigenart des
Satvrspiels und billigt mau ihm auch größere Freiheit gegen-
über der Tragödie zu, so kann doch das alles nicht die von
verschiedenen Seiten her gemachten und alle auf spätere Zeit
weisenden Beobachtungen aufheben: die Ichneutai sind
kein Jugend werk, sie werden nicht älter sein, als die
zwanziger Jahre. Dazu stimmen auch die winzigen Chor-
partien wie im Philoktet, z. T. ohne Respousion wie im
Kyklops. Die Reden Apolls und der Kyllene, die einzigen
langen Reden des Bruchstücks, geljen den Ichneutai einen
feierlicheren (Charakter als dem Kyklops, aber das gehört
sich so für Götter. Der archaische Eindruck, den es leicht
macht, beruht zum großen Teil auf der fremdartigen Steif-
heit der akatalektischen jambischen Tetrameter, zum anderen
auf der als unrichtig erwiesenen Vorstellung, daß keine De-
koration, wenigstens kein Eingang vorhanden gewesen sei,
und schließlich auf der starken Beteiligung des Chors an der
Handlung. Aber da ist doch sehr zu betonen, daß sich der
Chor dabei nicht als solcher mit Tanz und Gesang gibt, son-
dern mehr in Schauspielerart: er löst sich auf und die ein-
zelnen Choreuten reden in Trimetern. Im zweiten Teil des
Stückes war er sicherlich in bescheidene Holle zurückge-
drängt: da brachte Apoll seine Sache mit Hermes ins Reine, da
gab es Schauspielerszenen, bei denen der Chor nicht viel mehr
als Zuschauer gewesen sein kann. Nur seine Belohnungen zu
erhalten, wird er sich gemeldet und weiter seiner Freude über
sie wie über die schöne Musik Ausdiuck t^etjeben haben.
71,1] Die Ichneutai des Sophokles. 29
Ich fasse zusammen: Die Ichneutai sind ein Werk aus
Sophokles' späterer Zeit, etwa den zwanziger Jahren. Sie
waren zu Anfang verstümmelt, als sie in philologische Be-
handlung kamen: Prolog und Parodos sind verloren. Die Szene
stellte eine waldige Bergwand dar, in der sich eine Höhle
öffnete. In ihrem Busch hatten sich Silen und Chor bei
Herannaheu Apolls versteckt, aus ihm belauschen sie seine
Ankündigung und hüpfen alsbald heraus. Die Suche nach
den Rinderspuren führen sie über die Orchestra hin in ein-
zelnen Haufen, nachher zu drei Teilen (168) aus. Unterbrochen
wurde sie, als sie sie schon dicht an die Höhle geführt,
dann aber den verkehrten Spuren folgend wieder abgedreht
hatten, durch den ersten Leierklang, der die Feigen so er-
schreckt, daß sie wie Igel zusammengerollt erstarren. Silen,
der sich faul zurückgezogen hatte, hetzt sie wieder an, wird
dann aber, als sie wieder vor der Höhle angelangt sind,
durch neuen Leierklang am meisten erschreckt. Nun aber
drängt der Chor auf Entscheidung, und trampelt in mächtig
lärmendem Tanz die Bergnymphe heraus. Sie tritt aus der
Höhle hervor, verrät durch ihre harmlose Erzählung von der
Erfindung der Lyra den Rinderdieb. Den holt der herbei-
gerufene Apoll nun selbst , heraus, nach frechen Lügen und
Schelmenlisten überwältigt Hermes mit einem Sololiede zur
Leier den erzürnten Bruder und tauscht die Rinder gegen
das köstliche Musikinstrument ein.
Leipzig, Januar 1919.
il
I
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologiscli-liistorische Klasse
71. Band. 1919. 2. Heft
J. Partsch
Die
Stromgabelungen der Argonautensage
Ein Blatt aus der Entdeckungsgeschichte
Mitteleuropas
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1919
Vorgetragen für die Berichte am 3. Mai ig 19
Das Mauuskript eingeliefert am 10. Mai 1919.
Drucktertig erklärt am 14. Juli 1919.
Hugo Bekger hinterließ unvollendet ein feinsinniges' ori-
«yinelles Werk, das kein andrer fortzusetzen vermochte: den
Anfang einer mythischen Kosmographie. Darin sind auch
erhebliche Elemente einer mythischen Geographie enthalten.
Schon in seinem Hauptwerk war er -— wie viele vor ihm —
dem Gedanken nachgegangen, aus der noch erkennbaren Fortent-
wicklung antiker Mythen Anhaltspunkte zu gewinnen für die
ältesten Stufen der Anschauungen des griechischen Volkes
über die Verteilung von Wasser und Land an den fernsten
Grenzen geographischer Kenntnis. Dafür ist besonders be-
zeichnend die allmähliche Umgestaltung der Argonautensage,
namentlich der Wechsel der Vorstellungen von der Heimkehr
der Helden aus dem Ponto«.
Eine Zeit, die von der Geschlossenheit der Landmassen
um dies Becken noch keine sichere Vorstellung besaß, fand
keine Schwierigkeit, die Rückfahrt der Helden an den Außen-
rand der Erdscheibe zu verlegen.^) Pindar erhielt uns die
kyrenäische Sagenform, in der die Argonauten vom südlichen
Okeanos aus zwölf Tagereisen weit ihr Fahrzeug ins Syrten-
meer herübertrugen.-) Aber die zu seiner Zeit längst gewon-
nene Sicherheit über die Festigkeit des Landrahmens, der den
Pontos umifab und ein Entweichen aus ihm ins äußere Meer
unmöglich machte, bestimmte Sophokles und Herodor die
Rückfahrt der Argonauten in die Bahn der Ausfahrt, in die
Meerengen an der Propontis zu lenken. Nur vereinzelt wird
noch später für die Ausfahrt in den Ozean eine Anknüpfung
an einen pontischen Strom versucht, nicht mehr an den Pha-
sis, wie einst bei Hekataios, sondern an den Tanais, von des-
sen Oberlauf ein Tragplatz die Verbindung mit dem wenig
I; H. Bekgkk, Geschichte der wissensch. Erdkuude der Griechen.
2A. 1903, 44 0".
2) Piud. Pyth. IV.
Phil.-liist. KU<j8e 1919. Bd. liXXI. 2. I
2 J. Partsch: (71. 2
entfernt jjjedachten ntirillichen Ozean vermitteln mochte.')
Erst spät, in lichter historischer Zeit, die schon erfolgreich
nach einem klaren Gesamtbild des antiken Länderkreises rang,
kommt eine neue Wendnng der Sage anf, die den Heimweg
der Argonauten in das Binuenwassernet/ Eurojjas verlegt und
die Rückkehr aus den Flüssen des Kontinents ins Mittelmeer
durch die Annahme großer Stromteilungen, weit divergieren-
der Bifurkationen der europäischen Ströme ermöglicht. Bei
diesen uns überaus fremdartig berührenden Vorstellungen et-
was zu verweilen, em])fiehlt ihre Bedeutung für den Entwick-
lungsgang des geographischen Wissenshorizontes.
Zuerst tritt die Vorstellung einer großen Stromteilung
auf bei der Donau um die Mitte des vierten Jahrhunderts v.
Chr. Skylax kennt auf der Halbinsel im Hintergründe der
Adria die Istrer und einen Fluß Istros, anscheinend in einem
der tiefen Küsteneinschnitte, die für diese Halbinsel bezeich-
nend sind.-) Die Namensübereinstimmung rückte das Miß
Verständnis, es sei ein abgeirrter Arm des Douaustroms, um
so näher, wenn man — wie Theopom]) — der Balkanhalb-
insel keinen breiten Zusammenhang mit der europäischen Fest-
landsmasse zuschrieb, sondern statt dessen eine isthmische Ver-
jüngung, die sogar von einer unterirdischen Verbindung zwi-
schen Pontes und Adria durchbohrt sein sollte.^) Selbst Ari-
stoteles, der im allgemeinen das von Herodot entworfene
einfache Bild eines vom pyrenäischen Westen lang durch
Europa ostwärts ziehenden Donaulaufes festhielt*), hatte sich
mit dem Glauben au einen die Adria erreichenden Donau-
arm befreundet und nahm ihn zu Hilfe bei der Deutung
tiergeographischer Beobachtungen.^) Die alexandrinische Geo-
1} Diodor IV 56, 3.
2) Skylax 20. Zur Erklärung Plin. n. h. III 127.
3) Theopomp b. Scymn. 371 'Aägiccvi] ^äXarru . . . avvLoitiu^ov6a
Ttgbg tT}v üovTtoiriv. 381. Strabo VII p. 317.
4) Aristot» Meteor. I 13, 19. Vgl. Her. IV 48- 49-
5) Äristot. hißt. anim. VIII 13 p. 598b, 15. ,
71,2] Stromgabelungen dek Ahgonautensage. 3
graphie, selbst EratosthenesM und sein großer Kritiker Hip-
parch^), waren von der Lehre der Bifurkation des Donau-
stroms völlig beherrscht, die erst im Lichte der Eroberungen
Roms dahinschwand.^)
Kein Wunder, daß der alexandrinische Epiker der Ar-
gonautensage, Apollonios, dem seine zweite Heimat den Na-
men des Rhodiers eintrug, nach dem Beispiel des Timagetos^),
aber auch seines Lehrers Kallimachos'') auf diesem Wege die
Argonauten von der pontischen zur adriatischen Istermün-
duug führte. Eine nähere Anschauung dieses Weges vermö-
gen die eingestreuten Namen einzelner Ortlichkeiten kaum zu
bieten. In der Reihenfolge der Fahrt werden erwähnt
IV 306 — 313 die dreieckige Insel Peuke des Isterdeltas zwi-
schen zwei divergierenden Mündungen, dem nördlichen
Kakbv 6x6^a und dem 0ro/ta i\ap»/xog, ganz ent-
sprechend der Schilderung des Eratosthenes (Schol.
lY 310).
lY 313 — 314 das Angurongebirge, vielleicht die Berge des
Eisernen Tores. Der Name erinnert allerdings an
den Augrosäuß Herodots (IV 1 9), der aus iUyrischem
Gebiet der Ebene der Triballer zustrebend den Bron-
gos, einen Nebenfluß der Donau, verstärkt. Rich. Kie-
pert vermutet mit feinerem Urteil als frühere Er-
klärer, die in ihm einen der obersten Savezuflüsse
sahen, die westliche Moi-ava. Weit abseits von dem
Angurongebirge folgt dann
O D o O
IV 3 1 5 die Gabelung des Ister, auf der Scheitelhöhe des Quer-
profils von Meer zu Meer, auf dem „Nacken des Laa-
i) Strabo I p. 57, VII p. 317. Hlgu Bekger, der 1880 in den
Geogr. Fragmenten des Eratosthenes 347—350 die beste kondensierte
Darstellung der ganzen Frage gab, konnte sich nicht entschließen,
Eratosthenes den Glauben an die Bifurkation des Istros zuzutrauen.
2) Strabo I p. 57.
3) Diod. IV 56, 8. Strabo a. a. 0. Plin. n. h. III 127.
4) Schol. App. Rhod. p, 498, 26, 499, 29.
5) 0. ScHNEiDEi!, Callimachea II p. 80—83.
\
rles" (IV .^o; v:iIq avitva ;'«U/s*), 'H' *i»'i' '»n'U/e /.wi-
scheu Skytlu'M und Tlirakcni (IV 288), am Südriiiui
der wpiteu (Jetildc (IV -'83), (luirli die der mächtige
Istor weit »us Norden vom lvi|)iiengel)ir}re (IV 28().
287) lieranzieht. Es ist dus oiVcuhar diestdbe Steppe
(^igr/ucdor :rf(St'ot' ueya), welche (IV .^21. ^^2h) Laii-
rion (.Tfd/'oj- n ro /lav(>iov) «jjenaiiiit wird. Wenn
der Dieliter ilort die Siiider wohneu läßt (IV .^12),
so möehte ich darin nur ein Zeichen sehen, dali er
etwas unvorsichtig seine ethnographischen Bedarf
nisse aus Herodot (IV 28) bestreitet, ohne zu be-
merken, daß dessen Sindike (IV 8ö) nicht im West+^n,
sondern im Osten der skythischen Völkerwelt am
asiatischen Ufer des Kimmerischen Bosporus liegt.
Daseo-en hat er in treöendem Anschluß an Jlerodot
die Sigynuoi [[\ ;,20), ein Steppenvolk mit kleinen,
struppigen Rossen voi- den leichten Wagen, in dies
ungarische Tiefland versetzt, wo der Vater der Ge-
schichte ihre Sitze bis nahe an den Hintergrund der
Adria reichen läßt (V 9).^) Das dritte von ihm her
ausgegriffene Volk, die Graukenioi, sind nicht be-
kannt. Stellt man sich das Kartenbild, in der P]in-
fachheit, wie es dem Dichter vorschwebte, voi-. So
wird Juan am ehesten geneigt sein, die vermeintliche
Bifurkatiou an die Savemündung zu legen, wo der
lange, vom Donauknic bis zur Draumüudung ohne
Aufnahme von Nebentiüssen (ei^ oiog IV 286) süd-
wärts ziehende Strom übertritt in die von Save und
unterer Donau ge])ildete östlich gerichtete Sammel-
rinne der Gewässer des ganzen Nordens der Balkan-
halbinsel. Am ehesten war in dem Sumpfgelände
I) Herodot ist als Quelle für den Dichter hier daran sicher erkenn-
bar, daß andere Schriftsteller, namentlich Strabo XI ]>. 520, mit genau
übereinstimmender Charakteiistik, aber auch Orph. Argon. 756 die Si-
ginner auf den kaukanischen Isthmus verlegen.
71. 2] Stromgabelungen der Argonautensage. 5
der unteren Save die Gelegenheit geboten, das ein-
heitliche Gefälle dieser Rinne für die Westhälfte um-
zukehren und gegen die A.dria geneigt zu denken.
Leider bleibt uns die Möglichkeit versagt, eine be-
stätigende Probe auf diese Erwägung zu machen.
IV 323 verlegt der Dichter die Stromteilung an den Felsen
des Kauliakos (6x6:tskov nagä Kc(\)?.iaxoio). Das
müßte eine Höhe bei Belgrad sein. Dafür fehlt ein
Beweis. Vielmehr wohnen des Hekataios Kauliker
am Ionischen Golf, also an der Adria; Patsch in
seiner schönen Monographie: Die Lika in Römischer
Zeit (Wien igoo, 2 ob) möchte sie an den istrischen
Meereseinschnitt von Fianona, also gerade in eine ge-
eignete Gegend für die vermeintliche adriatische
Donaumündung versetzen. Aber die von ihm ver-
suchte Gleichstellung mit den Flamonienses Culici
des Plinius (III 130) scheitert nicht nur an der Un-
sicherheit der Lesart, sondern an der Zugehörio-keit
des „sinus Flanaticus" zu Liburnien, nicht zur reo-io
X Italiae, auf welche die Stelle des Plinius sich be-
zieht.
Eine individuelle Charakteristik der angenommenen
adriatischen Istermündung versucht der Dichter nicht.
Wir müssen uns begnügen mit der Feststellung, daß
nach dem Zerrinnen des Phantasiebildes vom Aus-
einanderstreben zweier Unterläufe der Donau nach
Pontos und Adria der tatsächliche Kern dieses geo-
graphischen Mythos, der nun durch einen Landtrans-
port der Argo über den Isthmus zwischen Emona
(Laibach) und dem Timavus umgestaltet wurde, in
der Einheit des Stromzuges der nicht fern von der
Adria wurzelnden Save und der unteren Donau und
in dem früh mit bescheidenen Schiffsgefäßen ausge-
nutzten Verkehrswert beider Flüsse in den ersten
0 -J. rARTSCu: |7>,-
BesclireihuiigtMi iIps »Mitschleierteu Stromsystems klar
zum Ausdruck kommt.')
In der Adria l)ewe<j;t sich die Arj^olahrt dann au wohl-
bekannten Ufern entlan«;, von denen schon Hekataios keines-
wegs ärmliche Kunde gehabt und die dann das vom älteren
Dionvs cnülncte Zeitalter der Kolonisation voller geklärt hatte.
Vom Keraunischen Gebirge warf ein Sturm die Melden zurück
ins Nordbecken der Adria. An (Um- Mündung des Po, des
Eridanos der Sage, beginnt eine neue abenteuerliche Fahrt,
bei deren Deutung die Scholien eine Strecke weit vcUlig ver-
sagen, der Leser auf scharfe eigene Deutung angewiesen bleibt.
Der Dichter vorweilt erst ])ei der Sage vom Untergang des
verwegen auf des Vaters Sonnenwagert emporgefahrenen Pha-
ethon, den des Zeus Blitzstrahl zur Erde niederschmetterte, wo
die Schwestern, in Schwarzpappeln verwandelt, ihn beweinen;
ihre Tränen sind das kostbare Harz des Bernsteins, der vom
Norden der Adria zu den Griechen kam. Hören wir den
Dichter selbst:
IV 595 Vorwärts stürmte das Schiff mit vollen Segeln; sie liefen
In den Eridanos ein, in des Stromes geborgene Mün-
dung.
Dort fiel Phaethon einst, vom flammenden Blitze ge-
troffen,
Aus dem Sonneugefährt, verkohlt halb, in die Lagune.
Heut noch schwelt über ihr des Branddunsts drük-
kende Luftschicht.
Nimmer vermag ein Aar, die leichten Fittiche spannend,
Drüber zu schweben; im Fluge verfällt er dem sen-
trenden Gluthauch.
i) Strabo VII 5, 2 p. 314. Plin. n. h. III 128. .Justin. 32, 3, 14.
Zosimos V 29, 2, dazu L. Mendelssohn p. 252. Sozomenos, Eccles. hiat.
ed. Rob. Ilussey I, Oxonii 1860 p. 32. 33. I 6, 4- 5- Für diese späte-
ren Stadien der Entwicklung der Argouautensage ist wichtig E. Pals,
I due Istri e il rnonte Apeninno delle Alpe Camiche secondo Strabone.
Studi Storici I, Pisa 1892, 314—344-
71, 2] Stromgab EHINGEN der ÄRGONAUTENSAGy^. 7
ilingsuni weinen verhärmt die trauernden Helios-
Töchter
Im Schwarzpappelgeäst; in Tropfen schimmernder
Bernstein
Rinnt von den Wimpern herab; im Sande dörrt ihn
die Sonne.
Wallt im rauschenden Wind das Wasser der dunklen
Lagune
Über den Strand, dann rollt die Woge unzählige Perlen
In des Eridanos Bett. öio.
619 Die Helden aber beschlich hier
Keine Begier nach Speise und Trank; nie nahte der
Frohsinn.
Tasrsüber lähmte die Kraft der Druck der verderb-
liehen Dünste,
Die seit Phaethous Brand den Fluten des Stromes
entsteigen.
Nachts aber schlug an das Ohr der Wehruf der He-
lios-Töchter;
Öl orleich schwammen die Tränen der Klagenden auf
dem Gewässer.
In dieser Beschreibung ist mit der Charakteristik des von
Lagunen durchwirkten Schwemmlandes des Po eine davon
bestimmt zu trennende Naturerscheinung zusammengeflossen:
ein Thermalvorkommen. Die Vorlage, nach der der Dichter
arbeitete, liegt uns in dem pseudoaristotelischen Wunderbuch
vor Augen, nach Gefifcken eine Partie aus Timaios.^) Der S,ee
i) De mirab. ausc. 81. You den 'HXsktqiöss vi]aoi, dl ■ksIvxui iv
Tcb U.VXCO Tov 'AÖQia, heißt es hier, sie seien eine Aufschüttung des Eri-
danos. ''Eexi Sh xal li^vT], ü>g ^oixs, TtXijoiov tov Tioza^iov, vSag 'ixovau
^■SQiiov. oaui] d' an ccvr^g ßaQsicc xat j^a/.aaös anoTrvsi, xaJ outs Jröov
oväkv -xivst i^ uvTfjg, ovr OQVsbv bnegniittccTKi, ccllu. TTiTttsi y.ui o.no-
Q-vqanEi. "K'XEi di TOV uhv y,vv.Xov araöiiov diaxoeicav, t6 d' evQog wg dixa.
uvd^svovai ö' Ol iy^mgioi ^uE^ovxa ksquvvw&svtu TtsGilv ig tavxi\v xr\v
iifii/Tj»', slvoci ö' iv avxfi alyiiQovg icolXdg, i^ tov ixTtiTtxsiv xb xcclör xet-
vov ^IsKTpov. Vgl. Tzetzes zu Lykophron 704.
8 .1. PAKTsn«: (71.2
h'^ißen Wassers, dessen Luft drückend empfunden wird, soll
::oo Stadien (58 km) Unifant; hüben und 10 Studien (2 km)
Breite. Das ist nicht gut luöglich. Es kann sich nur han-
deln um die heißen Quellen (84°) von Abano an den Euga-
neischen Bergen hei Padua, die das Altertum als Aquae Pa-
tavinae oder als fons Aponi kannte.') Wie heute war da-
mals hier ein lieilkriiftiges Bad in dem ThermalwaBser, das
in geräumigen Becken sich abkühlte. Die anmutigen Schilde-
rungen Claudians und Cassiodors geben ein unvergleichlich
freundlicheres, aber doch keineswegs vjillig unvereinbares
Bild des heißen Pfuhls, den eine frühere Zeit mit Scheu be-
trachten mochte.
Das war eine merkwürdige, landschaftlich gegensätzliche
Beigabe zu dem Strome der Adria, auf welchen die meisten
Stimmen des Altertums seit Pherekydes den ursprünglich un-
sicher über dem Westen der griechichen Welt schwebenden
Namen des Eridanos bezogen. K. Müllenhoff hat die Ge-
schichte dieses Begrijffs besonders eindringend verfolgt^), der
— wie Strabo deutlich empfand^) — nirgends eine feste Hei-
mat hatte. Herodot (III 1 1 5) wehrte sich gegen eine ältere
Vorstellung, die den Eridanos an eine Bernstein sendende
ozeanische Küste, anscheinend ins Nordseegebiet versetzte.
Und Aeschylus sah in ihrn den Rhonestrom, den Rhodanos,
den schon der Gleichklang des Namens als Verkörperung des
1) Luc. VU 192. Sil. It. XII 218. Martial VI 42. 4- Anthol.
lat. 36. Auson. XIX 161. Claudian c. min. 26. Cassiod. Var. II 39.
Plin. II 227. XXXI 61. NisBen II 221. Claudian schildert vortrefflich
den sanft sich aufwölbenden Tuffhügel der Therme:
Alto colle minor, planis erectior arvie
Conspicuo clivus moUiter orbe turnet,
Ardentis fecundus aquae; quacumque cavernas
Perforat, offenso truditur igne latex.
Den Quelltopf beschreibt anschaulich Cassiodor: Caeruleom fontem
vidimus in formam dolii concavis hiatibus aestuantem.
2) Deutsche Altertumskunde I ißgo, ;i7 — 222.
3) Strabo V p. 215 tcsqI ritv 'HgiSavör. rov fir^Sit^ov yijg ovra.
71,2] Stromgabelungen DER Argonautensage. 9
mythischen Begriffs Eridanos empfahl. Unverkennbar lag in
(lieser Dreispaltigkeit der Namensdeutung eine Verlockung,
zu einer Dreieinigkeit des für die griechische Welt noch ganz
ungeklärten Flußnetzes des Westens von Europa zu gelangen,
zu einer Verknüpfung der Quelladern weit auseinandergehen-
der Ströme. Die hat der Dichter der Argonautika — nicht
ohne Anregung durch ältere Versuche^) — vollzogen, in na-
ivster Einfachheit für die beiden Mittelmeerströme. An die
bereits mitgeteilten Verse schließen sich unmittelbar die fol-
genden:
627 Von da drang das Schiff in den tiefen Stromzug der
Rhone,
Die den Eridanos stärkt; zusammen treffen die Wasser
Brausend. Sie aber kommt von dem innersten Kerne
des Festlands,
Wo die Tore der Nacht und ihre Sitze gelegen.
Dorther dringt ein Arm des Stroms zu des Ozeans
Küsten,
In das Ionische Meer ein andrer, aber ein dritter
Ins Sardonische Meer, in sieben Adern gespalten.
Aus der Rhone fuhren sie ein in stürmische Seen,
Die unsäglich weit im Keltischen Lande sich auftun.
Da droht ihnen Gefahr. Ein Zweig des Wassers ent-
weicht dort
Gegen des Ozeans Bucht. Dahin schon wollten sie
lenken.
i) Schol. z. Apoll. Rhod. IV 259 p. 493, 25 ed. H. Keil: TVfiayrjTo?
iv a' jtiQl i.i(LEvcov "lotQov [liv qpTjötv (so richtig Frgm. bist. Gr. IV 519,
die Handschrift rbv uhv ^üolv) xaracpiQSß&ai ix tS5v Kslrixäv ögäv,
& iOTi rfjg KsXrixfjg, slra ixSiSövai ' sig KsXröiv liuvr]v, fistä äh Taüro:
tlg Svo Cjjjifsöd'ai tb väojQ, Hai rov (t,sv tig tov E^^bivov itövxov sleßal-
1.HV, rbv Sh sig rrjv KsXrtxijv d'dXaaeav, öia ds tovxov rov avö^iatog tcIev-
Gai. TOi's AQyovavrag xat iX&slv slg TvQQTjviav. xarccKoXovd'Et äh uvtä
%al knoXlöiviog. Die Stelle ist schlecht überliefert. Man darf zweifeln,
ob T. wirklich einen Zusammenhang von Donau und Rhone vertrat.
lo .1. rAitrscH: [71, 2
Nicht wohl wäre vou dort die rettende lleiinkehr ge-
Aber Hera erhob, vom lÜtninel uiedei<:fes|)ninoeii,
Laut deu waruendeu lüii" vou der Höh' des Herky-
nischen Felsens.
Schrecken erfaßte die Hehl» 11; so furclitbar dröhnte
das Lul'tnuHT.
Rückwärts wendeten sie, der Göttin Winke »gehorchend.
Fanden i^liicklich den Weg, wo Heimkehr ihnen ver-
lieißeu.
Endlich kamen sie nun zu meerumbrandeten Küsten,
Ohne Gefahr der Kelten uud Ligurer Stämme durch-
fahrend ;
Denu um sie wob Hera am Tag den Schleier der
Nebel.
Aus dem mittelsten Arm der Mündung fuhren hin-
aus sie,
Vou Dioskuren bewacht, zum Kranz Stoechadischer
Inseln.
Mit Überraschung liest man die glatte Fahrt aus dem
Eridanus-Po in die Rhone. Der Dichter ahnt nichts von dem
trennenden Alpenwall. Vielleicht war dem Ägypter der Ge-
danke an ein großes Scheidegebirge fern gerückt durch die
nationale Feinheit des cisalpinen und transalpinen Keltenlandes.
Erst wo wir den Rhonestrom erreichen, beginnen greif-
bare Angaben, hinter denen eine positive Kenntnis sich bergen
kann. Über seine Herkunft erfahren wir allerdings nichts
Brauchbares, nur den dunklen Satz
avTaQ ö yccCr]g
ix ^vxcct'r]g, Iva t' siöl %vXui xal Eded-?ua Nvxtog.
Das würde in den äußersten Westen oder Norden weisen.
Beides ist nach den sogleich folgenden Vorstellungen vou
des Stromes Schicksalen nicht denkbar. Aus der Rhone treten
wir über in ein großes Seengebiet, das nach mehreren Seiten,
zum Teil auch nach dem Ozean sich entwässert. Diesem zu-
71,2] StrOMGABBLUNGEN DEK AuGONAUTENSAGE. II
zustreben, davor bewahrt Heras Eingreifen die Argonauten.
Ihr Wamungsruf erschallt vom Herkynischen Felsen.
Was ist das? Müllenhoff (I 432, II 240) erklärt mit Be-
stimmtheit, das könne nur die Bezeichnung der Alpen sein.
Auch Braudis in dem gehaltvollen Artikel Danuvius in Pauly-
Wissowas Realenzyklopädie vertritt diese Ansicht. Die ver-
mag ich ebensowenig zu teilen wie R. Much.^) Es gibt al-
lerdings scheinbar ein Zeugnis dafür aus der späten Lexiko-
graphie^), aber das beruht ausschließlich auf einer voreiligen
Auslegung der uns beschäftigenden Stelle des Apollonios Rho-
dios, auf der hemmungslosen Argofahrt vom Eridanos-Po bis
zum Herkvnischen Felsen, die für die Elementarbegriffe dieser
Zeit aus dem Bergrahmen Italiens unmöglich herausführen
konnte. Wollen wir den Dichter richtig verstehen, so müssen
wir uns in seinen geistigen Horizont versetzen. In ihm hatte
der Herkynische Wald einen klar bestimmten Platz, die Alpen
aber keinen sicher erkennbaren. Ihr Name tritt weder bei Ari-
stoteles noch in den erhaltenen Bruchstücken alexandrinischer
Geographie auf, ein unsicheres Schattenbild ihres Wesens nur
in „des Nordens Säule'' {ötißr] ßÖQSLog) des Keltenlandes,
das den Westen der WohuAvelt des Ephoros einnahm. Auf
ihn werden wir am wahrscheinlichsten diesen Begriff zurück-
führen dürfen, in dem die Hochgebirge Westeuropas (Pyrenäen
und Alpen) vom Ozean bis zur Adria zusammenflössen. Er
paßt in seiner Unbestimmtheit recht w^ohl in die letzten Jahre
griechischer Selbständigkeit, war aber längst überwunden, als
— hauptsächlich aus Ephoros schöpfend — ein pädagogi-
scher Verseschmied Bithyiiiens um 90 v. Chr. ihn einfügte
in die Merkverse seiner Länderkunde.^) In des Eratosthenes
i) R. MucH, Hercynia, Zeitschrift für Deutsches Altertum XXXII,
Berlin 1888, 454 — 462.
2) Etym. Magu. : 'EgKvvtog dQvy.ög, i> ti"/? ' IxaXiag ivSotäx(a, mg
(priaiv 'A-JioXimvLog iv d' 'ÄQyovuvtixäv. Stephan. Byz. 227, 11 : 'Eqkvviov,
OQog 'Irciliag, aqp ov 'Egxvvig j] xmQa.
3) Anonymi (vulgo Scymni Chii) orbi« descriptio. Geogr. Gr. min.
ed. C. Müller I p. 202. 203 v. 1S8 — 195:
I j .1. l'AHrscii: f7'- -2
Weltkarte spüren wir nichts von den Alpen. Kür den Dichter
der Argonautikii ex,istiereu sie nicht, ein charakteristisches
Merkmal seiner zeitlichen Stellung! Sie fällt früher als Hanni-
bals Alpeuüberi^antj;, der wie ein Schein werler <;rcll die Wild-
lieit des Bergriepels zwisehoii Rhone und Po beleuchtete, der
nun auch für die ll()tliii<ife der Ptolemäerresiden/, nicht mehr als
bedeutungslos verschwinden konnte in der ethnischen Einheit
tles keltischen Abendhmdes. Polybios hatte, so nnvoUkom-
nieii sein Grundriß der Alpen ausfiel, ein Recht, auch liier
mit Selbstgefühl sich als Träger eines Fortschritts der I^Jrd-
kunde zu betrachten.') So merkwürdig dies späte Eintreten
der Alpen in den Gesichtskreis der Gi-iechen ist, bleibt es
doch erklärlich durch die von der neueren Forschung ins
volle Licht gestellte Tatsache, daß das Eindringen der grie-
chischen Forschung ins Innere des Kontinents nicht über die
Alpenpässe sich vollzog, sondern mit beiderseitiger Umgehung
der Alpen von Massalia und den pontischen Kolonien aus.^)
Sauber zu trennen von dem Wenigen, was vor Hannibal
über die Alpen im östlichen Kulturkreis des Mittelmeers be-
kannt war, nicht unvorsichtig damit zusammenzukueten ist die
Kunde der östlichen Mittelmeerwelt vom Herkynischen Ge-
b irt^e^). Auszugehen ist zweifellos von der ältesten Erwähnung.
Tovrav (i. e. KsXrüv) 81 xsttui Xf/ofiivri rig icxcltri
6ri]Xr] ßÖQHog' iazi S' vxprjXr} nävv
dg xv^arwdis TtfXayoi ävursivova' äy.gav.
OtxovCL rfig ori^Xrig de rovg ^yyvg rörtovg
KsXtmv ucoi Xriyoveiv uvtsg ?(j;j;«ro(
"KvEToi Tf y.al tmv tvtbg slg tuv 'Aöglav
"lazQav y.cc&riy.övrcov. XiyovGi 8 avröd'BV
zbv "Igtqov ag/JP' Xafißdvsiv rov g^v^arog.
Dazu v. 773—784-
1) Polyb. III 4«, 12.
2) F. V. DiHK, Die Benutzung der Alpenpässe im Altertum, Neue
Heidelberger Jahrbücher, II 1892, 60—64.
3) In handlicher, zeitlich geordneter Übereicht zusammengedruckt
sind die antiken Quellen in Holdkrs Alt-Celtiechem Sprachschatz, Ar-
tikel Ercunion.
71,-] Stromgabpjmingbn dkk Akgonaiteksagk. 13
Aristoteles (Met. I 13, 20) fährt nach Aufführung der Tartessos
und des Ister, der Europa von den Pyrenäen bis zum Pontos
der Länge nach durchfließen soll, fort: „Von den anderen Strömen
[fließen] die meisten nordwärts aus den Arkynischen Bergen.
Diese sind nach Höhe und Zahl die größten jener Gegend.
Unter dem Bärengestirn selbst aber liegen jenseits des Skythen-
landes die sogen. Ehipen, über deren Größe recht fabelhafte
Berichte im Umlauf sind. Von ihnen sollen die meisten und
nächst der Donau größten der anderen Flüsse kommen/' Der
Fortschritt der Darstellung von Südwest nach Nordost und ihr
logischer Zusammenhang läßt keinen Zweifel, daß die Arkynien
nördlich der Donau liegen als Wasserscheide zwischen ihr und
nördlich gerichteten Strömen. Daran kann auch die Bemerkung
über ihre überragende Höhe und Ausdehnung den Leser nicht
irre machen.
Im Bereich der hellenistischen Gelehrsamkeit, im Horizont
des Dichters der Argonautika, fällt auf die Lage des Herky-
nischen Gebirges Licht von drei Seiten her:
1. aus Nordwest, Der Historiker Timaios setzt die Briti-
schen Inseln vor Galliens ozeanische Küste, gegenüber von den
Herkynischen Wäldern^);
2. aus Südost von der Donau her. Deren Ursprung ver-
legte Timaios in die Herkynischen Wälder.^) Die kannte auch
Eratosthenes — vielleicht nicht allein aus Aristoteles und Ti-
maios — , und er muß darunter offenbar dasselbe verstanden
haben wie unser Gewährsmann Caesar (b. Gall. VI 24). Das
gleiche dürfen wir annehmen von den Quellen, aus denen Suidas
(s. V.) und Eustathios (zu Dionys. Perieg. 298) die Schiffbarkeit
des Stromes bis in das Quellgebiet ersahen.^) Wir haben keinen
i) Diod. V 21, I (Geffcken, Timaios' Geographie des Westens.
Berlin 1892. 159, 17. 18) xar &vrixQv tön> Kqkvvlcov dvofia^ofiivojv
dpt'ftdji', iiFYioTovg yuQ VTtdo'^biv jtaQtih'](pc<u,tv rcai' -/.ata xi]v EvQwnr^v.
2) Pseudo- Aristot. tc^qI Q-avuaeiiov civ.oii6iji,äxmv 105 (Gepfckkn
130, 33)-
3) Suidas 8. V. 'Eg^ivio? ÖQVfiog, o&ev n "larQOg vaveljtogog iv.
Ttriym' at^stui. Eustath. zu Dionys. Perieg. 298 (Geogx. Gr. min. II
14 •'■ I'autscm: [71, 2
(Jruud, danin zu 7,\v«»ifelu, dub die DonaiKjuolleu im wesentlichen
richtig bezeichiKn. waren. l;in<Te bevor Tibeiius ihre Lage jjjenau
feststeUte. ' )
3. aber ist das Hhonec;tl)iet als der Wep; zu würdifren,
auf dem der Nanif des lierkvnischeii WaldeK zu den Griechen
überhaupt gedrungen sein dürfte. Der Name ist, keltisch, von
Mucn ganz überzeugend gedeutet. Die im Keltenlande aufge-
blühte Kok)nie Masealia wird ihn den Griechen überantwortet
haben. Wohl wissen wir von ihrer Geschichte nicht allzuviel. ')
Aber wie die Forschung der Griechen von hier hinnenwärts
drang, das läßt sich noch erkennen. Aristoteles kannte die FlutJ-
schwinde des Rhodanos (la perte du Rhone). ^) Der nächste
Schritt durch die Engen des Jura führte die Griechen an den
(renfer See. Das war nur der erste der großen Seen, die dem
.lurarande entlang weiter reichen bis zum Bodeusee, Auch in
dies Gebiet der Schweizer Hochebene geleiten uns die zahl-
reichen Funde massaliotischer Münzen.^) Hier sind wir in dem
Lande der „unsagbar weitgespannten Seespiegel", von denen
Apollonios redet. Und Avenn wir uns fragen, welchen Eindruck
|). 269) 'loTQog 6 Tovg Tluiovaig kaija^sißoiv iv. rütv ' Kq^wIojv oqwv vav-
niTioQo? i/. ntjyfjg uigszai xal ß-j^i^öfitvos xy (liv i-lg rbv TIövxov pjffi, t?/
ds stg rbv 'Adgiccv. Kicht damit zu vermengen sind die Quellen, welche
des Isters Ursprung auf die Ostseite der Alpen verlegen: Skymnos 195.
Strabo IV p. 207. Aelian n. a. XIV 23. Die bilden ebenso bestimmt
eine besondere Gruppe wie diejenigen, die den Ister von Norden oder
vom äußersten Westen kommen lassen.
1) Strabo VII p. 292.
2) Sonny, De Massiliensium rebus quaestiones. Petropoli 1887.
31 Aristot. Met. 1 13, 30: xal mgl rijv Aiyv6zi-Kr]v ov/. ildzTcov
Tof; PoSavov ■/.ccxuTtivtxai rig Äoraftög v.cd ndXiv dvccäificoei xux' ccXXov
xÖtcov. 6 8\ 'Poöavog noxa\ibg vaventiQaxog icxiv. Merkwürdig ist wohl
die Fassung, namentlich das Wörtchen rt?, das sich ausnimmt, als sei
von einem anderen Fluü die Rede. Aber es kann sich füglich nur um
den großen Strom handeln.
4) F. V. DuHx a. a, 0. 63. 64. 85. 86.
7'. 2] Stromgabelungen dek Argonautensage. 15
dies Land machen mußte zu der Zeit, da „man vor Wäldern
nicht sehen konnte, wie schön es war"^), so wird nichts den
ersten Entdeckern schwerer geworden sein als die Entwirrung
des Zusammeahanges der Gewässer, — die Aufteilung unter
die sich hier berührenden Wassergebiete, Es war ein Problem,
wie es die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Erforschung des
zentralafrikanischen Seensvstems erlebte.
Der Punkt, wo klar die ozeanische Richtung eines Wasser-
laufs sich geltend machte, war die Gegend von Waldshut oder
Basel. Dort war es Zeit zu dem Warnungsruf der Hera, der
die Argonauten zurückscheuchte. Der Schwarzwald ist der Teil
des Herkyuios drymos, auf dem die Donau entspringt. Von
seinem Felsenrande konnte Hera ihren Ruf erheben.
Darf man so in dem Seenland, in das Apollonios die Wen-
dung der Argofahrt verlegte, das Spiegelbild einer von massa-
liotischen Händlern erworbenen Kunde erblicken, — eine Staffel
griechischer Erkundungen, ehe Roms Griff von diesem Gebiet
den Schleier hob, so ist es vielleicht erlaubt, noch einen Schritt
weiterzugehen, darauf hinzuweisen, daß die merkwürdige —
wie wir heute wissen — relativ seltene Erscheinung einer Fluß-
bifurkation, mit der Apollonios so verschwenderisch operiert,
hier wirklich zwischen Genfer und Neuenburger See vorhanden
ist. Der von der Dent de Vaulion kommende Nozon teilt sich
in zwei Bäche, von denen einer die zum Genfer See gehende
Venoge verstärkt, während der andere durch den Talent dem
Neuenburger See, also dem Rheingebiete zugeführt wird. Ob
irgendeine Kenntnis solch einer kleinen Flußgabelung im
i) Eine wirkungsvolle Skizze des Landschaftsbildes, das die Seen
des Schweizer Alpenvorlands darboten, ehe die Kultur ihre Reize ent-
wickelte, ist die Schilderung des Bodensees bei Ammiaims Marc. XV
4, 3 '■ (Rhenus) absolutus altaque divortia riparum adradeus lacum in-
vadit rotundam et vastum, quem Brigantiam accola Raetus appellat . . .
horrore silvarum squalentem^ inaccessum — nisi qua vetus illa Romana
virtus et sobria iter conposuit latum — , barbaris et natura locorum et
caeli inclementia refragante.
l6 J. Partsch: l7'. -
Spiele war hei des Dichters Unij^estaltimg der Sajjje wer
möclite das entscheiden V
Sicher war diis i^roße Seeni^ebiet des JurarandHs vom
Genfer liis znni Hodensee der {geeignete Boden für ilius Aus-
spinneii von Phantasien über Stronizusaninienhiinge, und der
in den Ozean sieh wendende, bei Apollonios namenlose Stroni-
zweig («,T<)y()iö£) ist die erste Andeutung des Kheins in der un
tiken Literatur, (lenanut hat diesen Strom von de» erhaltenen
SchriftsteUeru keiner vor Caesar.
So unl)edeutend das Ergebnis der Lektüre des Apollonios
in diesem Falle ist, mag doch daraus ein Lichtstreif fallen auf
eine bemerkenswerte Epoche im Entwicklungsgange der alten
Geographie. Man hat oft die gliicldiche Lage Alexandriens als
Herd geogra})hischer Wissenschaft gepriesen. Es ist nicht über-
flüssig, auch der Beschränkung zu gedenken, die der dortige
Horizont den Forschern auferlegte. Fragen wir uns: welches
sind die Bedingungen einer BifurkationV so können wir sie
generell für ffe";eben erachten, wenn einem Fluße in mehr als
einer Richtung die Möglichkeit einer Fortsetzung seines Laufes
geboten ist. Das kann schon auf stark geneigtem Boden zu-
treffen. Auf einem Kegelmantel, z. B. dem Hange eines Schutt
kegeis oder eines Schwemmkegelsj genügt ein kleiner Anstoß,
die Richtung eines Baches zu ändern. Mit Leichtigkeit leiten
Dörfer am Fuße der Tatra von solch einem Schwemmkegel
einen ihnen zu fernen Bach zu unmittelbarer Dienstbarkeit an
ihre Häuser heran. Aber am häufigsten treten Bifurkationen
ein, wenn die Neigung der Landoberfläche minimal wird.
Dahin gehört schon der Fall der Seebildung. Ein Wasser-
spiegel kann wenigstens zeitweise nach mehreren Seiten sich
entwässern. Von Dauer ist indes dieser Zu-stand nicht leicht;
denn selten werden die Bedingungen für das Einschneiden der
austretenden Bäche genau gleich sein: in der Regel wird einer
rascher erodieren, seine Abflußrinne vertiefen, den Seespiegel
tiefer legen und damit andere Abzüge außer Wirksamkeit setzen.
Diese Überlegung stand älteren Zeiten nicht aus weiter Er-
71, 3] Stromgabelungen der Argonautensage. 17
fahnmg fertig zu Gebote. Deshalb waren sie leicht geneigt,
an mehrseitige Entwässerung eines Sees zu glauben.^) Die auf
portugiesischen Erkundigungen beruhenden Karten Innerafrikas
zeigen solche zentrale Seen mit zentrifugaler mehrseitiger Ent-
wässerung. Auch das Altertum hat diesen Zustand für möglich
gehalten. Am häufigsten aber sind Stromteilungen in ebener
Niederung. Die Deltabildungen der Ströme bieten unzählige
Beispiele. Sie führen uns wirklich zu Fällen, wo — wie beim
Hwangho — ganze Provinzen und große Gebirgsinseln zwischen
die divergierenden Mündungsarme von Strömen zu liegen
kommen.
Aber kein Strom war in dieser Beziehung verführerischer
als der Nil. Eine Verzweigung seines Flußsystems nach auf-
wärts gegen das Quellgebiet fehlte in Ägypten und Nubien
völlio-. Eine Verzweigung des Stromes fand nur nach abwärts
statt, nicht nur im Nildelta, sondern schon in Oberägypten
bei dem Nilarm, der das Fayum tränkte. Das war der An-
schauungskreis der Alexandriner. Kein Wunder, daß sie seine
Erfahrungen auf die übrige Welt rasch zu übertragen geneigt
waren. So erscheint die Verirrung, die Länder mit Flußbifur-
kationen verschwenderisch auszustatten, im Grunde nur als eine
Erinnerung an die Natur des Bodens, auf dem die wissenschaft-
liche Blüte der antiken Erdkunde erwuchs. Auch Eratosthenes
blieb nicht frei von dem Banne der Natur, die ihn umgab.
i) Eine Zusammenstellung der vom Altertum angenommenen Bi-
furkationen versuchte H. Berger, Die geographischen Fragmente des
Eratosthenes 347.
Phil.-hiät. Klasse 1919. Bd. LXXI. 2.
Bericlite über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologisch-liistorisclie Klasse
71. Band. 1919. 3. Heft
August Schmarsow
Das Franciscusfenster in Königsfelden
und der Freskenzyklus in Assisi
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1919
Vorgetragen für die Berichte am 3. Mai 191 9.
Da-" Manuskript eingeliefert am 3. Mai 1919.
Druckfertig erklärt um 15. Juli 1919.
• Auf Königsfelde bei Brugg im Aargau, wo Albrecht I.
von Habsburg am i. Mai 1308 durch seinen Bruderssohn Jo-
hannes ermordet ward, errichtete 1310 die Königin witwe Eli-
sabeth von Görz-Tirol eine Abtei, in der Mönche und Nonnen
des Franziskanerordens zusammen angesiedelt wurden und in
gemeinsamer Kirche ihren Gottesdienst halten sollten. Im
Chor dieser Klosterkirche befinden sich noch heute die be-
rühmten Glasgemälde, die von den Angehörigen des Habs-
burgischen Hauses gestiftet wurden, und unter ihnen ein Fen-
ster mit der Legende des hl. Franz von Assisi selbst und eins
zu Ehren der hl. Clara. Diese Verherrlichungen der beiden
Ordeusstifter dürfen wohl den Anspruch erheben, zu den selbst-
verständlichen Hauptstücken des farbigen Schmuckes zu ge-
hören, die neben den evangelischen Darstellungen aus der
Jugendgeschichte Jesu, aus der Passion des Erlösers und aus
den Erscheinungen des Auferstandenen einen ersten Platz an-
gewiesen erhielten. Nach Hans Lehmanns genauen Unter-
suchungen zur Chronologie dieser Glasmalereien ist anzuneh-
men, daß die ganze Reihenfolge nach einem bestimmten Plan
angelegt worden und bis gegen 1340 vollendet war. ^) Diese Zeit-
bestimmung gilt, auch wenn die drei genannten im dreiseiti-
gen Chorhaupt, andrerseits aber auch, wie wir annehmen, die
beiden der Ordensheiligen zunächst allein feststanden. Die Ge-
samtheit, wie sie noch heute dasteht oder aus Überresten nach-
weisbar ist, muß seit 1310 in Aussicht genommen und all-
1) Zur Geschichte der Glasmalerei in der Schweiz (in den Mit-
teilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Bd. XXVI). I. Teil
1906, S. 192 — 203 Vgl. dazu noch Th. v. Liebenau und W. Lübke, Die
Denkmäler des Hauses Habsburg in der Schweiz. III. Kloster Königs-
felden. Zürich 1867 mit Bilderatlas.
2 AuausT ScjiMAiisow: [7«. 3
iniihlic'h bis 1337 etwa fertiggestellt worden sein. Am bostimm-
testeu läßt sich vorerst das Ciaren feuster datieren, weil es
unten tue Stifterbildnisso des Herzogs Leopold, der die Ver-
waltung der westlichen Hälfte der habsburgischen Läuder über-
nahm, und seiner Gemahlin Katharina von Savojen enthält,
mit der Beischrift: „Doniina Katherina Ducissa Austrie" und
gegenüber bei der knienden Gestalt des Fürsten, der das un-
terste Medaillon mit beiden Händen erfaßt und so als Weih-
geschenk erhebt: „Pro Leopolde Duce", d. h. also nach seinem
1326 erfolgten Tode, in Ausführung seines Willens oder be-
reits erteilten Auftrags, so daß wir kaum noch des andern
Termins bedürfen, der im Todesjahre seiner Witwe 1337 ge-
geben wäre. Zu möglichst früher Ansetzung nötigt doch auch
die altertümliche Gesamtdisposition dieses Fensters, das die
Legende der frommen Jungfrau von Assisi in fünf großen
Kreisrunden erzählt, die das senkrecht durch zwei Steinpfosten
geteilte Ganze, auch der Gesamtbreite nach, erfüllen, so daß
seitlich nicht einmal für die Einfassung der Bilderreihe durch
eine Kante Platz übrig bleibt, während die Zwickel zwischen
den Runden durch Engelgestalten gefüllt sind. Dazu nötigt
ferner die Zugehörigkeit zu dem Franciscusfenster, das noch
eine breite Zierleiste aufweist.
Dieses wurde anscheinend von dem jüngeren Bruder Her-
zog Otto gestiftet, der 1301 geboren, seit 1324 mit Elisabeth,
Herzogin von Niederbayern, vermählt war und nach deren
Tode 1330 sich erst 1334 mit Anna von Böhmen wieder ver-
heiratete, aber schon 1339 starb. Das Bildnis der zugehöri-
gen Gattin ist verloren gegangen, aber es war kein zweites
vorhanden, und so kommt nur die Zeit der ersten Ehe 1324 —
1330 in Betracht. Die Legende des Franz steigt in fünf früh-
gotischen Vierpässen auf, in denen noch das, auch als liegend
auffaßbare, Quadrat — nicht die immer stehende Raute — die
Grundform bildet^), deren Seiten sich zu Kreissegmenten er-
i) Vgl. Kompoaitionsgesetze romanischer Glasgemälde in frühgo-
tischen Kirchen feij stein von A. Schmaesow, Abb. d. Sachs. Ges. d. Wiss.
XXXni, II (1916) S. 25ff. : Das Weihnachtsfenster in Chartres.
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 3
weitern. Je zwei solcher Vierpässe sind durch kleine kreis-
runde Ringe miteinander verkettet, so daß die ganze Reihe
der Rahmen von oben herab zu hangen schiene, wäre nicht
auch in den Zwischenräumen zwischen den Quadratecken je
ein Paar kleiner Medaillons, mit einfachem Paß aus vier Kreis-
teilen und weißer sechsblättriger Sternblume darin, angebracht,
das so die Hauptrahmen unterstützt und zusammenhält, zu-
gleich aber deren Breitenlage nochmals betont und durch
solche Wiederholung der Horizontale verstärkt. Die zwischen
der Peripherie dieser Rosetten und den seitlichen Kreissegmen-
ten der gi-oßen Vierpässe übrigbleibenden Zwickel enthalten
auf himmelblauem Grunde das Habsburgische Wappentier,
in beträchtlicher Größe, einen goldgelben Löwen in aufrecht
steigender Haltung mit seitwärts gedi-ehtem Kopf, von hüben
und drüben symmetrisch nach innen gewandt.
So viel entschiedener gotisch die Gesamtdisposition die-
ses Fensters angelegt ist als die des vorgenannten, so gehören
die beiden doch nicht nur gegenständlich nah zusammen, son-
dern haben auch eine künstlerische Eigentümlichkeit gemein-
sam, die hier in deutschen Gauen ganz besonders auffallen
muß: das ist die Einfügung einer wagrechten Fußbodenplatte,
die auf einer Konsolenreihe ruht, als müßte sie von solchen
aus der Wand vorspringenden Baugliedern getragen wer-
den. Und diese Basis der Figuren wird beidemal in schräger
Richtung, dem von links nach rechts entlanggleitendeu Blick
des Betrachters entgegengekehrt, in perspektivischer Ansicht
gezeigt, und dazu auch zwischen den Konsolen die Unterseite
der Platte wie eine kassettierte Decke in Untersicht gegeben.
Deshalb hat schon Joseph Ludwig Fischer in seinem Hand-
buch der Glasmalerei 19 14, S. 90, ganz richtig gesehen, wenn
er von einem „unüberbrückbaren Gegensatz'' der plastisch ge-
dachten Fenster zu den übrigen flächenhaft gehaltenen spricht,
als Kennzeichen eines Zusammenhangs mit der „giottistischen
Körper- und Kompositionslehre". Aber ein solcher allgemeiner
Hinweis auf die italienische Trecentomalerei ist in diesem
Falle noch nicht ausreichend. Die bezeichnete Behandlungs-
4 AuairsT ScHMAKSow: f7', ^
weise in der Art der Giottoschule könnte durcli tirolische
Künstler über die Alpen ^okoniinen sein und etwa von Pa-
dua herstammen, wie so viele Denkmlller der Wandmalerei
in Südtirol und weiter hinauf un der Brenuerstraße begeg-
nen. Oder es wäre noch einfacher, an die Vermittlung durcli
Miniaturen 7a\ denken. Hier aber liegt unzweifelhaft sowohl
in ikonographischer wie in stilistischer Hinsicht ein unmittel-
barer Zusammenhang mit Assisi vor, der uns, einzig in seiner
Art, bestimmt und scharf auf die Heimat der beiden Ordens-
beiligen selbst weist. Unter diesem Gesichtspunkt beansprucht
das Franciscusfenster ohne Zweifel den Vortritt vor dem
Angebinde für die Ciarissen, das Herzog Leopold erst um sein
Todesjahr 1326 dargebracht haben soll. In der Oberkirclie
von Assisi befinden sich unter jedem Gewölbejoch je drei
Bilder aus der Franzlegende hüben und drüben nebeneinander;
sie sind unter sich durch gemalte Säulchen mit spiralisch ge-
wundenem Schaft getrennt, auf deren Kapitellen eine gemein-
same Deckplatte ruht. Über dieser Zusammenfassung wie
unter der Basis der Scheinarchitektur laufen Konsolenfriese
hin, die, ebenfalls nur gemalt, perspektivisch so gezeichnet
sind, daß sie von der Zentralliuie des Mittelbildes aus sich
nach links dem vorbeischreitenden Beschauer entgegenkehren,
nach rechts hin dagegen, in identischer Richtung mit ihm,
weiterweisen. So gibt nur das Mittelstück einer solchen drei-
'gliedrigen Bilderreihe Gelegenheit oder Anreiz zu ruhigem
Stillstand, während die Flügelstücke, von welcher Seite der
Besucher grade kommen mag, auch dem Auge das Hinein-
gehen unter das Gewölbejoch und andrerseits das Hinaus-
schreiten aus dem Bann der Zentralstelle zu Gefühl bringen
und damit die Einheit unter dem Schnittpunkt der Diagonal -
rippeu jedes Kreuzgewölbes vermitteln. Damit so das rhyth-
mische Erlebnis beim Ablesen der Geschichten von links nach
rechts, Avie sie einander folgen, noch stärker zum Bewußtsein
komme, als dies etwa vor einem Altartriptychon von gerin-
gerer Breite mit seiner Uberschaubarkeit von dem festen Stand-
punkt vor seiner Mitte zu geschehen pflegt, ist die nämliche
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 5
perspektivische Divergenz auch an der Deckplatte über den
einrahmenden Säulen durchgeführt, die dem Blick des unten
entlangwandelnden Betrachters in entsprechender Untersicht
gezeigt wird. Diese Deckplatte unter der oberen Konsolen-
reihe trägt an ihrer Stirnfläche ein feingemustertes Cosmaten-
mosaik und an ihrer Unterseite eine zweireihige Kassetten-
teilung, deren Orthogonalen die nämliche radiale Ausstrahlung
von der Zentralachse her wiederholen, die wir an den Kon-
solen so unten wie oben darüber finden, und dem Auge da-
durch eine vertiefte Raumschicht vortäuschen, schon ehe die
Bühne des Einzelbildes sich etwa einladend auftun mag.^)
Diese durchgehende Eigeutümlichkeit des ganzen Freskenzy-
klus in der Basilika zu Assisi konnte man nur an Ort und
Stelle selbst kennen lernen, und eben diese finden wir, soweit
es überhaupt möglich war, in das Glasfenster zu Ehren des-
selben Heiligen in Königsfelden herübergenommen, — und
zwar in sinnvoller Auswahl, im Einklang mit der französisch-
gotischen Vorschrift des Ablesens von links nach rechts, auch
nur für diese Ansicht, nicht aber in der Frontalschau der
Mittelbilder dort mit der trennenden Zentralachse zwischen
beiden Hälften, die den Standpunkt des Betrachters schon
fester anzuweisen vermöchte. Die wagrechte Fußplatte ist
auch nicht sklavisch kopiert, so daß man die Wiederholung
diesseits der Alpen einfach durch gemalte oder gezeichnete
Vorlagen nach den inzwischen zu kanonischem Ansehen ge-
langten Fresken des Wallfahrtsortes vermittelt denken könnte.
Das Motiv ist als Entlehnung nach dem Urbild in Umbrien
unverkennbar, sein Zusammenhang mit der Ursprungsstätte,
wo es, auf Grund der alten Tradition perspektivischer Zier-
stücke, allein erwachsen konnte^), ganz unzweifelhaft. Aber es
1) Vgl. ScHMAESow, Kompositionsgesetze der Franzlegende in der
Oberkirche zu Assisi (Publikation des Forschungs-Instituts für Kunst-
geschichte an der Universität Leipzig). 191 8, Kommissionsverlag von
Karl W. Hirsemann. S. 7 f. u. Tafel.
2) Vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft XXVIII (1905) S. 391
meinen Bericht über S. Pietro bei Ferentillo.
6 August Scumaksow: [7'i3
ist hier in die Formonsprache der Gotik, ja der veroinfiichen-
Jeu Soiulergotik der südwostdeutsehen Gegenden in der Nahe
des Oberrheins und der burgundisi-hcn Laude jenseits des
Jura übertragen. Im Franciscusfenster wird die stark vorsprin-
gende Deckplatte der Figurenbasis mit ihrem Fugenschnitt
zwischen den einzelnen Quadern, statt von antiken Marmor-
konsolen mit ihren rcimischon Ziergliedern, von schlichten
Kragsteinen getragen, die nichts als die scharfkantige Werk-
form des Steinmetzen zeigen. Die untere Fläche, gegen die
wir hinaufblickeu, ist glatt belassen, nur durch den dunkleren
Farbton als beschattete Decke der kleinen Schalträume ge-
kennzeichnet, wie die sichtbare rechte Seite der tragenden
Glieder selbst, im Gegensatz zu der quadratischen Stirn in
hellstem Weiß, unter welcher der Ablauf wieder beschattet
erscheint bis zum seitlich von links her beleuchteten Fußpunkt,
unter dem abermals eine wagrechte Reihe von weißen Hau-
steinen hinläuft. Zwischen je zweien solcher schlicht behauenen
Kragsteine sehen wir durch ausgetiefte Rahmen in ganz nie-
drige, aber die verfügbare Breite ganz ausnützende Öffnungen
hinein, die mit der schwarzen Farbe im Ausschnitt nur dunkle
Kellerluken bedeuten können, durch die mehr' Luft als Licht
in den Linenraum unter dem Fußboden eingelassen wird.
Ganz ähnlich finden wir den Schauplatz für die Szenen
des Ciarenfensters; nur gleichen die Konsolen noch mehr
hervorstehenden, ganz unprofiliert belassenen Balkenkopfen,
sind jedoch an der Unterseite mit einem krausgezackten Blatte
vorgerückter, Gotik belegt. Und an der Unterseite der Deck-
platte kehrt die schräg von rechts nach links ausladende Qua-
drierung von der KapiteUzone der Säulchen in Assisi wieder:
nicht genug mit den zwei Reihen von Kassetten, sind hier
deren vier hintereinander gezeichnet, doch nur in schemati-
scher Weise durch schwarze Linien, deren Durchkreuzung in-
des ebenso, ja erstrecht stark in die Richtung der Steinbal-
ken selbst nach links hinausweist, so daß unser entlanggleiten-
des Auge nicht umhin kann, die ganze Breitenausdehnung
des Bildes an der Hand dieser auffallenden Glieder durchzu-
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 7
taktieren und Abschnitt für Abschnitt auf grund ihres Wider-
stands durchzukosten.^)
Die nämlichen perspektivischen Reizmittel in Untersich-
bj ten jedweder vorkragenden Decke begegnen uns dann in den
Darstellungen selbst, ebenso wie in den Wandgemälden der
Franzlegende zu Assisi, wo sie sich bekanntlich mit charak-
teristischen Elementen der Cosmatenarchitektur des Dugento
verbinden. Der Hochsitz des Bischofs auf dem ersten Bilde,
mit der Flucht des Jünglings vor dem erzürnten Vater, ist
ein in deutsche Gotik derbster Art übertragener Aufbau jenes
mittelitalieuischen Sonderstils und trägt auf seiner Deckplatte
die gleich vergnügliche Übersetzung einer Pergola, wie sie
dort auf dem flachen Dach der Paläste vorkommen oder auf
dem Vorbau des Ritterschlosses, das dem Franz im Traum
von Christus selber gezeigt wird. Sie wird, sogar mit aufge-
klappter Fensterluke am Ausguck zur Seite ausgestattet, aber
auch mit gotischer Haustein- oder Holzprofilierung an Kopf-
und Fußstücken der gedrungenen Säulenstämme, dem heimi-
schen Schreinergeschmack entsprechend, eingedeutscht. Am
Thron des Papstes, der die Ordensregel bestätigt, erscheint
abermals derselbe Steinschnitt an plumpen Konsolen der Sitz-
platte, läßt aber vollends an der Fußbank mit ihrem per-
spektivisch schräg gesehenen Rundbogenfries keinen Zweifel
übrig, daß der zweistufige Schemel vom Urbild der nämlichen
Szene zu Assisi dabei vorschwebt, oder daß gar die flüchtige
Skizze, die hier dem Glasmaler vorgelegen haben könnte, doch
durch Reminiszenzen an die tonnen gewölbten Rundbogenni-
schen der schwerfälligen Deckenträger des päpstlichen Audi-
enzsaales abgewandelt wurde. Und endlich ist das ganze Fen-
ster auf beiden Seiten mit einer goldgelben Kante auf schwar-
zem Grunde eingefaßt, in der wieder durch den Gegensatz
stark beleuchteter Flächen gegen halb beschattete und durch
deren Schi-ägstellung gegeneinander der täuschende Eindruck
i) Beachtenswert ist der Unterschied der rein frontalen Stellung
der fünf Konsolen unter der Basis der Figuren im Vierpaß auf den
Reliefs der Bronzetür des Andrea Pisano am Baptisterium zu Florenz 1330-
8 August SciiMAusow: (7'. 3
erzielt wird, als reihten sieli helle Steinwiirfel wie eine schmal
aufsteigende Treppe aneinander, die unter grellem Licht ühor-
rascheud aus dem dunklen Grunde hervorspringt, — ein Kunst-
stück, das noch an illusionistische liestrehungen in Kulihoden-
mosaiken der riunischen Kaiserzeit erinnert, und zwar zu stark
und unmittelhar, um nicht die Irische Anleihe beim italieni-
Bchen Geschmack römischer Mosaikimiler des dreizehnten Jahr-
hunderts und der schon genannten Cosmatenkunst, die mit ihrer
eintTelecrten Steinarheit auch in Assisi herrscht, zu verraten.
Schon angesichts der inneren Kahmenformen, die sich mit
weißen und goldgelben Händern von dem himmelblauen (»runde
abheben, kann ja kein Zweifel bestehen, daß hier in Königs-
felden sich fremdher zugetragene Dekorationsraotive dem dies-
seits der Alpen herrschenden Stil der Gotik einordnen müssen,
wenngleich der Horizontalismus, mit dem sie notwendig zu-
sammenhängen, der bereits erreichten Entwicklungsstufe dieses
Baustiles widerspricht.
Ein figürliches Motiv aber, das dem perspektivischen Kon-
solengesims unmittelbar gesellt ist, offenbart vollends über-
zeugend, wie unbefangen der erfindende Glasmaler als echter
Gotiker sich in seiner Denkweise gar nicht beirren läßt. Gerade
da, wo das italienische Vorbild rein tektonisch gemeint ist, und
die wagrechte Grundlinie, auf der die Konsolen fußen, als letzte
befriedigende Unterlage des weiteren Aufbaues anerkennt,
empfindet der heimische Meister die breitgelagerten Steinformen
als zu schwer für den Gesamtaufstieg seiner Vierpaßrahmen,
auch nachdem er diesen durch die Wahl des ruhenden Qua-
drates, statt der steigenden Raute, und durch die Erweiterung
der Bühne mittels der Kreissegmente nach beiden Seiten schon
zugunsten der zweiten Dimension ein starkes Zugeständnis ge-
macht, ja durch die symmetrische Lage der liosenmedaillons
zwischen den Vierpässen sich fast für die ausschließliche Vor-
herrschaft der Breite im ganzen Aufbau entschieden hat.
Gerade da bringt er jedoch auf eigene Hand zur Ausfüllung
des unteren Kreissegments eine menschliche Gestalt hinein, die
weit ausschreitend von links nach rechts, beide Füße fest auf
71,3] Das Frakciscusfenster in Königsfelden usw. 9
die innere Peripherie setzt, ja den linken Arm noch als dritte
Stütze verwendet, indem sie die Hand gegen Schienbein und
Knie zur Rechten preßt, um so die Last des Fußbodens auf
tiefgebeugtem Rücken tragen zu können; mit der rechten Hand
greift sie noch an die Steinplatte und läßt den mühsam empor-
gewendeten Kopf zur Seite drücken, um vorsorglich mit den
Augen das Gleichgewicht zu kontrollieren und jeder leisen
Schwankung mit dem eignen Körper Widerhalt zu leisten. Das
ist eine rechte Steinmetzenerfindung aus der gotischen Bauhütte,
diese Menschengestalt, die das Bewegungsraotiv des Lastträgers
so realistisch wie möglich ausbeutet, um das Grundprinzip des
Strebesystems lebendig ad oculos zu demonstrieren. Und es
ist doch eine dekorative Idealfigur, die unmöglich im Ernstfall
fungieren könnte, wohl aber von französischen Bildhauern mit
Vorliebe verwandt wurde, um, unter Kragsteinen für Stand-
bilder oder gar hochsteigenden Diensten der Gewölberippen
angebracht, die staunende Bewunderang des unten wandelnden
Laien herauszufordern. Daß sie sich in Profilstellung von links
nach rechts entfaltet, ist nur auf die cjewohnte Blickrichtuns;
beim Ablesen der erzählenden Bilder berechnet, entspricht also
auch dem Gebrauche französischer Glasgemälde, in denen sich
der gotische Stil so maßgebend ausgebildet hat. Und in dem
Umkreis dieser Kunstüberlieferung nordfranzösischer Kathe-
dralen suchen wir auch die Gestaltenbildung und das ausgrei-
fende Motiv im Zusammenhang mit der begrenzenden Kreis-
peripherie: es genügt ein Hinweis auf die ganz verwandten Er-
findungen im Skizzenbuch des Villard de Honnecourt, der ja
selbst auf seinen Reisen bis nach Lausanne, ja weiter ostwärts
bis nach Ungarn gelangte.^)
Damit haben wir aber auch, wenn wir diese gewaltsam
niedergedrückte und doch so elastisch bewegliche Trägerfigur,
sei es auch nur in Gedanken, aufrichten zu ihrer frei aufragenden
Haltung, den Normaltypus für die Menschengestalt vor Augen,
wie er hier in der Legende des hl. Franz selber auftritt. Im
i) Lassus et Darcel, Album de Villard de Honnecourt 1858.
lo AiioiiST ScuMAKRow: [71,3
»selbstverständlichen Gegensatz gegen den vorherrschend unter-
set/ien Hiui des italienischen Bilderzykliis schließt er sich in
Köniusfolden dem nordfniii/.ösischen Stil der Frühgotik an.
Hier sind es durchgehends schlanke, geschmeidige Körper mit
schmalen Schultern, aber großen Köpfen, voll dramatischen
Ausdrucks in lebendiger Aktion und sprechender Gebärde. Be-
sonders der seitlicli gerichtete Blick verrät überall das Be-
streben, den geistigen Zusammenhang des Auftritts auch für
den Beschauer sichtbar herzustellen. Demgemäß werden auch
die Kompositionen des italienischen Originals im Sinne der
französischen Glasmalerei und ihrer Ausläufer auf deutschem
Boden uniorewandelt. Aus der volkstümlichen Erzählung der
Franzlesende von Assisi wird hier ein feierliches Wesen, für
andächtige Betrachter im Gottesdienst, herausgeläutert und ver-
klärt. Das ergibt sich zunächt schon dadurch, daß die wenigen
Momente, die hier im Fenster Platz finden konnten, aus dem
zusammenhängenden Verlauf herausgehoben und, jeden für sich
isolierend, verselbständigt wurden. Wo die überleitenden Glieder
fehlen, muß der Eiuzelauftritt bleibendere Bedeutung gewinnen,
wie dies schon bei Giotto in der FranzkapeUe von S** Croce
zu Florenz geschah, weil die verfügbare Wandbreite nur ein
Bild aufnimmt, so daß kein Weiterlesen in der Horizontalrichtung
stattfindet, und weil die Reihenfolge dort von oben nach unten
in drei Stockwerken so herabsteigt, daß je zwei zeitlich zu-
sammengehörige Darstellungen einander im Kapellenraume auf
gleicher Höhe gegenüberstehen, also völlige Abkehr vom ersten
verlausen, sowie der Betrachter sich dem zweiten zuwendet.
Ähnliche und doch wieder andersartige Bedingungen walten
hier, wo in einem Fenster die Reihenfolge der Szenen von
unten nach oben aufsteigt, und jedesmal der Vollzug der Ein-
stellung des Augenpaares auf das höhere Niveau fühlbarer, weil
mühsamer erreichbar wird, oder gar Erweiterung des Abstandes
erheischt. Das alles wirkt mit der Absicht auf kirchliche An-
dacht zusammen und erklärt die vorliegende Metamorphose als
notwendiges Erfordernis.
So schon die besonders auffallende Umstellung der Haupt-
71,3] Das Franciscusfenster IN KöNiGSFELDEN usw. II
person in dem untersten Bilde, der Lossagung vom Vater.
In der Glaswand, die durch zwei Steinpfosten in drei Ab-
schnitte geteilt ist, wird die Komposition vollständig symme-
trisch zu einem dreigliedrigen Aufbau mit überhöhter Mitte
umgewandelt. Unter dem oberen Kreissegment des Vier-
passes erhebt sich der Kirchenstuhl des Bischofs von Assisi,
von dessen Bekrönung mit einer Pergola, die hier als reines
Schaustück fast nur wie eine Puppenstube wirken kann, schon
vorhin gesprochen worden ist. Wie beim Hochamt im Chor
des Domes thront der geistliche Oberhirte in der Mitra und
empfangt den nackten Jüngling, der ihm flehend von links-
her naht; schleunigst bedeckt er mit seinem blauen Mantel
die Blöße des Flüchtlings, der seine Kleider abgeworfen hat,
um auf alles irdische Gut zu verzichten. Hinter dem Be-
kenner freiwilliger Armut erscheint der erzürnte Vater, der
mit geballter Faust zum Schlage ausholen will, und wird von
einem Mitbürger genau ebenso am rechten Arm gepackt wie
auf dem Fresko in Assisi. Aber aus den glattrasierten Ita-
lienern sind bärtige Nordländer geworden, doch sind sie nach
der Zeitmode sorgsam gelockt unter dem vorgeschriebenen
Haarschnitt um die Stirn. Das Motiv der habgierig aufge-
packten Kleider im Arm ist verschmäht; aber um den hef-
tigen Alten vom Ziel zurückzureißen, bedarf es auch der
Linken des Gefährten, die von hinten vorgreifend gerade noch
die vordringliche Bewegung abfängt, dabei aber auch eine
Vorbeugung des eigenen Oberkörpers veranlaßt, die beide
Köpfe einander näher bringt. So entsteht die paarige Gruppe,
die sich im Rahmenausschnitt links zur einheitlichen Kurve
zusammenschließt, durchaus nach den Regeln des französischen
Stils.^) Ihr entspricht gegenüber, auf der anderen Seite rechts,
ein Paar von Geistlichen, wie sie auch in Assisi das Gefolge
des Bischofs bilden, der auf der Straße gerade daherkam.
Aber der erste wird hier, als Träger des Krummstabes mit
seinem reichen hochgotischen Blattwerk droben und des
i) Vgl. „Kompositionsgesetze frühgotischer Glasgemälde" in den
Abhandlungen der Sachs. Ges. d. Wiss. XXXVI, III. (19 19).
12 Ai;uusT SiiiMAKsow: |7'.3
Sakminontars in der linken Hand, nucl» im kirchlichen Or-
nat, Chormantel und Mitra, gezoigt, und der jüngere Kleriker
folgt ihm, in gomessoiier Zurückhaltung, doch durch die Neu-
gier zum Spähen nach dem unerwarteten Zwischenfall ge-
trieben und so fast wider Willen angenähert. Dazu sind
dann die jiroßen Überschriften hinzugetreten. Über den beiden
Laien links, die nun wie Eindringlinge ins Heiligtum erschei-
nen, steht l'(ate)K- FRAN • ClSCl. — über dem nackten
Knaben mit seinem Nimbus ums blondlockige Haupt: S. FKAN-
CISCUS im Aufschwung eines schwarzen Streifens bis zum
tlacheu Dach des Thrones hinauf. Aber trotz allen Abwei-
chungen bleibt die unmittelbare Herkunft von dem bestimm-
ten Urbild in Assisi ebenso zweifellos klar wie die Freiheit
der Umgestaltung und deren Abhängigkeit von Stil und Ton-
art frühgotischer Kirchenfenster in Frankreich.
Die Obedienzleistung vor dem Papst läßt uns im
Vergleich mit der Vorlage des Freskenzyklus die Ursachen
der Veränderung besonders deutlich in den Erfordernissen
der Glasmalerei erkennen. Die paarige Mittelgruppe mit dem
knieenden Franz vor dem thronenden Oberhirten der Kirche
wird dadurch der vorigen fast zu ähnlich: Zwischen den bei-
den Steinpfosten und der ersten Querstange der Armatur ein-
gespannt, sind die beiden Personen einander ganz nahe gerückt,
wenn auch der niedrige Steinsitz, mit seinem Schemelunter-
satz von einer Stufe, frontal ganz nach vorn genommen, noch
immer hinreichend dafür sorgt, daß der sitzende Bischof von
Kom mit purpurroter Mitra auf dem Haupt, mit goldgelbem
Chormantel um die abfallenden Schultern und über den fast nur
einseitig angedeuteten Knien, den demütigen Empfänger der
Ordensregel gebührend überragt. Diese ist hier, aus einem
entrollten Pergamentstreifen im Orginal, ein gebundenes Buch
geworden, das in dem Augenblick, wo beide Beteiligten es
am selben Außenrand unten berühren, geöffnet in der Luft
steht, da die Linke des Ordensstifters fast ebenso untätig gegen
den Rücken des Einbands gestellt wird. Mit hingebender
Devotion aufblickend, ist der fromme Mönch hier vollends nur
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfeldek usw. 13
Gehorsam, wie er mit beiden Knien am Boden liegt und
sonst überhaupt mit keinem Gliede weiter in das Bild hinein-
ragt. Desto augenfälliger steht sein Name auf geschwunge-
nem Schriftband über Heiligenschein und Codex, wie auch
die große leergebliebene Fläche des Bogenfeldes über dem
Windeisen in drei Zeilen verkündet, welcher gewaltige Herr
diese Bestätigung gegeben: INNOCENCIV • PAPA • TER-
CIUS • — Auch hier begleitet den Kirchenfürsten sein Weih-
bischof mit dem hochragenden Pedum, dessen Übereinstim-
mung mit dem des ersten Bildes wohl vermuten läßt, daß
in beiden das gotische Original der Abtei Königsfelden selber
konterfeit worden ist, um noch eine köstliche Gabe der Habs-
burger zu zeigen: es kommt auch im Clarenfeuster noch
einmal vor. Und neben dem Krummstabträger in weißer
Mitra erscheint ein barhäuptiger Priester ebenfalls im Plu-
viale, sogar von der gelben Farbe wie des Papstes, in Profil-
ansicht; er bereichert das konventionelle Motiv geistlicher
Statisten, ein schweres Gebetbuch zu tragen, durch ein
wundervoll groß und scharf geschnittenes Antlitz und so
durchdringenden Blick der weitgeöfifneten dunklen Augen,
daß Joseph Ludwig Fischer meint: „Einen so lebenswahren
Charakterkopf konnte nur ein Künstler entwerfen, der sich
im Treiben italienischer Prälaten genau umgesehen hatte".
Wir mögen gern annehmen, daß schon die reiche Auswahl
so sprechender Persönlichkeiten auf den Wandgemälden der
Oberkirche von Assisi das Ihrige dazu beigetragen habe,
sehen aber trotzdem kein Bildnis nach Art des italienischen
Meisters darin, sondern gerade hier auch unverkennbar die
verklärende Idealität, die im durchscheinenden Glasfenster
der Gotik zu walten pÜegt. Daß aber auch diese Gesinnung,
wenigstens in Toskana, nicht fehlte, mag durch den Hinweis
auf die marmorne Priestergestalt bekräftigt werden, die Gio-
vanni Pisano am Eckpfosten seiner Kanzel in St. Andrea zu
Pistoja gerade um die Wende ins Trecento angebracht hatte.
Sie ist auch im Schnitt des Pxofils diesem Kopf hier ver-
wandt, so weit sonst die tektonische Begrenzung des Körpers
14 AlIOUST SCMMAKSdW: f7',3
von der fortgesclirittenni Bowegliolikeit des Gotikers im Nor-
den noch abweicht, denn sie sollte j:i an ihrer Stelle j^eson-
dert für sich bestehen und jedem (leistlicl)en, der zur Tiedigt
hinaufstieg, als Vorbild seines Amtes vor Augen treten, liier
fügt sich der Kardinal in die Reihe dienend ein, so lebhaft
er auch hervorblickt, und die letzte, vom Rahmen fast völlig
überschnitteue Figur des Akohithen ist gewiß nur deshalb
noch hineingenommen, weil das Fresko eine dichtgedrängte
Aufstellung von Kurialen zeigte, die der Majestät des Papstes
in der geschlossenen Ecke des Gemachs erst den imposanten
Rückhalt gaben, auf die es eben im Wandgemälde bei solcher
Einordnung der Hauptperson in ihre zugehörige Umgebung
notwendig ankam. Für den Glasmaler gilt dagegen die Ver-
einzelung der Gestalten auch innerhalb einer Mehrzahl als
technische Regel. Aus ihr ergab sich die Aufreihung im
Übereinander an der linken Seite, wo die Genossen des Franz
hinter ihm eingetreten sind und niederknien. Drei Brüder
in verschiedenfarbiger Kutte beten vorn dicht nebeneinander,
zwei in Dreiviertelsicht des Kopfes, der letzte nur in scharfem
Profil; drei andere überragen die Glatzen dieser vorderen,
hier auch zwei bärtige dazwischen und der letzte wieder mit
so energisch geschnittenen Formen, so mandelförmig ge-
schlitzten großen Augen, so schwarzer Iris- und Bartfarbe,
daß man seinen südländischen Typus nicht verkennen kann.
Alle diese ausgeprägten Erscheinungen fallen um so mehr
auf, als der weichbewegte Papst, der den mächtigen Innocenz
darstellen soll, so jugendliches, fast jünglingshaftes Antlitz
trägt, als gehörte er zum Hause der Luxemburger, wie sie
uns im Balduineum zu Koblenz gezeigt werden. Auch hier
tritt wohl ein Kennzeichen des milder werdenden Zeitge-
. schmacks hervor, der die französische Gotik selber abgewandelt
hat und bei ihrer Verbreitung in deutschen Gauen vollends
zu knabenhafter Weltfremdheit oder jüngferlicher Blüten-
frische werden läßt.
An mittelrheinische Gefühligkeit und minnigliche Ver-
zückung, wie diese Märchenabenteuer, die den Römerzug
71,3] I)as Franclscusfenstkr in Königsfelden usw. 15
Heinrichs VII. verherrlichen sollen, streift auch, freilich mit
besserem Rechte, die Vogelpredigt des heiligen Lyrikers
von Assisi. Schon die Tatsache, daß unter fünf Hauptstücken
aus seiner Laufbahn, die hier ausgewählt werden durften, ge-
rade diese liebenswürdige Anekdote mit auftreten darf, ist
bezeichnend. Aber auch sie bestätigt nur die Abhängigkeit
von den Eindrücken der Wandgemälde in Assisi, wo das un-
kirchliche Thema, so recht für das Laienpublikum, dicht an
den Ausgang der Basilika mit dem Blick ins Freie verlegt
worden war. Wie es dort an der Portalwand des Langhauses
populär geworden, mit seinem poetischen Reiz und seiner
Beziehung zum blauen Himmel draußen, so hat auch in deut-
schen Landen wohl immer das menschliche Verhältnis zur land-
schaftlichen Natur und zur Tierwelt unter den Bäumen die Her-
zen gewonnen und die Innigkeit des Gemütes hineinzusehen
verlockt. Die Gestalt des freundlichen Predigers ist auf
dem Glasgemälde nichts anderes als eine folgerichtige Über-
tragung des untersetzten umbrischen Urbildes in die gestreck-
ten Proportionen, die schlanken Glieder und das rhythmisch
bewegte Gebaren der französischen Gotik, in der auch dieser
deutsche Meister geschult war. Aber es ist auch bewußte Ab-
wandlung sonst im Spiel: bei dem Italiener sitzen die Vögel
versammelt auf dem Erdboden zu Füßen ihres Freundes, wie
die andächtige Schar menschlicher Hörer ihm voll Hinge-
bung und Verständnis zu lauschen pflegte, und demgemäß
beugt sich der Prediger zu ihnen gerichtet, nach abwärts
blickend und gestikulierend, wie von der Kanzel herab. Da-
durch wird sozusagen der kirchliche Charakter der Seelsorge,
der Erbauung bewahrt. Hier in Königsfelden sitzt die Mehr-
zahl der Vögel auf den Zweigen, ja auf den kugeligen Baum-
kronen über seinem Haupte; so bleibt sein Antlitz in auf-
rechter Haltung geradeaus in mittlerer Höhe, nach rechts
gewandt, wie seine seitlich blickenden Augen. Seine Hörer
kommen ihm näher, ja er scheint fast in persönlicher Wen-
dung sich soeben mit dem Haushahn zu beschäftigen, der
ganz goldgelb auch dem Betrachter besonders ins Auge fallen
Phil.-hiflt. Klasae 1919. Bd. LXXI. 3. 2
iti AuQUKT S(UiM.viis()\v: |7>.3
imiiJ, weun ;uich unten der Storch iiut' der Wiese, oder die
Gans sich neu<;ierig vorgedrängt lial)en, oder wenn selbst das
Kiluzchen sieh heriiuswagt ins Tageslicht und auf nie(h-igeni
Stiimnu'lien, aber wie federleicht, hoch oben auf der Spitzte
eines Hlätterbüschels hockt. Kommt doch ein dicker großer
Schmetterling als Luftbewohuer herang«^tiogen, und gesellt
sich zu allem Getiügel des Waldes sogar das Eichhörnchen,
das seinen Nageeifer unterbricht, um, mit der Nuß /wischen
den Pfotchen, zu erspähen, was es gibt, ohne dort droben in
sicherem Abstände die Flucht zu ergreifen. Ein großer liaum
teilt mit dem Heiligen das Mittelfeld des Vierpaßrahmens,
wächst ihm in zwei geteilten Kronen über den Kopf, ins
Bogenfeld hinauf; aber wie anders ist er durchstilisiert als
das mächtige Prachtexemplar, das im Wandgemälde die rechte
Seite füllt! Auch dort ist freilich die mittelalterliche Scha-
blone, bei allem Zuwachs an Naturbeobachtung und Körper-
fülle, noch unverkennbar zugrundegelegt: das beweist schon
die kleine Abzweigung vom Stamme rechts unten mit der
Kugelform der Laubmasse daran. Doch welche Wucht des
Gesamteindrucks ist bereits gewollt und erreicht, fast als
gälte es eine Veranschaulichuug des Gleichnisses vom Samen-
korn, das zum Baum erwachsen die Vögel des Himmels unter
seinen Zweigen beherbergt und mit seinem breiten Schirm-
dach den Boden ringsum überschattet. Hier dagegen, im go-
tischen Glasgemälde, bleibt das Hauptexemplar nicht allein,
es wird auch das rechte Drittel im Rahmen noch drei klei-
neren eingeräumt, die ebenso vereinzelt in Reih und Glied
aufmarschieren dürfen, aber an Größe sich abstufen müssen,
wie das umschließende Kreissegment es fordert. Sie wieder-
holen das nämliche, aus der romanischen Kunst ererbte
Schema, ja sogar die Variante in voller Aufsicht auf den
kreisförmigen Wipfel, mit seiner Rosette in der Mitte und
seinem Kranz von abstehenden Blättern, die ihn dem Kelch
der Sonnenblume vergleichbar machen, obwohl er in einheit-
lichem Grün auf Schwarzlotzeichnung verhairt. Ein ver-
wandtes junges Frühlingsbäumchen streckt auch links seine
71, 3j Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 17
beiden Blätterbüschel, gerade aufwärts und wagrecht zur Seite
hin über die Köpfe der beiden sitzenden Klosterbrüder. Zwei
Zeugen des Erlebnisses sind an die Stelle des einen stehen-
den, doch desto wuchtiger gebauten Beschützers im Bilde
von Assisi getreten. Indes auch so bleibt der äußerste, in
violetter Kapuze, durch eben diese Hülle noch als Abkömm-
ling des bildnismäßigen Einzelexemplars kenntlich. Und hat
sich das Individuelle verflüchtigt, so ist doch der Ausdruck
gespannten Lauschens im Antlitz und in der mimetischen
Geste der Hand als wertvoller Ersatz im Sinne der nordischen
Kunst hinzugetreten. Der weißgekleidete Frate vorn, der
barhaupt seine Wange in die Hand des aufgestützten Armes
schmiegt und die herabhangende Rechte im Ärmel verbirgt,
iindet sein Musterstück auf beiden Predigten, wenig Schritte
weiter an der Nachbarwand, erst vor dem Papst in Rom, dann
bei der des Antonius von Padua zu Arles; nur muß ja daran
erinnert werden, daß diese „geschlossene Haltung'*', wie ich
sie im Gegensatz zur „offenen" Entfaltung der Extremitäten
bezeichne, aus der Beschreibung bei Walter von der Vogelweide
wohl bekannt, auch der französischen Gotik schon im XIII. Jahr-
hundert geläufig war, also schon ohne die Anregung eines
packenden Eindrucks in Assisi, aus eigenem Erbteil des Glas-
malers hätte erwachsen können. Durchaus verschieden von dem
Fresko dort, mit seinem leeren blauen Luftraum über Menschen
und Tierwelt, wirkt hingegen das Glasbild hier als Ganzes: wie
die Grundfläche im Vierpaßrahmen durchgehends mit dem Vier-
blattmuster bedeckt ist und durch seine rote Farbe sich über
jeden Anspruch an dreidimensionale Raumwirklichkeit hinaus
hebt, so ist doch die volLrunde Körperlichkeit der Bäume, der
Vögel und des sonstigen Getiers außer den Menschen ebenso-
weniö- verleuffnet, wie die plastische Gestaltung durch das ita-
lienische Beispiel gesteigert ward. Die Hauptsache bleibt in-
des immer die Durchgliederung des umschlossenen Ausschnittes
aus der Glaswand und die rhythmische Bewegung nach ihren
beiden Dimensionen vermittels der durchleuchteten Erschei-
nungen, die kraft der Einstrahlung des Sonnenlichts aus dem
i8 August SoHMAHSow: l7'i 3
Teppichii^ninde hervortteten und vor ilou Augon des Betriu-hters
in den Inuenmuiu des Kirchenchores leise hcreiusch weben: In
regehniißi<;er Koihuug und wechselndem Auf und Ah der Grup-
pierung vollführen sie alle wie in einem einheitlichen Idealreich
diesseits der wirklichen Haumgrenze ihr ausdrucksvolles Ge-
baren, wie in einem pantomimischen Spiel die stumme und
doch so beredte Sprache der Innenwelt.
Hal)en sie so einmal bei voller Einstrahlung vom ent-
wölkten Himmel die ätherische Leichtigkeit gewonnen, die sie
den Wirkungen farbiger Graphik nähert, so befremdet es wohl,
darüber nun doch w^ieder den Erdboden mit seinem Aufbau
des Gesteins, ja die Konsolonreihe als Träger eines solchen
Schauplatzes zu gewahren, wie die Stigmatisation ihn er-
fordert hat, über der sodann noch ein fünfter Vierpaß folgen
soll. Wer mit dem Gedanken an das W^andgemälde von Assisi
hinaufschaut, findet zunächst eine vollständige Verwandlung
vor. Das Fresko mußte bei der Breitenausdehnung seiner ge-
gebenen Maße auf den Eindruck luftiger Weite droben am Ge-
biro-e des Apennin angelegt werden. In langhin verlaufender
Woge senkt sich die eine Diagonale vom Felsen links oben
nach rechts unten, wo das Kirchlein wieder aufspringend ab-
schließt, imd trennt die irdische Stätte des Wunders von dem
freien Ätherblau der Höhe zur Rechten. Hier am Himmel ist
der Erscheinung des apokalyptischen Flügelwesens eine weithin
sichtbare Stelle eingeräumt, begreiflicherweise im gleichen
Maßstab mit dem Menschen, mit dessen Extremitäten die
Strahlenwirkung es verbinden soU. In diagonaler Richtung,
von rechts oben nach links unten, wo der Heilige vor dem
Felshaug kniet, vollzieht sich die Übertragung der Wundmale,
so daß sie jene erste Anlage der gegebenen Ortlichkeit durch-
kreuzt. Nur so kann der von links nach rechts entlang schrei-
tende Betrachter im Langhaus der Kirche den Vollzug des Er-
eignisses, gleichsam am eigenen Leibe, miterleben. Ganz anders
muß der Glasmaler verfahren, dessen Vierpaß sich in der Höhe
über uns erhebt und selbst noch wieder durch die Fensterpfosten
geteilt ist. In dem engen Ausschnitt unter dem oberen Bogen-
71,3] Das Franciscuspenster in Königsfelden usw. 19
feld der Mitte müsseu der knieende Franz und der geflügelte
Crucifixus zusammengebracht werden, und nur die Höhendi-
mension bleibt als Richtuugsachse der Wirksamkeit übrig, wie
es ohnehin dem Vertikalismus des gotischen Stiles und zugleich
dem innern Aufschwung in der Seele des Heiligen entsprach.
Doch ist auch so die Herkunft der Komposition von jener in
Assisi selber deutlich und erklärbar geblieben. Die Gestalt des
Heilioeu am Boden mußte schmäler zusammengenommen
werden; aber sie hebt sich auch hier noch von dem Felsblock
ab, von dem dunkleren Grund seiner Höhlung umschlossen, und
die Struktur des kahlen Gesteins wie die Besetzung mit ein-
zelnen Bäumchen verharrt durchaus bei dem italienischen
Schema: es ist die Pappkulisse der Treeentisten, deren Her-
stellung noch Cennino Cennini überliefert. Statt des nackten
Erlösers aber mit seinen sechs Flügeln, deren unteres Paar die
Schenkel bedeckt, deren obere das freie Schweben in der Luft
wie auf Adlerfittichen erlauben, ist nun das hölzerne Kreuz
selber getreten, mit dem Sühnopfer daran, auf der Felsplatte,
wie einst auf Golgatha, aufgerichtet, und trotzdem die Flügel
nach der Vision auf dem Fresko in Assisi beibehalten. Selt-
samer Widerspruch — aus Unverstand, könnte man sagen. Der
Deutsche denkt aber, wie es zunächst scheint, realistischer, ja
verstaudesmäßiger als der Italiener, obwohl dieser, der Philippus
Ruxuti hieß, vielleicht gar aus Apulien oder Kalabrien stammte
und aus Neapel nach Rom gekommen war. Aber es muß wohl
daran o-innert werden, daß auch in der umbrischen Heiligen-
legende schon die Zwiesprach mit dem Kruzifix in der ver-
fallenen KapeUe vorangeht, d. h. mit einem holzgeschnitzten
Salvator Mundi am Kreuzesstamm, oder einem auf Holz ge-
malten, genug noch in der Passion gedachten Gottessohn. Auch
die Büßerandacht des hl. Hieronymus vollzieht sich immer vor
dem aufgerichteten Kruzifix, so daß die V^orstellung der Künstler
wie der Gläubigen, im Abendlande wenigstens, mehr daran ge-
wöhnt war, als au die himmlische Erscheinung des Erlösers
im ewigen Opfertode, noch dazu in Verkleidung der Seraphim
nach byzantinischem Vorbild. Was in Assisi noch um 1300
20 August Scmmaksow: |7«,.?
durch die {griechisch -orieutalischt» Kuusttraditioii oder die er-
neuerte Kraft aus ( araabues Sch<"»|)t'un»;en lobendige Vorstelluuu;
f^eblieben. ja zum anschaulichen Erbteil des Franzinkauerheilig-
tunis geworden war, diis blieb dem fremden l'ilger von der
anderen Seite der Alpen vielleicht ein seltsames Rätsel, das er
getiit«sentlich wiederzugeben meint und doch nicht in seinem
eigentlichen Sinn für die Erklärung des geheimnisvollen Wunders
erfaßt hat. So steht hier der geflügelte Crucilixus auf dem
Felsgestein von Alvernia, wie in der Legende des .lägers Eu-
stachius oder Hubertus auf dem Schädel des Damliirsches
'/wischen dem Geweih.^) — In den Ausschnitt des Vierpasses
zur Linken des Betrachters ist der obligate Zeuge gebracht, von
rechts herübergenommen, mehr aufgerichtet hingesetzt, aber
ebenso eifrig und ungestört mit seinem Gebetbuch beschäftigt
v^^ie dort. Die Zelle dieses gleichgültigen Gefährten neben der
Verzückung in mystischer Vision, erhebt sich noch auf der
nämlichen Seite rechts wie auf dem Fresko, erwächst hier je-
doch zur Höhe eines dreischiffigen Kirchenbaues, dessen Dach-
reiter, mit schuppenförmigen Holzschiudehi bekleidet, seinen
spitzen Helm bis zum obersten Rande des Rahmens empor-
steigen läßt. Und dieses Gotteshaus, in dem J. L. Fisch kr
irrigerweise die Basilica di San Francesco vertreten sehen
will, wie etwa bei ^Holbein in Augsburg die Hauptkirchen
Roms, könnte höchstens das Kirchlein delle Stimmate bei Al-
vernia bedeuten; aber es ist ja kein Werk italienischer, sondern
deutscher Sondergotik, wie wir sie im Anschluß an die soeben
erbaute Klosterkirche von Königsfelden oder im Umkreis der
Glasmalerwerkstatt, die das Fenster geliefert hat, erwarten
dürfen, also zweifellos ein Zeugnis für die Entstehungszeit, so-
weit die Abbreviatur dies zulassen kann. Nur eine Eigentüm-
lichkeit, die vorn ins Auge fällt, weist wieder auf italienischen
Ursprung zurück: die großen Schwibbogen der Strebepfeiler,
am geschichteten Quaderwerk der Außenseite rechts, können
wohl nichts anderes sein als eine Wiedergabe des unüberseh-
i) Vgl. das Eustachiusfenster der Kathedrale von Chartres bei
Laasus-Duraad.
71,3] Das Pranciscusfenster in Königsfelden usw. 2 1
baren Merkmals der Klosterkirche S** Chiara zu Assisi, wenn
schon in die gewohnte Formensprache süddeutscher Gotik über-
tragen; je sinnloser und struktiv unverständlich sie hier auf-
treten, desto sicherer schließen wir auf persönliche Reminiszenz,
sei es des erfindenden Zeichners der Komposition, sei es für
die Ciarissen des Klosters, deren erste Schar noch 13 12, ein
Jahr vor dem Tode der Königinwitwe Elisabeth, in Königs-
felden eingezogen war. Hier im Chorfenster der Minoritenabtei,
unter dem Schutz der Habsburger im Aargau, will der hoch-
strebende Bau doch wohl am ehesten die Verherrlichung des
wachsenden und gedeihenden Ordens bedeuten, selbst wenn er
das hohe breite Hauptfenster der Westfassade, ein wohlbekanntes
Motiv der wirklichen Bauwerke dieser Gauen, getreulich wieder-
gibt, oder gar dazu noch den Dachreiter, mit Schindelbeklei-
dung und durchbrochenem Stockwerk unter der Helmspitze.
Im obersten Vierpaß schließen sich die Exequien des
Franz wieder genauer an die Wandgemälde von Assisi an,
wenngleich die Aufnahme einer dichtgedrängten Versamm-
lung in die Komposition eines Glasbildes von vornherein un-
möglich war. Auch hier mußte, wie schon bei Giotto in
S** Croce zu Florenz, die Zusammenziehung der beiden im
Original getrennt geschilderten Vorgänge vorgenommen wer-
den, weil nur ein Platz dafür zur Verfügung stand; denn
man wollte weder auf den Aufstieg der Seele, über dem
Sterbelager, noch auf die Bestätigung der Seitenwunde durch
den zweifelnden Hieronymus, bei Gelegenheit der Totenfeier
in der Kirche, verzichten. Aber die Redaktion dieser neuen
Einheit ist nicht etwa eine Wiederholung derjenigen Giottos
in Florenz, sondern eine eigene, die unmittelbar aus den Fres-
ken von Assisi geschöpft ward. Der Glasmaler mußte sich
auf die vorderste Reihe der Nächstbeteiligten beschränken.
Zum Kennzeichen, daß es sich um die Aussegnung der Leiche
handelt, die von da zu Grabe getragen werden soll, erscheint
im ersten Abschnitt links das große Vortragekreuz, hier zu
Häupten, wie bei Giotto zu Füßen, des Toten also. Dem Trä-
ger erzählt jedoch flüsternd soeben ein bärtiger Klosterbruder
2 2 Au<JUST SCHMAKSOW: |7'»3
in woißor Kutte, der zum Iliiniiiol wt'isl, vom Entschweben
der Seele, die wir in einem hellen Stern unter dem breit «ge-
drückten l^>gen dos Mittelfddi's erbliekcn. Die Leichcj seihst ist
hier nicht feierlieh au%ebiihrt, auf teppich behängtem Katafalk,
wie bei den Exequien in Assisi, sondern auf der geflochtenen
Strohmatte belassen, die dem Lebenden in seiner Zelle als
Lager diente, und damit erhalten wir eine authentischere
Darstellung, die mit den überlieferten Nachrichten überein-
stimmt, bei dem heutigen Zustand der Wandgemälde jedoch
nicht mehr erkennbar geblieben oder mißverständlich durch
eine hölzerne Pritsche ersetzt worden ist. Hier im Glasbilde
wird nicht einmal ein Gestell untergeschoben, auf dem die
Strohmatte so weit über dem Boden erhoben stehen hönnte,
wie sie erscheint. Der entseelte Körper liegt in seinem Mönchs-
srewand da. wie er entschlafen war, und nicht einmal die nack-
ten Füße sind zugedeckt, weil auch an ihnen die Wundmale
leuchten. Am Kopfende kniet ganz vorn, aber in ganz kind-
lich kleinem Maßstab, der neugierige Hieronymus, so beschei-
den, wie sonst wohl Stifterbildnisse sich unter ihre Schutz-
patrone schmiegen, und tastet, wie der ungläubige Thoraas
nach der Seitenwuude des Herrn, hier mit den Fingern nach
dem Wahrzeichen der Stigmatisation. Dabei wendet er sich
nicht, wie im Urbild und auch bei Giotto zu Florenz noch, in
der Mitte des Vordergrundes gegen das Antlitz des Toten
hinauf, sondern in Profil nach rechts, als sei er wirklich nur
dazu bestimmt, dem frommen Betrachter unten auch diese
Bestätigung zu vermitteln. Jenseits des Lagers steht, zu Häup-
ten des geliebten Meisters, ein weinender Bruder, aus der
Sterbeszene herübergenommen; dann folgt der Offiziant mit
dem Formelbuch der Kirche und der Stola über dem schlichten
Kleid, auch er noch ergriffen vom Weh, und neben ihm
sein Helfer mit Weihkes.sel und Sprengwedel; alle drei auf-
gereiht neben einander, die weißgekleidete Hauptperson in der
Mitte, und allesamt in jugendlichem Alter und eben damit
in typische Ausdrucksträger verwandelt, bei denen das In-
teresse an dem Individuum noch durchaus fern bleibt. Und
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 2^
selbst die beiden Kerzenträger am Fußende sind nicbt als
teilnahmlose Statisten belassen, sondern können nicht umhin,
ihren kirchlichen Dienst auch mit schmerzvollem Blick, hier
auf den Toten, dort auf die entfliehende Seele droben, zu be-
begleiten. Die durchcrehende Tonart ist eben wieder die wei-
eher Lyrik, die das kindliche Gemüt vor allem bevorzugende
der Deutschen, gleichwie in den Handschriften der Minne-
sänger oder im Balduineum der Luxemburger; — aber die
Formensprache stammt aus der sicheren Schulung nordfrau-
zösischer Glasmalerei, ebenso wie die Regel der Komposition.
In strenger Symmetrie der paarigen Glieder um die dreifi-
gurige Mitte, die sich unter dem Höhepunkt des neuen Sterns
am Himmel zur Gruppe zusammenfaßt, also in wohlabge-
wogener Korresponsion der Flügel des Triptychons, aber noch
in durchgehendem Vollzug der rhythmischen Bewegung von
links nach rechts, — so schließt der aufsteigende Zyklus der
fünf Vierpaßbilder des Franciscusfensters ab.
Angesichts eines solchen Breitbildes in der Höhe gewinnt
der Eindruck wieder die Oberhand, den wir bei der Gesamt-
disposition bereits ausgesprochen: es könnte vom endgültigen
Sieg der Horizontale und damit von einem entscheidenden
Erfolg des italienischen Geschmacks die Rede sein. Indessen^^
das Schlußglied der Erzählung ist ja noch nicht die letzte
Instanz des ganzen Fensters. Der niedrige sogenannte Esels-
rücken in der Mitte bleibt freilich auch an Höhe hinter den
beiden seitlichen zurück; aber er wird überstiegen durch einen
Wimperg, in dessen Spitzbogenfeld eine aufgerichtete Drei-
blattscheibe sitzt, mit weißen fünfblättrigen Zweigen auf gi-ü-
nem Grunde, die so hell durchscheinend weiter nach oben
weist. Gegen die Ränder dieses Mittelgiebels, der das schwere
Maßwerk einschließt, legen sich links und rechts zwei mäch-
tige, wieder durch farbige Scheiben durchbrochene Kreise,
und über ihnen erst erhebt sich, als letzte Füllung des Spitz-
bogenfeldes, ein in Kreuzform aufrechtstehender Vierblatt-
rahmen mit großer blauer Blume in seiner Mitte, so daß
auch hier, mögen die Profile der Steinmetzarbeit auch schon
24 AuouST 8('iiMAKS()V% : [7'i.5
recht weich verlaufon, der letzte Triumph »lern Vcrtikalisiniis
gehört.
Bei der Überschau des Ganzen re^ sich indessen ein
anderes Befremden: auf der letzten Darstellunj^ zu oberst, den
Exequien des lleilif^en, j^reift die st»Miu'rne Umrahmung durch
das Maßwerk des Fensters in die Kigurenkomposition etwas
bedrückend hinein, besonders in der Mitte, wo allerdings der
Stern, mit der Halbtigur als Symbol der Seele, außerordent-
lich geschickt und wie abgepaßt genau in die Bogensj)itze
gebracht ist. Der obere Teil des Vierpaßrahmens ist aber
doch verloren gegangen, — und das war ein Entschluß, der
für den Gotiker, der seine Kompositionen für diese Kahmen-
form zu schaffen pflegte, der sie dem inneren Bildungsgesetz
dieser spezifisch gotischen Erfindung gemäß erdachte, ein
schweres Opfer bedeutet. Genug, es gibt zu denken, daß die
Bilderreihe von fünf solchen Vierpässen, die innerhalb der
gegebenen Fensteröffnung bequem Platz finden konnte und
ihn offenbar ganz ausfüllen sollte, bis ans Bogenfeld, nun so
hoch hinauf geschoben worden ist, daß ein Teil des letzten
Rahmens oben wegfallen mußte. Wir fragen uns: wie mag
das zuffecjangen sein? Und wenn wir beachten, daß auch das
jClarenfenster ähnliches Befremden auslöst, so kommen wir
auf eine gemeinsame Antwort zu, die wohl noch weitergrei-
fen könnte. Unter den großen Rundmedaillons der Legende
für die Ciarissen ist die goldgelbe Fassung der Peripherie
gleichsam wie ein Bandstreifen, der gerade in der Mitte des
untersten Kreises sich ablöst und senkrecht auf den Boden
niederrollt, eine seltsame Zutat. Tektonisch hat dies Motiv
gar keinen Sinn: die aufrechte Leiste kann unmöglich als
Trägerin gedacht sein, noch als aufsteigender Stamm eines
fabelhaften Gewächses, wie etwa bei der Wurzel Jesse, ge-
deutet werden; sie ist nur ein recht äußerliches Auskunfts-
mittel, wenigstens einen Schein von Statik zu erzeugen, und
dies geschieht nicht den beiden musizierenden Engeln zuliebe,
die allzu klein schon, mit ihren Instrumenten zu beiden Seiten
daneben hocken, sondern zugunsten der Stifterbildnisse, die
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 25
von links und rechts her einander zugewendet am Boden knien
und über sich eines beruhigenden Haltes bedurften, damit die
großen Kreise, mit ihren Bildern und Konsoleubänken darin,
nicht allzu bedrückend, wohl gar der eigenen Schwere fol-
gend, zu sinken scheinen, den Betern auf den Kopf. Der ge-
musterte blaue Teppichgrund, der diesen Figuren gegeben ist,
trägt das Seinige dazu bei, solche störenden Gedanken an
die Schwere der Kreismedaillons fernzuhalten; aber das ist
eine nachträgliche Maßregel, gleichwie die Einfügung des ab-
rollenden Bandstreifens selbst, und die Struktur des Bildrau-
mes in den Runden steht mit solcher Besorgnis im Wider-
spruch: sie war ohne Zweifel vorhanden, ehe der Einfall hin-
zutrat, unter ihnen noch Stifterbildnisse anzubringen. Und
sollte das nicht ebenso, wie bei Herzog Leopold, der das
Ciarenfenster darbringt und für den nach seinem Tode 1326
dann seine Gemahlin Katharina von Savoyen eintrat, auch
etwa bei Herzog Otto, dem jüngeren Bruder, der Fall ge-
wesen sein, der mit seiner ersten Gemahlin, der Prinzessin
von Niederbayern, unter dem Franciscusfenster erschien, des-
sen Bildnis uns aber allein, ohne die Verbindung mit der
gegenüber knieenden Gestalt erhalten ist? Auch hier liegt
eine nachträgliche Veränderung vor: der unterste Vierpaß ist
beschnitten und der oberste zu weit hinaufgeschoben, so daß
er durch das Maßwerk den eigenen Abschluß verlor. Geschah
dies, um für die Bildnisse Platz zu schaffen, so wären wir
nicht an die sonst so selbstverständliche Annahme gebunden,
daß der Stifter auch der Besteller der Franzlegende gewesen,
und könnten diesen Auftrag, der mit der Gründung einer
Franziskanerabtei beinahe notwendig schon gefordert war, so-
wie es sich um Glasgemälde zum Schmuck des Kirchenchors
handelte, auch demgemäß zurückdatieren, wie den für das
ebenso von vornherein erforderte Ciarenfenster, die uns beide
schon aus stilistischen Gründen sie voranzustellen veranlaßt
haben. Das heißt: die Entstehungszeit wäre nicht einerseits
an die Eheschließung Ottos 1324 (oder gar ans Todesjahr
seiner ersten Frau 1330) geknüpft, noch andrerseits an das
^6 Au(;usT SniMAKsow: |7'i3
Sterbejahr des Herzogs Leopold I3-f^ der die Verwaltunj^
dieser westlichen Länder des Gesunithaiises Habsbur^ führte,
während Friedrich dem Schtincii als dem damals ältesten Sohne
die der östlichen Hälfte mit dem ller/o}rtum Osterreich selbst
/m'efallcii war. Heide zeugen für den Rund der Habsburger
mit dem Minoritenorden.
Vergleichen wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal
die Figurenkompositiunen des (^larenfensters, so erweist sich
auch in ihnen einiges als zugehörig zu den Bodenplatten mit
den schräff gestellten Konsolenreihen und den perspektivisch
behandelten Kassetteudecken in Untersicht. In dem linken Aus-
schnitt erscheint wiederholt ein würfelförmiger Altartisch, mit
rundbogiger Aedicula dahinter, unter deren flachem Dach wir,
von außen hineinschauend, ebenfalls solche perspektivische
Zeichnung der Kassettenreihen zu sehen bekommen. Auf den
italienischen Ursprung weisen auch andere Einzelheiten zu-
rück; aber, wo es gilt, das auf Claras Fürbitte von einge-
drungenen Sarazenen befreite Assisi zu zeigen, da erscheint
hinter Mauern mit Zinnenkranz und gotischem Torbogen ein
Stadtbild, das aus deutschen Bauwerken der Zeit und Um-
gebung des Glasmalers zusammengeschoben ist, nur wieder
mit dem ausgesprochenen Bestreben, es freilich mehr von
oben gesehen, doch einer perspektivischen Regel zu unter-
werfen. Solche Einzelheiten fortgeschrittener Raumbildung
und südländischer Kirchenaustattung, wie sie auch durch Mi-
niaturmalereien nach Norden gelangten, können uns nicht
darüber täuschen, daß die Gestaltenbildung im wesentlichen
dem gotischen Stil angehört, der von Nordfrankreich nach
dem Elsaß wie nach den mittelrheinischen Gegenden und
nach Köln gelangt war, wenn auch nicht mehr der gleichen
Hand wie das Franciscusfenster beizumessen. So gut wie die
neuesten Architekturmotive beim Neubau von St. Denis nach
Straßburg gebracht waren, oder die Durchbrechung der Fen-
sterregion nach dem Vorbild der Kapellen in der Champagne
weiter vordrang, so geschah es auch mit den schlanken Pro-
portionen und der geschmeidigen Bewegung der Figuren, den
71,3] I)a8 Franciscusfenster in Königsfelden usw. 27
Gewandmotiven oder dem Kleiders chnitt französischer Mode.
Nur gibt es für die Malerei, wie uns Georg Vitztiium an
der Hand der Miniaturen nachgewiesen hat, noch einen an-
deren Weg der Verbreitung, auf dem die nordfranzösisch-bel-
gische Kunst von der Maas her gegen den Rhein und die
Mosel vordrang und neben ihrem eigenen Stil nicht unbe-
trächtliche Elemente der englischen Kunst bis weit rheinauf-
wärts mit sich brachte.^) Die zarten Jungfräulein der Claren-
legende streifen mit manchen ihrer Eigenschaften an die Er-
scheinungen der lothringischen Buchmalerei zwischen den Zen-
tren Metz und Mainz, und das wäre bei den verwandtschaftlichen
Beziehunj?en der Habsburger zum Fürstenhause von Lothrin-
gen gar nicht zu verwundern: eine Tochter Albrechts, Eli-
sabeth, war seit 1304 mit Ferry IV., Herzog von Lothringen,
vermählt, und deren junger Sohn erscheint (nach dem Tode
seines Vaters 1328) auch als Donator eines Glasfensters in
Königsfelden. Die Komposition dieser Clarenlegende beschränkt
sich fast immer auf schlichte Gegeneinanderführung der Reihen
vereinzelter Gestalten, selbst wo zu einer Gruppenbildung An-
laß war, d. h. nicht nur bei der Überreichung des Abzeichens
geheiligter Jungfräulichkeit durch den Bischof an die schon
bräutlich gekrönte Heilige mit ihren Gesinnungsgenossinnen,
sondern auch bei der Ergreifung der eingekleideten Kloster-
frau durch den Vater, an der Schwelle des Altars selber.
Die Abschneidung der prachtvollen blonden Zöpfe durch die
Schere des Franz wird zur feierlichen Zeremonie, ja zur sym-
bolischen Andeutung und bleibt bei dem „So-Tun, Als-Ob",
so lehrhaft auch das Gespräch der beiden Mönche auf der einen
Seite, so geschwätzig das der beiden Gevatterinnen rechts ge-
geben wird. Die Erregung ist zur verhaltenen Gebärdensprache
gemildert, selbst die Inbrunst des Gebetes der kranken Äbtis-
sin mit ihren Begleiterinnen, wo es sich um höchste Not
i) Georg Graf Vitzthcm, Die Pariser Miniaturmalerei von der
Zeit des hl. Ludwig bis zu Philipp von Valois, 4. Kapitel: Die rheini-
sche Malerei zu Anfang des 14. Jahrhunderts ynd ihr Verhältnis zu
Paris und zu England-Belgien. Leipzig 1907.
28 AUÜI'ST ScHMAUSOW: [7',i
lumdolt, um Errottun<^ der Stadt aus der Gewalt schon ein-
«^edrungeuer Harbaren. Und doch tritt üborall die Friiude an
der ausdrucksvollen Be\vt'<;ung noch in lein eniijl'undener
Mäßif^uni^ zutage, das VcrständniB „für ieichtgeneigte Kt'ipfe,
gebeugte Leiber, leise gehobene oder schlaff niederhäugende
Hände, mit gesuchter Ditlerenzierung des Fingerspiele" an den
länglichen, schmalgeschnitteuen Extremitäten. Das ist etwas
gänzlich aiuleres als die drastisclie und pathetisch ausgreifende
Gebärdung des Meisters der Frauziegende von Assisi. Ja, noch
eine Maßregel ist bezeichnend: nicht allein die Halbfigur des
tragenden Engels mit symmetrisch ausgespanntem Flügelpaar,
im abgeschnittenem Kreissegment unten, betont in solcher
Frontalansicht die Mittelachse, deren Aufstieg durch das Ganze
geht, sondern auch im Bilde selbst kommt noch ein Engel
mit großer Krone in beiden Händen herabgeschwebt und legt
so die haltgebieteude Teilungslinie mitten in den Vollzug der
rhythmischen Reihung hinein.
Fragen wir nach dieser Anerkennung der Verschieden-
heiten neben dem gemeinsamen Italienischen in den Fenstern zu
Ehren der beiden Ordensheiligen, die hier zunächst in Betracht
kamen, nun weiter nach dem Verhältnis zu den übrigen Be-
standteilen des Chorschmuckes, so verdient freilich Lehmanns
Hinweis auf die Erkennbarkeit einer vorbestimmten Verteilung
volle Rücksichtnahme, soweit sich seine Gründe mit den
unsrigen irgend vertragen. „Schon äußerlich gibt sie sich in
dem Farbenwechsel von roten und blauen Hintergründen und
der verwandten Komposition von zwei gegenüberliegenden
Fenstern kund, mehr aber noch in der Gruppierung des Li-
halts." Wie weit reichen diese Übereinstimmungen, und wie
weit doch nicht? „Im Mittelfenster des dreiseitigen Chorschlus-
ses tritt uns die Darstellung der Passion entgegen", obgleich
eine Verordnung der Franziskaner vom Jahre 1260 dies nicht
als notwendig aufrechterhielt (vgl. S. 43). „Daran reiht sich
beidseitig je ein Fenster mit den Ereignissen aus dem Leben
Christi", von der Verkündigung bis zur Taufe in dem einen,
von der Auferstehung bis zur Herabsendung des hl. Geistes
71,3] Das Franciscusfenstek in Königsfelden usw. 29
in dem andern. „Dann folgen in dem einen Fenster je zwei
Episoden aus dem Leben der hl. Katharina und des hl. Jo-
hannes d. T. in Verbindung mit dem Bilde der hl. Elisabeth
von Thüringen zwischen einem betenden Fürstenpaare", nämlich
der Johanna von Pfirt, seit 1320 vermählt mit Albrecht von
Habsburg (geb. 1289). Und dieses Stifterpaar erklärt nur die
Wahl des einen Namensheiligen, Johannes des Täufers, aber
nicht die Katharinens von Alexandrien, bei der wir jedoch
an eine Beteiligung der Schwester des Herzogs Albrecht,
Katharina, denken dürfen, die 1297 geboren, seit 13 13 mit
Karl von Kalabrien vermählt, aber seit 1324 verwitwet war.
„Im gegenüberliegenden Fenster sind Ereignisse aus dem
Leben des Apostels Paulus mit solchen aus dem späteren
Leben der Maria ausgewählt worden"; aber es fehlt ebenso
an einer sachlichen Erklärung für so befremdliche Zusammen-
stellung, so daß bei diesem Fensterpaar eben nur die deko-
rative Korresponsion übrig bleibt, die auf gleichzeitige Ent-
stehung zurückzuschließen erlaubt. „Das anschließende Fenster-
paar enthielt je sechs monumentale Apostelgestalten", bei
denen die erhaltenen Reste doch einen ganz andersartigen
Zuschnitt aufweisen als die übrigen Fenster, und zwar durch
ihre Aufreihuug statuarischer Einzelgestalten, die durch Me-
daillons, mit Halbfiguren von Propheten darin, unterbrochen
werden. „Der jugendliche Stifter wird uns auf einem Spruch-
bande als Heinricus Dux Austrie (geb. 1299) bezeichnet, der
seit 13 14 mit Elisabeth von Firneburg vermählt war, doch
schon 1327 starb", — so daß sich die Zeit der Entstehung
auf das Jahrzehnt zwischen diesen Daten beschränken läßt.
„Für die vier noch übrigbleibenden Fenster wählte man
Darstellungen in Medaillons", wie sie auch das Passionsfenster
zeigt. Aber das nächstfolgende Franciscusfenster enthält ja
Vierpaßrahmen, das Clarenfeuster Kreisrunde. Das Gegenstück
des ersteren, fast gänzlich zerstört, gab „vermutlich einst Dar-
stellungen aus dem Leben des hl. Antonius Eremita", mit dem
knabenhaften Stifterbildnis des Rudolf von Lothringen, der
wohl mit seiner 1328 verwitweten Mutter Elisabeth von Habs-
30 Au(JUST ScHMAKMOw: [71,3
bürg nls Douatrix erschien, gleichwie gegenüber unter der
Franzlegende ihr Bruder Otto mit seiner ersten Gemahlin Elisa-
beth, Herzogin von Haj'eru (gest. i.i^o). Das ChinMifenster
führt uns, wie gesagt, den älteren Hruder Leopold (gest. 1326)
mit seiner Gemaliliu Katliarina von Savoyen vor, mit der er
seit 131 5 vermählt war, so daß die Bestellung in die Zeit ihrer
Ehe zurückreichen würde, wäre nicht hier eine nachträgliche
Einfügung der Bildnisse unter den Bilderzyklus el)enso Avahr-
scheinlich, wie es angesichts der Stileigenschaften des Franciscus
fensters behauptet werden darf. Das Gegenstück der Ciaren-
legende mit den Geschichten der heiligen Anna „enthielt in
seiner untersten Partie von jeher an Stelle der Stifter den
Stammvater Jesse zwischen zwei kleinen Darstellungen mit der
Erschafiung der Eva und dem betrunkenen Noah mit seinen
beiden Söhnen". Das aber ist doch ein starker Beleg für die
ursprüngliche Abwesenheit aller Stifterbildnisse, besonders bei
den Fenstern, deren Inhalt schon ursprünglich als DarsteUungs-
stoff für solche Marienkirche eines Franziskaner- und Clarissen-
klosters gegeben war. „Es gehörte demnach entw^eder als Doppel-
stiftung zu dem Clarafenster (schließt Lehmann), oder war
vielleicht von Agnes geschenkt worden als Erinnerung an ihre
1326 verstorbene Schwester Anna". Indessen, es liegt ja gar
kein Grund vor, nicht an eine Stiftung der Anna von Habsburg
selbst zu denken, die seit 13 10 in zweiter Ehe mit Heinrich,
Herzog von Breslau, verheiratet war, also hier von Anfang an
beteiligt sein konnte, nur etwa noch vor der Zeit, wo die welt-
lichere Gesinnung der heranwachsenden Generation dazu über-
ging, das Werk der frommen Sühne des Königsmords in eine
wiUkommeue Gelegenheit zur Verherrlichung ihrer eigenen
Personen zu verwandeln. Die Herzogin Anna, der wir in erster
Linie die Stiftung des Anuenfeusters beimessen dürfen, w^ar die
Erstgeborene der kinderreichen Gründerin des Klosters, kam
also vor allen Söhnen in Betracht, unter denen wir Friedrich,
seit 1 3 1 4 römischer König, ebenfalls nicht im Bildnis vertreten
sehen, während der älteste, Rudolf VI., schon 1307 dem Vater
im Tode vorangegangen war. Erst drei Jahre nach ihrem Hin-
71,3] Das Fr.vnciscusfenster in Königsfeloen usw. 31
scheiden (gest. 28. Okt. 13 13) fand die Witwe Albrechts, dessen
Brustbild droben am Schlußstein über dem Hochaltar angebracht
war, ihre letzte Ruhestätte in der Kirche, eine Tatsache, die
doch wohl für die bis dahin verzögerte Fertigstellung des Chores
selbst in Ansatz gebracht werden muß. „Inzwischen hatte ihre
Tochter Agnes, die (seit 1301) verwitwete Gemahlin des Königs
Andreas III. von Ungarn, das Werk weitergeführt, und der
Taufname des letzteren nach dem eines Apostels, gibt wohl
einen Wink, wem der Gedanke, hier Äpostelfenster anzubringen,
am nächsten lag. Auch das Bildnis ihres Gatten hat sich wie
das ihres Bruders Rudolf, Königs von Böhmen, erhalten. Nun
aber erleidet Lehmanns Annahme einer einheitlichen Voraus-
bestimmtheit der ganzen Fensterreihe für den Chor doch eine
wichtige Einschränkung: sie erstreckt sich außer auf die paarige
Zusammengehörigheit der Grundfarben schon nicht durchgehends
auf die formalen Eigenschaften, weder der Gesamtdisposition
je zweier einander gegenüberstehender Glaswände, noch auf die
Rahmenbildung der Darstellungen. Die beiden Apostelfenster
räumen der Bekrönung mit durchbrochenen Turmhelmen und
Fialenrisen eine ungleiche Höhe ein; sie bezeugen damit die
fortschreitende Steigerung dieser Liebhaberei für gotische
Architekturphantasie, die schon die Einteilung der beiden
Evangelienfenster zu den Seiten der Passion, mehrmals im
Widerspruch mit dem erzählenden Inhalt einschlägt, dessen
geringe Figurenzahl die drei Tabernakel nebeneinander nicht
erfüllen konnte. Sichtlich aber ist das Annenfenster mit der
Wahl großer Rundmedaillons, gleich dem Mittelstück hinter
dem Altar, dem Ciarenfenster angepaßt worden, dem gegenüber
es Platz finden soUte, während es dqch zu unterst noch keine
Stifterbildnisse enthält, wie dieses, mit seinen offenbar älteren
Legendenbilderu. Dem Franciscusfenster, das sachlich mit dem
zu Ehren Claras zusammengehörte, wurde ein Antoniusfenster
als Gegenstück gegeben, und zwar nicht für den Franziskaner-
heiligen von Padua, sondern für den Eremiten Antonius Abbas,
dessen Aufnahme hier wohl mit Rücksichten auf ein vorhan-
denes Heiligtum in der ländlichen Waldumgebung des neuen
Phil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 3. 3
32. AuousT ScHMAKsow: [7 '.3
Klosters zuBiiniiiKMihin«^. Doch ist es zerstört, also kein Urteil,
wie weit die Übereinstimmung ging, mehr möglich, (ienug,
gerade an der Stelle, wo sich die Sockelhihler des Annatensters
mit der ErschiifVung Evas und Noali den Stiftcrbildiiissen des
(Uareufeusters gegenüberstellten, liegt ein Pjinschnitt, der die
nachträgliche Anjiassung zur Korresponsion anheimgibt. Und
diese Stelle ist auch für die Chronologie der Arbeiten von auf-
klärender Bedeutung.
Wenn also Lkhmann auf die systematische Einordnung
des Passionsfensters im Chorhau])t hinter dem Altar die An-
nahme begründet, auch seine Entstehungszeit müsse kurz vor
oder kurz nach dem Tode der ersten Gründerin (131.^) an-
f^esetzt werden, so dürfen wir uns nicht mit der Kombination
historischer Daten und daraus abgeleiteter Vermutungen zu-
frieden geben, es sei denn, daß auch die andre Aussage sich
bewährt: „In diese Zeit paßt auch sein Stil". Und dazu hat
schon Josef Ludwio Fischer mit Recht bemerkt, daß die
Darstellung des Grabes im obersten Rund des Fensters mit
der plastisch perspektivischen Wiedergabe dreidimensionaler
Körper zusammenhängt, die wir in einem Teil dieser Chor-
fenster noch vollständiger vertreten sehen. Auf der andern Seite
zwingt die Einschaltung des Bodenstreifens für die Figuren
in Form eines flächenhaft behandelten Sockels mit gotischen
Vierpässen in kleinen Kreisrunden dazu, das Passionsfenster
mit dem zu Ehren der heiligen Anna zusammenzunehmen.
Meinte Fischer deshalb, von dem historisch sicher da-
tierbaren Fenster mit Leopold und seiner Witwe müßte bei
der stilistischen Zeitbestimmung ausgegangen werden, indem
auch er sich gleich Lehmann noch an das Todesjahr dieses
Stifters 1326 gebunden hielt, so haben wir mit dem Hinweis
auf den Freskenzyklus von Assisi, der zum großen Jubiläums-
jahr 1300, das Bonifaz VIU. in Rom feierte, vollendet gewesen
sein muß^), einen ganz neuen Anhalt für die Chronologie der
I) Die ausführliche Begründung für dies gleiche Datum ist in
der oben angeführten Schrift über die „Kompositionsgesetze der Franz-
legende in der Oberkirche zu Assisi" (Leipzig 191 8) gegeben worden.
71,3] Das Franciscusfenhter in Königspelden uhw. ^^
italienischen Stilbestandteile gewonnen und deshalb das Fran-
ciscusfenster, mit der Clarenlegende daneben, vorangestellt.
Folgen wir diesem Wegweiser unbeirrt weiter, so kommen
wir zunächst zu dem Fenster mit je zwei Bildern aus dem
Leben des Täufers und der Katharina von Alexandrien, dessen
Einstelluner in die kirchlich vorher bestimmte Reihe der
übrigen nur durch die Beziehung zu Johanna von Pfirt als
Stifterin, gegenüber ihrem Gemahl, Albrecht VII. (nach 1320)
erklärt wird. Auch hier treten im Altartabernakel bei der
Verkündigung an Zacharias und bei der Enthauptung des
Johannes als Kerkertür solche Architekturstücke in körper-
licher Rundung und perspektivisch gezeichneter Schrägansicht
auf; aber sie sind bereits augenfällig genug aus dem Cos-
matenstil von Assisi und Rom in die rohere Auffassung
deutschen Steinmetzengeschmacks übertragen, gleich gut, ob
wir es mit Sondergotik im Altargehäuse des Tempels oder
mit italienischem Palastbau, mit luftigem Obergeschoß und
Säulenloggia über dem Tor, mit flachem Dach darüber zu
tun haben. Dort Spitzbogen und Rippengewölbe, hier zu-
gespitzte Fensterhöhlen und ausgetiefte Dachluken oder drei-
eckige Ausschnitte mit zusammenfliehenden Seiten der Lei-
bung, beidemal der Angabe des Materials zuliebe auch plumpe
Schwerfälligkeit des leibhaftigen Bauwerks, statt der Leich-
tigkeit einer Kulisse, die solche Abbreviatur im durchsichtigen
Fenster nur sein kann, während ihr DarsteUungsprinzip von
der monumentalen Wandmalerei auf breiten Kirchenwänden
Italiens entlehnt war. So auffallend und unverkennbar die
Mache solcher auf die Bühne gestellten Versatzstücke noch
mit den Architekturen der Franzlegende von Assisi über-
einstimmt, so braucht hier doch keine ebenso unmittelbare
Herübernahme gerade von dorther vorzuliegen, wie auf dem
Franciscusfenster hier in Königsfelden. Italienische Miniatur-
maler oder norditalienische bzw. südtirolische Dekorations-
maler könnten die Vermittler gewesen sein, je nachdem man
den Grad der Derbheit beim Empfänger auf deutschem Boden
bemessen mag. Dahin gehört auch das Rad der Katharina
3*
34 AiuiusT ScuMAusow: [7ii3
und die lliindhabung des Seh wertes bei den Hcnkeru in bei-
den Eutliuuj)tuiigen. Dahin gehört ebenso die Abwundlung
der Fußleiste mit perspektivischen Vorsprüngen und einge-
tieften Kassetten in Weiß, Gelb und Grün, nach den Ab-
stufungen der Helligkeit. Sie unterscheidet sich hier j)rinzipiell
von der KonsoUnireihe des Frauzfonsters wie der Claren-
legende dadurch, daß sie frontal, nicht mehr seitwärts von
rechts gesehen wird, und statt von unten hinauf vielinelir von
oben nach abwärts gerichtet, d. b. zum sicheren Kennzeichen
der unverstandenen Perspektive, ja des optischen Maßstabes
für Glasgemälde in der Höhe gotischer Fenster. Die Rahmen-
forni, die für die beiden Paare von Darstellungen gewählt
ward, bezeugt dagegen einen zeitlichen Fortschritt; es ist
nicht mehr das zum Vierpaß erweiterte Quadrat des Franz-
fensters, sondern die stehende Raute, in deren Achsensystem
die eingelegte Horizontale des Fußbodens einen viel stär-
keren Gegensatz gegen das innere Bildungsgesetz bedeutet.
Dies Verfahren finden wir jedoch ebenso in Verbindung mit
der Frontalansicht, wie es der Höhepunkt in der Mitte oben
und die Spitze unter dem Querstrich anheimgeben, sowohl in
Frankreich, z. B. an den Chorfenstern von Saint- Urbain de
Trojes, die wohl nicht schon i 295 (mit Viollet-le-Duc, IX, 430),
sondern erst in dem ersten Jahrzehnt des XIV. Jahrhunderts
entstanden sind, als auch in Italien, an den Bronzereliefs des
Andrea Pisano, für die Tür des Baptisteriums zu Florenz, die
mit 1330 bezeichnet sind.
Mit diesem Stadium der Verarbeitung italienischer Vor-
bilder stimmt aber auch das Annenfenster noch so weit überein,
daß wir ihm etwa den Einblick in den nächsten Schritt abge-
winnen können. Darin kommen noch italienische Bauwerke,
sogar mit Untersicht der quadrierten Decken vor, als Haus des
Joachim in der Verkündigung, als Treppenaufgang zum Tempel
für die kleine Maria, hier schon mit gotischen Bogen- und Paß-
formen untermischt, — während die goldene Pforte, unter der
sich Joachim und Anna wiederfinden, — mit Antonius von
Padua und Ludwig von Toulouse als Zeugen, — ebenso der
71, 3j Das Fhanciscusfenster in Königsfelden usw. 35
Baldachin über dem Bett der Wöchnerin, zu der die hl. Verena
mit Kamm und Kessel zu Besuch kommt, und endlieh der
Thronaufbau, unter dem S. Anna selbdritt verherrlicht wird, —
zwischen Laurentius und Christophorus zu den Seiten, — durch-
aus in nordische Gotik übersetzt sind, auch wenn sie allesamt
das flache Dach und die perspektivische Wiedergabe ihrer
Polygouseiten mit der Plattengliederung an der Decke drinnen
bewahren. Schon die Wahl der großen Kreisrunde haben diese
Bilder mit dem Ciarenfenster, die schwarzgelbe Kante aus ab-
getreppten Würfelstufen oder gegeneinander gestellten Karten-
blättern andererseits mit dem Pranciscusfenster gemein, wie
die Halbfiguren der Engel unterhalb und droben in der Höhe
sie wieder mit dem ersteren verbinden, dessen begleitenden
Engeln in den Zwickeln auch die Einzelfiguren von weiblichen
Heiligen verwandt bleiben, die hier auf Konsolen, wie Statuetten
am Pfeiler, aufgestellt sind. Den Friesstreifen aus neun kleinen
aneinandergereihten Kreisöffinungen, die mit Vierpaßnasen aus-
gelegt sind, teilt das Fenster zu Ehren der hl, Anna, wie ge-
sagt, mit dem Passionsfenster im Chorhaupt.
In diesem vorwiegend für die franziskanischen Andachts-
übungen geschaffenen Hauptstück kehrt nicht allein am Fuß
der Martersäule bei der Geißelung die perspektivische Zeich-
nung der vertieften Ausschnitte oder Offnungen des polygonen
Sockels wieder, wie in jenen gröberen Arbeiten aus der Jugend-
geschichte Christi (Krippe, Thronsitz bei der Anbetung, Stuhl
Josephs) oder der Enthauptung des Täufers, sondern es kommt
hoch oben in der Grablegung noch einmal ein auffallendes Be-
legstück für die Fortwirkung der italienischen Beispiele vor:
statt des Sarkophags wird ein Altaruntersatz oder ein hohler
Sockel, wie für ein freistehendes Stiftermonument in Kirchen-
chören, aufgebaut, dessen Vorderseite sich in drei tiefen Rund-
bogennischen öffnet, und ebenso ist wohl die Schrägansicht der
Schmalseite zu Häupten gemeint, die alle die gleiche perspek-
tivische Wiedergabe von links nach rechts anstreben. Über
diese Tumba nach Art des romanischen Stils, in Oberitalien
etwa, sind sechs ebenso schrägverlaufende Holzbalken gelegt,
36 August ScHMAKSOw: [7'.3
iils sollton sie einen Holilranni iil)erbii"u'ken, und darauf erst
ruht die gemeißelte Steinplatte, die wir als Mensa ansj)rechen
dürften, auf die der starre lieichnam soeben hingestreckt wurde,
um ihn nun als „Corpus Domini'* der letzten Liebkosung der
Mutter und der schnier/.vollon Klage des Liel)lingsjüngers und
der liebenden Magdalena zu überantworten. Als Sinnbild solcher
Andacht schwebt auch ein Engel im Bogenfeld daher; die sym-
bolische Bedeutung der Zeremonie hat also auch liier noch die
Vorherrschaft über das realistische Geschehnis behauptet, zu
dem mit den schräggestellten Leitern für die Kreuzabnahme
bereits ein Anlauf genommen war, während der gewählte Augen-
blick am Fuß des Stammes doch bei der Klage, um die Mater
dolorosa mit dem Leichnam des Sohnes auf ihren Knien, be-
harrt. Diese Schrägansicht des heiligen Grabes, an dem noch
einmal die vorspringenden Balkenköpfe wiederkehren, wie an
der Fußbodenplatte des Ciarenfensters und der sicher vorange-
gangenen Konsolenreihe der Franzlegende, die beide den unab-
weislichen Zusammenhang mit dem Freskenzyklus in Assisi
bezeugen, kann nicht wohl ein früheres, sondern nur ein spä-
teres Beispiel des hier eingedrungenen italienischen Geschmacks,
auf grund antiker Kuustüberlieferung sein; denn es ist plumper
und schw^erfälliger, gleichwie die gotischen Nachbildungen der
Architektur auf dem Annenfeuster, oder in den Kautenvier-
pässen mit Geschichten des Täufers, es beruht nicht mehr auf
wohlverstandener Autopsie der authentischen Vorbilder, es ent-
spricht nicht dem Urbild, das wir in solchem Fall erwarten
müßten, einem Cosmatengrabmal, wie es in S. Francesco zu
Assisi, in der Fronleichnamskapelle etwa zu sehen gewesen.
Es ist bereits eingedeutschte Arbeit, deren nord italienische Be-
standteile durch Miniaturen vermittelt sein könnten, bis auf das
eine Motiv, der schrägverlaufeuden Balkenreihe, das auf die be-
sonderen Gegebenheiten des rhythmischen Verlaufs im Fresken-
zyklus der Oberkirche zu Assisi selbst zurückweisen würde,
wäre es hier in Königsfelden eben nicht schon durch die Glas-
gemälde des Franciscus- und des Ciarenfensters vorbereitet ge-
wesen, die es durch verständnisvollere Sicherheit übertreffen
71,3] Das Franciscusfenster in Königsfelden usw. 37
Wer mit Hans Lehmann, unter Berufung auf verwandte
Leistungen in der Schweiz, das Passionsfenster von Königsfelden
um 1315 entstanden glaubt, der müßte nun einen zweiten An-
fang von der anderen Seite des Chores her zugeben, wo unter
direktem Einfluß italienischer Wandgemälde im Hauptheilig-
tum der Franziskaner das Ciaren- und das Franciseusfenster
entstanden, und müßte den Auftrag für die Verherrlichung der
beiden Ordensheiligen der hier angesiedelten Minoriten bis auf
das Gründungsjahr der Abtei oder bis zum Eintreffen der ersten
Insassen des Klosters, um 1 3 1 2 zurückdatieren. Da die Neigung
des XIV. Jahrhunderts zu systematischer Gleichstellung korre-
spondierender Teile während der ersten Jahrzehnte noch nicht
so stark war, könnten die Fenster für Franciscus und Clara ur-
sprünglich als Gegenstücke bestimmt gewesen sein — am Ein-
gang des Chores zu stehen. Und dennoch würde die Durch-
dringung beider Richtungen, die sich in der Grablegung des
Altarfensters offenbart, noch allzufrüh erreicht scheinen, und
im Widerspruch zu der Vermittlung stehen bleiben, von der
uns doch die Annenlegende, die Verkündigung au Zacharias
und die Enthauptung des Johannes so bestimmtes Zeugnis
geben, ja selbst die Geburt Christi, die Anbetung der Könige
und die Darbringung im Tempel auf der einen Seite, die Auf-
erstehung aus dem Grabe mit schräggesehenen Konsolen und
perspektivisch gezeichneter Steinplatte, über die der Besieger
des Todes hinwegsteigt, auf der anderen Seite des zugehörigen
Mittelstücks. Kann die Stiftung des Herzogs Albrecht und sei-
ner Gemahlin Johanna von Pfirt, wie wir nach den entwickel-
ten Vierpaßrahmen schon sicher annehmen müssen, nur nach
1320 entstanden sein, und die Stiftung Heinrichs nur zwischen
dem Jahr seiner Verheiratung 13 14 und seinem Tode 1327, so
haben wir bestimmte Fingerzeige genug über den Zeitraum, in
dem sich die Annäherung und Verquickung beider Schulen oder
beider Meisterateliers auf deutschem Boden vollzogen haben muß.
Den Meister des Franciscusfensters können wir bestimmter
charakterisieren; denn die persönlich aus Assisi mitgebrachten
Kunsteindrücke und perspektivischen Kenntnisse, die man da-
38 A. ScHMARSow: Das FitANriscrsK. in Konkjskki.dkn ikw. [71,3
miils in solcher Verbiiulunjr nur an Ort und Stelle cmpfangtMi
konnte, gesellt er dem besten Erbteil der nordfrauzösischen
Ghismalerei, deren Gestaltonbildun^ und Fi^j^urenkomposition
er mit voller Sicherheit handhabt, als wäre er aus der Schule
der Kathedrale von Chartres oder einer ihrer glücklichsten
l^flanzstätten hervorgegangen. Überlegen wir uns noch einmal,
wie er die Errungenschaften aus S. Francesco zu Assisi sich an
geeignet, wie er sie im Zusaninienliang mit der Rhythmik der
dorticreu Oberkirche verstanden und als fruchtbare Motive doch
in freiem Schaffen nach seiner Art unter ganz anderen Erfor-
dernissen verwertet, so bleibt kaum eine andere Annahme übrig,
als daß er selbst, eben als Glasmaler, in der Basilica tätig ge-
wesen, oder daß er zu den kunstgeübten Franziskanern gehörte,
der im Mutterkloster am Monte Subasio einen Teil seiner Aus-
bildung empfangen hatte, und dann etwa mit den ersten Send-
lingen von dort nach Königsfelden gelangt sei. Das ist für die
Geschichte der Beziehungen der deutschen Kunst zu dem ita-
lienischen Trecento jedenfalls ein beachtenswerter Beitrag, der
deshalb so entscheidend auf die Forschung wirken muß, weil
er sich so exakt beweisen läßt, und weil er so vorurteilsfrei,
über alle Anwandlungen nationaler Eifersucht hinweg, dargetan,
sich auch unabweisbar behaupten wird.
Leipzig, 29. April 1919. Schmaksow.
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Assisi
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Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissensctiaften
zu Leipzig
Philologiscli-liistorisclie Klasse
71. Band. 1919. 4. Heft
Max Förster
Die Beowulf- Handschrift
Mit 2 Tafeln
Leipzig
Bei B. ö. Teubner
1919
Vorgetragen für die Berichte am 3. Mai 1919.
Das Manuskript eingeliefert am 8. Juli 19 19.
Druckfertig erklärt am 19. September 1919-
-v^.
Meinem lieben Freunde
Joseph Schick
zum
seclizigsten Geburtstage
§ I. Foliierung. — § 2. Bogensignaturen und Lagenverteilung. —
§ 3. Die Schreiberhände. — § 4. Das Alter der Schreiberhände. —
§ 5. Die Herkunft der Handschriftenteile. — § 6. Die Geschichte des
Kodex. — § 7. Der Inhalt des Kodex.
Die Handschrift, welche uns in dem Beowulf-Epos den
kostbarsten Schatz altenglischer und altgermanischer Poesie
erhalten hat, befindet sich heutzutage im Besitz des Britischen
Museums zu London unter der Signatur Cotton Vitellius
A. XV. So oft diese Handschrift verwertet worden ist und
so zahlreich Inhaltsangaben') derselben vorliegen, so fehlt es
doch immer noch an einer irgendwie eingehenderen Be-
schreibung und paläographischen Untersuchung^) dieses Kodex,
so daß die folgenden Angaben, die einen Anfang damit machen
wollen, manchem nicht unwillkommen sein dürften.^) Wenn
i) Siehe weiter unten § 7.
2) E. KöLBiNG, Zur Beovulf-Handschrift (Archiv für neuere Spra-
chen 56 l'^7^] S. 91 — 118) bietet nur eine Kollation des Beowulf-
Textes.
3) Auch sonst haben altenglische Handschriften meines Wissens
keine ausführlicheren Untersuchungen erfahren, mit Ausnahme des 'Tex-
tus RofFensis' in der Kathedralbibliothek; zu Rochester, den F. Lieber-
mann in der Archaeologia Cantiana 1898 behandelt hat, und des Ver-
celli- Kodex CXVII, den ich selbst beschrieben habe ('Der Vercelli-Codex
CXVII nebst Abdruck einiger altenglischer Homilien der Handschrift',
Halle 1913, sowie '11 Codice Vercellese con omelie e poesie in lingua
Anglosassone la prima volta interamente riprodotto in fototipia a cura
della Biblioteca Vaticana con introduzione del prof. dott. M. Foerstee'^
Roma 191 3). Eine ausführliche Inhaltsangabe von Cotton Tiberius
A. III. bot ich im 'Archiv für das Studium der neueren Sprachen' 121
PMl.-hist. Klasse 1919 Bd. LXXI. 4. I
2 Max Förster: [7«, 4
es Befreuuleii erregen sollte, daß diose Aufgabe nicht dem
Palliograplien überlasseu bleibt, dem sie von Rechts wegen zu-
(190S), 30 — 46; dazu Fkiik-i Ergilnzmig cboiida 129, 2igt'. Das Cotton
MS. Vespasiauus D. XIV werde ich geuauer beöchreiben in meiner Aub-
gabe der 'jElfric sehen Homilien aus Vespasianus D. XIV. — Für die
s. g. Cajdmon-Hs., Junius IX, hat einige der her<^eiiörigeu Fragen (FAn-
band, LagonverU-ilung, FittrutMnteilung) behandelt F. H. Stoddarh, The
Ctedmou Poems in MS. Junius XI (Anglia 10, 157 — 167). Doch be-
dürfen seine Ausführungen stark der Nachprüfung (Einiges schon bei
Lawrence, On Codex Junius XI in 'Anglia' 12, 598 — 600). Vor allem
leiden sie unter der irrigen Voraussetzung, daß überall, wo sich ein
Falz zeigt, ein Blatt herausgeschnitten sein müsse, so daß ganz falsche
Angaben über die Lücken in der Handschrift herauskommen, die leider
auch von Wülkek übernommen sind. Bei dem sehr großen Format der
Handschrift war der Schreiber offenbar häufig genötigt, sich mit einem
kleineren Pergamentblatte zu begnügen und dieses mittels eines Falzes
der Lage einzufügen. Daher liegt ein zwingender Grund zur Annahme
eines Blattverlustes nur da vor, wo sich eine Lücke im Texte am Blatt-
schlusse zeigt. Von diesem Gesichtspunkte aus würden 9 von den 17
Lagen der Caedmon-Handschrift ohne nachweisbaren Blätterverlust uns
erhalten sein: nämlich die aus je 4 Bogen bestehenden Lagen IV (= fol.
14 -21), V (=fol. 22—29), VI (=fol. 30-37) und XVI (= fol. 99 — 106),
die aus 4 Bogen und 2 Falzblättern (fol. iio. 113) bestehende Lage
XVII (= fol. 107 — 116), die aus 4 Bogen und einem Falzblatt (fol. 45)
bestehende Lage VII (= fol. 38 — 46), die aus je 3 Bogen und je einem
Falzblatt (fol. 51. 93) bestehenden Lagen VIII (= fol. 47—53) und XV
(= fol. 92 — 98) sowie die aus einem Bogen und 3 Falzblättern (fol. 3.
4. 5) bestehende Lage I (= fol. i — 5); — die für paläographische Zwecke
unbrauchbare, erst mit fol. 2a einsetzende Seiteuzählung der Hand-
schrift ist bei diesen Angaben durch eine Zählung aller vorhan-
denen Blätter ersetzt. Dagegen werden wir doch wohl den Verlust
eines Blattes annehmen müssen, wo das Auftreten eines Falzes mit
einer Textlücke zusammenfällt. Aber auch hier wird nicht immer sicher
zu entscheiden sein, ob das fehlende Blatt von dem sichtbaren Falze
abgeschnitten worden ist, oder ob ein ursprünglich für sich eingefalzter
besonderer Halbbogen verloren gegangen ist. Ein einziges Blatt fehlt
in der Lage XI (eventuell zum Falz von fol. 69 gehörend), in der
Lage XIV (zu fol. 87?) und, wenn wirklich nach Exodus 445 eine Text-
lücke vorliegt, was keineswegs ganz sicher ist, in der Lage XIII (zu fol.
81'?). Zwei Einzelblätter fehlen in Lage IX (eventuell zu fol. 56 und
57 gehörend) und in Lage X (zu fol. 62 und 65 '?). In Lage III treffen
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 3
falle, so sei darauf verwiesen, daß Paläographen nur in den
seltensten Fällen die hiezu nötige Kenntnis des Altenglischen
besitzen und daß für die Beurteilung volkssprachlicher Hand-
schriften auch spezifisch philologisches, nämlich lautgeschicht-
liches Wissen erforderlich ist. Und zudem sind es gerade die
Philologen, die die Lösung der hier aufgeworfenen Fragen
für ihre sprachlichen und literarhistorischen Zwecke inter-
essiert.
Leider ist die Beschäftigung mit den Handschriften unter
der jüngeren Generation der deutschen Anglisten eine Selten-
heit geworden und wird es bei der traurigen internationalen
an der Textlücke nach fol. 12 zwei Falze (von fol. 9 und 10) zusammen,
aber es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob hier ein oder
zwei Einzelblätter fortgefallen sind. Ein ganzer Bogen, und zwar der
mittelste der Lage, fehlt in Lage XII (= fol. 73 — 78); die zwei (oder
drei) äußersten Bogen fehlen in Lage II, dessen beide einzig erhaltenen
Blätter zwei Einfalzblätter (fol. 6 und 7) sind. Im ganzen dürften also
nur 13 — 15 Blätter verloren gegangen sein, nicht, wie Stoddard meint,
27. — Auch was Stoddard über die Bedeutung des mehrfach vor-
kommenden X oder xh vermutet, ist unhaltbar. Jenes "«&" findet sich
z. B. auch im Vercelli- Kodex (fol. 119% 121% 123», 126*), sowie im
Barlow MS., in Digby 63 und Caius Coli. Cambr. 144 (nach Napieb,
Academy 23. März 1889, I 205). Es bedeutet offenbar so etwas wie
Christe, benedie (Lindsay) oder Christus benedictus (Neubauer, Academy
16. März 1889, I 186). Es entspricht der von den frommen irischen
Mönchen übernommenen Sitte, die Tagesarbeit des Schreibens mit
einer kurzen Gebetsformel am oberen Seitenrande zu beginnen. Als
solche Gebetsformeln finden wir z. B. auch Xgri ßwrj&riaov, adiuva nos,
Christe (Reichenauer Hs. 25. D 86; Ztschr. f. celt. Phil. 6, 546), Christe,
fave votis (Paris, B.N. io837fol. 21); oder die höchst interessanten Schrei-
berbemerkungen im Sangallensis 904 (Thesaurus Palaeohibernicus II
S. XX ff.), wie z. B. faue, Brigita; sancta Brigita intercedat pro nie;
Christe, faue; Patricie, adiuua; Pätricie, öenedic; faue, Patricie; sancta
Brigita oret pro nobis; sanct« Brigita, adiuua scriptoreni istius artis;
faue, Jesu; in nomine almi Patricia; sanctus Diormitius oret pro nobis;
faue, Christe; adiuua, Christe und die irische Notiz (nach Stokes
Übersetzung)" •.::. of Patricie and Brigit on Mael Brigte, that he may
not be angry ivith nie for the writing that has been toritten this time".
S. W. M. Lindsay, Early Irish Minuscule Script (Oxford 1910) S. 47.
4 Max Föustku: [71,4
Lafre und <lem durch wahnsinnijjjcn Sicgcrübernnit verewigten
Völkerliiiß in Zukunft noch mehr werden. Aber wozu die
Nichtbeachtung einer so elementaren Sache, wie die Fest-
legung der oberen Zeitgrenze für die Al)fassung eines Lite-
raturdenkmales durch das Datum seiner handschrii'tlichen
Aufzeichnung führt, lehrt der kürzlich gemachte Versuch,
die gut als „Klage eines Vertriebenen" zu bezeichnende Elegie
des Exeterbuches „ins S})ätere 10. Jahrhundert", d. h. doch
wohl das Ende oder die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts,
zu versetzen*), während doch die Niederschrift des uns vor-
liegenden Textes, der bei seiner starken Verderbtheit schon
durch mehrere Hände gegangen sein muß, von einer Autori-
tät wie E. M. Thompson^) „um 950" angesetzt ist und sicher-
lich nicht später als das dritte Viertel des 10. Jahrhunderts
entstanden ist. Ein anderes Beispiel dafür, wie stark die
literarhistorische Einreihung eines Werkes von der Datie-
rung seiner handschriftlichen Überlieferung abhängt, werde
ich im folgenden (§ 4) in Bezug auf die altenglischen Ver-
sionen des Alexanderbriefes an Aristoteles und der s. g.
Wunder des Ostens erbringen.
§ I. Foliiernng.
Der umfangreiche Sammelband Vitellius A. XV der
Cottonischen Sammlung des Britischen Museums, welcher
gegenwärtig aus 2 1 1 Blättern (ca. igx 12 cm) — darunter 209
alten Pergamentblättern — besteht, weist heutzutage drei ver-
schiedene Foliierungssysteme auf: eine alte Blätterzählung,
weiche wohl aus dem Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahr-
hunderts stammt, und zwei moderne, welche erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts eingetragen sind.
i) L. L. ScHccKiNo, Kleines angelsächaisches Dichterbuch (Cöthen
1919) S. 22.
2) Thompson, An Introduction to Greek and Latin Palaeography
(Oxford 19 12) S. 394 f. Vgl. auch W. Keller, Angelsächsische Palaeo-
graphie (^BerUn 1906) S. 3 3 f. und 40 f.
71,4] DiK Bkowulf-Handschru't. 5
(a) Die alte Paginierung erscheint in dreifacher Weise
anffeo"eben. Die ältesten Blattzahlen, welche eine verhältnis-
jiiäßicr altertümliche Hand aufweisen und noch aus dem Ende
des i6. oder Anfang des 17. Jahrhunderts herrühren werden,
sind nur noch auf wenigen Blättern in der oberen rechten
Ecke erlialten, da die Handschrift bekanntlich durch den
Brand der Cottonianischen Bibliothek am 2^. Oktober des
Jahres 1731 stark gelitten hat, so daß schließlich im 19. Jahr-
hundert die einzelnen Blätter in einen modernen Papierrahmen
mittels durchsichtigen Glaspapieres eingesetzt werden mußten.
Erhalten sind diese ältesten Zahlen nur noch in folgenden
Fällen: eine 3 auf der heutigen fol. 6, ebenso eine 6 (auf 9),
7 (10), 8 (11), 12 (15), 13 (16), 14 (17), 15 (18), 23 (26),
24 (27), 26 (29), 27 (30), 28 {si\ 29 (32), 31 (34), 32 (35),
33 (36), 37 (40)» 38 (41), 39 (42), 40 (43), 41 (44), 47 (50),
50 (53). 5[2] (55), 54 (57), 56 (59), 67 (71), 73 (76) und
77 (81). Nach fol. 81 scheint^) kein Rest der ältesten Zah-
len mehr erhalten zu sein. Wenn man in Betracht zieht,
daß, wie wir später sehen werden, mit fol. 96 ein ursprüng-
lich selbständiger Kodex beginnt, so könnte man die Ver-
mutung hegen, daß diese zweite Handschrift überhaupt keine
alte Blattzählung gehabt habe. Indes zeigt sich, daß auch
die letzten 15 Blätter der ersten Handschrift keine Spur
der alten Zahlen bewahrt haben. Und so mag sich das
Fehlen von alten Zahlen in der zweiten Hälfte des Kodex
daraus erklären, daß die Blätter von fol. 82 ab stärker
beschädigt und in Sonderheit die Blattecken sämtlich ab-
gebröckelt sind.
Man könnte die Vermutung aufstellen, daß diese Foli-
ierung von Richard James ^) (1592 — 1638) herrührte, der
i) Allerdings scheint aut fol. 100' noch so etwas wie eine 9 sicht-
bar zu sein, so daß also 9[6] die alte Blattzahl gewesen sein könnte.
Indessen ist diese Spur doch höchst zweifelhaft.
2) Näheres über diesen gelehrten Bibliothekar, der auch wegen
seines handschriftlichen Dictionarius Anglo-Saxonicus (Bodl. MS. James
41) und Dictionarius Saxonico-Latinus (Bodl. MS. James 42) einen Platz
6 Max Förster: [71.4
seit etwa 1625 als Bibliothekar Sir Roukkt Cottons (1571
bis 1Ö31) fungierte und dessen Hand uns aus den 43 Hand-
schriften seines dichterischen und wissenschaftlichen Nach-
lasses auf der Bodleiana und mehreren Inhaltsangaben zu den
Cottonischen Manuskripten gut bekannt ist. Indessen stim-
men die Formen der ZifiFern kaum zu den sicher von Jamks
geschriebenen Zahlen auf fol. 2 a (vgl. darüber weiter unten
§ 7). Und überdies muß James jene alte Foliierung schon
vorgefunden haben, da er sich in seiner Inhaltsangabe, die
er dem Gesamtkodex voraufgeschickt hat (jetzt fol. 2), mit
„pag. 56" nachweislich auf jene älteste Blätterzählung bezieht.
Überall da, wo diese Zahlen mit dem Blattrande infolge
des Brandschadens abgebröckelt sind, ist diese selbe Zählung
noch im 18. Jahrhundert, wohl bald nach dem Brande von
1731, dadurch erneuert worden, daß die zerstörten Zahlen
auf dem stehengebliebenen Teile der Blattecke mit Tinte
wiederholt sind. Oft konnte das nur in der Weise geschehen,
daß die Zahlen in den altenglischen Text, und zwar zwischen
die I. und 2. oder auch 2. und 3. Zeile, hineingeschrieben
wurden. Auch diese Zahlen sind infolge der fortschreitenden
Zerstörung der Blattecken heutzutage nicht mehr alle vor-
handen.
Wichtig ist, daß diese Zählung des 18. Jahrhunderts den
ganzen Sammelband, einschließlich der Epen von Beowulf und
Judith, umfaßt und uns also angibt, in welchem Zustande, was
Lücken und Reihenfolge der Blätter angeht, sich der Kodex
seit seinem Zusammenbinden zu Beginn des 17. Jahrhunderts
bis zu seinem Neubinden um die Mitte des 19. Jahrhunderts
befand.
Endlich ist diese alte Zählung noch ein drittes Mal mit
Bleistift in die äußersten rechten Ecken des modernen Papier-
rahmens, in den alle Blätter nach dem Brande eingesetzt
sind, wiederholt worden. Diese Bleistiftfoliierung wird wohl
in der Geschichte der englischen Philologie verdient, bietet C. L. Kinos-
FORD im /Dictionary of National Biography' *X, 655—657.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 7
gleichzeitig mit dem Einsetzen in den Papierrahmen gemacht
sein, was erst im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts —
zwischen 1861 und 1871 (siehe § 2) — erfolgt ist.
Nach dieser ältesten Blätterzählung werden bisher in
den Ausgaben zumeist die Zitate geboten. Auch das Zupitza-
sche Faksimile des Beowulf (1882) sowie die Beowulf- Aus-
gabe HoLTHAUSENs (4.A. 1914) und die der Judith von Cook
(2. A. 1904) u. a. m. kennen nur diese älteste Zählung-
Diese Paginierung zählt im ganzen 206 Blätter.
Was lehrt uns nun diese älteste Blätterzählung über den
Zustand des Kodex zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als er
in die Bibliothek Sir Robeet Cottons gelangte und dort —
wohl unter James' Leitung^), also zwischen 1625 — 1638 —
die heutige Zusammenstellung erhielt? Zimächst zeigt uns
die alte Paginierung, daß all die Blätter, welche heutzutage
fehlen, bereits um 1625 nicht mehr vorhanden waren. Dies
gilt sowohl von dem Blatt, welches zu Anfang des Nicodemus
nach fol. 56^ (ältester Zählung) vermißt wird, wie von der
fehlenden Lage der Quintinus-Legende nach fol. 90^ und den
drei Lagen zu Beginn der Judith vor fol. 199*.
Weiter lehrt uns die alte Foliierung, daß an vier Orten
des Manuskriptes ein oder mehrere Blätter sich an falscher
Stelle befanden, die erst bei dem Neueinbinden im 19. Jahr-
hundert in die richtige Reihenfolge gebracht sind. Es handelt
sich zunächst um die Blätter 96—105 (=fol. 91 — 100 der
ältesten Zählung), die ursprünglich so angeordnet waren, daß
fol. 98 — 99 (=fol. 91 — 92 ältester Zählung) sich vor fol.
g6 — 97 (= 93 — 94) befanden und ebenso fol. 104—105
(== g5 — g6) vor fol. 100 — 103 (= 97 — 100). So kommt es,
daß die alte Foliierung heutzutage nach der Richtigstellung
der Anordnung in folgender Reihenfolge erscheint: 93. 94 |
91. 92 j 97. 98. 99. 100 I 95. 96. Diese falsche Blätterzählung
1) Weil Richard James dem Bande ein Inhaltsverzeichnis (fol. 2»)
vorsetzte, welches den ganzen Kodex in seiner heutigen Gestalt um-
faßt (vgl. § 7).
8 Max Fökstkk: [?». 4
orklürt sich am eintaclistoii so, wenn wir annehmen, daß die
ebengenannten lo Bliitter (=£01.96—105 neuester Zählung)
eine Lage zu 5 Bogen l)ildeten, deren 4 erste Bogen zur Zeit
der Renaissance- Paginierung in falscher Ucihenfolgo lagen,
nämlich als c. d. a. h., und deren ,S- Bogen e, statt in der
Mitte, zwischen die b.'iden letzten Blätter der Lage geraten
war. M
Ferner standen nach Ausweis der alten Koliierung die
Blätter 112 — i u) {= 115 122 ältester Zählung) hinter
(statt vor) den Blättern 120—127 (=107—114 ältester Zäh-
lung); und diese Anordnung fand noch 1861 T. 0. (_ ockaynk-)
bei der Herstellung seiner Ausgabe des altenglischcn Alexander-
briefes so vor, während A. Holder im September 1876, als
er CocKAYNEs Text mit der Handsclirift kollationierte^), die
heuticre richtitje Anordnung vor sich hatte. Da sowohl die
Blätter 112— 119 wie 120—127 genau 8 Blätter, also je eine
Latye zu 4 Bogen, ausmachen, erklärt sich die alte, falsche
Foliierung ganz einfach daraus, daß der Renaissance- Buch-
binder die beiden Lagen miteinander vertauscht hat oder ver-
tauscht vorfand.
Endlich standen noch zwei Blätter des Beowulf an
falscher Stelle: fol. 194 (= 197 ältester Zählung) befand sich
i) Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre, zu vermuten, daß
nur die 8 Blätter fül. 98—105 (neuester Zählung) eine Lage bildeten
und die Blätter 96—97 einen davorstehenden selbständigen Bogen aus-
machten. Dann wäre aber zur Erklärung der falschen Renaiasance-
Zählung ein noch stärkeres Durcheinanderwerfen der Bogen anzu-
nehmen: die Bogen c und d (= fol. 100 — 103) müßten aus ihrer Lage
herausgenommen und als besondere Lage für sich dahinter gestellt
sein, und an ihrer Stelle müßte der davorstehende Sonderbogen fol.
96 97 in die Mitte der Lage hineingelegt sein. Und zudem müßte der
Schreiber der Handschrift einen einzelnen Bogen als besondere Lage
verwendet haben, was meines Wissens, außer am Ende einer Hand-
schrift, nicht vorkommt. Also werden wir an der oben im Text ge-
äußerten Vermutung festhalten dürfen.
2) Narratiunculsü Anglice conscriptae, ed. Cockayne (London 1861)
s. sff.
3) Anglia I (1877), 507—512
71,4] Die Beowulf-Handschkift 9
hinter fol. 202 (== ig6 ältester Zählung); und fol. 151 (= 131
ältester Zählung) war schon vor fol. 136 (= 132 ältester
Zählung) gesetzt.^) Ich vermag mir dies, wie in § 2 ausgeführt
werden wird, nicht anders zu erklären, als daß es sich hier
um einzelne Falzblätter (nicht Bogen) handelt, die an falscher
Steile ein<?efügt waren.
(b) Eine zweite Blätterzählung ist ebenfalls rechts oben
in die Ecken des Papierrahmens unter die erstere mit Blei-
stift gesetzt. Sie weicht von der ältesten Zählung darin ab,
daß sie nicht erst mit dem altenglischen Texte beginnt, son-
dern auch die erst beim Einbinden zu Anfang des 17. Jahr-
hunderts vorgesetzten drei Pergamentblätter mitrechnet. Sie
eilt dadurch der ersteren stets um 3 Blätter voraus und zählt
dementsprechend im ganzen 20g Blätter. Außerdem zählt sie
an den vier Stellen, wo Blätter versetzt waren, dieselben in
der richtigen Reihenfolge, so daß hier beide Zählungen in
anderem Zahlenverhältnis zueinander stehen. Diese zweite
Paginierung ist erst im 19. Jahrhundert vorgenommen. Man
könnte glauben, daß dies im "Juni 1884" geschehen sei, weil
unter diesem Datum G, Fr. WarnEr auf dem nicht mitge-
zählten hinteren Schutzblatte die Zahl der Blätter des Manu-
skriptes mit "209 Fols." angibt. Indes wissen wir, daß schon
im "September 1876", als A. Holder die 'Wunder des Ostens'
und den 'Alexanderbrief' unserer Handschrift mit Cockaynes
Ausgabe kollationierte (s. Anglia 1, 331 — 337; 507 — 512), er
nicht nur die umgestellten Blätter "jetzt in richtiger Ordnung"
i) Die falsche Stellung dieses Blattes 150 (= Vers 740 — 782,
Grendels Auftreten) war es, was Shaeon Turner bei seiner Inhalts-
angabe des Beowulf in seiner 'History of England' (1805) zu der irri-
gen Darstellung verleitete, daß Beowulf als Kind des Hro9gar auftrete.
Die richtige Anordnung dieses Blattes (sowie von fol. 194) gab zuerst
der Isländer Thokkklin {1815), so daß Turner in der 3. Auflage (1820)
seiner Geschichte diesen Fehler verbessern konnte. — Vermutlich gehört
hierher ein Aufsatz von Chambers, The "Shifted Leaf" in Beowulf, der
in dem mir unzugänglichen X. Bande (1915) der Modern Language
Review stehen soll.
lO Max FöusTiiu: [71,4
vorfand, sondern biToits auch nach der "neuen Foliieruu^"
oder "neuen Zählung"' zitieren konnte. Also wird diese zweite
Blütterzälilung anläßlich des Neueiubindens') zwischen 1861
und 1871 gemacht sein.
Diese zweite Zählung berücksichtigt nur die Pergament-
blätter, nicht die vorn und hinten sowie an zwei Stellen des
Inneren nach ibl. 59 und 94 (neuester Zählung) eingefügten
leeren P^pierblätter.
(c) Eine dritte Blätterzählung, die auf der unteren
rechten Ecke des Papierrahmens angebracht ist, wurde erst
naoh 1884 eingeführt. Sie unterscheidet sich von der zweiten
nur dadurch, daß sie jene beiden eben erwähnten leeren
Papierblätter (== fol. 60 und 95), die eingefügt sind, um
fehlende Blätter zu markieren, mitrechnet. Demzufolge ditFe-
riert sie von fol. 61 an um 4, von fol. 96 an um 5 Ziö'ern von
der ältesten Zählung.
Nach dieser Zählung enthält die Handschrift im ganzen
211 Blätter.
Im folgenden ist diese dritte Zählung stets an erster
Stelle angegeben. Wo nur eine Zahl steht, ist stets diese
Foliierung gemeint.
§ 2. Bogensignatnren und Lagenverteilung.
Wie die Bogen zu Lagen zusammengelegt waren, läßt
sich heute direkt nicht mehr ersehen, weil die Handschrift
jetzt nur noch aus lauter Einzelblättern besteht, die ringsum
mittels Glaspapier in einen Papierrahmen eingeklebt sind.
Wann letzteres geschehen ist, scheint sich nicht mehr genau
bestimmen zu lassen, falls nicht die Akten der Handschriften-
verwaltung des Britischen Museums darüber Auskunft er-
geben. Jedenfalls war 1871, als E. Sievers die Handschrift
kollationierte, der Papierrahmen bereits vorhanden^) und „die
ganze Handschrift jüngst durch neuen sorgfältigen Einband
1) S. § 2.
2) Nach freundlicher Mitteilung von E. Sikvees.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. ii
vor allen weitern Beschädigungen geschützt".^) Wir gehen
wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß das Einsetzen in
die Papierrahmen anläßlich des eben erwähnten Neueinbandes
erfolgt ist, welcher in dem Jahrzehnt von 1860 — 70 vorge-
nommen ist.^) Denn wir wissen, daß eine gründliche Repara-
tur der durch den Brand von 1731 beschädigten Handschriften
erst von dem Bibliothekar Sir Fkederic Madden in die
Wege geleitet ist, welcher 1837 — 1873 die Handschriften-
abteilung des Britischen Museums unter sich hatte.
Da der Rücken des ViteUius- Kodex von dem Brande
von 1731 nicht berührt worden ist, werden vermutlich also
die Bogen und Lagen der Handschrift bis in die 60 er Jahre
des 19. Jahrhunderts in dem ursprünglichen Zusammenhange,
in dem sie in die Cottonsche Bibliothek gelangt waren, er-
halten geblieben sein.
Bei der heutigen Auflösung des Kodex in Einzelblätter
ist die ursprüngliche Bogen- und Lagenverteilung nicht mehr
direkt zu ersehen. Wir können sie aber mit einiger Sicher-
heit auf indirektem Wege erschließen.
Für den ersten Teil des Kodex ist dies möglich mit
Hilfe der alten Bogensignaturen, welche ein Teil der Blätter
noch heute aufweist. Auf den Blättern 12 — 94 ist nämlich
auf der ersten Seite jedes einzelnen Bogens, und zwar auf
dem unteren Seitenrande links, angegeben, zu welcher Lage
jedes Doppelblatt gehörte und welchen Platz innerhalb der
Lage es einnahm. Die Nummer der Lage ist dabei mit ara-
i) So in Zeitschr. für deutsches Altertum 15 (1872), 457.
2) Daß der Neueinband nach 1860 erfolgte, schließe ich aus der
Tatsache, daß Cockayne, als er den Alexanderbrief und die Wunder
des Orients für seine Narratiunculse Anglice Conscriptse (Vorrede vom
Aug. 1861) abschrieb, die beiden oben S. 8 erwähnten verstellten
Lagen noch in der falschen Reihenfolge vorfand, während sie 1876 bei
HoLDERS Kollation richtig gestellt waren. Die Umstellung der Lagen
ist doch sicherlich anläßl'ch des von Sievers erwähnten und vor 1871
anzusetzenden Neueinbandes erfolgt. Danach ist R. W. Chambers' An-
gabe in seinem 'Beüwulf' (1914) S. X A. 2 zu berichtigen.
12 Max FöusTKit: [7 ',4
bischen Ziffern }in<;e<^el)on. Die Keiheuf()l<ife der H()<;en inner-
halb der Lage ist durch die Huchstaben a, h, c, d bezeichnest,
welche links vor die La<]fenzill'('i- j^estellf, sind. Um ein Bei-
spiel zu Jüchen, tra<ren die Boocn der Luge II also die Signa-
turen: a^, b2, c2 und d:2. Wir h.ihen hier eine ähnliche Art
der Bogensignatur, wie wir sie bei den Drucken des i6. Jahr-
hunderts finden, nur daß dort, weni-^steus in Eu^-liiiid, um-
gekehrt die Druckbogen mit Kapitalbuchstaben, die Reihen-
folge der Dof)j)elblätter innerhalb des Bogens mit arabischen
ZiflFern bezeichnet werden. Leider sind diese Boirensi<rnaturen
in unserer Handschrift mit so wässeriger Tinte geschrieben,
daß sie vielfacli aucli da, wo der Seitenrand nicht abgebröckelt
ist, jetzt völlig verblaßt sind.
Neben der eben geschilderten Methode der Bogensignie-
rung, die nicht von den ursprünglichen Schreibern des Textes
herrührt (s. weiter unten S. 19), finden sich noch Spuren
einer älteren, einfacheren Lagensignierung, die möglicherweise
zugleich mit der Textkopie gemacht war. Nach älterer Weise
versah man nur den ersten Bogen jeder Lage mit einer römi-
schen Zahl, welche die Reihenfolge der Lage innerhalb der
Handschrift angab. ^) Spuren dieser römischen Zahlen finden
wir in unserm Manuskripte nur noch, auf dem untern Rande
von fol. 20% welches richtig eine III trägt, auf fol. 28* {IUI)
fol. 52* {VII) und fol. 61» {VIII). Diese römischen Zahlen
waren, wie namentlich die VIII auf fol. 61*, noch deutlich
lehrt, ziemlich tief auf den unteren Seitenrand und zwar in
die Mitte desselben gesetzt. Daher sind sie zumeist mit der
i) Bei dem Textus Roffensis sind die (römischen) Bogenzahlen
jedesmal auf den unteren Rand der letzten Seite jeder L>jge ge-
setzt. Vgl. F. LiEBEHMANx, Notes on the Textus Roffensis [lieprinted
from 'Archaeologia Cantiana' 1898] S. 11. — Eine dritte Ait der Lagen-
signierung finden wir in dem Vercelli-Kodex CXVII: dort sind die Lagen
so gezählt, daß an den Kopf der ersten Seite einer jeden Lage ein©
römische Zahl und dann wieder auf dem Fuß der Schlußseite jeder
Lage ein Kapitalbuchstabe des lateinischen Alphabetes gesetzt ist; vgl.
FöRSTEB, Vercelli-Codex S. 23 und II codice Vercellese S. 9.
71,4] Die Beowulf-H.vndschrift. 13
Zerstörung des Seitearandes geschwunden. Die alte und die
jüno-ere Methode zusammen finden wir nur noch bei der
sechsten und achten Lage erhalten: denn auf fol. 61* haben
wir zunächst tief unten in dor Mitte eine römische VIII und
darüber mehr nach links oben ein oS; ebenso auf fol. 44*
tief unten eine römische VI und links darüber nochmals ein
a 6. Bei der 4. Lage bat der jüngere Signierer die ältere sich
zunutze gemacht, indem er auf fol. 28* seinen Bogenbuch-
staben a neben die alte Bogensignatur IUI setzte, die ver-
hältnismäßig hoch geraten war.
Aus welcher Zeit diese Bogensignaturen stammen, läßt
sich aus der Form der verwendeten arabischen Ziffern ent-
nehmen. Ziehen wir die Ziffernformen zum Vergleich heran,
welche Adriano Cappelli, Dizionario di abbreviature latine
ed italiane (Milano i8gq) S. 380 — 385 und vor allem G. F.
Hill, On the Early Use of Arabic Numerais in Europe
(Archseologia LXII, 19 10, S. 137 — igo) bieten^), so ergibt
sich, daß unsere Bogensignaturen die charakteristischen For-
men der arabischen Ziiiern des 12. Jahrhunderts aufweisen.
Bisher unbekannt scheint allerdings die hier auf fol. 36 =* ver-
wendete Form der 5, ebenso die sehr sonderbare Form für 11,
faUs das Zeichen -|| auf fol. 87 *" wirklich eine Ziffer meint.
Die jüngeren Bogensignaturen sind völlig intakt erhalten
in dem zweiten Bogen (= fol. 12—19). Denn wir finden
hier unten links auf fol. 12" ein a^, — die Ziffer 2 in der
auch sonst im 12. Jahrhundert nachweisbaren Form, die der
heutigen Ziffer 7 sehr ähnelt; weiter auf fol. 13* ein b2, auf
fol. 14* ein c^, auf fol. 15* ein d2. Auf dem folgenden Blatt
16" scheint dann noch ein e erkennbar, doch ohne hinzu-
gefügte Zahl. Man könnte daraus folgern, daß die Lage aus
a — e, also 5 Bogen bestand. Das ist indes unmöglich, weil
fol. 20* die Signatur des 3. Bogens aufweist und also für die
i) L. Joedan, Materialien zur Geschichte der arabischen Zahl-
zeichen in Frankreich (Archiv für Kulturgeschichte 3 [1905], 155 — 195)
bietet nichts für unseren Zweck.
1^ Max Korbtkk: [7', 4
2. Lage nur die Uliitter 12—19, il- !»• 4 Bogen, zur Verfü«rim<,'
staiulon. Also muß jenes e irrtümlich vom Signierer auf die
3. Seite des innersten (4.) Bogens gesetzt sein.
Aus den Bogensigmituren der zweiten Lage ist weiter
zu foliTern. daß die vorherstellenden Blätter 4 — 11, bei denen
Boceusi^^naturen nicht mehr zu erkennen sind, die erste Lage
zu 4 Bügen bildeten. Die Blätter 1—3 gehörten ursprüng-
lich nicht zur Handschrift, sondern sind erst von Cottons
Bibliothekar 11. James beim Einbindenlassen hinzugefügt (s.
weiter unten § 7).
Die Lage III bildeten die Blätter 20—27, da fol. 20"
eine 777 (in römischer Ziffer, aber ohne Bogenbuchstaben —
also die alte Signierung) und fol. 21 *, 22», 23* nacheinander
die Signaturen hS, c3 und d3 aufweisen. Die hierbei ver-
wendete arabische 3 zeigt jene alte Form mit weit herunter-
gezogenem Haken.
Die Lage IV bestand aus Blatt 28—35, da fol. 28" ein
allll, fol. 29* ein h (ohne erkennbare Zahl) und fol. 30" und
31' ein c4 bzw. d4 aufweisen; — die arabische Ziffer 4
beidemal iu jener bekannten eckigen mittelalterlichen Form
5^, wie sie bis ans Ende des 15. Jahrhunderts üblich ge-
blieben ist.
Blatt 36 " trägt links unten ein merkwürdiges Zeichen
^, das aber nichts anderes als eine arabische 5 sein kann.
Die folgenden Blätter 37* und 38* enthalten nur noch die
Bogenbuchstaben, h und c. Dagegen weist fol. 39' rechts von
seinem Bogenbuchstaben d noch Spuren eines abgerissenen
Zeichens, wohl einer 5, auf. Die Lage V hat also aus den vier
Blättern 36 — 43 bestanden.
Auf der ersten Seite der 6. Lage (fol. 44— 5 0 bilden wir, wie
oben erwähnt, die Doppelsignatur a 6 und rechts darunter die
römische VI. Wie zu erwarten, tragen fol. 45% 4^^ und 47*
die Signaturen h6, c6 und dO. Die arabische Ziffer 6 zeigt
hier jedesmal jene sigmaförmige Form mit langausgezogenem
Haken, wie sie Hills Tafel U Nr. 1—4 und Tafel III Nr.
I — 14 auch sonst fürs 12. und 13. Jahrhundert belegen.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 15
Die 7. Lage bestand aus Blatt 52 — 5g, da fol. 52* ganz
unten eine römische VII und außerdem höher, dicht am
rechten Rande, ein a (vielleicht mit dahinter abgerissener
arabischer Ziffer 7) aufweist. Auf fol. 53* sind noch undeut-
liche Spuren eines abgerissenen Bogenbuchstabens (sicherlich
b) vorhanden; aber auf fol. 54 ist der ganze untere Rand
und damit jede Spur einer Bogensignatur abgeschnitten. Aber
fol. 55* zeigt deutlich den Bogenbuchstaben d.
Übergehen wir zunächst das eingefügte moderne Papier-
blatt 60, so haben wir auf fol. 6 1 * ganz unten in der Mitte
die römische Zahl F///; also muß Blatt 61 die 8. Lage der
Handschrift beginnen. Dies ist wichtig, weil mit Blatt 61
eine neue Schreiberhand einsetzt und man daher annehmen
könnte, daß die vorhergehenden Blätter 4 — 59, die von einer
Hand geschrieben sind und aus 7 Lagen zu je 4 Bogen be-
stehen, ursprünglich eine Handschrift für sich gebildet hätten
und daß die mit fol. 61 beginnenden Lagen erst später mit
den vorhergehenden vereinigt worden seien. Die Bogensigna-
tur VIII lehrt, daß der alte Signierer, der bis fol. 94 die
Lagen fortlaufend zählt, die Blätter 4 — 94 trotz der zwei
Schreiberhände schon zu einem Kodex verbunden vorfand.
Nun treffen sich die beiden Striche der V in der oben-
genannten römischen VIII auf fol. 61* zwar nicht genau in
einem Punkte, sondern schneiden sich unten, so daß mau
meinen könnte, hier vielmehr eine X vor sich zu haben, so
daß die ganze Zahl eine XIII bedeutete. Dem widersprechen
aber die arabischen Ziffern auf demselben Blatte weiter links
oben sowie auf den folgenden fol. 62*, 63* und 64% die trotz
ihrer nicht ganz üblichen Formen nur eine arabische 8 sein
können. Auf fol. 61* und 62^ ist nämlich eine mir sonst un-
bekannte Form der arabischen 8 gebraucht, die so aussieht,
als ob eine 6 und eine 9 übereinandergestellt wären oder
vielleicht noch richtiger ein regelrechtes griechisches 6 über
ein auf den Kopf gestelltes zweites 9. Diese Form der 8 ist
jedenfalls so entstanden, daß man das obere und das untere
Rund der Zahl für sich getrennt herstellte und die aus-
lö Max Föustku: l7'.4
laufeiukMi Striche etwas /u weit nach rcclitö uinl Jinks aus-
'/o<r. wo/M sich Ansätze in einer Form <ier aiahisclieii N auf
Hills Tafel I Nr. 6 fürs i i. .lalirhundert liiulen. Auf fol. t)^*
und 64" kommt die Zahl .S der modernen Form iiiiher, ist
jedoch mit anderem Duktus Muso;el'ülirt, demselhen, der auch
in einer Form des frühen i 2. .lahrhuuderts auf Hills Tafel
11 Nr. I erscheint, wenn die Zahl seihst auch liier anders ge
formt ist. Bei keiner andern Lage ist die Signierung so gut
erhalten wie hier; denn wir hahen sowt)hl aul' fol. 61" die
ältere Lagenbezeichnung mit der römischen VJIJ unten auf
der Mitte des Randes wie die wohl jüngere Bezeicimung mit
a8, 1)8, c8 nnd d8 auf den Blättern 61*, 62% 63* und 64*.
Danach umfaßt die Lage VIII die Blätter 61 — 68. Davor
ist, wie eben erwähnt, als fol. 60 ein modernes Papierblatt ein-
sefüst worden, weil der Text der Nicodemus- Version auf fol.
6i* oben mitten im Satz beginnt und nach Ausweis der
älteren Cambridger Handschrift der etwa zwei Manuskript-
seiten füllende Anfang des Textes verloren gegangen ist. Es
würde sich also die Frage ergeben, wie das verlorene Einzel-
blatt sich zu der Lagenverteilung verhält. Die eben bespro-
chenen Bogensignierungen bei der 7. und bei der 8. Lage
lehren, daß es sich nicht um einen verlorenen ganzen Bogen
handeln kann, sondern nur um ein einzelnes aiigefalztes Blatt,
wie solche oft in den altenglischen Handschriften begegnen.^)
Ob es an den vorhergebenden 7. oder den folgenden 8. Bogen an-
gefalzt gewesen ist, dafür lassen sich Anhaltspunkte nicht finden.
In der nun folgenden 9. Lage ist von den Bogensigna-
turen nichts mehr zu erkennen. Da die nächste Lage erst mit
fol. 79 beginnt, stehen für die 9- Lage 10 Blätter zur Ver-
fügung. Ausnahmsweise muß also die 9. Lage (=^ fol. 69 — 78)
aus 5 Bogen bestanden haben, während alle anderen Lagen
nur 4 Bogen aufweisen.
i) Solche eingefalzte Einzelblätter finden sich z. B. im Vercelli-
Kodex CXVII fol. 35, 38, 45, 50, 53 n. a. m.; in Vespasianus D. XIV
fol. 6, 15, 86, 103 (vgl. demnächst meine Ausgabe der 'jElfric sehen
Homilien aus VeBpasianus D. XIV).
7f,4] Die Beowulf-Handschrift. 17
Die folgende Lage (= fol. 79—86; weist auf ihrem
ersten Bogen keinerlei Reste der Bogensignatur mehr auf.
Doch haben die Blätter 80% 81* und 82* der Reihe nach
ihre Bogeubuchstaben 6, c, d sowie dahinter ein Zifferzeichen,
das ich als durchstrichene arabische ü auffassen möchte.
Solche durchstrichene Ö-Zeichen stehen aber im 10. — 16.
Jahrhundert für die Ziffer 10 (vgl. bes. Hills Tafel II Nr. i,
auch I Nr. 2 und 13), so daß also zwar nicht für den äußer-
sten, aber für die inneren Bogen 2 — 4 die regelrechten Signa-
turen & 10, clO, d 10 vorliegen.
Schwierig liegt die Sache für die nächsten 8 Blätter
(= fol. 87—94), die nur auf dem ersten Blatt (fol. 87^) eine
Bogensignatur aufweisen: nämlich den Bogeubuchstaben a
und dahinter ein sonderbares Zeichen -j|, das ich als eine
arabische 11 deuten möchte. Andere Beispiele für eine solche
Form der Ziffer 11 vermag ich allerdings nicht nachzuweisen,
da Hill überhaupt nur die Ziffern bis 10 behandelt und
Oappelli keinen Beleg fürs 12. Jahrhundert beibringt.
Hinter Blatt 94 muß etwas fortgefallen sein, weil die
Schlußseite der Lage mitten im Satz mit der Übersetzung
der Tassio Quintini' abbricht und das näch.ste alte Perga-
ment mit einem ganz anderen Texte, einer Tassio S. C'hristo-
phori', und noch dazu in ganz anderer Schreiberhand, einsetzt.
Man hat deshalb gegen Ende des ig. Jahrhunderts ein mo-
dernes leeres Papierblatt als fol. 95 eingefügt. Wenn man
aber die lateinische QueUe herbeizieht, worüber bei der In-
haltsangabe (§ 7) näher gehandelt werden wird, so ergibt
sich, daß ein einzelnes Blatt nicht ausgereicht hätte, um die
Quintinus- Legende mit der gleichen Stilbreite des Anfanges
zu Ende zu erzählen. Dazu wären wohl noch mindestens 8
Handschriftenblätter erforderlich gewesen. Also wird eine
ganze Lage hier verloren gegangen sein. Da, wie in § 3 ge-
zeigt werden wird, mit fol. 96 eine ursprünglich selbständige,
fast 150 Jahre ältere Handschrift beginnt, so ist also der
«rsteren Handschrift (fol. 4—94) außer dem eingefalzten Halb-
bogen fol. 60 die ganze letzte Lage von wohl 4 Bogen ver-
Fhil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. ^. 2
i8 Max Förstek: [7>,4
loron gegangen. Diese Schlußla<:;o war um 1600 schon nicht
mehr vorhandeu, da die älteste Renaiasance-Foliierung diesen
Verlust nicht berücksichtigt. Wer freilich jetzt die Hand-
schrift daraufhin auscliaut, findet, daß die alte Paffinierun'»"
gerade an der Stelle der Lücke von 'fol. go' (= fol. 94) auf
fol. 93 (= fol. 96) überspringt. Aber dies erklärt sich, wie
wir oben in § i sahen, daraus, daß zur Zeit der Henaissance-
Foliierung die Bogen der Lagen in der falschen Reihenfolge
lagen und später richtig geordnet sind, so daß die scheinbar
übersprungenen Blätter 91 und 92 ältester Zählung heute
hinter der alten fol. 94 stehen. Es bleibt also dabei, daß
der Renaissance -Paginierer die obige Lücke nicht beachtet
hat und den Lagenverlust mithin nicht erkannt haben kann.
Mit fol. y6 beginnt ein ganz neuer Kodex, der nirgendwo
Spuren von Bogensignaturen aufweist und wahrscheinlich auch
nie solche gehabt hat.
Die Lagenverteilung in der ersten Handschrift läßt sich
zusammenfassend folgendermaßen darstellen:
Lage I = fol. 4 — 1 1 (4 Bogen)
„ II— „ 12-
-19 „
»
„ III — „ 20-
-27 „
»
„ IV - „ 28-
-35 „
»
„ V _ „ 36-
-43 „
V
. VI - „ 44-
-51 „
»
„VII=„ 52-
-59 V
})
„vm= „ 61-
—68 (4 Bogen, mit verlorenem an-
gefalzten Blatt 60)
„ IX - „ 69-
-78 (5
Bogen)
„ X — „ 79-
-86 (4
Bogen)
„ XI - „ 87-
-94 (4 Bogen; dahinter eine Lage
ausgefallen)
Wir haben dann eine Handschrift vor uns, aus 1 1 Lagen
bestehend zu je 4 (einmal 5) Bogen, der die Schlußlage so-
wie ein angefalztes Blatt verloren gegangen ist. Nach der
ursprünglichen Zählung würde das Manuskript dann etwa
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 19
Q9 Pergamentblätter enthalten haben, von denen go noch vor-
handen sind.
Über das Alter der Bogensignaturen läßt sich folgendes
sagen. Wie im vorhergehenden betont, zeigen die anbei ver-
wendeten arabischen Ziffern die charakteristischen Formen
des 12. Jahrhunderts: dies gilt namentlich von der 2, 6, 8
und 10. Auf die gleiche Zeit verweist die Form der zur
Bogenzählung verwendeten Buchstaben: auch sie gehören in
das 12. Jahrhundert. Vergleicht man die Bogenbuchstaben
mit der Schrift im Text selbst, so ergibt sich, daß alle Bogen-
buchstaben von ein und derselben Schreiberhand herrühren,
daß diese aber kaum identisch ist mit einer der zwei Hände,
die den Text von fol. 4 — 94 geschrieben haben. Die Bogen-
buchstaben machen eher einen etwas jüngeren Eindruck und
mögen erst im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts eingetragen
sein, während die Textschrift selbst in das zweite Viertel des
Jahrhunderts gehört (§ 4). Dagegen ist es natürlich möglich
und sogar wahrscheinlich, daß die älteren Bogensignaturen
mit römischen Ziffern, von denen nur noch ein paar Reste
vorhanden sind, von den ursprünglichen Schreibern des Textes
angebracht waren.
Wichtig ist aber, daß die Bogenbuchstaben in fol. 4 — 94
alle von ein und demselben Schreiber eingetragen sind. Denn
dadurch erhalten wir den Beweis, daß die genannten 90 Blät-
ter, obschon sie von zwei verschiedenen Schreibern geschrie-
ben sind, die gerade mit dem Schluß der 7. Lage wechseln,
schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu einem Kodex
vereinigt waren. Sollte die Annahme zutreffen, daß die römi-
schen Bogenzahlen auf Bl. 20% 28*, 44*, 52'' und 6i* von
den ursprünglichen Schreibern des Textes herrührten, so würde
vollends von Anfang an von einem Manuskript zu sprechen
sein. Wir dürfen daher jedenfalls die genannten Blätter 4 — 94
zu einer Handschrift gehörend betrachten, der gegenüber die
ganzen übrigen Blätter (fol. 95 — 211) des Sammelbandes wie-
der ihrerseits eine zweite, ursprünglich selbständige Hand-
schrift darstellen.
20 Max I"'(>k.stkk: [7', 4
Die zweite Huiulschrii't weist, wie schon oben bemerkt,
keinerlei Spuren von lio^eusignaturen auf, und so kann mim
bei dem gegenwärtigen, in Eiuzelbliitter aufgelösten Zustande
der Handschrift etwas Siclieres über ihre Lagen verteiluno;
nicht mehr aussagen. Indes hissen sich darüber doch Ver-
mutungen aufstelU-n, die einen hohen Grad von Wahrschein-
lichkeit in Anspruch nehmen kchinen. Zunächst ist es näm-
lich möglich, mit einiger Sicherheit den Umfang der letzten
Lage festzustellen durch Ausbeutung der Textlücke, welche
sich zwischen fol. 203^ und fol. 204* findet. Das letzte Ge-
dicht der Handschrift, ein Epos über die althebräische Judith,
welches jetzt die Blätter 204*- — 211'' umfaßt, ist am Anfang
verstümmelt. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt,
welcher mit der Situation unmittelbar vor der Tötung des
Olofernes, also mit dem 13. Kapitel des biblischen Buches
einsetzt, sondern auch aus der Fitten-Einteilung des alteng-
lischen Gedichtes, welche mit dem Schluß der 9. Kitte an-
hebt. Die fortgefallenen o Fitten lassen sich aber^ wie weiter
unten (§ 7 Nr. 13) gezeigt werden soll, auf drei achtblättrige
Lagen berechnen. Sind aber vor fol. 204 drei Lagen verloren
gegangen, so spricht die allergrößte Wahrscheinlichkeit da-
für, daß mit fol. 204 eine neue Lage begann. Daß dieses
wirklich der Fall, wird bestätigt durch die Tatsache, daß die
verbleibenden Blätter der Handschrift, nämlich fol. 204 — 211,
genau 16 Seiten, also eine Lage zu vier Bogen ausmachen,
so daß wir auch hier die Normalzahl der gewöhnlich zu einer
Lage zusammengelegten Bogen hätten. In diesem Zusammen-
treffen liegt gewiß eine hohe Wahrscheinlichkeit für die
Richtigkeit unserer Vermutung.
Zweitens läßt sich mit ziemlicher Sicherheit die Lagen-
Verteilung der ersten 4 Lagen (= fol. 96 — 127) feststellen.
Wie schon oben bemerkt (S. 8), standen nach Ausweis der
ältesten Foliierung die 8 Blätter 120 — 127 hinter den 8
Blättern 112 — 119, was sich am einfachsten erklärt, wenn
beide Blättergruppen in sich je eine Lage bildeten und die
banden Lagen — es handelt sich, wie wir gleich sehen werden,
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 21
am die III. und IV. Lage — miteinander vertauscht waren.
Damit wäre der Umfang zweier Lagen der Handschrift fest-
gestellt. Wenn mit fol. 1 1 2 eine neue Lage begann, müssen
die vorhersteheuden Blätter 96 — 1 1 1 ebenfalls eine oder zwei
Lagen gebildet haben: da diese Blätter ^2 Seiten = 8 Bogen
umfassen, werden sie kaum zu einer einzigen Lage ineinander
gelegt sein, sondern zwei Lagen zu je 4 Bogen, wie es dem
häufigsten Gebrauch entspricht, gebildet haben. Sonach hätten
wir dann vier Lagen mit^ dem Normalumfang voti 4 Bogen:
Lage 1= fol. 96 — 103, Lage II = fol. 104 — 11 1, Lage III
= fol. 112 — 119 und Lage IV = fol. 120 — 127. Dazu die
Schlußlage (== fol. 204 — 211) mit ebenfalls 4 Bogen.
Die dazwischenliegenden 76 Blätter (= fol. 128 — 203)
wäre man naturgemäß versucht, ebenfalls in Lagen zu je 4
Bogen zu verteilen: 76 Blätter =38 Bogen würden aber 9
Lagen zu je 4 Bogen und zwei übrig bleibende Bogen er-
geben. Diese letzteren könnte man füglich so unterbringen,
daß man entweder zwei von den Lagen zu je 5 Bogen nähme
oder auch einen Bogen in zwei Einfalzblätter auflöste. Daß
letzteres wenigstens in zwei Fällen zutraf, läßt sich durch
folgende Erwägungen wahrscheinlich machen. Wie oben er-
wähnt, war fol. 151 (= 131 ältester Zählung) zur Zeit
Robert Cottons vor fol. 136 (= 132 ältester Zählung) ver-
stellt, also um 15 Blätter vorgerückt. Bei dieser ungeraden
ßlätterzahl läßt sich nun aber keinerlei Bogenkombination
herstellen, ohne daß nicht irgendwie ein Einzelblatt übrig-
bliebe. Und da ist es, sofern man nicht mit der kaum
bei Pergament vorkommenden Lagenstärke von 7 Bogen
rechnen will, am einfachsten, das verschobene Blatt 151
selbst sich als Einfalzblatt zu denken, das aus seiner Lage
(= fol. 146 — 154 oder 144 — 152) herausgerutscht und vor
die voraufgehende Lage (= fol. 136 — 145 oder 136 — 143)
geraten war.
Da wir oben die Lage IV mit fol. 127 endigen sahen
und also mit fol. 128 eine neue Lage beginnen muß, wäre
dadurch auch die V. Lage festgelegt, die die 4 Bogen von
22 Max Förstkr: [71,4
fol. 128 — 135 umfassen wird.^) Lage VI wäre dann fol. 136
— 143 (4 Bogen) oder, da irgendwo eine Lage mit 5 Bogen
untergebracht werden muß, fol. 136 — 145; Lage VII = fol.
144—152 (4V3 Bogen) oder 146 — 154 {^y^ Bogen); Lage VIII
= fol. 153 — 160 (4 Bogen) oder 155 — 162 (4 Bogen) oder
153—162 (5 Bogen).
Wenn es richtig ist, daß die Lage VII ein angefalztes
Einzelbhitt enthielt, so folgt schon allein hieraus, daß, um
die Paarzahl von 76 Blättern unterzubringen, noch an irgend-
einer anderen Stelle des Manuskriptes ein eingefalzter Halb-
bogen anzunehmen ist. Erinnern wir uns, daß wir gegen den
Schluß des Manuskripts noch ein zweites verstelltes Einzel-
blatt fanden, nämlich fol. 194, das hinter fol. 202 geraten war,
so ist es das natürlichste, in fol. 194 dieses zweite angefalzte
Einzelblatt zu vermuten, welches von seiner richtigen Stelle
zwischen den beiden letzten Blättern der Lage XII (= fol.
187 — 195) zwischen die beiden letzten Blätter der nächsten
Lage XIII (= fol. 196 — 203), beide zu je 4 Bogen gerechnet,
geraten war.
Wie wir in § 7 Nr. 10 sehen werden, ist aus inhalt-
lichen Gründen vor Blatt 96, also zu Anfang unseres Manu-
skriptes, noch eine Lage zu 5 Bogen fortgefallen.
Danach würde es möglich sein, wenn wir von allen
denkbaren Kombinationen uns jedesmal die natürlichsten und
einfachsten heraussuchen, folgendes Schema der Lagen Ver-
teilung für das II. Manuskript (fol. 96 — 211) anzunehmen:
Lage I = fol. 96 — 103 (4 Bogen; davor eine Lage
zu 5 Bogen ausgefallen)
„ 11= „ 104— III (4 Bogen)
„ III = „ 112— 119 „ „
„ IV = „ 120—127 „ „
i) Man beachte, daß, wenn man nicht mit der abnormen Zahl
von Lagen zu nur 3 Bogren rechnen will, das Ende des Alexanderbriefes
(fol. 133 '') und der Anfang des Beowulf (fol. 134') in das Innere einer
Lage fallen, so daß schwerlich irgendein Stück des einen oder des
anderen Textes hier verloren gegangen sein kann.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 2;^
Lage V= „ 128—135 „ „
„ VI= „ 136—143 „ „
„ VII = „ 144 — 152 (4 Bogen mit angefalztem
Bl. 150)
„Vm= „ 153-162(5 Bogen^))
„ IX = „ 163— 170(4 Bogen)
„ X= „ 171 — 178 „ „
„ XI = „ 179—186 „ „
„ XII = „ 187 — 195 (4 Bogen mit angefalztem
Bl. 194)
„XIII = „ 196—203 (4 Bogen)
„XIV = „ 204 — 211 (4 Bogen- davor 3 Lagen
ausgefallen).
Wir würden also zusammenfassend sagen dürfen: die II.
Handschrift bestand vermutlich aus 18 Lagen zu meist 4
Bocren: zwei Lagen wiesen ein 9. eingefalztes Blatt auf: zwei
Lagen bestanden aus 5 Bogen. Vier Lagen sind heutzutage
verloren gegangen: eine am Anfange und drei vor der letz-
ten Lage.
§ 3. Die Schreiberhände.
Beim Durchblättern des ganzen Kodex fällt sofort ins
Auge, daß mit Blatt 96 eine neue, mindestens 100 Jahre
ältere Handschrift einsetzt. Bei diesem zeitlichen Verhältnis
des hinteren zum vorderen Teile des Bandes ist es natürlich
unmöglich, daß der ganze Kodex ursprünglich eine Hand-
schrift gebildet hat. Vielmehr muß der ältere zweite Teil von
Blatt 96 ab ein Manuskript für sich gewesen sein, das erst
von dem späteren Renaissance- Sammler, nämlich Sir Robert
CoTTON, mit der jüugeren Handschrift zusammengebunden
1) Statt der Lage YIII einen 5. Bogen beizulegen, könnte dies
auch bei Lage V, VI, IX, X oder XI geschehen, wobei sich jedesmal
die Blätterzahlen entsprechend verschieben würden. Bei Lage V ist ea
mir nicht sehr wahrscheinlich, weil das aus Lage VII herausgerutschte
Einfalzblatt 151 wohl leichter vor eine Lage, als in eine solche
hineingeraten sein möchte.
24 Max F()ustkr: [71.4
ist Danach zerfällt also der uns heute vorliegende Band in
zwei völlig verschiedene, enst im 17. Jahrlinndert (ca. 1620
l)is 1Ö38) vereinigte Handschriften: die spätaltenglisclie
llandsi'lirift I, welche die Blätter 4 — 94 umfaßt, und die
ältere Handschrift II, welche aus den Blättern 96 — 21 1 besteht.
Moderne Zutaten sind die Blätter i — 3, die vom Renaissance-
Binbinder hinzugefügt sind, und die beiden moderniui Papier-
blätter 60 und 95, welche xur Andeutung von Lücken erst
im 10. Jahrhundert eingesetzt sind.
a) Schreiber der Handschrift I (fol. 4 — 94).
Betrachten wir das I. Manuskript, so macht dieses, trotz
einiger Schwankungen in der Engigkeit der Schrift, einen so
einheitlichen Eindruck im Schriftduktus und in den Buch-
stabenformen, daß man zunächst nur einen Schreiber an-
nehmen möchte. Bei näherem Zusehen ergibt sich jedoch,
daß der Anfang, und zwar die ersten 56 Blätter (= fol. 4* —
59^) doch sicher von einem anderen Kopisten geschrieben
sind als der Schluß (=foI. 61* — 94^). Wir wollen die bei-
den Schreiber als J und B unterscheiden. Die Form der
Buchstaben ist allerdings so stark übereinstimmend, daß beide
wohl aus derselben Schreiberschule stammen müssen. Deut-
lich verschieden ist eigentlich nur die Form des insularen r,
welches bei B noch die ausgesprochen jp-ähnliche Form hat,
bei Ä aber den rechten Schenkel schon stark verkürzt auf-
weist, so daß es sich der fränkischen Form nähert. Auch
läßt A die fränkischen Formen für s und f manchmal auf
der Zeile aufsitzen, wenn daneben auch die weiter herunter-
gezogenen Formen vorkommen, während bei B ausschließlich
die letzteren erscheinen. Weiter ist die Federhaltung etwas
verschieden: Ä hält die Feder etwas schräger als B, so daß
die Druckstellen etwas anders verteilt sind und die langen
Buchstaben spitzer auslaufen, während sie bei B stumpf
endio-en. Endlich zeigt B einen etwas runderen Schrift-
Charakter als A. Auf der Spitzheit und Schmalheit der Buch-
staben beruht es wohl hauptsächlich, daß die Schrift von A
71.4] Die Bbowulf-Handschuift. 25.
einen etwas älteren Eindruck macht als die von B, oborleich
die beiden Kopisten ungefähr zur selben Zeit geschrieben
haben werden. Es erklärt sich dies am einfachsten wohl so,
daß A ein älterer Mann war, der in manchem noch früheren
Schreibergewohnheiten folgte. Hierzu stimmt auch die Be-
obachtung, daß die Schrift von A gleichmäßiger und einheit-
licher ist, wie das bei einem geübten Kopisten zu erwarten
-teht, während der jüngere Schreiber B mehrfach seine Buch-
stabenformen variiert, weil sie ihm noch nicht so fest in der
Feder sitzen. Gelegentlich hat es sogar den Anschein, be-
sonders bei Eigennamen, als ob B die Buchstaben seiner
Vorlage nachmalte und dadurch Formen verwendete, die ihm
8onst nicht geläufig sind.
Mit dieser Verschiedenheit des Lebensalters steht schein-
bar in Widerspruch die von A. Schmitt^) betonte Tatsache,
daß die Sprache von A, den wir doch an Lebensjahren für
den älteren hielten, manche jüngere Züge aufweist als der
an Lebensjahren jüngere Schreiber B. So hat A schon ein
paarmal das verdumpfte me. q für ae. ä (Hülme S. 48 f.),
nämlich in ^elöcnian 'heilen' 48^, w'oh 'Wand' 45^, wöt 'weiß'
(26X, s. Hargroves Glossar) und wost 'du weißt' (lox),
während B ausschließlich ä aufweist. Das ae. o' ist bei A
.schon ein paarmal gesenkt zu me. a, so in ^estadßines 'Be-
ständigkeit' 22^% after 'nach' 251", 48^, hivat 'was' 25^, ßat
'das' {33X, HuLME S. 14), (Jas 'des' 24^' 25^, ög**, um von .
anderen Fällen, wo analogische Einwirkung möglich ist, zu
schweigen — eine Erscheinung, die allerdings einmal auch
beim Schi-eiber B {ma-^endrim Nicodemus ed. Hulme 497^)
vorkommt. Die Diphthongentwicklung vor Palatalen ist bereits
graphisch zum Ausdruck gebracht in weii^ 'Weg' (8x; s.
Hargroves Glossar), sei^e 'sage' (Imp.) 14^^, he^ra 'beider'
25^^ smeiian 'erforschen' 53^°, meihte 'mochte' 1^, i' und
gereihte 'erklärt' 66^1 Der stimmhafte labiodentale Reibelaut
ist schon zweimal nach mittelenglischer Art mit u (statt mit
i) August Schmitt, Die Sprache der altenglischen Bearbeitung
des Evangeliums Nicodemi Münchener Diss. 1905) S. 127 f.
20 Max Förster: [71,4
ae. f) geschrieben: in liiue 'Liebe' 7'' nnd süuum "^selbst'
^2*^^ 60^'. Alle diese Schreibweisen repräsentieren fortsehritt-
liche Liiuttornien, die sicherlich in (U>r damaligon Sprech-
ßpracho schon üblich waren, aber in der gleichzeitigen Ortho-
graphie, die noch ganz in den Banden der altenglischen
Schultradition lag, nur selten zum Ausdruck gelangten. Wenn
daher der Schreiber A sich gelegentlich solch fortschrittliche
phonetische Schreibungen gestattete, so beweist das nur, daß
er als geübter Kopist nicht sklavisch an seiner Vorlage haftete.
Umgekehrt beweist für den Schreiber B das Meiden solch
fortschrittlicher Orthographien, obschon sie sicherlich auch
seiner Lautgebung entsprachen, nur, daß er als jüngerer, un-
geübterer Kopist sich enger an die Vorlage hielt und ängst-
licher Wort für Wort in der für ihn stark archaischen
Schreibung nachmalte. Wir dürfen daher nicht mit Hulme
und Schmitt (S. i26ff.) aus der etwas altertümlicheren Ortho-
graphie von B folgern wollen, daß B etwa ein bis zwei
Menschen alter vor Ä geschrieben habe, was ja auch nur mög-
lich wäre, wenn die in Frage kommenden Teile der Hand-
schrift ursprünglich selbständig gewesen wären — eine An-
nahme, die, wie wir oben sahen (§ 2), durch die alten, viel-
leicht von den Kopisten selbst herrührenden Bogensignaturen
widerlegt wird.
Die genannten sprachlichen und orthographischen Unter-
schiede sind nicht die einzigen, die beide Schreiber deutlich
voneinander trennen. B hält sich strenger ans Westsächsi-
sche, während A z. B. ein paar Fälle von ostsächsisch-
kentischem e als »-Umlaut von u aufweist (^ehera) 'es gebührt'
46", meniie 'beabsichtigt' i®, smelte 'ruhig' 30^, lest 'ge-
lüstet' 37^). Doppelschreibungen zur Bezeichnung von Vokal
länge, wie sie A liebt (pod 'gut' 36X, fuul 44^) fehlen bei
B gänzlich.
Endlich zeigt sich auch ein Unterschied in der Tinte:
A bediente sich einer wesentlich blasseren Tinte als J5;
wenigstens sind bei B mehrfach die Seiten, sowohl im Per-
gament wie in der Schrift, jetzt stark gedunkelt.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 2^
Wir dürfen also zusammenfassend sagen, daß sich die
beiden Schreiberhäude A (= fol. 4''— SQ"") und B (fol. 61»—
94^) trotz aller Ähnlichkeit und Gleichzeitigkeit deutlich von-
einander abheben sowohl in paläographischer wie sprach-
licher und orthographischer Beziehung und durch die ver-
wendete Tinte. Der erstere hat nur die altenglische Soli-
loquien-Version geschrieben; dem zweiten gehören die drei
alteno-lischen Texte über 'Nicodemus', 'Salomon und Saturn'
und 'Quintinus' an.
Beiden Schreibern sind die alten insularen Formen von
s und f nicht mehr geläufig; und ebenso kennen sie nicht
mehr den Unterschied in der Druckverteilung bei dem Bauche
von ^ und insularem w. Hieraus erklärt sich, daß ihnen zahl-
reiche Buchstabenvertauschungen passieren.^) Daß der Schrei-
ber A darum ein Franzose gewesen sein müsse und nach
Diktat-) geschrieben habe, wie H. L. Hargrove^) behauptet,
entbehrt jeglichen Beweises, ja auch nur der geringsten Wahr-
scheinlichkeit. Vielmehr läßt sich gerade aus seinen Schreib-
fehlern nachweisen, daß er nach einer schriftlichen Vorlage
gearbeitet hat. Und was für die französische Nationalität des
Schreibers von Hargrove vorgebracht wird, findet sich auch
i) Für den Schreiber A vergleiche die Zusammenstellungen sol-
cher Buchstabenverwechslungen bei W. H. Hulme, Die Sprache der alt-
englischen Bearbeitung der Soliloquien Augustins (Freiburger Diss.
1894) S. 7 f.; für den Schreiber B bei A. Schmitt, Die Sprache der
altengliscben Bearbeitung des Evangeliums Nicodemi (Münchener Diss.
1905) S. 4f.
2) Nach Diktat wird überhaupt nur geschrieben sein, wo es
sich um die Massenherstellung eines Textes handelte. Daß dies bei
Texten in der altenglischen Volkssprache je vorgekommen sei, möchte
ich stark bezweifeln. Aus dem gleichen Grunde ist es auch abzulehnen,
wenn B. Thoepe in seiner Beowulf- Ausgabe S. XI für die 11. Hand-
schrift das Schreiben nach Diktat annimmt, um die zahlreichen Fehler
des Schreibers zu erklären. Vgl. auch W. Wattenbach, Das Schrift-
weeen des Mittelalters ('1896) S. 437.
3) King Aifred's Old English Version of St. Augustine's Soli-
loquies, edited, with introduction, notes, and glossary, by Henkt Leb
Hahgeove. [Yale Studies in English XIII.] New York 1902. S. XXflF.
j8 Max Förstku: [7M-
htM oncrlischeii Kopisten. Vor allem aber ist zu fragen, wie
ein Franzose mn 1120 dazu kommen sollte, eine in der
Sprache der Besiegten abgefaßte, alte theologische Schrift,
die kein aktuelles Interesse bot und iiiclits von dem neuen
Zeitgeiste spüren ließ, al)zuschr('ibcn oder, richtiger gesagt,
zum Teil in die jüngere Sprachform des 12. Jahrhunderts um-
zuschreiben? Auch würde ein Franzose in französischer Kanz-
leischrift, nicht aber in stark insularer Hand geschrieben
haben (vgl. § 4). Endlich hätte ein nach Diktat .schreibender
Franzose sicherlich eine viel phonetischere Schreibweise au-
gewandt — etwa eine so fortschrittliche Orthographie wie
die der englischen Orts- und Personennamen in dem sicher
von Franzosen um 1086 geschriebenen 'Domesday Hook',
die wir in M. Stolzes Dissertation 'Zur Lautlehre der alt-
englischen Ortsnamen im Domesday Book' (Berlin 1902) gut
über.-^chauen können.^) Für den Schreiber B ist die Frage
der französischen Nationalität von August Schmitt^) auf-
o-ewoi-fen worden, aber zugleich von ihm mit guten Gründen
verneint.
Bis Blatt 24* hat ein Rubrikator die Anfänge der Sätze
und Satzteile rot markiert. Von hier au eine neue Schreiber-
hand einsetzen zu lassen, wie Hülme^) befürwortet, finde ich
keinerlei Anlaß. Auch W. de Gray birch widerspricht dieser
Ansicht, indem er (bei Hulme a. a. 0.) schreibt: "Nor can 1
dearly determine if there Is any change of hand. I rather
thinJc not." Wer sich selbst ein Urteil über diese Frage bil-
den will, vergleiche sorgfältig die beiden Proben von der
Hand des Schreibers A, welche Hargrove seiner Ausgabe
der altenglischen Soliloquien beigegeben hat: dort sind fol. 4*
i) Vgl. auch R. E. Zachhisson, A Contribution to the Study of
Anglo-Norman Influence on English Place-Names (Lund 1909) und Two
Tnstances of French Influence on English Place-Names (Lund 1914)-
2) A. Schmitt, Die Sprache der ae. Bearbeitung des Evangeliums
Nicodemi (1905) S. 128 f.
3) W. HüLME, Die Sprache der ae. Bearbeitung der Soliloquieu
Augustine 1894') S. 2.
i
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 29
und fol. 2g* in leider verkleinertem') und technisch wenig
gut geratenem Faksimile einander gegenübergestellt. Von
der Hand B ist ein Faksimile noch nicht veröäentlicht.
b) Schreiber der Handschrift II (fol. 96— -M i).
Beim Durchblättern der II. Handschrift ergibt sich als-
bald, daß auch hier wenigstens zwei verschiedene Hände zu
unterscheiden sind, die auf Blatt 177^ (= fol. 172^ der
ältesten Zählung) mit dem Schluß der dritten Zeile, also
mitten im Texte des Beowulf (v. 1939), wechseln. Hiervon
kann sich jeder überzeugen durch Betrachten des photogra-
jjhischen Faksimiles, welches Julius Zupitza 1882 von dem
den Beowulf-Text enthaltenden Teile, d. h. von zwei Dritteln
der Handschrift (fol. 134* — 203^) geliefert hat. Noch deut-
licher kommt der Unterschied der beiden Schreiber heraus
durch die GegenübersteUuug der beiden Seiten fol. 134^ und
200% welche Ferd. Holthausen seiner Ausgabe des Beo-
wulf-Epos am Schlüsse des ersten Bandes in allerdings ver-
kleinerter Reproduktion seit der 2. Auflage (1908) bei-
gegeben hat.
Der Gesamtcharakter der Schrift ist bei beiden deutlich
verschieden, obschon beide mit gleich senkrechter Haltung
der Feder schreiben und daher die Tiefstriche stumpf ab-
setzen. Der erste Schreiber — nennen wir ihn mit Rücksiebt
auf die angebundene Handschrift IC— weist eine verhält-
nismäßig schmale, dünne, aber sorgfaltige, wenn auch leicht
variierende Schrift auf; der zweite Schreiber dagegen — er
soll D heißen — eine recht breite, runde Schrift von weniger
sorgfältigem, aber ausgeschriebenem, gleichmäßigem und kräf-
tigem Duktus. Sie unterscheiden sich aber auch deutlich in
der Form einzelner Buchstaben, namentlich des insularen y.
i) Für paläographische Zwecke sind verkleinerte Faksimiles nur
mit großer Vorsicht zu verwerten. Man tue es nicht, ohne die Buch-
staben mit Hilfe einer Lupe auf die Originalgröße gebracht zu haben.
Darum müßte aber bei jedem verkleinerten Faksimile der Maßstab der
Verkleinerung möglichst genau angegeben werden.
30 Max Föustku: [r'i4
der Schreiber (^ hat stets die urspriinplirli nieroische Form
dos j mit kleiner otlener Bü«ifeiisclileifH, der Schreiher J) da-
gegen die in VVestsuehseii üldiche Form mit großem ge-
schlossenen Bogen. Vor allem neigt J) dazu, ältere Buchstahen-
forraeu zu bevor/ugen, die C überhaupt nicht mehr kennt
oder nur gelegentlich verwendet. So ist z. B. das aus der
Unziale stammende runde s bei D außerordentlich viel hiiu-
üger als bei C, wo es indes auch nicht ganz fehlt. ^) Das
hohe e mit über die Zeile hinausragender Ose, das um die
Wende des lo. Jahrhunderts ganz verschwindet, erscheint fast
noch auf jeder Seite bei D, während es bei C nicht mehr
anzutreffen ist. Gelegentlich erscheint bei D die alte Form
des y mit nach außen gebogenen Schenkeln und kurzem, ge-
krümmtem Abstrich, die bei C gänzlich fehlt. Am auffällig-
sten aber ist der Unterschied beim a: bei D herrscht fast
ausschließlich die aus drei Strichen bestehe.ude und darum
oft geradezu quadratisch aussehende Form, welche besonders
für die erste Hälfte des lo. Jahrhunderts charakteristisch ist,
während bei C nur noch die jüngere, fast pyramidenförmige
Gestalt erscheint, wie sie erst gegen den Schluß des lo. Jahr-
hunderts in England aufkommt. Es wird sich dieser Unter-
schied, wie schon Wolfgang Keller^) bemerkt hat, so er-
klären lassen, daß D in einer älteren Schule gelernt hatte.
Wir haben hier also wieder dieselbe Erscheinung wie bei
d'^m I. Manuskript (s. unter a), daß nämlich ein in älterer
Schreibtradition aufgewachsener Kopist einen Schreiber mit
modernerer Hand innerhalb desselben Manuskriptes ablöst.^)
Zu den paläographischen gesellen sich beträchtliche
sprachliche Unterschiede zwischen beiden Schreibern, die der
gründlichen Darstellung noch harren. Einiges findet sich bei
i) Er hat es z. B. in syddan Beow. 6, se 102, sid 202, sec^ 208,
seiest 256, secean 268, swa 273 u^w.
2) W. Keller, Angelsächsische Paläographie (Berlin 1906) S. 36.
3) Ein weiteres Beispiel hierfür nennt 0 Homburoef, Die Anfänge
der Malschule von Winchester im 10. Jahrhundert (Halle 191 2) S. 56.
Vgl. auch M. FöKSTKK, Vercelli-Codex (Halle 1913) S. 27 f.
7 1,4] Die Beowulf-Handschrift. 31
Ch. Davidson, The DifiPerences between the Scribes of the
Beowulf (in 'Modern Language Notes' 5 [1890], Sp. 85 — 89),
The Phonology of the Stressed Vowels in Beowulf (in 'Pub-
lications of the Modern Language Association of America'
7 [1892], 106 — 133) und bei P. G. Thomas, Notes on the
Language of Beowulf (in 'Modern Language Review' i [igo6],
202 — 207). Hauptsächlich handelt es sich, soweit der Beo-
wulf in Frage kommt, darum, daß der zweite Schreiber io
(statt eo) bevorzugt und nicht-westsächsische Formen, über
deren Ausdeutung hier nichts gesagt sein soll, noch zahl-
reicher bietet als der erste Schreiber.
. Es erhebt sich nun die weitere Frage, ob die beiden
Schreiber G und D sich in die ganze zweite Handschrift za
teilen haben, oder ob noch andere Hände neben ihnen ge-
arbeitet haben. Letzteres ist meiner Ansicht nach zu ver-
neinen. Schon Eduard Sievers wies 1872 in der 'Zeitschrift
für deutsches Altertum' 15, 457 darauf hin, daß der zweite
Schreiber des Beowulf auch die darauffolgende Judith-Dich-
tung, d. h. bis zu Ende des Manuskriptes geschrieben habe.
Seitdem wird allgemein, soweit mau solchen Dingen über-
haupt Beachtung schenkt, der ganze Schlußteil der Hand-
schrift, näml. fol. 177^ Zeile 4 bis fol. 211^, dem Schreiber i>
beigelegt.^) Und daran wird auch meiner Ansicht nach nicht
zu zweifeln sein. Wer sich von der Richtigkeit dieser Auf-
stellung überzeugen will, mag die gut gelungenen Probeseiten
aus der 'Judith' vergleichen, welche Albert Cook seinen
beiden Ausgaben dieses Gedichtes beigegeben hat (Boston
1888 und 1904): in der früheren von 1888 reproduzierte er
fol, 205** (^ Vers 55 — 69), in der späteren von 1904 fol. 209^
(= Vers 222 — 247).
Die Tatsache, daß der Schreiber D auch das Judith-
Gedicht geschrieben hat, ist von Bedeutung für die oben be-
rührte Frage, wie die sprachlichen Besonderheiten der beiden
I) Wanley (1705) nahm allerdings noch einen besonderen Schrei-
ber für die Judith an. Wenigstens gibt er für den Artikel Judith die
Sonderdatierung: ante conquaestum scriptum (Catalogus S. 219).
32 Max Föitsrint: [7". 4
Hände dos Beownlf zu deutm sind. Im licouiilf fällt es mi',
daß der erste Schreiber nur i i io gegenüber 786 eo hat,
während der /.weite 117 mal io und nur 482 mal et» gebraucht.
Man könnte daraus folgern, wie es HoknhuiU!, Die Kompo-
sition des Beowulf (Metz 1877) S. 30 wirklich getan hat, daß
jene ?o-Lautuugen den Spruchgewohnheiteu de?j Kopisten ent-
sprungen sind. Wenn mau dann aber sieht, daß derselbe
Schreiber in den 350 Versen der Judith kein einziges M.il
io gebraucht gegenüber 79 eo, während er vorher in den 1243
Versen seines Beowulf- Anteiles in jedem fünften Beispiel ein
io bringt, so wird man diese Folgerung ai)lehnen müssen. 1
Jene zahlreichen io im Schlußdrittel des Beowulf können
nicht vom Kopisten herrühren, sondern müssen schon iu
seiner Vorlage gestanden haben. Wenn sie weniger zahlreich
bei dem Schreiber C sich finden , so hat sich dieser weniger
eng an die Vorlage gehalten als D.
Die Vorliebe für nicht-westsächsische Lautformen, welche
wir gleichfalls beim zweiten Schreiber im Beowulf finden,
bewährt sich auch in der Judith: in dem kurzen Fragment
zeigen sich 29 nicht streng westsächsische Lautformen ^), so
daß in diesem Punkte Lautneigungen des Schreibers zum
Durchbruch gekommen sein könnten, ohne daß seine
Schreibvorlage Anlaß zu solchen Formen gab. Die Ausdeu-
tung dieser Formen begegnet neuerdings ungeahnten Schwierig-
keiten, seit SiEVEES' schallanalytische Untersuchungen die
früheren Auffassungen von den lautlichen Besonderheiten der
altenglischen Mundarten gänzlich erschüttert haben. Jene
«0- Formen, die man früher als Lauteigentümlichkeiten des
Kentischen auffaßte, haben sich Sievers jetzt als melodisch
I) Es handelt sich dabei um Formen , wie leion 'sie berührten'
10, sterced- 55. 227, -feorme 271, hehsta 4- 94, nehsta 73, hehd 'Zeichen'
174, necsan 63, eowdon 240, ^eme 112. 279, headu- 179- 212, beadu
175. 213, swtotol 177. 136, f'erh 41, wald 'Wald' 206, waldend 5- (»i-
alwalda «4, aldor 120. 348 (neben euldor 2x), haldor 9. 32. 49. 339,
die allerdings im 10. Jahrhundert auch in Westsächsischen vereinzelt
TOrkomnien.
71,4] Die Beowulf- Handschrift. 33
bedingte Parallelformen neben i und eo auch für das West-
sächsische ergeben.^) Und jene Formen mit scheinbar fehlen-
der Brechung, wie iraJdend, erweisen sich jetzt als auch für
das Süd englische mögliche Doppelformen nach UmlageruDg des
Druckes auf das zweite Glied des alten ea.^) Bevor man den
sprachlichen Eigentümlichkeiten der einzelnen Schreiber näher-
tritt, wird also eine schallanalytische Festlegung der ursprüng-
lichen Lautformen für die in Frage kommenden Texte los-
gelöst von ihrer zufälligen Schreib Überlieferung geliefert wer-
den müssen.
Wenn der zweite Beowulf Schreiber bis zum Schluß des
Manuskriptes gearbeitet hat, so ergibt sich die weitere Frage,
wieviel der erste geschrieben hat. Dieser Frage ist noch nie-
mand naheo-etreten. Vielmehr herrscht in der Wissenschaft
bisher die Annahme, daß er nur für die ersten 1939 Verse
des Beowulf verantwortlich sei und daß alles, was in dem
jetzigen Sammelbande Vitellius A. XV vorher stehe, von an-
deren Schreibern herrühre, ja überhaupt erst durch Zusammen-
binden mit dem Beowulf-Judith-Teile im 17. Jahrhundert ver-
eini<Tt sei. So sagt eine solche Autorität wie H. L. D. Ward
in seinem 'Catalogue of Romances in the British Museum'
Bd. 2 (1893) S. i: These two articles [d. i, Beowulf und Judith]
have hcen hound up (since the time of Sir Robert Cotton) with
other Anglo-Saxon ivorks, copied in the IV^ and 12^^ centuries.
Und noch deutlicher drückt dies iqo8 Aloys Brandl in
seiner 'Geschichte der Altenglischen Literatur' (Pauls Grund-
riß der germanischen Philologie ^11 946 § 4) so aus: "Erst
im 17. Jahrh. wurden sieben^) spätags. Werke damit zu-
i) Nach freundlicher mündlicher Mitteilung von E. Sievers. Da-
mit entfällt auch, vras ten Brink, Beowulf (Straßburg 1888) S. 240 über
die kentische Vorlage unserer Cotton-Handschrift vermutet hat.
2) E. SiEVKRs, Metrische Studien IT (Abhandl. d. Sachs. Gee. d.
Wiss. XXXV, 19 18) S. 103.
3) Die Zahl 'sieben' kommt nur heraus, wenn man alle vor dem
Beowulf stehenden Werke des ganzen Sammelbandes zählt. — Auch
Fr. Knappe sagt in seiner Au<?gabe der 'Wunder des Ostens' (Berlin
Phü.-higt. Klasse igig. Bd. LXXI. 4. 3
34 Max K('»ksti;u: l7Ji4
sinumengobuiiden." Aber dennoch ist diese Auftassnnpf vollief
unhaltbar. Wer die Schriftzüge der Bhittor von fol. gö* ab
sor<j:tTiltig betrachtet und vergleicht, <'rl<ennt alsbald, daß sie
iu nichts verschieden sind von der Hand des ersten Beowulf-
Kopisten, d. h., anders ausgedrückt, dali derselbe Schreiber C,
welcher die ersten zwei Drittel des Beowull" ko[)iert hat, auch
alle voraufgehenden aitenglischen Prosatexte der Handschrift
II, also die riiristophorns- Legende, die Paradoxographa und
den Alexanderbrief an Aristoteles mitabgeschrieben hat. Niclit
nur der allgemeine Eindruck der Schrift ist derselbe; sondern
es finden sich in den genannten Prosastücken auch bei den
Einzelbuchstaben alle die Eigentümlichkeiten, welche wir als
charakteristisch für den ersten Beowulf- Schreiber bezeichnen
dürfen: so vor allem die eigentümliche Form des insularen
j, der ausschließliche Gebrauch des niedrigen e (Kellkr,
Angelsächs. Paläographie, Berlin igo6, S. 37) und des spitzen
zweistrichigen a (Keller S. 35) sowie das Vorherrschen des
langen fränkischen s (Keller S. 3^) neben seltenem runden
unzialen s und gänzlichem Fehlen des insularen s. Dabei muß
zugestanden werden, daß die Schrift hie und da, wie z. B.
auf fol. 100'' und loi*, etwas fetter und kräftiger erscheint.
Aber ein solches leises Schwanken im Stärkegrad der Grund-
striche passiert dem Schreiber auch innerhalb des Beowulf-
Epos — man vergleiche nur die beiden ersten Seiten des
Beowulf (fol. 134* und 134^) miteinander — und ist jeden-
falls bei Gleichheit der Buchstabenformen kein Beweis gegen
die Identität des Schreibers, da die Schlankheit der Schrift
stark von dem Zustand des Schreibmaterials (Rauheit des
Pergaments und Stumpfheit der Feder) beeinflußt wird.
Da es auffallen muß, daß die Einheit der Schrift iu den
ersten zwei Dritteln der Handschrift II, also auf den Blättern
fol. 94* — i??**, den vielen bisherigen Benutzern entgangen
1906) S. 5 ausdrücklich von seinem in Wirklichkeit zur Handschrift 11
gehörenden Text, er sei "hier mit anderer spätags. Prosa an die Beo-
wulfhs. angeheftet".
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 35
sein sollte^), habe ich Photographien von 6 Seiten aus allen
drei Prosatexten unserer Handschrift dem erfahrenen Urteil
der Kollegen Felix Liebermann und Wolfgang Keller
unterbreitet: beide haben sich — ersterer in längeren Aus-
führungen — für die Einheit des Schreibers ausgesprochen.
Und damit der Leser selbst urteilen kann, habe ich dieser
Abhandlung photographische Faksiraileproben von zwei Seiten
dieser Texte beigegeben^), nämlich von fol. 96 "^ aus dem Chri-
stophorus und von fol. iio* aus der Epistula Alexandri, die
ich mit dem ZuPiTZAschen Faksimile des Beowulf zu ver-
gleichen bitte. Wenn meine Nachbildungen technisch nicht
ganz auf der Höhe stehen, muß es der Leser mit den Kriegs-
verhältnissen entschuldigen, die den Zutritt zur Originalhand-
schrift unmöglich machten und mich zur Nachbildung der
seit 19 13 in meinem Besitz befindlichen, leider überlichteten
Rotographien der Firma D. Macbeth nötigten. Unbrauchbar
für unsere Frage ist die schlechte lithographische Nach-
zeichnung; einer Seite unserer Handschrift aus dem Paradoxe-
graphen, welche sich in Wülkers Geschichte der Englischen
Literatur (Leipzig ^1906") I, 72 findet.
Wir werden im folgenden sehen, daß diese Gleichheit
der Schreiberhand auch für die Datierung und damit für die
literarhistorische Einreihung des Paradoxographen und des
Alexanderbriefes von weittragender Bedeutung ist.
In dem Gesamtkodex lassen sich also, wenn wir von den
späten Zutaten des 16. und 17. Jahrhunderts auf fol. 2* und
3* absehen, vier Schreiberhände unterscheiden, von denen je
1) E. Sievers teilt mir mit, daß er schon 1871 sich die Einheit
des Schreibers für die genannten vier Texte notiert hat.
2) Da es für unsere Zwecke auf die genaue Beibehaltung der
Buchstabengröße ankam und aus Sparsamkeitsrücksichten das Format
unserer Berichte nicht überschritten werden sollte, mußten die beiden
von uns reproduzierten Handschrittenseiten an allen Rändern etwas be-
schnitten werden. Vom Schriftspiegel fehlen daher auf meinen Faksimiles
auf fol. 96'' die beiden untersten Zeilen und am linken (äußeren) Seiten-
rande II mm, auf fol. iio* die unterste Zeile sowie auf dem rechten
(äußeren) Rande 6 mm.
3*
36 Max FöiiSTEu: f7i,4
zwei auf jede der beiiltMi ursprüntflich sclljsiiiudi^cn llund-
schiiften des Sanimelkodex koninioii. Dem ersten Schreiber
A, welclioi- nur die altenglischo Soliloquien Version geschrieben
hat, gehören die lililtter 4* — 59^ an; dem zweiten Schreiber
1>, der die drei folgenden Texte (Nicodemus, Salomon und
Saturn, Quintinus) geschrieben hat, die Blätter 61* — 94''. In
der zweiten Handschrift hat der Schreiber C von fol. 96** — 177*",
Zeile 3 eiuscliließlieh, geschrieben, d. li. die drei Texte Chri-
stophorus, Paradoxographen, Alexanderbrief sowie die ersten
193g Verse des Beowulf. Dem Schreiber D gehören fol. 177'',
Zeile 4, bis fol. 211^, d. h. die letzten 1243 Verse des Beo-
wulf sowie das ganze Fragment der Judith-Dichtung.
§ 4. Das Alter der Schreiberhände.
Wie schon oben bemerkt, lassen sich in dem Saramel-
kodex vier verschiedene Schreiberhände unterscheiden, von
denen die ersten beiden, Ä und B, der Handschrift I, die letz-
ten beiden, G und D, der Handschrift H angehören. Die Hände
Ä und B einerseits und die Hände C und D andererseits sind
ungefähr gleichzeitig.
Irgendwelche äußere Anhaltspunkte zur Datierung der bei-
den Handschriften stehen uns, ebenso wie beim Exeterbuch,
dem Vercelli-Kodex und dem Caedmon-Manuskript, leider nicht
zur Verfügung. Es sei denn, daß man darauf hinweisen will,
daß das Interesse für einen so spezifisch nordfranzösischen
Heiligen, wie den Quintinus — dessen Passio die erste Hand-
schrift ja bietet — in England kaum vorhanden gewesen sein
kann, bevor nicht das Einströmen französischer Geistlicher mit
dem beginnenden 11. Jahrhundert einen regen Austausch von
Kulturbeziehungen mit Frankreich angebahnt hatte. ^) Aber
dieser terminus post quem bietet doch nur einen geringen An-
i) Tatsächlich, erscheint das Fest des hl. Quintinus (31. Oktober),
von dem iElfric noch nichts weiß, erst um 1050 in den Kaiendarien
der Angelsachsen. Vgl. F. Piper, Die Kaiendarien und Martyrologien
der Angelsachsen (Berlin 1862) S. 8r.
71,4] Die Beowulf- Handschrift, 37
haltspunkt für die Datierung der ofFensiclitlich über hundert
Jahre jüngeren Soliloquien- Handschrift (I).
Wir sind daher für die Datierung der beiden Handschriften
ledio-lich auf den Eindruck angewiesen, den uns das Alter der
verschiedenen Schreiberhände macht. Aber da bewegen wir
uns auf einem sehr glatten Boden, da die Erforschung der
angelsächsischen Nationalschrift in der für uns in Betracht
kommenden Zeit') trotz der überaus dankenswerten Arbeiten
von E. M. Thompson^), Ludwig Traube^) und Wolfgang
Kelx,er*) weit davon entfernt ist, ein sicheres Urteil über die
feineren zeitlichen und lokalen Unterschiede zu ermöglichen.
Nur eine mehr oder weniger grobe Einreihung in die großen
Etappen der Schriftentwicklung ist uns möglich; diese ver-
mögen wir aber doch jetzt ziemlich klar zu erkennen.
In Irland hatte sich seit dem 7. Jahrhundert auf Grund
der römischen Unziale eine spitze Geschäftsschrift herausge-
bildet, welche durch die Vermittlung der nordenglischen Mis-
sion zu Anfang des 8. Jahrhunderts von den Angelsachsen
übernommen wurde und 'die eigentliche irisch-angelsächsische
Nationalschrift, jetzt meist 'Insulare' genannt, geworden ist.
Die angelsächsische Spitzschrift erfuhr um die Mitte des 10. Jahr-
hunderts eine Umbildung, dadurch daß sie unter den Einfluß
i) Dadurch, daß man seit ca. 950 in lateinischen Texten die frän-
kische Minuskel verwendet, ist das Vergleichsmaterial für die heimische
Insulare in der Zeit von 950 — 11 50 leider sehr beschränkt.
2) Außer früheren Arbeiten jetzt vor allem die prächtig mit Fak-
similes ausgestattete Introduction to Greek and Latin Palaeography
(Oxford 19 12).
3) Vor allem: Perrona Scottorum (Sitz.-Ber. bayr. Akad. d. Wiss.
1900, Heft IV).
4) Angelsächsische Paläographie (mit 13 Tafeln), Berlin 1906, und
in kurzer, aber reiferer Übersicht in Hoops' Reallexikon der Germa-
nischen Altertumskunde (Straßburg 191 1) I, 98 — 103. — Für die ältere
Zeit sind auch wichtig die in Deutschland leider schwer zugänglichen
Arbeiten von W. M. Lindsay, Early Irish Minuscle Script (Oxford 1910)
und Early Welsh Script (Oxford 191 2), beide in den St. Andrews Uni-
vereity Publications Nr. VI und X.
38 Max Fökstbk: [7', 4
dor breiteren, stumpferen und steileren karolingischen Minus-
kel*) geriet, welche mit der Cluniazenser Klosterreform nach
England kam und im Lauf des 10. Jalirliunderts in den latei-
nischen Texten die Alleinherrschaft gewann. Die von der frän-
kischen Minuskel beeiiillußto, s. g. 'reformierte' Insulare hielt
sich aber in den Werken der Volkssprache bis um die Mitte
des 12. Jahrhunderts. Nur erfuhr sie um die Mitte des 1 1. Jahr-
hunderts abermals eine leichte Umbildung durch den Einfluß
der mehr quadratischen, aus der römischen Kursive entstan-
denen französischen Kandeischrift, welche mit dem Vordringen
normannischer Kultureinflüsse nach England herüberkam und
um die Mitte des 12. Jahrhunderts die heimische Insulare end-
gültig verdrängt hat.
Versuchen wir nun unsere beiden Handschriften in diese
Entwicklung einzureihen, so ergibt sieb auf den ersten Blick,
daß beide die reformierte Insulare, wenn auch in verschiedenen
Entwicklungsstadien, aufweisen, und zwar, daß die erste Hand-
schrift ganz wesentlich jünger sein muß als die zweite. Be-
ginnen wir also mit der letzteren.
Die beiden Schreiber der IL Handschrift {C und D) be-
nutzen nicht mehr jenen alten spitzen und schmalen Typus
i) Die fränkische Minuskel selbst ist in England zwar vom heimi-
schen Brauche beeinflußt, hat aber dort keine organische Weiterentwick-
limg erfahren. Mit Recht erklärt dies W. Keller (S. 29) aus der „Eigen-
tümlichkeit jeder kolonialen Kultur: einer gewissen Konstanz". Wir
haben hier dieselbe Stillstandserscheinung vor uns, die wir auch in dem
archaischen Charakter des Englischen und Spanischen in Amerika, des
Niederländischen in der Kapkolouie und des Vulgärlateinischen in den
römischen Provinzen beobachten können. Ebenso gehört hierher die
interessante, von G.Wissowa (im Archiv für Religionswissenschaft 19, 28)
hervorgezogene Tatsache, daß Züge altrömischen Glaubens in den Denk-
mälern der Provinzen noch hervortreten, als sie in der lateinischen Lite-
ratur und der Staatsreligion bereits verschwunden waren. Auch daran
wird man in diesem Zusammenhange erinnern dürfen, daß die franzö-
sischen Lehnworte in England eine viel altertümlichere Aussprache be-
wahrt haben als auf dem heimischen französischen Boden: man denke
nur an ne. faith, chief, joy, fierce (nfrz. /i'er), case, haste, eourse, ort,
language, Fitz usw.
71,4] Die Beovvulf-Handschrift. 39
der Nationalschrift, wie er bis gegen 950 üblich war, sondern
eine etwas breitere und straffere Form mit steilerer Federhal-
tung, wie sie unter dem Einfluß der Benediktinerreform Mode
wurde. Anderseits weisen sie noch keinerlei Einflüsse der fran-
zösischen Kanzleischrift auf, die schon vor der normannischen
Eroberung in England sich fühlbar machte. Mithin sind sie
mit Sicherheit in die Zeit zwischen 950 und 1050 zu setzen.
Wenn wir innerhalb dieses Zeitraumes die Kriterien auf un-
sere Handschrift anwenden dürfen, welche W. Keller wesent-
lich auf Grund von südenglischen Urkunden^) gewonnen hat,
so läßt sich etwa folgendes sagen. Der allgemeine Eindruck
der Schrift der beiden Schreiber C und D zeigt weder jene
Korrektheit und Regelmäßigkeit noch jene feierliche Wucht, wie
sie im 1 1 . Jahrhundert üblich werden. Vielmehr haben wir hier
eine verhältnismäßig nachlässige und kunstlose Schrift vor uns
ohne jede kalligraphische Ornamentik und von jenem un-
ruhigen, zerfahrenen Charakter, wie er namentlich in der Süd-
hälfte Englands im 9. und 10. Jahrhundert herrschte. Die
Schäfte der Buchstaben sind meist schon verhältnismäßig lang,
wie dies namentlich für das 11. Jahrhundert charakteristisch
ist. Was die Form der einzelnen Buchstaben angeht, so wer-
den g, ff p, r, w von beiden Schrei bei'n nur in der alten insu-
laren Form angewandt. Ein insulares s dagegen begegnet nur
noch beim zweiten Schreiber, nicht mehr beim ersten; in der
i) Der Unterschied zwischen Urkundenschrift und Buchschrift, wie
er auf dem Kontinent herrscht, ist in England bis ins 13. Jh. nicht vor-
handen. Man wird daher, wie es W. Keller tut, die an den Urkunden
gemachten Beobachtungen im großen und ganzen auf die literarischen
Manuskripte übertragen dürfen. Indes ist es doch nicht ohne weiteres
sicher, daß Urkunden- und Buchschrift, namentlich in der zeitlichen Ent-
wicklung, völlig parallel gegangen sind. Es ist sehr wohl denkbar, daß
die feierlichere Urkundenschrift konservativer war als die private Form
der Geschäftsschrift, wie sie für volkssprachliche Aufzeichnungen verwen-
det wurde. — Soweit ganze Handschriften herangezogen sind, hat Keller
sie meist nur in Faksimiles einzelner Seiten benutzen können. Seine
Angaben über das Vorkommen und Fehlen einzelner Buchstabenformen
in solchen Manuskripten sind daher nur mit größter Vorsicht aufzunehmen.
40 Max Fökstkr: [7 '.4
Ilej^el »ijebrnucheu beide schon die hinge trünkische Form, doch
mit tiefer heruntergezogenem Grundstrich. Daneben vrrwenciou
beide, der zweite liäut'iger iils der erste'), noch das alte, aus
der Unziale übernomnioue runde s, dis besonders charakte-
ristisch für die zweiU' Hälfte des lo. Jalirliunderts zu sein
scheint. Beim d ist der schiefe Balken meist kürzer als beim
(), außerdem beim zweiten Schreiber noch schärfer zurückge-
boüren; nicht selten sind aber bei beiden Schreibern d und <),
abgesehen voll dem Querstrich, völlig gleick geformt, was nach
Keller (S. 34) „besonders am Schluß dea 10. und am An-
fansr des 1 1. Jahrhunderts" vorkommt. Das alte Ilunenzeicheu
ß findet sich bei beiden Schreibern auch noch im Inlaut ver-
wendet, wo es seit Mitte des 1 1. Jahrhunderts immermehr von
() verdrän.gt wird.') Mehrere um 960 absterbende Buchstaben-
formen, wie das t mit Punkt am Bogenende, das }> mit kurzem
Abstrich am Eude der Schleife und das i^-förmige y, finden
sich überhaupt nicht mehr in der Handschrift. Die ältere Fo)m
des y mit stark nach auswärts gebogenen oberen Schenkeln
und kurzem, nach links gekrümmtem Schaft, wie es „bis ca.
970 [?] sehr häufig" ist und dann abstirbt, begegnet noch ge-
legentlich beim zweiten Schreiber, nicht mehr bei C. In der
Regel verwenden beide schon das jüngere, geradlinige y der
fränkischen Minuskel, das gegen Ende des 10. Jahrhunderts
der herrschende Typ wird. Beide Formen des y erscheinen
in unserer Handschrift stets mit Punkt, wie es seit ca. 950
zumeist und im 11. Jahrhundert allein üblich ist. Für den
Vokal a kennt die Hand C ausschließlich die typisch insulare,
aus zwei Zügen bestehende, dreieckähnliche Gestalt, wie sie
schon in der älteren irischen Spitzschrift herrschte, die Hand
i) Kellkks Angabe auf S. 33 könnte so gedeutet werden, als ob daa
runde s sich nur beim zweiten Schreiber finde. Dies ist aber keines-
wegs der Fall. Siehe oben S. 30 Anm. i.
2) Es ist wohl zuviel gesagt, wenn Keller in Hoopa' Reallexikon I,
103 schreibt: „Das p wird nach 960 nicht mehr im Inlaut gesehrieben".
Die richtigere Darstellung findet eich in seiner 'Angelsächsichen Paläo-
graphie' S. 44.
71,4] Die Beowulf-ETandschkift. 41
D dagegen ausschließlich die jüngere, in drei Zügen geschrie-
bene, fast quadratische Form mit gebrochenem Bogen, die nach
Keller (S. 36) von 900 — 960 beliebt war. Bei beiden Formen
des a zeigt sich in unserer Handschrift gelegentlich die an-
scheinend erst seit dem Ende des 10. Jahrhunderts zu be-
obachtende Neigung, den senkrechten Stützbalken nicht in
einem scharfen Winkel, sondern in leichter Rundung mit dem
Bogen zu verbinden, eine Tendenz, die wohl unter dem Ein-
fluß der fränkischen Minuskel entstanden ist, wo allerdings
der Stützbalken beträchtlich über die Schleife hinausgeführt
wird, was in englischen Texten erst seit dem Eindringen der
frauzösischen Kanzleischrift üblich wird.M Von besonderer Be-
deutung für die Datierung scheint endlich eine eigenartige
Form des e zu sein, welche sich allerdings nur bei dem zwei-
ten Schreiber D, nicht bei C, findet, nämlich ein e, dessen
Schleife über die anderen Buchstaben emporragt. Ein solches
hohes c ist vom 9. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts sehr
beliebt; kein einziges Beispiel findet sich aber in den Ur-
kunden von 1000 — 1049, wenn auch in Buchhandschriften
des beginnenden 11. Jahrhunderts vereinzelte hohe e noch er-
scheinen.
Überschauen wir diese paläographischen Eigentümlich-
keiten in ihrer Gesamtheit, so ergibt sich kein ganz klares
Bild: Altes und Neues, Fortschrittliches und Archaisches scheint
sich in eigentümlicher Weise zu mischen, so daß wir den treff-
lichen Wanley (S. 218) verstehen, der nur die vorsichtige
Datierung „vor der Eroberung geschrieben'' wagen mochte.
Bei diesem Nebeneinander von alten und jungen Zügen werden
wir wohl am besten tun, an eine mittlere Periode innerhalb
unseres Zeitraums zu denken, nämlich an das Ende des 10.
oder auch den Anfang des 1 1 . Jahrhunderts. Keller freilich
will auf Grund des hohen e, das er in den Urkunden von
i) Eine abweichende Darstellung über die Formen des a im Beo-
wulf bietet W. Kkller, Angelsächsische Paläographie S. 36. Ich bin
aber nicht sicher, ob ich seine überknappe Ausdrucksweise hier wie an
anderen Orten richtig verstehe.
42 Max FöKSTEu: |7',4
looo — 1049 nicht iiielir fiiiul, die Jliiiulschiit't iu die „letzten
Dezennien des 10. Jabrliunderts" verleben. Dies mag sehr wohl
da8 nichtige trefl'eii. Da aber Buchhandschriften des 11. Jahr-
hunderts, wie Cleo})ntra C. Vlll und das Swi'Jun Fragment
aus Gloucester, und auch Urkunden von 104g und 1050 ge-
legentlich das hohe c aufweisen, seheint mir dies Kriterium
doch nicht so ganz zwingend. Auch die anderen Eigentüm-
lichkeiten scheinen mir die ersten Jahre des 11. Jahrhunderts
für die Beowulf-Handschrift nicht gänzlich auszuschließen. Bei
dieser Sachlage möchte ich davor warnen, wie es gewöhnlich
geschieht^), die Handschrift schlecliihin „in das ic. Jahrhun-
dert" zu versetzen, schon weil eine so allgemeine Angabe leicht
einer Überschätzung des Alters Vorschub leistet. Auch die
Datierung „aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts", wie
sie zuerst 1888 TEN Brink^) vertrat, scheint mir nicht eigent-
lich den Kern zu treffen. Dagegen ließe sich nicht allzuviel
einwenden, wenn man mit Keller^) von den „letzten Dezen-
i) So z. B. von Sh. Tukner, Hi.«torj of the Anglo-Saxons (1805)
III 169; H. Möller, Altenglisches Volksepos (Kiel 1883) S. 127; Th. Abnolü,
Notes on Beowulf (London 1Ö98) S. 3; Hevne-Socin-Scuücking, Beowulf
(Paderborn ^1898— "1918) y. 82 bzw. loi; Holthausen, Beowulf (Heidel-
berg '1905— '1913) II S. VII; A. Cook, Judith (Boston 1904) S. VUI;
P. Vogt, Beowulf (Halle 1905) S. 16; Chadwick in 'Cambridge History
of English Literature' (1907) I 22. Sicherlich falsch i.st die Datierung
aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts, wie sie unter Berufung auf den
bekannten Paläographen und Archivar Thomas Astle (1735 — 1803) sich
findet bei Thorkelin, De Danorum P^ebus gestis secul. UI & IV. Poema
Danicum dialecto Anglosaxonico (Kopenhagen 18 15) S. XVII und Cony-
BEARE, Illustrations of Anglo-Saxon Poetry (London 1826) S. 32, auch
bei WüLKER, Angelsächsische Litteratur (Leipzig 1885) S. 307. Merk-
würdigerweise sagen manche Beowulf-Herausgeber oder -Forscher, wie
Eehble, Gründtvig, Leo, Kölbing, Holder, Zupitza, Wyatt, Child und
Tbautmann, überhaupt nichts über das Alter der Handschrift.
2) TEN Brink, Beowulf (Straßburg 1888) S. 238. Ihm folgten L. Si-
mons, Beowulf (Gent 1S96) S. 92 und H. Gering, Beowulf (Heidelberg
1906) S. V. Ward, Catalogue of ßomancea (1883) sagt I 134: „Late X"*
Century",
3) Keller, Angelsächsische Paläographie (1906) S. 37.
71,4] Die Beo^vulf-Handsohrift. 43
nieii des 10. Jahrhunderts" oder mit Brandl^) von der „Zeit
gegen das Jahr 1000'' spricht. Am nächsten käme aber viel-
leicht der Wahrheit, und dies möchte ich darum empfehlen,
wenn man mit Ward^) die Handschrift rund um das Jahr 1000
entstanden sein ließe, wobei natürlich etwa je zwei Dezennien
vor- und nachher mit einzurechnen wären.
Einen Einwurf gilt ts noch zu entkräften. Die Hand
des zweiten Beowulf-Schreibers zeigt im ganzen Habitus eine
auffallende Ähnlichkeit mit dem ersten Schreiber der Blick-
ling-Homilien^), so daß beide wohl annähernd in dieselbe Zeit
gehören müssen. Diese Blickling-Handschrift pflegt man*) seit
dem ersten Herausgeber RiCH. Morris (S. III und VIII) in das
Jahr 971 zu versetzen, weil im Text der 9. Predigt (pag. 141
= Morris S. 117) folgendes Datum vorkommt: J)es middan-
geard nede on das eldo endian sceal, ])e nu andweard is; forßon
pfe ßara syndoti agangen on pisse eldo. ponne sceal ßes niiddan-
gcard endiati, ~J ßisse is ponne se m(üsta dcel agangen, efne nigon
Jiund wintra 7 • LXXI- on ßys geare. Indes kann dieses Datum
mechanisch vom Schreiber aus der Vorlage kopiert sein; und
es beweist die Stelle meines Erachtens nur, daß die Blickling-
Handschrift nicht vor dem Jahre 971 entstanden sein kann,
ohne ein wesentlich späteres Datum auszuschließen. Denn der
vorhergehende Hinweis auf das Ende der Vv'elt braucht sich
nicht auf das Jahr 1000 zu beziehen, sondern das eldo meint,
1) Bbandl, Geschichte der alteuglischeu Literatur (Strassburg 1908)
S. 990.
2) Ward, Catalogue of Romances (1893) II i: „abont Ä. D. 1000''.
[Vorher (1883) in Bd. I S. 134 hatte Ward als Datum gegeben: „Laie
X**" Century".] Die Datierung „about A. D. 1000'-' ist wiederholt in dem
offiziellen 'Guide to the Exhibited Manuscripts' Part II S. 40 von H. J.Bell
(1912), bei H. C. Shelley, The British Museum (London 191 1) S. 152
und in R. W. Chambers' Neubearbeitung von Wyatt's Beowulf-Ausgabe
(Cambridge 1914) S. IX. Beachtenswert ist, daß der handschriftener-
fahrene Benj. Thokpe (Beowulf, Oxford 1850, S. XI) sogar die allerdings
etwas reichlich späte Datierung „the first half of the eleventh Century"' wagte.
3) The Bückling Homilies, ed. R. Morris (London 1874 — 80).
4) So auch Keller, Angelsächsische Paläographie (1906) S. 38, 42.
44 ^' '^^ FöiisTKii: l7',4
wie diia t'ulgeiulo „von iloneii lünt' [Zeiialit'rJ vür>^uiigeii sind"*)
beweist, das <jfe«;enwiirtige lot/to der bekannten seclis niittel-
iiltevliehen Weltzeitalter, in die nnui seit l'rüliclirisLliclier''') Zeit
den Weltverlauf von Adam bis zum Jüngslen Gerichte einzu-
teilen pHegte: Sexta quac nunc agitur aetas nulla grnerolionnm
uel temponim serie cerfa cd, sed ut netas decrepita ipsa totius
saeciili morte. comtummanda est (Bkda, Temj). rat., cap. 66 u. ö.)
oder, wie es Abt iElfric') faßt: Sco sixte yld stcnt na frani Cri-
stes accnnednysse mid ungewisre geeudunge astreht od Antccrides
to-cyme (Horailies ed. Thorpe II 58). Mitbin brauchte selbst ein
nachdenklicher, nach 1000 schreibender Kopist an der obigen
Bückling Stelle keinen Anstoß genommen zu haben; und somit
entfällt jede Gewißheit, daß die Blickling-Homilien wirklich
noch im 10. Jahrhundert geschrieben sind, wenn auch eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spricht.
Die Datierung der Beowulf-Handschrift um das Jahr 1000
oder das i^^nde des 10. Jahrhunderts zieht nun auch beträcht-
liche literarhistorische Konsequenzen nach sich, wenn wir be-
denken, daß zu derselben Handschrift, wie wir oben S. 34 ge-
zeigt, auch noch die drei vor dem Beowulf stehenden Texte,
die Christophorus-Passion, der Brief Alexanders an Aristoteles
und die s. g. „Wunder des Ostens" (richtiger eine Paradoxo-
graphen-Version), gehören. Bisher nämlich pflegte man diese
Texte oder wenigstens die beiden letzten, den Alexanderbrief
und die Paradoxa, an das Ende der altenglischen Literatur-
i) Danach ist also Morris' falsche Erklärung: „/ive of the [fore-
tokens] have come to pass''' zu bessern.
2) Vgl. M. Förster in Shakespearo-Jahrbuch 50, 180.
3) Die Lehre von den sechs Weltzeitaltern finflen wir in der alt-
englischen Literatur in drei verschiedenen Fassungen, je nach dem zu
Grunde liegt a) die Augustin Bedasche Vulgata-Reihe (altenglisch bei
iElfric, Uom. II 58, bei Wulfstan, ed. Napier S. 311 und bei ByrhtferS,
Anglia VIII, 335); b) die Reihe des Nennius (altenglisch in Angl. XI, 6f,
und XI, 105 f.); c, die Reihe des Chronisten ^]j3elweard (altenglisch in
Angl.XI,4undi74; Thorpe, Analecta S. 112; Hyde-Reg. S.81 ; Angl. XI, 9).
Ich werde hierüber des Nähern handeln in meinen „Spätaltenglischea
Texten aus Vesp. D. XIV".
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 45
periode zu setzen. Man nannte sie „the last books, save the
'Worcester Annais', which were written in the literary lan-
guage of Wessex''^), sah in ihnen „die fortschrittlichste Er-
scheinung in der ganzen spätangelsächsischen Prosa"*) und
witterte darin bei-eits jene „weltliche Romantik des Morgen-
landes""), die dann mit der französischen Hofkultur in vollen
Zügen nach England einströmte. Man fand es natürlich, daß
unter der Dänenherrschaft keine „neue Literatur" in England
produziert wurde und daß erst das Vordringen normannischer
Kleriker nach der Insel unter König Edward dem Bekenner
frische Literaturimpulse herüberbrachte, zu denen die Latein-
texte gehörten, welche die Grundlage für unsere beiden alteng-
lischen Fassungen abgaben.^) So schön sich all diese histori-
schen Konstruktionen anhören, so unhaltbar sind sie angesichts
der chronologischen Tatsachen. Sie waren überhaupt nur mög-
lich unter der stillschweigenden Annahme, daß die Blätter
96 — 133, die jene drei Texte enthalten, eine selbständige Hand-
schrift bildeten, die mit dem Beowulf keinerlei Verbindung
gehabt hatte, bis sie Sir Robert Cotton damit zusammen
einbinden ließ, und die man deswegen auch beliebig spät ins
1 1. Jahrhundert^) datieren durfte. Diese Annahme verbietet
sich aber ebenso durch die Verteilung der Bogenlagen — erst
mit Blatt 136 setzt eine neue Lage ein — wie durch die oben
S. 34 betonte Tatsache, daß auf den in Frage kommenden Seiten
(Bl. göa — 133 b) ein und dieselbe Schreiberhand wie in der
i) Stopford A. Brooke, English Literature from the Beginning to
the Norman Conquest (London 1898) S. 293.
2) Brandt., Geschichte der altenglischen Literatur (1908) S. 1132.
3) So St. Bkooke in der Neubearbeitung von Chambers' Cyclopsedia
of English Literature, new edition by David Patrick (London 1903) I 29.
4) Diese Datierung des Handschriftenteiles bieten Wclker, Ge-
schichte der englischen Literatur (Leipzig 1896) I 73 und Knappe, Das
ags. Prosastück 'Die Wunder des Ostens' (Greifswalder Diss. 1906)
S. 8. — Die Entstehung der Texte verlegen in die „Mitte des 11. Jahr-
hunderts" WttLKEK, Grundriß der ags. Litteratur (1885) S. 505, und ähn-
lich Bbooke, Chambers' Cyclopsedia I 29 („the last fine English of the
times before the Conquest").
4f> ÄIax F<iusTKR: f7i,4
orsten HiUt'te des Beowull" 7,11 erkennen ist. Wie dieses Kpos
muß also auch der Christopliorus, der Alexanderhrief und der
Paradoxogniph in den letzten Dezennien des 10. J.ihrliuuderta
oder um das Jahr 1000 herum auf<^e/eichnet sein. Die Ent-
steliunf^szeit dieser Texte kann mithin nicht üher das Jahr 975
hinan fgerückt werden. Ja, wenn man die gerade bei dem Par.i-
doxo!2;rajiheu durch das Vorliegen der Lateinquelle und einer
zweiten liandschriftlielien Überlieferung leicht zu kontrollie-
rende Fehlerhaftigkeit der Überlieferung in Betraciit zieht, wird
man geneigt sein, eher noch etwas Weiter zurückzugehen und
die Entstehung der altenglis(;hen Version in das dritte Viertel
oder die Mitte des 10. Jahrhunderts zu verlegen. Den „Hauch
einer neuen Zeit, neue Gedanken, eine neue Lebensweise, eine
neue Phantasiewelt" H, den diese Texte atmen, haben wir also
schon dem Einfluß der Cluniazensischen Kloster- und Bildungs-
reform zuzuschreiben, die das Auge der englischen Mönche
auf diese spätgriechischen Stoffe in lateinischem Gewände lenkte.
Und hierin möchte ich das Hauptergebnis meiner Beschäfti-
gung mit dem Beowulf- Kodex sehen. Denn es verdient be-
sonders unterstrichen zu werden, daß die englische Literatur,
die fast zu allen Zeiten einen stärkeren Einfluß der Antike
zeigt als die deutsche, so früh schon Niederschläge spätgrie-
chischer Fabelei aufzuweisen vermach.
Und nun zur Datierung der ersten Handschrift (Fol. 4 — 94),
die die altenglische Soliloquien- Version, den Nicodemus, das
Gespräch zwischen Salomon und Saturn und die Qiiintinus-
Passion enthält. Dieselbe ist gleichfalls, wie wir gesehen haben,
von zwei Händen geschrieben, deren erste (Ä) die Soliloquien
(fol. 4a — 59b) kopierte, während der Rest vom zweiten Schrei-
ber (B) herrührte. Wie wir schon oben S. 24 sahen, sind beide
in der Federhaltung und auch in einzelnen ßuchstabenformen
deutlich voneinander verschieden, aber dennoch so ähnlich,
daß sie aus derselben Schreiberschule - vielleicht des Chor-
i) St. Beooke, English Literature (1898) S. 293.
71,4] Die Beowülf-Handschrift. 47
herrnstiftes St. Mary in Southwick (vgl. S. 54) — stammen wer-
den und jedenfalls in derselben Zeit geschrieben haben müssen.
Suchen wir ihren Schriftcharakter in die oben S. 3 7 f. ge-
gebene Skizze der altenglischen Schrift einzureihen, so ist ganz
klar, daß sie in die Entwicklung nach der normannischen Er-
oberung gehören. Sie weisen aber nicht etwa, wie es ja auch
vorkommt — z. B. bei dem wohl gleichaltrigen Cotton Ms.
Vespasianus D. XIV — , die breite, runde, regelmäßige fran-
zösische Kanzleischrift auf, sondern gehören noch zu dem Ty-
pus der schmaleren, spitzeren angelsächsischen Nationalschrift,
nur daß sie einen starken Einfluß der karolingischen Minuskel
und auch eine gewisse Einwirkung der französischen Kanzlei-
schrift verraten. Letztere sehe ich darin, daß die Schäfte nicht
mehr jene übermäßige Länge haben, wie sie charakteristisch
ist für das 11. Jahrhundert, sondern stark verkürzt erscheinen,
was der Schrift bei aller Neigung zur seitlichen Zusammeu-
pressung eine gewisse Gedrungenheit verleiht, die sich wesent-
lich abhebt von der Schmalheit der Nationalschrift des 9. und
10. Jahrhunderts. Der Einfluß der fränkischen Minuskel tut
sich kund in der fast ganz senkrechten Federhaltung^), die
die Grundstriche fett geraten läßt, sowie in der regelmäßigen^)
Verwendung der karolingischen Minuskelformen für /", s, a, e
und st. Bei r erscheint nur gelegentlich die fränkische Form; in
der Regel wird noch das insulare r, allerdings mit oft recht kur-
i) Und zwar hält der Schreiber von B die Feder noch senkrechter
als Ä. Vgl. S. 24. ^
2) Jedoch verwendet der Schreiber A nach Hulme S. 84 das insulare
Zeichen für f noch in pf i^ (Hargroves Soliloquien), hceß 7®,- arfcest
11", alyfad I6'^ hlaford 25'**, ^eZy/" 63"•^^ sowie das insulare s noch
vereinzelt in J5«s I^ swa 14^ und Celsus 41^- Diese insularen Formen
sind indes wahrscheinlich der Vorlage nachgemalt. Denn daß beiden
Schreibern A und B die insularen Buchstaben nicht mehr sehr geläufig
waren, zeigen ihre gelegentlichen Verwechslungen von s und f, r und n,
r und w;, w und p, w und /", wofür Hulme und A. Schmitt in ihren
Dissertationen S. 7 f. bzw. S. 4 die Belege bieten. Zudem ist Holmes
Angabe für lif falsch, wie Hargroves Faksimile lehrt; man wird also
auch die übrigen Beispiele an der Handschrift nachprüfen müssen.
48 Max Förster: [7 ',4
zem Schaft und sehr zusanimengoschrunijif'tem Haken gebraucht.
Ebenso findet sich nur gelegentlich') fränkisches ^/nobendcr insu-
laren Form, die stets die geschlossene Schleife der westsächsischeii
Schulsclirift hat. Dagegen ist die alte insulare Form noch über-
ul! vorwendet für w, ß und y. Bei ?/ haben wir sogar merkwür-
digerweise noch die alte, im 9. um! 10. Jahrhundert übliche
Form mit nach außen gebogenen Schenkeln und kurzem, leicht
nach links gekrümmtem Abstrich, und zwar scheint beim Schrei-
ber A ausschließlich diese Form vorzukommen. Beim insularen
p fällt auf, daß der obere Schaft oft bereits stark verkürzt
ist, so daß der Buchstabe sehr der w-Rune ähnelt. Auch haben
beide Schreiber im Gesamtduktus noch das Unruhige und
Unregelmäßige, wie es die ältere nationale Schrift namentlich
im Süden aufweist.
Nach dem Gesagten kommt für die Datieiung der Schrift
nur der Zeitraum von 1050 — 1150 in Betracht. Eine engere
Begrenzung der Eutstehungszeit ist nicht ganz leicht. Und in
der Tat finden wir recht schwankoule Antjaben bei den mo-
dernen Herausgebern. Wanley (S. 218), wie immer vorsichtig,
sagt nur ganz aUgemein: „litteris Normanno-Saxonicis, post con-
qucestum scriptum. Aber Walter de Gray Birch^) versetzt sie
merkwürdigerweise ins 10. Jahrhundert, indem er an Hulme
schreibt: „7 canH see any reason for placing tJie MS. in the 12^''
Cent. I shoiild he inclined to date the writing at l(ß^ cmt. —
n-d far from uElfrecTs Urne, say 930 — 950".^) Hulme selbst ver-
• i) Nämlich beim Schreiber Ä (nach Hulme S. 90) in fetige i*°, ger-
aum i^\ murge i ^^ jvfsge i ", car/an 2*, hytlinge 2', gerestan 2'", ge 2^*,
ongytan 2**, cEagan 45', god 63^', gelifan 66^^ Die Tatsache, daß die
Fälle für fränk'isches g fast alle auf dem ersten Blatte vorkf mmen,
ließe sich so deuten, daß das fränkische g ihm das geläufigere Zeichen
■war, daß er aber bald auf die insulare Form seiner Vorlage aufmerksam
wurde und nun stets dieses Zeichen zu schreiben sich bemühte.
2) Bei W. H. Hulme, Die Sprache der ae. Bearbeitung der Solilo-
quien Augustins (Freiburger Diss. 1894) S. 3.
3) Diese Datierung ist für einen ürkundenherausgeber, wie de
Gray Bihch, so erstaunlich falsch, daß ich annehmen möchte, daß sie
sich nicht auf unseren Teil des Kodex bezog, sondern auf die Hand-
7^,4] Die Beowulf-Handschrift. 49
setzt die Handschrift als er von der Nicoderaus- Version spricht^),
ins II. Jahrhundert: „a fine, large, clear hand of thc eleventh
Century", anläßlich seiner Arbeit über die Sprache der Solilo-
quien aber „in den Anfang des 12. oder höchstens in das Ende
des II. Jahrhunderts"^). Das 12. Jahrhundert ohne nähere Be-
grenzung geben als Entstehungszeit an Pauli ^), Wülker*),
Napier^), Morley^) und auch Schröer^).
Stehen uns nun Mittel zur Verfügung, die Frage zu ent-
scheiden? Ich glaube: ja. Zunächst können wir uns nach zeit-
lich genauer fixierbaren Handschriften umsehen, die denselben
Schriftcharakter aufweisen. Urkunden können dafür leider nicht
in Betracht kommen, weil diese damals ausschließlich in frän-
kischer Minuskel, und zwar in deren Fortentwicklunsr, der fran-
zösischen Kaiizleischrift, geschrieben wurden. Aber es gibt zwei
datierbare Manuskripte, die die größte Ähnlichkeit mit unseren
beiden Schreibern Ä und B aufweisen: das ist einmal der s. sr.
Textus Roffensis und zum andern die s. g. Peterborough-Chro-
nik. Der erstere Kodex, in dem zwei Gesetzessammlungen und
ein Chartular von Rochester zusammengebunden sind, ist in
seinen ältesten Teilen von einem Manne geschrieben, der die
Arbeit schon vor 1 1 24 begann — weil sein Bischof Ernulf
(1115 — 1124) nicht wie sein Vorvorgänger Gundulf (f 1108)
als verstorben bezeichnet wird — , andererseits aber noch eine
Urkunde vom Jahre 11 46 eintrug, mithin von ca. 11 20 — 1150
Bchrift II, für die sie allerdings auch noch zu früh wäre. Wenn
BiRCH a. a. 0. auch noch Ward als Gewährsmann fürs 10. Jahrhundert
zitiert, so übersieht er, daß Ward nur vom Beowulf und dem Alexander-
Brief, also Teilen der Handschrift II, spricht, für die das Datum ja zutrifft.
i) HuLME, The Old English Version of the Gospel of Nicodemus
(Publ. Alod. Lang. Assoc. of America, 1898, XIII 467).
2) HuLME, Sprache der ae. Bearbeitung der Soliloquien (1894) S. 3.
3) R. Pauli, König Aelfred (Berlin 1851) S. 239 u. 318 Anm. 2.
4) R. WüLKER, Grundriß zur Geschichte der angelsächs. Litteratur-
(Leipzig 1885) S. 416.
5) A Nafier, Academy, Bd. 37, Sp. 134.
6) H. MoRLEY, English Writers (London 1888) II 291.
7) A. ScHRÖER in HüLMEs Dissert. S. 3.
Phil.-hiBt. Klasse 191 9. B<i. LXXI. 4. 4
50 Max Föustkr: [7^,4
geschrieben haben mnß. Eine Probe dieser Schrift, nämlich
ein Falcsimile von fol. 44 a, haben wir betiueni zngänglich in
der Piihi'ocrraphical Society II (1894) Tafel 73 und daraus
wiederholt in der 'Arcliieolonria ('antiana' 1898 sowie (beschnit-
ten) in Thompsons Introduction to Greek and Latin Palaeo-
graphy (Oxford iqi2 . S. 473. Und dieses lehrt uns, daß die
Schreiber A und B unseres Vitellius-Kodex, trotz mancher
Abweichung im einzelnen, durchaus den Charakter dieser süd-
englischen Schrift von 11 20 — 11 50 aufweisen.
Diesem Ergebnis widerspricht nicht, was wir den Peter-
borougher Anualen (Ms. Land Mise. 636) entnehmen können.
Die erste Hand (fol. la— 8ib) dieses Kodex, welche die Er-
eignisse bis zum Jahre 1121 (einschließlich) eingetragen und
sicherlich um diese Zeit gearbeitet hat'), sowie die mit den
Ereignissen wohl gleichzeitigen Fortsetzer^) von 1126 — 1131
stehen dem Schrifttypus der beiden Vitellius-Schreiber sehr
nahe, haben jedoch im Gesamtduktus und in den Buchstaben-
formen stärker den alten insularen Charakter bewahrt. Da-
gegen hebt sich der Annalist^), welcher die Ereignisse von
II 32 — 1154 eingetragen hat, und zwar erst nach Heinrichs H.
Thronbesteigung (1154), durch seine ausgeprägt französische
Kanzleischrift so stark von unseren Vitellius-Kopisten ab, daß
wir letztere früher anzusetzen bestrebt sein werden.^)
Einen zweiten Anhaltspunkt für die Datierung könnte
vielleicht der Sprachstand abgeben, den wir aus den Disser-
tationen von W. H. HuLME, Die Sprache der altenglischen
Bearbeitung der Soliloquien Augustins (Freiburg 1894) und
Aug. Schmitt, Die Sprache der altenglischen Bearbeitung des
i) Siehe das lithographierte Faksimile von fol. la bei Thobpe,
The Anglo-Saxon Chronicle (London 1861) I, Tafel V.
2) Vgl. bei W. Keller, Angelsächsische Paläographie (Berlin 1906)
Tafel XII das treffliche Faksimile von fol. 88 b, wo die beiden letzten
Schreiber miteinander wechseln.
3) Da sie nicht französische Kanzleischrift schreiben, können Ä
und B aach keine Normannen gewesen sein, wie man etwa mit Rück-
sicht auf ihre zahlreichen Schreibfehler vermuten könnte.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 51
Evangeliums Nicodemi (München 1905) tiberschauen können.
Aus diesen Materialsammlungen ergibt sich, daß der Schreiber
Ä und um vieles mehr noch der Schreiber B eine verhält-
nismäßig archaische Sprachform aufweisen, verglichen mit dem,
was wir sonst über das Englische der ersten Hälfte des 1 2. Jahr-
hunderts wissen, z. B. aus den Peterborougher Annalen^) und
selbst den konservativeren Texten"'') von Vespasianus D. XIV.
Aber dieser altertümliche Zustand der Sprache^) erklärt sich
sehr einfach daraus, daß beide Schreiber Vorlagen des 1 1 . Jahr-
hunderts kopierten und diese im allgemeinen genau wieder-
zugeben bemüht waren. Aber dennoch bricht bei beiden hier
und da die fortgeschrittene Lautung ihrer eigenen Aussprache
hindurch. Namentlich ist das bei dem ersten Schreiber der
Fall, der schon die im Anfang des 12. Jahrhunderts in Süd-
england beginnende Verdumpfung von ae. ä zu me. 0 graphisch
zum Ausdruck bringt und bereits mehrmals me. a für ae. ce
hat (s. die Beispiele oben S. 25). Das mittelenglische Ver-
stummen des flexivischen -n haben wir bei Ä in den Infini-
tiven lufia iQ^**, forlete 13^ und in den Partizipien ^esewe 'ge-
i) Vgl. 0. Behm, The Language of the Later Part of the Peter-
borough Chronicle (Gotenbnrg 1884) und Heink. Meyer, Zur Sprache
der jüngeren Teile der Chronik von Peterborough (Jena 1889).
2) Vgl. K. Glaeser, Lautlehre der iElfi-icschen Homilien in der
Handschrift Cotton Vespasianus D. XIV (Leipzig 19 16); Straub, Laut-
lehre der jungen Nicodemns- Version in Vesp. D. XIV (Würzburg 1908);
Vance, Der spätangelsächsiscbe Sermo in Pestis S. Mariae (Jena 1894);
M. Förster, Two Notes on Old English Dialogue Literature (im Furni-
vall Miscellany, Oxford 1901, S. 93 — loi); J. Nehab, Der altenglische Cato
(Berlin 1879) S. 32 — 41. — Man vergleiche auch die wenig jüngeren
Abschriften in Harleian 6258 (Peri didaxeon ed. Löwenkck, Erlangen
1896; Herbarium Apuleii ed. Berberich, Heidelberg 1902, und dazu
M. Förster, Ltbl. 13, 285 — 29 1; Medicina de Quadrupedibus ed. J. Dkl-
coüRT, Heidelberg 1914) sowie die englische Glosse des Canterbury-
Psaltera (vgl. Hein, Die Sprache der altenglischen Glosse zu Eadwine'a
Canterbury Psalter, Würzburg 1903).
3) Ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem zwischen 1120 — 1150
geschriebenen Textus Roffensis ; vgl. W. Göbnemann, Zur Sprache des
Textus Roffensis (Berlin 1901).
4*
52 Max Föhstbu: [71, 4
■eben' 44'*, hejyte ^erlangt' 2^'' und lesceape 'geschaffen' 63*^;
beim Schreiber 7>* in den Infinitiven hydda 489" und speca
481*^, den n-Pluralen -y^oda 483*, Jicofclica [so!] 505", wyte-^a
481^' und schwachen Singuhirformen eorl)a (D.) 473®, lychama
{A) 493^', nama (D.) 487^-, onhani^ena (D.) 487**, sylfa (D.)
513*^, deuua (A.) 473^ ßstra (D.) 497", wiöerwinna {A)
501^^ und in den Präterital-Pluralen andswarode (3x), cüöe
475*, eof/e 495^'■*^ iefaieno-^,de [so!] 491**, wy.sYe 485"^ sceolde
499'*, sollte 483^, 7<oWc 483'-^^. Und daß der Schreiber B auch
da das End -n nicht sprach, wo er es schrieb, beweisen seine
falschen singuLarischen Präterital- Formen^) auf -on für rich-
tiges -e: ähen^on (2. s. g. opt. praet.) Mu erhängtest' 507^*, lia-
fodon 'er hatte' 489^, 495^-^®, sceoldon 'er sollte' 499^, sceolden
'ich sollte' 515^^, specon 'du sprachst' 503^°, weron 'er wäre'
475^^, 489^', leto-^on für ^etu-^e 50 r'', sowie die schwachen Sin-
gular-Nominative auf falsches -an statt -a, wie hereto^an 499'*,
natnan 481^*, yldestan 4872'' und heofonlican 507 '^ Die volleren
Schwachton- Vokale sind wohl durchweg bei beiden Schreibern
schon zu -e- reduziert, wenn daneben auch ebenso oft noch
die alten -a und -0- in der Schrift beibehalten sind: Reduk-
tion zeigen bei A die as- Plurale deorlin^es 65^^, hläfordes 61^^
und läötewes [so!] 45'* sowie die Infinitive forläten 2^^, je-
healden 4^, ^ehäten ^2^^, ^etecen 2^^, reden 50^, secjen 49^°; bei
B die Plural-Dative preosten 483^°, öissen 'diesen' 481^^ und
die indikativischen Präterital- Plurale^) ahen-^en 487^, cUöen
477^^, dypoden 497^^ i^eheolden 509*, nolden 501^^, s^rfm 479*^
sceolden 497^^, 505^ T^esomnoden 485^ wolden 513^*, weolden
'wollten' 495^^ Umgekehrt^) hat £ falsches -ow oder -«w,
-aw und selbst -aw für -en in den Partizipien leboronne
477^^5 fundon 491^", T,especon 495^^, ä^ojow 499^, öurhfaron
491^, lewordon (7X', Schmitt S. 116) und -^eweordun 'gewor-
den' 487^^ Die Diphthong-Entwicklung vor Palatalen bringt
i) Solche Formen scheinen bei A nicht vorzukommen.
2) 485 *^ wo HüLME mosten druckt, liest die Handschrift aber moston.
3) Auch diese umgekehrten Schreibungen scheinen bei A nicht
vorzukommen.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 53
der Schreiber Ä bereits graphisch zum Ausdruck in seije 'sage'
(Imp.) 14^^ bei;^ra 'beider' 25^^, smei^an 'erforschen' 53^°, wei^
'Weg' (8x), meihte 'mochte' i^-' und gereihte 'erklärt' 66^1 Alles
dies sind fortschrittliche Lauterscheinungen, die, wenn sie ver-
einzelt auch schon etwas früher vorkommen mögen, in ihrer
Gesamtheit und Häufigkeit doch klar aufs 12. Jahrhundert
verweisen. Auch vom sprachlichen Standpunkte läßt sich also
nichts einwenden gegen unsere paläographische Datierung der
Handschrift I auf das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts.
Nach dem Vorstehenden kann weder vom chronologischen
noch von sprachlichen Gesichtspunkten Einspruch erhoben
werden gegen die Annahme, daß unser Manuskript I in dem
1133 gegründeten Chorherrnstift St. Mary zu South wick in Hamp-
shire geschrieben ist, wo es sich nachweislich um 1300 befand.
§ 5. Herkunft der Haudschriftenteile.
Über die Herkunft des Kodex ist wenig zu sagen. Die
Handschrift I trägt eine Notiz, die uns den Aufenthaltsort
derselben um 1300 verrät. Auf dem unteren Seitenrand von
fol. 5* hat nämlich ein Schreiber des beginnenden 14. Jahr-
hunderts folgenden Eigentumsvermerk ^) gesetzt:
1) Vgl. den ähnlichen Eigentumsvermerk mit Warnung in einem
Amalarius- Kodex des 11. .Jahrhunderts im Trinity College, Cambridge:
Hunc librum dat Leofricus episcopus ecclesie sancti Petri apostoli in
Ex(^onia ad se}dem suam episcopalem pro remedio anime sue ad utili-
tntem successorum su<^orum; si quisy autem illum inde abstulerit, per-
petue maledictioni subiaceat. Fiat. — £)as boc gif{^dy Leofric b. into
Kce Petres minstre on Exanceastre, pcer his biscopstöl is, his afterfilgen-
dum to nitweord^nysse; and gif hig hwa ut-eetbrede, hcebbe he ece geni&e-
runge mid eallum deoflum. Amen (M. R. James, The Western Manuscripts
in the Library of Trinity College, Cambridge, I Nr. 241); oder in einer
Handschrift der Ancren Riwle (C. C. C. Cambr. S. 15) bei Wanley S. 14Q:
Liber ecclesice sancti lacobi de Wigemore, cpiem Johannes Purcel dedit
eidem ecclesitB ad instanciam fratris Walteri de Lodelle senioris tunc
precentoris. Si quis dictum librum alienaverit a prcedicta ecclesia uel
titulum hunc malitiose deleuerit, anathema Sit. Amen. Fiat, fiat, fiat.
Amen; oder in einem Oxforder Kodex (Wamley S. 152): Liber s. Marie
54 Max Förstkk: [71, 4
Hie liber est Eccle»ie beate Marie de Suwika. Quem qui ab eadein
abstulerit, vel iitulum istum dolose delruorit, nie/ eidem Ecchaiecotid::::^)
satisfcccrit, sit Anathema, Maravatha, fiat, fiat. Amen, Amen.
Das obige Suwika ist offenbar eine latinisierte anglo-
normaunischo Nebenform^) für ae. Siidw'ic, ne. Southwick.
de Ponte Boberti; qui eutn abstulerit aut vendiderit vel quoUbet modo
ab hac dotno alienavcrit vel quamlibet eiu.t partem abfciderit , sit Ana-
tliema, Maranatha. Amen. Englische Schulknabon pflegen noch heut-
zutage solche im Internats-Milieu nicht unnützlichen Vermerke in ihre
Bücher einzutragen, wie z.B. "Note carefuVy: Black is the crow, blacker
is the rook, But blackest is the boy who bags tJiis book; For when I am
dead, my ghost tvill say, Where is that book you took aivay." Vgl. die
ähnlichen Warnungen bei Wattenbach, Schriftwesen des Mittelalters
(» 1896) s. 527-534.
i) Der zweite Teil des Wortes ist mit Glaspapier überklebt. Die
Handschrift las vermutlich condigne Vollwertig'. Cockayne, der obigen
Eigentumsvermerk in seinem 'Shrine' (1864 — 69) S. 164 abgedruckt hat,
läßt merkwürdigerweise das Wort ganz weg, wie er auch fälschlich
Euertoika statt Smvika druckt. — Da das einzige in einer öfiFentlichen
deutschen Bibliothek vorhandene Exemplar des sehr seltenen '^Shrine'
sich in Straßburg befindet und nun vielleicht in französische Hände
übergehen wird, will ich bemerken, daß Wülkers Exemplar sich in
meinem Besitz befindet.
2) Das ae. ]>, ff ist häutig in anglo-normannischem Munde ver-
stummt (R. E. Zachrisson, A Cohtribution to the Study of Anglo-Norman
Influence on English Place-Names, Lund 1909, S. 82 — 114). So erscheint
unser obiges Southwick in Hampshire in Urkunden des 12. uud 13. Jhs.
als Suwice, Sutvick (Zachrisson S. 84). Ein davon verschiedenes South-
wick [sprich sa-dfik] in Sussex wird in der Testa de Neville' (E. 13.
Jh.) mehrmals als Suwyk geschrieben (R. G. Robert.s , Place-Names of
Sussex, Cambridge 1914, S. 147). Ebenso haben wir für Southwark in
Urkunden des 12. und 13. Jhs. des öfteren Suwerk (Zachrisson S. 84),
für Southwell in Urkunden des 13. und 14. Jhs. Suivell (Zachrisson
S. 84; H. Mutschmann, Place-Names of Nottinghamshire, Cambridge
1913, S. 126), für Southampton um 1175 die Form Suliantune (J. B.
Johnston, The Place-Names of England and Wales, London 19 15, S.
451), für Southoe im 'Red Book of the Exchequer' die Form Suho
(W. Skkat, Place-Names of Huntingdonshire in 'Proceedings of the
Cambridge Antiquarian Society' I904,"X 329). Ähnlich fehlt das th in
anglo-normannischen Nebenformen für Namen mit ae. »wm^, hyp, hdep,
rip, wrcep, wippe u. a. m. Mutschmann S. 126 hat den Verlust des th
71,4] Die Beowulf-Handscilript. 55
Gemeint ist jedenfalls damit, wie schon Cockayne S. 204 er-
kannte, das Augustiner- Chorherrnstift St. Mary zu Southwick
in Hampshire, welches 11 33 von dem nahen, ebenfalls zur Diö-
zese Winchester gehörenden Porchester hierher transferiert
war. Aus demselben Kloster stammt eine andere Cottonische
.Handschrift, das leider fast ganz verbrannte Ms. Otho B.
XI, welches u. a. die altenglischen Annalen und die Gesetze
iELFREDs und Ines enthielt und um 1025 geschrieben sein
mochte. Dies macht es wahrscheinlich, daß beide Hand-
schriften zusammen direkt aus dem Kloster bald nach seiner
Säkularisation in die Sammlung Sir Robert Cottons ge-
kommen sind.
Aus dem obigen Eigentumsvermerk ergibt sich also, daß
die Soliloquien- Handschrift um die Wende des 13. Jahr-
hunderts in dem Hampshire-Kloster Southwick gewesen ist
Ob sie dort auch entstanden ist, läßt sich nicht mit Sicher-
heit sagen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht immer-
hin dafür, daß damals bei dem geringeren Verkehrsaustausch
eine Handschrift 150 Jahre nach ihrer Entstehung noch an
dem Ort ihres Ursprungs geblieben ist. Jedenfalls stehen
weder chronologische noch sprachliche Schwierigkeiten dem
entgegen, daß wirklich die Handschrift I, welche also die
Soliloquien, den Nicodemus, Salomon und Saturn sowie das
Quintinus- Fragment enthält, etwa um 1133 — 1150 in dem
Augustiner-Kanonikat zu Southwick^) geschrieben ist.
als lautgesetzlichen Vorgang vor w gedeutet und mit dem gelegent-
lichen sou'-wester (NED) in Parallele gesetzt. Aber einmal tritt der
Ausfall von p auch vor anderen Konsonanten (Hörn § 201 ; Jesperskn,
Gr. I 227) auf; und vor allem scheint Zachrissons überreiches Orts-
namen-Material doch zu beweisen, daß es sich bei Suivik um eine anglo-
normannische Aussprache handelt. Wie Zacheisson gut auseinander-
setzt,, besaß das Normannische eine Spirans J5, df für lat. t, d; und als
diese seit ca. iioo in romanischen Wörtern verstummte, wurde diese
Aussprache von den Anglo - Normannen vielfach auch aufs Englische
übertragen.
1) Vergleiche über diese Priorei W. Dugdalb, Monasticon Angli-
canum (i 846) VI S. 243 ff. ; Th. Tannek, Notitia Monastica (Oxford 1695) S. 79.
5<J Max Föusteii: [7', 4
Über die II. Handschrift, die außer anderen den Beowulf und
die Judith euthiilt, läßt sich nur sagen, daß sie in Sliakespeares
Kindertagen sich im Besitz des rühmliclist bekannten Anti-
quars und angelsächsischen Philologen Lawuknce Nowkll*)
(ca. 1520 — 157t)) befunden hat. Denn sie enthält auf dem
oberen Rande der ersten Seite, der heutigen fol. 96 •, den in
einer Hand des 16. Jahrlmnderts gemachten Vermerk: "Lau-
rencc NoucM a. 1563"^), der wahrscheinlich vom P]igentümer
selbst herrührt. Die Jahreszahl bezeichnet vermutlich das
Datum, wann die Handschrift in Nowells Besitz gelangte.
Damals war NowELL, der in Whalley in Lancashire geboren
und an der Lateinschule von Sutton Coldfield in Warwick
(seit 1546) Lehrer gewesen war, Archidiakon von Derby (seit
1558) und zugleich Dechant von Lichfield (seit 1563). Sein
Interesse für das Altenglische zeigt sich nicht nur darin, daß
er das erste angelsächsische Wörterbuch^) verfaßte und mehr-
fach angelsächsische Texte kopierte^), sondern auch darin,
daß er seinen Schüler und Freund William Lambarde
(1536 — 1601) zu einer Ausgabe der angelsächsischen Gesetze
anregte, die 1568 in London erschien. Bald nach seinem Tode
(1576) ist das meiste von seinem handschriftlichen Nachlaßt)
und damit wohl auch das Beowulf-Manuskript in die Samm-
lung Sir Robert CottoiJs gelangt. Es ist sonach nicht das
kleinste von Nowells Verdiensten um die altenglischen
Studien, daß wir seinem antiquarischen Eifer die Erhaltung
i) Vgl. über ihn William Hunt im Dictionary of National Bio-
graphy »XIV, 69 5 f.
2) Heute ist die letzte Zahl 3 mit Glaspapier überklebt, jedoch
ist das ganze Datum daneben auf den Papierrahmen von Waenkrs
Hand mit Bleistift als "1563" wiederholt.
3) Aus Will. Lambakdes (f 1601), Somners (f 1669) und J. Seldens
(f 1654) Besitz gelangte dasselbe in die Bodleiana, wo es die Signa-
tur 'Seiden supra 63' (Wanlev S. 102) trägt. Ebendort findet sich auch
Fr. JuNius' Abschrift daraus (Jüniüs Ms. 26).
4) Vgl. seine Abschriften oder Notizen in den Cotton Mss. Vesp.
A. V, Vitell. D. VII und Domit. A. XVIII.
5) S. die vorhergehende Anmerkung.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 57
der kostbarsten Handschrift und des wertvollsten Denkmales
der altenglischen Literatur zu verdanken haben.
Woher Nowell die Handschrift erhalten hat, läßt sich
nicht sagen. Wenn wir den wahrscheinlichsten Fall andeuten
sollen, so wäre es wohl der, daß er die Handschrift aus
irgendeinem der kurz vorher aufgelösten Klöster seiner näheren
Umgebung, also sagen wir etwa der Diözee Lichfield erhalten
hat, die damals einen beträchtlichen Teil des ehemaligen
Mercien umschloß. Da aber Nowell mit Will. Lambarde
eng befreundet war, der aus Kent stammte, dort begütert
war und später Archivar am Tower wurde, mag die Hand-
schrift auch aus Südengland stammen.
Aus dem sprachlichen Charakter der Beowulf-Handschrift,
der im wesentlichen die jüngere westsächsische Schulortho-
graphie mit einigen anscheinend dialektischen Beimischungen
aufweist — also dieselbe uneinheitliche Sprachform ^) , die
wir auch im Vercelli- Kodex sowie in den im Marienkloster
zu Worcester geschriebenen Handschriften finden — , wird
man bei dem jetzigen .Zustande der altenglischen Dialekt-
forschung^) wenig für die Herkunftsfrage folgern können, zu-
mal man nicht weiß, wie weit nach Norden um 1000 die
westsächsische Schulorthographie vorgedrungen war. Erst
eine gründliche Schallanaljse der Texte wird uns Licht über
diese Fragen bringen und dann wahrscheinlich doch auch die
Entstehung der Handschrift H nach Südengland verlegen.
§ 6. Die Geschichte des Kodex.
Wie wir im vorigen Paragraphen sahen, besteht der
Vitellius- Kodex aus zwei Handschriften, deren erste, gegen
i) Vgl. M. Förster, Vercelli - Codex (1913) S. 32ff.; H. Ddnkhase,
Die Sprache der Wulfstanschen Homilien in Wulfgeats Handschriften
(Jena 1906); J. Weightman, The Language and Dialect of the later
Old English Poetry (Liverpool 1907). Zur Fra^e der epischen Dialekt-
mischung vgl. A. Leskien, Über Dialektmischung in der serbischen
Volkspoesie (Sitz.-Her. Sachs. Ges. d. Wiss. 62, 129—160, Leipzig 1910).
2) Vgl. oben S. 32 f.
5^ Max Föksteu: [7I.4
die Mitte des i^. -lalirhuiiderts geschrieben, aus einem süd-
euglischeii Kloster, wahrscheinlich St. Mary in Sonthwick
(Hampshire), stannnt, während die zweite, in den letzten De-
zennien des lo. Jahrhunderts geschrieben, aus dem Besitze
des Lichfielder Geistlichen und Gelehrten Lawrence Noweli.
(t 157^) herrührte.
Im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts finden wir beide
Handschriften zu einem Bande vereinigt in der Bibliothek
des berühmten Altertumssammlers Sir Uohert Cotton (1571
bis 1631), der seit 1588 Material für eine Geschichte Eng-
lands gesammelt und mit Hilfe seines Lehrers William
Camden (f 1623) und Henry Spelmans (f 1641) an die looo
Handschriften und Urkunden zusammengebracht hatte. Wann
und auf welchem Wege die beiden Handschriften in den Jie-
sitz Sir Robert Cottons gekommen sind, ist uicht mehr
auszumachen.
Einmal in die Bibliothek Sir Robert Cottons gelangt,
hat der Kodex die Schicksale der Cottonischen Büchersamm-
lung bis auf den heutigen Tag geteilt. Von Ende des 16.
oder Anfang des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 17 12 be-
fand er sich in Sir Roberts Stadthaus an der Themse in
Westminster — da, wo heute das Parlamentsgebäude steht.
Dort in dem Bücherschrank untergebracht, auf dem die Büste
des römischen Kaisers Vitellius stand, erhielt er seine noch
heute gültige Bibliotheksbezeichnung Vitellius A. XV, die
angibt, daß er in der obersten Reihe des Vitellius- Schranks
an 15. Stelle steht. Der Ruhm der Privat-Bibliothek im Cot-
ton House, die von Sir Robert an seinen Sohn und seinen
Enkel, Sir Thomas Cotton (f 1662) und Sir John Cotton
(j 1702), überging, verbreitete sich so schnell, daß bald hei-
mische und auswärtige Gelehrte um die Benutzung derselben
nachsuchten. So hat auch der bekannte Philologe Franciscus
JuNlUS (1589 — 1677) während seines Aufenthaltes in Eng-
land (1621 — 1651) imseren Kodex dort benutzt') und zwei
i) Nicht dafür in Betracht kommen die Jahre 1629 bis ca. 1632,
während welcher Zeit die Bibliothek aus politischen Gründen seibat
71,4) Die Beowulf-Handschhift. 59
Texte, die Soliloquien-Version (jetzt in Oxford als Ms, Juu.
70) sowie das Judith-Epos (jetzt Jun. 105), daraus abge-
schrieben und einen dritten, das Nicodemus-Evangelium, mit
seiner Abschrift der älteren Cambridger Handschrift kolla-
tioniert. Durch JuNius' Kopien gelangte das erste Denkmal
aus unserem Kodex an die ÖflFentlichkeit, nämlich die damals
für Prosa gehaltene Judith, welche Thwaites 1698 in seinem
*Heptateuchus' abdi-uckte.') Zwei Jahre vorher war die Welt
über den Inhalt der Cottonischen Handschriften durch den
ersten gedruckten Katalog derselben von Thomas Smith (1696),
wenn auch nur oberflächlich, orientiert worden. Über den
angelsächsischen Bestandteil der Sammlung, 89 Handschriften
und 42 Urkunden, erhielt man bald darauf wesentlich ausführ-
lichere Kunde durch Wanleys bekannten Catalogus (1705)-
Hier erfuhr man zuerst, daß unser Vitellius-Kodex auch zwei
Dichtungen enthielt, nämlich die beiden Epen über Beowulf
und Judith. Damit war die Existenz des größten altgerma-
nischen Volksepos entdeckt, wenn es auch noch über 100
Jahre dauern sollte, bis die gelehrte Welt den Text selbst
vorgelegt erhielt.
Inzwischen hatte im Jahre 1700 der dritte Besitzer der
Bibliothek, Sir John Cotton, den Schritt getan, der die
dem Eigentümer gegenüber von Staats wegen versiegelt war. Es muß
allerdings auch damit gerechnet werden, daß Juniüs erst während
seines zweiten englischen Aufenthaltes (1674 — 77), also kurz vor seinem
Tode, jene Abschriften und Kollationen hergestellt hat. Auch wann
JüKius die Cotton-Handschrift des Heliand abgeschrieben hat, läßt sich
nicht genau sagen. Dagegen hat er sicher die s. g. Csedmon-Dichtungen
während seines ersten englischen Aufenthaltes abgeschrieben, da seine
Ausgabe derselben schon 1655 im Druck erschien. — Vgl. über Jumua
W. Wboth in Dictionary of National Biography *X iiisf«
i) Edward Thwaites druckte das Gedicht wie Prosa im Anhang
zu seinem 'Heptateuchus, Liber Job, et Evangelium Nicodemi; Anglo-
Saxonice. Historise Judith Fragmentum; Dano-Saxonice' (Oxford 1698),
App. S. 21 — 26. Über seine Vorlage bemerkt Thwaites App. S. 32:
... magnum illud linguae Änglo-Saxonicae oraculum Franciscus Junius.
Cuius etiam cura et labore illud fragmentum historiae Judith ex Biblio-
theca Cottoniana descriptum fuit.
6o Max Vöustkii: [7^4
Cottonische Privatbibliothck 7,11111 Natinnaleigontnin machte.
Freilich währte es noch ein hall)es .hihrhnndert, bis die
Bibliothek tatsächlich eine öifentlich /,U}^ängliehe wurde, /u-
näehst beließ man die Rücher im ('otton Mouee, obschon
dieses dafür schon 170O für ungeeignet erklärt war und 1707
(hirch Parlanientsbeschluß ein Neubau (hifür geplant wurde.
SchlieBlieh sah man sich dureh die Raufillligkeit des Cotton-
schen Hauses genötigt, die Bibliothek im Essex Houee im
Strand, unterzubringen, wo sie von 1712— 1730 verblieb.
Von hier gelangte sie 1730 zusammen mit der Königlichen
Bibliothek in das für diesen Zweck erworbene Ashburnham
House in Little Dean's Yard in Westminster. Hier erlebte
sie in der Nacht zum 2^. Oktober 1731 jene furchtbare
Feuersbrunst, welche 1 14 von den 958 Handschriften völlig
zerstörte und q8 mehr oder weniger stark beschädigte^), wie
in einem eigenen Parlamentsberichte ^) dem englischen Volke
dargelegt wurde. Unser Vitellius- Kodex gehörte glücklicher-
weise zu den geretteten: er wurde nicht vom Feuer direkt
ergrifiFen, jedoch wurden die Ränder der Blätter, wohl infolge
der Brandhitze, stark versengt, so daß sie brüchig wurden und
tatsächlich, namentlich in der zweiten Hälfte des Kodex, bis
hart an den Schriftspiegel und manchmal in diesen hinein
völlig abgebröckelt sind.
Was dem Feuer entging, wurde in der nahen West-
minster-Schule untergebracht, wo die Bibliothek 27 Jahre
i) Zu den teilweise verbrannten altenglischen Handschriften ge-
hören z. B. JClfreds Cura Pastoralis in Tib. B. XI, ^I^lfreds ßoethius in
Otho A. VI, die Homiliensammlung mit dem Runenlied in Otho ß. X,
die Beda -Version und die ae. Annalen in Otho B. XI, das ws. Ponti-
fikal Vit. A. VII, die ürkundensammlung Vit. E. Y und die ae. Gebete
in Galba A. XIV. Gänzlich verbrannt sind Otho A. X (ae. Gesetze),
Otho A. XVI (Tripartita), Otho A. XII (ByrhtnoS) und Galba A. XIX
(^Ifred's Sprüche).
2) Report to the House of Commons by a Committee appointed to
enquire into the losa, which the Cottonian Library sustained through
the fire at Westminster on the 23"* of October, 1731 (Folio) [in Deutsch-
land unzugänglich].
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 6i
lang verblieb. Erst 1759, nachdem die Gründung eines öffent-
lichen Museums durch Parlamentsakte von 1753 beschlossen
war fand sie Unterkunft in dem dafür ausersehenen Montagu
House in Bloomsbury, welches in den Jahren 1823 — 1855
durch die jetzigen Gebäude des Britischen Museums er-
setzt ist.
Die durch den Brand von 1731 beschädigten Hand-
schriften wurden sofort, wesentlich auf Betreiben^) des be-
kannten Parlamentariers Arthur Onslow (1691 — 1768), einer
fürsorglichen Ausbesserung unterzogen. Etwas Nachhaltiges
in dieser Hinsicht wurde aber erst in den 40 er, 50 er und
60er Jahren des 19. Jahrhunderts unter der Leitung des
trefflichen Paläographen Sir Frederic Madden (1801 — 1873)
getan, dem die Handschriftenabteilung des Britischen Museums
seit 1837 unterstand. Damals — wohl zwischen 1860 und
1870 (vgl. oben S. 11) — ist auch unser Beowulf-Kodex end-
gültig vor weiterer Zerstörung geschützt worden, dadurch,
daß die einzelnen Blätter in einen Papierrahmen mittels
Glaspapier eingesetzt wurden. Gleichzeitig ist eine Umord-
nung der falsch stehenden Blätter und Lagen vorgenommen
und der ganze Kodex in einen neuen Einband gesetzt.^)
Die Benutzung der Handschrift setzte, wie schon be-
merkt (S. 58), im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts mit
Franciscus Junius ein, dessen Abschriften daraus 1698 von
Thwaites verwertet wurden. Das damals für das Angelsäch-
sische erregte Interesse führte noch zur Veröffentlichung
einer Inhaltsangabe des Kodex in Wanleys Katalog (1705).
Dann ruhte die Handschrift fast ein Jahrhundert lang un-
i) So nach H. C. Shelley, The British Museum (London 191 1)
S. 49 f. Über Onslow vergleiche G. F. R. Bakker im Dict. of Nat. Bio-
graphy *XIV 11 10 ff.
2) Als E. Sievers 1871 die Handschrift kollationierte, war das
Einsetzen der Pergamentblätter in den Papierrahmen schon vorge-
nommen. R. W. Chambers (Beowulf, 19 14, S. X Anm. 2) sagt darüber:
More than thirty [richtiger fourty'] years ago, further destruction was
prevented by the 31S. being rebotmd, and the parchment inset.
62 Max F(>iistkk: f7i,4
beai'litet, du die fniiizöselnde Ilofkultur der Aufkläiun<^s7,('it
keinen Autoil an der lieimischen V^er^an^eiiheit niilini. Dies
wurde erst anders mit den immer stärker werdenden Htrö-
munjreu der Romuntik, die aber j^enide in Eii<;land, im Unter-
schied zu Deutschland uml Skandinavien, nicht all/u stark
den Blick auf das Mittelalter lenkte. Dalier war es auch
nicht ein en«;li8cher, sondern ein skandinavischer Gelehrter,
der Isländer (ikim .Iohnson Thokkklin (f iH2q), der zuerst
wieder die Handschrift in die Hand nahm: während seines
Aufenthaltes in England ließ er 1787 das von ihm für ein
dänisches Denkmal gehaltene Beowulf-Epos in Faksimile
nachzeichnen und nahm selbst eine Abschrift des Textes, um
dessen Herausgabe vorzubereiten.*) Die bereits fertiggestellte
Ausgabe wurde aber 1807 bei der ruchlosen Beschießung
Kopenhagens durch die Engländer ein liaub der Flammen,
so daß Thorkelin erst 181 5 mit seiner abermals neu aus-
gearbeiteten Ausgabe an die Öffentlichkeit treten konnte. Be-
vor diese erste Beowulf- Ausgabe erschien, hatte bereits 1805
der englische Historiker Sharon Turner in seiner History
of the Änglo- Saxons (Bd. IH) eine kurze Inhaltsangabe des
Gedichtes geboten, und zwar auf Grund eigener Einsichtnahme
in das Manuskript, die er 181 8 zum Zwecke verbesserter und
vermehrter Mitteilungen in der 3. Auf läge seines Werkes wieder-
holte.^) So gebührt Turner das Verdienst, der erste gewesen
i) Von beiden Abschriften findet sich je eine Seite in verkleiner-
tem Faksimile bei Wyatt-Chambebs , Beowulf (Cambridge 191 4) als S.
XV und XVin mitgeteilt.
2) TuRKKR selbst sagt darüber (III 173, Anm. i, Ausg. 1840): "The
poem had remained untnuched and unnoticed hoth here and abroad un-
til I observed its curious contents, and in 1805 announced it to the pub-
lic. I could then give it only a hasty perusal, and from the MS. hav-
ing a leaf interposed near its comviencement , which belonged to a sub-
sequent pari, and from the peculiar obscurity which sometimes attends
the Saxon poetry, 1 did not at that time sufficienüy comprehend it, and
had not leisure to apply a closer attention. But in the year 1818 I took
it up again, as I was prepairing my third edition, and then made that
more correct anaJysis uhich Jcas inserted in that and tfic suhsequent edi-
tions, and which is also exhibited in the present."
71, 4l Die Bkowulf-Handschrift. 63
zu sein, der nähere Kunde über den Inhalt des Beowulf ver-
öffentlichte und auch Versproben daraus in neuenglischer
Übersetzung mitgeteilt hat.
An Thoekelins Ausgabe knüpfte lange Zeit die weitere
Verwertung des Vitellius-Kodex an: ihr Text wurde mit der
Handschrift kollationiert zunächst von dem Oxforder Pro-
fessor John Conybeare (f 1824), dessen Ergebnis erst nach
seinem Tode in dem vom Bruder herausgegebenen Sammel-
bande Illustrations of Anglo-Saxon Poetry (1826) S. 137— ^55
mitgeteilt wurde. Dann folgten 1829 der dänische Geistliche
und Dichter N. F. S.Grundtvig^) (1783— 1872) und 1830 der
englische Philologe Benjamin Thorpe^) (1782 — 1870), welche
beide ihre Kollationen zu neuen Sonderausgaben verwandten,
die allerdings erst 1855 (Thorpe) und 1861 (Grundtvig)
erschienen. Thorpe, der sofort nach seiner Rückkehr aus
Kopenhagen, wo er unter R. C. Rask Germanistik studiert
hatte, sich an den Beowulf gemacht hatte, wird wohl damals
i) Siehe Gkundtvig, Eeowulfes Beorh (Kopenhagen 1861) S. XVII,
wo angegeben ist, daß Grundtvig die Beowulfhandschrift "zuerst 1829
in den Händen hatte". Während seiner drei Englandreisen (1829—31)
hat Gbdndtvig dann aber "zu wiederholten Malen Gelegenheit gehabt,
die alte Pergamenthandschrift einzusehen" (ebenda S. XXII). Von diesen
Reisen brachte er auch Abschriften mit von iELFRics Abgarbrief aus
Julius E. VII, von der ae. Veronica-Legende aus Cambr. ü. L. li. 2. 11,
Ton einer Fastenhomilie aus Faustina A. IX und von den ae. Cato-
sprüchen nach allen drei Handschriften. Diese Abschriften übergab er
seinem Schüler, dem Geistlichen Lüdw. Christian Müller (1806 — 51),
der sie 1835 in seiner angelsächsischen Chrestomathie Collectanea Anglo-
Saxonica (Kopenhagen 1835) zum Abdruck brachte (s. dort S. IV ff.). —
Vgl. über Grundtvig Herzogs Protestantische Realenzyklopädie ^VIH,
206—217 und Fr. Nielsen in Dansk Biografisk Lexikon (Kopenhagen
1891) V, 231—247.
2) B. Thorpe, Beowulf (1855) S. VII: immediately on my arrival
in England in 1830, I carefully collated the text of Thorkelin's edition
with the Cottonian manuscript. Wenn Wülkeb (Grundriß S. 255) und
wohl im Anschluß an ihn R. W. Chambers (Beowulf, 19 14, S. XI) von
einer "Abschrift" des Beowulf durch Thoepe sprechen, so weiß ich nicht»
worauf sich diese Angabe gründet.
64 ^'ax F(")kstkk: (71,4
tiiu'h dtui Text (los (liirauftoli^iMultMi .Imlitli - I']j)os *) mit
Thwaitks' Ausgabe kollutioniert und jenes l'rosngospräch ')
zwischen Salonion und Saturn abj^esoliriebeu haben, das er
zuerst 1834 iu seiner an;^elsü('lisise,hen Anthologie heraus-
gegeben hat. Wenig später, wahrscheinlich 1832, wird der
junge John M. Kkmhle (1807 — 57), der in Deutschland unter
Massmann, Schmkllku und Jakoh Guimm seine pliilologiache
Schulung erhalten, das Manuskript für seine lieowulf Ausgabe
benutzt haben, die als erste englische 1833 im üruck er-
schien. Ob er den Text neu kopiert oder nur kollationiert
hat, erfahren wir nicht, wie ja überhaupt bei fast allen Edi-
tionen Kkjibles über den Abhängigkeitsverhältnissen ein ge-
heimnisvolles Dunkel schwebt, sofern wir nicht nachweisen
können, daß Kemule, wie öfters der Fall, einfach den Text
seiner Vorgänger übernommen hat.')
Der romantische Eifer der 20er und 30er Jahre ver-
blaßte, und so durfte unser Kodex wieder ein Menschenalter
unbehelligt ruhen. Erst um 1860 trat der Londoner Philo-
loge Thomas Osw. Cockayne (1807— 1873) wieder an die
Handschrift heran und veröffentlichte daraus die bis dahin
unbekannten Wunder des Ostens sowie den Alexanderbrief
(1861) und die altenglische Soliloquien-Version (1868—69)
Mit den 70er Jahren setzte eine starke WeUe positi-
vistischen Verlangens nach genauester Tatsachenkenntnis in
der deutscheu Wissenschaft ein; und so erfolgten in diesem
Jahrzehnt eine ganze Reihe von Kollationen der Textabdrücke
i) Beide Texte gedruckt in Thorpes Analecta Anglo-Saxonica
(London 1834). Über die Judith-Kollation vgl. dort S. VIII.
2) So beruht z. B. Kembles Andreas (1843) ganz und gar auf
Gbimms Text (1840); 8. Andreas ed. Kkapp S. XIX Anm. 2. Auch
Kembles Abdruck des Prosagespräches zwischen Salouion und Saturn
(1848) ist trotz aller stillschweigenden sin-achlichen Änderungen aus
Thorpes Analecta (1834) übernommen. — Der Beowulf-Text der Aus-
gaben von ScHAi.DEMosE (1847), Grein (1857) uud Heyne (1863) beruhte
ganz auf Kkmble (2. Ausg. 1835), wenn Heyne auch von der 4. Auflage
(1879) ab die KöLsiNGSche Kollation heranzog.
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 65
aus unserer Handschrift durch deutsche Philologen: der Beo-
wulf wurde 187 i von E. Sievers ^), 1875 von E. Kölbing^),
noch vor 1875 von Zupitza^) und Wülker^J, 1876 von
A. Holder*) und endlich 1878 zum zweiten Male vonWüL-
ker') verglichen. Gleichzeitig wurden von Sievers ^) (1871)
und Wülker^) das Judith-Epos, von Holder (1876) der
Alexanderbrief und die Wunder des Ostens^) sowie von
Wülker (1878?) ebenfalls der Alexanderbrief '') kollationiert.
Bei der literargeschich fliehen Bedeutung des Beowulf-
Epos und den Abweichungen der verschiedenen Herausgeber
über die handschriftlichen Lesungen machte sich immer mehr
das Bedürfnis geltend, eine mechanische Reproduktion des
handschriftlichen Textes zu besitzen; und so leitete der Vor-
stand der Early English Text Society noch am Ende der
70 er Jahre auf W. Skeats Anregung eine solche in die
Wege: 1879 wurde der Beowulf-Teil des Manuskriptes von
der Londoner Firma C. PraetoriüS photographiert; August
und September 1880 verglich der als Herausgeber gewählte
Berliner Professor Julius Zupitza die Lichtdrucktafeln und
im September 1882 seine dem Faksimile beigegebene Um-
schrift mit dem Manuskript; und so konnte das Ganze im
Herbst 1882 als 77. Band der Original Series der Early
English Text Society erscheinen. Damit war ein für allemal
die Grundlage für das handschriftliche Studium des Beowulf-
Textes geschaffen.
i) Laut Zeitschrift für deutsches Altertum (1872) XV, 461. Die
Ergebnisse dieser Beowulf-Kollation sind nicht veröffentlicht.
2) Mitgeteilt im Archiv für neuere Sprachen (1876) LVI, 91 — 118.
3) So nach Kölbing, Archiv für neuere Sprachen LVI, 118 und
WüLKEK, Angelsächsische Literatur (1883) S. 256 A. 5. — Wülkee ver-
wendete seine Kollationen bei der Neuherausgabe der Bibliothek der
angelsächsischen Poesie in Bd. I* (1881) und Bd. 11'' (1894).
4) Danach Holders Handschriffcenabdruck 1882.
5) Mitgeteilt in der Zeitschr. f. d. Altert. (1872) XV, 461 f.
6) Mitgeteilt in Anglia I (1872) S. 507—512 und 331—337-
7) Verwertet von W. M. Baskervill bei seinem Textabdruck in
Anglia IV (1881) S. 139—167.
PhiL-hist Klasse 1919. Bd. LXXI. 4. 5
Oö Mat Foustfr: l7'i4
Seitdem konnte sicli tlns luterrsBo an dor llancl8<'hiift
nur auf <li»' lieigalten erstrei'ken.' i Das Judith- EpoH, das
leider nicht in das Faksimih' niitaut'genominen war, lioß sieh
in dou 8oer Jahren der amerikanische Prote.ssor AiiiucuT
Cook für seine Sonderausgabe (1888) ])hot()grai)hioren. IJio
bisher unbeachteten l''iagniente über Quintinus und über
ChristophoruB kopierte im Mai 1888 der Berliner l^rivat-
gelehrte Hkkzfkld zur Veröffentlichung in den fc^nglischen
Studien 1^X111, 145 ff). Im Jahre 1893 kollationierte VI. P]inknkkl
auf meine Anregung den HKKZFELDschen Abdruck des Chri-
stophorus^) und der Amerikaner W. U. Hulmk den ('ockaynk-
schen Text der Soliloquien^), den er auch später noch, zu-
letzt 1901, mehrmals mit der Handschrift verglich. In den
()oer Jahren schrieb derselbe Hulme die Nicodemus-Fassung
unseres Kodex ab und bot 1898 einen recht fehlerreichen
Abdruck danach in den Publications of the Modern Language
Association of America, Bd. XIII, 473 — 515. Ein junger Ber-
liner Doktorand, Fritz Knappe, kollationierte im Sommer
1904 noch einmal die Wunder des. Ostens, die er danach in
seiner Greifswalder Dissertation 1906 druckte. Ich selbst
habe 191 3 den Nicodemus mit Hulmes Text verglichen und
an der Handschrift das Material zu vorstehenden Ausfüh-
rungen gesammelt.
5? 7. Der luhalt des Kodex.
Der Inhalt der Gesamthandschrift ist schon früh im 17.
Jahrhundert von dem Bibliothekar Sir Robert Cottons, dem
gelehrten Richard James (1592— 1638), aufgezeichnet wor-
i) Doch haben seitdem den Beowulf-Teil noch W. J. Sedokfield
(Manchester 1910, *i9i3) und R. W. Chambkbs (Cambridge 1914, S.
XXXV) für ihre Beownlf-Ausgaben verglichen.
2) Er druckte danach den Text neu in Anglia XVII (1895) §•
112 — 122.
3) Hulme druckte danach die Soliloquien in den Engl. Stud. XVIII
(1893) 3^2—356. Habgkoves Neuauegabe (1902) beruht auf den späteren
Kollationen Hui>MEfi.
71,4] Die Beowülf-Handschrift. 67
den und noch heute auf fol. 2* der Handschrift zu lesen.
Daß es sich hier wirklich um die Sclu'ift des Richard Jamks
handelt, erhellt aus einem Vergleich mit den von Jame8
hinterlassenen eigenhändigen Briefen, wie sich solche z. B.
im Harleian Ms. 7002 fol. 118*— 126* (5 Briefe) und Julius
C. in. fol. 212* — 219* (5 Briefe) vorfinden. Da James die
Bibliothekarstelle bei den Cottons um 1625 antrat, muß
diese früheste Inhaltsangabe etwa in die Jahre 1625 — 1638
faUen. Sie lautet folgendermaßen (fol. 2*):
Elenchus contentorum in hoc codice.
1. Flores soliloqaiorum Augustini Saxonicö .-Elfredo interprete vt ap-
paret ex pag. 56. ')
2. Summa expensarun; et militum quibus vsus est Edwardus 3 in ex-
pugnatione Caleti . in secundä facie primae pag.
3. Fragmeutum Saxonicum quod forte continet aliquam partem hieto-
riae sive legend» Thomae Aposfoli. pag. prima, habitur ibi mentio
de bocland. et cotagijs. *)
4. Dialogi de Chr/.sto et chr/sdanitate vbi interloquntur Pilatus et alij
sicut melius ?isum est Legendario. Sax.
5. Dialogus inter Saturnnm et Salomonem. Saxon.
[eine spätere Hand fügt hinzu: cum Legendis Soncti Chnstoferi.]
6. Defloratio siue translatio Epistolarum Alexandra ad Aristotelem cum
picturia prodigiosorum. Saxonicö.
[Hier sind vier Zeilen freigelassen.']
8. Fragmentum Saxon. de luditha et Holofemo.
Diese Inhaltsaugabe beweist uns, daß die beiden ur-
sprünglich getrennten Handschriften schoii im zweiten oder
dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, und zwar in derselben
Reihenfolge wie heute, zu einem Kodex vereinigt waren.
Beachtenswert an dieser Inhaltsangabe ist, daß für das
an 7. Stelle zu erwähnende Beowulf-Epos der Bibliothekar
vier Zeilen freigelassen, aber nichts eingetragen hat: offenbar
i) Bezieht sich auf den Schlußsatz der Soliloquien {Heer endiad
ßa cicidas, ße uElfred kininy alces of ßcere bec, ße we hatad on ::::::::),
welcher tatsächlich auf fol. 56 (ältester Zählung) steht. Mithin hat
Jamhs diese älteste Foliierung bereits vorgefunden.
2) Worauf eich dieser Eintrag Nr. 3 beziehen soll, ist mir uner-
findlich. Es dürfte ein Versehen James' vorliegen.
5*
68 Max F<>K8rKK: f/'. •
wußte er mit diesem Werke nielits iii)'/,\ifaugeii und stand
ilim völlig ratlos gegenüber. Im iil)rigen ist die Inhaltsimgaho
nicht schlecht, wenn auch das ganz kurze Quiutiiius-Fnig-
nient übersehen ist und die l'aradoxographeii -Version ("Wua-
derdes Orients") offenbar mit (Umu ähnliche Dinge behan-
delnden Alexander -Brief zusammengeworfen ist.
Die nächste Inhaltsangabe linden wir in dem ersten ge-
druckten Katalog (i6q6) der Cottonischen Handschriften-
Bammlung von dem gelehrten Oxforder Theologen Thomas
Smith') (1Ö38 — 17 10), der nach seiner Eidverweigerung
gegenüber dem neuen oranischen Königtum im Hause des
Sir John Cotton, des Enkels des großen Sammlers, Unter-
schlupf fand und dort für etwa 1 2 Jahre die Verwaltung der
Cottonischen Bibliothek innehatte. Da dieser Gelehrte als
Orientalist kein Angelsächsisch verstand, blieb ihm für die
altenglischen Handschriften nichts anderes übrig, als die
jAMESschen Inhaltsangaben mit einigen stilistischen Ände-
rungen und Kürzungen abzuschreiben. Seine Inhaltsangabe
unserer Handschrift bedeutet daher, zumal die Auslassung
des Beowulf-Epos in keiner Weise angedeutet ist, gegenüber
James einen Rückschritt. Wir lesen nämlich im "Catalogus
Librorum Manuscriptorum Bibliothecai Cottonianse . . . scriptore
Thoma Smitho, ecclesisB Anglicanae presbytero" (Oxonii, e
Theatro Sheldoniano MDCXCVI) auf S. 83 folgendermaßen:
1. Flores Soliloquiotum S. Augustini: Saxonice, ex versione Regi«
^Ifredi.
2. Fragmentum Saxonicum , continens partem historia' S. Thorate
Apostoli.
3. Dialogi de Christo «t ejus religione inter Pilatum, Gamalielem, Jo-
sephum, Judaeosque, Saxonice.
4. Dialogus inter Satumum & Salomonen!, Saxonice.
5. Translatio epistolarum Alexandri ad Aristotelem, cum pictnris de
monstrosis animalibus Indise, Saxonice.
6. Fragmentum de Juditha & Holopherne, Saxonice.
Praemittitur annotatio brevis de expugnatione Caleti per K. Edwardum.
i) Vgl. über ihn Thomas Seccombe im 'Dictionary of National Bio-
graphy' -XVIII 539—541-
71.4] Die BfiowuLF-HANDSCHRiPT. 69
Das reiche Emporblühen des angelsächsischen Studiums
am Ende des 17. Jahrhunderts führte dazu, daß um die
Wende des Jahrhunderts der damalige Bibliotheksassistent
der Bodleiana, Humphrey Wanley^) (1672 — 1726), einen
Katalog aller ihm erreichbaren Handschriften in altenglischer
Sprache zusammenbrachte, der endlich 1705 im Druck er-
schien. Dies ist jener 'Antiquae Literaturae Septentrionalis
Liber alter seu Humphredi Wanleii Librorum Vett. Septen-
trionalium, qui in Anglias Bibliothecis exstant, nee non mul-
torum vett. codd. Septentrionalium alibi extantium Catalogus
historico-criticus" (Oxoniae, e Theatro Sheldoniano, An. Dom.
MDCCV), welcher bis heute der vollständigste und beste
Katalog der altenglischen Handschriften geblieben ist, so sehr
er auch der Erneuerung^) bedürfte. Daß er auch in der Ge-
schichte der Paläographie eine Epoche bezeichnet, ist wohl
noch kaum genügend erkannt. Denn das Verdienst, welches
man bisher^) dem Baron de Montfaucon (1655 — 1741) mit
seinem Katalog der Coislinschen Bibliothek (17 15) zuweist,
'das erste Vorbild eines wissenschaftlichen Handschriften -
kataloges' geliefert zu haben, gebührt vielmehr unserem
Wanley, der schon 10 Jahre vor Montfaucon, um nur auf
einige Punkte hinzuweisen, das berufsmäßige Datieren der
Handschriften durchgeführt und nach Kräften Schreiberhände
unterschieden und Herkunfts vermerke angegeben hat. Welchen
Vorsprung in der Handschriftenbeschreibung er vor seinen
Landsleuten gewonnen hatte, sieht man am besten, wenn man
die eben angeführte, dürftige Inhaltsangabe der Beowulf-Hand-
schrift durch Thomas Smith mit folgendem Eintrag bei
Wanley (S. 2i8f.) vergleicht:
i) Vgl. über ihn W. P. Courtney im 'Dictionary of National Bio-
graphy' * XX 744—6.
2) Napikrs Exemplar sowie das meinige dürften durch reichliche
handschriftliche Eintragungen dabei von Nutzen sein.
3) So noch L. Traube, Geschichte der Paläographie (in 'Vor-
lesungen und Abhandlungen' I 1910 S. 38).
•jo Max 1'(")hvtj.i{: l7','«
VitoUids. A XV. ("od. »irmhrau er diverslfi ftitnul compactKs coti-
»tans, I» qtu) coniitutur
I. Nota de numero Ptirochinntm , rillarum . /rodoiviii d Mihtutn
Vi Anglia, <f de e.rjtuyndtiitne Caleti per Kihcnrdxun 111.
II. fol. I. Flores e,r libro SoHloquioruw D. Augustint }lipponen,s.
Episc. Selecti d Saxonice irrtti per ^'Klfredum Regem. Tractatun uste
quondatn fuit Ecclesiir />. Maria- de Snwik<i , ut patel ex foL 'i. lüteris
Xormniino-Snronici^t, pnst ('ovqufrstum scriptu,<i.
III. t'ol. f;7. Pseudo-KraugeUum Nicodemi, capite mutilnm: ci4Jv,'i
exetnplaris rariantes Lectionf.<i apographo nuo ex Cod. Cantahrigiensi
d^cripto, atte.vuit cl. Junius, ut videre est, pag. 96. V
IV. fol. 83*^. Her kiÖ. hu Saturnue and Saloman aettode ymbe
beora wisdom.
ludp. fa cwffit Saturnua to Salomane. Sa^a ino hwer (4od sete
]m he ^eworhte heofonas 7 eonTan. Ic 8e sec^e he sa-tt ofer winda
fa'perutn.
Expl. On XII. mobum J)u scealt syllan {)inon ]jeowan men .VIT.
bund hlafa. ~ .XX. hlafa. buton mor^e metten. 7 nonmettom.
V. fol. 90''. Fragmcntuni de SS. Jesu Christi martyrihus, Saxonic^
Utteris Normanno-Saxomcis descriptum, aque ac Pseudo - Evang. Nico-
demi, d- Dialogi inter Saturnum rf- Salomonem.
VI. fol. 92. Legetida de S. ChriKtophoro Martyrc capite miäila, sie
autein
Expl. £>j8es-) eac bted ee halja Oiistoforuß on jjjere nihstan tide.
ter he hie jaste*) ou-eende. and*) cwjeS. Drihten min God. syle ^ode
mede ])am |)e mine ]3iowunja awrite. and *) J)a ecean edlean ])am ]ie
hi© mid tearum rede."^)
VII. fol. 98''. Bescriptio fahulosa Orientis, d wovstrorum qutf ibi
tiascuntur, cum figuris maU dehneatift calce mutHa, haud diversa ah
illa (Latinis exceptit^ qua; in hoc cod. desunt) quam exhibet Cod. qui in-
scribitur Tib. B. ö in fol. 78''.
Incip. Seo Landbuend on fruman from Antimolime ])sem lande.
VIII. Her is Seo Gesegenis') Alexandres epistolee ])se8 miclan
Kyninjes. J Öaes ^) maeran Macedoniscan. {)one he wrat ~ sende to
Aristotile bis MajiBtre. be ^esetenisse Indie Jjsere miclan Sende. *j 7 ^^■
1) Gemeint ist das Bodleian Ms. Janius 74 (Wani.ey S. 96).
2) Um eine Vorstellung von dem Zuverlässigkeitsgrade derWASLET-
achen Textproben zu geben, verzeichne ich hier seine Ab-weichungen
von der Handschrift. Statt Dyses liest die Hs. pyses.
3) last Hs. 4) 7 Hs- 5) 'r(^de Hs.
6> Gesetenis Hs. 7) ß^s Ha. 8) ßeode Hs.
71,4] Die Bbowulf-Handschrift. 71
])8ere widjalnisse his si{)fato ') and hie fora. pe he ^eond middaa
jeard ferde.
Incip. Cwa?|) he ])U3 sona serest in frnman 8ses *) epistoles. Sinile
ic beo ^emindij.
Expl. 7 min weorSmynd maran wseron. |)onne ealra opra kyninju
])e in middan jearde sefre waeron. finit.
Hcec fabulom Älexandri ad Aristotelem de situ Indice, ac. Epistola,
Latine primitus, uti credo, fuit conscripta, deinde in linguam Sax&yii-
cam versa, paucis quibusdam, ad calcem, prcetermissis. Hoc autem exem-
plar cum 3 super ioribtts, veter i manu scriptum, fuit peenlium doctiss.
viri Laurentii NowelU. a. d. 1563.
IX. fol. 130. Tractatus ndbilissimm Poetice scriptus. Prcefationis
hoc est initium,
Hwiet we iarde na. in ^ear dajum. |)eod cyninja ])rym ^efrumon»)
hu 9a .Elielinjas eilen fremedon. Oft Scyld Scefin^ scea])ena Örea-
tum*) mone^um mse^Ömn") meodo setla ofteah e^sode eorl syScJau
serest wearS feasceaft fanden, he wses*^) frofre ^ebad weox under
wolcnum weorÖmyndum |)ah. ob ^cet him te^hwylc ])ara ymb sittendra
ofer hron rade kyran scolde pmban jyldan '^at wteB jod Cynin^, Sseni
eafera waes »fter cenned jeon|; in ^eardum ])one God sende folce to
frofre. fyren Searfe on ^^eat ])<Ei bie ser dru^on aldor . . . ase. lan^e
hwilc') him waäs lif frea wuldres wealdend worold are for^eaf. Beo-
wulf waes breme Blsed wide sprang Scyldeß eafera scede landum in.
Initium autem primi Capitis sie se habet,
Da, wses on bur^m. Beowulf Scyldinp leof leod Cynin^ ion^e
5rage^ foleum ^efrae^e fteder ellor hwearf aldor of earde o|) ])«* him
eft on woc heah healf Dene heold 'pen den lifde ^amol 7 jubreouw
jltede Scyldinjas c5«m feower bearn forÖ jerimed in worold wocun
weoroda rieswa Heoro^ar. and ») HrotS^ar 7 Haljatil hyrde ic ])«t helan »<*)
cwen. heaöo Scilfin^^aa heals ^ebedda ])a wajs HroSjare here sped ^fen
wijes weoiÖmynd |)ß;t him his wine majas ^eome hyrdon oS9 ^icet seo
?eoro<5 ^eweox majo driht micel him on mod bearn Ixet heal seced^')
hatan wolde. medo tern micel man ^ewyrcean ])one yldo bearn aefre
gefrumon.**) 7 |)aer on innan eall ^edselan ^eon^um" ealdum swylc him
God sealde buton fole scare 7 feorum ^mena.
I) sißfata ? Hs. 2) pces Hs. 3) lefnmon Hb.
4) Preatum Hs. 5) mce^pum Hs. 6) pies Hü.
7) hwile Hs. 8) pra^e.
9) Die Hs. bietet das Abkürzungszeichen.
10) elan Hs.; doch ist die Stelle verderbt. Wamley fügte daa h
offenbar hinzu, um Allitteration zu erhalten.
11) reced Hs. 12) lefrimon Hs.
y2 Max Fr.Ksrin;: (7'. 4
In hoc lihro. qiii J'of^eos Atuflo-Saxonico- egreffium ist rjrmplum,
diticriptit riikntur Mla qua- licnuulfus <juidn7>i Danus, c:r Uniio Scyl-
ditigonim stirpc (yrtus, (frssit contra Sttecif iiVf/iWrw.
X. fol. i<)9. Fnujni'ntum I'orticmn Hist. .hulitha- ti Jfolofnnis,
Saxonicr ante Conqumt. stTiptuin. V"'"' tlrKcripait cl. Junivs, <-> tM.;«*
Apographo illud ti/pis edidit Edirardus Thuaitesius, iv hbro t>i(0 supia^)
hiudaio.
Dio Bedeutung der WANLKYschon InliallHunfj^ahe liegt
vor allem darin, daß hier zum ersten Male auf das Beowulf-
Epos, wenn auch in unvollkominener Form, hingewiesen war.
Aus Wanlkv 8chüi)fteu späterhin ihre Bemerkungen über
den Beowulf nordische Gelehrte, wie der Däne .1. Langebkk,
der zweimal in seinen 'Scriptores Herum Danicarum Medii
^vi' (Kopenhagen i773), Bd. I S. 9 Aum. II und S. 44 Anin.
E, auf das Beowulf- Epos zu sprechen kommt. Und durch
Langebeks Hinweis mag endlich der Isländer Thoukelin an-
trerefft sein, die erste Ausgabe des Beowulf-Textes (18 15)
zu liefern.
Die nun folgende Beschreibung des Inhaltes in dem
"Catalo<i-ue of the Manuscripts in the Cottonian Library de-
posited in the British Museum" (London 1802), welcher zum
größten Teile von dem damaligen Direktor des Britischen
Museums Joseph Planta^) (1744— 1827) verfaßt war, ist
nahezu wörtlich aus Wanley abgeschrieben: sogar das nicht
auf die Handschrift, sondern auf Wanleys Katalog bezüg-
liche ut videre est pag. 96 ist mechanisch mit herübergenom-
men. Neu ist nur die Angabe über die Gesamtzahl der Per-
gamentblätter (206) sowie die allerdings irrige Behauptung,
daß die Christophorus- Legende am Ende und die 'Wunder
des Ostens' am Anfang verstümmelt seien.
Endlich erhielten wir eine kurze Beschreibung von dem
langjährigen Assistenten an der Handschriftenabteilung des
Britischen Museums Harry L. D. Ward (1825 — 1906) in
seinem "Catalogue of Romances in the Department of Manu-
i) Nämlich auf S. 97 des Catalogus.
2) Vgl. über ihn W. Wkoth im 'Dictionarv of National Biogra-
phy' «XV, 1283 f.
7^,4] Die Beowulf-Handschuift. 73
Scripts in the British Museum" Bd. I (1883) S. 134 und Bd.
II (1893) S. I f., wo aber die Texte nur ganz kurz bezeichnet
sind. Die Nachwirkung Wanlets äußert sich auch bei ihm
noch darin, daß das Fragment der Passio Quintini unbestimmt
als ^^ Fragment mi Christian Martyrs" bezeichnet wurde,
welches erst von mir (1901) in seiner wahren Natur er-
kannt ist.
In der nun folgenden Inhaltsangabe bin ich bestrebt ge-
wesen, auch die in den vorstehenden Paragraphen erarbeiteten
Resultate miteinzubeziehen.
Vitellius A. XV.
( 1 ) fol. I : Enthielt bis Anfang 1 9 1 3 ein Pergamentblatt
aus einem lateinischen Psalter des 14. Jahrhunderts, der
mehrfach in den Cottonischen Handschriften, z. B. auch bei
Tib. A. III, Vespas. D. XII und Vesp. D. XIV, zu Schutz-
blättern verwendet ist. Im Januar 1913 sind diese Schutz-
blätter sämtlich wieder herausgenommen und zu einer neuen
selbständigen Handschrift mit der Signatur Reg. 13. D. I*
vereinis^t worden. Es orientiert uns hierüber eine Bleistift-
notiz des jetzigen Handschriftendirektors J. P. Gilson, die
auf dem leeren modernen Ersatzblatte sich findet: "a fly leaf
(f. 1) taJcen out to he hound in the Royal MS. 13. D. I*, the
psalter to whicli it originally hdonged. Jan 1913. J. P. G."
Unser Psalterfragment bildet in der neuen Handschrift jetzt
fol. 37-
(2) fol. 2^: Inhaltsangabe von der Hand des Cottonischen
Bibliothekars Richard James; zwischen ca. 1625 — 1638 ge-
schrieben. Abgedruckt oben S. 67.
fol. 2^ ist gänzlich leer.
(3) fol. 3*: zeigt auf dem unteren Seiten viertel ein paar
Schriftzeichen (Federproben) des 14. (?) Jahrhunderts — auf
dem Kopfe stehend.
7-1
M\x riiitj^TKi«: l7',-l
(4) fol. 3** [= Wanlky Nr. Ij: Kui/r Notizen von einer
kleinen Mand des 16. .Inhihnndeits in englischt-r und fnin
7,r)8iseher Spirtche. statisiisehen und historischen Inhalts.
Erstere (engl.) behandeln die Zahl der Genieindekircheu, der
ZoUerhehungsstellen und der Kitterleheji in Knirland; let/,tere
(tVanz.^ die Eroberung Calais" durch Eduard 111. (1383) u.a.m.
I. Erste Haudachrift (= fol. 4- -94).
Geschrieben von zwei Schreibern in dem zweiten Viertel
des IJ. .lahrhunderts, vielleicht in dem AuguHtiner-Chorherrn-
stift zu Southwick in Hampshire (vgl. oben S. 53 tt".), wo sich
die Handschrift um 1300 befand.
Hand A (fol. 4''— 59^1:
(5) fol. 4* — SQ*" (= 1»— 56^), W/NLEVB Nr. 11:
Die von König yElfred herrührende oder wenigstens von
iiini angeregte altenglische Bearbeitung der "Soliloquia" des
Augustinus. Nach den Drucken von (.'ockayne (1869) und
HuLME (1893) vorläufig beste, wenn auch recht unzuläng-
liche Ausgabe von H. L. H.MiOROVE, King Alfred's Old P]ng-
lish Version of St. Augustine's Soliloquies (Tale Studios in
English Xlll, New York 1902); dazu meine Besprechung in
DLZ 1903 Sp. 214—217. Weitere Literaturangaben bei
A. Brandl, Geschichte der altenglischen Literatur (Straßburg
igoS) S. 1067. Den schwierigen Anfang interpretierten Luick
und Meringer, Idg. Forsch. 17 (1905), 1330'. — Am Schlüsse
fehlen einige Wörter. Daß auch der Anfang verstümmelt sei,
wie CoCKAYNE und Hulmk behaupten, ist ein Irrtum.
Hand B (fol. 61" -94"):
(6) fol. 60 ist ein modernes leeres Papierblatt, welches
andeuten soll, daß hier ein Pergamentblatt mit dem Anfang
des folgenden Werkes ausgefallen ist.
(7) fol. 61»— 87^ (== 57'— 84»'= 60*— 86^), Wanley.s
Nr. ni:
Die altenglische Übersetzung des apokryphen Nicodemus-
Evangeliums, die sich in etwas älterer und roUständigerer
71,4] DiK Beowulf-Handschrift. 75
Form in der Handschrift li. 2. 11 (S. 344 — 383^)) der Cam-
bridger Universitätsbibliothek sowie in einer stark kürzenden
und modernisierenden Abschrift im Cotton Ms. Vespas. D.
XIV fol. 87^—100* befindet. Nach den beiden älteren Hand-
schriften ist der Text in Paralleldruck veröffentlicht von
W. H. HuLME; The Old English Version of the Gospel of
Nicodemus (Publications of the Modern Language Association
of America Bd. XHI, 457 — 542, Baltimore 1898). Nach der
jüngsten Handschrift ist er von demselben Hulme gedruckt
in der amerikanischen Zeitschrift 'Modem Philology' I ( 1 904),
591 — 610. Einen kritischen Text nach allen drei Hand-
schriften werden enthalten meine "Spätaltenglischen Texte
aus Vesp. D. XIV." Weitere Literatur bei Brandl S. 1118.
Dazu Aug. Schmitt, Die Sprache der ae. Bearbeitung des
Evangeliums Nicodemi (Münchener Diss. 1905), und Fr. Straub,
Lautlehre der jungen Nicodemus -Version in Vesp. D. XIV
(Würzb. Diss. 1908).
Unsere Handschrift setzt auf fol. 6 1 * mitten im Satz ein,
so daß davor etwas fortgefallen sein muß. Die ältere Cam-
bridger Handschrift lehrt, daß der Anfang fehlt, der gerade
zwei Seiten füllen würde. Mithin ist vor fol. 61 ein Blatt,
und zwar ein angefalztes Blatt der 8. Lage, ausgefallen.
(8) foL 87^-94^ (= 84*'— 90"= 86^—93*'), Wanleys
Nr. IV:
Ein altenglisches, oflPenbar durch lateinische Vermittlung
auf byzantinische Vorlage zurückgehendes biblisches Frage-
büchlein, das in die Form eines Prosagespräches zwischen
Salomon und Satui-n eingekleidet ist Gedruckt bei B. Thorpe,
Analecta Anglo-Saxonica (London 1834) S. 95 — 100 (3. A.,
1868, S. 1 10 — 1 15) und unter Regulierung der späten Sprache
bei J. Kemble, The Dialogue of Salomon and Satumus, Part. II
(London 1847) S. 178 — 193. Über die ganze Gattung ist die
von mir in der 'Anglia' 42 (191 9), 209 — •217 zusammengestellte
Literatur zu vergleichen.
i) HüLUB gibt in seinem Abdruck imgerweise "P. i — P. 40" an.
I
-f> M \\ K<)KsrKu: [7't4
(q) fol. o^'' [= 90*^ = 93''!, Wanlkys Nr. V:
l"rii<i;nuMit einer !iltcn<^lischon Üborsetzung dor l'assio
Quintiiii, und /war in der dritten Fas8un<^ der Acta Saneto-
rum Holl. 31. Oct. Bd. XllI, 794. Nnr der Anfang ist er-
halten, der mitten im zweiten Satze mit dem Schlnß der
Seite, und zwar mit der letzten Seite der elften l^ago, ab-
bricht. Es muß dahinter also etwas ausgefallen') sein: es
wird sieh um den Verlust der ganzen letzten Lage handeln,
die für die ganze Passio hinreichenden Kaum bot. Veröffent-
licht ist dns Fragment von G. Hkkzfkld, Engl. Stud. XUI
(1885) 145 sowie von Max Föusteu, Zur alteuglischen
Quintinus- Legende, im Archiv für neuere Sprachen CVI
(1901) 258f.
fol. 95 ist ein leeres modernes Papierblatt, das die eben
erwälinte Lücke markieren soll.
II. Zweite Handschrift (= fol. 96—211).
Geschrieben von zwei Schreibern gegen Ende des 10.
Jahrhunderts. Im 16. Jahrhundert im Besitz des Lichfielder
Dekans Lawrence Nowell (f 1576).
Hand C ffol. 96*— 177^ 7.eile 3) und
Hand D (fol. I77^ Zeile 4 — foh2iib:
(10) fol. 96* — 100* (= 91" — 95^*= 94^—98"), Wanleys
Nr. VI:
Fragment einer altenglischen Übersetzung der Passio S.
Christophori (Acta Sanctorum BolL, 25. Juli, Bd. XXXIII
148 ff.). Da die Seite 96* mitten im Satze einsetzt, muß da-
vor etwas ausgefallen sein. Wieviel ausgefallen ist, läßt sich
unschwer berechnen: die lateinische Legende umfaßt, wenn
wir den Druck der AA. SS. zugrunde legen, im ganzen 349
i) Daß man dies an der ältesten Foliierung sehen könne , die
hier von fol. 90 auf fol. 93 überspringt, ist irrig, da die Blätter 91 und
92 keineswegs fehlen, sondern im 19. Jahrhundert hinter fol. 94 ge-
stellt sind, wohin sie nach Ausweis des Inhaltes gehören (S. 7).
71,4] DiE Beowulf-Handschrift. 77
Zeilen; davon sind die letzten 128, also fast genau ein Drit-
tel, in dem vorliegenden altenglischen Fragment von 5 Blät-
tern übersetzt; mithin müssen zwei Drittel, d. h. 2x5 = 10
Blätter fortgefallen sein, was genau einer Lage- zu 5 Bogen
entsprechen würde.
Gedruckt ist der Text von Herzfeld, Bruchstück einer
ae. Legende (1889) in Engl. Stud. XIII, 142—145 sowie von
E.EiNENKEL in der Anglia XVII (1895), 112—122. Vollständig
war der gleiche Christophorus-Text überliefert in dem 1731
größtenteils verbrannten Predigtkodex Otho B. X, welcher
nach Wanley S. 191 Nr. X auf fol. 69*— 76*» eine Christo-
phorus-Homilie aufwies, deren Schluß wörtlich zu unserem
ViteUius-Text stimmt und deren Anfang dieselbe Passio S.
Christophori übersetzt. Da man dies bisher noch nicht er-
kannt hat, lasse ich den Anfang und Schluß dieser Otho-
Kopie, wie sie Wanley uns erhalten hat, hier folgen unter
Regelung der Interpunktion und Beifügung der lateinischen
Vorlage:
De SCO. Christophore mar. Passio S. Christophori S. 146:
Men |)a leofestan, on Itaere tide In tempore illo regnante Dagno
WIES geworden, ])e Da^us se cync in civitate Samo homo venit de
rixode on Samon ])aere ceastre, pset insula, genereCanineonim; etosten-
sum man com on ])a ceastre, se sum est ei a domino, ut baptizare-
wses healf-hundisces ') manncynnes. tur baptismo sancto, quem osten-
Ac he ne cuSe nan Xiinjc to ])am dit dominus lesus Christus in se-
lyfiendan ^ode, ne bis naman ne culo suo.
cijde, ]5e waes him setywed fram
urum drihtne, ~pcet he sceolde ful-
luhte onfon.
i) Ein Adjektiv healf-hundisc 'halbhündisch', das seine späte, ge-
lehrte Bildung durch das Fehlen des t- Umlautes erweist, ist sonst
nicht belegt, aber auf Grund obiger Stelle dem Wörterbuch einzuver-
leiben. Es übersetzt hier den römischen Gentilnamen Camneus, der
wohl vom Angelsachsen fälschlich mit dem fabelhaften Völkemamen
Cynocephali zusammengebracht war, welcher in der altenglischen Mira-
bilien- Version mit dem gleichfalls gelehrten healf-huncUnyas (ed. Knappe
§ 8) wiedergegeben ist.
i
78 Max [''ürntkr: 17', 4
Kxpl. : Küi])am "1 ]ji< Juit nu *) blüwuö "" jj^rowaÄ hiH ^a bal^an
jjebedu; aiid'^ \)ivt*) is «hihtnes heruii^*) luid oallre »ibbo 7 jofean'*);
aud psor is ^obletsod Crist, J)U^b") lilieiidan*) jfod*'« sunu, se rixaS mid
tivder "■ mid emnu ') "" mid ]iam liali^nn jaHte a hutan ende on ecnjKHe.
AMEN.")
Unsere Vitollius- Kopie bietet in (llKTeinstiinimmf^ mit
der lateinia('h(Mi Vorlage dahinter noch 6 woitiu'o Zeilen,
welche ein dem ("hristophorus zugeschriebenes Schreil)ergehet
enthalten.*) Da dasselbe für den Zweck einer Predigt ent-
behrlich war, ist es otienbar vom Otho-Kopisten fortgelassen.
(1 1) fol. loo*»— io8^(= 95»»— 103* = yS»' — 106''), Wan-
LKYs Nr. VII:
Die altenslisehe Übcröetzuug eines lateinischen Paradoxe-
graphen, welcher in einer zweiten Handschrift, Tiberius B. V
(fol. 78'' — öö**), zugleich mit dem altenglischen Texte über-
liefert ist. Dieser lateinische Mirabilien-Text steht einem
anderen, im 7. bis 8. Jahrhundert wohl in Frankreich ent-
standenen Libcr monstrorum de diversis (jenerihus *°) nahe, welcher
von J. Beroer de Xivrey, Traditions teratologiques (Paris
1836) S. I — 330 und von M.Haupt, Index lectionum (Berlin
1863 = Opuscula, II, 221 — 252) veröffentlicht ist. Über die
i) forJ)on V.
2) nu fehlt in V, weil der Blattrand abgebröckelt ist. .^
3) 7 ß^*" abgebröckelt in V. 4) hyrnes V.
5) 7 i« abgbröckelt in V.
6) ßcES lyfiiendes hinter sunu in V; doch ist hier -u ßecs ab-
gebröckelt.
7) suna V. 8) on ecnysse. Amen fehlt V.
9) Dahinter steht ein Schlußzeichen, welches Hkrzfelu fälachlich
für 7 (d. i. and) gelesen hat. So konnte die irrige Meinung entstehen,
daß der Text am Ende unvollständig sei. Daß dies nicht der Fall ist,
lehrt ebensowohl der Sinn wie die Otho- Handschrift und die latei-
nische Quelle. — Es handelt sich hier um dasselbe Schlußzeichen,
welches regelmäßig am Ende eines jeden Textes in dem Exeterbuch
erscheint.
10) Es ist dies derselbe Paradoxograph, welcher auch den Gauten-
könig Hugilaik als ein Monstrum mirae magnitudinis nennt, qwvi
(quiis a duodecimo aetatis anno portare non potuit (I cap. 3).
71,4] Die Bkowulf-Handschrift. 79
ganze aus Griechenland stammende Gattung ethnographisch-
naturgeschichtlicher Fabeleien vergleiche M. Förster, Zur
altenglischen Mirabilien- Version, im Archiv für neuere Spra-
chen 117, 367 — 370: speziell über den lat. Liber monstro-
rum^) s. M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur
des Mittelalters (München 191 1) S. 114 — 118. Unser alteng-
lischer Text ist gedruckt von 0. Cockayne, Narratiünculae
Anglice conscriptas (1861) S. 33 — 39 und, vom altenglischen
getrennt, der lateinische Text S. 62 — 66 (dazu Holders Kol-
lation Anglia 1,331 ff.) und besser, wenn auch nicht ganz fehler-
frei von Fritz Knappe, Das angelsächsische Prosastück Die
Wunder des Ostens (Greifswalder Diss. 1906) S. 43 — 64. So-
wohl CocKAYNE wie Knappe haben ihren Text auf das da-
mals für älter geltende Tiberius-Manuskript gestützt; da, wie
wir oben sahen (S. 34), die Vitellius-Kopie aber noch in das
Ende des 10. Jahrhunderts gehört, ist das Verhältnis umzu-
kehren, obschon die Lesarten vonVitellius oft stark verderbt
sind. Am Ende des Textes hat unser Kopist die drei letzten
Abschnitte fortgelassen, wie auch im Inneren § 5 fehlt;
Blätter sind hier aber nicht ausgefallen.^)
i) Benutzt ist das Werk auch von Thomas Castipratanus , vgL
A. HiLKA, Liber de monstruosis hominibus Orientis aus Thomas von.
Cautimprä De Natura Deorum (Breslau 191 0.
2) Der Text enthält manche selten oder nur hier belegte Wörter,
die kaiun schon genügend gebucht sind. Ich verweise auf el-reordig
'fremdsprachig' § 19 (2xV); frehtere (V) neb«n frihtere (T) 'Wahr-
sager' §21; ga-st-lipende § 30 (Tib. verderbt in east-ti^ende) für lat
'hospitalis', eigtl. 'gastlindernd', zu ae. Upian 'lindem' (mit anglischer
Partizipialbildung wie bei wundrende V § 31 zu ivundrian); glces-gegot
'Glasguß' (V) § 24; Jiunticge (V) 'Jägerin' neben huntigystre (T) § 27;
leoue 'Meile' wie § i, 2, 7, 18, 19, 20, 24 statt des Herausgebers fal-
schem leone zu lesen ist; manu 'Mähne' § 8 {harses mana = lat. iubas^
equorum; Tib. inanan), das bisher nur aus dem Erfurter Glossar be-
kannt ist; marmor-stän 'Marmorstein' § 28 (auch Engl. Stud. VIII, 477
belegt); of-ä-cennan 'daraus erzeugen'' § 32 (V), gebildet wie oßcea-
pian, ofäceorfan, ofabeatan, ofadön, ofädnfan, oßdrincan, ofädrygan,
"fäheawan, ofäsceacan, ofäsctran, ofäslean [Arch. f. n. Spr. 134, 277 A.
7], ofätcon; saro-gimm 'kostbarer Edelstein' § 25 u. 26; sce-östre 'See-
So -"^'ax Fökstkk: l7'.4
Der Text wurde von Cockaynk (1861) betitelt 'De rebus
in Oriente mirubilibus' und läuft seitdem in der liiteratur
geschic'hte unter doin Namen 'Wunder des Ostens' ^VVI'^lkkk,
liiiANUL usw.) oder The Wondors of the East' (StoPKOKD
Bkookk, Caiiibridgc Hist. of Tiit. usw.).
Ein leii'ht verkleinertes, schlechtes Faksimile riuer Seite
findet sich in WüLKKKs Geschichte der eiigliBchen Literatur
(Leipzig -1Q06) 1 S. 73.
Beide Handschriften bieten tlücbtig ausgeführte Wasser-
farbenbilder zu dem Text: Tiberius 38, Vitellius 2g an der
Zahl (s. die I'robe bei WClker), Interessant ist, daß diese
Bilder noch antiken Eintiuß zu verraten scheinen.
(m fol. 109»— 133" (= 104»— 128^= 107=* -131''),
Wanlkys Nr. VIII:
Eine wörtliche altenglische Übersetzung der auf ein ver-
lorenes griechisches Original zurückgehenden lateinischen
Epistula Alexnndri ad Aristotelem, d. h. eines apokryphen
Briefes des Mazedonierkönigs Alexander an seinen Lehrer
Aristoteles über die Wunder Indiens. Der Angelsachse be-
diente sich der älteren von den zwei erhaltenen lateinischen
Textrezensionen, wie sie in zahlreichen Handschriften seit
dem 9. Jahrhundert und vielen alten Drucken uns vorliegt.
Gedruckt ist diese ältere Fassung nach Nero D. VIII von
COCKAYNE, Narratiunculai (London 1861 1 S. 51 — 62, nach
acht anderen Handschriften von B. Kühler im Anhang zu
seiner Ausgabe der lateinischen Übersetzung des griechischen
Alexanderromanes (Julii Valerii res gestae Alexandri Mace-
donis ed. Kühler, Leipzig 1888), nach 9 Handschriften von
H. SuCHiER, Denkmäler der provenzalischen Literatur (Halle
1883) I, 473 — 480, und nach einer Handschrift in Mout-
ttUBter' § 24 (V); töhuntian 'erjagen' § 27 (V); twi-men § 9 (V) nel;^n
iwylice (T) für lat. 'homodubii' ; ungefrSgellc 'unerhört' (V) neben
unfrelic (T) § 3 f.; unvmstmberendUc 'unfruchtbar' § 7; utdu 'Weite' (T;
neben mdness (V) § 19; wtel-cyrging 'Walküre' § 10 für lat. 'Gor-
goneus'.
71, 4j DiK Beowulf-Handschiuft. 8i
pellier von A. Hilka, Zur Alexandersage (Progr. Breslau
1909). Die neuste Literaturzusammenstellung^) über diesen
Text bietet Fr. Pfister, Kleine Texte zum Alexanderroman
(Heidelberg 19 10) S. IXf.
Die altenglische Version ist abgedruckt von Cockayne,
Narratiuuculse (London 1861) S. i — 33 (dazu Holders Kol-
lation, Anglia I, 507 — 517) und von W. M. Baskervill
(Leipziger Diss. 1881 = Anglia IV, 139 — 167). Textbesse-
rungen bieten Fr. Klaeber, Modern Language Notes 18,
246, A. Napier, Contributions to Old English Lexicography
(London 1906) S. 78 Anm. 2, und Ad. Braun, Lautlehre der
angelsächsischen Version der ^Epistola Alexandri ad Aristo-
telem' (Leipzig 191 1) S. 2 — 4.
(12) fol. 134* — 203'' (== 129^—198''= 132* — 201''),
Wanleys Nr. IX:
Das altenglische Beowulf Epos, das im Faksimile repro-
duziert ist von J. Zupitza, Beowulf, Autotypes of the Unique
Cotton MS. Vitellius A. XV in the British Museum, with a
Transliteration and Notes (E. E. T. S. 77), London 1882. Beste
Ausgaben von A. Holthausen (Heidelberg 1905, 4. Aufl.
1914), von Heyne-Socin-Schücking (Paderborn, i. Aufl. 1863,
II. Aufl. 1918) und Wyatt- Chambers (Cambridge 1914).
Die zahlreichen anderen Ausgaben sowie die reiche Literatur
über das Gedicht verzeichnen Holthausen, 2. Teil (^1913)
S. VIII — XX und A. Brandl, Geschichte der ae. Literatur
(1908) S. 1015 — 1025. Die Literatur der letzten Jahre siehe
im Jahresbericht für germanische Philologie (1913 — 191 6).
Dazu wichtigere neuere Arbeiten, wie Schücking, Wann ent-
stand der Beowulf? (Paul u. Braunes Beiträge zur Gesch.
d. deutschen Sprache u. Lit. XLII [19 17] 347 — 410)5 E.Björk-
i) Der Brief ist von verschiedenen altfranzösischen und deutschen
Dichtern benutzt und auch ins Altisländische (als Anhang zur 'Alexander-
sage' ed. Unger S. 164 ff. ; damit ist Mogks Frage nach der Quelle,
Pauls Grdr. *II, i, 876 A. 4, beantwortet) übersetzt. Vgl. auch den per-
sischen Bundehes ed. Jüsti S. 21.
Phil.-hist. Klaase 1919. Bd. LXXI. 4. 6
82 M A X F«> itsTKii : 1 7 ' . 4
MAN, Beowult" och Sveriges historia (N(trilisk tidskrift 191 7,
it>i — 179), SköUliingiiiittens mytisku stamfüder (Nordisk tid-
skrift 1918, 163 — 182) und Beowuli'-l'orHkning och niytoloj^i
(Finsk tidskrift LXXXIV [1918], 151— 271), E. Mogk, Alt-
germanische Spuki^eschichten (Noue .lalirbüchor f. d. klass.
Altertum XLlll [1919J 103 — 117), u. a. m.
Zwei Al)schriften des Beowulf-Tcxtes, die Von bzw. für
den Isländer Guim Thoukklin im Jahre 1787 angefertigt
wurden, zu einer Zeit, wo die Zerstörung der Handschrift-
kanteu noch nicht ganz so weit vorgeschritten war wie heute,
befinden sich auf der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen
und bilden heute eine wichtige Quelle für den ehemaligen
Zustand der Handschrift.
Der Schluß des Beowulf-Epus, wie es uns vorliegt, mutet
inhaltlich und melodisch etwas abrupt an. Da der uns über-
lieferte Text mit der letzten Zeile von fol. 203^ aufhört und
dahinter nachweislich (s. S. 88) drei ganze Lagen ausgefallen
sind, mögen auch noch eine Anzahl Verse vom Beowulf mit-
verlorengegangen sein.
Das Gedicht ist ebenso wie das folgende Judith-P]po3 in
der Handschrift fortlaufend wie Prosa geschrieben. Dies ist,
soweit ich sehe, bei allen altenglischen Dichtungen der Fall.
Aber einige Handschriften, wie das Caedmon-Manuskript^), die
Cambridger Handschrift Nr. 201 des Corpus Christi College*),
die Parker-Chronik ^), die Cottoniani Tiberius B. l*), Tiberius
i) Siehe das Faksimile von fol. 73 a (Originalgröße) bei W. Skkat,
Twelve Facsimiles of Old English Manuscripts (Oxford 1892) Taf. 2, und
von fol. 2 a (verkleinert) in Holthauskns Ausgabe der altenglischen 'Ge-
nesis' (Heidelberg 1914). Eine photographische Reproduktion des ganzen
Kodex in der Originalgröße war schon 191 3 von Gollancz für die Bri-
tische Akademie hergestellt und dürfte inzwischen wohl veröflfentlicht sein.
2) Siehe die fünf Gedichte daraus bei J. R. Lumby, Be Domes D«ge
(London 1876).
3) Siehe die Gedichte zu den Jahren 937, 941, 973 und 975 bei
Thokpe, Anglo-Saxon Chronicle (London 1861), und Plummer, Two of the
Saxon Chronicles Parallel (Oxford 1892).
4) S. den Abdruck der Denksprüche und des Heiligenkalenders
71,4] Die Beowulp-Handschrift. 83
B. IV ^), Tiberius A. VP), Domitianus A. VIII ä) sowie die Peter-
borough-Annalen*) verwenden regelmäßig, wenn auch mit eini-
gen Entgleisungen, über der Zeile stehende Punkte, um die ein-
zelnen Halbverse abzuteilen^). Dieses Verfahren kennen die bei-
den Beowulf-Schreiber nicht; jedoch gebrauchen sie nach der all-
gemein auch in Prosa üblichen Weise ®) solche Punkte, um größere
oder kleinere Sprechpausen zu bezeichnen, die naturgemäß mehi-
fach mit den metrischen Einschnitten zusammenfallen''). Man
daraus bei Plummer, Saxon Chronicles (1892) I, 273—282; die Chronik-
gedichte zu den Jahren 937, 942, 974, 97S^ ^o" und 1065 bei Thorpe
und Plummer.
i) S. die Chronikgedichte zu 937, 942, 959, 975, loii und 1065
bei Thobpe.
2) S. die Chronikgedichte zu 937, 942, 974 und 975 bei Thorpe.
3) S. das Chronikgedicht zu 958 bei Thorpe.
4) B. die Chronikgedichte zu 959, 975 und loii bei Thorpe.
5) Vgl. J. Lawrence, Chapters on Alliterative Verse (London 1893)
g. 1—37: Chap. I. 'The Metrical Pointing in Codex Junius XL' Daß
die metrischen Punkte, wie Lawrence meint, nur in Junius XI vorkämen,
ist ein Irrtum. Daß dieser Brauch auch in mittelenglischer Zeit bis
an die Schwelle des 15. Jahrhunderts beibehalten wird, lehrt K. Luick,
Beiblatt zur Anglia 23 (19 12), 227 f. — Wir finden dieselbe Schreib-
weise — Prosa mit Abteilung der Halbzeilen durch Punkte — auch
regelmäßig bei der mhd. Nibelungen-Handschrift C (Donaueschingen)
aus dem 13. Jh., sowie bei der lateinischen Eulalia-Sequenz zu Valen-
ciennes (Faks. bei Suchier S. 104). Das ahd. Ludwigslied wie die in
derselben Handschrift (um 900) unmittelbar voraufgehende altfranzö-
sische Eulalia-Sequenz gebrauchen ebenfalls regelmäßig metrische
Punkte, teilen aber außerdem noch Langzeilen und Halbzeilen wie beim
modernen Drucke räumlich ab.
6) W. Keller, Angelsächsische Paläographie (Berlin 1906) S. 5of;
LuicK, Beibl. zur Anglia 28, 228—232.
7) Eine Axt Mittelstellung nimmt das Andreas-Epos des Vercelli-
Kodex ein, da hier der Schreiber etwa in der Hälfte der Fälle den
metrischen Punkt ausläßt, aber zweifellos metrische, nicht bloß satz-
rhythmische Punkte verwendet. Die übrigen fünf Gedichte des Vercelli-
Kodex, vor allem auch die 'Elene', weisen keinerlei metrische Punkte
auf und auch nur eine höchst spärliche Verwendung des syntaktischen
Punktes. Dies lehrt, daß die metrischen Punkte im Andreas nicht vom
Vercelli-Kopisten herrühren, sondern aus seiner Vorlage stammen. Weil
6*
i
84 Max F((kstkr: .7'. 4
darf in Ictztcrom Falk' alxT iiiclit von inetrisehen I'unktoii
sprecluMi. wie F. A. Bi-ackhhkn*) es tut.
Wi'iterhin ist das Beowuli'-Fpos, wie das Judith-Gedicht,
(hirch röniisclu' ZitlVrii in Kapitel (Mii^otcilt, die nicht immer
mit Sinneinschuitten zusamnicnlallou, sondern wie hei Kapitel
XXXI, XXXV und X LI eine Hede zerschneiden oder wie hei XX V
(vor Vers 1740) und XXX (vor Vers 2039) sogar mitten in
den Satz hineinphitzen.*) Diese Kapitelzahlen nehmen hei dem
ersten Beowulf-Sehreiber (I — XXVll) stets eine ganze~Zeile
für sich in Anspruch, während sie vom zweiten, mit Ausnahme
von Kap. XXXIV, stets an das Ende der vorher<(eheuden, leer
gebliebenen Zeile gesetzt sind.*) Der technische Name für
ihm das Setzeu von metrischen Punkten nicht sonderlich geläufig war,
hat er sie offenbar so häutig bei seiner Abschril't des 'Andreas' ver-
gessen. Danach ist Bj.ackbu k.vs zu allgemein gehalfone Behauptung über
den Vercelli-Kodex zu korrigieren. — Auch das Exeterbuch kennt die
metrischen Punkte nicht, was be.sonder8 zu betonen ist, weil Thobpk
bei seinem Abdrucke (Codex Exoniensis 1842) regelmäßig solche gesetzt
hat. Vgl. das Faksimile daraus von der unteren Hälfte von fol. 19 b
(;= Crist V. 808 — 822) bei Thompson, An Introduction to Greek and Latin
Palaeography (Oxford 1912) S. 395, sowie, um die Hälfte verkleinert,
von fol. 105 a, 109 b, 122 b, 124 b— 130b (= Rätsel Nr. 14—17; 34—36;
58; 60—93 bei TuAüTMANN, Die altenglischen Rätsel, Heidelberg 191 5).
i) Exodus and Daniel ed. Blackburn (Boston 1907) S. XV Anm.
2) Dieselbe Klage gilt für den Cottonianus des altsächsischen He-
iland : hier fallen die Fittenzahlen Vll, IX, XV, XXVI, XXIX und LXI
mitten in den Satz, wo sie nicht hingehören können. Das gleiche gilt
von den Fittenzahlen XVIII, XXH, XXVH, XXXCI, XXXIV, XXXVI,
XXX VIII, XXXIX, LV, LVin und LXIX, wo indes die neue Fitte mit
dem 2. Halbverse der Langzeile beginnt, vor dessen erster Hälfte sie
stehen. Es scheint fast, als ob der Cotton-Schreiber eine Vorlage be-
nutzte, die die Langzeilen richtig absetzte und die Fittenzahlen, wo
sie eigentlich in die Zäsur fielen, auf den Rand stellte. Erst dadurch,
daß der Cottonische Kopist die Verse wie Prosa schrieb, wären dann
die Zahlen an die falsche Stelle ins Satzinnere geraten. Gegen diese
Annahme spricht nicht, daß der Schreiber zweimal (bei Fitte XL und
XLIV) die Zahlen richtig in die Zäsur gesetzt hat.
3) Auch bei der 'Elene' nehmen die meisten Fittenzahlen eine
ganze Zeile ein; nur zweimal sind sie auf das freie Zeilenende gesetzt
(Nr. IV u. IX).
71,4] Die Beowulf-Handschrift. 85
solche Kapitelabschnitte war bei den Westgermanen offenbar
„Fitte", wgm.*fiUjö^), welches uns für das Altsächsische (fittea)
wie für das Altenglische (fitt) in dieser Verwendung genügend
bezeugt ist.^)
i) Vgl. MüLLENHOFF, Zcitschr. f. d. Altert. 16, 141 — 143; A. Torp,
Wortschatz der Germanischen Spracheinheit (Göttingen 1909) S. 226
unter urgm. *fetl, *fetjö.
2) Vgl. fürs Altsächsische die bekannte Stelle der Heliand-Präfatio :
iuxta morem uero illins poematis omne opus per uitteas distinxit, quas
nos letiones uel sententias possumus appellare (Sievers S. 4). Im Alt-
englischen tritt die Bedeutung 'Leseabschnitt' als Teil eines Ganzen nur
in der Erfurter Glosse amputatio, iina lectio 'fiif [lies fitt, vgl. Anglia
XIV, 292] hervor. In den übrigen vier Belegen haben wir die allgemei-
nere Bedeutung 'Lied, Gedicht' : Ic sceal giet sprecan, fon on fitte folc-
cüdne rced, licaledum seegean (Beet. Metr. Einl. 9); Nu ic fitte gen ymb
fisca cynn wille woffcrcefte wordum cyßan Walf. i ; Her mceg findan fore-
pances gleaw, se-&e hine lysted leo&giddunga, Mca ßas fitte fegde Fata
Apostel. 98; Da se Wisdom ßa ßas fitte asiingen hcefdc ,Elfred Beet.
30, I. Dagegen hat das Mittelenglische noch reichliche Belege für die
Bedeutung 'Abschnitt eines [epischen oder didaktischen] Gedichtes' :
z. B. Loo, lordes myne, heere is a fit Chaucer C. T. B 2078, wo die beiden
Teile von 'Sir Thopas' mit The first fit und The second fit überschrieben
sind; Of Ipomydon here is a fytte Ipom 1524; Here endyth ße fürst fit.
Hotve saye ye? Will ye any more of hit? Degrev. 368; Thys ys the thrydd
fytt of owre geste Eglam. nach 876 in F (ähnlich 343, 630); New fynes
here a fitt <& folows a nothire Alexand. 5626 ; Of curtasie here endis ße
secunde fyt Boke of Curtasye 349 (vorher Here endithe ße first boke);
Anoßer fytt ßenne most I spelle ib. 806; Here is a fytte; have hit in
uiynde thette the best bowrd is behynde Huntyng of the Hare 118. Be-
sonders lange hält sich der Ausdruck in der Balladendichtung und ist
aus dieser, namentlich durch Percy, auch in die neuenglische Dichter-
sprache gedrungen: z. B. sind in der 'Gest of Robyn Hode' alle acht
Kapitel so überschrieben {The seconde fytte, The thirde fytte usw.) ; na-
mentlich hat gewirkt die Chevy-Chace-Ballade mit ihrem the first fit
here I fynde ['beende'] 24, 2; danach noch Byron, Childe Harold I, xciii:
Here is one fytte of Harold's pilgrimage, und andere (s. NED). Das
Mittelenglische kennt daneben auch die allgemeine Bedeutung 'Ge-
dicht' oder 'Lied': z. B. Cumseß ßer a fitte Langland A. i, 139; As
god of heuen has gyffyn me tvit, shall I nmo syng you a fytt icith my
mynstrelsy Towneley Play VII, 104. Daraus hat sich die im 16. und
17. Jahrhundert geläufigste Bedeutung für ein 'Musikstück' entwickelt:
86 Max Fökstkr: [7'i4
Im Beowulf Bind 43 solcher Fitten ubgcteilt; jedoch hat
der Schreiber die Kinleitung uiclit miti^eziihlt, dafür aber beim
Numerieren die Ziilil XX VI II übcrsj)rungon, indem er von
XXVII gleich auf „XXVIIII" überjrjn^r^ welches allerdings
nachträglich durch Ausradioren des letzten Grundstriches auf
„XXVIIP' reduziert ist.
Die Einteilung in Fitten finden wir bei allen längeren
altonglischen Dichtungen, selbst bei einem relativ so kurzem
Werke wie dem 'Azarias', dessen 191 Verse iu zwei Abschnitte
zerlegt sind. Indes sind die Fitten nicht immer, wie im Beo-
wulf, in der 'Judith' und der 'Elene' mit römischen Zahlen
gezählt, sondern viel häufiger nur durch eine freigelassene
Zeile mit folgender Initiale bezeichnet. Letzteres ist z. B. der
Fall bei dem 'Andreas' des Vercelli-Kodex und bei allen Texten
des Exeterbuchs, wie dem Crist, dem Guthlac, der Juliane und
anderen. Eine Art Zwischenstellung nimmt das Ca;dmon-Manu-
skript^) ein, bei dem iu 15 Fällen eine Zahl eingesetzt ist, die
Mehrheit der Fitten aber nur durch Absatz und Initiale ge-
kennzeichnet ist. Dajß aber auch diese nicht besonders nume-
rierten Abschnitte als vollzählige Fitten betrachtet wurden,
geht daraus hervor, daß sie bei der fortlaufenden Zählung
miteingerechnet sind.^) In ähnlicher Weise sind auch in der
Elene drei Fitten (I, XI, XII) ohne Nummern geblieben, aber
doch mitgezählt. Und im Beowulf ist dies in zwei Fällen der
FaU: bei Fitte XXX, die nur durch die Initiale in OöOM am
z. B. Goe call my musitians . . ., hefore my siceete hearts dore we will
haue a fit üdall's Roister Doister III, 3, 144; andere Belege im NED.
Vgl. die ähnliche Bedeutungsentwicklung von ahd. liod 'Liedabschnitt'
zu 'Lied'.
i) Merkwürdig ist bei dieser Handschrift auch, daß die drei ersten
Gedichte Genesis, Exodus und Daniel die Fitten durchzählen, als ob
alle drei ein einziges Werk bildeten. Man sieht daraus, daß die Durch-
zählung der Fitten für die Frage der Einheitlichkeit altenglischer Dich-
tungen nichts bedeutet.
2) Beachtenswert nach dieser Richtung ist auch die Tatsache, daß
von den beiden Handschriften des altsächsischen Heliand nur eine, der
Cottonianus, eine Numerierung der Fitten aufweist.
71, 4J Die Beowulf-Handschkift. 87
Zeilenanfange angedeutet ist, und bei Fitte XXXIX (öa), wo
wenigstens heute keine Zahl mehr zu lesen ist, wenn auch
Thorkelins Abschrift eine „XXXVIIP' dort bietet, die mit an-
derer Tinte nachgetragen scheint.
Der Umfang der einzelnen Fitten schwankt zwischen 43
(Fitte VII) und 142 Versen (Fitte XXXV); im Durchschnitt
sind es jedoch 74 Verse.*) So ziemlich dasselbe Bild bieten
die anderen altenglischen Dichtungen^), wenn sich auch 'Crist
und Satan' durch besonders kurze Fitten (durchschnittlich
55 Verse) und Juliane (105 Vv.), Judith (112 Vv.), Andreas
(115 Vv.) und Daniel (127 Vv.) durch besonders lange Fitten
auszeichnen. Diese merkwürdige Gleichheit des Umfanges der
Fitten bei so verschiedenartigen Werken lehrt, daß die Fitten-
einteilung nicht auf einer künstlerisch- organischen Gliederung
des Inhaltes beruht, sondern lediglich den praktischen Zweck
hat, bequeme Leseabschnitte abzuteilen. Hat doch W. P. Ker^)
mit Recht darauf hingewiesen, daß das ßeowulf-Manuskript
nicht etwa, wie der Oxforder Roland, das Gebrauchsexemplar
eines fahrenden Sängers gewesen sein kann, sondern, wie übri-
gens auch das Caedmon-Manuskript, das Exeterbuch und der
Vercelli-Kodex, seinem ganzen Umfange und seiner Aufmachung
nach als Lesebuch in die Bibliothek eines Klosters oder eines
großen Hauses gehört hat, also aus einer Welt der Buchgelehr-
Bamkeit stammt.
1) Die Verszahlen für die einzelnen Beowulf-Fitten sind: 52 (Einl.),
62 (I), 74 (11), 69 (HI), 62 (IV), 51 (V), 85 (VI), 43 (VII), 60 (VIII), 103 (IX),
48 (X), 81 (Xl;, 46 (XII), 88 (XIII), 66 (XIV), 59 (XV), 75 (XVI), 67 (XVII),
59 (XVni), 70 (XIX), 62 (XX), 90 (XXI), 84 (XXII), 94 (XXIII), 89(XXIV),
77 (XXV), 71 (XXVI), 75 (XXVII), 76 (XXVJII), 105 (XXX), ii (XXXI),
91 (XXXII), 79(XXX1II),69(XXXIV), I42(XXXV),92 (XXXVI), 5 8 (XXXVII),
69 (XXXVIII), 71 (XXIX), 54 (XL), 112 (XLI), 79 (XLII), 46 (XLII un-
vollst.?). — Ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem altsächsischen He-
liand, wo, wenn wir von der letzten, unvollständigen Fitte LXXI ab-
sehen, die einzelnen Fitten zwischen 48 (Nr. XXX VUI) und 166 Versen
(Nr. XXX) schwanken und im Durchschnitt 84 Verse haben.
2) Die Durchschnittszahlen sind bei der Genesis 72 Verse, Exodus
74 Vv., Azarias 85 Vv., Elene 88 Vv., Guthlac 90 Vv. und Crist 98 Verse.
3) W. P. Kkr, The Dark Ages (London 1904) S. 2 50 f.
88 Max Fürstkr: [7», 4
(13) toi. 204a — 21 ib (=- 199a — 2obh = 202a — 2ogb),
Wanleys Nr. X:
Fragment (350 Verse) einer freien poetischen Paraphrast'
des apokryphen (auf oin verlorenes hebräisches Orij^inal zu-
rückgehenden) griechischen .Iiiditli-Buches, welches dem angel-
sächsischen Dichter natürlich in der kürzenden lateinisdieii
Übersetzung des Hieronymus vorgelegen hat.
Das (jledicht ist in der Handschrift fortlaufend als Prosa
geschrieben und durch mitten in den Text eingesetzte römische
ZiÖern (X, XI, XII) in Fitten*) eingeteilt. Beste Ausgabe von
Albert Cook, Judith, an Old English Epic Fragment (Boston
1904), woselbst sich auch ein gutes verkleinertes Faksimile von
fol. 209b sowie ein sorgfältiges Literaturverzeichnis (S.37 — 40)
rindet. Dazu Brandl, Geschichte der angelsächsischen Literatur
S. 1091. Eine vollständige Photographie des ganzen Gedichtes
befindet sich im Besitz von Prof. A Cook an der Yale-Universität.
Da der altenglische Text mitten im Satz und im Vers
einsetzt, muß der Anfang fehlen. Wieviel fortgefallen ist, läßt
sich auf zwei Weisen berechnen, die beide zu dem gleichen
Ergebnis führen, nämlich mit Hilfe der lateinischen Quelle und
mit Hilfe der in den Text eingetragenen Fitteneinteilung. Ein
Vergleich mit der Quelle lehrt, daß der uns erhaltene Text
mit dem 12. Kapitel der lateinischen Version einsetzt, daß das
verloren gegangene Anfangsstück also die ersten 1 1 von den
16 Kapiteln des Judith-Buches umfaßt haben muß. Danach
wäre also etwas weniger als drei Viertel, d. h. ca. 950 bis
1000 Verse, fortgefallen, so daß das ganze Gedicht ungefähr
den gleichen Umfang wie Cynewulfs Elene (1320 Verse) ge-
habt hätte. Da die erhaltenen 350 Verse genau 16 Manuskript-
seiten, also eine achtblättrige Lage füllen, würden mithin
3 X 16 == 48 Seiten, d. h. drei-) ebensolche Bogenlagen aus-
1) Vgl. darüber oben S. 840'.
2) Drei achtblättrige Lagen würden Raum für 1050 Verse gewähren,
während wir den Verlust nur auf 950 — 1000 Verse berechnet haben.
Den sonach übrig bleibenden Raum mag der verlorene Schluß des Beo-
wulfs (vgl. 8. 82) ausgefüllt haben.
71,4] DiK Bkowi LP-Handschrift. 89
gefallen sein, — was, wie wir oben S. 20 sahen, gut zu der
Lagenverteilung der Handschrift paßt. Die andere Berechnungs-
weise, aus den erhaltenen Fittenzahlen, gibt das gleiche Bild. Das
erhaltene Fragment setzt mit den letzten 1 4 Versen der IX. Fitte
ein und verteilt sich auf drei weitere Fitten. Sonach hat das
Gedicht aus 12 Fitten bestanden, von denen etwas mehr als
3 erhalten sind. Auch nach dieser Berechnung müssen fast
drei Viertel des Ganzen verloren gegangen sein. Voraussetzung
ist dabei, daß die verlorenen Fitten ziemlich dieselbe Länge
gehabt haben wie die erhaltenen (X : 107 Verse; XI : 114 V;
XII: 115 V.), also, wie das altenglische Daniel-Epos, verhält-
nismäßig umfangreich gewesen sind.
Daß auch der Schluß des Gedichtes fehle, wie H. L. D. Ward,
Catalogue of Romances (1883) I, 134 meint, dafür läßt sich
keinerlei Anhaltspunkt gewinnen, wenn auch der Schlußhym-
nus der Judith (== Kap. XVI, 2—21 der Quelle) zu 9 Versen
zusammengefaßt verhältnismäßig kurz vom Angelsachsen be-
handelt erscheint und die weiteren Lebensschicksale der Ju-
dith (XVI, 2^ — 31) gänzlich übergangen sind. Ein gleiches
ist aber auch in Abt iElfrics Judith-Homilie^) geschehen, die
als urprosaisches Gegenstück eines nüchtern-lehrhaften Homi-
leten mit der hochpoetischen Schilderung des angelsächsischen
Dichters verglichen werden mag. Wer das altenglische Ge-
dicht unbeeinflußt durch die QueUe liest, wird meines Er-
achtens den uns' vorliegenden letzten Satz als einen richtigen
Abschluß des Ganzen empfinden.
i) Ed. Br. Assmanm, Angelsächsische Homilien und Heiligenlegen-
den (Kassel 1889) S. 102—114.
fb
H/ecijAe- ^o^Yurcn^ be:>jt}iztie
' -ö^efiai^^ onmi^^" to^pv'Tief nj^aii^o
^li^um hon) Wp^ fbui^enie^ "jhe^T^
l Vitellius A. XV. Fol. 96b: Christophorus
Hl links und unten die Sein fi beschnitten
Tafel II ^
fft^r^c lea) urt^ l^Cöw rl^^
^ IfetC fvlpiCOMfe ^ige-c^ni ^mm(m<xhf%
r Pt^ Hf^ y^^'S' ^^^'^^^ f|itlu mutier
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vm •vvjio^e pi^l^ü?) onTej;um j^mrw
Ktne hon Y'^cvjcf nan nch iXil^n^ V V^'^ ^
Viteüius A. XV. Fol. 110a: Alexander-Brief
rechts und unten die Schrift beschnitten
Berichte über die Verliandluiig-eii
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologisch-liistorisclie Klasse
71. Band. 1919. 5. Heft
Wilh. H. Röscher
Die hippokratische Schrift
von der Siebenzahl und ihr Verhältnis
zum Altpythagoreismus
Ein Beitrag zur Geschichte der ältesten
Philosophie und Geographie
Mit 3 Figuren im Text
Leipzig
Bei B. G. Teubner
191g
Vorgetragen für die Berichte am 5. Tuli 1919-
Dae Manuskript eingeliefert am 8. Juli i9'9-
Druckfertig erklärt am 4. November 1919-
Vorwort.
Die eigentliche Hauptaufgabe der nachstehenden Unter-
suchung besteht zwar in dem ausführlichen Beweis des vor-
pythagoreischen Ursprungs der merkwürdigen Schrift
üisqI ißSofiddojv, aber sie ist damit noch keineswegs völlig
erschöpft. Denn bei der eingehenden, bisher noch nicht unter-
nommenen Vergleichung sAler wesentlichen Grundgedanken
einerseits des hebdomadischen Kosmologen, anderseits des
Pythagoras und seiner älteren Schüler ergibt sich nicht bloß
das höhere Alter und die völlige Unabhängigkeit des ersteren,
sondern auch eine ungeahnte Fülle wertvoller Einzelerkennt-
nisse, die dem Verständnis beider philosophischen Richtungen
zugute kommen müssen.
Auf welche Hauptpunkte sich diese unsere Vergleichung
erstreckt, möge aus folgender summarischen Inhaltsangabe
der einzelnen Kaj)itel erhellen:
Kap. I: Geographisches:
a) Die Weltkarte und Erdkunde des Hebdomadikers: S. i — 16.
b) Die Weltkarte und Erdkunde der Altpythagoreer: S. 16 — 29.
Kap. II: Arithmetisches:
a) Die primitive (einseitige) Zahlenlehre des Hebdomadikers:
S. 30—42.
b) Die vielseitige (fortgeschrittene) Zahlenlehre der Altpythagoreer:
S. 43-63.
'Kap. III: Astronomisches:
a) Die Gestirnlehre des Hebdomadikers: S. 63 — 74.
b) Die Gestirn- und Sphärenlehre der Altpythagoreer: S. 74 — 79.
Kap. IV: Psychologisches:
a) Die Psychologie des Hebdomadikers: S. 79 — 81.
b) Die Psychologie des 'Pythagoras' und der Altpythagoreer:
S. 82—83.
[V VOKWOKT (71.5
Kap. V: Musikalischoä utul A"k ust ischo.i: S. 8.5— 84
Dio völliv^o Ignorierung der zuerRt von Tythagora«' entdeckten
musikaliachi'n und akustisclion Hebdomaden (Theorie der 7 Töne
des Hoptacliords und iler Sphilronharmoniei eeiteus des Hebdo-
niadikers beweist dessen völlige Unul)h;ingigkeit von der Lelire
des 'PytbagorasV
Kap. VI: fTjer E. Pfkikkkrs Versuch, die Abhängigkeit des Hebdoma-
dikera von 'P} tliagoras' zu erweisen: S. 84—88.
Anhang I: Aphorismen zum Problem der Schrift von der Siebenzahl:
vS. 89—94.
Anhang II: Briefliche Äußerungen hervorragender Forscher zum Pro-
blem der Schrift n. fßf).: S. 95—101.
Anhang III.: Über die geographische Bedeutung von "EUtj,- novro^i
(KlXi^artovTog'^) in Kap. XI: S. 101 — 104.
Anhang IV: Tythagora.^' als Geograph: S. 104 — 103.
Nachträge: S. 105 ff.
Alphabetisclies Inhaltsverzeichnis: S. 108 tt
Stellenregister: S. 114
I. Geographisches.
a) Die Erdkunde und Weltkarte des Hebdomadikers.
Für den vorpythagoreischen Ursprung der hebdoma-
dischen Kosmologie in der Schrift von der Siebenzahl gibt
es kein beweiskräftigeres Argument als den Hinweis auf die
sogenannte 'Weltkarte' des hippokratischen Hebdomadikers,
wie ich schon verschiedene Male energisch betont habe, ohne
jedoch die bestimmt erwartete allgemeine Zustimmung zu
finden.^) Vielleicht liegt das zum Teil an dem Umstände,
daß meine Beweisgi'ünde deshalb nicht gehörig wirken konn-
ten, weil sie nicht einheitlich entwickelt waren, sondern erst
nach und nach in verschiedenen Schriften erschienen sind,
deren vollständio-e Kenntnisnahme wohl manchem Beurteiler
nicht ohne weiteres zugemutet werden konnte.^) Ich sehe mich
i) Ihre Zustimmung zu meinen Annahmen haben öffentlich
erklärt: E. Drerup (Literar. Zentralbl. 191 1 Sp. 1310 — 1314 und 1913
Sp. I444f), Pagel (Wochenschr. f. klass. Philol. 191 1 Nr. 42 Sp. ii37f-
u. Janus XVI [191 1] S. 5 12 f.), Sal. Reinach (Revue Archeologique 19"
II p. 390), R. Fritzsche ( Viert eljahrschr. f. wiss. Philosophie u. Sozio-
logie 1912 S. 119 — 124), My (= Mohdry Beaudouix de Toulouse: Revue
Critique 1914 Nr. 16 S. 301—303), W. Nestle ("Wochenschr. f. klass.
Philol. 1914 Nr. 24 Sp. 648 ff. u. Württemb. Korrespondenzbl. f. d. höh.
Schulen 1914 S. 452), 0. Braun (Monatsschr. f. höh. Schulen 1915 S. 348);
brieflich (s. Anhang 11): ü. v. Wilamowitz, Windelband u. a.; ab-
lehnend haben sich geäußert: H. Diels (D. Literaturzeitung XXXII
[191 1] Sp. 1861 — 1866), LoRTziNG (Berl. Philolog. Wochenschr. 1912 Nr.
44), E. Pfeiffer (Studien z. antiken Sternglauben = Boll, Ztoixsla
[i9i6]il S. 3off. und Berl. Philolog. Wochenschr. 1914 Nr. 45 Sp. I4i3ff.),
Fr. Boll (Lebensalter S. 49 ff. == Neue Jahrbb. f. d. klass. Altert, usw.
XXXI [1913] S. i37ff.)-
2) Vgl.RoscHER, Hebdomadenlehren, Leipz. 1906, S. 44ff. (= Abb. I).
Derselbe, Über Alter, Ursprung u. Bedeutung d. hippokrat. Schrift von
d. Siebenzahl, Leipz. 191 1 (= Abb. II). Derselbe, Die neuentdeckte
Phil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 5. I
k
2 Wii.n. H. RoscHKu: l7'.5
•
deshalb jetzt fjjenöli^t , die ^aiv/.e Frage noch einmal mö^-
lich.st gründlich und /.nsununcnfassend /um Teil mit lliU'ü
neuer Beweisgründe zu hehandoln, \ind gehe zu diesem Zwecke
von dem teils in lateinischer, teils in aral)i8cher Sprache
überlieferten Wortlaut des ii. Kapitels aus (vgl. meine Aus-
gabe der Schrift :r. ißd. S. 15 f.). Die beiden maligebeuden
Handschriften bieten folgenden Text:
Ambros. lat. G 108: Parisin. lat. 7027:
Terra autem omuia septeru par- Terra autem oninis Bepteni par-
tes habet: tes habet:
[I] Caput et faciem, P<^e>lopon- caput et faciem Pelopontium , ma-
<'De8")um [lls: Pylopontiura], gnarutn animarum habitationum.
magnarum animarum habitatio-
nem;
[II] Secunchim: I<8th)raus [Hs: Secundum: Immo: medullam cer-
Idymus]: medulla cervix ') vix.
[IUI Tertia pars inter viscera <mc- Tertia pars inter viscera <^media>
dia?> e<fs>t [Hs: et] ^) praecor- e<^8>t [Hs: et] praecordia: Tome,
dia: I<(o)nia [Ha: luniae].
[IV] Quarta, crura: Hell<e>spontus. Quarta, crura: <H>ellidpontum.
[V] Quinta, pedes: Bosporus trän- Quinta, pedes: Vosporus transitus
Situs Trachias et [Ho]c[h]imer- Trachius et onchyme mertus.
<i>n8.
Schrift eines altmilesischen Naturphilosophen u. ihre Beurteilung durch
H. DiELS in der D, Literaturzeitung 191 1 Nr. 30, Sonderabdruck aus
Memnon Bd. V 3/4, Stuttg. 191 2 (= Abh. 111). Derselbe, Das Alter d.
Weltkarte in 'Hippokrates' tt. tßS. u. die Reichskarte des Darius Hys-
taspis im Philologus LXX (19 12) S. 529—538 (= Abh. IV). Ders. in
Wochenschr. f. klass. Philol. 1917 Sp 850!". Ders., Die hippokrat. Schrift
T. d. Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung, Paderborn 19 13, S.
117 ff. u. 150 ff. (= Abh. V).
3) Was bedeutet hier medulla? Kap. 37 a. A. heißt es: Oportet
.... et caput relevare, respirationem dante in eo medulla et cere-
liro, conexi sunt enim sibi. Hier scheint also medulla im Sinne von
Rückenmark gebraucht zu sein.
4) Für meine Vermutung, daß das unverständliche et hier in est
zu emend eren sei, spricht die Tatsache, daß mehrfach in den betreffen-
den Hss. est und et verwechselt worden sind. Vgl. z. B. meine Ausgabe
S. II § 2 Zeile 3, S. 21 Z. 43, S. 26 Z. 23, S. 29 Z. 24, S. 30 Z. 27,
S. 64 Z. 3.
71 j 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 3
[VI] Sexta, venter <8uperior)>^): Sextum cum ventur inferior et lon-
Aegyptus et pelagus Aegyptium. gao intestinus exumus pontus et
palus meothis.
[VII] Septima, venter inferior et
longa<^b^o, intestinum majuä: '
<(E>uxinus Pontus et Palus Meo-
t[h]i8.
Hierzu kommt noch der ins Arabische übersetzte Kom-
mentar des Ps.-Galenus bei Röscher a. a. 0. S. 142 f. u,
Bergsträsser, Pseudogaleni in Hippocr. de septimanis com-
ment. ab Hunaino Q. F. arabice versus == Corp. Medicor.
Graecor. XI, 2, i S. iisfif. Die Bergsträsser verdankte
möglichst wörtliche Übersetzung ins Deutsche lautet:
Hippokr. : Die Erde wird in sieben Teile geteilt.
Die Erde hat einen Kopf und ein Gesicht, das TleXonowriaog ge-
nannt wird.
I. Ps. -Galen : Es ist richtig und zutreffend, wenn Hippokrates mit
dem Kopf beginnt, denn der Kopf ist das Oberste des Körpers und
das edelste aller Glieder, und in ihm ist der Verstand '^), und von ihm
aus verbreiten sich [wachsen?] die Sinne. Darüber hat ein Dichter von
den Dichtern gesagt: Der Name des Landes Uslonöwriaog ist: es ist
ein Wohnort der göttlichen [?] Seelen. Hippokrates nun stimmt darin
mit ihm überein, und er meint mit den göttlichen [?] Seelen die Wei-
sen und gelehrten Menschen und macht dieses Land zum ersten der
Teile der Erde
IL Dann spricht er von dem zweiten Teil und sagt: der zweite
Teil ist die Stelle, die ' le^iios genannt wird, und diese Stelle ist in
der Nähe der Stellen, von denen wir oben gesprochen haben.
5) Daß hier superior zu ergänzen ist, folgt nicht bloß aus dem
ganzen Zusammenhang, sondern auch aus dem venter inferior im Ab-
schnitt VIT.
6) D. h. nach Ansicht des Hippokrates, Alkmaion (Diels, Vorsokr. I,
101, 25. 34. 102, 17), Tythagoras' ^Plut. Plac. 4, 5, 10), Piaton usw.
(vgl. Diels, Vorsokr. I, 369, 46 u. Windisch, Sachs. Ber. XLIII (1891)
S. lögf), während unser Hebdomadiker offenbar nach altionischer (mile-
sischer) Anschauung den Sitz des Verstandes vielmehr ins Zwerchfell
(qppei'fs) verlegt. Vgl. auch n. kßd. Kap. 52: "Ogog Sh d-avdrov iuv xb
tfjg tpvxfjg d^sQubv inavild-rj vTtsg xov öficpuXov [in der Mitte des Lei-
bes, in der Gegend des Zwerchfells] ilg tov avca x&v cpqevütv xonov
X. T. X.
4 Wu-ii. H. RosoHKu: [71,5
III. naun sjiricht er von tlrni dritton Teil und sagt: der dritte
Teil von der Krdo sind die Stelion, die 'Ifavia f^cMiannt
werden, und die Bevölkerung »mmI die Howohner dieser
Ge>jend sinii stark "\ verständig, einsichtig und weine,
llippokratfs mehrt ihr Lob und ihren l'reis, und manche
von den Erklürem') sagen.- er preist die Bevölkerung dieser
Gegend, -weil er von ihnen ist; al)er wir sagen ein Wort der Wahr-
heit, nämlich daß Hipiiokrates das nicht im Sinne gehabt und nicht
berücksichtigt hat, sondern (daß) .jene dem entsprechen, wovon er
spricht, von der (_iereclitigkeit und dem Verstand und der Weisheit.
Und wenn die Leute jener Gegend dem nicht entsprächen, wovon Hip-
pokrates spricht . . . ., so wiirde diese Gegend das Lob verdienen wegen
dieses trefflichen Mannes, weil sie einen Mann hervorge1)racht hat, auf
den wir stolz sind und den wir loben und über die Menschen ins-
gesamt in seiner Zeit erheben
IV. Hippokrates teilt die Erde in den vierten Teil und sagt: der
vierte Teil ist der, 6.Q1' EXXi]6novTog^) genannt wird, und diese Gegend
ist lang ausgestreckt und geht nach der Richtung unseres Meeres, und
sie ist schmal.
V. Dann teilt er die Erde in einen fünften Teil und sagt: der
fünfte Teil ist die Stelle, die BöonoQos genannt wird oder ©ßaxjog oder
7) Der arabische Ausdruck für 'stark' bedeutet entweder körper-
liche oder politische Stärke. Im ersten Falle (vgl. 37'" a": die Be-
wohner des thrakischen Bosporus sind kräftig, stark, kriegerisch
und 37'' b: die Leute an der Maiotis haben keinen Mut, sondern sind
schwach und unkriegerisch) sei erinnert an Zenob. V, 80: Udlui
noz f^aav aixiftoi MiXriGioi (Orakel aus der Zeit des Dareios und
Anakreon) und ebenda 57: ot'xoi ra. MiXriöm^ sowie an den Gegensatz
der Peloponnesier und lonier bei Thukydides (Röscher, Über Alter
usw. S. 30 A. 49 und Herod. i, 143; vgL meine Ausgabe S. 157). Im
letzteren Falle ist ebenfalls nur an die Zeit vor der Eroberung Lydiens
und loniens durch Kyros, also an die Zeit des Thaies und Anaximan-
dros zu denken, dagegen die Zeit von 450 — 350 (so Boli. und Diels)
absolut ansgeschlossen. — Auch einer dritten Möglichkeit sei hier noch
gedacht, daß nämlich der betreffende arabische Ausdruck hier soviel
als liäXiGra bedeute (s. Bergsträssek in meiner Ausgabe von n. ißS.
S. 142 Anm. 195). In allen drei Fällen würde also auf die Zeit vor
den Perserkriegen hingewiesen werden (a. a. 0. Anm. 196").
8) Auch noch an anderen Stellen des von Bergsträsskr über-
setzten arabischen Kommentars wird auf andere Erklärer hingewiesen,
z. B. S. 95 (30'a). S. 49 (is'-c und i5^a), S. 39 (la'-a), S. 27 (S-'f).
9) Siehe den Anhang III.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 5
KififieQixög genannt wird. So wißt, daß die Bevölkerung und Bewohner
dieser Gegend kräftig, stark, Krieger und Leute von Mut und Tapfer-
keit sind und niemand sie zurückhalten kann.
VI. Dann teilt er die Erde auch in [s] einen sechsten Teil und
sagt: der sechste Teil ist Ägypten, und es ist ein fruchtbares Land,
voll Körner, Früchte und Obst.
VII. Dann teilt er die Erde in einen siebenten Teil und sagt:
der siebente Teil von der Erde ist die Gegend, die E^^sivog Ilovros
genannt wird, und die Insel [?], die Maiwtig genannt wird, und dies
ist eine große Insel von den Inseln des Meeres, die die Abfälle der
Erde aufnimmt, und unter ihnen ist eine Insel, die die Abfälle der
Wasser des Meeres aufnimmt; in ihrem Volk aber und ihren Bewohnern
ist kein Mut, sondern sie sind schwach und dienstfertig und können
den Kampf und Krieg nicht ertragen.
Das Wichtigste, was wir aus einem Vergleiche des ara-
bischen Kommentars des Ps.-Galenos mit der lateinischen
Übersetzung von tc. ißd. Kap. 11 lernen, ist kurz folgendes:
i) die Tatsache, daß der ursprüngliche Text der hebdo-
madischen Kosmologie im Laufe der Zeit verschiedene Kür-
zungen und Änderungen erfahren hat, worauf ich schon früher
aufmerksam gemacht habe.^'') Aus dem arabischen Kommen-
10) Vgl. Abh. II S. 52f. Anm. 93 ff- Abb. V S. 155 Anm. 213. Eine
weitere Lücke hat kürzlich E. Pfeiffer (Berl. Philol. Wochenschr. 19 14
Nr. 45 Sp. 1416) nachgewiesen. Favonius Eulogius nämlich zitiert in
dem Abschnitt über die Lebensalter Hippokrates. Der entsprechende
griechische Text findet sich aber nicht in jt. sßS. Kap. 5 , sondern bei
Diokles v. Karystos (= Theol. arithm. ed. Ast p. 49):
Diokles : Hippocr. 7t. sßS. b. Favonius :
T^ 8h TEtccQtT] [tßSo(iäSi] xr]v\ quatuor autem annorum heb-
inl Ttlätog (sc. ccvi,r\6i,v) rsistoörat domadibus evolutis staturae cre-
xul ovSsfiia allr\ uvrotg anoX^iTtetat, scentis terminum fieri nee ultra
emfiatog inidoGig' relsiog yccg o kt}'. proceritatem posse procedere.
Die negative Wendung fehlt nämlich in Hipp. tt. sßd. Kap. 5 S. 9 ed.
R. Pfeiffer schließt daraus mit Recht: ''Wir haben demnach an den
Anfang einen erweiterten Hippokrates sr. ißd. zu stellen, aus dem
Diokles v. Karystos und Ärzte, deren Schriften im Hippokratescorpus
Btehen(z. B. die Verf. d. Aphorismen, der Coac. praen., ä. jtpict'ficov) geschöpft
haben, und aus dem das uns vorliegende Buch n. tßS. einen Auszug
darstellt' ... — Auch das von Littke (VIII, 627) aus Origenis Philo-
6 Willi. Tl. Rosourr: [71.5
tar gebt näiulich mit größter Sicherheit hervor, daß einst
Punkt 3 der 'Weltkarte' gehuitet hiit:
'Dritter Teil: in der Mitte zwischen den Eingeweiden
das Zwerchfell: lonien; und die Bewohner dieser Gegeml
sind (politisch oder wirtschaftlich oder körperlich, s. oh.
Anm. 7) stark, verständig, einsichtig und weise',
ein überaus bedeutsamer Zusatz, der ziigk^ich eine deutliche
Parallele zu der lobiuden Charakteristik der Peloponnesior,
sowie zu der Hervorhebung der kriegerischen Eigenschaften
der Thraker und Kimmericr und zu dt^r schon durch den
drastischen Vergleich mit dem longabo angedeuteten Gering-
schätzung der Anwohner der Maiotis bildet, wo ebenfalls, wie
es scheint, die lateinische Übersetzung wesentlich gekürzt
worden ist (vgl. Abb. V S. 156 Anm. 213).
2) geht aus diesem Zusatz klar hervor, daß der Verfasser
unserer Weltkarte noch vor der Vernichtung loniens durch
die Perser gelebt haben muß, als die lonier noch als (poli-
tisch) starke sowie als besonders intelligente und kulturell
hochstehende Nation gepriesen werden konnten. Vgl. Herod.
1, 170: avrr] ^lev BCavtog rov nQii]vbog yväiir] inl dtscpd'aQ-
[isvoL6i"Ic3öt yevofitvr], iQriöxi] de xul tiqIv 7} öcacpd-aQrjvaL
'Jcovirjv COciksco avö^bg Mikrialov sytveTO . . . und über die
Ärmlichkeit Milets im 5. Jahrb. Rehm bei Kawerau-Rehm,
Das Delphinion in Milet S. 157: 'Mag das übrige Karien
persisch geblieben sein bis 466 (Diod. XI, 60, 4): Milet bat
geographisch und ethnographisch mit seinem Hinterlande so
geringen Zusammenhang, daß die Perser nach der Schlacht
an der Mykale die Stätte — eine Stadt war's ja wohl nicht
mehr — schwerlich werden gehalten haben.' Und was von
dem Milet des 5. Jahrhunderts gilt, das gilt natürlich (s.
sophumena . . , e cod. Paris. ... ed. E. Miller, Oxon. 1851 p. loi
angeführte Hippokratesfragment: tTtrce it&v natg Ttatgog tjulcv (näm-
lich an Gewicht!), was Litte^ weder in jt. ißS. noch in den übrigen
Schriften des Hippokrates hat auffinden können, gehört wohl ursprüng-
lich dem Buch von der Siebenzahl an, in das es dem Sinne nach treff-
lich hineinpaßt.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 7
Herodots eben angeführtes Zeugnis!) mehr oder weniger auch
von dem übrigen lonien, so daß die obige Charakteristik
seiner Macht, Bildung und Kultur im Munde eines ionischen
(milesischen) Kosmologen des 5. u. 4. Jahrh. so gut wie un-
denkbar erscheint.
Setzen wir nunmehr die soeben aus dem arabischen
Kommentar des Ps.-Galenos erschlossenen Ergänzungen in
den Text der lateinischen Übersetzungen ein, so erhalten wir
folgende Beschreibung der siebenteiligen Weltkarte:
O O CJ
I: Dem Kopf und Gesicht der Erde entspricht der
Peloponnes, der Wohnsitz hochgemuter Seelen;
II: Dem Mark [?] und Hals entspricht der Isthmos von
Korinth^');
III: Dem Zwerchfell in der Mitte der Eingeweide ent-
spricht lonien, und dessen Bewohner sind ausgezeichnet
durch Stärke, Verstand, Einsicht und Weisheit;
IV: Die Schenkel entsprechen dem Hellespont;
V: Die Füße dem Thrakischen und Kimmerischen
Bosporos, deren Anwohner sich durch körperliche Kraft
und kriegerische Tüchtigkeit auszeichnen;
VI: Dem Oberleib entspricht Ägypten und das ägyp-
tische Meer;
VII: Dem Unterleib und Mastdarm entsprechen der
Pontos Euxeinos und die Maiotis, deren Anwohner körper-
lich schwach und unkriegerisch sind.
So bleibt uns schließlich nur noch übrig, die ursprüng-
lich jedenfalls von unserem Kosmologen beabsichtigte, aber
im Laufe der Zeit durch unbekannte Einflüsse zerstörte
strenge Ordnung der Glieder von oben nach unten her-
zustellen, die in den meisten analogen Beispielen von Auf-
II) Vgl. Herod. 6, 37: avxijv rTJ? XsQaovriGov. — Plin. n. h. 4, 8:
oppidum Pagae, unde Peloponnesi prosilit cervix, — 16, lO: an-
gusta cervice Peloponnesum continet Hellas. — Philostr. v. Ap.
Ty. 4, 24 (vom Isthmos): ovrog 6 a-vx^v rfig yfjg Tsr\irj6sxul. — Ach.
Tat. 2, 14: avxr}v [= rgccxrilog] T^g vi^aov (Tyros). —
8 Wii, 11. II Koscher: |7',5
zälilun<^en dor \vi(*hti<^sttMi Körperteile*') und aiich von
unserem Kosmologen selbst in Kiip. 7 beobachtet worden
ist.'^) Denn hier werdtri die sieben Teile des menschlichen
Körpers in dieser lieihenlblge nacheinander aufge/iliilt:
1. Kopf (caput),
2. lliliulo (inann8\
3. Zwerchfell (^interiora viscora et praocordiorum doliuitio) '*),
4. üriuorgan (veretri una pars: urinae profusio),
5. Samenorgan (alia piirs: Beminis ministratura),
6. Mastdarm (longabo :=: iutestinum majus),
7. Schenkel (crura).
Demnach müssen wir als ursprüngliche Liste der 7 Weltteile
diese Reihenfolge annehmen:
1. Kopf und Gesicht: Peloponues,
2. Hals: Isthmus,
3. Oberleib (Brost): Ägypten und das ägyptische Meer,
4. Zwerchfell : lonien.
5. Unterleib und Mastdarm: Poutus Euxinus u. Palus Maeotis,
6. Schenkel: Hellespont,
7. Füße: die beiden Bospori.
Zu dieser siebenfachen Teilung der Erde gibt es eine ziem-
lich ffroße Anzahl mehr oder weniger übereinstimmender
Analogien. Ich erinnere zunächst an die 7 dvipa der Inder*"),
12) Vgl. meine Abb. III S. 33! und V S. i07f., wo noch hinzuzu-
fügen sind: Straton u. Diokles b. Nikom. ed. Ast (Tlieol. ar.) p. 47
(i: y.scpalTj, 2: avxrjv, 3: &mQa^, 4, 5, 6, 7: xwXu), Midrasch Tadsche 6
bei WüsscHK, Aus Israels Lehrhallen V, 2 S. 96 f. (i: Kopf, 2: Kehle,
3: Bauch, 4, 5: Hände, 6, 7: Füße). — S. auch Ilberq in der Fest-
schrift für H. Lipsius S. 34 f u. 38, nach dem das Schema a capite
ad calcem wohl auch sonst üblich war, namentlich, wie es scheint, in
der knidischen Ärzteschule.
13) Ähnlich auch in der Aufzählung der 7 Sphären (Kap. i):
I: Äther, 2: Sterne, 3: Sonne, 4: Mond = Sitz des Verstandes, d. i.
der denkenden Weltseele, 5: Luft, 6: Wasser, 7: Erde.
14) Hier liegt offenbar eine auf arger Verkürzung beruhende Ver-
derbnis des ursprünglichen Textes vor, insofern der durch das Zwerch-
fell und den Nabel in zwei Hälften geteilte, hier gar nicht zu missende
^cbpal {öTSQva, pectus) weggelassen ist.
15) Lasskn, Ind. Altertumskunde 4 S. 59. Roschek, D. Omphalos-
gedanke S. 2 ff.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 9
die Weltkarte der Babylonier mit ihren 7 nagu sowie an
deren 7 tubukati^^), die Siebenteilung der Erde im 4. Buche
Esra 6, 42, an die 7 keshvars der Parsen, die 7 akälim der
Araber, die 7 xlC^ara des Ptolemaeus^''), endlich an die 7
Teile der Oikumene des Rabbi David Kimchi (Comment. in
Psalm. 87) im 13. Jahrb., als deren mittelster Palästina mit
dem Zentrum (Ompbalos) Jerusalem erscheint (Roscher,
Omphalos S. 24.^.- Marinelli, Die Erdkunde b. d. Kirchen-
vätern, deutsch von Neumann S, 76 Anm. 44).
Die allergrößte Ähnlichkeit mit der Erdkarte des heb-
domadischen Kosmologeu verrät aber die ägyptische Welt-
karte, welche uns in dem hermetischen Traktat KÖQr] xöö^ov
bei Stob. Ecl. I, 49 (= J, 411, 3S. Wachsm. = I p. 302
Mein.) überliefert ist, wie m. W. zuerst Boll (Lebensalter
S. 50 f.) gesehen hat. Auf die Frage ihres Sohnes Horos,
warum die außerhalb des heiligen Ägyptens wohnenden
Menschen nicht so begabt seien wie die Ägypter, antwortet
seine Mutter Isis. Die [nach ägyptischer Anschauung] als
männliches Wesen vortjesteUte Gottheit der Erde liecrt im
Mittelpunkt des Alls wie ein Mensch, der zum Himmel em-
porschaut, und ist in ebenso viele Teile geteilt, als
der Mensch Glieder hat, nämlich sieben. Ihr Haupt
liegt gegen Süden (I), ihre rechte Schulter gegen Osten
(II), ihre linke gegen Westen (III) ^^); unter dem Bären,
d. h. im Norden, die Füße, und zwar der rechte unter
16) A. Jeremias, Die Bibel im Lichte d. alt. Or. ^ S. 16. Zimmern
h. ScHRADER, D. Keilinschriften * S. 616, 2. Hehn b. Roscher, D. Om-
phalosgedanke S. 10 f.
17) R0.SCHER, Abh. I S. 10 Anm. 9.
18) Derselbe Gegensatz von rechts (= östlich) und links (= west-
lich) kommt auch vor in der Lehre der Pythagoreer; vgl. Diels, Vor-
sokratiker I S. 276, 44f. 277, 3 f. u. 6f. Simplic. z. Aristot. a. a. 0.
p. 391, 3off. Heiberg. S. Heidel in Class. Philology X (1915), S. 227,
der mit Recht annimmt, daß auch die Pythagoreer 'had in mind a
person lying on his base, with his head to the south, his feet to the
north, and his right and left hands extending respectively east
and west'.
lo Wii.ii. 11. KosciiKii: [7', 5
dem Schwanz (IV), der link(> unter dem Kopf des Bären
(V), lue Schenkel in dem Teil, der nuch dem Bären (d. h.
von ihm liegen Süden yai) kommt (VI), die Mitte (VJI xagdia,
d. h. Aij^Ypten) in der Mitte (rd öh ^isöa iv rolg jucöott;).'")
Daraus werden dann, ähnlich wie im i i. Kapitel von jr.
eßdouädcov, die Eigen scliat'teu der einzelnen Völker der
Erde ahgeleitet: i) Die Südvölker (ot vorintoi), die auf dem
Haupte der Erde wohnen*^), sind £vx6gv(pot, xal xaXHrQL-
Ifg. — 2) Die (rechtsarniigen) Ostvölker (ol axi]hioxiy.oi)
werden charakterisiert als jr^jog fidxv^' ^Q^X^^V^'' ^'^''' To^ixot.
— 3) Die (linksarmigen) Südwestvölker {ol iv rä hßi) sind
ccö(faX£ig xal ag txl to oiXei6xov dQtareQÖfiax^'' '^"^ ööov
aXkoi tio Öe^iä iibqei- ivfQyovötv avTol rä evcot'vna) TCQoön-
d-t'n6V0L. Hierzu bemerkt H. Philipp auf Grund von Mit-
teilungen Sieglins, daß hier ofienbar eine recht alte ägyp-
tische Vorstellnnff vorliegt. Die im Osten vorhandenen Völ-
ker sind tüchtige Kämpfer und treffliche Bogenschützen: der
Grund dafür ist die Übung der rechten Hand; die Südvvest-
bewohner sind day-eoren vorsichtig und fechten meist mit der
OD O
Linken (vgl. Müller, Asien und Europa S. 374: Schild in
der Rechten, Schwert in der Linken). Schon Philipp
(Wochenschr. f. klass. Philol. 191 3 Nr. 24 Sp. 666f.) hat daraus
19) Eine ähnliche Siebenteilunp der menschlichen Gestalt (Adams)
nach geographischen und ethnographischen Gesichtspunkten findet sich
bei Fäbricils, Cod. Pseudepigr. Vet. Test. Hamburg 1722 vol. 11 p. 41 :
Eaf Oschaia refert ex ore Raf, Adami primi corpus [= Q-oaga^] iuisse
desumtum e Babel (I), caput (II) e fundo Israelitico., membra
sive manus (III u. IV) et pedes (V n. VI) e regionibus reliquis,
denique nates (VII) ex Acra Agmae secundum sententiam R. Achae.
Vgl. dazu RoscHER, Der Omphalosgedanke bei verschied. Völkern, be-
Bond. d. semitischen S. 46 Anm. 80. — Wahrscheinlich beruht obige
Legende auf der Tendenz, die Ansprüche der verschiedenen Länder
auf den Besitz Adams miteinander auszugleichen.
20) 'Wie das Haupt des Erdkörpers nach Süden gewendet ge-
dacht wird, so ist überhaupt Süden die Himmelsgegend, welcher der
Ägypter das Gesicht zuwendet; von Süden nach Norden, von Osten
nach Westen geht für ihn die Aufzählung der Himmelsgegenden' usw.
PiETscHMANN b. Paulj-Wissowa I Sp. 985 f.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. i i
geschlossen, daß wir es unbedingt mit einer recht alten ägyp-
tischen Vorstellung zu tun haben, die vielleicht auf dea Ver-
fasser des Buches von der Siebenzahl eingewirkt habe. —
4) Die Nordvölker (ot vjtb tyiv aQxtov) werden geschildert
als TtQCJTSvovTsg rovg 7t 6 dag aal uXXag svKvrj^oi. — 5) und
6) Die darauf folgenden, zu denen die Italiker und Hellenen
gehören (ro vvv iraXtxbv xlina xat t6 aXXaÖL'adv), welche
auf den Schenkeln {inqQoC) der Erde wohnen, sind xaXX^urjQoi
xccl ev%ox(ov£6t£QOL^ cÖGxs rfj rov TcdXXovg tav ^sqüv rovtcov
VTtSQßoXfj rovg svravd'cc dv&QaTtovg xataßaLvsiv TCQog rijv xcbv
ccQQBvav ofiiXCav.^^) — 7) Das Volk der Mitte endlich sind
die Ägypter, die im übrigen allen vorhergenannten Völkern
ebenbürtig, aber ihnen allen überlegen sind durch Verstand
und Vernunft^^), weil sie die Gegend des Herzens (ev
tf} xccQÖCa, TCO ^i'^Tjg OQfirjTrjQCa) bewohnen ^^)-, das Herz aber
in der Mitte des Körpers ist nach altägyptischer Anschauung
der Sitz der Seele und des Verstandes (vgl. dazu Kroll, Die
Lehren des Hermes Trismegistos, Münster 1914, S. 159, 166 f.
ROSCHER, Der Omphalosgedanke S. 84 A. 133).
Illustriert wird diese überaus merkwürdige echtägyptische
Welt- und Völkerkarte durch mehrere schon längst von mir
zur Erklärung unseres Hebdoraadikers herangezogene und ab-
gebildete altägyptische Gemälde, die den am Boden liegenden
Erdgott Geh in eigentümlicher Verrenkung darstellen, über
den sich, ebenfalls eigentümlich verrenkt, eine oder zwei
21) Diese für die Griechen und Italiker nicht gerade erfreuliche
Charakteristik au9 älterer [?] ägyptischer Zeit erheischt wohl eine ge-
nauere Untersuchung.
22) Daß die Ägypter sich auch sonst für besonders intelligent und
gebildet hielten, beweist durch eine Reihe von Zitaten Pietschmann im
Art. Ägypten bei Pauly-Wissowa I, 993 unten.
23) iitsidi] ds iv rm ft^cco Trjg yfjg kütcci tj t&v Ttgoyövcüv rjy.iv
itQüizarri ^obpa ro öf- iisGov rov ccv&Qconivov Gwfiarog ^lovris rfjg Kagd Lag
ioTi criKog, ttjs Ss ^>vxiig ÖQurjrriQiov iaxi -nagSia^ naga ravTrjv rrjv
aixiav ... Ol ivrav&a avQ'Qion oi to: [ikv aXXcc i%ov6iv ovx rjrrov oßa ycccl
•navxsg, i^aiQsrov dk xcbv nävxcov vosqioxsqoL siot yial GaxpgovBg, ag
ccv inl na Q 3 lag yevväniBvoi, xal XQacpivxBg.
Wii,ii. II. Koscher:
[71,5
Himniels^öttinuen (Nut) hinüborbeugen.-*) Bereits in Ahli. 1
S. 12 A. 15 hiibo ii'h t^iin/ bestiiiuut die Vermutung uusge-
sproohen, daß die ebenfalls oiiu' wundorlicli verrenkte Mcn-
schongestalt voraussetzende Weltkarte unseres Ilebdoniadikers
eine gewisse Ähnlichkeit mit der eigentümlich verrenkten
Gestalt des ägyptischen Erdgottes gehabt haben müsse, eine
Annahme, die zu
meiner Freude
BOLL (Lebensal-
ter S. 51) dahin
erweitert hat, daß
er geradezu er-
klärt, mit mir
an eine Anregung
des Hippokrateers
durch eine ägyp-
tische Vorstellung
zu glauben.
Diese Annahme
hat in der Tat
außerordentlich
viel für sich; denn in nicht weniger als 5 VergleichungSr
jiunkten stimmt die Weltkarte unseres Hebdomadikers mit
derjenigen der KÖQt] y.öö^ov überein. Diese sind folgende:
i) In beiden Fällen wird die Erde mit einer (liegenden)
Menschengestalt verglichen.
2) Diese ist hier wie dort siebenfach gegliedert.
3) Jedem einzelnen Gliede entspricht ein bestimmtes
Land und Volk mit seinen besonderen Eigenschaften.
Fig. I. Zwei HimmeUgöttinneii und Erdgottheit der Ägyp-
ter. Nach BBU'iSCH. Religion und Mythologie der alten
Ägypter. S. 2n. Mehr unt. S. 94.
24) Die auffallende Erschein iing, daß die drei eigentümlich ver-
renkten Gestalten genau in der Mitte, also der Nabelgegend, den
Höhepunkt über dem Boden erreichen, erklärt sich wohl am einfach-
sten und besten aus der von Wensinck erwiesenen Tatsache, daß nach
allgemeiner Annahme des Altertums dem 6ii(palög yfig überall eine
Höchstlage zugeschrieben wurde, so daß er auch von der Sintflut
verschont blieb (Roschek, D. Omphalosgedanke S. 39 f. S. 52 u. 59).
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl.
13
4) Das durch Intelligenz und Bildung ausgezeichnetste
Volk bewohnt die Mitte, als welche von den Ägyptern die
xccQÖCa^ von den Griechen (loniern) das Zwerchfell (^cpQsvsg,
praecordia) betrachtet wird.
5) So kommt in beiden Fällen die Theorie vom Makro-
und Mikrokosmos
zustande.
Daß eine so
weit gehende Über-
einstimmung keine
zufällige sein kann,
sondern eine ent-
schiedene Abhän-
gigkeit der einen
Weltkarte von der
andern voraussetzt,
dürfte jedem Unbe-
fangenen klar sein.
Fragen wir jetzt
. . ; i'ig. 2- HimmeUgöttin, mit Sternen bedeckt, Schu stehend
nach der Zeit, der und Erdgott Hegend. Nach Brugsch, Religion und My-
I • 1 thologie der alten Ägypter. S. 210.
jene ägyptischen
Bildwerke entstammen, so kann mit voller Sicherheit be-
hauptet werden, daß die ihnen zugrunde liegende Vorstel-
lung in ein so hohes Altertum hinaufreicht, daß eine Beein-
flussung von Seiten der Griechen (lonier) vollkommen aus-
geschlossen scheint und sicher das Umgekehrte anzunehmen
ist. Denn nach den Darlegungen von Hugo Prinz (Alt-
oriental. Symbolik, Berl. 191 5, S. 16) und dem daselbst ab-
gebildeten Deckengemälde im Grabe Hamses' IX. (s. Taf. VI, 2)
läßt sich jene eigentümliche Vorstellung von der meuschen-
gestaltigen Erde bereits im 12. — 11. Jahrhundert vor Chr.
(vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I § 268) nachweisen. ^^) Spä-
tere Wiederholungen des gleichen Bildes sind nicht selten;
25) Ygl. auch PiETSCHMANN bcl Paulj-Wissowa I Sp. 985, syflF., der
auf Dknon, Voyage, Atlas; Lepsiüs, Denkmäler IV 35*" usw. verweist.
14 WiLii. H. Koscher: f7',5
(las von mir in AMi. III Taf. II Fi;^'. i u. Ahli. I S. 1 2 aus
Hkuosch, Hell«,', n. Mythol. d. alt. Ägypter S. 2 n entlehnte
Cienüilde entspricht so ziemlich dem Deckenbild im l'ionaos
des Tempels von Philae aus ptoleniäischer Zeit (1'kinz Taf. VIII
Fig. 2): 'llimmelsgöttin nackt, auf ihrem Kcirper 24 Scheiben,
in gleicher Form und Haltung wie die llimnielsgöttinnen auf
Nr. I u. 2[ auf ihrer r. liaml männliche Gottheit. Über ihr
eine zweite nackte Himinelsgöttin in gleicher Form und Hal-
tung, auf ihrem Körper zwei gellügelte Sonnenschcibeu. Am
Boden liegt der Erdgott (vgl. Ö. 22)-^ über jeder Hand eine
Sonnenscheibe. Der von den Göttinnen eincreschlossene Raum
ist mit Sternen angefüllt . . .' Das von mir in Abh. 111 Taf. II
Fig. 2 nach Brugsch a. a. 0. S 210 wiederffef^ebene Bild da-
gegen entspricht einigermaßen dem bei Pkinz S. 16 nr. 6 und
bei Lanzone, Diziouario Tav. CLX 1, nur daß hier Schu
kniet, dort aber steht. Ähnlich auch Prinz S. 17 nr. 7
(Holzsarg der XXI. Dynastie)'^) und nr. 8 (Holzsarg derselben
Dyn), nr. 9 = Lanzoxe Tav. CLVIl, nr. 10 und Lanzone
Tav. GL VIII, 2 usw.
Auf <jrund aller dieser Darlegungen darf also mit ziem-
licher Zuversicht behauptet werden, daß die in Rede stehende
Vorstellung des ionischen Hebdomadikers nicht bloß auf alt-
ägyptischer Grundlage beruht, sondern wahrscheinlich auch
in jener Zeit nach lonien verpflanzt worden ist, als die Mile-
sier unter Necho II. (609 — 595) und Amasis (569 — 526) viele
militärische und kommerzielle Beziehungen zu Ägypten ge-
wannen und eine bedeutende Niederlassung im Nildelta (Nau-
kratis) gründeten ^^), das ist aber das Zeitalter des Thaies und
des Anaximandros, des Verfassers der ersten [?J von einem lonier
entworfenen Weltkarte ^^)
26) Die XXI. Dynastie regierte bekanntlich vor 800 vor Chr. Vgl.
E. Meyeb, Gesch. d. Alt. I S. 479 n. § 3 50 f.
27) Vgl. Ed. Meyer a. a. 0. I § 468 f. und § 500.
28) Vgl. H. Bekger, Gesch. d. wissenschaftl. Erdkunde d. Griechen *
S. 2f. , der annimmt, daß A. seine Karte noch vor 550 v. Chr. ange-
fertigt und auf derselben außer der taurischen Halbinsel, der ägypti-
71,5] Dje hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 15
Mit noch viel größerer Sicherheit aber weisen folgende
Tatsachen und Erwägungen auf Milet und die erste Hälfte
des 6. vorchristlichen Jahrhunderts hin:
a) „Die Erdkarte unseres Autors ist für die Gesamtheit
der griechischen Welt allerdings unvollständig, aber nach
einem besonderen Prinzip, und wiederum vollständig, indem
sie nur das Kolonial- und Handelsgebiet von Milet
umfaßt, wie es sich im 6. Jahrh. entwickelt hatte" (Drerup,
Lit. Zentralbl. 191 3 S, 13 13).
b) „Sie ist verständlich nur vom Standpunkte a) des
6. Jahrh. vor Chr., ß) eines loniers. Wenn nämlich lonien
hier das Zwerchfell der Erde genannt wird, so kann damit
dieses Land nur als Mittelpunkt der Welt und der Sitz der
höchsten Intelligenz und Kultur hiagestellt sein. Denn
diese altepische Bedeutung des Zwerchfells ergibt sich auch
für unsern Verfasser aus der Stellung und Bedeutung des
Mondes im Kosmos, die dem Zwerchfell im Körper entspricht"
(Drerup a. a. 0.). S. ob. Anm. 13 u. Abb. H S. 16 f.
c) Auch die Ignorierung des persischen Weltreichs
und Athens, sowie des gesamten Westens, mit dem die
Milesier direkt kaum verkehrten ^^), deutet auf das Milet der
ersten Hälfte des 6. Jahrh.
sehen Nordküste, den Syrten, Kleinasien usw. auch die auf unserer
hebdomadischen Weltkarte noch fehlenden Halbinseln des
südlichen Italiens und Attika zur Darstellung gebracht habe.
29) Natürlich brachten die Milesier, um das gefährliche Vorgebirge
Maleia zu vermeiden, ihre für den Westen bestimmten Waren zur
Weiterbeförderung durch die Korinthier nach dem Isthmos, der deshalb
auch Ton unserem Kosmologen ausdrücklich trotz seiner räumlichen
Beschränktheit auf seiner Weltkarte als ein Hauptpunkt genannt wird.
Vgl. BusoLT, Griech. Gesch * 1 S. 446. Neumann-Partsch, Physik. Geogr.
V. Griechenl. S. 106 u. 142 ff. : „Immer blieb für die griech. Küstenfahrt
das Doublieren des Cap Malea eine schwierige Aufgabe. Dies war der
Umstand, welcher im Altertum die Lage Korinths für den Handel so
überaus wertvoll* machte" usw. Hierzu kommt noch die gewichtige
Tatsache, daß die für die Schiffahrt und den Handel der Milesier
(lonier) bei weitem wichtigsten und häufigsten Winde die Nord- und
Südwinde sind, während die für den V^erkehr mit dem Westen nötig-
i6 Wn.ii. Tl. KosruKR: [71.5
d) Die diMii lldiilonuuliki'r vorlie^JMidc Weltkiirto Imt
iiugcuschtMiilicli nur die von den Milesiern zwischen Ägypten
und der Maiotis einerseits und zwiscluMi Milet und der l'elo-
ponnes (oder Isthnios) anderseits befahrenen Schiiisrouten ent-
halten und ist demnach mehr eine See- als eine Erdkarte
gewesen. So erklärt sieh <;anz einlach die sonst unbegreif-
liche Tatsache, daß unser Kosniolo^e nur 4 Länder al)er
6 Meere nennt, die jedoch alle im Hereiche des altmilesi-
»chen Seehandels — man denke an die 'Ativavtai Milets!
— lagen.
e) Auch die aus dem 6. Jahrh. stan)menden und von
V. Stekn (Klio IX [190g] S. 141) beschriebenen Grabfunde,
die den milesi sehen Kolonien Südrußlands verdankt werden,
bezeichnen fast denselben geographischen Kreis wie die Welt-
karte unseres Kosmologen. Dort fanden sich nämlich zahl-
reiche Naukratisscherben, rhodische Teller (vgl. Poul-
SEN, D. Orient u. die frühgriech. Kunst S. 91 f.), klazome-
nische und altmilesische Gefäße, korinthische Scherben,
ägyptische Skarabäen und schwarzfigurige attische Scher-
ben, die wahrscheinlich von den Milesiern importiert v^aren.^")
Erst zu Ende des 6. Jahrh. (wohl nach der Zerstörung Milets)
•wird diese ionische Kultur durch den überhand nehmenden
attischen Einfluß verdrängt.
b) Die Weltkarte und Erdkunde des Pythagoras und seiner
ältesten Schüler.
Zwar ist uns von der Erdkunde und Weltkarte des
Pythagoras und seiner ältesten Schüler direkt wenig Authen-
ßten Ost- und Westwinde nur eine ganz geringe Rolle spielen. Vgl.
Ro-scHER, Abb. II S. 82 f. u. A. Mommsen, Griech. Jahreszeiten 4 S. 450.
Neumann-Partsch, Phys. Geogr. v. Griechenl. S. 97 u. 125.
30) Vgl. dazu auch Perrot-Chipiez, Hist. de l'art d. l'ant. X (1914)
über die nur in Attika und Aigina gefundenen 'protoattischen' Vasen
(bis Beginn d. 6. Jahrb.), die einer Zeit angehören, als Athen (im Gegen-
satz zu lonien, Korinth, Chalkis, Aigina) noch keinen überseeischen
Handel trieb: Lit. Zentralbl. 19 18 Sp. 1069.
71,5] Dlli HrPPOKRATISCHE SCHRIFT VON DER SiEBENZAHL. I7
tisches überliefert worden ^^), aber wir können doch aus ganz
bestimmten Tatsachen durchaus sicher schließen, daß ihre
Erdkarte ganz anders, und zwar viel vollständiger und
moderner, ausgesehen haben muß als die altmilesische,
nur das Handels- und Kolonialgebiet der Milesier berück-
sichtigende unseres Hebdomadikers. Denn daß bei ihrem auf
Gewinnung eines umfassenden Weltbildes ^^j, sowie auf die
Lösung der damit zusammenhängenden geometrischen und
arithmetischen Probleme gerichteten Streben Pythagoras und
seine ältesten Schüler nach dem Vorgänge des Anaximan-
dros kaum auf den Entwurf einer Weltkarte verzichtet haben
können, dürfte schon von vornherein einleuchtend sein. Vor
allem läßt sich schon von Pythagoras selbst mit größter Zu-
versicht behaupten, daß er, der als reifer Mann von ungefähr
40 Jahren während der Regierung des Polykrates Samos ver-
lassen hat, um nach Unteritalien auszuwandern, unmöglich
das persische Weltreich und den Westen ebenso wie der
Hebdomadiker ignorieren konnte, wenn er seine geographi-
schen Kenntnisse zum Entwürfe einer Erdkarte oder einer
Übersicht über die ihm bekannten Länder und Völker der
damaligen Oikumene verwerten wollte. Denn er erlebte ja
zweifellos nicht bloß die Eroberung Lydiens und loniens
durch Kyros (546), sondern auch die Stellung einer samischen
Hilfsflotte für Kambyses seitens des Polykrates (525); vgl.
31) Eine ziemlich deutliche Spur von der einstigen Existenz einer
pythagoreischen Welt- oder Erdkarte erblicke ich in dem wahrschein-
lich aus Varro stammenden Zeugnis des Martianus Capella VI 609
(198 G): Quarum regionum habitus [gemeint sind die Erdzonen]
prodidit doctissimus Pythagoras. Vgl. dazu auch Plut. de plac.
philos. 2, IG: Uv&ccy oQag, ükcctcov, 'AQiaxoxiXr]g ös^lcc tov tiöa^tov ra
ttvaroXiKCi fiSQr], acp av i] ccQxr] r/jg Kiv^asag, agiarsgä Sk xa Svxlkcc.
Zum Verständnis verweise ich auf Heidel, Class. Philology X (1915)
S. 227 (ob. Anm. 18). — Verkehrt Lobeck, Agl. S. 924 Anm. '' und da-
nach Roth, Abendl. Philos. 11% 962'». 314. S, Zellee a. a. 0. ^ I, 321
Anm, Mehr unt. Anhang IV.
32) Vgl. RoHDE, Psyche * II, 159, 3. 168. Gompebz, Griech. Denker
n S. 95f.
Phil.-hiit. Klasse 1919. Bd. LXXI. 5. 2
i8 Wii,ii. II RoscMiKii: [71. S
llorod. 3, 44. Hierzu ki)iimit iiofli die liolu« WahrBi'lu'inlich-
keit, 'daß rvtlia«;oras als Adept d.'i- malliomatischen Wisseii-
scliai't das lleimatland drrsolht'ii, A<<ypt(Mi, bcsuc-.ht, hat, wo-
hin noe-h t'iii und zwei .hihrhunderte später ein IMatoii und
Eudoxos in «gleicher Absicht ilire Schritte h^iktcii, und wo
er nicht bloß äjjyF'^'sche, sondern autli persische und bal)ylo-
nische Uelij^ion, Wissenschaft und Kultur kennen lernen
konnte' (Gompkkz, Griech. Denker* I S. 82 u. 433f.). Und
ebenso spricht nach GoMl'Eitz (a. a. 0. S. 82) alle Wahrschein-
lichkeit dafür, 'daß der bildungsbedürftige Grieche auch Ba-
bylon selbst, die Stätte uralter Kultur und Wissenschaft
(Astronomie!), besucht und dort einheimische sowohl als
fremde Überlieferungen aufgelesen hat'.-''^) Ich erinnere hier
vor allem an die bekannten Urteile des Herakleitos^"*), Em-
pedokles und Ion über Pythagoras, die von seiner noXv^iad-Cri,
seinem übermenschlichen vielseitigen Wissen {Ttsgiaöia fldibg'
33) Ich denke dabei in erster Linie an die von Gomperz a. a. 0.
S. 103 richtig hervorgehobene merkwürdige Übereinstimmung seiner
Lehre von der Seelenwanderung mit den Vorstellungen der Inder,
von denen Pythagoras leicht „durch persische Vermittlung" Kenntnis
erhalten konnte. Daß gerade die Heimatinsel des Pyth., Samos, alte
Handelsverbindungen mit Indien besaß, beweist vor allem die unzweifel-
haft aus Indien stammende Pfauenzucht, die im samischen Heraion,
dem 8. Z. größten und berühmtesten Tempel von Hellas, gepflegt
wurde (Hehn, Kulturpflanzen u. Hausthiere * S. 305 f)- Wie Heiin (S.
304) bemerkt, stammen aber nicht bloß die prächtigen Pfauen, sondern
auch „das blanke Gold, die blitzenden Edelsteine, das weiße Elfenbein
und das schwarze Ebenholz", lauter Gegenstände, die schon dem
Homer bekannt waren, aus Indien und sind den loniern sicher durch
den Handel mit den östlichen Völkern (Phöniziern, Syrern usw.) zu-
gekommen.
?4) Diog. L. 9, I (= DiELs, Vorsokr. I S. 68, 8): noXv ficcd' tri
vöov 'ix^iv ov diSaGy.ei • ' HcioSov yäg av idiSa^s xaJ riv&ayÖQrjv
uivis Ti Sevocpävsa xai 'Exaroüov. Man bedenke, daß Hekataios
ebenso wie Xenophanee weit gereist war (Gompekz, Gr. D. I S. 205f.)
und so außerordentlich vielseitige Kenntnisse gewonnen hatte (vgl.
für Xenoph. Gompebz, Griech. Denker 'I, 129). Auch von 'Hesiod' gab
es eine üsQioSog yr/g (nach Strab. 7, 302), die auf weite Reisen
schließen ließ.
7 1,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. ig
Qsf o ys t&v övxcov tcccvtov XsvögsGusv e'xaörovy^) klares Zeug-
nis ablegen, Eigenschaften, die er sich kaum anders als durch
umfassende Bereisung der damaligen Welt erwerben konnte.
Und selbst wenn — aller Wahrscheinlichkeit zuwider — die
ausdrücklichen Zeugnisse für die Reisen des Pythagoras sämt-
lich auf Fälschung oder Übertreibung beruhen sollten, so
waren doch auf jeden Fall seit der Unterwerfung Lydiens
und loniens durch Kyros die Grenzen der persischen Macht
so weit vorgeschoben, daß selbst auf den Inseln die Gewalt
der neuen Weltmonarchie drückend gefühlt werden mußte.
„Zu einer Zeit, da Polykrates nicht umhin konnte, dem
Kambyses eine Hilfsflotte für den Zug nach Ägypten zu
steUeu (Herod. 3, 44), hätte sich der Samier Pythagoras wie
sein sagenhafter Sklave Zalmoxis auf Jahre unter die Erde
verkriechen oder wie Epimenides auf 50 Jahre schlafen legen
müssen, wenn er es vermeiden wollte, zwei Stunden Segel-
fahrt von seiner engsten Heimat entfernt mit der persischen
Küstenbesatzung zusammenzutreffen und dort jenen Pyraithoi
zu begegnen, ohne deren Beistand kein gültiges Opfer ge-
bracht werden konnte (Herod. i, 132)." Wie Eisler (Welten-
mantel u. Himmelszelt S. 733f.) mit Recht bemerkt, ist es
wirklich ziemlich gleichgültig, ob man an weite Bildungs-
reisen des Pythagoras glaubt oder nicht, hatte er doch eben-
so wie Thaies und Pherekydes, auch ohne weite Reisen zu
unternehmen, schon in der Heimat oder in deren unmittel-
barer Nachbarschaft [ebenso wie in Ägypten] reichliche Ge-
legenheit, mit kappadokischen „Magiern" und wandernden
'Ohaldäern' zusammenzutreffen und von ihnen allerlei wert-
volle astronomische (und geographische) Kunde einzuheimsen.
Genau dasselbe gilt natürlich in noch höherem Maße als von
dem Meister selbst von seinen ältesten Schülern, zu denen unter
anderen auch Demokedes, der aus Knidos stammende berühmte
krotoniatische Leibarzt des Polykrates und Dareios, gehörte.^®)
35) Empedokl. fr 129 Diels (Vorsokr. I S. 211).
36) Vgl. die Zeugnisse bei Diels, Vorsokr. I S. 32 f. u. II, i S. 656.
RoscHEK, Hebdomadenlehren S. 24 Anm. 31 u. unt. S. 28 Anm. 49.
20 "WiMi. H Kosohkr: [7i.5
Zu ilemsolbou Ergebnis, daß Pvtlia<^oras und seino iUtoste
Scliulf bei der SclmtVunjjf ihres Wclthililos iiimiö^lich Persien
und den gesamten \\'esten ebenso wie der hebdoniadische
Kosinolo<r ijrnorieren konnten, >feliin<]rc?i wir, wenn wir di(> uns
aus zahlreieheu Hruebstücken und gewissen Andeut,ung(>u
Herodots leidlich bekannte Weltkarte {7rf()iodog yijg) des
Hekat.iios, eines jüngeren Zeitgenossen des l'ythagoras, in
Betracht ziehen. •''')
Wie ich bereits in einem ,,Da8 Alter der Weltkarte in
Hippokrates' n. tßdo^iädcov und die Keichskarte des Darius
H^'staspis" betitelten Aufsat/e des Fhilologus (LXX = N. F.
XXIV, 4 S. 5 2Qff.) nachgewiesen habe, lehrt ein Vergleich
der Weltkarte des Hippokrateers mit den beiden bekannten
Erdkarten des Hekataios und Dtirius Hystaspis unzweifelhaft
das höhere Alter der ersteren. Von der Erdkarte des Heka-
taios erfahren wir aus Herodot, daß sie um 500, also kurz
vor der Zerstörung Milets durch die Perser, in einem bron-
zenen Exemplar von Aristagoras dem Spartanerkönig Kleo-
meues vorgelegt wurde, um diesen zu einem Zuge nach Susa
zu veranlassen (a. a. 0. S. 532). Zu diesem Zwecke werden,
dem Zusammenhange und der Absicht des Aristagoras ent-
sprechend, nur die östlichen Länder zwischen der Küste
Kleiuasiens und Persien aufgezählt, nämlich lonien, Lydien,
Phrygien, Kappadokien, Kilikien, Kypros, Armenien, Matiene,
Kissien. Auch muß jene Erztafel, wie aus Herod. 5, 52 (vgl.
5, 36) hervorgeht, die sämtlichen Wege und Rasten zwischen
Sardes und Susa nebst Angaben über die Entfernungen in
Parasangen enthalten haben, was doch wohl mit ziemlicher
Sicherheit darauf schließen läßt, daß dem Zeichner persische
Quellen (Itinerarien und Wegkarten) zur Verfügung ge-
standen haben. ^^j Da nun aber nach den Darlegungen
37) Nach SiEQUN bei H. Philipp in der Wochenschr. f. klass.
Philol. 191 5 Nr. 30 Sp. 697 f. hat Hekataios seine Weltkarte nebst
Kommentar etwa 516 v. Chr. herausgegeben. Seine Vorarbeiten dazu
reichen natürlich in viel frühere Jahre zurück.
38) Vgl. Herod. 5, 36: 'Exaraiog S' 6 loyonoibg . . . ovy. ^a noXs^ov
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 21
Jacobys im Artikel Hekataios bei Pauly-Wissow a die TceQio
dog yfjg, deren ursprüngliche Bedeutung Heraklit und Hero-
dot indirekt bezeugen, im ganzen 5. Jahrb. unzweifelhaft
„das geographische Hauptbuch" war und als solches
von Aischylos, dem Autor tcsql aegcav, ferner von Herodot,
Hellanikos, Damastes (der xä nXslöxa iy. tcbv 'Exaraiov
{israyQaipag IlsQiitlovv syQaipsv: Agathem. i, i) einerseits
aufs stärkste ausgebeutet oder als Ausgangspunkt der weiteren
Arbeit benutzt, anderseits zum Hauptzielpunkt gegen das
ionische Weltbild gemacht wurde, so leuchtet ohne weiteres
ein, daß weder Pythagoras selbst noch seine ältesten Schüler,
die größtenteils dem griechischen Westen angehörten, eine be-
reits vollkommen veraltete, im Grunde nur die Schiffsrouten
der ältesten Milesier berücksichtigende Weltkarte ihrem Welt-
bilde und ihrer Erdkunde (Erdbeschreibung) zugrunde legen
konnten. Was aber von den ältesten Pythagoreern gilt, das
gilt natürlich erst recht von den jüngeren, z. B, von Philo-
laos, dem Zeitgenossen des Sokrates, der ganz gewiß ebenso
wie Aischylos, Herodot usw. bei seinen etwaigen geographi-
schen Erörterungen die Tcegtodog yfjg des Hekataios benutzt
hat. Wie vortrefflich man etwa in Philolaos' Zeit in Unter-
italieu über persische Verhältnisse orientiert war, das
lehrt vor allem die berühmte aus Canosa stammende Dareios-
vase, die uns den persischen Großkönig mit seinem Hofe
und seinen Finanzbeamten in überaus charakteristischen Dar-
stellungen vorführt.
Derselben Zeit und wahrscheinlich pythagoreischer Lehre
gehört auch die zuerst bei dem Dichter der mittleren Ko-
mödie Alexis (^seit 384 v. Chr.), femer bei Timaios, Aristo-
teles usw.^^) auftauchende Theorie von den sieben größten
ßaaiXh Tfö TIsQOSwv avcctghG&at. , v.axakiy(üv xä rs ^&vs(x ■nävxcc r&v
i]Q%E ^agsios yial triv dvvcutiv uvxov. Vgl. damit das weiter unten über
die Länder- und Völkerverzeichnisse des Dareios Gesagte.
39) Vgl. Alexid. fr. 3 p. 517 Mein. Timaios b. Strab. 654. Pb.-
j Aristot. mirab. ausc. 88. 'Aristot.' de mundo p. 393 a 12. Hyg. f. 276.
J Latercul. Alex. ed. Diels p. lo. — S. auch Bergek a. a. 0. S. 42 f.
L
22 Wn,}i. II Rosciier: [71.5
Inseln (Sardinien, Sizilien, Cypern, Kreta, Euboia, Kor-
sika, Loshoa) an. Die Eutstohunjif dieser Theorie dürfte, da
sie htMcits /,u Alexis' Zeit in Athen ganz, j)()i)uliir war, wohl
sicher ins 5. Jahrluiiidert zu setzen sein, und der Verfasser
der Schrift 7t. tßöouc'cdiov würde sie sieh bei seiueni olfen-
kundigen Streben, niÖgliehst alle aiu>rkannten liebdoniaden zu
sammeln und zu verwerten, jjewiß ni(;ht haben entziehen
lassen, wenn er sie gekannt liiitte. Da nun aber die west-
lichen luseln dieser Gru})pe, nämlich Sizilien, Sardinien und
Korsika notwendig zu dieser Theorie gehören, so läßt sich
schon aus deren Ignorierung von selten des Hebdomadikers
der Schluß ziehen, daß er von jenen westlichen Insehi noch
keine rechte Kenntnis hatte, während eine solche für Pytha-
goras und seine älteren Schüler sicher vorausgesetzt werden
muß. Das erscheint um so gewisser, da wir ja positiv wissen,
wie hoch gerade die Siebenzahl von ihnen bewertet
worden ist.'*°)
Aber wir besitzen noch weitere unzweifelhafte Zeugnisse
für das hohe Alter der hebdomadischen Weltkarte und ihren
vorpythagoreischen Ursprung. Ich meine die den größten
Teil der gegen Ende des 6. Jahih. bekannten Erde um-
spannende Reichskarte des Darius Hystaspis, deren Umfang
und viele darin enthaltene Einzelheiten wir aus mehreren
von diesem großen Herrscher hinterlassenen und sicher auch
Hekataios, den Pythagoreern usw. bekannten Monumenten er-
schließen können. Das wichtigste von diesen ist die große
durch die Trachtenbilder aller von Dareios unterworfenen
Völkerstämme illustrierte Inschrift vom Grabe des Großkönigs
zu Susa, über deren Bedeutung für unsere Frage ich bereits
im Philologus LXX (N. F. XXIV S. 533 0".) gehandelt habe.
Hier heißt es (nach Weissbach, Abh. d. philol.-histor. Klasse
d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wiss. Bd. 2g Nr. i Leipz. 191 1) in § 3:
„Es spricht Darius der König: Nach dem Willen Ahuramazdaa
(waren es) diese Länder, die ich (in Besitz) nahm außerhalb von Per-
40) S. unten Kap. IP a. E.
71,5] D^E HIPPOKRATISCHE SCHRIFT VON DER SiEBENZAHL. 2^
sien; ich herrschte über sie; sie brachten mir Tribut; was von mir ge-
sagt wurde, das taten sie; mein Gesetz hielt sie (in Schranken): Medien,
Huuaga [= Elam], Parthien, Areia, Baktrien, Sogdiana, Chorasmien,
Drangiana, Arachosien, Sattagydien, Gandära, Indusland, die amyr-
gischen Saken, die Saken mit spitzen Mützen, Babylonien, Assyrien,
Arabien, Ägypten, Armenien, Kappadokien, Sparda [= Sardes, Lydien],
1 0 n i e n [in Kleinasien] , die Saken jenseits des [Schwarzen] Meeres,
Skudra, die Schilde [d. i. schildartige Kopfbedeckungen = Kuvaiai,
nhaßoi] auf den Köpfen tragenden lonier [gemeint sind die Hellenen
in den Kolonien am Schwarzen Meere, in Thrakien, Makedonien usw.],
Püt, Küs, Makiia, Karka [4 afrikanische Völker]. —
§ 4. Es spricht Darius der König: Als Ahuramazda diese Erde
durch Kampf verwirrt sah, da übertrug er sie mir, machte mich zum
König: ich bin König .... Wenn du nun denkst: 'Wie vielfach
(waren) jene Länder, die Dariu9 der König besaß?', (so) betrachte die
Bilder die den Thron tragen.*') Da wirst du erfahren: . . . Des per-
sischen Mannes Lanze ist weithin gegangen. Dann wird dir kund
werden: Der persische Mann hat fern von Persien den Kämpfenden
geschlagen" ....
Ein zweites, ebenfalls eine Art Reichskarte des Darius
darstellendes Monument lernen wir aus Herodot 4, 87 kennen.
Hier wird berichtet, daß Darius nach dem Übergang über
den durch das technische Geschick des Mandrokles von Sa-
mos, also eines speziellen Landsmannes des Pjthagoras,
überbrückten Bosporus bei Byzanz zwei Stelen errichten
ließ, die eine mit einer persisch -assyrischen, die andere mit
einer griechischen (d. i. ionischen) Inschrift. Beide ent-
hielten ein genaues Verzeichnis aller Völker, welche
im Heereszuge des D. gegen die Skytben (514 v. Chr.) ver-
treten waren; er fährte aber alle mit sich, die er beherrschte,
darunter zahlreiche lonier (Herod. 4, 89. 133. i36f.). Es
braucht kaum noch besonders dargelegt zu werden, wie klar
und deutlich auch diese Tatsache gegen die Annahme spricht,
daß der ionisch schreibende Verfasser der hebdomadischen
41) Jede der hier dargestellten 28 -(- 2 = 30 Figuren ist mit einer
erklärenden Inschrift versehen, die mit der oben mitgeteilten Gesamt-
aufzählung in Reihenfolge und Benennung übereinstimmt. Auch er-
scheint jeder Vertreter einer Völkerschaft in der für diese charakteri-
stischen Tracht.
24 Wu.ii. H. KosciiKK: f7',5
Kosmologie erst der Zeit naeli Pythagorns und Dareios oder
gar, wie DiKLS uud lk)LL nieiiien, erst zwiselieii 450 und
350 angeliört liabe, weil eine derartige Ignorierung des per-
sischen Weltreichs gerade seitens eines wissensehaftlich ge-
hildoten loniers g;inz unghiublich nnd niirnr)glich ersclieint.
(lan/ ähnlicli verhält es sich niii der wesentlich nach
geographischen (iesichtspunkten vorgenommenen Einteilung
des Perserreichs unter Darius in Steuerkreise, die uns
Herodot (3, Qoff.) überliefert hat. Da hier in erster Linie
die lonier, Magneten, Aioler, Karer, Lykier, Myser, Lyder,
Hellespontier erwähnt werden, so. konnte ein ionischer
Philosoph oder Arzt jener Zeit (oder etwas später), der eine
Weltkarte entwerfen wollte, unmöglich das persische Reich
isnorieren, dessen Macht und Größe er selbst als Steuer-
Zahler nur zu deutlich empfinden mußte. Es ist daher aus
solcher Ignorierung wiederum kein anderer Schluß zu ziehen
als der, daß sie nur zu einer Zeit möglich war, als die per-
sische HeiTSchaft sich noch nicht bis nach Lydien und lonien
erstreckt hatte. Daraus folgt aber wieder mit unumstößlicher
Gewißheit, daß der Verfasser unserer hebdomadischen Welt-
karte unmöglich ein Pythagoreer gewesen sein oder unter
pythagoreischem Einfluß gestanden haben kann, sondern viel-
mehr der Zeit vor 546 angehört haben muß.
Daß die Weltkarte des Pythagoras und seiner ältesten
Schule ganz anders ausgesehen hat als die des Hebdoma-
dikers, läßt sich aber noch auf einem ganz anderen Wege
wahrscheinlich machen.
Jede geographische Karte, vor allem aber eine Welt-
karte muß ein Zentrum {o^cpaXog) haben, da sie ursprüng-
lich nach dem Prinzip der Windrose entworfen ist."*^) Unser
42) Vgl. Plin. h. n. 18, 326 ff.: Ventorum [ratio] paulo scrupu-
losior. Observato solis ortu quocunque die libeat, stantibus hora diei
sexta (^ meridie) sie, ut ortum eum a sinistro humero habeant, con-
tra mediam faciem meridies et a vertice septentrio erit. Qui ita limcs
per agrum cun-et, cardo [= u^mv, axis, ttoJ.os = SiäfpQuynu b. Dikaiarch;
Tgl. RoscHEB, Abb. V S. 118 A. 173] appellabitur. Circumagi deinde
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 25
altmilesischer Hebdomadiker hatte für seine Weltkarte deren
Omphalos augenscheinlich in lonien, d. h. wahrscheinlich
in Milet-Branchidai, angenommen, wie ich wiederholt aus-
geführt habe, da sich die Bezeichnung loniens als 'Zwerch-
fell' der Welt gar nicht anders erklären läßt.^^) Es fragt
sich nunmehr: welches war der Omphalos der vorauszu-
setzenden Weltkarte des Pythagoras und seiner ältesten
Schule? Die Antwort lautet: es kann kaum zweifelhaft sein,
daß das Zentrum der pythagoreischen Weltkarte nicht wie
bei dem Hebdomadiker und wahrscheinlich auch bei Hekataios
(Anm. 43) in lonien, also etwa in Milet-Branchidai, sondern
vielmehr in Delphi anzunehmen ist. Die Gründe, die dafür
sprechen, sind kurz folgende:
Nach allem, was wir von Pythagoras und seinen ältesten
Schülern wissen, kann nicht bezweifelt werden, daß sie zu
Delphi und nicht etwa zu Branchidai, dem Hauptkonkur-
melius est, ut umbram suam quisque cernat; alioquin post hominem
erit. Ergo permutatis lateribus, ut ortus illius diei a dextro huinero
fiat, occasus a sinistro, tunc erit hora sexta, cum minima umbra con-
tra medium fiet hominem. Per liuius mediam longitudinem duci sar-
culo sulcum vel [vom?]ere lineam, verbi gratia, pedum XX conveniat,
mediamque mensuram , hoc est in decimo pede circumscribi circulo
parvo, qui vocetur umbilicus etc. Ein etwas vervoUkommneteres Ver-
fahren schildert uns Vitruvius I, 6, 6 u. 12 und dazu Rehm, Griech.
Windrosen. Münch. 1916 S. 12 f. Röscher in Wochenschr. f. klass.
Philol. 19 17 Sp. 849. S. auch Lelewel, Geogr. du moyen äge I Proll.
p. LXXX u. I p. 27 Anm. 46. II p. 134. Röscher, D. OmpLalosgedanke
S. 100. S. auch Berger, Gesch. d. Erdkunde * S. 1 1 1 ob. über die Not-
wendigkeit für jeden Geographen, einen Omphalos für seine Erdkarte
anzunehmen.
43) Vgl. Omphalos S. 38 ff. Neue Omphalosstudien S. 29. Neuer-
dings hat Jacüby in seinem gründlichen Aitikel '"Hekataios' bei Pauly-
WissowA- Kroll VI!I, 2 Sp. 2703, 15 u. 2706 die bestimmte Vermutung
ausgesprochen, daß auch für dessen Weltkarte der Omphalos nicht in
Delphi, sondern in lonien lag. Dafür spricht auch der Umstand, daß
lonien tatsächlich in der Mitte zwischen Ägypten und den milesischen
Kolonien am Pontos Euxeinos und der Maiotis gelegen ist und infolge-
dessen ein mittleres, gemäßigtes Klima besitzt. Vgl. Röscher, Om-
phalos S. 39 A. 74.
26 \Vii.iiH. KosDuicii: (7'i5
reuten Delphis in älterer Zeit'*\ in allerengsten Rezieliuugen
gestanden haben. Das erhellt:
a) aus einer (Quelle ersten Hanges, niinilich aus Aristo-
xenos bei Diog. L. 8, 8 [u. 21): q tjol dt xaVA^iöTÖ^ivog rä
Tikelaxa rüi' i^iyixüx' öoyfidrwv Xaßfiv toi' Jhi^ayÖQav na-
get i-)nn(iToxke{(ig [wohl einer I'ythia] T>"jg iv ^sXcpoig.^^)
b) aus der übereinstimmend von I'or|)hyrios (vila Pytha-
gor. 2) und laniblichos (v. l'ytii. 5 u. 6) überliei'erten Sage,
daß Pythagoras eigentlich der Hohn des pythischen
Apollon und der ursprünglich IJciQ&eing, später dem ])ythi-
schen Apollon zu Ehren Jh'ifai'g genannten Gattin des
Muesarchos gewesen sei. Dafür beruft sich der in diesem
Falle indirekt aus Timaios schöpfende laniblichos'*^) auf
einen samischen Dichter und außerdi'm auf Epimenides,
Eudoxos und Xenokrates. Ja nach Aribtot. b. Ael. v. h. 2, 26
sollte Pythagoras von den Krotoniaten geradezu als 'Jz6X?.(ov
' T^iaoßoQaLog verehrt und gepriesen worden sein, eine Sage,
die, wie Crusius im Artikel Plyperboreer des Lexikons d.
Mythol. dartut, ebenfalls auf Delphi und die dort lokalisierte
Hyperboreersage zurückweist.'*^) Ich kann also durchaus
nicht RoHDE (Kl. Sehr. II, 123) beistimmen, wenn er diese
Legenden als Autoschediasmen des Apollonios von Tyana
behandelt, glaube vielmehr mit Bertp:rmann (a. a. 0.) und
anderen, daß der von lamblichos in diesem Falle benutzte
44) RoscHEu, Abb. III S. 26 f. u. Omphalos S. 44 A. 86.
45) Vgl. auch Suid. s v. Uvd'ayÖQag p. 550 B: tä di d6y(iaTa
^Xaßs Ttagcc tfjg iv ^tXtpoli [Hss. ccSslcfifjq] Osoxliias-
46) S. Bektermann, De lamblichi vitao Pythag. fontibuH. Dissert.
Königsberg 191 3 p.40. Diels, Vorsokr. II, i S.700. — Berteumann (S.40, i)
verweist lür Timaios und dessen Tendenz, in seiner Geschichte die
göttliche Vorsehung, soweit sie sich in den Orakeln offenbart, zu ver-
herrlichen, auch auf Wachsmuth, Einleit. in d. Studium d. alt. Gesch.
S. 551 ff. Vgl. auch Tim. fr. 60.
47) Vgl. auch Titnaio.s b. lamblichos a. a. 0. 91 u. 93: "AßuQig
(der Hyperboreer) amov \r. JJvQ-ay.^ ovrag 'AiiöXXava nicrtvacig. Luc.
dial. mort. 10, 3. Gall. 16.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 27
ApoUonios von Tyana einfach das ihm von Timaios dar-
gebotene Legendenmaterial übernommen und weitergegeben hat.
c) Auch der Tempel, den Mnesarchos, der Vater des
Pythagoras, zu Samos dem Apollon Pythios zu Ehren er-
baut haben sollte, deutet auf enge Beziehungen des Pytha-
goras und seiner Familie zu Delphi (Pytho) hin (Timaios b.
lamblich. a. a. 0. 9).
d) Schon Ankaios, der mythische Urahn des Pythagoras,
sollte ein besonderer Verehrer des pythischen Apollon ge-
wesen sein und auf dessen Befehl von Kephallenia eine
Kolonie nach Samos geführt haben.*^)
e) Auch der Name des Pythagoras soll mit einem
pythischen Orakel zusammenhängen, das dem Vater Mnes-
archos, als er gerade in Delphi weilte, die Pythia erteilt
habe. Timaios bei lambl. a. a. 0. 6: rbv ysvo^evov vlbv
TIvxtayoQav TiQoörjyÖQSvösv, ort aga vtco tcD UvQ-Cov
jtQoijy 0QSvd"rj avx(p.
48) Timaios b. lambl. a. a. 0. 3 : AiysvaL . . 'Ay-Kcctov, rbv xarot-
X'^aavTa xt]v Uä^ov ti]v iv r^ KEcpaXXr]via, yBy£vvf}69at ^hv änb Jiös
. . . Tovra öh ysvso&ai ;^()7jöfi6v itaucc rfjs riv&lccg, Gvvayaystv anoi-
KLuv ix rfjs KsqxxlXrivlag Kai ix ttjj 'Ag^aSlas %ai i^ rfiq ©EztaXiag,
xal TtQoaXaßstv inoixovg Ttagd t8 tibv 'A&rivaicov xal Ttaga räv JLni-
SavQLCov Kccl TtKQCc x&v XaXxidiav, xccl rovtcov änocvzcov r]yov\iEvov olxi-
Gai vf]6ov Tr]v dt ccQ£t7]v toi) iSdq)Ovg xal rfjg y^g MsXä^q)vXlov v.a-
Xov^ievriv, ngoaayoQ^vaai rs rrjv nöXiv I^ä^iov ccvtI ttjs Ediir\g Tf]g iv
KsfpaXXrivia. Tbv ftsv ovv jjprjfffiov avvißr\ ysvic&cd, roiovtov
'Ayxut\ slvccXiav vfjGov Häaov dvrl Za(ir]g 6s || Olxi^siv xiXofiaf
^vXXccg d' övo}id^STai avtr\. — Tov dh rag dnoixiag ix tcöv zotküv röav
TtgosigriiiEvcov avvsX&stv criiislov ietiv ov y.6vov al tcöv &scbv ri^al xal
%'vaiai, Siori y-striy^iivai rvyxdvovGiv ix röav tonrov, o&sv ra TtX'^d'ri xcbv
ccvdgäv ovvi]Xd'£v^ dXXcc xal (cciy t&v cvyysvsicov xal x&v itsr aXX^Xcov
evvööav, ag itoiovyLEvoi ol ^diiioL xvyxdvovGi. Alle diese Notizen über
die Kolonisierung von Samos machen den Eindruck guter und echter
Lokalüberlieferung, die durch anderweitige Nachrichten Bestätigung er-
halten (vgl. Apollod. fr. 180: alte Beziehungen der Samier zum delphi-
schen Orakel. Pherecyd. fr. 11 1: Ankaios, Herrscher von Samos.
Strab. 637 : Samos = M£Xd^q)vXXog und dnoixia iE, 'l%'dxr]g xal Ks-
(paXXr]viag etc.).
28 Wii.ii. 11. Koscur.u: l7'.5
f) Hierzu koinnuMi sclilicßlicli iiorli i]\o viclfiiclicu ho-
kannteii z. T. sehr alten Heziehun^cii Krotons iiiul Mcta-
ponts, der beiileii llmipt Wirkungsstätten des Pytluigoras in
Unteritiilien, zum dolphiselien Orakel.'")
Auf Grund ulier dieser untereinander trefflich übereiu-
stinimenden ZeuL!;nisse läßt sieh wohl mit volhjr Sicherheit
behaupten, daß Pyth:igoras und seiin' Sehule, wenn sie es
nicht mit der anf ihre Omphaloslheorie höehst eifersüchti<ren
delphisehen Priestersehaft t^ründlieh verderben wollten, zum
Mittel puidvt ihrer \V'eltkarte nur Delphi (nicht aber Biauchi-
dai oder Delos) erwählen konnten. Ich nehme also an, daß
A»ijathemerus (i, i), wenn er behauptet, daß auf den ältesten
Weltkarten Delphi als oncpaXög figuriert habe, dabei vorzugs-
weise an die Pythagoreer gedacht hat, während Anaxini an-
der, Hekataios (s. ob. S. 2of.) und unser Hebdomadiker natür-
lich das ihnen viel bequemer gelegene Branchidai, den Haupt-
konkurreuten des deli)hischen Orakels in älterer Zeit, zum
Zentrum ihrer Weltkarten gemacht hatten. ^'^'') S. Omphalos
S. 36 f. /
49) Vgl. 0. Müller, Dorier I, 263 f. Gkuppe, Rel. u. Mythol. I,
369, 4 u. II, 1257, 4. Ckusius im Art. Hyperboreer des Lex. d. Mythol.
I, 2806 ff. 2822 f. M. Mayer ebenda 2838, i6tf. Der Dreifuß auf den
Münzen von Kroton (Hkad, Hist. Num. 84) ist natürlich der delphische;
vgl. dazu Lobeck, Aglaoph. 386 p. — Über das von Metapont nach
Delphi geweihte xQ'^dovv &sQog, das auch oft auf Münzen erscheint, 8.
Strab. 264: ovg [die Metapontiner] ovrcog ccTth yscogyiag svtvxiioai cpaciv
&OTB d'SQog ^Qvaovv iv ^slcpotg ccvad'stvai. Als Gründer {olKiGrrjg)
von Metapont galt davXiog 6 Kgißrig xvQuvvog r^g tibqI d tXcpovg, mg
(fr\6iv "EcpoQog (Strab. 265). Auch gab es in Kroton ein TIvO-aLOv, in
dem Pythagoras vor den naldsg gepredigt haben soll (Timaios b.
lambL a.a.O. 50 u. bei Athen. 522'': TJi-qoi-aiiv ixmv 6zoXi]v TCSQitQX^rat
[6 z/7}uo-/.?]dr]e] rcttg ^ßdouccig [d. h. an den apollinischen Festtagen]
tovg ßcofiovg (ib:u tot) TCQvrdvscog. Vgl. dazu Abh. II S. 24 Anm. 31.
50 a) Wer etwa gegen obige Annahmen geltend machen will, daß
die Annahme eines Erdnabels mit der pythagoreischen Lehre von der
Kucelgestalt der Erde in schroffem Widerspruch stehe, der sei auf
meine Darlegungen im Omphalos S. 4iff. verwiesen, wo ich ausgefühi-t
habe, daß der Ausgleich der beiden entgegengesetzten Anschauungen
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 29
Der Anstoß, den man etwa an dem Umstände nehmen
könnte, daß ja nach pythagoreischer Theorie die Erde eine
Kugel und keine Scheibe mit einem Zentrum in der Mitte
war, läßt sich leicht durch zwei Erwägungen beseitigen. •''")
Erstens durch den Hinweis darauf, daß noch heute alle o-eo-
graphischen Karten (im Gegensatze zu den Globen) die Erd-
oberfläche nur als Fläche (nicht als Ausschnitt eines Kuo-el-
mautels) darstellen können und infolgedessen auch ein Zen-
trum aufweisen müssen, und zweitens, daß schon im klassischen
Altertum nach dem Entstehen der Lehre von der Erdku»'-el
um einen Ausgleich mit der Theorie von der Erdscheibe und
deren Omphalos zu erzielen, die Annahme einer Erdachse
(a'lcov, JioXog) aufgekommen ist, als deren Endpunkt gewisser-
maßen der d^ffulbg yyjg gelten konnte. Mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit dürfen wir die Pythagoreer als die eigentlichen
Urheber dieser Theorie bezeichnen (vgl. z. B. den Tythagoreer'
Hiketas b. Diels, Vorsokr. I S. 265, 20 ff., und mehr b. Röscher,
Omphalos S. 40 ff. u. Anm. 79). Vgl. unt. Anh. IV.
einfach durch die Annahme eines ^sao^cpaXog ä^wv (= nolog, axis),
d. i. einer Erdachse, bewirkt wurde, die durch den 6^q)cdbg y-ijs hin-
durchging. Wahrscheinlich hat schon vor Pythagoras unser Hebdoma-
diker dieser Theorie gehuldigt, insofern er als ältester Vertreter der
Erdkugellehre niemals von einem 'Erdnabel', sondern nur von einem
'Zwerchfell der Welt' gesprochen hat.
50) Ob schon Pythagoras selbst die Kugelform der Erde gelehrt
hat, ist neuerdings bezweifelt worden von A. Döring in seinem Aufsatz
„Wandlungen in der pythagor. Lehre" im Archiv f. Gesch. d. Philos. V
(1891) S. 510 ff. D. hält es für möglich und wahrscheinlich, daß Pytha-
goras in diesem Punkte wie auch in andern noch von Anaximenes ab-
hängig gewesen ist. Vielleicht erhält das in Rede stehende Problem
eine andere Gestalt, sobald man darin mir beistimmt, daß unser Hebdo-
madiker noch älter als Pythagoras und Anaximenes ist.
30 Willi. Tl. Rosciirr; [7',S
II. Ai'itliinotisclies.
a) Dio primitive (einsoitigo) Hobdomadonlchro der Schrift
von der Siobonzahl; Hubdomadeu älter als Dokndon.
Nichts hat der richti^fon lU'urteiluiij;- der kSchril't von der
Siebeiizahl und ihres Verhältiiigses zur Zahh'nlelire des 'Pytha-
goras* sowie dem gründlichen Verständnis der letzteren mehr
geschadet als die vorgefaßte Meinung, daß die i'ythagoreer
im Grunde die ersten Vertreter einer Zahlen- und besonders
einer Hebdoniadenlehre und darum alle sonstigen Hel)doma-
diker jünger und von Pythagoras und seiner Schule abhängig
gewesen seien. Wie irrig dieser in früherer Zeit namentlich
von Ermkuins und neuerdings von Pfeiffer vertretene Stand-
punkt ist, kann verhältnismäßig leicht dargetau werden. Be-
reits in meinen auf die Sieben-, Neun-, Vierzig- und Funl'zig-
zahl bezüglichen umfassenden Untersuchungen habe ich, wie
ich meine, für jeden Unbefangenen den zwingenden Beweis
geliefert, daß die Zahlenlehre der Pythagoreer nicht den An-
fang, sondern vielmehr das Ende und den Abschluß einer
sehr langen, bis in die prähistorische Zeit zurückreichenden
Entwicklungsreihe bedeutet, und daß demnach Übereinstim-
mung mit ihr in einzelnen Punkten durchaus keine Abhängig-
keit vom Pythagoreismus zu beweisen braucht. ^^) Besonders
im griechischen Kultus und Mythus ist die Bedeutung der
Siebenzahl von jeher so energisch und vielfach betont worden,
daß es nur eines kleinen Schrittes bedurfte, um daraus eine
vollständige Hebdomadentheorie zu entwickeln. Bereits auf
dieser Stufe treffen wir die hebdomadischen Tages-, Monats-,
Jahres- und Geschlechterfristen (yevsaC), wenigstens in der
Praxis des Kultus, sowie im Mythus, vollkommen entwickelt
an und können zugleich beobachten, wie die Zahl der heiligen
Fristen weiterhin auch auf viele andere Bestimmungen über-
tragen und 60 schließlich zu einer typischen Zahl geworden
51) Vgl. RoscHEB, Die SieLen- u. Neunzahl im Kultus u. Mythos
d. Griechen S. 74.
i
yi, sJ Die hippokratische Schrift von der Siebbnzahl. 31
ist. In dieser Hinsicht bietet uns vor alleni der Kultus und
Mythus des Apollon zahlreiche und deutliche Belege dar, in-
sofern hier außer den hebdomadischen Fristen anch sieben-
fache Tier- und Kucheuopfer, siebenblättrige Lorbeerzweio-e,
ja sogar siebenblättrige Kohlpflanzen, Reinigungen in sieben
Quellen (Flüssen, Wellen), siebenteilige Chöre, Lieder, Sprüche,
Kampfspiele, siebenstufige Tempel usw. vorkommen. Diese an
sich schon hervorragende Bedeutung der Siebenzahl muß sich
aber in unseren Augen noch ganz bedeutend steigern, wenn
wir erwägen, wie fragmentarisch und lückenhaft im Grunde
das von uns zur Untersuchung herangezogene Material ist,
oder mit anderen Worten, wie viele weitere Belege für die
einstige Verwendung der uralten heiligen 7 im Laufe der Jahr-
hunderte und Jahrtausende auf den Gebieten der Literatur,
der Inschriften, der bildenden Kunst uns unwiederbringlich
verloren gegangen sind. ^^)
Von ganz besonderer Bedeutung für uns ist aber die Tat-
sache, daß in den Kulten und Mythen keiner Gottheit die
hebdomadischen Fristen und sonstigen Bestimmungen eine
größere Rolle gespielt haben als in denen des Apollon und
Dionysos, die bekanntlich von Delphi aus auf Lehre und
Satzungen der Orphiker wie der Pjthagoreer den bestimmend-
sten Einfluß ausgeübt haben, ^^)
Hierzu kommt noch der sehr gewichtige Umstand, daß
bereits um 600 vor Chr., also jedenfalls vor Pythagoras und
wahrscheinlich zu derselben Zeit, als die Orphik in Hellas
entstand und sich ausbreitete, kein geringerer als So Ion in
einer berühmten Elegie die offenbar volkstümliche Anschau-
ung vertrat, daß das ganze normale Leben des Mannes von
70 Jahren in 10 Jahrhebdomaden zerfalle, die eine ununter-
brochen fortlaufende Stufenfolge (xXtaa^) darstellen, deren
52) Röscher, D. Hebdomadenlehren S. 7.
53) Röscher a. a. 0. S. 18 tf. u. 2^S. Was die Frage betrifft, ob
die orphische Zablenspekulation und -mystik die Lehre <ler Pythagoreer
beeinflußt habe oder umgekehrt, so verweise ich auf Hebdomadenlehren
S. 19 A. 19.
^2 Wii,ii TT. l\(»scnKu: [71,5
(iriMizpunkto als kritisch oilcr klimakterisch bezeichnet werden
können, insofern rejfclniäliig im siel)enten oiler mich voll-
endetem siebenten Jahre eine neue Stufe der Eutwicklunj^
bej^iniil und somit eine xqi'Oi^ oder jHfT«/ioA?), d. h. eine Ver-
ämlerunjif des bisherigen Zustandes, statttindet. Die «xju»/ tritt
in der 4. und 7. Hebdounide ein. Die Iveihe der solonischen
Stufenj:dii-e lautet also in arabischen Zahlen ansj^edrückt:
UX^lj I «Xjiu) 2=11 ^"^V
7 14 2 1 28 35 .\2 4(j 56 63 70.'"')
Scheu längst habe ich als höchst wahrscheinlich hingestellt,
daß bei den innigen Beziehungen Athens zu Delos und dem
dortigen Apollonkult, in dem nach dem ausdrücklichen Zeug-
nis des Aristoteles vor alters die Rechnung nach Hcpteteriden
üblich waj-, die solonischen, in Athen otfenhar volkstümlichen
e:rT£ry]Qi'Ö£g mit denen des delischen Apollonkultes eng zu-
sammenhängen.
Gehen wir jetzt auf die Einzelheiten der Hebdomaden-
lehre unseres altionischen Kosmologen genauer ein, so haben
wir natürlich in erster Linie die von ihm angenommenen
bebdomadischen Fristen zu besprechen, die, wie auch
sonst ganz allgemein, die eigentliche Grundlage für alle wei-
teren bebdomadischen Bestimmungen bilden.
In Kap. V werden uns in unmittelbarem Anschluß an
die sieben d)Qai die sieben Lebensalter des normalen Men-
schen mit folgenden Worten vorgeführt: Ovrco^^) de aal an
ävd-QG}Zov (pvöiog iTCtä coQaC eiöLv, ag rjXtxCug xaXto^sv nai-
dCov, Ttalg, ^biqocxlov^ vsi]vi6xog^ avriQ, TtQSößvxT^g^ ysQav. Kai
jcaudcov fisv iaxiv axQig STträ träv, böövrcov exßolfjg- Jtalg
d' uxQL yovfjg ixcpvöeag^ ig tä dlg STtTcc' ^stQaxiov ö' axQi
yevsCov Xaxvaöeag^ ig rä r()ig aTfra' vEi]VLaxog ö' äxQig av^ij-
54) Röscher a. a. 0. S. 16. Über eine ähnliche Hebdomadenlehre
der Etrusker habe ich a. a. 0. S. 17 A. 14 gehandelt. S. auch Tiiulin,
Die etrusk. Disciplin III S. 61 f.
55) Unmittelbar voraus geht der Abschnitt von den 7 wpat,
d. h. Jahreszeiten.
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl.
33
ßiog öXov rov öco^atog^ ig xä retQaxig sTttd' avriQ d' äiQig
svbg öäovtog 7tevxi'iy,ovta^ eg xä mxdxig Sjtxä' jtQeßßvxrjg ö'
äxQt' nsvxiqyiovxa i|, sg xä aTcxamg öxxa' xb d' ivxsv&av
In welchen Punkten die soloniscten und die 'hippokra-
tischen' rjliotCccL übereinstimmen und in welchen sie von ein-
ander abweichen^ zeigt folgende Tabelle^''):
Sc
Ion
%. Eßdo(i,ädog
lebd.
Jahre
Kenn-
zeichen
Hebd.
Jahre
Kenn-
zeichen
I ncüg avTjß
1—7
686vr.
I
■naiSlov
1—7
OSÖVT.
iußoX'^
iyißoXri
II ?
7—14
II
■naZg ^')
7—14
yovfig
^■Kq)vGtg
III {^cprißog
?)
14—21
yivsiov
XaivovTut,
III
(u-sipaHtoi'®'
)i4— 21
ysvsiov
Xäj^vaGig
IV (&vriQ?)
21—28
tog ia^vv
IV
VErfvioKog
21—28
ccv^ccv. oX.
V ccviqQ
28—35
yä(iov
(isuv. Eivat
V
avT^Q
28-35
VI -
35—42
KaraQXv-
Exai vöog
VI
"^
35—42
vn —
42—49
VOVV X.
VII
—
42—49
yX&66. &Qi6rog
7III —
49—56
vni
TtQB6ßvTr]g
49—56
IX ?
56 — 63 naXaKmrs-
90g
IX
X
yegav
56-?
X {yegcav)
63—70
reif zum
Tode
Man erkennt auf den ersten Blick, wie nahe die beiden Heb-
domadentheorien miteinander verwandt sind, und wie alt
infolgedessen die Lehre von den rjXtxCai in der Schrift tc. aß-
dofiddcov sein muß, da wir sie schon um das Jahr 600 bei
56) Vgl. auch Poll. on. 2, 4 und Philo de roundi opif. 36.
57) Eine nahe verwandte ebenfalls hebdomadische Einteilung des
Lebens findet sich in «. GaQx. 13; doch werden hier der zweiten und
dritten Hebdomade andere Benennungen beigelegt, nämlich inldriXos
für Ttalg und vsr\viGy.og für ^eiqÜ-kiov ^ vgl. meine Ausgabe von
TT. kßd. S. 86.
Phü.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 5. 3
34 Wii.ii. H. RoscuKu: [71.5
Solon vollkonimen eiitwickcU vorfinden. Wsilirsclioinlich ist
sie aber noch sehr vi«'l illtor als Solon und beruht iiuf ur-
alten Ansolmuuui^'cn des jjriecbischeti \'oIk(>s, die z. T. nach-
weislich mit solchen anderer Völker, /,. H. der Semiten,
Perser, Ktrusker usw., übereinstimmen.''") Zu<jjleich weise ich
schon liier darauf hin, daß die i)kixiat des l'ythagoras und
seiner Schule (4 zu je 20 Jahren) ebenso wie die von ihnen
angenommene Vi er zahl der ojqki sowohl von Solon als auch
von unserem Hebdonuidiker außerordentlich stark abweichen,
was natürlich wiederum auf völlige Unabhängigkeit des Kos-
mologen vom Pythagoreismus und auf das höhere Alter des
ersteren hindeutet.
Mit seiner Lehre von den klimakterischen Jahren
hängt aber wiederum die Theorie unseres Hebdomadikers von
den kritischen Tagen und Monaten in Krankheiten aufs
innigste zusammen, und daß auch diese uralt und volkstüm-
lich sind, d. h. aus uralter Volksmedizin stammen müssen,
ersieht man am besten aus der gewichtigen Tatsache, daß
von sämtlichen im Corpus Hippocrateum vorkommenden der-
artigen Fristen die hebdomadischen die bei weitem größte
Rolle spielen, was sich höchstwahrscheinlich aus dem uralten
und verbreiteten Aberglauben von dem Einfluß des Mondes
und seiner siebentägigen Phasen auf sämtliche organische
Wesen erklärt.^^) Die Reihen der im 26. Kapitel von n. ißd.
angegebenen kritischen Tage und Monate stimmen also im
wesentlichen mit der Folge der hebdomadischen Lebensjahre
überein:
kritische Tage: 7 g^) 11^") 14 21 28 35 42 4g 56 63
— Monate: 5^°) 7 9^°J <ii> 14
58) Vgl. außer Hebdomadenlehren S. 17 auch Spiegel, Eran. Alter-
tumskunde 3, 599. Plat. Ale. I p. 121 E usw., mehr in meinen Ennead.
u. hebdom. Fristen S. 33f. Anm. 114.
59) Weitere Gründe für das hohe Alter der hebdomadischen
Tj^iBQca KgiGi(iot, s. in meinen Hebdomadenlehren S. 59 u. 67.
60) Bereits in den 'Hebdomadenlehren' S. 63 Anm. 102 f. habe
ich die Frage aufgeworfen, ob hier die 5, 9 und 11, die bis zu einem
i
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 35
Ebenso steht unser Kosmologe auch hinsichtlich der
Lehre von der Entwickelung der Embryonen auf dem Stand-
punkte, daß dafür ebenfalls die hebdomadischen Tages- und
und Monatsfristen maßgebend seien. Denn in Kap. I heißt es
in der lateinischen Übersetzung:
■^Septem dierum coagulationem seminis humani
et forraationem naturae hominis.'^^)
Was das zu bedeuten hat, ersehen wir am besten aus
folgendem Satze aus der hinsichtlich der Hebdomadcnlehre
fast auf dem gleichen Standpunkte stehenden hippokratischen
Schrift ;r. öagxäv: 'O ob alcbv s6tt xov avQ'Qarcov STtta-
'^asQog. IlQäxov ^av e7ti]v sg rag ur]rQag ik&r] ö yovog^ iv
iiixä YjusQrjöLv siei 6xÖ6a tisq egxlv sxsiv xov 6(bfiaxog.
Nun folgt ein Bericht über die Erfahrungen, welche die
öffentlichen Buhldirnen machen. Wenn diese nämlich am
siebenten Tage nach der Empfängnis die Frucht abtreiben,
so erkennt man, daß schon an diesem Tage der Embryo
völlig formiert und Fleisch (odgl) geworden ist.^^) Dann
heißt es weiter: "Egxv 5s ■koi xojds xanurJQaßd^at ' xb iiaidCov
iTtxdfirjvog yövog ysvoiievov loya ysyivqxai xat lif] xal X6-
yov SIEL xoLovxov ■Kai äoiQ-^bv ävQSxsa sg xäg ißdo^ädag
[d. h. 30 Hebdomaden], öxxd^rjvov ös ysvo^svov ovdhv ßiol
TCcoTioxe, ivvia 6e ^r]vöji' xal dexa ijaegicov yovog yCyvsxai
xal t,fj xal SIEL xov ccQtd'iibv ar qexecc eg xäg e ßöo fidd ag '
gewissen Grade die sonst rein hebdomadisch verlaufende Reihe
stören, nicht auf späterer Interpolation beruhen. Vgl. a. a. 0. S. 62
Anm. 100 und die ebenfalls rein hebdomadisch angelegte Reihe
bei Diokles von Karystos, der in diesem Falle wohl uralter Tradition
folgt (s. Wellmann, Fragm. d. griech. Ärzte I S. 41, Frgm. 109 S. 161).
61) Vgl. auch Ps.- Galen in seinem arabischen Kommentar zu
7t. sßS. Kap. I nach Bergsträsser S. 7: 'manche der Teile der Welt
. . . sind der Hebdomaden periode unterworfen, wie das Sperma
und der Foetus' usw.
62) Dieselbe physiologisch unbegründete, aber gerade deshalb für
archaisch zu haltende Tbeorie findet sich in Kap. 13 der Schrift n.
(pva. TtaiSiov = Littre VIT p. 488 f. Vgl. darüber meine Ausgabe von
n. tßS. S. 81 Anm. 133.
3*
36 Wii.ii. U. Kosciir.u: [7ii5
teööaQf'^ dexttöeg tßdouäöcov ^fitgat eiOi ÖL7jx6öiat öydoi'jxovTcc
' is Ö£ T))i' dexäöa töi' tßdouciöcjv eßd o^iijxovTcc ij^i()aL
[10x7 = 70; 70x4 = 280]. "Kxfi Öh xcci t6 ijiräfi^vov
yivö^usvov rgetg öexaöai; tßÖo^ädcoVy ig öh ti^v öfxäda ixdiSTyiv
fßdo^yjxoi'Tcc iifiegai, Tp^Tj," öexäÖeg öh ißdoficidcjv ai
öv^iJiKöai ösxcc xcd diyjxööicci [30x7 = 210; 3x70=210].
Sobald man dieso und noch weitere Briiclistücko einer
alten nahe verwandten Theorie von der Entwickelun<r der
Embryoneu im Mutterleibe nach hebdomadischen oder tessa-
rakoutadischen Fristen ^^) mit dem oben mitgeteilten kümmer-
lichen Sätzfhen aus K^p. i der Schrift von der Siebenzahl
vergleicht, erkennt man von neuem die schon früher von
uns festgestellte Lückenhaftigkeit der jetzt vorliegenden
Überlieferung; denn es fehlt ja trotz dieser klaren Andeutung
der Vorrede jede weitere vom Leser erwartete und geforderte
Ausführung im Gegensatze zu der ebenso in Kap. i kurz an-
gedeuteten, aber erst später ausführlicher behandelten Lehre
von den kritischen Tagen. Es heißt nämlich in unmittel-
barem Anschluß an die obigen Worte: 'septem die r um
coagulationem seminis humani et formationem naturae ho-
minis' weiter: "^et determinatiouem egritudinum et quaecun-
que deputriunt in corpore' ;^^) die eingehende Ausführung
63) Vgl. namentlich die (archaischen) Theorien des Feripatetikers
Straten und des Diokles von Karystos bei Nikomachos v. Gerasa in
den Theologumena arithm. ed. Ast p. 46 f. und bei Macrobius in Somn.
Scip. I, 6, 65ff. , die beide wahrscheinlich aus dem Kommentar des
Poseidonios zu Piatons Timaios geschöpft haben (s. meine Ausgabe
von Tt. ^ßS S. 92 tf. und Hebdomadenlehren S. ggf.)-
64) Vgl. dazu TT. caQx. 19: JrjXov 6s xal tw^e, ort inrijiiSQog 6
alwv sl' Tig id'ilsi hmu rj(iSQCig (payisiv rj nihiv (irjölv, oi (ihv noXlol
anod'v'^G'iiovo IV iv ctvtfjGLv • slcl öi rivsg y.ai ol vjisgßciXXovaiv, ano-
&vri6v.ov6i S' ofimg ' siel ds rivig ol xat imio&ricciv , ojars firj Scno-
xaQrEQ7]eai, dclXa (fuyitiv rs xai misiv ' aXX' t] -KoiXirj owiri Kccrcc-
ÖExttixi • ij yccQ vf]6tig avvscpvr] iv TavzTfici. fjjaiv ijfi^Qrjßiv ' aXXa &vrj-
ffxouCi xai ovTOL. — lt. §7ttci(i. 9 = p. 446 L. : ai ^hv ovv ijfiiQca
imorniöxaTuL slaiv iv roici nXficzoiCLV ai' rs itgwTai y.al si sßöoficci,
TtoXXal fihv jtepi vovGmv, itoXXul Sl xcci rotOLV i^ißgvoiOLV ' rgciOfioi rs
yccQ yivovtai v.al oi nXtiotoi tavTrjGi rfjCiv ijiiSQrjOiv ' övoiid^STaL öh
71,5] DdE HIPPOKRATISCHE SCHRIFT VON DER SlEBENZAHL. 37
dieser kurzen Andeutung folgt aber erst in Kap. 26 der
gegenwärtigen Überlieferung (s. S. 45 meiner Ausgabe von
7t. ißd.).
Auch die sicher uralte und von jeher volkstümliche An-
sicht von der Lebensfähigkeit der sxxd^yivoi, die in den so-
eben aus %. öKQX&v mitgeteilten Sätzen einen wissenschaft-
lichen Ausdruck gefunden hat (vgl. auch die hippokratischen
Traktate tt. smainqvav und öxra^TJvcDv sowie Diokles v. Kary-
stos und Straton ob. Anm. 60), wird jetzt in dem Buche
%. sßd., in das sie unbedingt hineingehörte, schwer vermißt.
Ihr hohes Alter erhellt schon aus den Mythen von Apollon
und Dionysos, die beide als Siebenmonatskinder zur Welt
gekommen sein sollten (Röscher, D. 7- und 9 -Zahl im
Kultus u. Mythus d. Griechen S. 6 Anm. 12 u. S. 23 Anm. 54).®^)
Die somit nachgewiesenen Lücken in der gegen-
wärtigen direkten Überlieferung von tc. eßd. müssen
demnach aus tc. ßaQX&v, tc. STCta^'^vcov, Diokles v.
Karystos nsw. ergänzt werden (s. meine Ausgabe von
TC. eßd. S. 81 ff.).
Hinsichtlich der übrigen im Buche von der Siebenzahl
besprochenen Hebdomaden kann ich mich kürzer fassen, da
mehrere von. ihnen später noch eine besondere Behandlung
erfahren werden. Es sind kurz folgende:
Kap. I § 2: Die 7 Sphären des Alls: i) der ccxQrirog
(Hss. äxQLXog) xö(j{iog, £i,odov s%cov d-agsog not %si^Givog. —
2) Die Sphäre der Gestirne {aöTQo). — 3) Die Sphäre der
Sonne. — 4) Die des Mondes. — 5) Die der Luft. — 6) Die
des Wassers. — 7) Die der Erde.
Kap. 2: Die sieben auffallenderweise zu vier Paaren an-
xci xr\Xiv.uvxa. ixQvcsig, aXX' ov tQco6[iol. Aach diese Sätze müssen, denke
ich, in der ursprünglichen Überlieferung von 7t. tßS. gestanden haben,
da sie in der Einleitung nur ganz summarisch angedeutet worden sind.
65) Ich erinnere hier zugleich an die denkwürdigen Worte der
Mutter des Damaratos, Königs von Sparta, zu ihrem Sohne: rixTovai
ywaiKsg xal ivvEd^T}vu y.ul k7Ctäiir}vu, xaJ. ov n&Gai diyicc yifjvai
ixTsXioaßai • iyw ök gL m nai, tJträ^irivov hfnov.
jg Wiui. H. Roscukk: [yi.S
geordneten Gestirne, welche die Ordnung der 7 Jahn'szeiten
liedingen, sinil Sonne und Mond, Arklos und Aikturos,
Pleiadou und llyadeu, Orion und Seirios (xi'-wr). I):iü in
dieser Reihe, diiniit die notwendig geforderte Siel)en/ahl
herauskommt, genau genommen der Mond v.n streichen ist,
weil i'v nur die Monate und deren Teile (Wochen), nicht
die Jahreszeiten bedingt, wird später gezeigt werden.
Kap. 3: Die 7 Winde und 7 Teile der Windrose, die
auoh sonst, z. B. bei den Babyloniern, Kelten, Russen, Juden
(Deuteronomium 28, 7. Apokal. i, 4- 3, i- 4, 5- 5, (^ ""^ <lazu
BOLL, Zroix^ta i, 22), sowie den Turkstlimmen Südsibiriens
(Radlofb^, Proben IV S. 314) vorkonimen.^*^)
Kap. 4: Die 7 Jahreszeiten (ugat), die, wie es scheint,
auch noch von anderen griechischen Schriftstellern ange-
nommen worden sind"), während die Pythagoreer bekannt-
lich nur 4 Jahreszeiten angenommen haben.
Kap. 6: Die 7 Bestandteile des Mikro- und des
Makrokosmos, wozu Parallelen aus der Adamsage und aus
der indischen Literatur angefühi-t werden können.^^)
Kap. 7: Die 7 Teile des menschlichen Körpers: Kopf,
Hände, innere Eingeweide und Zwerchfell, Urinorgan, Samen-
ortTtin. Mastdarm und Schenkel, wozu es Parallelen aus der
griechischen und jüdischen Literatur gibt.^^)
Kap. 8: Die 7 Funktionen des Kopfes; vgl. Roscher
a. a. 0. S. 100 f., wo auch Analogien aus China, Persien, Ju-
däa usw. angeführt sind und wahrscheinlich gemacht wird,
daß auch hier eine uralte und weitverbreitete volkstümliche
Anschauung zugrunde liegt.
Kap. 9: Die 7 Vokale. Die Entstehung dieser Theorie
66) RoscHEE, über Alter usw. der Schrift von d. Siebenzahl S. 80
Anm. 158. Man denke auch an die Vorstellung vom knräiivxov aniog
des Boreas, als des Königs der Winde.
67) Koscher a. a. 0. S. 84 Anm. 166.
68) Koscher a. a. 0. S. 92 Anm. 185; s. ob. S. 10 Anm. 19.
69) Koscher a. a. 0. S. 99. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen V,
2 S. 96 f.
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 39
muß spätestens in die Zeit zwischen Oiymp. 40 = 620 v. Chr.
(wo noch Sl fehlt und durch O ersetzt wird) und Olymp.
56 = 556 V. Chr. (wo H statt E zum erstenmal erscheint)
fallen (vgl. Kirchhoff, Stud. z. Gesch. d. griech. Alphab. ^
S. 40 f. Taf. I Kol. X).^»)
Kap. 10: Die 7 Elemente der Seele, d. i. der Lebens-
kraft. Eine ähnliche Beziehung der Seele zur Siebenzahl
findet sich später bekanntlich bei Piaton und den Stoikern
(RosCHER a. a. 0. S. 106).
Kap. 11: Die 7 Teile der Erde (s. oben S. 2 ff.).
Wenn ich in diesem Zusammenhange mehrfach auf heb-
domadische Parallelen bei anderen Völkern, z. B. den Baby-
loniern, Juden, Persern, Indern, Chinesen, Kelten, Russen usw.
aufmerksam gemacht habe, so habe ich es nicht etwa getan,
um in diesen Fällen einen historisch-genetischen Zusammen-
hang nachzuweisen, was ich meist für ganz unmöglich halte,
sondern nur um die weite Verbreitung einer fast überall
spontan entstandenen und deshalb für hocharchaisch zu
haltenden volkstümlichen Anschauung wahrscheinlich zu
machen. Ganz ähnlich wie mit diesen Hebdomaden verhält
es sich bekanntlich auch mit dem fast über den ganzen
orbis terrarum verbreiteten Omphalosgedauken, dessen Ent-
stehung sicher nur selten auf Übertragung von einem Volke
zum andern, sondern fast immer auf der überall vorhandenen
und überaus einfachen Vorstellung von einer kreisrunden
Erdscheibe mit dem in der Mitte darüber schwebenden
Zenit beruht. ^^)
70) Nach Ehrlich in der Berl. Philol. Wochenschr. 1913 Sp. 1620
wurde in den ionischen Söldnerinschriften von Abu Simbel vor 650 v.
Chr. zwar schon E und H, aber noch nicht Sl geschrieben, 'während
in Milet selbst und seiner Einflußsphäre bereits um 700 Sl üblich ist.'
'Das dorische Rhodos kennt gleichfalls das ion. Alphabet seit dem
7. Jahrh.'
71) Vgl. meine Schriften: 'Omphalos' 191 3, 'Neue Omphalos-
Btudien' 1915 und 'Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern,
besonders den semitischen' 19 18.
40 Wii.ii. 11. Uoscukk: [7'i5
Übrigens läßt sich für die Riehtij^keit unserer Belinup-
tung, (laß iu den echt archaisclieii Tlieorien der Griechen
ebenso wie iu deren Volksiinseliauun^n-n die II('l)(U)niaden
durehwetjj auf einer älteren Ötul'e steheu als die Dekaden,
ein nahezu niutliematisehe Sieherheit <^evvährender Analo^ie-
i)eweis führen: ich meine vor allein die bekannte Lehre der
älteren griechisciien Arztes von den sogen, kritischen
Tagen. In meinen 'Hebdomadenlehreu der griechischen Phi-
losophen und Arzte' S. 56 f. habe ich dargelegt, daß in der
ältesten medizinischen Wissenschaft ein offenbarer Fortschritt
eben darin besteht, daß die ursprünglich weniger auf
Erfahrung {nelQo) als auf Spekulation (Xoyog) be-
ruhende Alleinherrschaft der Siebenzahl allmählich
durch das hauptsächlich auf genaueren Beobachtungen be-
ruhende Aufkommen anderer Zahlen, besonders der Dekaden,
neben ihr einigermaßen beschränkt wird, doch sind diese
anderen offenbar größtenteils aus der nsiQa stammenden
Zahlen niemals imstande gewesen, die uralten Hebdomaden
völlig zu verdrängen. Und der a. a. 0. S. 58 u. 59 (vgl. auch
die S. 66 mitgeteilte, die kritischen Tage nach Ansicht der
knidischen Arzte übersichtlich darstellende Tabelle II) ge-
zogene Schluß (S. 59)'^») lautet:
„Sowohl in den 'knidischen' als auch iu den für echt
hippokratisch geltenden Büchern überwiegen die heb do ma-
dischen Fristen und Bestimmungen die übrigen, unter denen
an Zahl und Bedeutung die dekadischen hervorragen, ganz
bedeutend. Das läßt darauf schließen, daß ursprünglich in
der alten Medizin die hebdomadischen Fristen fast
ausschließlich dominierten (man denke an die älteste
der 'knidischen' Schriften, nämlich das Buch x. sßdopidd(ovl),
im Laufe der Zeit aber teils infolge der Einführung des
dreißigtägigeu in 3 Wochen zu je 10 Tagen zerfallenden
Monats (s. Abh. I S. SK)"^^^), teils infolge genauerer Be-
71a) Vgl. auch S 67 u. 75 il. sowie meine Ausgabe von n. tßd. S. 88 ff.
71b) Gemeint ist die Abhandlung über die enneadischeu u. heb-
domadischen Fristen u. Wochen der ältesten Griechen.
I
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 41
obachtung dekadische und andere Fristen allmählich auf-
kamen und die früher ausschließliche Herrschaft der Sieben-
zahl beschränkten Aus allen diesen Gründen müssen
wir annehmen, daß der Hebdomadentheorie in der antiken
Medizin, die wie alle Medizin ursprünglich Volksmedizin
war, ein sehr hohes Alter zukommt, so daß es selbst dem
Hippokrates und seiner Schule trotz ihrer im Interesse der
reinen Erfahrung (Tialgci) gemachten Anstrengungen nicht ge-
lungen ist, sie endgültig zu beseitigen. Sogar noch in der
Zeit nach Hippokrates haben Diokles von Karystos (s. Fragm.
d. griech. Arzte ed. Wellmann I p. 42 u. fr. 109, p. 161)
und die Gewährsmänner des Macrobius (in Somn. Scip. I, 6,
62 ff., s. Abh. I S. 52 f) versucht, die alte Lehre wieder zu
Ehren zu bringen; und wenn man in dieser Hinsicht Galen
Glauben schenken darf, hat sogar Hippokrates selbst ihr
wieder bis zu einem gewissen Grade Rechnung getragen."
Auch bei Homer sind die hebdomadischen und ennea-
dischen Fristen viel häufiger und älter als die dekadischen,
die erst bei Hesiod infolge der Einführung des 30- (=3x10-)
tägigen Monats die Oberhand erhalten (Abh. I S. 8if. u. 7of).
— Ferner erinnere ich an die bekannte von mir Abh. I
S. 49 f behandelte Reihe der apollinischen Monatstage:
I 7 14 20 30.^^"=)
Diese Reihe beruht offenbar auf einer Vermischung des
hebdomadischen und des dekadischen Prinzips, die mit einer
71c) Wie ZiMHERN (Zeitsclir. d. D. Morgenl. Ges. 58 [1904] S. 201)
nachweist, gibt es dazu eine deutliche Analogie bei den Babyloniern.
Hier kommen 3 verschiedene Reihen von Monatstagen vor: hebdoma-
dische (7. 14. 21. 28), pentadische (5. 10, 15. 20. 25. 30) und ge-
mischte (7. 15. 19. 20. 25. 30); letztere sind natürlich jünger als die
ersteren. — Man denke auch an die ehrwürdige Sitte, den neugeborenen
Kindern am 7. Tage nach der Geburt (d. h. am Ende der ersten
Lebenswoche) den Namen zu geben. Wenn statt des 7. später auch
der IG. Tag als Tag der Amphidromien genannt wird, so hängt das
natürlich wiederum mit der Einführung der dekadischen Woche und
des 30 tägigen Monats zusammen (Ennead. u. hebd. Fristen S. 41 f.
Anm. 136 u. 138).
i
42 Wii.n. II. KosciiKii: [71, 5
gewissen Notweiidii^keit »'intreten n)ußte, als die dekadische
Moimteteilung die iUtt're liehdoinadischc im hür^erliolien Lclx'u
verdrängt hatte, ohne jedoch imstande zu sein, das (hiich den
A|)()lh)kult g»'heih'«^te ältere hel)domadisohe Trin/ip vJillig zu
beseitigen (vgl. den Apollou ißdö^itiog^ ißdoiiccyfvi'jg^ tßöo^ia-
ysT-qc:, die Feier der 'KßööufLa in Delos und Mih't [Nilsson,
üriech. Feste 170!'], sowie den Ap. /tVxadiot; ''*''), I\'to^njVU)<;).
Wer diese ganz unal)hängig von unserer gegenwärtigen
Untersuchung gewonnenen Tatsachen in Betracht zieht, wird
kaum daran zweifeln, daß auch in der Philosophie der Grie-
chen ebenso wie in deren Medizin die Hebdornaden durch-
schnittlich älter sind als die Dekaden und die übrigen von
den Pythagoreern verwerteten Zahlen.
b) Die vielseitige (fortgeschrittene) Zahlenlehre
der Pythagoreer.
In dem vorstehenden Abschnitt (a) ist wohl zur Genüge
gezeigt worden, wie überaus einseitig und beschränkt der
sozusagen arithmetische Standpunkt des hippokratischen Kos-
niologen und seiner Nachfolger, d, h. der Verfasser der
Schriften 71. öaQxäv und n. eitiaaiqvav , sowie des Diokles
von Karystos^^), gewesen ist, insofern diese einzig und allein
von allen Zahlen der Sieben eine hervorragende Bedeutung,
und zwar eine genau genommen alle übrigen Zahlen aus-
schließende, zuerkannt haben, eine Tatsache, die allein schon
yid) Vgl. Et. M. s. V. EUädiog p. 297, 57: iv rfi eiKccdi rov fi?jv6?
lopTTj insxfXsiro rä 'AnölXwvi iTtsiöi] ovv iv zuvrrj xf) ioQTji
iyivvi']9"ri, XeytraL EUdÖLog. Es liegt auf der Hand, daß der Mythus
von der Geburt des Gottes am 20. nur von lokaler Bedeutung und viel
jünger sein muß als die Legende von seiner Geburt an den kßdö^-i].
72) Wenigstens nach dem großen von Macrobius mitgeteilten
Bruchstücke, das in griechischer Sprache auch Tbeol. arithm. ed. Ast
p. 46t. erhalten ist. Nach einem andern Fragmente (Diels, Vorsokr.
p. 167, 36ff. RoscHEK, Ennead. Stud. 8. 52f.) freilich vertrat derselbe
Diokles in einer andern Periode seines Lebens auch eine enneadische
Theorie, vielleicht im Anschluß an Empedokles.
71, 5j Die hippokratische Schrift von dkr Siebenzahl. 43
auf eine höchst primitive, noch wenig entwickelte wissen-
schaftliche Stellung der Verfasser schließen läßt.
Im schroffsten Gegensatze dazu steht die bedeutend viel-
seitigere und weiter fortgeschrittene Zahlenspekulation des
Pythagoras und seiner Schule, die zwar auch, z. T. in Über-
einstimmung mit den ihnen nahe stehenden Orphikern, der
Siebenzalil eine hervorragende, aber durchaus keine ausschließ-
liche Stellung zuerkennen, sondern neben ihr auch vielen
anderen Zahlen, besonders der 4 und 40, der 9 und ihren
Vielfachen, der 27, go, 72g (= g^), vor allem aber der 10
eine mindestens ebenso große, ja sogar noch überragende Be-
deutung zuschreiben, indem sie die Dekade geradezu als die
für die Weltbildung maßgebende Zahl mit einer Art von
religiöser Ehrfurcht betrachten. Diese religiöse Verehrung
gewisser Zahlen, besonders der 10, zeigt sich bekanntlich
auch in ihrer Gleichsetzung mit bekannten und allgemein
verehrten Gottheiten, z. B, mit Apollon Agyieus, Athena,
Zeus, Mnemosyne usw. Auch in dieser Beziehung sind wohl
die Orphiker den Pythagoreern vorangegangen.
Die nun folg^ende möglichst summarische Übersicht über
die einzelnen hier in Betracht kommenden, für Orphiker und
Pythagoreer besonders maßgebenden Zahlen nebst den wich-
tigsten zugehörigen Zeugnissen möge diese Behauptungen
bestätigen.
a) Die Einzahl (6 sig dgid-^ög, ^ovdg)
wurde schon von den Orphikern '^yviEvg genannt, d. h. mit
^TioHcov kyvievg identifiziert, was ziemlich genau der Zahlen-
allegorie der Pythagoreer entspricht, die bekanntlich die
[lovag dem mit Helios identifizierten Apollon gleichgesetzt
haben.'^^) Vgl. lo. Lydus de dieb. II, 5 (= Abel, Orphica fr,
144): 'ÖQcptvg xhv eva dgi^iiov 'y4yvisa ocaksl. — ib: 'O
Uvd^ayÖQag trjv fiovdda ' Tnegiovida xaXü diä t6 :tdvtc3v
VTcaQslvuL zfj ovaCa, coGtisq xal 6 vorjxbg "HXiog x. x. X. —
73) Vgl. Lobeck, Aglaoph. 716. Zellek, Gesch. d. griech. Phüos.'
I S. 337 A. I.
^^ WiMi. II. KosciiKu: [?'. 5
Porplivr. dl' iibst. 2, 36: oJ . . fli'd-ayÖQfioi :rfQl rovg ccql^-
rofs," ^«of^' «;r>j();i;oi'r(), tov ,ufV Tira aQi^^iov \ld-rjvav xa-
AüOjTfsN TOJ' ^^ Tti^a ".iQTf^itv^ löoiieQ av «AAov 'y^^roüova,
x«l ^raAtv «AAo/' jufi' . //x«/o(yj''T?;i', «AAor d^ ZVaqppcxyuri/i/ '
xal fiti Tü)v öiayQccu^dxcov b^ioi'cog . xcd ovrag i)()t(ixovTO
Tovg d-sovs tatV touivraig dnctQxaig. — Modenit. b. Stob. ecl.
phys. 1, 9 (-o): Ilv&ayÖQag nkfiöTy önovfif} tteqI rovg ccQid--
jiovg exQi]GKTO . . . ht öh rolg ^eolg (t7tBixdi,av t-jTcov6[U(t,Bv^
log 'A:t6kko3va ^lev ti)v novädcc ovöav^ "jQxe^iv dl xiiv
Öväda . . . ry)v Öh it,(xött rd^iov xal 'JcpQodttrjv, t-^v dh ißdo-
i.idöa KaiQOV xal l4d-r]väv^ lAocpdksiov Öh xal TloauÖäva t^v
öyöodda, xal ri)v ösxdda Ilavrikeiav. Vgl. Pliilol. p. 243, 4
DlELS. Das hängt wahrscheinlich z. T. mit dem Umstände
zusammen, daß der erste Tag des Monats wie des Jahres,
die vov^rjvCa, dem Apollon (= Helios) geweiht war, während
der zweite unmittelbar darauf folgende der Artemis-Selene
heilig war'^) und darum geradezu ebenso wie die Övdg Ar-
temis genannt wurde (Lyd. a. a. 0. 2, 6. Porphyr, de abst. 2,
36, s. ob.-, Theolog. arithm. 14 p. 12 Ast und daselbst p. 166).
b) Auch die Dreizahl
wurde von den Orphikern und Pythagoreern hochgefeiert. '"^)
Die auf die Triade bezüglichen Zeugnisse aus den Orphica
und der von diesen abhängigen Literatur s. bei Lobeck,
Aglaoph. p. 3840". Vgl. namentlich Ai-istot. de caelo A i.
268^ 10 (= DiELS> Vorsokr. I 273, 35): xa&d7t£Q yaQ (paöi
xal Ol Uvd-ayoQSLOL^ t6 ^äv xal xd ndvxa xolg xqloIv
G>QL6xaL • xsksvxij yaQ xal [liöov xal dQ%ri xbv aQL&^bv tiu
xbv xov :tavx6g^ tavxa dh xbv xrjg XQiddog. Vgl. ferner
Damasc. de princip. 123 R. (= Diels, Vorsokr. 476, 27!): av
[isv . . . xaig cpeQoiitvaig xavxaig 'Pail^adCatg 'ÜQcpixatg 7] d^so-
74) Ebenso der achte Tag dem Poseidon: Lobeck, Agl. p. 433-
75) Vgl. zur Heiligkeit der Dreizahl bei den verschiedensten
Völkern auch Gompkuz, Griech, Denker I S. 87 f. und Usenebs Dreiheit,
Bonn 1903 (= Rh. Mus. 58).
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 45
Xoyid. dr] rCg kötiv rj Ttegl xb vorjtöv, i]v xal ol cpilÖGocpoL
diSQiirjvsvovöLV avtl ^lev rrjg (it&g xüv öXav &Q%fig rbv Xqo-
vov ti&evtsg^ ävtl de xolv dvolv Al&SQa xal Xdog, avxl de
xov bvxog unXSig xb abv ccTtoXoyi^öfisvoL, xal tQidöa xuvxriv
jCQcoxr]v TioLOvvxsg . . . Archyt. Vorsokr. 261, 11 : [isöai de
ivxi XQig xa ^ovölym^ [iCa ^isv dQid-iiiqtixd^ dsvxsQa ds ya-
(isxQLxd^ xqCxu de vnevavTia^ av aaXiovxi ccQiiovfiidv . d^iQ--
^rjxixd jitfV, oxxa ecavxi XQstg öqol . . . .
c) Die Vierzahl
hat ebenfalls in der pythagoreischen Zahlenlehre eine nicht
unbedeutende Rolle gespielt. Vgl. Aristot. Metaph. 12, 4^ 3:
Ol ÖE Uv&ayÖQeLOL [i^ijxovv] %eqC xtvav öXCyaVj av tovg X6-
yovg dg xovg aQL&^ovg dvriTtrov olov xi s6xi xaiQÖg [= 7] -?)
t6 diXKLov [=4 od. 9] i] yd^og [= 5 od. 6]. Hierzu kommt
die Bemerkung des Alexandros z. Metaph. I, 5 p. 985^, 26:
z/iä xovro xal xov lödxig löov aQid'^bv tcqüxov elsyov eivai
zJ ixaiodvvr]v . . . xovxov da ol (lav xov xexxuQcc eXsyov
[so auch Nicom. Theol. ar. p. 2^^^), . . . . ol 6s xbv ivvsa, og
eöXL JtQüxog xsxQaycovog aTtb 71£qi66ov xov xqCk s(p iavxbv
yevoiitvov (s. Nicom. a. a. 0. p. 29). Philolaos fr. 13 Diels
[= Vorsokr. I S. 244, 11 ff. = Theol. ar. p. 20, 35 Ast] nimmt
xsßöaQsg aQX^^'' "^^^ ^<pov xov Xoyixov an, nämlich eyxi-
(paXog, xagöCtt, b^(paX6g und aldolov. Denn er sagt geradezu
in seinem Buche 7t. (pv6acog: syxitpaXog [lev vöov^ xagdCa de
tl^vifig xal aiöQ^^öLog, o^cpaXbg de Qi^aöiog xal dvaq)V6Log xov
^tptoTotJ, aidotov de öniQ^iaxog xaxaßoXäg xe xal yevvrjöLog .
iyxecpuXog de (öaiiaCveiy xdv dvd'Qtonco aQ^dv^ xaqdCa de xäv
^(pov^ öfi(paXbg de xäv cpvxov, aldolov de xäv ^vvandvxav
■ndvxa yccQ xal ^dlXovöi xal ßXa6xdvov6iv. — Hier ist auch
noch das eigentümliche, nach Ansicht der Pythagoreer und
wahrscheinlich schon des Pythagoras selbst hochbedeutsame
mystische Verhältnis zu erwähnen, das die Vierzahl (xexga-
76) KccXsixai Sh avri], mg cpriOLV 6 'AvaroXiog, d lyiaioavvr}, iitsl
xb rsTQaywvov t6 0:71' avtfjSy xovtiaxL xb iiißuSbv xjj TtiQi^BXQO}
160V X. X. 1.
i
46 Willi. TT. Röscher: [71, 5
xTi'g) 7A\ der noch wicht ifjjereii Zeh ii/.:ilil haben sollte. M;m
legte dabei dio für außerordentlich Ix'deutsam j^ehaltene, im
Grunde aber /ienilich <j^leich^ültiü;t> Tatsache zu<^rnn(le, «lau
die Summe der ersten 4 'Zahlen «gerade 10 beträft: i + 2
+ 3 + 4 = 10. Vgl. Atheiüitr. 5 |). 6, 15 SciiWAUTZ (= Vor-
sokr. I S. 250, i^ff ): |6| tU ^isyiOro^ ftfv ccQLd^^ibg 6 öixa
xard Tovg FIvd'ayoQixovg o rsTQaxfvg Tf o)i' xal jcccvrag
Tovg ttQttfuv,TLXovg xal Tovg aQ^iojnxovg tcbquxcov koyovg. . .'^)
Genauer Aet. I, 3, 8 (= Vorsokr. I S. 273, 17 ff.): elvai dh
T})v (pi)6iv Tov K()Ld'uov ÖBxa. [.lEXQi yuQ tcöv ötxa Tica'Tsg
''Ekli]i{ig^ Ttdvrsg ßaQßaQOL aQi&^iovöiv^ i(p a iX^ovreg TcäXiv
avtt:Todov(5iv [?] ^tiI rijv (.Loväda. xal töj^ ötxa Tcdliv, q)ti(}lv
[6 nvQ-ayÖQag]^ rj dvvaaCg hönv iv rotg xsößaQöt xal rfj
TSTQc<öi. tö ÖS ainov ' ei' ng d^b tfjg ^ovdÖ og [dvaTiodäv^
xaxu :TQ66d-£6iv ridsCy] rovg aQid-^ovg diQi tCov reöödgojv
nQoeld^av sxuXyiqqoösi tbv <^rävy dexa dQbd^^iöv " idv dh
vTtsQßdkr] xig zbv xrig xsxgdd og^ xal xäv dsxa imsQsx-
nseslxav oiov si' rtg d-eCrj fV xal ovo TtgoodsCr] xal xQia xal
TOVTOtg XBöGaga, xbv xäv dexa kxitlr^QioGei dQiQ-yiöv. cö6xs 6
dgid-^ibg xaxä ^ev novdda ev xolg dexa^ xard de övva^Lv
iv xotg xsGöaQöL. ölo xal eJiErp&syyovxo ol üv^ayöguoi ag
HsyCöxov oQxov ovxog xfig xexgddog'
ov (lä xbv d[iEXiQa. x£(paXä naQaöövxa xsxQaxxvv
%ayav aBvdov (pvösag Qi^coad x s^ovöav.^^)
xal ii rjfisxega ^v^i]^ (prjöCv^ ex xexgdöog övyxeixai . eivat
ydo vovv iTCLöXTjUTjv öo^av ai6d-t]6LV, i^ d)V Ttäöu xiy^vri
xal i7ti6xr](ir} xal avxol XoytxoC eG^ev. — Ahnlich auch Luc.
de laps. in sal. 5 (= Vorsokr. I, 235, 5 ff.): dßl de ol xal
x^v xexQaxxvv xbv ^eyiöxov oqxov avxäv [= d. Pytha-
goreer], rjv xbv ivteXr] avxolg aQid-abv dnoxeXelv oX(ovxav
xbvy dexa^ vyielag dg^riv''^) sxdXeöav " av xal OiXoXaog
77) ^gl- auch Theol. ar. p. 23: itiyLav Ss avxijv [r. Ttzgädu] ol
nv&ccyOQSLOi, dbs dsxäöog ysvvrjTin'^v.
78) Vgl. auch Theol. ar. ed. Ast p. 18 a. E. und dazu Asts Er-
läuterungen p. 168 ff.
79) Ich vermute, daß diese Benennung der Vierzahl damit zu-
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 47
sdXL. — Übrigens gehörte die targaxrvs auch zu den dxovß-
fiara xal övußoXcc der Pythagoreer. S. Vorsokr. I, 280, 17:
Tt Eon tÖ SV /IsXfpolg iiccvveiov; rft^axTug" oTtfQ iöxlv 1^
ccQnov{a, iv ^ al GsiQTJveg (=Iambl. v. Pyth. 82 f.). — Hier-
her gehört ferner die pythagoreische Lehre von den 4 chgai,
(£«(), ^EQo^, (pd-LVÖTtcoQOV^ xsL/xcov) Und der ihnen genau ent-
sprechenden 4 i)hxLai (jcarg, vsipdöxog^ vsy]vtr]g^ ysQCov), die
uns Laert. Diog. 8^ 10 (u. Theol. ar. p. 20 Ast) überliefert
hat (vgl. meine 'Tessarakontaden' S. 7 6 f.). Diese Theorie steht
natürlich im schroffsten Gegensatz zu der Lehre von den
7 aQUi und rjlLxCai, unseres hebdomadischen Kosmologen (s.
ob. S. 32f. u. 38).
Von den Vielfachen der 4 haben die Pythagoreer nament-
lich die 40 für bedeutungsvoll gehalten. Vor allem sehen
wir die Vierzigtagefrist in den Anschauungen der Pytha-
goreer von der Entwickelung der Embryonen eine ähnliche
Rolle spielen wie in der griechischen Religion und in den
Theorien der ältesten griechischen Arzte. Denn nach Alexan-
der V. Aphrodisias b. Diog. Laert. 8, 29 soll PytbagorüS in
seiner Biologie auch den Satz vorgetragen haben: ^ogcpovöd-ui
.... tÖ ^av TCQ&rov Ttaysv iv rj^sQaig rsööaQccxovra^
xatä Ö£ rovg rfjg ccQuovCccg Xoyovg iv i^rä rj ivvsa rj dexa
TÖ nkalöxov ^r]6l xslscod-av uTtoxvi'öxaöQ'aL xb ßQ£q)og. Li
engem Zusammenhang damit steht die merkwürdige Lehre
der Pythagoreer vom partus major, die uns der wahrschein-
lich aus Varro schöpfende Censorinus de die nat. 11,6 über-
liefert hat. Sie lautet: 'Alter autem ille partus, qui major est,
majori numero contiuentur, septenario scilicet, quo tota
vita humana finitur .... itaque ut alterius partus origo in
sex est diebus, post quos seinen in sanguinem vertitur, ita
huius in Septem; et ut ibi quinque et triginta diebus infans
sammenhängt, daß der vierte Tag in Krankheiten öfters eine ähnliche
Bedeutung hat wie der siebente, d. h. die Krisis und damit die
Besserung biingt; b. Hippocr. n. aagy.. 19. Vgl. auch Theol. ar. p.
22 Ast: oi largol, yad'dnsQ 'InTtoügärris , Tr]v Tfrpada XiyovOi v.olv(o-
vovaav . . . tj kßöoiiäöi x. t. X.
48 Willi. TT. Röscher: [71,5
membratur, ita hie pro portioue diebus loro quadraginta;
quare in Graecia dios habeut quad ragen si mos insignes.
nanique praegnans ante diom ([ nadragensimum non pro-
dit in fanum, et post partum quadraginta diebus plerae-
que fetae graviores sunt nee snnguinem interdum coutinent,
et parvoli ferme per hos fere morbidi sine risu nee sine
periculo sunt, ob quam causam, cum is dies L=quadra-
gensimus] jiraeteriit, diem festum solent agitare, quod tcm-
pus appelhiut TfööSQaxoöralov. hi igitur dies quadra-
ginta per Septem illus initiales multiplicati liunt dies
uuceuti octogiuta, id est hebdomadae quadraginta'.
Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß die Pytha-
goreer sich auch hinsichtlich der von ihnen angenommenen
Bedeutung der tessarakontadischeu Fristen einfach an die auf
der natürlichen Dauer der Normalschwangerschaft von 40x7
oder 7x40 =280 Tagen beruhenden Bestimmungen der grie-
chischen Religion und der altgriechischen Äizte angeschlossen
haben. ^°j Im Einklang damit steht auch die Überlieferung,
daß Pythagoras unmittelbar vor seinem Tode 40 Tage lang
gehungert habe, sowie als 40 jähriger Mann nach Italien aus-
gewandert und als 8o(= 2X4o)jähriger Greis gestorben sei,
so daß er also 40 Jahre lang an der Spitze seiner Schule
gestanden habe (Aristox. fr. 4 b. Porph. v. Pyth. 9). Ebenso
soll er mit 40 Anhängejni zusammen untergegangen sein
(Diog. L. 8, 39. Porphyr, v. Pyth. 56). Mehr in meinen Tes-
sarakontaden S. 81 f. — In den Orphika fehlt es, wie es
scheint, an den entsprechenden Parallelen.
d) Die Fünfzahl
scheint zwar in der Zahlenmystik der Pythagoreer keine be-
sondere Rolle gespielt zu haben, ist aber doch keineswegs
80) Vgl. darüber meine Tessarakontaden u. Tessarakontadenlehren
der Griechen u. anderer Völker (Leipz. 1909) S. 77 ff., wo auch wahr-
scheinlich gemacht wird, daß auch die Orphiker an die Bedeutung
der 40tägigen Frist geglaubt haben; vgl. Herakl. Pont. b. lo. Lyd. de
mens. 4, 29 p. 186 Roether.
71, 5 J Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 49
von ihnen vöUig ignoriert worden. Bei AST, Theologum.
arithm. p. 24 heißt es: rj Jievrag TtQärt] TCEQiBlaßs xo tov
TCavrbs agid-iiov slöog, ijroc rbv ß' rbv ngärov ägriov xccl
rbv y rbv TtQ&rov tisqlttöv ' Ölo xal räfiog^^) xaXtlxai cjg
f'l 'ÜQQSvog xal d'^Xsog. Daß eine Zahl von den Pythagoreern
yccuog benannt wurde, bezeugt auch Aristot. Met. 12, 4, 3,
aber er sagt leider nicht, welche Zahl in diesem Falle ge-
meint ist. Denn da, wie wir gleich sehen werden, nach Ana-
tolios bei AsT a. a. 0. S. 33 auch die Sechszahl von den
Pythagoreern yccuog und aQQSvö&rjXvg genannt worden sein
soll, ort avtbg tolg Savrov ^sqsölv iörtv IVog, yd^iov ös
EQyov t6 öiiota Jiotstv tä syyova rolg yovsvöi, so muß es bis
auf weiteres zweifelhaft bleiben, ob sich der Ausspruch des
Aristoteles auf die 5 oder auf die 6 bezieht.
e) Die Sechszahl.
Auch hier haben wir wieder eine merkwürdige Überein-
stimmung der Pythagoreer mit den Orphikern festzustellen,
denn es. heißt bei Anatolios (Ast a. a. 0. p. 36): rijv ii,ddu
bko^Eltiav [Ovko^sXeia Nicom. b. Phot. bibl. 187, 240] tiqoö-
rjyÖQSvov oi nvQ-ayoQixol xataxoXovd-ovytsg 'OQ(psl, iqxoi
jcaQÖöov olri xolg iiiXtövv ri ^bqeölv i6ri iörl ^övrj x&v ivxbg
dsxddog (vgl. Lobeck, Aglaoph. p. 717). Ob freilich Lydus
de mens. 2, 10 mit Recht behauptet: ^Ogg)evg tisqI ii,ccdog
xavrd (p}]6iv ' 'IXccd-i, xvdia aQi&fie^ itdxsQ iiaxccQCOV^ rcdxsQ
dvÖQ&v., also die Sechszahl mit keinem geringeren Gotte als
Zeus identifiziert, muß nach Lobecks (Agl. 7i5ff) Dar-
legungen füglich bezweifelt werden. Ich werde weiter unten
im Abschnitt von der Zehnzahl wahrscheinlich zu machen
suchen, daß bei Lydus a. a. 0. statt i^ddog vielmehr dsxd-
dog zu lesen ist, oder daß Lydus aus Versehen die beiden
Zahlen verwechselt hat.
Eine ganz eigentümliche und nicht ganz leicht verständ-
liche Beziehung wird der Sechszahl von Anatolios, ganz offen-
81) Nach Ast a. a. 0. p. 32 wurde sie aucli FafiriXici genannt.
PhiL-hist. Klagie 1919. Bd. LXXI. 5. 4
,SO Wii.ii 11. K(is(iii-,u: (7«, 5
bar nach illtoren ^nittii (^ucllt'ii, zur Soelo {ipv^tj) und Ho-
seelunp; (iI'vxcogli^) zugesclirioben. Es heißt in den Thcol.
arithin. tnl. Ast S. ,^4 iroijidczu: rfj de il>vx^ tö TtuQäTcav
ovdAi^ fcpaQfio'^fti' dvvaTca ^läkXov it,ädoi; «(i/i^jtios*, <>'"<
ciXXog ca> ovtco öidQtyQcocftg tov Tcavrbg Afyotro, ipi^xoTCo log
törafifvog^ fVQKV^ouH't] xal r^g ^coTixfjg e'tscog ^jiijrotT^TtxrJ,
,T«()ü i^äg . . . Kur/, zuvor (S. 33) wird den Pythagoreern
die Ansicht zu<i;esch rieben: xar ccvt-^v | r. ^^«d«] iatjjvxiööifccc
x«( x«{t>y()«d(ji)'«t Tüi' xo(?,uoj' X. T. A. Dali wir es hier mit
einer guten alten echtpytliaü;oreisc]ien Auffassung zu tun
haben, dafür bürgt das dem Philolaos zugeschriebene Fra«;-
ment (Theol. ar. p. 55 Ast = Diels, Vorsokr. I, 235, 8f.):
0iJ.6lc<og rpvxcoöiv öa sv f^adt, vovv öh xal vysCaj' xal
t6 v:z ccutov XEyoiievov (päg iv sßöo^ddi^ ^srä ravtd (pr]0iv
eQCora xal cpiXiav xal uijTiv xal EJiCvoiav iii dyäoadi 6v(i-
ßfjvat rolg ovGiv. Was das zu bedeuten hat, erkennt man am
besten aus der wahrscheinlich auf eigensten Aussagen und
Oöenbarungen des Pythagoras beruhenden Erzählung von
seinen alle 216 Jahre erfolgten Metempsychosen, wonach er
genau 216 Jahre vor seiner Geburt als Pythagoras als
Pyrrhos, und abermals 216 Jahre früher als Hermotinios usw.
gestorben sei. Die eigentümliche Bedeutung dieser Zahl aber
besteht einerseits darin, daß sie der Kubus der 6 (= 6^) ist,
anderseits der Schwangerschaftsperiode der Siebenmonats-
kinder entspricht, wie Anatolios a. a. 0. S. 40 bezeugt: enal
ÖS 6 a:io rov 6t' xvßog öiöt' yCvsxat^ 6 tTtl STtt aix^vav
yovcfxcov %()övoff, tSvvaQL&novfisvav ralg t-jirä t&v £^
•flfiSQäv, £V aig dcpQOvtat xal diacpvösLg öTtSQ^atog la^ßdv8i
xb öTttQiia, '^vÖQOxvdrjg öh 6 TIvd-ayoQixog 6 itaQi räv 6v[i-
ßoXcov yQaijjag xal EvßovlCdrig ö üv&ayoQLxbg xal !Aqi(3t6^e-
vog xal 'iTiTCoßoxog xal Nsdvd-r^g, ol xaxd xbv dvÖQa dvayQd-
tjjavxsg, 6i6z' exeöl xäg ^exe^tlJvxaöSLg xag avxa öv^ßsßrj-
xvCag 6(pa6av ysyovivaf fisxä xoöavxa yovv Exrj elg Tta-
kiyyavEöiav Eld-alv IIvifayoQav xal dva^rjöac coaavEi fietä
xtjv 7iQG)xr]v dvaxvxXcoöiv xal ETtdvodov roO cctco f| i^v^oyo-
vixov xvßov . . . ci xal GvnqxovEl ro EvfpdQßov xrjv ipvx'^v
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 51
h6ii]y.sv(u, xata ts tovg j(^q6vovs ü. t. A. Dieselbe Zahl scheint
auch von Herakleides Pontikos in jener ygarpiq bei Laert.
Diog. 8^ 14 bezeugt zu werden, in welcher Pythagoras avx6g
q)rj6i dt exxaCdexa [Hss. szra] xal dn]xoöi<x}i'^^) ixcbv i'B, äiÖEco
ütaQaysysvYjad-c.t slg avd-gcoTtovg (vgl. RoHDE, Psyche ^11, 419).
Nahe verwandt mit dieser Theorie ist offenbar die eben-
falls als altpythagoreisch bezeichnete vom ^partus minor', die
uns Varro bei Censorinus de die nat. c. 1 1 (vgl. Zeller
^III, 2 p. 81, i) überliefert hat. Danach gab es für die Ent-
wickelung der Embryonen im Mutterleibe zwei verschiedene
Fristen, eine kleinere siebenmonatige und eine größere von
10 Monaten. Die erstere endigt am 210. Tage, die letztere
am 274. nach der Empfängnis. Für die kleinere Frist ist
nach Censorinus die Sechszahl besonders maßgebend ^^), in-
sofern die Frucht während der ersten 6 Tage aus milch-
artigem, in den darauffolgenden 8 Tagen aber (also vom 7. bis
zum 1 4. Tage) aus blutartigem Safte besteht. Sobald diese 8
Tage zu den ersten 6 hinzukommen, entsteht die erste 6v}i-
(povCa diä tEößccQcov. In den folgenden g Tagen verwandelt
sich der Embryo in Fleisch, und es entsteht die zweite övii-
(pcovCa öiä 7CEVTS. In der nunmehr folgenden Frist von 12
Tagen bildet sich die Gestalt des Kindes^*), und es entsteht
die 6v{i(pG}Via ölcc nccGüv, so daß bis zum Schluß dieser Ent-
wickelung 35 [=5X7 = 6-f8-}-g-f-i2] Tage vergehen.
82) Die überlieferte Zahl 207 ist irrational und in diesem Zu-
sammenhang völlig sinnlos. Sie in 216 zu korrigieren hat Rohde schon
längst vorgeschlagen, ist aber merkwürdigerweise Psyche ^11, 419 darin
wieder irre geworden.
83) Censor. a. a. 0. 11^ 2: partus minor aenario maxime conti-
uetur numero. nam quod ex semine conceptum est, sex ... primis
diebus umor est lacteus etc. — ib. 4: nee immerito senarius funda-
mentum gignendi est: nam eum telion [rskeiov] Graeci, nos autem per-
fectum vocamus, quod eius partes tres, sexta et tertia et dimidia, id
est unus et duo et tres, eundem ipsum perficiunt.
84) Welcher Gegensatz zur Theorie unseres hebdomadischen Kos-
mologen, der die rvTCwaig des Embryo bereits am 7. Tage nach der
Empfängnis erfolgen läßt!
4*
V
52
WiMi. TT. Koscher: [7>, S
Multipli/iert niiin diese Zahl 35 mit 6, so ergeben sich als
l'rodukt 210 Ta^^e, d. h. die Zahl der Tage, die ein Sieben-
mouatskiml braucht, um zur \Volt zu koumieu.
f) Die Neunzahl.
Da ich über die Bedeutung der Enneade in der orphi-
schcn und pythagoreischen Lehre bereits au einem andern
Orte (s. Enueadische Studien S. 40 tf. und 50 ff.) ausführlich
gehaiulelt habe, so kann ich mich hier in dieser Beziehung
kürzer fassen, indem ich hinsichtlich aller Einzelheiten eiu-
fach auf meine im Jahre 1907 erschienene Abhandlung
verweise.
^ Vor allem ist hier von Wichtigkeit die Feststellung der
Tatsache, daß auch hinsichtlich der Enneade die Pythagoreer
sich an die Orphiker angeschlossen haben. Beide be-
zeichnen die Neunzahl als KovQfitig oder Köqt] (a. a. 0.
S. 46). Zwar stammen die betreffenden Zeugnisse erst aus der
Zeit und den Kreisen der Neupythagoreer, doch lassen sich
für deren Echtheit und Altertümlichkeit so vortreffliche Ana-
logien aus Aristoteles u. a. aufühfen (s. Hebdomadeulehren
S. 28 ff.), daß etwaige Zweifel dagegen kaum aufkommen
können. Den Grund für diese beiden Benennungen haben wir
offenbar in zwei religiösen Tatsachen zu erblicken, nämlich
einerseits in dem Mythus von den 9 Kureten oder Kory-
banten, anderseits in den bekannten Beziehungen der Köqtj
(= n£Q6i(p6vri) zur Feier der sv[v\ata (novemdialia) und
überhaupt zu dem durch mehrfache enneadische Bestimmungen
(Fristen usw.) charakterisierten Totenkult.
Auch sonst spielen enneadische Fristen in der Lehre der
Orphiker eine nicht unbedeutende Rolle. So sollte Orpheus
ebenso wie die erythräische Sibylle und der apollinische
Prophet Teiresias eine Lebensdauer von 9 yEvmC erreicht
haben (a. a. 0. S. 40 Anm. 64). Ferner huldigen sie ebenso
wie Hesiod der Anschauung, daß der Meineid eines Gottes
mit einer neunjährigen Verbannung aus dem Olymp bestraft
werde (a. a. 0. S. 44 f.). Auch scheinen die eigentümlichen
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 53
enueadischen Bestimmungen, welche Vergil im 6. Buche der
Aeneis in der Beschreibung der Katabasis seines Helden ver-
wertet hat (vgl. z. B. noviens Styx iuterfusa 6, 439 und die
novem circuli der Unterwelt v. 426 u. Serv. z. d. St.), zu-
nächst aus einer Scbrift des Poseidonios (man denke auch
an die novem orbes, die Cicero den Scipio im Traume sehen
läßt!) und weiter aus einem im Altertum vielgelesenen
eschatologischen Gedichte des Orpheus, nämlich seiner Hades-
fahrt, zu stammen. ^^) ,
Viel besser als über die Enneaden der Orphiker sind
wir über die der Pythagoreer unterrichtet, die ja, wie wir
eben sahen, jenen in der Bezeichnung der Neunzahl als
KovQfjng oder Köqt] gefolgt sind.**^) ^
Von großer Bedeutung ist ferner die enneadische Frist
von 3x9 Tagen, die Pythagoras, d. h. die Altpythagoreer,
nach einem aus Varro entlehnten Zeugnis des Gellius (N. A.
1, 20, 6; vgl. Favonius Eulogius p. 12, 4 Holder) als die
Zahl der Tage des uralten und weitverbreiteten aus 3 neun-
tägigen Wochen bestehenden Lichtmonats (des 'circulus
lunaris' oder 'lunaris cursus') angenommen haben (vgl. die
tQlg evvsa 'i]a6QaL, die Nikias infolge einer Mondfinsternis
auf den Rat seiner ndvtsig im Jahre 413 zu warten beschloß,
um eine andere Mondperiode abzuwarten: äXXrjv ösltjvrjg
ccvapisvstv JtsQLßdov: Plut. Nie. 2^ u. Thuk. 7, 50). Genau
dieselbe uralte hieratische Frist spielt bekanntlich auch im
Leben des Pythngoras eine Rolle, insofern berichtet wird
(Porphyr, v. Pyth. 17), P. sei in die idäische Grotte hinab-
gestiegen und habe daselbst die ^üblichen' 3x9 Tage (rag
vsvouLö^evag t^lg ivvaa 'i^ixs^ag) zugebracht (mehr in den
Ennead. Stud. S. 51 f.). Auch soll Pythagoras als Neunzig-
jähriger nach dem Schol. z. Plat. de rep. p. 600 B = p. 360
Herm.) in einer Feuersbrunst umgekommen sein. Hierher
85) Vgl. a. a. 0. S. 47 Anm. 76 u. Nokdens Kommentar z. 6.
Buche von Verg. Aen. S. 29 f.
86) Hinsichtlich der Benennung entweder der Neunzahl oder der
Vierzahl als Jixuioavvri s- ob. S. 45 Anm. 76.
54 Wii.ii. 11. RosCHEu: [71,5
gehört ferner die für die Eiitwickelung der in der altpytba-
goreischen Lolire eine gewisse Rollo sj)ieloudeu Boluie an-
genommene Frist von 90 Tagen (Porphyr, v. Pyth. 44), so-
wie die 72g [= 9^J betragende Zahl der Monate im Großen
Jahr des Philolaos (Censorin. 18, 8). Es ist demnach auch
sehr wahrscheinlich, daß die Zahl 72g, die Piaton im Staat
p. 587 D — E nicht weniger als zweimal verwertet, ebenso wie
andere enneadische Zahlen (die 9, 27, 81, 243) in der pytha-
goreischen Lehre von den Abständen der 10 Weltkörper,
ganz direkt aus altpythagoreischen Anschauungen stammt
(Ennead. Stud. S. 54 A. 91 u. S. 88 f.).
g) Die Zehnzahl.
Daß die Zehn in der Lehre der Altpythagoreer für die
bedeutungsvollste und maßgebendste aller Zahlen gegolten hat,
geht schon aus ihrer bereits besprochenen Gleichsetzung mit
der tSTQaxrvg und ihrer Verwertung als fisyiörog OQXog^
avxaXrig aQid^iiog und vyuiag &Q%ri (Philolaos b. Luc. de lapsu
in sal. 5 = DiELS, Vorsokr. I S. 235, 5) deutlich hervor (s.
ob. S. 46). Damit stimmt trefflich überein die aus einer
Schrift des Speusippos JJ^qI nvO-ayoQixüv aQid^^&v (Theol.
ar. p. 61 Ast = DiELS, Vorsokr. I, 235, 21 f.; die ganze eine
Hälfte des Buches handelt von der Zehnzahl) stammende
Charakteristik der Zehnzahl, in der sie cpvmxaxäxri xal tsXsö-
tLxcordrr] xav ovxav sowie d'S^s'kiov vnäQiovGa xal TtaQa-
ÖEiyiia TCavxsktöxaxov xa xov Tcavxhg notrixi] &£a TtQoexxu-
fiEvi] genannt wird. Bei dieser außerordentlichen Bedeutung
der Dekade liegt es auch nahe, den von lo. Lydus (de mens.
II, 10) dem Orpheus ^^), von anderen zuverlässigeren Zeugen
87) Die Zuweisung des Verses seitens des Lydus an Orpheus
kann richtig sein, da wir aus Ljd. de mens, i, 15 wissen, daß die
Orphiker die Dekas xladovxog nannten, i^ rjg aasl xAadot zLvlg ndvTEg
ccQLQ-fiol (pvovtai (Lobeck, Agl. p. 716). Vgl. auch Syrian. in Aristot.
Met. p. 915** (= Orphica frgm. 150 Abel) und bei Lobeck, Agl. p. 720.
Wahrscheinlich ist also bei Lydus de mens. 2, 10 (Abel, Orphica fr.
147) statt e|ados [= 5'J vielmehr öby-ccöos [t'J zu schreiben oder
wenigstens anzunehmen, daß so in der Quelle des Lydus zu lesen war.
71.5] Die hippokkatische Schrift von der Siebenzahl. 55
den Pythagoreern zugeschriebenen Vers KsxXvd-i. ["'/AaO^t] xv-
diii ägid^ns, näxEQ fiaxccijcov, Tcäreg dvÖQüv^^) statt mit
Lydus auf die sonst nicht besonders hervortretende it,ccg viel-
mehr auf die dexäs als den aQLd-j.ibg xat' sE,o'p]v zu beziehen
und anzunehmen, daß diese mit Zeus, dem Vater der Götter
und Menschen, in orpbisch-pythagoreischen Kreisen identifi-
ziert worden ist. Vgl. auch Proklos in Tim. III p. 269 (Lobeck,
Agl. 7 IQ f.): TtQÖELöi yaQ 6 d-etog aQi&^ög, ag q)rj6iv 6 IJvd-a-
yÖQSLog slg ccvrbv v^vog
^ovvddog ex xsv^fiavog axrjQatov, aör av ixy]tai
xaxQdö^ £7tl ^ai>£'7^i/, r] dr} rsxs ^rjrsQa ndvxo3v
•jcavdoxsa^ TCQaößsiQav^ ögov nsgl näöt xiQ^slGav^
dxQoitov, dxdiiaxov, dexdöa xXUovgC [ilv ayvijv.
Weitere in diesen Zusammenhang gehörige Zeugnisse sind
folgende: Theol. ar. p. 60, 25 (= Diels, Vorsokr. I, 236, 21):
nißx tg ys ixtjv xalelxai [t] Öexdg\ oxi xaxä xhv OiXöXaov
daxdöi xccl xolg avxfig iioQioig :Z£qI xüv bvxav ov TtccQSQycog
xaxaXa^ßavo^bvotg tclöxlv ßeßaCav eio^sv . dionaQ xal Mvrjiirj
XsyoLx' UV ix xav avrcbv, dq/ üv xal yioväg MvrjuoGvvrj
G)vofid<3d-r]. — Laur. Lyd. de mens, i, 15: oQd-üg ov%> avxijv
6 0LX6Xaog daxdöa üiQoörjyoQSvöev ag dsxxixijv xov
dicsCgov. — Philol. fr. 11 Diels b. Theo Smyrn. 106, 10: nagl
rjg [t. daxddog^ xal 'JlQy^vxag av xa Tlagl xrjg d axdd og xal
0LX6Xaog av xg) IJagl (pvötog noXXä öia^Caöiv. — Stob. Ecl.
1 prooem. cor. 3: 0tXoXdov: ^aagalr öal xd sgya xal xijv
ovätav Tö dgid^fiä xaxxdv dvva^iv dxig iöxlv av xa öaxddv
(leydXa yaQ xal xavxaXijg xal Ttavxoegybg xal d-aCa xal
ovgavCco ßCco xal dvO^QOJTcCvco dg^d [vgl. damit oben
%dxaQ [laxdQcov, ndxag dvdgcöv/] xal dyajicov xoivcovovöa
♦=f* dvva^ig xal rag dsxddog' dvav da xavxag ndvx
dnaiQa xal dör]Xa xal dtpavfj .
Auch darin zeigt sich die ungeheure V^ichtigkeit, welche
schon die Altpythagoreer der Zehnzahl zuerkannt haben, daß
Archytas eine besondere Schrift Ilagl xi^g dexddog verfaßt
88) Lobeck, Agl. 71 5 ff.
56 "VViLH. H. KoscHKii: l7'.5
haben soll (Theo Sniyrn. 106, 10 = Dikls, Vorsokr. 1, 242,
25) und daß, wie Aristoteles [}\ci. A 5. 9B5'', 23 ff. -= Dikls
a. a. 0. 270, 44 ff.) bez('u*;l: ^nfiÖi) rsksiov ij öex«^ iivai
doxfi xa\ 7(Cx(5av 7itQUiXi]tph>ai ri]v riov a^iif^iäv cpvOLv, xal
rä (fSQÖf^iei'a xatä rör ovQavbi' Ötxa fihv tlvai cpaöiVj.
(ivtav de ivvt'cc ^6vov räv (pavfgäv ötä xovto dtxccTrjv rtjv
tttnix^ova :roiov(Hv. — Theophr.-Aötius ]). DiKLS a. a. 0. I,
237, J?: ^fQ^i T() ^eöov öexa öcöftara 0-tta yoQtvsiv. (le-
naueres darüber s. unt. Kap. 111''. — Hierher gehört endlich
auch die bekannte, ebenfalls von Aristoteles (Met. A 5 986*
i5ff. = Dikls a. a. 0. I, 271, i7ff'.) bezeugte Tafel der 10
elementaren Gegensätze {aQiaC), nämlich i niqag xal utibiqov.
— 2 TieQLTTOv xcci aQTiov. — 3 'ev xal nlrjd^og. — 4 de^ibv
xai ccQiöTeQÖi'. — 5 ccqqsv xal d'i^lv. — 6 r}Q6uovv xal
xivov^evov. — 7 sv&v xal xaincvXov. — 8 cpüg xal 6x6x0$.
— 9 aya^bv xal xaxöv. — 10 rszQäyavov xal iteQÖfirjxeg.
h) Die Siebenzahl.
Aus Gründen der Methode betrachten wir die Hebdo-
maden der Pythagoreer erst nach ihren Dekaden, um beide
Zahlen als arithmetische Hauptgrößen und mächtige Kon-
kurrentinnen zu erweisen, was für die richtige Beurteilung
einiger bedeutsamer Zeu<)fhisse von Wichtigkeit ist.
Auch hier haben wir wieder festzustellen, daß die Or-
phiker ebenso wie hinsichtlich mehrerer anderer Zahlen (^be-
sonders der I, 6, 9 und 10) auch in bezug auf die Wer-
tung der Siebenzahl Vorgänger und Lehrer des Pjthagoras
und seiner Schüler gewesen sind (s. Hebdomadenlehren S. 19 f.).
So sehen wir vor allem die siebentägige Frist im Kultus und
Mythus der Orphiker eine bedeutsame Rolle spielen, denn
nach Ovid (Met. 10, 73) soll Orpheus selbst nach dem Tode
seiner geliebten Eurydike 7 Tage gefastet haben, ein
Sagenzug, der beweist, daß in den Kreisen der Orphiker
siebentägige Fasten üblich waren ^^). Eine sehr willkommene
89) Da die Orphik aus Thrakien stammt, ist eb vielleicht von
Wert, daran zu erinnern, daß auch dort wenigstens in der Viehzucht
71, s] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 57
Bestätigung dieser Annahme bietet uns der aus einem Grabe
bei Thurioi stammende orphische Demeterhymnus, worin der
Persephone Rückkehr zur Mutter verheißen wird, wenn sie
ein siebentägiges Fasten auszuhalten imstande sei. Ferner
lautet ein von lo. Lydus (de dieb. 2^ 11) angeführter orphi-
scher Vers (Abel, Orphica fr. 148):
'Eßö6{i7], rjv £(plh]ösv avai, sy.dsQyog 'y^TtöXlcov.
Bei den überaus nahen Beziehungen der Orphiker zu Delphi
und dem dortigen Apollonkult dürfen wir wohl unbedenk-
lich annehmen, daß sie wie die siebentägige Frist bei Fasten
so auch die apollinischen Festtage am 7. jedes Monats ge-
Avissenhaft beobachtet haben. Aber auch der delphische
Dionysoskult und Mythus hat deutlichen Einfluß auf die
orphische Lehre ausgeübt; man denke an die orphischen
Legenden von den 7 männlichen und 7 weiblichen Titanen,
die den jugendlichen Dionysos-Zagreus in 7 Stücke zerreißen
und diese dann auf 7 Bratspieße aufspießen, um sie zu braten
und zu verzehren (Lobeck, Agl. 557). Auch schrieben sie
dem Dionysosknäblein sTcrä naidagicbdi] a^vQnaxa zu, mit
denen es gespielt haben sollte (Lobeck, Agl. 555 f.).
Im vollkommenen Einklang damit stehen nun die viel
zahlreicheren Hebdomaden, die wir in der Lehre und der Lebens-
praxis der Pythagoreer antreffen und die meist auf uralten
religiösen Kultgebräuchen oder auf ebenfalls sehr alten Volks-
anschauungen beruhen. Auch hier beginnen wir wieder mit
einer Übersicht über die hebdomadischen Fristen, die in der
Lehre und Praxis der Pythagoreer vorkommen.
Auf eine apollinische Feier am Siebenten jedes Monats
beziehe ich unbedenklich die von Timaios (s. fr. 82 M.) bei
Athenaios 522 <= überlieferte Nachricht von dem Aufenthalt
des Demokedes, des bekannten Pythagoreers und Leibarztes
des Darius I Hystaspis, in Kroton: UsQßLxriv exc3v ßroXrjv
siebentägige Fristen üblich waren. Vgl. Aristot. bist. an. 8, 6, 3: Ol
di ©(jü^sg niaivovoi [die Scbweine] xjj (liv Tigarj] itislv Siöövrsg, slttt
äiaXEiTtovTsg rj^^gav ^liccf xb Ttgwvov, fisrcc 6i tavTu ovo ^ sira rgslg
xal zizTUQug ^ixQ'' "^^^ intd.
:^8 Wii-ii. II. KusciHKu: [71,5
:TFQiSQXf'^<*'' ^"'^' tßdö^aig rovg ßco^ovs ^itä rov TCQvriivfcos
(DlELS, Vorsokr. ^I S. 656). Da Krotou einer der Ilaupt-
mittelpunkte der Orpliik uiul des Pytlm<,'()reisnuiB und zu-
iT-leich ein durch den Kult des pythisehen Ai)()llon aus-
gezeichneter Ort war**"), so ist kaum zu bezweifeln, daß es
siih in diesoni Falle um einen krotoniatischeu ApoUokult
am siebeuten Monatstage handelt.
Ferner findet sieh bei Aristoteles (Met. 14, 6) die den
Pythagoreern zugeschriebene, aber offenbar aus weit älterer
Volksüberlieieruug stammende Lehre: iv BTrtä (ßreöiv^ 6-
öövTtt^ ßäkku <ö av&Qa:!tog}\ vgl. Solon fr. 27B. und oben
S. iö- Wenn sodann derselbe Aristoteles (Met. 12, 4, 3) be-
hauptet, daß die Pythagoreer eine gewisse Zahl als KaiQÖs
bezeichnet hätten, so kann damit nur der siebente Tag in
Krankheiten gemeint sein, der zweifellos bereits in der ältesten
Volksmedizin der Griechen die Rolle eines kritischen Termins
erster Ordnung gespielt hat''^), weshalb die Heptas auch
ji^i/vä (NCxrj, naiavCa, 'TyCsLo) oder Kqlöls oder IdÖQÜöxEia
crenannt werde (Philol. fr. 20 DielS u. Hebdomadenlehren
S. 28 f.). Man denke auch an die Bezeichnung der kritischen
Tage als 'pythagorici numeri' bei Celsus de med. 3, 4 p. 81
Dakemb., womit in erster Linie die Hebdomaden gemeint
sind (mehr Hebdomadenlehren S. 29 f.). Eine ganz besondere
kritische Bedeutung kommt der heptadischen Tagefrist in der
echtpythagoreischen Lehre vom partus major zu nach Varro
bei Censorinus de die nat. 11. Danach dauert die erste
Periode der Entwickelung des Fötus, d. h. dessen milchartiger
Zustand, 7, seine körperliche Gestaltung aber 40 Tage. Multi-
pliziert mau nun diese 40 Tage mit 7, so erhält man die
90) S. oben S. 28 Anm. 49.
91) Das hohe Alter des siebenten kritischen Tages erkennt man
unter anderem an der statistisch erwiesenen Tatsache, daß, je älter
die Verzeichnisse der kritischen Tage sind, um so mehr darin die heb-
domaiUschen Termine überwiegen (Hebdomadenlehren S. 66f.). Dar-
aus erhellt wiederum das hohe Alter der hippokratischen Schrift von
der Siebenzahl, die in dieser Hinsicht noch auf dem Standpunkt der
ältesten knidiechen Ärzte steht (s. ob. S. 40 f-)-
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 59
280 Tage oder 40 Hebdomaden der Norraalschwangerschafts-
dauer. Daun heißt es weiter bei CeDSoriüus: sed quoniam
\ ultimae illius hebdomadis primo die editur partus, sex dies
decedunt et ducent. septuag. quartus observatur.^^) Diese Zahl
(274) aber stellt fast genau drei Viertel eines Jahres von
365 Tagen dar, insofern die Differenz zwischen 365 und 274
gerade 91 Tage beträgt und diese 91 Tage fast genau ein
Vierteljahr ausmachen (91x4 = 364). Wie es scheint, liegt
also auch dieser Bestimmung des partus major genau ge-
nommen ein Produkt der 7 zugrunde, insofern es sieh, wie
auch Ceusorinus ziemlich deutlich zu verstehen gibt, ur-
sprünglich wohl kaum um 274, sondern vielmehr um 280,
also um 40 Hebdom aden oder 7 Tessarakontaden handelte.
Die Zahl 280 ist demnach nur deshalb künstlich in 274 um-
gewandelt worden, weil es darauf ankam, für den partus
major eine Ziffer zu erhalten, die möglichst genau drei Vierteln
des 365tägigen Jahres eutspricht.^^J Überhaupt müssen die
hebdomadischen Fristen in der Biologie der Pythagoreer be-
sonders zahlreich gewesen sein nach dem Zeugnis des Syria-
nus in Met. XHI p. 121 (= Lobeck, Agl. p. 724): „Pytha-
goras multa divina de septenario dicens ostendit, quo
pacto natura per Septem annos aut menses aut dies
plurimas huius modi rerum perficit."^"^) Nach TertuUian (de
au. 28) soll Pythagoras selbst 7 Jahre lang verborgen in
einer Art Grabeshöhle (subterraneo latitat) gelebt haben, wo-
mit man die siebenjährige Abwesenheit des Aristeas nach
Herod. 4, 14 vergleichen kann.^^)
92) Mehr Hebdomadenlehren S. 35 Anm. 51.
93) Mehr Hebdomadenlehren S. 35 Anm. 52, wo auch auf Ps.-
Hippocr. TT. ETTTcfi. a. Anfang hätte hingewiesen werden können.
94) Den griechischen Wortlaut s. jetzt in der Berliner Aristoteles-
ausgabe V p. 940'', 28, wo es heißt: ngägog y,sv 6 IIvQ- ayög e log
jtoXla xat GSfivcc kccI d-eongSTir] itsgl kiträdog sinwv ovSs^iä roLavriß XQV-
xui anodöcsi,, dsiKvvai äs cuvsrcös, ojiag rj cpvaig dt' snzä ixäv rj
^-qvciv 7] TJfifpmv nXclGtcc xoiovxoiv itgccyiiäxcov xsIbloZ t) ^sxaßäXXst.
Vgl. dazu Hebdomadenlehren S. 39!
95) Vgl. CoRSSEN, Rh. Mus. 191 2 S. 23 n. 43.
6o WiMi. H. UosciiKii: [7', 5
Au diese hebdomiulischeii l'^risten der })ythii^oreise,lien
Lelire und Leben.sliilirun>r reihen sieh noch viele weitere
hebdoniiidisehe Hestinunun<;eD au, auf deren ausführliche Be-
sprechung ich hier deshalb leicht verzichteu kann, weil diese
bereits in »len llebdoniadenlehren S. 240". erfoli^t ist.
a) Daß die Theorie vou den 7 Vokalen, 7 Saiten oder
Harmonien (fVr« q)coi>tJ£VTa^ inxä xoqÖckI 1] uq^iovi'ui) und den
7 PK'jailen in der älteren Literatur der Pythagnreer eine
Rolle gespielt hat, erfahren wir durch Aristoteles (Met. 14,
0; DiELS, Vorsokr. -I, 275, 34). Die 7 Vokale und 7 IMe-
jadeu sind uatürlich vorpythagoreische Heptaden. Dagegen
haben wir als die eigentliche Errungenschaft des Pythagoras
und seiner Schule die Lehre von den auf dem Vergleiche der
vermeintlichen 7 beweglichen Sterne (Planeten) und deren
(angenommeneu) durch ihre Bewegungen oder Schwingungen
hervorgebrachten harmonisch gestimmten Töne mit der Har-
monie der 7 Töne des Heptachords anzusehen, eine über-
aus wichtige und originelle Theorie, die wir später in einem
besonderen Abschnitt genauer betrachten müssen, zumal da
sie offenbar unserem hippokratischen Hebdomadiker noch ganz
unbekannt ist. Ferner erinnere ich an die 'septem bona' der
brassica Pythagorea, die Cato de r. r. 157, i Keil er-
wähnt (Hebdomadenlehren S. 41), und die höchst wahrschein-
lich auf einer ganz persönlichen Ansicht und Lebenserfahrung
des Pythagoras beruhen, endlich an die 7 aQt%-aoi (Zahlbe-
griffe), 7 öocfCai (= ^söötrjreg), 7 xivrjßsLg, j Waschungen
usw., die als pythagoreisch wohl bezeugt sind (Hebdomaden-
lehren S. 43).
Schließlich haben wir in diesem Zusammenhang noch
jenes bekannten von der Bedeutung der Siebenzahl handeln-
den Bruchstücks des Philolaos zu gedenken, das DiELS zwar
(Vorsokr. I S. 2 46 f.) für „zweifelhaft" erklärt hat, das aber,
wenn es, wie ich mit andern annehme, echt ist, eine ganz
besonders hervorragende Stellung der Siebenzahl unmittelbar
neben der Zehn (s. ob.) innerhalb der pythagoreischen Zahlen-
theorie bezeugen dürfte.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 6r
Es lautet bei Philo de opif. loo p. 34, 10 Cohn: dt' rjv
aitCav ol ^ev äkkoi cpiXoöoq^oi tbv ägtO-fibv rovrov f|o-
^otovöt rfj a^TJroQi Nixt] xal UaQ^ivc) \='A&riva\, ?jv
kx, rfjg xov /iioq xeq)al'tjs Kvaq)avf}vaL Xoyog f'^ft, ol de IIv-
^•ccyÖQSLOi xS) riyeiiövi xäv öv^ndvxcov ' xb yaQ ^-^ts ysvv&v
H't]X£ ysvvco^evov äxCv^xov nivst xxl. ^uqxvqsI de ^lov rä
Xöyc3 xal 0L}.6Xccog iv xovxoig '
£<3XL yaQ rjyefiGJV xal ag^cov aitdvxaVj ^■eog, ^^s, ael cbv, fi6-
vifiog^ dxCvfjxog^ avxbg iavxa ö^ioLog, ^Tfpog xäv dlXav.
Aus derselben Quelle (Poseidonios) stammt Lydus de mens.
2, 12: oQd^äg ovv di.itjxoQa xbv snxä aQtd-iibv 6 ^iXöXaog
jtQoörjyÖQSvöe ' ^ovog yccQ ovxe yevväu ovxe yevväö&ai ne-
<pvxe' xb de ^r]xe yevv&v ^iqxe yevvä^evov dxLvrjxov sv xi-
vTjöei yaQ rj yevvi]6ig, xb ^ev IW yevvrjör}, xb dh Iva yevvrjdfi.
xoLovxog de 6 d'sog, äg xal avxbg 6 qtjxcoq 6 TaQavxlvog'
q}r]öl de ovxcjg ' eöxi — o^otog. Ahnlich auch Anatol. de
decade p. 35 Heiberg: eßdo^äg ^övtj t&v evxbg dexddog ov
yevva ovte yevvdxai vtc allov aQid^^ov %kriv vitb fiovddog "
dtb xal xaXelxai vnb x&v TIv&ayoQeLCOv jcaQd-evog d^7]tG}Q.
Was zunächst die äußere Beglaubigung dieses Bruchstücks
als echt philolaisch anlangt, so ist es so gut wie sicher, daß sowohl
Philo als auch Lydus und Anatolios direkt oder indirekt aus dem
an ähnlichen Zeugnissen überaus reichen Kommentar des Posei-
donios zu Piatons Timaios geschöpft haben. Ich verweise
in dieser Beziehung auf meine, Schmekels und BoRGHORSTS
Arbeiten verwertenden, Ausführungen in den Hebdomaden-
lehren S. logff und ii4if., wo noch weitere von Diels a. a.
0. weggelassene Zeugnisse des Clemens Alexandrinus, Favo-
nius Eulogius, Nikomachus Gerasenus, Macrobius usw. an-
geführt sind. Auch der ans Religiöse streifende gehobene Stil
des Bruchstücks entspricht durchaus der Art des Philolaos.
Man vergleiche damit, was derselbe Philolaos in fragm. 11
(Diels, Vorsokr. ^1, 243, 3) von der mit der Heptas kon-
kurrierenden Zehnzahl sagt: d^ecoQetv del xa eQya xal xijv
ovöCav Tö dQid'piG) xdxxdv dvva^iv dxig koxlv iv xa dexddu '
^eydXa yuQ xal jtavxeXijg xal navxoeQybg xal d^eico xal
i
62 WiiM. TT Kosciikh: [71,5
ovQavCco ßi'io xKi ai'd^gconi'vo) Äqx^^ \— ndtSQ ^axKQcov,
:TaT£Q ttj'dQÖJv bei Lyd. de dieb. 2, 10; s. ob. S. 49 u. 55] xal
ccyf^Lcov xoLvcavovött . . . dvvafitg xal rag öfxdÖog. avev öh
T«i''ra? Ttttvr' ÜTteiQ«. xai adi]Xa xai drpccvfj. Wenn mit diesen
in gehobener Sprai-he vorgetragenen Worten, die in einem
unverkennbaren Gegensat/e zu der überans nüchternen Aus-
drncksweise unseres hippokratischcn Ilobdoniadikers stellen,
der Bedeutnng der Zehnzalil entsprechend, diese mit Zeus,
dein Vater der Götter und Menschen, identifiziert wird, so
ist es ebenso naheliegend und begreiflich, daß Pbilolaos durch
die Gleichsetzung der Siebenzahl mit Athena, der einzig-
artiffen geliebten Tochter des Götterkönigs, dieser unter samt-
liehen Zahlen die zweite Stelle nach der Dekas-Tetraktys zu-
weisen wollte. Für eine solche hervorragende Sonderstellung
beider Zahlen spricht übrigens auch ein interessantes Frag-
ment des Pythagoreers Hippon von Metapont, das uns Cen-
sorinus (de die nat. 7, 2 H. = Diels, Vorsokr. ^I 225, 5)
glücklich aufbewahrt hat:
Hippo MetapontinuB a septimo ad decimum mensem nasci
posse aestiuiavit. nam septimo partum iani esse maturum eo quod
in Omnibus cumerus septenarius plurimum possit, siquidem
Septem formemur mensibus additisque alteris recti consistere in-
cipiamus et post septimum mensem dentes nobis innascantur idem-
que post septimum cadant aunum, quarto decimo autem pubescore
soleamus. sed hanc a septem mensibus incipientem maturitatem neque
ad decem perductam ideo quod in aliis omuibus haec eadem natura
est, ut Septem mensibus annisve tres aut menses aut anni ad con-
suuimationem accedant: nam dentes septem mensum ini'anti nasci et
maxime decimo perfici menae, septimo anno primos eorum excidere,
decimo Ultimos, post quartum decimum annum nonuuUos, sed
omnes intra septimum decimum annum pubescere.
Es ist klar, daß auch diese Theorie echt pythagoreisch
ist und beide Zahlen als gleichbedeutsam und gleichberechtigt
erweisen sollte. Die einzige Schwierigkeit, die Diels zum
Zweifel an der Echtheit des philolaischen Bruchstücks ver-
anlaßt zu haben scheint, besteht darin, daß Philo a. a. 0.
einen Gegensatz zwischen den äXlot cpiXöaocpoi und den
Pythagoreern konstruieren will, von dem wir sonst absolut
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 63
nichts erfahren. Wie ich schon Hebdomadenlehren S. 114
Anm. 178 dargelegt habe, liegt hier offenbar ein Verderbnis
oder Mißverständnis Philos vor. Nach den sonstigen Zeusf-
nissen sollte man bei Philo erwarten oi [lev ccXXol Ilvd^ayö-
QELOL .... 6 de 0i,Xölaog reo rjys^ovi tcov 6. . . . Daß es
sich wirklich so verhält, lehrt Philo selbst leg. alleg. i , 5 :
7} 8i ys ißöoaäg ovrs ysvvä riva tcbv evTog ösxccdog aoid--
fiäv^ ovTS ysvvätai v%6 xivog^ naQ b ^vd^evovtsg ol Ilvd'a-
yoQSiOL rfj ast^UQd'EVG) xal a(i')]TOQi, avxi]v aTiSixd^ovöLV,
Ott ovts ä7t£xvt]d-r] ovt£ dTtors^stat.
Sehr wohl möglich und denkbar dürfte es jetzt jedem
Unbefangenen erscheinen, daß Philolaos und vielleicht sogar
Pythagoras selbst bei ihrer hohen Schätzung der Siebenzahl
Schriften wie die unseres hippokratischen Hebdomadikers und
seiner unmittelbaren teils philosophischen teils medizinischen
Nachfolger — man denke an ir. öaQxmv, tcsqI STtTa^tjvcov usw.
— berücksichtigt haben. Die entgegengesetzte Annahme, daß
der hippokratische Kosmologe, dessen primitive Weltkarte
Bchon Ermerixs' und Pfeiffers Auffassung gründlich wider-
legt, von dem hinsichtlich der Zahlenlehre wie der Welt-
anschauung so viel weiter fortgeschrittenen Philolaos ab-
hängig sei, kann schon von den hier geltend gemachten
Gesichtspunkten aus als völlig unhaltbar und antiquiert be-
trachtet werden.
III. Astronomisches.
a) Die Gestirnlehre des Hebdoniadikers.
Um über diesen besonders schwierigen Abschnitt der
Schrift 7C. ißdoadöojv klar zu werden, müssen wir unbedingt
von dem überlieferten Wortlaut in Kap. II (s. meine Ausgabe
S. 5) ausgehen. Dabei sind aber auch zugleich BOLLs namentlich
in Einzelheiten wertvolle Erläuterungen und Übersetzungen,
die er bald nach dem Erscheinen meiner Ausgabe in seinen
„Lebensaltern" S. 53 ff. gegeben hat, in Betracht zu ziehen.
Wir können daher im Interesse der Sache kaum besser ver-
64 Wii.ii II. H(is<nKu: (7'i 5
fiihren, als wenn wir zuniii-hst don «^ricchiscluMi Wortlaut mit
den uu/weifoUiaftmi KiinMuliitionen Hokls und dessen deutsohe
Üborset'/ung der einzelnen Sätze nebeneiiumder stellen und
sodann die wichtif^sten l'irläuterun^en des von Bkuostuässku
tretl'lieh heraus<re«rehenen, auf griechischen Quellen beruhen-
den arabischen Kommentators folgen lassen.
I II
'H n^v yi) ovaa fiiff?] xal 6 Ölvft- Die Knie, die in der Mitte steht,
Tttoe xÖG^O'i vTTUTog wv «ifl "') üxi- und die Welt des Olymps, die zvi
rrjrä ioTtr • fi Sk öf/l^'vTj /«^ff»] ovda obcrst lii'},'t, sind stets unbewegt;
owagiiö^si ctvrä ' Tfti/i.« Ttdvta fv der Moud aber, der in der Mitte
&i.X7]i.oiai, Jwvra xal öi' &UriXwv steht, verbindet sie. Das andere
SuövTu avrö: [tu] vqp' kcovTwv xai alles lebt ineinander und geht
iitb rcbv &sl övtcov ^r}Ldiag [äidicov] durcheinander und wird von seiest
KiVEiTut. und von dem Ewigen leicht be-
wegt. [Boll: Das 'Ewige' sind die
Sterne, die die Luft, und das Wasser,
die Witterung, beeinflussen, während
sie selber, die Sterne, sich selbst
bewegen.] "')
[Von den Planeten: Boll].
Tä zoivvv aarga tcc oigävia Die himmlischen Gestirne also,
^Tcra iövTcc^^) ra^iv ^x^i tf) ribv die 7 sind, haben ihre Ordnung
agidiv ^^Sox^ iif(iseiG(isvriv^^), durch die Aufeinanderfolge der
(^waneg Kcttä wgcc? agiofifvag ccko- Zeiten im Jahre eingeteilt, <^wie
Xovd-hiy ceX-^vr] [Hs: MENMlHCj in gemessenen Zeiten folgt) dem
fiiv r/Xios, TjXia} öh GsXrivri. Monde die Sonne und der Sonne
der Mond.
96) So BoLL statt des überlieferten vitb togwvSs. Auf vnatog wv
führt namentlich die lateinische Übersetzung, die hier bietet: olym-
p<^i)u8 mundus summitatem tenens, wie schon Härder erkannt hat.
97) Anders leb in meiner Abhandlung über Alter usw. S. 74:
VTib ttSv &sl <[7tvys6vtcov . . — Vgl. 7t. cpva. 3: riXiov kocI arjXrjvrig xa/
aargcov oöbg öiä tov Ttvevficcrög iativ. Mehr in meiner Abhandlung
über Alter usw. S. 74 Anm. 146.
98) Bergsträ.sser S. 13: Auch die Sonne und die andern 7 Sterne
[Mond, Arktos, Arkturos usw.] gehen^ durch die Sphäre der Tierkreis-
zeichen.
99) So BoLL. Die Handschrift bietet: r^s täv mgsav ivdoxVS
lLBit,igi6nsvr]g.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebexzahl. 65
[Von den Fixsternen: Boll].
kKoXov&hi 6h ylgyiTog jj5 'Aqk- Es folgt aber tlie Bärin dem
TovQO) axolov&ir^v i'arjv wansQ kuI Bärenhüter in gleicher Art wie der
rjXico 6sXi]VTi, ai ös ÜXBiäSig xficiv Sonne der Mond, und es folgen die
'TÜGiv ccKolov^-sovaiv, rü Ss 'Slgiavi- Plejaden den Hyaden und dem Orion
6 Kvwv. der Hund.
[Das gegenseitige Verhältnis von Planeten und Fixsternen: Boll].
Tavrcc 8h tu actga &ycoXov&ir}v Diese Gestirne aber — [Fixsterne
^X^i ccXX'^Xoiai Kai ivavticoaiv ' xal u. Planeten zusammen] — folgen
yccQ ^1 EtiöoyjjS [Hs: ix dB^ifjg] rfjg einander und haben entgegenge-
täv caQicov tTSQoiÖDasws [Hs: iaregi- setzten Lauf: denn nach der Folge
6ioe\ oSsvovaiv, coßts jXTj r^v avrrjv der Veränderung der Jahreszeiten
ardaiv t';uftr odov rä aexQu. marschieren sie, so daß nicht im-
mer den nämlichen Standplatz am
Wege haben die Gestirne.
-ö^
Ps. -Galen übers, von Bergsträsser.
S. 33 (Text des 'Hip^jokr.'): Was die übrigen Dinge anlangt, so
leben sie voneinander und bewegen sich ineinander
S. 35 (Text des 'Hippokr.'): Die himmlischen, irrenden [T?]^"**)
Sterne sind sieben, und sie sind die Ursache der Jahres-
zeiten.
S. 37 (Kommentar): Hippokrates teilt die 7 Sterne in Teile; er
spricht nämlich davon, daß der erste Teil die Sonne ist, und daß der
100) Hier muß ein gewaltiges Mißverständnis des arabischen
Kommentators oder seiner Quelle vorliegen; denn erstens ist es ja Un-
sinn, zu behaupten, daß — abgesehen natürlich von der Sonne — die
übrigen 6 Planeten (^lond, Venus, Jupiter, Saturn usw.) Ursache
der Jahreszeiten seien, und zweitens findet sich weder im grie-
chischen Urtext noch in der lateinischen Über.-etzung (signa celestia
Septem) ein Ausdruck, der auf die Planeten (Irrsterne) hindeutet. Es
kommt hinzu, daß, wenn man die 5 Planeten zu den angeführten 4
Paaren (Sonne — Mond, Arktos — Arkturos usw.) noch hinzurechnet, die
Hebdomadentheorie aufs gröblichste verletzt wird, und daß offenbar
unser Hebdomadiker von der pythagoreischen Siebenzahl der Planeten,
von denen er nur Sonne und Mond kennt und benennen kann, keine
Ahnung hat: ein deutlicher Beweis, daß er älter ist als Pythagoras
und dessen Schule. Es ist nicht im geringsten zu bezweifeln, daß er
als einseitiger Theoretiker der Siebenzahl nicht versäumt hätte, die
Siebenzahl der Planeten und die pythagoreische Sphärenharmonie für
seine Zwecke zu verwerten, wenn er sie gekannt hätte.
PhiL-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 5. c
66 Wu.ii. II. KosciiKit: I7'i5
Mond ilcr Sonne folgt Er meint mit diesen seinen Worten die R])liilre
der Tiorkreiszeiclicn, weil die Soniu' mul der Mond in ihr schwimmen
und sie nicht verlassen, und elu-nso verlassen die ül)ri^'eu irnnden
[VV]'"") Sterne diese Sphäre nieht.
S. 39 (Kommentar): Und wißt, diiß oh unter den Krkiiirern welche
fjibt, die die Worte des Hi|)|)okrates erklären und sai,'eii: er meint
damit nur die Sonne und den Mond, weil sie eine besondere Be-
wejjiiiifx haben, die die i'ibri^en [liier jijonaiuiten Sterne: Arktos, Ark-
turos, IMejaden usw ) nicht haben; aber ilire Worte sind vorkehrt. l)enn
wenn jemand etwas von den Worten der Frülieren klarmachen will,
so ist es seine Pflicht, es klarzumachen von tlen zahlreii h-ten Dingen
aus [also von den Fixsternen Arktos usw. aus], niciit von den wenip^sten
[d. i. Sonne und Mond]. Di'nn wir sehen die nicht irrenden Sterne
zahlreicher als die irrenden; dem entsiirecliend müssen wir die Worte
des Hippokrates schreiben. Denn die nicht irrenden Sterne [und
die Sonne!] sind es, die die Jahreszeiten hervorrufen und
ihre Ordnung bereiten.
S. 43 (Text des 'Hippokr.'): Die Sterne bewegen sich in der Sphäre
auf verschiedene Art.
Kommentar: Er meint hier die Sonne, denn sie ist es, die sich
in ihrem Lauf bewegt; und auch der Mond hat in der Sphäre eine
besondere Bewegung .... Damit aber, daß er von den Sternen spricht,
meint er diese beiden Sterne allein, die Sonne und den
Mond, weil sie beide sich von einem Ort zum andern begel'en.
Die wichtigen Fragen, die sich an dieses Kapitel Icuüpfen
und deren Beantwortung in vielen Beziehungen entscheidend
wirken dürfte, lassen sich kurz wie folgt formulieren:
i) Sind hier unter den 7 die 7 Jahreszeiten und deren
Folge bestimmenden Gestirnen, wie Ginzkl und ich meinen^*''),
die Sonne und die genannten 6 Sternbilder (Arktos — Arktu-
ros usw.) oder mit BoLL die 7 Planeten (von denen hier
aber nur Sonne und Mond genannt werden) und die 6 ge-
nannten Gestirne (Arktos usw.) zu verstehen?
2) Hat BoLL recht, wenn er obige 4 Sätze, die ojffen-
bar eine Einheit bilden, voneinander trennt und durch ein-
geschobene Überschriften: '^Von den Planeten', 'Von den Fix-
sternen' und 'Das gegenseitige Verhältnis von Planeten und
Fixsternen' in seinem Sinne zu erklären sucht?
10 1) Über Alter, Ursprung u. Bedeutung der hippokrat. Schrift
von d. Siebenzahl S. 76 ff.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siekenzahl. 67
Vor allem ist festzustellen, daß es sich — der ganzen
Tendenz des Hebdomadikers entsprechend — auch hier im
Grunde nur um eine Siebenzahl von Gestirnen handeln
kann, die durch ihre Bewegung oder ihren Auf- und Unter-
gang die 7 Jahreszeiten (cjQai) bestimmen. Als solche werden
nun aber statt 7 nicht weniger als 8 in vier Paaren an-
geordnet aufgezählt, nämlich Sonne — Mond, Arktos — Ark-
turos, Plejaden — Hjaden, Orion — Kyon, so daß es sieh fragt,
welches von den 8 Gestirnen genau genommen ausgeschaltet
werden muß, damit die unzweifelhaft beabsichtigte Sieben-
zahl der für die Bestimmung und Folge der 7 ojQai maß-
gebenden Gestirne herauskommt. Um diese für das astrono-
mische Verständnis des ganzen Zusammenhangs wichtige
Frage zu lösen, habe ich mich schon vor Jahren an Prof.
GiNZEL in Berlin, den Bearbeiter der neuen Auflage von
Idelers Chronologie, gewendet und von ihm mit freundlichster
Bereitwilligkeit folgende briefliche Auskunft erhalten ^°^):
„Wenn die genannten Gestirne zur Andeutung der Jahres-
zeiten verwendet werden, so können meines Erachtens ,nicht
die täglichen Auf- und Untergänge, sondern nur die jähr-
lichen in Betracht kommen, durch welche ja auch sonst bei
den Griechen die Anfänge der einzelnen Jahreszeiten be-
stimmt werden, vor allem die heliakischen Aufgänge (wann
die betreffenden Sternbilder nach der Konjunktion mit der
Sonne, d. h. ihrer zeitweiligen Unsichtbarkeit wegen des
Sonnenlichtes, zum erstenmal wieder sichtbar werden). Unter
den 'sieben' Sternen sind wahrscheinlich gemeint:
i) Sonne, 2) Arktos (d. große Bär), 3) Arktur {a Bootes),
4) Plejaden, 5) Hyaden, 6) Orion, 7) Sirius.
Die Sonne muß in der Siebenzahl inbegriffen sein, weil
eben sie die Jahreszeiten erzeugt, resp. weil die heliakischen
Aufgänge der weiter folgend genannten Sterne von ihr be-
wirkt werden.
Was die Folge der Sterne betrifft, so ist der Mond
102) A. a. 0. S. 76 f.
5*
68 Wii.ii. H. Rosohkr: [71,5
natiirlirh mit dor Soiiiu» in Vorl)iii(liiii|^, tiii tr ilio Monate
erzeugt, wio dio Soiino das .lalir. \)or Ausdruck 'der Sirius
folgt dem Oriou' ist richtig, da für Athen um 600 v. Chr.
der heliakische Aufgang
des Oriou am 29. .luai
des Sirius „ 28. Juli
stattfand.
'Die Arktos (= gr. Bär) folgt dem Arkturos': Der helia-
kische Aufgang des Arktur (= « Bootes) erfolgte am .17.
September und zeigte bei den Griechen den Beginn des
Herbstes an. Der gr. Bär geht natürlich seiner nördlichen
Stellung wegen für Athen nicht auf und unter. Aber das
Ende des Schwanzes des gr. Bären steht über dem Arktur;
und daher ist die Verbindung Arktos— Arkturos erklärlich.
In einem alten chinesischen Werke werden die Jahreszeiten
durch die Stellung des Schwanzes des gr. Bären definiert:
'Wenn der Schwanz nach Westen gerichtet ist, wird es
Herbst, wenn er nach Osten zeigt, Frühjahr' usw.
Der Satz dagegen: 'Die Plejaden folgen den Hyaden'
stimmt nicht:
heliakischer Aufgang der Plejaden =20. Mai;
„ „ „ Hyaden = circa g. Juni.
Da beide Sterngruppen nicht weit voneinander entfernt
sind, so wäre eine Verwechslung denkbar."
Aus dieser dankenswerten Darlegung Ginzels folgt, daß
hier, wo es sich, wie auch sonst fast durchweg bei der
Nennung der Arktos, des Arkturos, der Plejaden und Hyaden,
des Sirius und Orion^°^), nicht um die Bestimmung von
'Zeiten' im allgemeinen, sondern ganz speziell von Jahres-
zeiten {cjgai) handelt, aus der Reihe der 8 aufgezählten
Gestirne der Mond ausgeschaltet werden muß, den man
niemals zur Bestimmung der Jahreszeiten, sondern immer
nur zur Bemessung der Monate und deren Einteilung be-
nutzt hat. Dagegen muß die Sonne, die man zur Berech-
103) S. a. a. 0. S. 78 f. Anm. IS3.
/i, 5] Die hippokratischk Schrift von der Siebenzahl. 6g
nuncr nicht bloß des Jahreslaufes, sondern auch der Sonnen-
wenden (tQOTiai) und der Tag- und Nachtgleichen von jeher
beobachtet hat, unbedingt beibehalten werden. Übrigens
konnte jeder Leser hier um so eher an die Ausschaltung des
Mondes denken, als dessen Bedeutung in dem unmittelbar
vorangehenden Abschnitte zur Sprache gekommen war. Wir
können auch darauf hinweisen, daß er auch, als in der Mitte
zwischen Erde und Himmel schwebend und also gewisser-
maßen das Zwerchfell (und den Nabel?) des Kosmos dar-
stellend, von unserem Verfasser für den Sitz der Weltseele
gehalten wird.
Diese Auffassung Ginzels ist nun von Boll (Lebensalter
S. 55) energisch angefochten worden, indem er behauptet, für
eine Teilung von 7 Jahreszeiten, wie sie der Autor in Kap. 4,
also bald darauf, gibt, seien, wie man aus Ideler, Chronol.
I, 252 oder BöCKH, Sonnenkreise S. 76 f. sehen könne, nur
Sonne, Plejaden — allenfalls auch Hyaden, wie er hinzufüge
— Arkturos, Hund brauchbar. 'Mit dem großen Bären haben
die Griechen wohl gelegentlich die einzelne Nacht, aber nie
die Jahreszeiten gemessen, und in keinem Kalender kommt
er vor, weil er eben nie untergeht, also die Bedingung nicht
erfüllt, unter der allein die andern als Kalendersternbilder
verwendbar sind.'
Gegenüber diesen Einwendungen Bolls berufe ich mich
auf einen zweiten Brief Ginzels vom 7./V. 19 18, in dem
folgendes ausgeführt wird:
„Betreffs der Frage über die 'die Jahreszeiten be-
stimmenden Gestirne' kann ich sagen, daß der Mond keines-
falls dazu gehört, also von der Reihe der 8 -Zahl aus-
geschlossen ist. aQxtog die Bärin kann aber dazu ge-
hören, da sich die Stellung des Bärenschwanzes
während eines Jahres um 360° dreht.^"^) Also konnten
die Chinesen sagen: wenn der Bärenschwanz dort oder dort-
104) Vgl. a. a. 0. S. 77 f. Anm. 152 u. f., wo von den &qhxov ötqo-
qpai usw. die Rede ist.
•jo Wii.ii H. U'oscuKu: |7'. 5
hin '/.t'i^t ^^lliiHiuolsriilituii«,' ), hc^iimt iler Soninior, Winter
usw. (^llamll). il. math. u. tci'lin. Chronol. I, qi). tlbcrhiuipt
brftiu'ht ein Gestirn nicht unter- oder aufzugehen, um zu den
die Jahreszeit bestimmenden Gestirnen zu gehören. Man kann
z. B. sagen, dali der Winter beginnt, wenn zu einer gewissen
Abendzeit irgendein hochstehendes, für eine gewisse geogra-
phische Breite nicht uutergeheiules Sternl)ild (hirch den
Meridian des Ortes geht usw. Orion und IMejaden werden
jetzt iu)ch verwendet für Definition vom Anfang der .labres-
zeiten, z. B. auf Java (a. a. 0. II, i28f.). Über die Kollo von
Arktur, Ph\jaden, Orion in den Jahreszeiten der Griechen
' habe ich a. a. 0. 11, 311 ff. gehandelt. Auf BoLLs Behandlung
des griechischen Textes darf ich nicht eingehen, denn das
ist eine rein philologische Frage, da habe ich nicht mit-
zureden."
Ich glaube, wir sind nunmehr in der Kenntnisnahme der
vorliegenden Überlieferung und in der Darlegung der in Be-
tracht kommenden astronomischen Verhältnisse so vireit vor-
geschritten, daß wir es getrost wagen können, die oben
(S. 66) vorgelegten Fragen mit einiger Sicherheit zu be-
antworten.
i) Es scheint mir vollkommen unmöglich, unter den 7
die Jahreszeiten und deren Folge bestimmenden Gestirnen
mit BoLL die 7 Planeten und die 6 genannten Gestirne
(Arktos — Arkturos usw.) zu verstehen, weil nicht bloß die so
gewonnene Summe (13) der durch den Zusammenhang ge-
forderten Siebenzahl arg widerstreiten würde, sondei-n auch
die Planeten, mit einziger Ausnahme der Sonne, auf die Be-
stimmung der Jahreszeiten nicht den geringsten Einfluß haben.
2) Zwar hat sich BoLL durch mehrere schöne und ein-
leuchtende Einzelverbesserungen des griechischen Textes ein
unleugbares Verdienst erworben, doch kann seine Gesamt-
auffassung des Abschnittes, insbesondere dessen Trennung
durch eingeschobene Überschriften 'Von den Planeten' usw.
nicht gebilligt werden. Vor allem scheint mir seine Annahme,
daß der Hebdomadiker außer Sonne und Mond noch die
71,5] Die hippokratische Schpjft von der Siebenzahl. 71
übrigen 5 erst von den Pythagoreern festgestellten Planeten
(Venus '°^), Jupiter, Saturn, Mars, Merkur) gekannt und hier
iv TiaQSQya, ohne ihre Namen anzugeben, summarisch er-
wähnt habe, unbegründet zu sein.
In schroffem Gegensatz zu dieser auf eine hocharchaische
Zeit hinweisenden Rückständigkeit unseres Hebdomadikers
in planetarischer Hinsicht stehen aber seine sonstigen astro-
nomischen Anschauungen, die einen höchst beachtenswerten
Fortschritt wenigstens gegenüber Thaies und Anaximandros
darstellen und in Anbetracht der sonst überall nachweisbaren
hohen Altertümlichkeit seines Weltbildes beweisen, daß wir
es hier mit einem selbständigen und originellen Denker zu
tun haben.
Vor allem ist hier hervorzuheben die hier zum ersten
Male in der wissenschaftlichen Literatur auftauchende, ganz
klare und bestimmte Vorstellung von der Kugelgestalt
der Erde. Noch Anaximander und Anaximenes hatten sich
die Erde entweder als Säulentrommel (xi'ovi XC&a Tia^uxXi]-
6iov: DiELS, Vorsokr. I, 14, 7) oder als tischplattenförmig
{nlaxBia 8ti asQog öioviievi]: DiELS, Vorsokr. I, 18, 40) vor-
gestellt, während unser Hebdomadiker von ihr behauptet:
xarä ^söov di xov y.6(yfiov i] yi] xaiutvi] y.ul exovöa ev
Ecovrf] v.al v(p iojvrfj rä vygä ev ra yisql öxseraL, cööre xoiöi
xdrco xdds filv rä ävco [so nach BoLL a. a. 0. S. 54] xccra
Hvai^ xä 8\ xccTco avco, ovxcy da di] '£%siv xcc xs ix ös^ifig xaX
XU ii, aQLGxsQfig d. h. (nach Boll): 'so daß denen, die drunten
sind, daß Hier, das Obere, unten ist, das Untere aber oben,
und gerade so es sich für sie verhält mit dem Rechts und
dem Links.' Mit Recht macht Nestle in der Wochenschr.
f. klass. Philol. 1914 (15/XI) S. 645 ff, darauf aufmerksam,
105) Man könnte sich vielleicht darüber wandern, daß unser Verf.
sogar einen so hervorragenden Planeten wie den Phosphoros-Hesperos
zu ignorieren scheint. Aber man bedenke, daß die Identität des Morgen-
und Abendsterns und damit seine eigentliche Planetennatur erst von
Parmenides oder Pythagoras erkannt worden sein soll: Laert. Diog.
9, 23 = DiELS, Vorsokr. *I, 106, 11 f.
72 WiLii. H. Roschkr: l7',5
iliD ilio Kugelf^estiilt dor Erde hior nicht einfach mit dem
Ausdrnck ö(fai()osid)jg wie hei den Spiiteren, sondern in
eigentümlich unheholteuer, d. h. hochultertümlicher, VV^eise be-
solirieben wird.
Wenn freilich Boll (a. a. 0. S. 54), um die Originalität
dieser Theorie zu bestreiten und sie samt ihrem Vertreter in
eine spätere Zeit (450 — 350) herabzurücken, die skej)tische
Fratj!:e aufwirft: 'Ist wohl jemals in heißer Arbeit |?J er-
ruu;j;ene neue Wahrheit, die noch 2000 Jahre später Hohn
und Verfolgung fand, so [d. li. ohne genauen Induktions-
beweis] in die Welt gesetzt worden'?', so liabe ich darauf
folgendes zu erwidern:
i) Es fragt sich von vornherein, ob unser Verfasser die
Kugelgestalt der Erde beweislos als eine geniale Hypothese
oder auf Grund eigener detaillierter Forschung ausgesprochen
hat. Ich halte erstere Annahme für viel wahrscheinlicher und
dem sonstigen Charakter des Hebdomadikers entsprechender
als die zweite. Er ist einfach einen kleinen Schritt weiter-
gegangen als Anaximander und Anaximeues, die auch schon
die Kuycelforra des Alls angenommen und die rundliche ent-
weder säulentrommel- oder tischplattenförmige Erde in dessen
Mittelpunkt versetzt hatten, und hat zum ersten Male auch
die Kuorelform der Erde beweislos als eine überaus nahe-
liegende Annahme ausge.sprochen. Ja ich halte es sogar für
möglich, daß unser Hebdomadiker gar nicht der eigentliche
Entdecker der Kugelgestalt der Erde gewesen ist, sondern nur
eine damals in Milet gewissermaßen 'in der Luft liegende', von
einem oder mehreren uns unbekannten altionischen Denkern
vertretene Idee^"^'') sich angeeignet hat. Daran, daß unser Heb-
domadiker in diesem Falle den Namen des eigentlichen Ur-
hebers der Theorie nicht genannt, sondern sie als seine per-
sönliche Errungenschaft hingestellt haben sollte, ist durchaus
kein Anstoß zu nehmen. Gilt doch für die ältesten Philo-
105 b) Vgl. Beuger, Gesch. d. Erdkunde' S. 33. 39. 176 f. A. i,
der die Lehre von der Erdkugel zuerst in Ägypten und Babylon ent-
standen denkt.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 73
sophen der Griechen genau dieselbe Beobachtung, die Diels
hinsichtlich der Art, wie sich die älteren griechischen Arzte
den Werken ihrer Vorgänger gegenüber verhalten haben, ge-
macht hat (Ber. d. Berl. Ak. d. Wiss 1910 (LIII) S. ii4of.):
'Der Autoritätsglaube, der sich erst nach dem Untergang der
politischen Selbständigkeit auch auf geistigem Gebiet aus-
bildet . . ., hatte diese älteren Arzte noch nicht ergriffen.
Sie schreiben, wie die alten Historiker, ungeniert ab, wo sie
etwas Gutes linden (sogar wörtlich: Wellmann, Fragments,
d. griech. Arzte I S. ö), und tadeln ungeniert, wo sie etwas
Besseres zu wissen glauben. Aber das schriftstellerische In-
CD
dividuum, die Persönlichkeit ist ihnen noch nicht so wichtig,
wie den Späteren. Es ist ihnen noch um die Sache zu tun,
und darum ist der Begriff der Schriftstellerindividualität und
des literarischen Eigentums bei ihnen noch nicht voll ent-
wickelt.' Wie man leicht erkennt, paßt diese Charakteristik
auf niemand besser als auf die beiden Verfasser der Schrift
;r. ißdo^ddcov in ihrer gegenwärtigen Gestalt, sowohl den
Kosmologen als auch den Arzt, der die Kosmologie des
Hebdomadikers seinem Büchlein 7t. vovöcov als Einleitung
vorausgeschickt hat, ohne dessen Namen zu verraten. Man
entschuldigt diese Unterlassung um so leichter, als er auch
selbst sich in Anonymität zu hüllen bestrebt gewesen ist
und keinen Wert darauf legt, von der Nachwelt genannt zu
werden. *
2) Schon Vorjahren habe ich die Ansicht ausgesprochen ^°^),
daß unsere Kosmologie nicht das eigentliche vollständige
Original ist, sondern dieses als Exzerpt nur ganz sum-
marisch wiederzugeben sucht. Auch sind von mir selbst
und anderen schon mehrere empfindliche Lücken in der
jetzigen Überlieferung nachgewiesen worden, die sich mit
einer gewissen Leichtigkeit aus n. 6aQx&v sowie aus Diokles
von Karystos und Ärzten, deren Schriften im Hippokrates-
106) Vgl. Die neuentdeckte Schrift eines altmiles. Naturphilo-
sophen S. 35 (= Memnon V S. 183), ferner meine Ausgabe S. 156
Anna. 213 und oben S. 5 Anm. 10.
74 NN'ii.ii. H. luisciiKu: |7'. 5
Korpus stehen, /. 15. den A])li()risnu'n und den Coacac ])rae-
notiones. erirJiir/.en lassen. Dies erkennt /.u meiner Freude
auch E. Pfkifkku (Herl. IMiiloh)g. VVocIienschr. 1914 Sj). 1416)
an. wenn tM" henierkt: 'Wir haben demnacli an den Anfau«.;
einen erweiterten llippokrates 7t. ißö. zu stelhm . . . ,
aus dem (his uns vorliegende Buch ;r. fßÖ. einen Auszug
darstellt.' 8. ob. S. 5. Es ist demnach sehr wohl denkbar,
daß die ursprüngliche Schrift tc. eßd. die Kugelgestalt der
Erde mit irgendwelchen Gründen motiviert hat.
Endlich ist hier noch darauf hinzuweisen, daß unser
Kosmologe die richtige Ordnung der Sphären angil)t: von
oben nach unten: Sternhimmel, Sonne, Mond. 'Das ist', wie
BOLL a. a. 0. S. 54 bemerkt, 'keineswegs etwas Selbstver-
ständliches. Die Babylonier und Perser hatten den Fixstern-
himmel unter die Planeten und Sonne und Mond gestellt;
Anaximander stellt zu oberst die Sonne, dann den Mond, zu
Unterst Fixsterne und Planeten, und so noch Metrodor von
Chios, ja selbst Krates, .... Anaximenes dagegen hatte
wahrscheinlich die richtige Auffassung.'
b) Die Gestirn- und Sphärenlelire der Altpythagoreer.
Ehe wir auf die Einzelheiten dieses Abschnittes ein-
gehen, sei hier einer neuerdings mehrfach ausgesprochenen
Forderung gedacht, dahin gehend, womöglich innerhalb der
altpythagoreischen Schule eine älteste etwa auf Pythagoras
selbst zurückzuführende und eine etwas jüngere Richtung zu
unterscheiden. Nach meiner Meinung ist es aber bei dem
gegenwärtigen Stande unserer Überlieferung bis auf weiteres
schwer möglich, bestimmte klare Unterschiede zwischen beiden
Richtungen festzustellen. Über mehr oder weniger unsichere
Vermutungen wird man vorläufig kaum hinausgelangen
können Wie unsicher auf diesem Gebiete jetzt noch fast
alles ist, ersieht man schon aus den zur Zeit noch weit aus-
einander gehenden Annahmen der hier in Betracht kommen-
den Forscher. So stehen sich z. B. hinsichtlich der Frage,
ob die mehrfachen unleugbaren Übereinstimmungen zwischen
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 75
der Lehre des Anaximenes und der des 'Pythagoras' auf eine
Beeinflussung des letzteren von Anaximenes oder umgekehrt
zu erklären seien, die Ansichten Chiappellis und Dörings
schroff gegenüber. ■"''') Ebenso bezweifelt der letztere Gelehrte
die Berechtigung der sonst ziemlich allgemein angenommenen
Überlieferung, daß Pythagoias als erster, also noch vor Par-
menides, die Kugelgestalt der Erde gelehrt habe, indem er
bemerkt, ein zwingender Grund dafür sei im Pjthagoreismus
erst dann eingetreten, als die Erde zu einem um das Zenti-al-
feuer kreisenden Planeten gemacht worden sei. Nebenbei be-
merkt, erhält das Problem jetzt durch die Entdeckung des
altmilesischen Hebdomadikers eine wesentlich andere Gestalt,
insofern wir jetzt wissen, daß die Lehre von der Kugelgestalt
der Erde hoch ins 6. Jahrhundert hinaufreicht und mit der
geozentrischen Theorie sehr wohl vereinbar ist. So läßt sich
auch zur Zeit nicht sicher entscheiden, ob die Lehre von den
5 oder 7 Planeten und von der damit eng zusammenhängen-
den Sphärenharmonie bereits von Pythagoras selbst oder erst
von seinen älteren Schülern ausgesprochen worden ist. Zwar
neige ich persönlich ganz entschieden zu der Meinung, daß
man sich den Unterschied zwischen der Kosmoloirie des
Pythagoras und der seiner ältesten Schüler nicht groß denken
dürfe, muß aber im Hinblick auf die leider über allen Zweifel
erhabene Tatsache, daß Pythagoras nichts Schriftliches hinter-
lassen hat, zugeben, daß zwingende Beweise für meine An-
nahme einstweilen nicht beizubringen sind. Höchstens das
eine dürfte wohl unbestreitbar sein, daß in allen Fällen, wo
die pythagoreische Kosmologie mit der des Parmenides über-
einstimmt, wenigstens die Annahme eines hohen Alters der
betreffenden Lehre und ihrer Entstehung vor 500 vor Chr.
gerechtfertigt erscheint.
Eines der ältesten und bestbezeugten Zeugnisse für die
Lehre des Pythagoras von den 5 oder 7 Planeten verdanken
107) ^gi- Chiappelli ('Zu Pythagoras u. Anaximenes'), Archiv f.
Gesch. d. Philos. I (1888) S. 582 u. Döring CWandlungen in d. pjtha-
gor. Lehre'), ebenda V (1891/2) S. 503 ff.
i
76 Wii.ii. H. IvosciiHit: l7',5
wir dem Aristoteles [fr. ig6] bei Porphyr, v. Pytli. 41 (=-DlKLS,
Vorsokr. I, .'79, 21 11"). Es lautet: ekeye Öt riva xal ^vötixcö
tqö:tco övaßoXixÜjg^ c< Öt) inl nXtov 'AQiöTOTtXi]^ ccviyQaipEv,
oiov ort T»)i' ^(ikarrav iitv Ixdkei sivui <^Kq6i'ov)> düx()x)ov^
rag dh üqxtoi'S 'Piag x^'i^^^" ^h'^' '^^ nXficiöa Miwöäv lvi)«v,
Tovg öh n?.av}JTag xvi'ag t >'/ 1,* FlfQiJfCfoinjg x. x. k. Das-
selbe bezeugt luieli der noch vor Kallinuiclios blüliende Gnirn-
niatiker i\ox iilexandrinischen Zeit E{)igencs, der nach ('leni.
AI. Strom. 1, _M ji. .sg7 u. V, 8 p. 675 P. eine Schrift nfgl
rfig dg 'ÜQCpia (oder 'Oijqjtcog) Tcoiijöfcog verfaßt hatte, worin
namentlich die Ausdrücke der orphischen Symbolik erlilutert
und tlie Karaftaöig elg "Aiöov luul der [fpö..,' köyog dem
Pythagoreer Kerkops und die (Pvöixa dem el)enf'alls der
pythagoreischen Schule angehörigen Bro(n)tiuo.s zugeschrieben
wurden. Es heißt dort nach Erwähnung rein orphischer
(Sv^ßoka wie xtQXLÖeg, xanTri'koyQOOTsg (= aQOVQot)^ Orrj^iovsg
(= avkaxsg)^ ddxQvcc zJihg (= opißQog): ravta [roiavtcc LoiJi:CK,
Agl. 837) xcd Ol TlD^ayÖQEioi tjvCööovTO ^SQaetpovrjg
[.ihv xvvag Tovg Jtkavrjtag^ Kqövov ös Ökxqvov xiiv
%dka6Gav. Wir haben demnach den Ausdruck ^. xvvEg für
alt- und echtpythagoreisch zu halten, weil er offenbar aus
orphischer Anschauung stammt und wahrscheinlich schon
von Pythagoras selbst gewählt worden ist. Was die zugrunde
liegende Vorstellung betrifft, so habe ich schon längst in
meiner Schrift über Selene u. Verwandtes S. iigf. daraufhin-
gewiesen, daß bei den Orphikern und den Pythagoreern,
z. B. bei Epicharmos, Persephone mit Hekate, der Hunde-
göttin, gleichgesetzt und daher als Moudgöttin aufgefaßt
worden ist. Daß aber in diesem Falle nicht wie bei unserem
Hebdomadiker unter den Planeten bloß Sonne und Mond,
sondern auch die übrigen 5 Planeten (die jener noch nicht
kannte und benannte) zu verstehen sind, ist leicht begreiflich
zu machen. Denn da der Mond selbst als Persephoue-Hekate
gefaßt werden muß, aber der 'Planet' Sonne nicht genügt,
um den Plural xvveg verständlich zu machen, so bleibt nichts
anderes übrig, als ihn auf die Sonne und die übrigen 5 Irr-
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzaul. 77
Sterne zu beziehen. Aucli die bekannte auf dem Vergleich
der 7 'tönenden' Planetensphären mit der siebensaitigen Leier
beruhende Sphärenharmonie ^*^^) setzt unzweifelhaft die Ent-
deckung'"^) der 7 Planeten voraus ^"^) und darf mit ziem-
licher Wahrscheinlichkeit ebenso wie die Entdeckung der
Identität des Morgen- und des Abendsterns dem Meister der
Schule selbst zugeschrieben werden. Auch eine Autorität von
dem Range des Kallimachos schreibt die Erfindung der
xvxXoL ETird oder des Kv>iloi; STCtafiy^xrjg, d. h. des die
Sphärenharmonie bedingenden Systems der sieben Planeten,
dem Phryger Euphorbos, d. h. dem Pythagoras, zu. Vgl. fr.
83» Sehn. b. Diod. exe. X, 6, 4 (= Diels, Vorsokr. I p. 280,
37 ff.): KalUfiaxog dna nsgl TIvd-ayoQov ort
Ei,BVQS Opi'l Ev(p0Qß0J, ÖÖTlg äv&QCOJtOLg
XQiyavcc ts özälriva xal Tcvickav sJttä
<(sdsL^€y ^i,xi] <^xiq')dCda'E,s vrjörsvSLV
täv sfi^tvsövtav • ol ö' uq ov% vtit^kovöuv
jittvtsg}^^)
Was endlich die Frage betrifft, wie denn die Altpythagoreer
die 5 Planeten außer Sonne und Mond benannt haben, so
habe ich sowohl im Lexikon der Mythol. unter 'Planeten'
(III Sp. 2522 Anm.) als auch in den 'Hebdomadenlehren'
wahrscheinlich zu machen gesucht, daß die etwas abstrakten,
aber gerade wegen ihrer Abstraktheit für Philosophen sich
108) Vgl. Aristot. de caelo 2, 9, der hier wie sonst nur von ITi;-
Q-ayÖQeiOL redet, und Censor. de die nat. 13, i, der die Sphären-
harmonie direkt dem Pythagoras zuschreibt.
109) Selbstverständlich soll mit diesem Ausdruck nicht geleugnet
werden, daß Pythagoras und seine ältesten Schüler in dieser Beziehung
von altbabylonischer Forschung und Lehre abhängig waren. Vgl. ob.
Anm. 105 b.
iio) Laert. Diog. 8, 14: «pöordv te "Eaitsgov yial ^aacpogov xov
avtov sinsiv, ol ds (paei naQ(isvidr}v. Ähnl. ders. 9, 23. Plin. n. h. 2,
37: quam naturam eins [sideris, d. i. d. Venus] Pythagoras Samius
primus deprehendit, Olympiade circiter XLII. ApoUod. b. Stob. ecl. i, 520.
III) Anders jetzt Kallim. lamb. 123 Hunt: offrtg ävQ'QmTtcov ||
ktgLytova xal gkuXtivcc jrpcoros ^ypaips || xai kvkXov inrcui'^yisa.
78 Wu.ii. II. Kosciikh: l7>. 5
besoiulers eignenden Namen wie UrlX^iav ■=- Merkur, <Pat'&(ov
— Jnjjpiter, <l>cüvcov = Siiturn, TJtuyoftg — Mars (die alle ver-
schiedene Nuaneen iles Glanzes bezeichnen) j)ythag()reisclieii
Ursprungs seien, während die andern von den ins Griechische
übersetzten großen Götteiu Babylons (Ähirduk — Juj)piter,
Ninib = Mars, Nebo = Merkur, Istar = V'^enus, Nergal == Sa-
turn) entlehnt, also getiau genommen babylonischen Ursprungs
sind (Lex. d. Myth. 111 Öp. 2525 f.).
Es b»auciit in diesem Zusammenhang wohl kaum erst
darauf aufmerksam gemacht zu werden, wie willkommen
unserem llebdomadiker gerade die altpythagoreische Lehre
von den 7 Planeten und der damit zusammenhängenden
Sphärenharmouie gewesen wäre, wenn er sie gekannt hätte.
Nichts beweist sein hohes Alter und seine Unabhängigkeit
von den Pythagoreern deutlicher als seine völlige Ignorierung
dieser altpythagoreischen Theorien.
In ebenso schroti'em Gegensatz wie die Planetentheorie
des 'Pythagoras' und seiner ältesten Schüler steht auch ihre
Sphären lehre zu den Annahmen unseres hebdomadischen
Kosmologen, so daß auch in diesem Punkte irgendeine Be-
einflussung des letzteren vom Pythagoreismus als absolut
ausgeschlossen erscheinen muß. Zwar ist es so gut wie
sicher, daß Pythagoras selbst die Lehre von den 10 Sphären
noch nicht ausgesprochen hat, doch liegt dieselbe bereits bei
Philolaos (um 430 v. Chr.), dem Zeitgenossen des Sokrates,
vollkommen ausgebildet vor, so daß unser Hebdomadiker,
wenn er wirklich erst in der Zeit von 450 — 350 gelebt
haben sollte, und (wie Pfeiffer annimmt) pythagoreischen
Einflüssen zugänglich gewesen wäre, von ihr hätte beeinflußt
werden müssen.
Was sodann die Einzelheiten der Sphärentheorie be-
trifft, so läßt sich auch hier kaum ein größerer Gegensatz
zu der unseres Hedomadikers denken. Während dieser nur
folgende 7 Sphären annimmt: i) ti]v toü «xpTjrou xoöaou
rd^iv, 2) rrjv räv uötqojv avTavyCav xul fidvaöiv, 3) die
Sphäre der Sonne, 4) des Mondes, der zugleich als Sitz der
I
71,5] Dll^ HIPPOKRATISCHE SCHRlFT VON DER SiEBENZAHL. 79
Weltseele gefaßt wird, 5) der Luft, 6) des Meeres, 7) der im
Mittelpunkt des Alls unbeweglich scliwebeudeu Erde, ztihlen
die Altpythagoreer nicht weniger als 10 nicht um die Erde,
sondern um das Zeutralfeuer kreisende himmlische Körper
(dexa aäiiara dsta xoqsvovtu: Stob. ecl. i, 4^8). Und zwar
sollen in der weitesten Entfernung vom Zentrum der Fix-
sternhimmel (l), ihm zunächst die 5 Planeten (II — VI), hier-
auf die Sonne (VII), der Mond (VIII), die Erde (IX) und
als zehnter Körper die Gegeuerde (X) kreisen; die äußerste
Grenze der Welt aber suUte durch das Feuer des Umkreises,
dem der Mitte entsprechend, gebildet werden (vgl. Zeller
^I, 414 Anm. 3, wo die sämtlichen in Betracht kommenden
Zeugnisse zu bequemer Übersicht gesammelt sind: Aristot. de
caelo U, 13; Metaph. i, 5. q86 a 8; ebd. 293'' 18. Stob. ecl.
I, 488. Alexand. z. Metaph. I, 5). 'Mit den gewöhnlichen
Vorstellungen der Alten verglichen, bezeichnet diese Theorie',
wie Zeller a. a. 0. S. 42g mit Recht bemerkt, 'einen merk-
würdigen Fortschritt der Sternkunde.' 'Denn während jene,
die Ruhe des Erdkörpers voraussetzend, den Wechsel der
Tao-es- und Jahreszeiten ausschließlich von der Sonne her-
leiten, so wird hier zuerst der Versuch gemacht, wenigstens
den ersteren aus der Bewegung der Erde zu erklären.'
Auch hier wieder muß ausgesprochen werden, daß in dieser
Beziehung eine Beeinflussung unseres Hebdomadikers von
Seiten der altpythagoreischen Schule absolut ausgeschlossen
scheint.
IV. Psychologisches.
a) Die Psychologie der Schrift von der Siebenzahl.
Bei der traurigen Unklarheit und Verderbnis der in den
lateinischen Übersetzungen des Ambrosianus und Parisinus
vorliegenden Überlieferung von Kap. X sind wir hauptsäch-
lich auf den ins Arabische übersetzten Kommentar des Ps-
Galen ano-ewiesen, wie er uns in der BergsträSSER sehen
Ausgabe S. loiff. mitgeteilt ist. Danach ist der Inhalt dieses
(10.) Abschnittes unserer Schrift etwa folgender gewesen.
So Wn.u. H. KosciiKu: f7>. 5
Auch (lio 8eelc {il'VXV^ aniina), d. i. <1iis Prinzip der
Lebeusk rillt, bestobt aus 7 Teilen oder Fiiktciren. Diese sind:
\) Die ursi)riin,i,Miebe Wärme, die im Anfunfjj der
Scbwanfjerscbiit't vorbanden ist (vgl. Gal. VII, 6i6: t6 &eQiiov
ovH ejriXT}jToi' ovd' vötegoi' tov t.(p^w rfjg ysvtöscog^
all' ctVTO :T(iior6v ti- xcd cc()x^Yovot> xa) i-)i€pvTov. il). XVll
W 407 [ro e^iifVTOV 9^i-qu'ov\ tö öiccTrXciauv H ^QX^'l^ ^" ^woJ')
uud binnen 7 Tagen die Form des Embryo bildet.
2) Die küble Luft, welche die allzu große Wirkung
der Wärme ermäßigt.
3) Die Feuchtigkeit, die in dem ganzen Körper ist.
4) Die (trockene) Erde, d. b. die in Fleisch, lilut und
Knochen vorherrschenden erdigen (festen) Bestandteile.
5) Bittere Säfte (d. h. die gelbe Galle), welche Krank-
heiten veranlassen, die sich in hebdomadischen Fristen ent-
scheiden.
6) Süße Säfte, die namentlich im Blute vorhanden
sind und Gesundheit und Ernährung bedingen.
7) Salziges, d. i. das (pXeyfia.
Wer durch vernünftiges und mäßiges Verhalten diese
zum Leben notwendigen Bestandteile in der richtigen Mischung
erhält, der bleibt gesund und lebt glücklich, wer aber das
Gegenteil tut, der verfällt in allerlei schlimme Krankheiten.
Wir erkennen deutlich, daß unser Physiker, um eine
Siebenzahl von 'Seelenteilen' zu gewinnen, hier die uralte
Lehre von der Vierzahl der Elemente (Feuer = Wärme, Luft
= Kälte, Wasser = Feuchtigkeit, Erde = Blut, Fleisch, Knochen)
mit der ebenfalls recht alten Lehre von den 4 Säften (vygd:
ai^a, xoXr'i, vdoQ, (plsy^a) verbunden hat. Natürlich mußte
er, da das Wasser sowohl als 'Element' wie als 'Saft' figu-
rierte, dieses aus der Liste der Säfte streichen, und hat von
den Säften das Blut, das ebenso wie das Wasser sich als
Süßsaft auffassen läßt, mit dem yXvxv identifiziert, während
das 'Salzige' offenbar dem cpXty^a, das 'Bittere' der xoXij
71,5] Die hippokratischb Schrift von der Siebenzahl. 8i
entsprechen soll."^) Auch das Buch 7t. auQx&v kennt sowohl
die Lehre von den 4 Elementen (Kap. 2: VIII 584 L.) als
auch eine Theorie von den zur Bildung des animali.schen
Körpers notwendigen 7 Bestandteilen (Kap. 13 = VIII 600 L.
&6Q[^6v^ rpvxQov, xoXXäöeg, XinuQÖv, yXvxv^ tcluqov, öörsu),
die jedoch von üaserem Autor, der auf einem etwas älteren
Standpunkt zu stehen scheint, mehrfach abweicht.
Daß dieser SeelenbegriiSF unseres Hebdomadikers durch-
weg dem Standpunkt der altmilesischen Philosophen ent-
spricht, welche die Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt
und belebt, die Lebenskraft des Menschen oder seine Psyche
benennen, mag man aus RoiiDEs glänzenden Darlegungen
(Psyche ^11 i4of.) ersehen. Wie Rohde a. a. 0. S. 143 f. aus
führt, kann von Unsterblichkeit der Seele im Sinne der
Mystiker, die der Psyche, d. i. einem in die Leiblichkeit von"
außen eingetretenen und von dieser rein abtrennbaren Geistes-
wesen, eine Fähigkeit gesonderten Weiterlebens zusprechen
konnten, keinesfalls bei diesen Philosophen die Hede sein.
Auch der Verfasser des von den Krankheiten handelnden Ab-
schnitts unerer Hebdomadenschrift, leugnet offenbar die Un-
sterblichkeit der Menschenseele, wenn er am Schlüsse seines
Buches (Kap. LH) bekennt: OQog dh d-avccrov^ eäv tö ti]g
ipvxfig &£Qnbv STtttvsld'rj vzhg rov o^cpaXov sig xhv äva x5)v
(pQEväv TOTiov y,a\ övyxavd'f] xh vyQOv ajtav ' STtsidäv 6 TtXsv-
[icov xal i) xaQÖCa xi}v lx^ccÖcc äjcoßdXaöi, xov dsQ^ov ad-QO-
ovvTog iv xol6i d'avaxäösöi xoTCoig^ ccTtoTivasL äd'QOov xb
TCVEvfia xov Q'SQ^ov, od'Ev 7C£Q ^vvsGxTj TO oAov, slg xb
bXov jtdXtv, xb fiav diä xäv öaQxav^ xb dh dta xüv iv
x8g^aXf] avanvoav^ o^sv xb t,'f}v xaXov[i8v' anoXUnovöa de
i] ^vjri xb xov öä^axog öxr^vog xb ipvxQbv xal xb ^vy]xbv
sL'ÖojXov afia xal x^^ü ^^'^ cci^^<^t^I' ^o^t (pXey^ari xal öaQxl
TtccQedaxsv.
112) Vgl. Röscher, Über Alter, Ursprung usw. der Schrift von
der Siebenzahl S. 106, wo auch noch weitere Zeugnisse (s. Anm. 220)
beigebracht sind.
PhiL-hist. Klasae 1919. Bd. LXXI. 5. 6
Hi Willi. 1!, lu)si"iii:u: l7'- S
b) Dio Psychologie dos Pythagoras und der Altpythagoreer.
liii allorscliärfsteii (ipgoiisut/.e zum Seelcnbegrillc der Alt-
inilesior und iiiisoros llcbdoinadilvcrs sUdit d'w in neuester
Zeit nauiontlicli von ItoiiDK (Psyclie "II, i6of,) tiviVlich er-
örterte Psychologie des Pytlia<^oras und seiner ältesten z. T.
noch oridiischem Seelenglaul)eii huldigenden Anhänger. Als
Kern dor pythagoreischen Seelenlohre hat Ron OK folgendes
festgestellt.
„Die Seele des Menschen, hier wieder ganz als der
Doppelgänger des sichtbaren Leibes und seiner Kräfte gefaßt,
ist ein dämonisch unsterbliches Wesen, aus G()tterhöhe
einst herabgestürzt und zur Strafe in die 'Verwahrung' des
Leibes (£i/ (pQo\>QC( Fiat. Phaed. 62 B) eingeschlossen. Sie hat
zum Leibe keine innere Bezie^ung, ist nicht das, was man
die Persönlichkeit dieses einzelneu sichtbaren Menschen nennen
könnte: iu einem beliebigen Leibe wohnt eine beliebige Seele.
Scheidet sie der Tod vom Leibe, so muß sie nach einer Zeit
der Läuterung im Hades auf die Oberwelt zurückkehren. Un-
sichtbar schweben die Seelenbilder um die Lebenden; in den
Sonnenstäubchen und ihrer zitternden Bewegung sahen Pytha-
goreer schwebende 'Seelen'. Die ganze Luft ist voll von
Seelen. Auf Erden aber muß die Seele einen neuen Leib auf-
suchen , und das zu vielen Malen. So wandert sie durch
Menschen- und Tierleiber einen langen Weg. Wie Pytha-
goras selbst an die früheren Verkörperungen seiner Seele die
Erinnerung bewahrt hatte und davon zu Lehr und Mahnung
der Gläubigen Kunde gab, berichteten alte Legenden. Die
Seelenwanderungslehre nahm auch hier eine Richtung
auf religiös-sittliche Erweckuntr. Nach den Taten des früheren
Lebens werden die Bedingungen der neuen Verkörperung
und der Inhalt des neuen Lebenslaufes bestimmt. Was sie
damals getan, das muß sie nun, als Mensch wiedergeboren,
an sich erleiden." Im folgenden sucht Rohde zu zeigen, wie
die pythagoreische 'Heilsordnung', rituale Symbolik und As-
kese darauf gerichtet waren, die Seele rein zu bewahren und
7f,5] l)lE HIPPOKUATISCHE SCHRIFT VON DER SiEBENZAHL. 8,3
sie endlich aus diesem Erdenle}3en ganz herauszuheben und
einem göttlich freien Dasein zurückzugeben (S. 163 f.). Zu-
letzt macht R. wahrscheinlich, daß die Seelenlehre des Pytha-
goras weder aus der griechischen Wissenschaft noch aus der
Fremde (Indien) geschöpft ist, sondern in ihren wesentlichen
Zügen nur die Phantasmen alter volkstümlicher Psychologie
wiedergibt, in der Steigerung und umgestaltenden Ausführung,
die sie durch Theologen und Reinigungspriester, zuletzt durch
die Orphiker erfahren hatte (S. 167).
Über die später durch Philolaos vertretene mit dem
älteren pythagoreischen Seelenbegriffe sowie der Annahme
der Unsterblichkeit nicht recht in Einklaag stehende Vor-
stellung, daß die Seele eine Harmonie sei, s. Zeller a. a. 0.
^I, 444 f. u. ROHDE, Psyche -IT S. 169. Noch weniger sind
die von späteren Schriftstellern den Pythagoreern zugeschrie-
benen Ansichten von 2 oder 3 oder 4 Seelenteilen, die aber
mit den 7 von unserem Hebdomadiker angenommenen 7
Teilen nicht die geringste Verwandtschaft verraten, für ur-
sprünglich und echtpythagoreisch zu halten.
V. Musikalisches und Akustisches.
Die musikalisch -akustischen Entdeckungen gehören, wie
namentlich Gomperz in Bd. I d. Griech. Denker lichtvoll dar-
gelegt hat, zu den größten und bleibendsten wissenschaftlichen
Leistungen des Pythagoras und seiner Schule. Alle beruhen
aber nach Zeller -'^I, 433, der in dieser Beziehung auf die
nur aus der 7- Zahl der Planeten verständliche Sphären-
harmonie verweist, auf der Analogie der der ganzen pytha-
goreischen Tonlehre bis über Philolaos herab zugrunde
liegenden Tatsache der 7 Töne des Heptachords oder der
siebensaitigen Leier (Belege bei Zeller a. a. 0. S. 431
A. 2 u. 433 A. i). Es braucht nicht erst ausführlich dargelegt
zu werden, wie willkommen unserem Hebdomadiker diese
musikalisch -akustische Bedeutung der Siebenzahl gewesen
wäre und wie eifrig er sie in die Zahl der von ihm be-
6*.
8^ WiMi. H. Rosciikr: [7'. 5
haiiilolttMi und aufgezähltou llelxlomaden aufgonoiunien haben
würde, wenn er sie gekannt hätte. So spricht nichts dout-
lielier gej^en eine Beeinflussung des Ilehdomadikers durch
Pylhagoras und dessen Schule sowie für den vorpytlia-
goreischeu Ursprung seiner Schrift als diese nicht in Abrede
zu stellende, vom Standpunkte des 5. und 4. Jahrhunderts
aus gar nicht /.u rechtfertigende klatFende Lücke innerhalb
seiner Hebdoniadenlehre.
VI. Über E. Pfeiffers Vorsucli, die Abliänjjjiskeit des
Hebdomadikers vom Pytiia^oieismus nachziiweiseu.
In einer sonst manches Gute und Anregende bietenden
Schrift, betitelt 'Studien z. antiken Sterngiaubcn' (= Bohh,
Zxoixsiu lI,Leipz. 19 16) hat E. Pfeiffer, ein Schüler F. Bolls,
den ernstlichen Versuch gemacht, in einzelnen Punkten die
Abhängigkeit des Hebdomadikers vom älteren Pythagoreis-
mus nachzuweisen und damit die Entstehung seiner Kosmo-
logie in die Zeit zwischen 450 und 350 herabzurücken. Ich
hatte ursprünglich die Absicht, gleich in den vorstehenden
Kapiteln die Behauptungen Pfeiffers eingehend zu wider-
legen, habe aber schließlich davon abgesehen, um jene Ab-
schnitte nicht allzusehr mit Polemik zu belasten und meine
Darlegungen zunächst möglich objektiv durch sich selbst auf
den Leser wirken zu lassen, und gehe erst jetzt in diesem
Schlußkapitel daran, das oben Versäumte einigermaßen nach-
zuholen.^^')
Für Pfeiffers Beurteilung der Schrift 7t. aßS. ist vor
allem charakteristisch, daß er die entschieden hocharchaische
siebenteilige Weltkarte, die nach fast allgemeiner Ansicht nur
vom Standpunkt des altmilesischen Seefahrers des 6. Jahrh.
verständlich ist (s. ob. S. iff.), ebenso wie die ganze Schrift
113) Vgl. übrigens meine Anzeige von Rehms Griech. Windrosen
in d. Wochenschr. f. klass. Philol. 1917 Sp. 8sof., wo ich auch schon
meinen Standpunkt gegenüber Pfeiffers Ansichten in aller Kürze zu
wahren gesucht habe.
71, 5] Die hippokkatische Schrift von der Siebenzahl. 85
7t. sßd. (also auch den medizinischen Teil), sich nur in der
Zeit zwischen 450 und 350 entstanden denken kann. Auf
eine Widerlegnug der von mir und anderen Forschern ge-
lieferten Beweise verzichtet er einfach, indem er auf Bolls
Ausführungen in den Neuen Jahrbb. 31 (1913) S. 137 f. ver-
weist, wo zwar von einer triftigen Widerlegung meiner An-
sicht von dem hocharchaischen Charakter der Weltkarte keine
Rede ist, wohl aber in sehr verdienstlicher Weise auf die
Beeinflussung des Heptadisten durch ein altägyptisches in der
sogen. KoQT] xöGuov erhaltenes Weltbild (s. ob. S. gfi".) hin-
gewiesen wird. Also mein llauptargument für den vorpytha-
goreischen Ursprung der Schrift von der Siebenzahl bleibt
nach wie vor trotz Pfeiffers Polemik vollkommen un-
erschüttert bestehen.
S. 37 gibt Pfeiffer zwar zu, 'daß man auch außer-
halb der Pythagoreerkreise (d. h. vor der Entstehung des
Pythagoreismus) das menschliche Leben nach Hebdomaden
einteilte — die Pythagoreer selbst haben es bekanntlich in
4 rjkLXitci zu je 20 Jahren geteilt; s. ob. S. 34 — , 7 Vokale
annahm und in der Medizin viel mit der Siebenzahl arsu-
nientierte', ^iber den nöö^og nach der Siebenzahl zu ordnen
scheint ihm im Hinblick auf die Einzelheiten der deka-
dischen (!) Gliederung der Welt wiederum auf die Pytha-
goreer hinzuführen'. Ich verweise in diesem Punkte einfach
auf meine Darlegungen oben S. 78f. (Kap. Hl) und erblicke in
dieser Argumentation Pfeiffers geradezu eine Umkehrung
des Richtigen. Ebenso verkehrt ist es, wenn Pfeiffer a. a.
0. annimmt, daß auch Poseidonios in seinem Timäuskommen-
tar bei Theo Smyrn. p. 103, 18 ff. H. 'den Aufbau der Welt
nach der Siebenzahl aus Pythagoreerkreisen' übernommen
habe. Vielmehr ist in diesem Falle kein anderer als eben
unser Hebdomadiker Quelle des Poseidonios gewesen, wie ich
schon längst in meiner Ausgabe S. 104 ff. zur Genüge bewiesen
zu haben glaube, was Pfeiffer leider völlig übersehen hat.
Wenn Pfeiffer ferner behauptet, daß der Hebdoma-
diker nicht bloß 2 Irrsterne (Sonne und Mond), sondern
86 Wii.ii. 11. K'nsciiKi;: [71, 5
jiiK'li ilio ültrigcu 5 Planeten gekannt und in den Krois seiner
liebdoinadischeu Darlef^un^en oinl)e/()<i;en liiilte, so ist. in dieser
Hinsiclit schon oben (Kaj). 111 S. 66Ö'.) unter Beruf\in«]j auf die
Autorität (1INZKLS alles Nöti^^o gesagt worden. Ebensowenig
kann ifli ]*Ki:iKri:i{s Hcliaui)tung beijiflicliten, daß er 'un-
zweifelhaft astrologische Gedankengänge beim Ilebdo-
niadiker festgestellt habe', insofern dieser dein nitlich sehim-
nieruden Arktur 'fervores', d. h. Zorneserregungen, 7,usehreil)(>.
Denn 'aucli von späteren Astrologen wurde Arktur in Be-
ziehung /aun Planeten Mars gesetzt, der bekanntlieh Erreger
des d^x^^ioeiÖei^ ist.' Selbstverständlich kann von 'astrologiseheu
Gedankengängen' erst dann die Rede sein, wenn zuvor die
Bekanntschaft mit den sämtlichen 7 Planeten sicher bewiesen
ist, aber auch ganz abgesehen davon ist es überaus kühn,
allein aus der Beziehung des Arktur zum Zorne (fervor)
auf 'astrologische Gedankengänge' schließen zu wollen.
Nicht minder mißlich und gewagt ist es, wenn Pfeiffer
die Worte in Kap. VI: 'Arcturius autem fervoris in homine
Operationen! quaestula enutrita' (so der Ambros.) und 'Hos
autem fervores in omnem operationem que e sole nutrita' (so
der Paris.) verbessert in: 'Areturus autem fervores in homine
operatur, qui e sole nutritur' und dies ins Griechische über-
setzt: ^QXTOVQOS ÖS d^SQfiörrjXcc iv dvd-gcjTta ccTceQyu^itaL ög
■i»:7r6 ijkCov tQt(psTat. Die deutsche Übertragung soll nach
Pfeiffer lauten: 'Arktur aber verursacht im Menschen, der
von der Sonne stammt, die Hitze.'^^*) Damit will Pfeiffer
die Lehre des Parmenides in Zusammenhang bringen, der
nach Diog. L. IX, 22 (Diels, Vorsokr. 18 A. i) behauptete:
ysveöLv [nicht tQ0(p7]v^ xs äv^QCinciv i^ t)XCov tiqüxov
ysveöd-at,^ uixia de vndQj(^siv xb ^sq^ov xal xb x}jvj(^q6v, f'l
114) Aus dem ins Arabische übersetzten Kommentar Ps.-Galens
ist nach Bkrgsträsseb S. 83 f. nicht viel zu gewinnen. Wir erfahren
daraus bloß, 'daß die beiden Kalbssterne [Arktur u. Arktos] der Wärme
gleichen, die im Menschen ist', und 'daß Hipp, die Wärme, die im
Herzen ist und den Zorn erregt, mit den beiden Kalbssternen ver-
bindet'.
71, 5j DiK HIPPOKRATISCHE ScHRIFT VON DER SiEBENZAHL. 87
rav XU Tcdvra öwedrccvai. 'Damit haben wir wiederum die
Pytliagoreer [deren kosmologische Auffassungen bekanntlich
Parmenides vielfach geteilt hat] als für den Hebdomadiker
richtuncfo-ebend festgestellt' [??]: so lautet der von Pfeiffer
aus obigen durchaus unsichern Prämissen gezogene Schluß,
dem kein Unbefangener ohne weiteres beipflichten dürfte.
Wenn Pfeiffer ferner aus den auf das Wesen der
Winde bezüglichen etwas unklaren lateinischen Ausdrücken
'motus vegetans' und 'flatus virtutes' unbedenklich den Schluß
zieht, daß hier offenbar vom Atmen der Welt, wie es die
älteren Pythagoreer gelehrt haben sollen, die Rede sei und
daß daher der Heptadist auch diese Vorstellung dem Pytha-
goreismus entlehnt habe, so ist es mir vielmehr schon im
Hinblick auf die hocharchaische vom Standpunkt des Pytha-
goras aus ganz unverständliche Weltkarte, ferner auf seine
Unbekanntschaft mit der Sphärenharmonie, dem Heptachord.
und den 7 Planeten unendlich wahrscheinlicher, daß hier
vielmehr Abhängigkeit der Pythagoreer von unserem Hepta-
disten oder von einem anderen Physiker vorliegen würde,
wenn wirklich hier die Vorstellung vom Atmen des Makro-
kosmos vorliegen sollte. Aber auch dies ist einstweilen nur
eine unsichere Vermutung.
Auch die Ausdrücke "OXv^Tiog (genauer 'Okv^TCiog xÖG^og
in Kap. 11) für den äußersten feststehenden Umkreis der
Welt und die avravyia aöxQCJV (I § 2) sollen sich nach
Pfeiffer nur aus der Abhängigkeit vom Pythagoreismus
erklären. Das könnte aber nur dann mit einiger Wahrschein-
lichkeit behauptet werden, wenn einerseits der Begriff des
"OXvuTtos erst von Pythagoras und seiner Schule (nicht schon
von Homer, Hesiod usw.) ausgegangen, anderseits die Er-
findung des Spiegels oder die Entdeckung und erste Be-
obachtung einer Widerspiegelung {dvrav'ysta, dvccalaöig) erst
den Pythagoreern verdankt würde, was nachzuweisen doch so
gut wie undenkbar erscheint.
Der Versuch Pfeiffers, den Hebdomadiker als von
Pythagoras und seiner älteren Schule stark beinflußt hinzu-
88 Wn.n. H. RoSfUKu: Oii; iiii-roKU. Schkikt v. d. Sikhknz. [7',5
stoUeii, iiiiili dcuiuiioh c'instwt'ilcu als oiin/.lich iniBlim«j;('ii bo-
zeu'hnet werden. Schon das hoho Alter der priniitivtii öiebeii-
teilii'eii Weltkarte, die Unbekaiintseluift mit den 7 Planeten,
mit der Sjihärenliarnionie und der Akustik des Pythafronis
sprei-ben /.u deutlich gc<^t'n Pkkifkkks Annalnne. Auch hat
er /.u wt'ui«^ bethicht, daß die veriiältuisiuäßi>r gerinf^^t-n Über-
eiubtinmningen zwischen (h'r pythagoreischen und der IJel)-
domadeulehre (wie die i-mu (pcoinjevra^ das odövras ßäXkfiv
im 7. Lebensjahre: Arist. Metaph. 14, 6) auf gemeinsamen
älteren Quellen otler auch auf Abhängigkeit der I'ythagoreer
von nnserem Hebdomadiker und seinen Anhängern beruhen
können. Letztere Annahme scheint mir besonders nahe zu
liegen bei dem von DiELS für zweifelhaft erklärten Zeugnis
des Philolaos (Vorsokr. I S. 246), das mit seiner Lehre von
der Bedeutung der Dekade (Diels, Vorsokr. I S. 243, 2 ff.)
in einem gewissen Widerspruch steht und lautet: ean yaQ
\b invä ccQid-pLbg] t]y6(.icov xal uqxcov anävtcov, dsbg, ft.', äsl
(bv, udi'tuog, äxiviirog, avtbc; auvro) ö^oiog^ STSQog tüv uXXov.
Ich halte es nach wie vor für wahrscheinlich, daß Philolaos
mit diesen Worten eine Konzession an die von unserem
Anonymus als Archegeten geführten Hebdomadiker (s. oben
S. 63) hat machen wollen, indem er dabei Ausdrücke ge-
brauchte, die eigentlich seine Lehre von der absoluten Herr-
schaft der Zehnzahl etwas einschränken mußten. Die umge-
kehrte Annahme, daß die ganze einseitige und primitive
Hebdomadenlehre unseres Verfassers auf obigem Satze des
Philolaos beruhe, ist doch wohl undenkbar.
Anhang I.
Aphorismen zum Problem der Schrift von der Siehenzahl.
Bereits in der Mono<?raphie 'Die neuentdeckte Schrift eines alt-
milesischen Naturphilosophen und ihre Beurteilung durch H. Diei.s'
iqi2 S. 36 ff. (= Memnon Bd. V, 3—4 S. i84ff.) habe ich in Form von
Aphoriömen auf zahlreiche, z. T. recht bedenkliche Widersprüche
und Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die alle diejenigen glaub-
haft, d. h. wissenschaftlich, aufzulösen verpflichtet sind, die nicht mit
uns die ersten elf kosmologischen Kapitel des Buches jt. kßd. für ein
echtes, einheitliches, einem altmilesischen Physiker des 6. Jahrhunderts
entlehntes großes Zitat oder Exzerpt, sondern vielmehr für die „archai-
sierende Imitation" eines zwischen 450 und 550 lebenden „kindis^-hen
Vertreters der Hippokratik" (Diels) oder eines „pythngorisierenden",
d. h. vom Pythagoreismus wesentlich abhängigen Kosmologen jener
Zeit (Pfeiffer) oder gar eines „Pythagoreers" (Ermerins) erklären möch-
ten. Wie ich schon a. a. 0. hervorgehoben habe, lassen sich die in
dieser Hypothese liegenden Schwierigkeiten und Widerspräche wohl am
besten klarmachen durch den Hinweis auf das sonderbare, ja fast
unglaubliche Gemisch von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, von Selb-
ständigkeit (Originalität) und Abhängigkeit, von Vernunft und Tollheit,
von Modernismen, Archaismen"") und Anachronismen, von Scherzund
115) Mit Recht sagt R. Fritzsche, Vierteljahrsschr. f. wissensch.
Philos. u. Soziologie 1912 S. 121: „Ein auf Ablehnung hindrängendes
subjektives .Gefühl durch objektive Gründe zu stützen ist deshalb so
schwierig, weil es in dem ganzen Stücke kein f.^t'fl^'7]eo amarslv, keinen
entschiedenen sprachlichen oder sachlichen Modernismus gibt. Dies
ist in der Tat sehr auffällig. Diels meint deshalb, daß wir hier eine
'archaisierende Kompilation und Imitation' (aus der Zeit zwischen
450— 350) vor uns haben. Aber hat dann der angeblich kindische
Verfasser, falls er wirklich — und warum? — so geschickt
archaisierte, nicht eine erstaunliche, ja unbegreifliche Lei-
stung vollbracht? Daß die Kugelgestalt der Erde ein Modernis-
mus sei, ist nur scheinbar. Sie ist, wie bei Pythagoras, so auch bei
unserem "Heptadiker, nur eine Übertragung der vom Himmel entlehnten
Sphärenidee zunächst auf die Luft, dann auch auf das Wasser und die
Erde, keineswegs mathematisch (durch den bei Ortsveränderung nach
allen Richtungen gleichmäßig sich ändernden Elevationswinkel der
Sterne) begründet usw."
c)0 \Vii.ii. H. luisciiKu: l7',S
Ernst "'), das die kosuiolof^ische Einleitung von tt. l^ßfi. darstellen würde,
wenn sie wirklich erst in der Zeit zwischen 450 (od. 400) und 350 v. Chr.
entstanden wilre. Das lilßt schon eine ohertiächlirhe Musternnf^ der
hauptsächlichsten von unserem Kosniolopen vertretencMi '1 licorion deut-
lich erkennen, wie ich a. a O. iiusj^eliiiirt habe, eine J,)arle<ruuf^, die
meines Wissens bis jetzt noch nicht in einem einzigen Punkte wider-
legt worden ist. Hierzu kommen jetzt noch mehrere neue Argumente,
die mir 7.. T. erst kürzlich bewußt geworden sind und ebenfalls am
besten und kiirzesten in nphoristischer Form vorgetragen werden.
Nimmt man an, daß der Kosmologe der Schrill n. ipd. erst der
zweiten Hälfte des S- Jabrh. oder noch später angehört habe, also ein
Zeitgenosse des Herodot, Ilijipokrates und Demokrit gewesen sei, so
ergeben sich u.a. folgende höehst unwahrsclieiuliclie Konsequenzen:
1. Her ionisch schreibende, also doch wohl mit der Literatur
der lonier einigermaßen vertraute Verfasser muß auf einem für seine
Zeit geradezu unglaublichen geographischen Standpunkt gestanden,
d. h. außerordentlich viel weniger gewußt haben als sein zirka 50 bis
100 Jahre vor ihm lebender Landsmann Hekataios, sehr viel weniger
auch als sein ebenfalls ionisch schreibender Zeitgenosse Herodot, da
seine 7 teilige Weltkarte nur die von den alten Milesiern des 7. und
6. Jahrb. befahrenen und besuchten Meere und Länder umfaßt.
2. Es entsteht die schwer oder gar nicht zu beantwortende Frage,
wie es zu erklären sei, daß der Hebdomadiker das politisch, wirtschaft-
lich und kulturell durch die Perser fast zugrunde gerichtete (Herod.
I, 170: öi^qd-ägt]) lonien immer noch als ''Zwerchfell', d. h. als
Miftelpunkt der oly.ovfievri und Hochsitz aller Kultur und In-
telligenz (s. das Zeugnis des Ps -Galenos ob. S. 4) bezeichnen kann,
obwohl doch damals die Blüte loniens längst vorüber und auf das
vom Verf., ebenso wie Persien, vollkommen ignorierte Athen über-
gegangen war.
3. Im 5. Jahrhundert und später galt nach der Eroberung loniens
und der Zerstörung des Branchidenorakels allgemein Delphi in der
116) Wenn man mit Diels 'die Phantastik, die sich in dem kos-
mologischen Abschnitt Kap i — 11 entfaltet, für ein Analogou za der
tollen Laune, die in des Aristophanes Komödien ihr Spiel treibt', hält
und außerdem an die Identität des Kosmologen und Pathologen glaubt,
dann entsteht, wie Drekcp (Lit. Z. 191 1 S. 1314) richtig bemei'kt, der
wunderliche Widerspruch, daß der Verf. des durchaus ernst zu nehmen-
den pathologischen Teihs in Kap. I — XI eine von toller aristophanischer
Laune und kindischer Spielerei zeugende Kosmologie verfaßt haben
soll, was doch ganz unglaublich erscheint und bisher jeder Analogie
entbehrt.
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. gi
griechischen Welt als öacpaXbg yf]? und Mittelpunkt aller relipriösen
Weisheit und Kultur; der Verf. von ä. kßS. aber ignoriert völlig Delphi
als Zentrum des orbis terrarum und ürsitz religiöser Weisheit und
nennt statt seiner lonien das 'Zwerchfell der Welt', dessen Orakel
(Branchidai) längst aufgehört hatte, der Rivale Delphis zu sein.
4. Der Verf. von tt. fßd. müßte ein wunderlicher, d. h. völlig
kritikloser ('kindischer') Eklektiker namentlich gegenüber dem Fytha-
woreismus gewesen sein, mit dessen Grundidee (Bedeutung und Herr-
schaft der Zahl) er doch in einseitigster Weise übereinstimmt. Vor
allem erscheint unbegreiflich, warum er gerade folgende altpythago-
reische Hebdomaden i'') und Lehren ignoriert oder verworfen hat:
a) die Lehre von den 7 Tönen (Heptachord) '^*),
b) die Lehre von der Sphärenharmonie,
c) die Lehre von der Siebenzahl der Planeten,
d) die Lehre von der Bewegung der Erde um das Zentralfeuer,
von den 10 Sphären und von der Bedeutung der übrigen maßgebenden
Zahlen (i, 4, 6, 9, 10 usw ).
5. Wer den heptadischen Kosmologen mit dem Pathologen der
Schrift von der Siebenzahl für identisch hält, der berücksichtigt nicht
folgende bei dieser Annahme unerklärliche Tatsachen:
a) daß in Kap. XII, wo der pathologische Teil beginnt, sich plötz-
lich der Stil des Verf. insofern gründlich ändert, als er nunmehr wieder-
holt von seiner persönlichen Ansicht {'ego ipse' usw.) redet, im
schroffen Gegensatz zum Hebdomadiker (s. meine Ausgabe S. 16 f. u.
Anm. 3);
b) daß im pathologischen Abschnitt plötzlich eine dualistische
(Kälte — Wärme: Kap. XllI ff.) oder eine tetradische (i. Feuer oder
Wärme, 2. Feuchtigkeit oder Wasser, 3. Kälte oder Luft, 4- Festes
oder Trockenes = Erde: Kap. XV, XXIV) Anschauung auttritt. Auch
stehen die 3 Jahreszeiten in Kap. XVI in schroffem Widerspruch mit
den 7 ojQoci in Kap. IV;
c) daß der Pathologe am Schluß von Kap. LIIT offen die Be-
nutzung älterer Literatur zugibt mit den Worten der lateinischen
Übersetzung:
„Ego quidem quae (qui) ante nie fuerunt medici rede scierunt his
non habeo quod contraeam, credem melius esse rede intelhgere anterior a
quam nova et falsa dicere."'
Daß zu diesen anteriora in erster Linie die heptadische Kosmo-
logie gehört, liegt ja auf der Hand und wird überdies noch durch
117) Aufgezählt von Alex, zu Met. 1, 5, 985 C 26 S. 38, 8 = Zellee
PS. 390 A. 2.
118) S. unten Nestles Brief S. 97.
g2 WiLii. Tl. Ivosi'iiKu: [7'iS
luelirore Siit/e in Kap. XII uml \.\ liostiltigt, in denen unser Pathnloj^e
sich etol/. zu iltMu (irundsatz bokimnt, daß ee unmiij^lich Bei, die Natur
d«'8 nion.schlichen Körpers penüjrend zu erkennen ohne die Krkonntnis
der Natur dos Weltfjanzen {ciifi< rT/v,- ror oXov (pvatioe IMat l'liaedr.
|). 270 C, vjjl. IijiEKii, Festöcbr. f. l.ipaius ö. 20 A. 1 u. S. 31). Vgl. z. li.
Kap. XU: Cum crt/o eiic-moili sit mundus, ostendam et in egiitudine
haec pati tot um )iiundum tt nlionnn omniuni corpora. Necesse est
pmpter eos, qtii vesciunt miitidi tolius et omniunt vaturani, ostnid're,
ut scieutes niagia adscfini ]u>ssitit qune nunc dirunlur usw. Kap. XX:
Medicontm autem hiijn ntidin totitis mundi . . .
b. Die Hebdomadeulehro unseres Kosmologen gehört entwick-
lu ugs fx Pschi c b tlich unzweifelhaft in die Zeit zwischen Solon
(vgl. dessen 10 Iiobdoniadische i]Xi-xiui) und Pythagoras und bildet
die bisher vermilito Brücke zwischen diesem und den altmilesischen
Philosophen, sowie die Vorstufe zu der altpythagoieiscben, erlieblich
vielseitigei-on Zahlenlehre. Das bekannte Fragment 20 (Diki.s) des
Philolaos: i'crt yug {ij t/J^oftäi,] i^yfiiwr xal äpjjojj/ anccvrcov, -öcdg, elg,
äfl iov, uoviuog, äxlvrjzog, arröi,- tnvTcij o^oiog, tttgog rüv üV.cov beweist
klar die Abhängigkt-it des uuteritalisclien Philosophen von der Hebdo-
madenlehre der altiouischen Kosmologen und Ärzte (s. S. 63 u 88)."*)
7. Was man als 'kindische' oder 'törichte' Annahmen ('Spiele-
reien') unseres Kosmologen bezeichnet hat, darin sind im Grunde nur
Zeugnisse für das hohe Alter und die Nai vität (Kindlichkeit) seiner
philosophischen Anschauung zu erblicken. Viele von mir (s. Memuou
a. a. ü. S. 171 Anm. i u. meine Ausgabe von tt. ^ßä. S. 157 Anm. 215)
angeführte Vorstellungen des Thaies. Anaximandros, 'Pythagoras',
Heraklit, Empedokles usw. stehen aut derselben Stufe der Kindlichkeit
wie die des Heptadisten und würden, wenn sie, wie diese, anonym
in irgendeinem Hippocrateum überliefert wären, mit
gleichem Recht für 'kindische Spielereien' erklärt werden
können.
8. Das Verhalten des Piaton (Phaedr. p. 270), des Poseidonios,
Galenos und der antiken Herausgeber und Erläuterer unserer Schrift,
die von ihnen mit Achtung zitiert wird und der Aufnahme in die
Sammlung der Hippocr itea gewürdigt worden ist, beweist zur Genüge,
daß wenigstens diese Männer den Verfasser für keinen 'kindischen'
oder 'törichten Spieler' mit der Zahl 7 gehalten, sondern tatsächlich
ernst genommen haben (vgl. Ilbekg, Festschr. f. Lipsius S. 27).
1 19) Auch wenn (was ich nicht annehme, s. ob. S. 62 f.) dies Frag-
ment, wie DiELS meint, zweifelhaft oder gar untergeschoben sein sollte,
ist doch seine Abhängigkeit von der alten Hebdomadenlehre, wie sie
vor allem durch die Schrift TtA§8. repräsentiert wird, unbestreitbar.
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 93
9. Die auffallende Tatsache, daß unsere Schrift nur von Piaton,
Poseidonios und Galenos zitiert, dage.ijen von Theophrast und dessen
Ausschreibern (Aetios usw.) ignoriert wird, erklärt sich einfach aus der
von DiELs (Hermes 28 [1893] S. 409) geschilderten Arbeitsteilung der
Mitarbeiter des Aristoteles an seiner umfassenden Enzyklopädie der
Wissenschaften, wobei dem Theophrast die Bearbeitung der Pbilosophie-
geschichte, dem Eudemos die Theologie und die exakte Wissenschaft,
dem Menon die Medizin zugefallen war. So gehörte die Lektüre von
TT. sßS. in das Ressort des Menon, nicht des Theophrast, und konnte
von diesem leicht übersehen oder ignoriert werden. Noch beute ist der
Standpunkt des Th. durchaus nicht überwunden, insofern die Schrift
n. ißd in den philosophiegeschichtlichen Werken nach wie vor beharr-
lich iornoriert wird. Wie lange wird dieser sonderbare Zu-
stand noch fortdauern?
IG. Herodot sagt (9, 11 6): Ti]v 'Aaiav näauv [also auch lonien!]
voiiitovGL [Praes.!] kavTcbv slvcci nigaai ■aal toü ccd ßceciXBvovtog. Und
in einer solchen Zeit soll ein ionischer Kosmologe oder Arzt beim Ent-
werfen einer 7 teiligen Weltkarte Persien außer acht gelassen haben?
11. D.-rselbe Herodot sagt von den loniern vor ihrer Vernichtung
duich die Perser (i, 143): ol iiiv vvv aXXoi "lovfg xort oi '^Q-t]vocioi
^(pvyov rö oüi'ou«, ov ßovXöfisvoi "Icoveg -asxXfiGd-ai, aXXä kkI vvv cpai-
vovTai (.LOi, oi noXXol ccvtäv inaiaxvvsa&aL tm ovpoikxti, ai 6s Svoads^a
jtöXsig [Milet usw.] avraL xä rs ovv6(iaTi iiyäXXQvxo [PraeteritumlJ xat
igbv iägvöavTO ini Gcpiav ccvtscov, reo ovvoua '^&svro YIccviwviov , ißov-
Xsv6avT0 dh avTOv ^sradovvai ^r]Sa^ot6i, aXXoißi 'lävcov. Wer dieses
Zeugnis Herodots in Betracht zieht, der kann nicht zweifeln, daß unser
hebdomadischer Kosmolog, der offenbar auf seine ionische Heimat über-
aus stolz ist (s. ob. S. 4), der Zeit vor dem Untergange loniens an-
gehört und unmöglich in die Jahre von 450—350 versetzt werden kann,
wo die Mehrzahl der lonier sich ihres Namens zu schämen pflegte.
Vgl. auch WiLAMOwiTz, Timotheos S. 66. Thuk. 8, 25. Zenob. V, 57. 80.
Apost. 12, 51. 5, 38. Diogen. 3, 87.
12. Zu der eigentümlichen Rolle, welche der Mond im Weltbild
des Hebdomadikers als Sitz der Weltseele oder der Weltvernunft spielt,
hat wohl sicher der uralte, ganz Vorderasien erfüllende Menkult bei-
getragen.
13. Gewiß mit Recht nimmt Feedkich (Hippokrat. Untersuchungen
S. 134 f.) an, daß die Übereinstimmungen vieler alter Physiker nicht
notwendig auf Abhängigkeit voneinander zurückzuführen seien, weil
'ihre Grundgedanken gewissermaßen in der Luft lagen'.
Das gilt wohl sicher auch von unserem Kosmologen hinsichtlich seiner
Übereinstimmung mit Thaies, Anaximandros, Anaximenes usw. Die
Lehre vom Makrokosmos — Mikrokosmos, die zuerst deutlich von un-
94 WiLii. II. Hosi'niou: l7»,5
Borein Kosiuologen auBgi'wprofhon ist'*"), kann recht wohl zu dicHoii
damals in der Luft lio^onden (Jnmdf^cdanken gehört haben. i']l)onHo
dürfte es sich mit der Lehre vom atmenden Kosmos, der wir
vielleicht bei unserem KosmoloRcn wie bei 'l'ythagoras' bej^egnen, ver-
halten (8. .jedoch ob. S. 87).
14. Ks ist sehr aulTallend, tiali iinstr Kosmologe einerseits die
epezitisch pythagoreischen Hebdomaden (ob. unter 4!) ignoriert, aber
anderseits die sicher vor 'Pythagoras' allgemein anerkannten (Aristot.
Met. 14, 6; 12, 4, 3), nämlich die Lehre von den 7 (ionischen) Vokalen,
von der entscheidenden (kritischen) Bedeutung der Siebcn/.ahl i'ür die
Kntwicklung des Fötus wie des Menschen überhaupt und für die Krank-
keiten (s. Hebdom adenlehren S. 60 ff.), aufgenommen hat. Das deutet
doch wohl entschieden auf vori)y thagoreiachen Ursprung.
15. Nach P. .Iknskn, Kosmol. d. Babylonicr S. 257, und H. Bkroi;«,
Sachs. Her. 46 (1894) S. lO, erscheint nach babylonischer Anschauung
die Erde 'als ein Berg oder als eine unten hohle Halbkugel'. Die-
selbe Vorstellung scheint auch dem oben (S. 12) mitgeteilten altägyp-
tischen Bilde zugrunde zu liegen, das den Erdgott in einer überaus
wunderlichen, n<ir von diesem Gesichtspunkt au.s verständlichen ])Ogen-
oder halbkugelförmigen Verrenkung zeigt. Neuerdings hat Wkn.sinck
in seiner Schrift „The navel of the earth" (== Verband, d. K. Akad. te
Amsterdam, Letterkunde N. R. XVII Nr. I) S. 13 nachgewiesen, daß
auch die Westsemiten, besonders die Juden, Samaritaner und Araber,
eine ganz ähnliche Vorstellung gehabt und dem angenommenen Mittel-
punkt der Erde (Jerusalem, Sichem, Mekka usw.) infolgedessen eine
Höchstlage zugeschrieben haben {?. Roscheb, D. Omphalosgedanke
S. 39- 52. 57).
16. Die Geschichte der Erdkunde der Griechen von H. Bekgkk
lehrt unwiderleglich, daß, entsprechend den immer ausgedehnteren
Entdeckungsfahrten der Griechen und den Eroberungen seitens der
Per.ser, Mazedonier und Römer, die Erdkunde der Hellenen von der
ältesten Zeit bis zur Ausbreitung des römischen Weltreichs fortwährend
gewachsen ist, daß also die Weltkarten einen um so bescheideneren
Umfang haben, je älter sie sind. Schon von diesem Gesichtspunkt aus
muß die Weltkarte des Hebdomadikers älter sein als die des Hekataios,
ä,lter auch als die vorauszusetzende des Pythagoras und seiner ältesten
Schüler. Leider bat Bekgeu die Schrift n. ißö. nicht berücksichtigt.
Hätte er es getan, so würde er sicherlich die siebenteilige Weltkarte
des alten Milesier.s an die Spitze seiner Untersuchungen gestellt haben.
120) Vielleicht auch, aber weniger deutlich, von Anaximenes
(Zellee ^ I, 243 f. u. 241, 4) und schon von Anaximandros (Zei.leis
a. a. 0. S. 21 7 f.).
71,5] Die HiFPOKRATiscHE ScHKiFT VON DER Siebenzahl. 95
Anhang IL
Briefliche Äußerungen hervorragender Forscher zum Problem
der Schrift ti. eß<f.
Um namentlich jüngere Gelehrte, die sich m. E viel zu wenig
um die Schrift von der Siebenzahl gekümmert haben, zu deren Studium
und zur Lösung der immer noch sehr zahlreichen darin enthaltenen
Probleme anzuregen, teile ich hier eine Anzahl brieflicher Äußerungen
hervorragender älterer Forscher mit, die mit mir der Ansicht sind, daß
die genannte Schrift es wohl verdient, nach allen Richtungen durch-
forscht zu werden.
Ich ordne die betreffenden Briefe in chronologischer Reihenfolge.
An die Spitze stelle ich einen Brief von Wii.amowitz aus dem Jahre 1906,
der mir den Empfang der 'Hebdomadenlehren' meldet.
Westend Berlin, 5. X. 06.
Eichenallee 12.
Hochgeehrter Herr!
Sie haben mich durch die Übersendung Ihrer Abhandlung über
die Siebenzahl zu dem lebhaftesten Danke verpflichtet. Es haben hier
etliche junge Leute in den letzten Jahren über die Theorien gearbeitet,
die auf Poseidonios zurückzugehen scheinen; das hat mir die Aufgabe
nahegebracht, die Sie nun lösen. Es ist für Hippokrates von großem
Werte, daß Sie die Schrift über die Sieben einer so eingehenden Unter-
suchung gewürdigt haben Ich kann freilich nicht glauben, daß sie in
der erreichbaren Form in so hohe Zeit hinaufreicht, aber die Lehre ist
davon unabhängig, und da ist Ihre Darlegung schwerlich anfechtbar.
Milet oder Kleinasien, das macht nichts aus, Knidos gehört ja auch
dahin, und man hat dort Medizin doch auch nur ionisch geschrieben.
Die Frage nach dem Hippokrates, den Piaton zitiert, wird immer
brennender, denn ich kann ihn von den Epidemien nicht trennen. Ich
habe jetzt als Preisaufgabe die Bücher außer i und 3 gestellt, aber ich
weiß nicht, ob ich einen Bearbeiter finden werde.
Den schmalen Pfad zwischen dem Leugnen des babylonischen
Einflusses, der in Griechenland doch erst im sechsten Jahrhundert be-
gonnen hat, und dem Verfallen in das moderne Babyloniertum, haben
Sie, dünkt mich, innegehalten. Soweit ich sehe, steht es in der Astro-
nomie grade so: ich glaube allerdings nicht, daß die Tradition Glauben
verdient, die Morgenstern und Abendstern erst durch Pythagoras iden-
tifizieren läßt. Phaethon, deu Aphrodite raubt, ist doch wohl auch zu-
gleich der Phaethon, der vor der Sonne reitet.
Selbstverständlich habe ich nur eben ihre Arbeit durchflogen, um
den Eindruck zu haben, der mir ermöglichte, mich zu bedanken, aber
g6 WiLn. H. TvosriiER: [71,5
i( h kann das mit der Versicherunff tun, daß ich reiche Belehrung mehr
noch erwarte als bereits empfangen hahe.
Mit noclnnalipeni vei hindliclisten Danke und der Versicherung
auügezeichucter Hochachtung ganz er;;ebenst
ri.UICn WlLAMüWlTZ-MÖLLKNDOKKK.
Es folgen mclirere Briefe von Wii.amowitz, Tmmisch, W. Nksti,k,
WiNüKi.HANi), die flieh über den Kindruck autisproclien, ilen die beiden
Abhandlungen 'über Alter, Ursprung u. Bedeutung der hippokratischeu
Sclirift von der Siebenznhl' (loii) und deren unmittelbare Nachfolgerin
'Die neuentdeckte Schrift eines altmilesischen Naturphilosophen' usw.
(1912) auf sie gemacht haben.
Westend-Berlin, 5. V. 11.
Eichenallee 12.
Hochverehrter Herr!
Ihrem freundlichen Briefe folgte Ihre große Abhandlung bald
nach, die ich eben nur angeblättert habe, indessen die große Bedeutung
leuchtet mir schon jetzt ein: denn wenn man auch noch so viel abzieht
(Überarbeitung und spätere Entstellung), bo -weiß icli in der Tat nicht,
wie man sich Ihrem Hauptschlusse entziehen sollte, daß wir die Grund-
züge eines milesischen Buches aus der Zeit des Hekataios oder älter
vor uns haben. Es ist gar nicht zu schätzen, was das für Konsequenzen
haben muß. Ihre Abgrenzung gegen die Pythagoreer ist ziemlich das
einzige, was ich angesehen habe, so daß ich die Gründe kennen lernte,
und das ist einfach schlagend: damit ist ein Licht aufgegangen, das
uns begreiflich macht, was der Samier nach Großgriechenland bringen
konnte.
Ich kann also nichts als einfach Glück wünschen und diesen Ge-
winn in mich aufzunehmen versuchen, der mehr bedeutet als vieles, das
aus dem ägyptischen Sande kommt und mir einen guten Teil meiner
Zeit und Kraft kostet.
In ausgezeichneter Hochachtung
dankbar ergebenst
Ulrich Wilamowitz-Möllendorff.
Einen zweiten Brief Ws. vom 7. V. 191 1 habe ich bereits in der
Monographie 'Die neuentdeckte Schrift' usw. S. 12 Anm. 3 mitgeteilt.
Gießen, 2. VII. 1911.
Verehrter Herr Oberstudienrat!
Ihre wichtige Zusendung, für die ich Ihnen bestens Dank sage,
kam gerade im Trubel des Umzugs an. Heut, nachdem sich das Chaos
gelichtet, habe ich die Schrift gelesen und muß sagen, daß mich die
Hauptthese wirklich überzeugt hat. Ich werde erst in den
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 97
Ferien dazu kommen, Einzelheiten zu prüfen und zu überdenken. Ein
paar flüchtige Marginalien sind noch nicht tanti, daß ich sie mitteilen
wollte. Die Schritt ist auch hinsichtlich des methodischen Aufbaus
der Argumentation sehr lehrreich und schön, und wenn Zweifel kom-
men werden, Sie werden, wie immer die Sache ausgeht, das Verdienst
behalten, ein äußerst interessantes Problem in Fluß gebracht zu haben.
Ich persönlich zweifle am günstigen Ausgang nicht, soweit der erste
Gang durchs Ganze solch Urteil erlaubt. — Bezüglich des hum. Gym-
nasiums bin ich nicht in großer Sorge. Diesmal machen auch die
Universitäten mobil (endlich!). Das Wichtigste aber ist: die Attacke
kommt zu spät, der Höhepunkt des Unverstands ist längst überschritten:
die Äußei'ungen der Presse zeigen es deutlich. Und gefährlicher als
Hyperboliker sind Reformer, die zur Hälfte recht haben und Erreich-
bares wollen. T,
0. Immisch.
Stuttgart, den 14. Nov. 191 1.
Stitzenburgstraße 11.
Hochverehrter Herr Hofrat!
Nach Erledigung der Prüfungsarbeiten, die mich, wie ich Ihnen
schrieb, bis Ende Oktober beschäftigten, habe ich Ihre mir freundlichst
zugesandte Untersuchimg über Alter usw. der Hippokr. Schrift von der
Siebenzahl mit größtem Interesse gelesen und mir auch die Gegen-
gründe von DiELs überlegt.
Sie ersuchen mich nun um ein Urteil über Ihre Hypothese, das ich,
soweit ich mir ein solches erlauben darf, im folgenden geben will.
Ihre Beweisführung scheint mir Ihre These jedenfalls sehr wahr-
scheinlich zu machen. Am meisten Überzeugungskraft messe ich
folgenden 3 Gründen bei: i. der Ignorierung des Heptachords, den sich
zunutze zu machen einem Schriftsteller des 5. Jahrhunderts doch zu
nahe gelegen wäre, um sie zu unterlassen; 2. der Ignorierung Athens
auf der Weltkarte und 3. der Bezeichnung loniens als cpgevEg. Es ist
ja wahr, daß die metaphorische Bedeutung des Wortes nicht angedeutet
ist.*) Aber hier kann man sagen: das war eben selbstverständlich,
zumal noch nsgl iQfjg vovaov, wie Sie ja anführen, gegen
diese Vorstellung polemisiert.
Die von Diels behauptete Unechtheit von fr. 126* des Heraklit ist
mir keineswegs über allen Zweifel erhaben, und E. Low, dessen Be-
urteilung und Exegese heraklitischer Fragmente ich sonst freilich meist
für ganz absurd halten muß, hat gerade zu diesem Bruchstück eiue
*) Als Nestle dies schrieb, war Bergsträssers Übersetzung des
arabischen Kommentators (s. ob. S. 4) noch nicht erschienen.
Phil.-hist. KlasBe 1919. Bd. LXXI. 5. 7
q8 Wimi. 11. K'osciiKu: 17', 5
beiU'htcnswiMto Deutung lioif^cbracht (Archir für l'hil. igoi) S. <;of. und
i<.)ii S s6^f.). Und ebenso niöchtf^ ich Philolaos fr. 20 nicht so leicht
mit OiKus die Echtheit absprechen.
Ob das u-KQirov näyog ein MißverHtändniH des Anaximandrischen
UTtttgof oder eine urBprüni^'liclien' Vorstellung ist, wird sich schwer
entscheiden lassen.
Was endlich die Kupel^estalt der Erde betrifft, ho ist es mir viel
wahrscheinlicher, ilaÜ iliese Lehre zuerst in pytha^Mreischcn Kreisen
aut kam als bei Parmenides, der ja ^'onavigenommen die Ku>fel<?estiilt
auch nicht der Knie, sondern ,,dom Seienden" zuschreibt (fr. 8, 42 if.).
80 scheint mir denn kein durchschl aj^ender tirund f^e<;fen
ihre Annahme zu sprechen. Die sprachlichen Bemerkungen Hklmukiciis
habe ich allerdings noch nicht gelesen.
Sie würden mich zu lebhaftem Dank verpflichten, wenn Sie die
Güte hätten, mir s. Z. Ihre Entgegnung auf Diei.s' Einwände im
„Memnon" zukommen zu lassen.
Die Vergleichung der Erde mit einem Organismus hat mich auch
deswegen lebhaft interessiert, weil sie an die wunderliche Mythen-
deutung des Metrodor von Lampsakos erinnei-t. Seine Gleichsetziing
der einzelnen Mitglieder des olympischen Götterstaats mit menschlichen
Organen wird verständlicher, wenn ähnliche Vergleiche schon vorlagen.
Ich erlaube mir Ihnen meine kleine Abhandlung über diesen wunder-
lichen Allegoristen mit der Bitte um freundliche Aufnahme beizulegen.
In voi'züglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
'o*
W. Nestle.
Stuttgart, den 24. XI. 1911.
Stitzenburgstr. 11.
Hochverehrter Herr Geheimtat !
Empfangen Sie meinen besten Dank für die Zusendung Ihres Auf-
satzes im „Memnon", in dem allerdings 2 Seiten (167/8) fehlen. Trotz-
dem hat mich die Lektüre desselben und die wiederholte Überlegung
Ihrer Aufstellungen in der Ansicht bestärkt, daß Sie mit Ihrer Hypo-
these das Richtige getroffen haben. Die Ausführungen über Branchidai
und Lydien entkräften die DiELsschen Einwände. Das Ausschlag-
gebende aber ist die, wie mir scheint, von Ihnen überzeugend nach-
gewiesene Altertümlichkeit der hier vorgetragenen Heptadentheorie, die
bei Abfassung der Schrift um 450 unerklärlich wäre. In Summa: ich
glaube, daß Sie recht haben, und freue mich mit Ihnen der schönen
und bedeutsamen Entdeckung. — Dagegen, daß Sie von meiner Mei-
nungsäußerung auch öffentlich Gebrauch machen, falls es Ihnen von
Wert ist, habe ich nichts einzuwenden. — Für Ihre Bemerkungen zu
71,5] Die hippokratische ScHRrPT von der Siebenzahx,. 99
Metrodor auch noch vielen Dank: sie dienen zur weiteren Aufhellung
der Gedankencränofe des wunderlichen Heilicren.
In vorzüglicher Hochachtung t.
W. Nestle.
Heidelberg, 16. Jan. 1912.
Hochgeehrter Herr Kollege!
Es ist mir sehr peinlich und ich bitte vielmals um Entschuldigung
dafür, daß ich im alten Jahre nicht mehr dazu gekommen bin, Ihnen
meine Dankesschuld abzutragen für das freundliche Geschenk Ihrer
Abhandlung über negi ißSoy^äöcov, die Sie in so liebenswürdige Be-
ziehung zu einer Bemerkung von mir gebracht haben. Ich hatte mit
den unseligen Neuauflagen und allerlei sonstigen literarischen Ver-
pflichtungen bei gleichzeitiger durch Gesundheitsrücksichten verlangter
Verminderung meiner Arbeitszeit so viel zu tun, daß ich erst in den
Weihnachtsfei-ien an das Studium Ihrer Arbeit gehen konnte. Diese
hat mich nun außerordentlich lebhaft interessiert und überzeugt.
Ich finde Ihren Nachweis von der Zugehörigkeit der ersten Hälfte des
Buches zu der ältesten Literatur der milesischen Wissenschaft völlig
gelungen; namentlich scheint mir das Argument aus der politischen
und handelspolitischen Geographie durchaus konkludent. Dieses sieben-
teilige Weltbild bestimmt Ort und Zeit für den Ursprung der Schrift,
wie ich meine, ganz eindeutig. Es kann für die Geschichte der älteren
griechischen Philosophie nur höchst wertvoll sein, wenn so der all-
gemeinere Hintergrund, auf dem sich die drei uns bekannten Figuren
abheben, in neues geschichtliches Licht tritt. Darum scheint mir ge-
rade die Beziehung zum Leben, welche Sie für jene erste Wissenschaft
aufzeigen, ganz besonders bedeutsam. Und ebenso freue ich mich, in
Ihrer Abhandlung eine Bestätigung meiner alten Vermutung zu finden,
daß in dem Corpus hippocrateum noch eine Fülle ungehobener Schätze
steckt: sie zu heben, fehlt es mir leider sowohl an der Zeit als
auch an der genügenden Ausdehnung des philologischen Wissens und
Forschens.
Genehmigen Sie also, hochgeschätzter Herr Kollege, mit diesem
zwar verspäteten, aber darum nicht minder aufrichtigen und lebhaften
Danke den Ausdruck der vorzüglichen Hochachtung, mit der ich bin
Ihr ergebenster
W. Windelband.
Westend-Charlottenburg, 22. i. 12.
Eichenallee 12.
Hochverehrter Herr!
Nehmen Sie meinen verbindlichsten Dank für Ihre freundlichen
Sendungen und den schmeichelhaften Brief, der sie begleitete. Ich bin
loo Willi 11. Röscher: [71, .S
Ihnen allerdings dankbar, daß Sie den Schein vermieden haben, zwischen
DiKi.s und mir einen Gegensatz zu präzisieren. Als ich Dikls zuerst
erzählte, daß mir Ihre Abhandlung sehr bedculHani zu sein scheine,
hatte er sie nicht gelesen, zeigte aber prinzii)ic,llo Bedenken, und be-
richtete einige Wochen später, daß er den Nachweis liefern könnte,
von brauchbaren Spekulationen des 6. Jahrhunderts wäre jiichts darin.
Ich erwartete tieferes Kingehen, als die Anzeige braclite; eigentlich er-
warte ich ea noch, uml nun erst recht, wo Sie so vieles Neue heran-
gezogen haben.
Ich habe zurzeit so viel Arbeit, von den sehr drückenden IMlicli-
t"n des Semesters abgesehen, und sie bewegt sich in so anderen Ge-
bieten, daß ich so bald kaum zu dem eindringenden Studium der
Schrift selb-t kommen kann, wie notwendig ist, wenigstens für
meine Art zu arbeiten, um zu selbständigem Urteil /u gelangen. Die
gemeinsame Basis, Kompilation der vorliegenden Schrift gegen Ende
des 5. Jahrb.; muß Raum zur Verständigung bieten. Aber die Scheidung
dessen, was dem Kompilator gehört, ist der allein sichere Weg, und
das ist am Ende ohne Text- und Stilkritik nicht zu erreichen.
Beim ersten raschen Lesen ist mir gewiß manches begegnet, zu
dem ich etwas sagen könnte, allein das trifft die Hauptache nicht: das
Kosmische ist wichtiger als das Geographische. Verzeihen Sie daher,
bitte, hochverehrter Herr, wenn ich nicht mehr als meinen Dank aus-
spreche und meine lebhafte Teilnahme an dem wichtigen Probleme
versichere. Wo immer und wie immer wir etwas von der aristotelischen
Tradition Unabhängiges über die älteste Philosophie erfahren, da ist das
ein großer Gewinn, und was fremdartig aussieht, erat recht.
In ausgezeichneter Hochachtung
ganz ergebenst
U. WiLAMOWITZ.
Gießen, 8. IV. 12.
Bismarckstr. 43. •
Verehrtester Herr Kollege!
Unverzeihlich spät danke ich Ihnen für Ihre Memnonaufsätze. Aber
ich habe, der Wichtigkeit der Sache entsprechend, die Ruhe der Ferien
abgewartet, um mich in das problema zu vertiefen, die Polypragmosyne
des Seinesters läßt dazu kaum rechten Frieden. Sie werden nun der
Zustimmung kaum noch bedürfen, aber mir ist es Bedürfnis, Ihnen
auszusprechen, daß Sie mich vollständig überzeugt haben. Ich bin
in heller Freude über den wichtigen Fund, den Sie mit Recht auch
noch sehr viel über die Entdeckungen von Bernays, Blass, Gompekz
stellen dürfen, denn es ist wahrlich nichts Kleines, ein Stück Urprosa
wiedergewonnen zu haben, sei es auch in aufgefrischter Form (das tut
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. ioi
ja wenig aus, und ich verstehe Hklmreich nicht, wie er das für irgend
entscheidend halten kann). Es wird nun manches Problem ein neues
Gesicht bekommen. Meinen Sie nicht, daß von Ihrem Weisheitspatri-
archen Fäden hinüberführen zu dem, was Plato über den Aufbau des
Körpers sagt (der Kopf als ccKgonoXi-gl der Hals als la&^ios, die cpQBvsg
als öidcpQayaa im ^iaov)'i Aber auch zu den Mondphantastereien des
Xenokrates (Heinzk, bes. 139)! Darunter ist Dämon — Seele — Mond als
Syzygie. Ich denke, da Sai^wv (gebildet wie iSfimv, Gtri^av , tsqucov,
xXrmav, Sar](icov) ursprünglich doch wohl weiter nichts ist als „Dipisor",
wir bei ihrem Manne einen wichtigen Ausgangspunkt des Dämonen-
glaubens haben. Denn daß auch er keineswegs konsequenter Hylozoist
ist, lehren die Äußerungen S. I04f. Ihrer großen Abhandlung, die, von
Consilium, Verständigkeit und Schuld redend, denn doch noch neben
der tj^v^r} als Lebenskraft ein Movens irgendwelcher Art annehmen,
das wird wohl der eigentliche Sai^cov in uns sein, den der Mond, der
Weltdämon*), als sein Pendant im dai\i6viov idog der q}Q8vsg kolonisiert
haben wird. Das weist wieder auf eine stärkste Bedeutung des Mondes
überhaupt: kurz, wohin man blickt, überall umwittert einen die Patri-
archenluft des Ostens. Das ist wirklich nicht zu verkennen.
Macte virtute!
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
0. Immisch.
Was jetzt zur Förderung des Verständnisses der Schrift von der
Siebenzahl besonders not tut, das ist ein genaues griechisch-lateinisches
Vokabular, das uns zeigt, welches griechische Wort dem vom lateini-
schen Übersetzer in jedem Einzelfalle gewählten lateinischen entspricht.
Erst nach Vollendung eines solchen Vokabulars könnte man an eine
einigermaßen genügende Rekonstruktion des griechischen Originals so-
wie an umfassende Emendation der so schwer verderbten lateinischen
Übersetzungen denken (s. meine Ausgabe von n. sßS. S. IX).
Anhang III (Nachtrag zu S. 4).
Über die geograpliisclie ßedeatang xon'EXlTjq tiövtos, (EkkriöTiovroq'})
in Kap. XI.
Bekanntlich hat Siegmn in der Festschrift für H. Kiepert (Berl. 1898)
S. 323 ff., gestützt auf Strabo fr. 58 des 7. Buches und Eustath. z. Dion.
Per. 125, die Behauptung ausgesprochen, daß der Hellespont in der
älteren Literatur der Griechen eine viel weitere geographische Bedeu-
*) S. jetzt oben S. 93 unt. 12!
I02 WiLii. H. Kobchek: l7i,S
tuiiy gehabt habe als in ilcr Hpütoren, uiul iuKi»riiiif;licli tliia vur dem
S. Jahrh. nicht genannte Ägilische Meor darunter mit v.n verstehen sei.
Zwar sind nicht alle von S. a. a. 0. iingciiihrten ZeugniHsc als beweie-
kräftii; an/.usolien (b. A. Klotz, Rh. Mus. 1913 168| S. 286ff), aber in
der Hauptsaclio sdieint mir S. doch recht zu haben, wie aus den nun
folgenden Darlegungen zur (ieuiigu erhellen dürlte.
Nach Stnibo u. Eust. a. a. 0. ist unter 11. im engaton Sinne nur
der schmale Sund (ar fvov "KUris xOjia: Antip. Sidon. Anth. gr. 7, 639),
der als solcher auch oft '^ElXi}g nGgd-ftüs (Aescbylus' Perser 69. 722.
799) oder ''EXXtis Tiögog (Pind. fr. 197 Boeckh. Aesch. Pcrs. 874'") ge-
nannt wird, zu verstehen, während andere darunter entweder t6 iv-
vbg nBgiv9ov fitgoi; ti'j^ rigonövriöog oder oXt]v tijv IlgoitüvTiäu be-
greifen wollten. Noch andere (oi ds) iiQoaXcc^ßävovai (jif} xai Ti)g
^^cü d'aXdo6t]g Tfjg TtQog rb Alyatov ntXayog xai tüv MhXavcc ^öX-nov
&v£cpyu4vi]c, xa) ovroi äXXog aXXa &TroTS(iv6(ievog' oi ^Iv rb &7ib 2Jtytlov
in) Ja/xi/'axov xal Kv^ixov 1] TIccqiov 7) Ilgianov, o öl TtgooXa^ißävcav
x«i Tu ccTtb HiyQLov T^? Ascßiag. Dann heißt es weiter: ovy. ouvovai.
de rivsg xai ro fte^pi rov Mvqtojov nsXäyovg anav xaXstv
EXXi]g növrov ['EH^önroirov] '**), t'intg, wg (pr}Civ iv roTg vfivoig
niv ö ag og ,
oi (i£&' 'HguKXtovg iv. Tgoiag nXiovrsg dtä nag&iviov
[■7tag&£viag7] ""'EXXag növrov [Hss. Tropö'fiov], iml reo
Mvgrccxp 6vvf]ipav, sig K&v inaXiv6g6^r)ßccv ^fcpvgov
cci'Tinvsvaavtog. '**)
121) Aesch. Pers. 723 nennt den H. auch geradezu Boanogog.
Vgl. außerdem Meleager XII, 53, i : nogov '''EXXr]g.
122) Daß hier "'EXXrig növrov und "EXXag növrov (für "E. nog%'[iöv)
zu schreiben ist, folgt einerseits aus dem Zusammenhang, anderseits
aus Beispielen wie "'EHtjs növrog frgm. lyr. adesp. 12B., n6vrog"EXXrig
(Lyk. 1285), pontus Helles: Dichter b. Cic. or. 163 und bei Sen. epist. 80, 7
u. Quint. 9, 4, 140 [= fr ine. LV p. 289 R. ']: en impero Ärgis regna
[sceptra'^ Quint.] mihi liquit Pelops, || qua ponto ab Helles atque ab
lonio mari || xirgetur Isthmus, wo zugleich deutlich das ganze Ägäische
Meer als pontus Helles bezeichnet wird. Weitere Belege aus der röm.
Literatur s. b. G. Jachmänn, Rh. Mus. 70 (191 5) S. 640 flf. und Birt eben-
da 68 (1913) S. 414. Ein anderer Ausdruck für "EXXrig növrog scheint
mir %-äXa66a ''EXXi]vig zu sein in der Rede des Lyders Pythios b.
Herod. 7, 28. Vgl. auch Phrixeum mare (Sen. Herc. Oet. 775 u. Agam. 560),
ebenfalls in der Bedeutung von Aegaeum mare, und das Dichterbruch-
stück bei Plut. cons. ad Apoll. 15, wo der Hellespont im engsten Sinne
als &aXä66r}g avir]v 'EXXr\onovriag bezeichnet wird. — Vgl auch Herod.
2, 113, wo es von Paris cAlexandros) heißt: v,ui ^iv, mg iyivero iv rä
71,5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 103
ovTco Ö8 y.ul t6 Alycclov niXayog iiixQf- ^ov ©SQuaiov xai rfjg v.ttxa
OerTCiXiav xai Mav.iSoviccv ^ciXä6ar\g anav a^iovGLv'''EXlr,g Ttövrov itqoG-
ayoQEVsiv äslv , nägrvQa vial "Ouhqov v.cclovvTBg (vgl. 11. / 360 u. B 846).
Zum Verständnis des von Strabo angeführten Pindarfragmentes
bemerke ich, daß damit offenbar auf die II. S 254 ff. angedeutete
Herakleslegende angespielt wird, wo Hypnos der Heni. vorwirft: ev S4
oi -Aa-AOL uijauo &v^ä \\ ÖQOaa' ccgyaUcov ärf/xcaz' inl novtov ai]Tag, \\ xai
ftiv £7iEirK KöavS' iv vuioyiivr]v ccitivsiv.ag || vöacpi. Nach Pherekydes b.
Schol. a. a. 0. ist hier unter növrog das Aiyatov nüayog zu verstehen,
das also von Pindar a. a. 0. "EXXag növrog genannt wird. Aus Piiidar
lernen wir ferner, daß das von Hera veranlaßte Mißgeschick des Hera-
kles darin bestand, daß sie ihn, der nach glücklicher Durchquerung
des "Ellag Tiövcog, d. i. des Ägäischen Meeres, nahe daran war, an der
heimischen Küste zu landen, plötzlich durch einen widrigen Weststurm
bis nach Kos zurückwarf (inalivdQ6iir\6sv).
Ob freilich die beiden von Strabo aus Homer angeführten Zeug-
nisse genügen, die von ihm angenommene weite geographische Aus-
dehnung des Hellesponts (= Aiymov itiXayog) zu rechtfertigen, mag
einigermaßen zweifelhaft sein. Mir scheinen vielmehr solche Epitheta
Avie &nsiQ(ov (H. ß 545) und nXuTvg (H. H 86. P 432. Od. a 82), die nur
mit Gewalt auf den schmalen Sund bezogen werden können, darauf
hinzuweisen, daß auch schon Homer den Begriff ' EXXijöJtovTog {'EXXrig
jTovrog?) im weiteren Sinne gebraucht hat.
Aber den Hauptbeweis dafür, daß tatsächlich die weiteste Be-
deutung des Namens "'EXXt]? növrog oder 'EX^anovrog zugleich die
älteste ist, erblicke ich in der Bedeutung des zweiten Bestandteils
des Namens, insofern növrog im Gegensatz zu nogd-^LÖg und nögog
immer nur vom offenen Meere, niemals von einer Meerenge oder
einem Sunde, gebraucht wird.
Diese älteste Bedeutung liegt höchstwahrscheinlich auch dem von
unserem altmilesischen Hebdomadiker in Kap. XI ausgesprochenen Ver-
gleiche des Hellesponts mit den cnira {ay.iXr\, (irjpoi) eines Menschen
zugrunde. Denn es würde ja weder der Größe noch der Wichtigkeit
dieses Körperteiles entsprechen, wenn a. a. 0. nur der verbältnismäßig
kleine und schmale Sund darunter verstanden werden sollte, zumal
da es dem Kosmologen darauf ankommen mußte, im Hinblick auf die
Schiffahrtsinteressen der alten Milesier möglichst alle größeren von
ihnen befahrenen Meere bei seinem Vergleiche zu berücksichtigen.
So tritt denn nunmehr neben das Ägyptische Meer (= Oberleib), den
Alyaim, i^äarai avfftot ixßdXXovOL ig rb Alyvnxiov nsXayog. Nach
diesem Zeugnis (^ägyptischer Priester) grenzt also das Ägäische Meer
(="£Ur]s növrog im älteren Sinne!) unmittelbar an das Ägyptische.
104
W'uA\. H. KosciiKu: [71,5
roiitus KuxiuuB (= Intrrl'il)), die Maiotis (= lousal>o) und die beiden
Bospori (= Füße) auch das bis hör vermißte! '"") Ägilischc Meer eanit
Hellespont und Propontis (= Schenkel) als gleichwer(,i<,'er Teil ilcr als
vollstilndi^'er Men8clieiikörj)er aufpeiaßten ilyyptiHcli-niiloHiHchen Welt-
karte, und wir «jcwinnen so ein neues willUoinnieneH Ar^ninient i'iir die
hohe AltertüniliclikeiL der Schrift von der .Siebenzalil.
Anhiinjj; IV (Nachtrag /u S. 17 Anni. 31).
Nachträglich habe ich gefunden, daß sich die Annahme einer
altpytba^oreisthen Weltkarte doch noch mit yanz anderen Arpumenten
bestätii^en läßt als durch den Hinweis auf die waiirsclieinlich aus Varro
Btammeuden Sätze bei Martianus Capella VI, 602 ff. u. 609, wo von den
auf den 'doctissimns Pylhagoras' zurückgeführten 'quinque zonae sive
fasceae' des 'orbis terrae' die Rede ist. '-'; Auf dieselbe griechische
Urquelle, die cpvaimov öö^ai des Theophrast, gehen übrigens zurück die
Worte Plutarchs de plac philos. 3, 14 (== Dikls, Doxogr. 378 u. 633):
UvQ'ayÖQCig zi]v yfjv ävctloyag Tjj tov Ttccvzos ovqchvov acpaiQU Sirj-
Qf]a&at slg nivxs fcöva?, drpHTixjjv, &SQivi]v, x^i\itQivriV, iarj^ieQivijv, Sivt-
aQXTiiii]V av }) fitai] to iitaov ri}g y))? ögi^si, Ttag' avro rovro 8ia-
xfxaufts'j'r] xßAorftEi'Tj • i} 61 oUrir-t]Qi6v iettv, i] [ih6r\ Ti]g %fQiviig v.a.1
XmiSQivfjg, £i;xpards zig ov6a (vgl. Bkkgeu a. a. 0. S. 38 u. 207).
Ich gehe aus von den schönen, höchstwahrscheinlich dem Epitaph
des Archytas entnommenen Eingangsworten der berühmten Horazisclien
Ode (I, 28):
Te, maris et terrae numeroque carentis arenae
Mensorem cohibent, Archyta,
Pulveris exigui prope litus parva Matinum
Munera ....
Richtig erklärt schon der alte Scholiast den Ausdruck 'mensorem'
mit 'geometram' und verweist zum Verständnis von 'arenae' auf Verg.
Geo. II, i05f.: 'quem [numerum] qui scire velit Libyci velit aequoris
idem 1| Dicere quam multae Zephyro turbentur arenae'; denn es ist
ja nicht zweifelhaft, daß es sich für Arcbytas um das Problem der am
Erdglobus oder an der davon abgeleiteten Erdkarte (jriVal)^**) xu
123a) Vgl. BoLL, Lebensalter S. 50 u. ob. Anm. 122.
123) Nach Sirab. II, 94 gab Poseidonios als Urheber der Einteilung
der Erde in 5 Zonen den Parmenides an, der aber in diesem Falle
wohl sicher von Pythagoras abhängig war (Zeller ' I, 47^ f. Bebger,
Gesch. d. Erdk. d. Gr. * S. 69 u. 207 A. i).
124) Vgl. über die auf Grund eines Erdglobus anzufertigende
Erdkarte Strab. II, 116: s. auch ebenda U, logff., wo ebenfalls von
den 5 Himmels- und Erdzonen die Rede ist.
71, 5] Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 105
demonstrierenden Erdmessung und um das Größenverhältnis des
festen bewohnbaren Landes zum Meere und zu den Sandwiisten han-
delte. Vgl. auch Plut. Thes. I: iv talg yacay patpiaig . . . oi ißroQiKol
XU SiufpivyovToc xr]v yvmßiv avzäyv rotg iaj^äroig /if'psci rmi' tclvcckcov
TCK^ovvttg ivioLg TtccQaygäcpovGiv oti „to; S inSKSivcc, •S'ii'fg avvS qoi
xat d-TiQiwdit.g, 7) ÄTjio? aiÖv^g, ?] Z^vd'iyiov KQvog, rj TtiXayog Ttsnriyog.^''
Daß mau aber tatsilchlich dem Pytha-
goras selbst die Konstruktion des Erdglobus
zu geographischen Zwecken und ebenso auch
den Entwurf einer Erdkarte zugeschrieben
hat, scheint mir mit großer Wahrscheinlichkeit
aus jenen zahlreichen samischen Münzen her-
vorzugehen, deren Reverse uns den großen
Samier (TTYGArOPHC) auf einem Stuhle sitzend
zeigen; in der R. hält er ein Stäbchen, mit
dem er an einem vor ihm auf einem Pfeiler Fig.3 Revers einer samischen
,. j /-111 T L • 1^ iT-1 KupfiTmüiize des Trajanua:
hegenden Globus demonstriert; die Linke Pythagoras eisend vor einem
stützt sich auf ein Zepter. ^*^) auf einem Pfeiler ruhenden
Unter diesem Globus kann aber wohl nur ^^"^"^ ^"^ '"'' ^^°<^'" ^'^^-
chen in der K. an diesem de-
die Erdkugel, nicht die Himmelskugel, zu ver- monstrierend (narh Dibls,
stehen sein, denn die Kugelgestalt der Erde galt Voraokr.^ i Titelvignette),
allgemein für eine Entdeckung des Pythagoras ^^®), während die Kugel-
form des Weltalls oder des Himmels bereits von Anaximandros ge-
funden war '*^), also keine besondere Errungenschaft des großen Samiers
bedeutet. 1*«)
Nachträge.
Zu Kai). ^^ S. 79 ff. : Ein großer Unterschied zwischen unserem
heptadistischen Kosmologen und 'Pythagoras' besteht auch hinsichtlich
des Sitzes der ^vxr] im menschlichen Körper. Während nach Plutarch
12^) Vgl. Catal. of greek coins in the Brit. Mus. lonia p. 373. 376.
381. 390. 392 u. pL XXXVII, 14 sowie die Titelvignette zu Diels, Vor-
sokrat. ^ u. H. v. Fritze daselbst S. Xll.
126) Über die Möglichkeit, daß bereits die Ägypter und Babylonier
die Kugelgestalt der Erde erkannt haben, s. Berger a. a. 0. S. i76f.
127) Vgl. über die acpaiQcc des Anaximandros Diog. L. 2, if. und
Mahtin im Dict. d. antiq. 1, 494.
128) Nach Hermesianax freilich (bei Athen. 12 p. 599 A) war Py-
thagoras nicht nur der Entdecker der Kugelgestalt der Erde, sondern
sollte auch einen Himmelsglobus [arpaiQa äatQoXoyiKij, -ngiticotY] = Ar-
millarsphäre, Astrolabium) konstruiert haben. Vgl. Beruer a.a.O. S. 188 f.
u. Martin a. a. 0. p. 488 f.
io6 WiLii. 11. Ko.sciiEii: [71, 3
(dv plac. ))liilo8. 4, 5, 11') l'.vtliajjonis lohito: t6 /in» fwT/xor ntQi rijv
x«pdi'ai', rü di Xoyiyibv xor) i'otQOv nfQl rjjv xfqpaij/r, iiiiniiit der
HobilouiadiktT den Sitz ii<r ij'i'xi] (= Lebenskraft und Vernunl't) weder
im Herzen noch im (Joliiru, sondern vielmehr im Zwerchfell (cpgifveg)
an und steht also noch völlij^ auf dem Staiidpunkte HüincrB (v<^l. IJosciikk,
Üb. Alter usw. S. 14 If.)
Zu S. cfff. Zur Lfhre der K6q), xocfxoi' vom Makro — Mikrokosmoa
vgl. auch Kitoi.1. , I>. Lehren des Hermes Trismcgistos, Münster 1914,
S. 159 f. u. Anm. 3, wo noch weitere Literaturanj^aben v.u finden sind,
aber die Schritt n. §ßd\ übersehen ist. Nach Kisi.ku, Weltenmantel u.
Himmelszelt, S. 503 A. 2 (vgl. Fi.inukus-Pkthii:, Personal religion in
Egypt, Lond. 1909, S. 40 fF.) gehört die Köqt} xÖöjuoi» dem 6. Jahrb. v. Chr.
an, als Ägypten unter persischer Verwaltung stand (vgl. Kislkr a. a. 0.
S. 73t) A. 4 u. Kküll a a. ü. S. 159 A. 3).
Zu S. 1 1 A. 22 f. Vgl. auch Kuoll a a. O. S. 167 u. die daselbst
angeführte Literatur.
Zu S. 94 a. E. füge hinzu:
17. Die Annahme von Diels, daß die (gesamte) Schrift it. ißd.
zwischen 450 u. 350 v. Chr. (in lonien) entstanden sei, scheitert schon
au dem Umstände, daß die hebdomadische Kosmologie (Kap. i — 11)
otfenbar von einem ganz anderen Verfasser herrührt als die Pathologie
(Kap. 12 — 53); s. ob. S. 91 unter 5. Da also an der Nichtidentität des
Kosmologen und des Pathologen nicht zu zweifeln ist, so müssen beide
nach DiELs der Zeit zwi.schen 450 u. 350 angehören. Das zwingt aber
weiter zu der wenig glaublichen Annahme, daß in jener Zeit zwei
„kindische, törichte" Schriftsteller existiert haben, von denen der eine
die in jeder Hinsicht archaisierende und darum fast lauter ,, kindische"
Theorien verarbeitende Kosmologie geschaffen habe, während der an-
dere, der Pathologe, so töricht war, die „kindische" Kosmologie seines
Zeitgenossen [!] mit seiner sonst ganz vernünftigen Pathologie zu-
sammenzuschweißen. Wieviel einfacher und wahrscheinlicher ist es
doch, in diesem Falle bloß eine einmalige 'Torheit' anzunehmen und
mit mir zu glauben, daß der (vielleicht auch schon um 500 lebende)
knidische Patholog, weil er kein Philosoph war, aber doch als solcher
erscheinen wollte, wie er ja am Schlüsse selbst offen zugibt, die etwas
veraltete Kosmologie eines älteren ionischen Landmannes benutzt hat,
■um seiner Pathologie ein philosophisches Mäntelchen umzuhängen.
18. Nach Herodot 8, 132 hielten die Bemannungen der vor Aigina
versammelten griechischen Flotte, darunter viele Athener und Korin-
ther, um 480 vor Chr. die Entfernung Aiginas von Samos für ebenso
groß wie die von den Säulen des Herakles. Dies setzt natürlich eine
große Unwissenheit in geographischer Beziehung voraus, doch geht
daraus hervor, daß selbst die ungebildeten Hellenen des Mutter-
71, 5J Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl. 107
landes die Existenz eines für die damalige Weltkarte so wichtigen
Westpunktes kannten, von dem unser Kosmologe im Gegensatz zu
seinem Landsmann Hekataios (s. frgm. 3 Müller) ebensowenig wie von
Persien, Sizilien und Großgriechenland eine Ahnung gehabt zu haben
scheint. Aber nach der DiELsschen Hypothese soll ein ionisch schrei-
bender Kosmologe in der Zeit zwischen 450 und 350, also 50 bis
150 Jahre nach der Publikation der Erdkarten des Anaximandios und
Hekataios und 30 bis 130 Jahre nach der Schlacht bei Salamis, bei
dem Entwurf seiner 7 teiligen Weltkarte viel unwissender gewesen sein
als die geographisch ungei»ildeten Seeleute vor Aigina um 480. Übrigens
scheint mir diese Unwissenheit (die ja auch mit der sonstigen von der
DiELsschen Hypothese vorausgesetzten Gelehrsamkeit des Verf. auf
philosophischem Gebiet im Widersj)ruch steht: Abb. HI S. ^ötf.) darauf
hinzuweisen, daß auch der Pathologe und Herausgeber der Sohrift
31. ißd. älter ist, als man bisher angenommen hat, weil er sonst die
längst veraltete Weltkarte schwerlich ohne die nötigen Korrekturen
gelassen hätte.
Alphabetisches Inhaltsverzeichnis.
Die bloBo Zahl bedeutet die Seito, ein vor die Zahl gesetztes A. := Anmerkung.
Adamsage: lo A. 19. ;^pollon EUddiog, Neo^T]viog: 42
EXlrig növTog: A. 71 d.
— TIvQ'iog: 27.
— 'TTtfQßoQSLog (=Fytha,gOY&B): 26.
Archytas: 104.
"AQxrog, 'JgxzovQog: 60 f. 86.
Ägiliscliea Meer
101 ff.
= mare Phrixeuxn: 102 A. 122.
Ägypten und Ägyptisches Meer ^
Oberleib der Erde: 3. 5. 7.
— = Land der Mitte: 11. 13.
Artemis = Zweizahl: 44.
Ägypter nävtwv vosqwtsqoi^: i 1 A. 23. 1 Athen ignoriert vom Hebdomadiker
13-
— wenden dem Süden den Kopf
zu: 10 A. 20.
Ägyptisches Meer grenzt an das
Ägäische (= Hellespont): 102 f.
A. 122 a. E.
'Asivavrai = Milesier: 16.
axQTirog xoffftog: 37.
Amphidromien am 7. od. 10. Tage
nach d. Geburt: 41 A. 71c.
Anaximanders Weltkarte: 14 A. 28.
17-
Ankaios mythischer Urahn des Py- Dareiosvase: 21.
thagoras: 27. Dekaden jünger als Hebdomaden:
ßjTTjiicdTixot (Ostvölker) = itgog 40 ff.
fta;fj]f TtQÖyjiQoi, to|(moi: 10. j Dekadische Gliederung der Welt: 85.
Apollon 'Ayvisvg = ftomg: 43 f. Vgl. Jsxäg s. Zahlen.
RoscHEE, Omphalos Taf. I Nr. 24 j — = vornehmste Zahl: 54. 61.
bis 30, wo die als (loväg auf- — = y.Xccdovx^^s = Zeus 54 f.
gefaßte Spitzsäule des A. er- — = TLietLg: 55.
scheint. — = dsv.xiy.r] xov ccneigov: 55.
— 'Eßä6(isiog, 'EßSoiiaysvrjg usw.: 1 — = itavnl^g usw. 55 f.
42. \ Delphi = Omphalos der pythagor.
15- 90.
Atmen der Welt: 87.
Babylonier: 95.
Bospori == Füße der Erde: 2. 7.
Bosporaner = kräftig, kriegerisch:
4 A. 7. 7.
Branchidai, Hauptkonkurrent Del-
phis: 26 A. 44. 28. Vgl. d. delph.
Orakel b. Herod. 6, 19.
Dareios' (Hyst.) Reicbskarte: 22 ff.
71, 5] WiLH. H. Röscher: Die hippokk. Schrift v. d. Siebenz. 109
Weltkarte: 25; ignoriert vom
Hebdomadiker: 91.
Delphisches Orakel u s. Beziehungen
zu Py thagoras : 26 ff.
— — — — — zu Samos: 27.
— — — — — zu Kroton u. Meta-
pont: 28 A. 49.
— — beeinflußt Orphiker u. Pytha-
goreer: 31 f.
Demokedes (Pythagoreer): 19 A. 36.
28 A. 49. 57 f.
$vdg = Artemis: 44.
evvaxa: 52.
Erdachse {u^av iisaoiLcpaXog, jcöXog):
29 A. 50 a.
Erde als 7 gliedrige liegende Men-
schengestalt vorgestellt: 12 f.
— als Berg oder hohle Halbkugel
vorgestellt: 94.
Erdgott der Ägypter: 12 f. Hier ist
noch nachzutragen Curt. Ruf. 7,
8, 12: Si dii habitum corporis
tili aviditoti animi parem esse
voluissent, orhis te non caperet:
altera manu orienteiu, altera oc-
cidentem contingeres et hoc a^se-
cuttis scire velles, ubi tanti nu-
minis fulgor comleretur. Daß
diese Worte durch altägyptische
Bildwerke wie das ob. auf S. 12
(Fig. i) mitgeteilte (vgl. die bei-
den Scheiben der auf- u. unter-
gehenden Sonne im Osten und
Westen) veranlaßt sind, dürfte
einleuchten. Man beachte auch,
daß die Füße aller drei Figuren
den Norden, die Köpfe den
Süden bezeichnen!
Erdkarte s, Weltkarte.
Erdzonen: 17 A. 31.
Euxinus pontua = venter inferior
terrae: 3.
Hebdomaden s. Sieben.
— d . Semiten , Perser, Etrusker usw. :
34-
— älter als Dekaden: 40 ff.
Hebdomadiker älter als Kyros und
Hekataios : 4 A. 7. 6. 20 f. 90.
— ignoriert Persien, Athen u. den
Westen: 15.
Hekataios' Weltkarte: 20 f. 22. 96.
Hekate = Mond- u. Hundegöttin : 76.
Hellenen = kuXXIiitiqoi, usw. nach
ägypt. Vorstellung: 11.
Hellespont {"EXlrig itovrog) im weit.
Sinne = Ägäisches Meer: loiff.
— ^ Schenkel der Erde: 2. 4. 7.
lOlff.
— grenzt an das Ägyptische Meer:
102 A. 122 a. E.
— = mare Fhrixeum: 102 A. 122.
— (im engeren Sinne) = Q'(xXäc6r\g
uv%riv'EXi.r\onovrLag: 102A. I22.
Herz (= Mitte d. Körpers u. Sitz d.
Seele nach ägypt. Vorstellung):
IG f. 106.
Hexaa (l|as) = yajiog, aQ6sv6^T\Xvg'.
49.
— — = OvXo^LsXsioc: 49.
— — = ipVjiOTtoLog: 50.
— — = Zahl des partus minor: 51.
— — = fundamentum gignendi
{xÜsiog): 51 A. 83.
Höchstlage des Mittelpunkts d. Erd-
scheibe: 12 A. 24. 94.
Jahreszeiten (7 des Hebdomadikers) :
38.
— (4 des 'Pythagoras'): 34.
Indien beeinflußt lonien u. Samoa
(Pfauenzucht): 18 A. 33.
lonien = Zwerchfell u. Mittelpunkt
d. Erde: 2. 4. 6. 7. 25 A. 43.
90. 97.
1 lO
Wim. H. RoscMiKii:
[71,5
lonien vernichtet durch die Per-
ser: 6.
lonier des 5. u. 4. Jahrh. schilmen
sich ihres Namens : 93.
des 7. u. 6. Jahrh. stark, ver-
ständig, weise: 4 A. 7.
Isthmos V. Korinth = Hals d. Erde :
• 2 f. 7-
Italiker = xaUtVrjeoi usw.: 11.
KctiQO^ =■■ 7: 44 f-
Klimakterische (kritische) Jahre,
Monate, Tage: 34 tf- 40- S».
Kopf = Sitz des Verstandes u. der
Seele: 3 A. 6.
Kugelgestalt d. Erde zuerst gelehrt
vom Hebdomadiker: 29 A. 50-
71. 88 A. 115- 9«-
— gelehrt von Tythagoras':
3- 29. 98.
Landenge = ati;f^V, cervix: 7 A. 11.
Lebensalter (i^Aixt'aO des Solon: 33-
— (4 riuy.iai) des Tythagoras' : 34.
85-
Lichtmonat (=3x9 Tage): 53.
Lückenhaftigkeit der Schrift n. Ißd. :
5 A. 10. 73 f.
lunaris cursus (circulus) = 3 >< 9
Tage: 53-
Mi'trodor : 98 f.
Milesier angewiesen auf die Be-
nutzung der Nord- u. öüdwinde:
»5-
— verkehren wenig mit demWesten:
15 A. 29.
Milets Handels- u. Kolonialgebiet:
15 A. 29.
Mitte des Körpers = cpg^veg: 13;
= Kcegöia: 13. 106.
Monatstage, apollinische: 41.
Mond hat keinen Einfluß auf die
oiguL: 38.
— =r Sitz der Weltseele in der
mittelsten Sphäre: 15. 37- 64.
Mond u. Sonne = Planeten: 66.
Mondphasen (7tägige): 34.
— (gtägige): 53-
Naukratis: 14.
Neunzahl {Kovgfjrig, Kögr}): 5 2 f.
— = ^fnaioavvT}: 53 A. 86.
Neun ysvBDci: 52.
Neunjährige Verbannung: 52.
Nordvülker {TtQwrEvovtss tovg «0-
Sccg): II.
\ vonaToi = f'üxopvqpoi usw: 10.
' vovfirivia d. Apollon geheiligt: 44.
novemdialia: 52.
Maiotis (palus) = venter inferior et
longabo terrae: 3. 5-
^ Anwohner schwach, sklavisch,
unkriegerisch : 5. 6.
Makro — Mikrokosmos : 13. 106.
Mars (Planet): 86.
Mare Plirixeum = Hellespont =
mare Aegaeum: 102 A. 122.
meduUa: 2 A. 3.
Menkult in Asien: 93. 10 1.
Menon bearbeitet für Aristot. die
medizin. Literatur: 93.
Olympos {oXvfiniog yidaiiog): 87.
Omphalos d. Erde = Jerusalem usw. :
9- 94.
— der Weltkarte des Hebdomadi-
kers = Milet-Branchidai: 25.
des Tythagoras' = Del-
phi: 25 ff.
des Hekataios = lonien:
25 A. 43.
— Höchstlage: 12 A. 24, 94.
Omphalosgedanke: 39 A. 71.
Orpheus hat eine Lebensdauer von
9 ysvsai: 52.
71,5] DiK HIPPOKRATISCHE SCHRIFT VON DER SlEBENZAHL. III
Orphische Zahlenlehre älter als die I Pythagoras' noXv^ad^iri: i8 A. 34
pythagoreische: 31 A. 55. 43 0"-*)
Osten rechts un^ Westen links nach
altägypt. u. pythagor. Vorstel-
lung: 9 A. 18. 17 A. 31.
Ostvölker {anTjXiazLKoi) = rechts-
armig u. kriegerisch: 10.
partus major: 59.
— minor: 51.
Peloponnes = Kopf u. Gesicht der
Erde: 2 f. 7.
Peloponnesier = hochgesinnte (gött-
liche) Seelen : 2 f.
Pentadische Fristen: 41 A. 71c.
nsvräs = ydaog: 49.
Phaethon: 95.
— ■jtBQimGia slStäg: l8f.
— = 'AtcöXXcov TjtBQßoQSiog: 26
A. 47.
— , Entstehung s. Namens: 27.
— lehrt zuerst [?] die Kugelgestalt
d. Erde u. dio Erdachse: 29.
— Zahlenlehre: 30 tf.
— — beeinflußt von den Orphikern :
31 A. 53.*)
— erlebt alle 216 [= 6'] Jahre e.
Metempsychose: 50.
— bringt 3x9 Tage in der idäi-
schen Grotte zu: 53.
— stirbt 90 Jahre alt: 53.
— abhängig von Anaximenes [?]:
75-
Phosphoros — Hesperos: 71 A. 105. 1 — Psychologie: 82 f.
77 A. 110. 95. — musikal.-akust. Theorien: 83 f.
Planeten des Hebdomadikers nur | — lehrt d. Unsterblichkeit d. Seele:
Sonne u. Mond: 64 if.
— = Kvvig ^sQas(p6vr]g: 76.
Planetennamen: 78.
Pontus Euxinus = Unterleib der
Erde: 3.
Poseidonios: 61. 85.
Pythagoras' Weltbild u. Weltkarte
(Erdkunde): 16 fF. A. 31. 104 f.
— Reisen : 1 8 f.
— Beziehungen zu Indien (?): 18
A. 33-
81.
Reichskarte des Dareios 1: 22 f.
Rechts u. links (= östlich u. west-
lich) nach ägypt. u. pythagor.
Auffassung: 9 A. 18.
Schema 'a capite ad calcem' : 8
A. 12.
Schiff"srouten der Milesier: 16. 21.
Schu = Luftgott d. Ägypter: 12 f.
Ägypten u. Persien: i8f.| Seele {-^vxri) sitzt im Zwerchfell:
Delphi: 26J0F. 3 A. 6. 106.
— Metapont u. Kroton: 28 — im Kopfe: 3 A. 6. 106.
A. 49-
hat 7 Teile (Faktoren): 80 f.
*) Für das höhere Alter der orphischen Lehren spricht nicht bloß
die gesamte Überlieferung, sondern namentlich auch die Tatsache, daß
nur hinsichtlich der 4 (rsr^axTv?) die Pythagoreer selbständig, d. h. un-
abhängig von den Orphikern, gewesen sind, und die Orphiker, wie es
scheint, gerade dieser Zahl keine Bedeutung zuerkannt haben, wie es
doch der Fall gewesen sein müßte, wenn die orphische Zahlenlehre
jünger und von der pythagoreischen abhängig gewesen wäre.
I I 2
Wii,ii. H. Roschek:
[7', 5
Sieben 8. auch Hehdomiulen und
Hebdoraadikcr.
7 Teile der Krdo: 2 f. 8. 30.
7 Teile des nionschl. Körpers: 8
A. 12 0 f. 12. 38. 80 f.
7 Spliäreu: 8 A. 13. 37. 74. 78 f. 91
7 dvipa d. Inder: 8.
7 niii^u d. Hal)ylonier: 9.
7 tubukati — — : 9.
7 keshvars d. Parsen: 9.
7 akälim d. Araber: 9.
7 xiiV«ra d. Ptolemaios: 9.
7 Teile d. altügypt. Weltkarte: 9.
12.
7 Teile des Körpers Adams: loA. 19.
7 größte Inseln: 21 f. A. 39.
7 Planeten: 64. 76 f. 91.
7 die 7 otpai bedingenden Gestirne:
38. 64 ff.
7 Quellen usw.: 31.
7 wgai: 32.
7 Lebensalter: 32 f.
7 Winde u. Teile d. Windrose: 38.
7 Teile des Mikro- u. Makrokos-
mos: 38.
7 Funktionen (Öffnungen) d. Kopfes:
38.
7 Vokale: 38, 60.
7 Elemente d. Seele (Lebenskraft):
39.
7 ccQi&^ioi: 60.
7 aocpiui : 60.
7 Waschungen: 60.
7 Titanen usw.: 57.
7 Saiten: 60. 83.
7 Plejäden: 60.
7 Planeten: 60.
7 bona der brassica Pythagorea: 60.
7 a'9'i'ipfißra : 57-
7-jährige tjXlxiui des Solon: 32.
7 Festperioden (Hepteteriden) zu
Delos: 32.
7 Fristen: 58.
7-jilhrige Abwesenheit des Aristeas:
5').
7 Verborgenheit des Pythago-
ru8: 59.
7-bliittrig(' Lorbecrzweige: 31.
7 Kohlplliiiizcn: 31.
7-fache Tier- u. Kuchenopfer: 31.
7-stufige Tempel: 31.
7-teiHge Chöre: 31.
7 Lieder, Sprüche uaw : 31.
7-tägige Pliasen des Mondes: 34.
7-tägiges Fasten d. Orphiker: 50.
7 Tage braucht der Same zur rv-
Ttcaois: 35 f 51 A. 84.
Siebenmonatskinder {knräfirivoi):
35 ff.
Siebenzahl in orphischer u. pytha-
gor. Lehre: 56 ff.
— = 'A9'r]vä, KQiaig,jiSQccaT(ia usw :
58. 61 f.
— typisch u. heilig im Kult des
ApoUon u. Dionysos: 28 A. 49.
31- 57-
7. Tag des Monats (t/3ddfi7j), d.
Apollon heilig: 28 A. 49. 57 f.
Steuerkreise de.s persischen Reiches:
24.
Süd Völker (voriaioi.) = BVKÖgvcpoi:
10.
Südwestvölker (01 iv rm Xißi) =
ccQiGrfQo^axoi: 10.
Tessarakontaden: 36.
rBGafQaxoGtaiov: 48.
TETQuiiTvg: 46 f. 54.
Thraker, kräftig, kriegerisch: 4 A.7.
Timaios Quelle des Apollonios v.
Tyanausw. : 26 A. 46. 27 A. 48.
Tpojfffioi: 36 A. 64.
Völkerverzeichnis u. Reichskarte des
Dareios I: 23.
Volksmedizin: 34. 41.
71,5] I^Il"' HIPPOKIlATrsOHK SOHUIFT VON DER SlKBENZAHL. 113
Weltbild d. Pythagoreer: 17.
Weltkarte des llelidomadikers: i ff .
15 flf. 21. 24.
— — — enthält nnr die Scbitts-
ronten d. alten Milesicr: 2\.
— (1 alten Ägypter: 9.
— <1. Tythagoras' : r6 ff. 25 f.
— d. Hekataios: 20.
— d. Dareios I: 20 ff.
Weltkarten u. Windrosen: 24 A. 42.
We.sten = linke Seite nacL ägy|)t.
u. pythagor. Auffassung: 9 A. 18.
Zahlen s. auch Dekaden, Hebdo-
maden, Pentadeu, Neunzahl,
Sieben, Tessarakontaden.
i: 43 f-
2: 14.
3: 40 (3 Wochen zu je 10 Tagen).
4 4 f.
4: 34 (4 6,(iui^ TiXiyiiai). 43. 45 ff. 47.
4: = vyiEictg &QX)'i'- 46 A. 79.
5: 41 A. 7IC. 45. 4^f-
6: 44. 46. 49 ff.
7: siebe unter Sieben.
8: 44 (=: Tloatidwv).
9: 43. 45. 5- ff.
10: 40 ff. 43 f. 46. S4 ff. 79. 91.
14: 41.
20: 41. «S-
30: 41.
40: 43. 47 f. s«.
90: 53 f-
216 (= 6''): :0.
— Zahl der Metempsychose : 50.
— — — Schwangerschaft: 50 f.
274: : 59.
280: — — — : 5.1 f.
729 (= 9^): 54.
Zwerchfell (cpQsvf?, praecordia) =^
Sitz d. Seele u. d, Verstandes:
2 f. 6. 15. loi ; s. lonien.
Phil.-hiüt. Klaasa 1919. Bd LXXI. 5.
IM
Sfellenreo^istfii'.
Agatbeui. i, i: 28. Kiillini. IV. «.r Sciin.: 77.
Alexis fr. 3 \). 517 Mkin. : 21 A. 39 Kögti xoatiov 1). Stob. ofl. i, i'): 'itl
Axistot. bist. au. 8, 6, 3: 57 A. 8<). 106.
- Metaph. 12, 4, 3: 45- ^y,, ,lo ,„e,^H ,; „.: vi.
Aristox. b, Diojif. L. 8, 8: 26. '
Onjjjen. Philos. cd. Mh.i.kk p mi:
Ceneor. d. nat. 11, 2: 51 A. 83. 6 A. 10.
«• , o . 1 A Ti.n-1 ov riiilol.tr.il DiKi.s: .:;5. f.i 1'.
Diocles Cavyst. h. A.st, Iheol. av. -
-^ . , A ^^f — fr. 20 DiKi.s: 61 f. 88. '(2. i)8.
p.,^3..^634.A.;.r ,_,,;,„,,,,.,„^ ,,««,.,,,,,,„,.
' Pkt. Ale, I 1). 121 E: 34 A. 58.
Heracli,l.lW.l..nios.L.8,,.,: ;,. ""' 'l "■"*-;' "f'^ ^".f;"
Heroa. 5, 36 .. 5. 5^: =0 A. 3». «<.t_'l^M.l».'. l*.lo»__3.^.4. .01.
- '' ''■■ ^f- - Nie. .3: -J. ■ ' "
'' '"*^™ '^^' Porphyr, v. Pyth. 17: 53-
^ qoff : 24. . , .
MI- / ;,:!*. .rft- Provos Ä. i=7rr6<Jo?: 59 A. 94.
'Hippocr. 7t. ißS. I: 35tt. „ ^ , • • n- i *.-
. xi- Ps.-Oaloiu 111 Fhppoci-. de septitn.
- — — 2: 64 rt. i^ 1 1 n
(Oinnicut. arab. ed. Hkrgstras.skk
5
32 if.
p. IIS ff-: 3 ff
— 10: 79 f.
II: 2 ff. Schol. z. Plat. de rep. p. 600 B: 53.
26: 34- Solon fr. 27 Bergk: 33 f.
52: 3 A. 6. 81. strab. 7 frgm. 58: loif.
— n. aaQx. 13: 33 A. 57- ' Syrian. zu Aristot. Met. 13 p. 121:
19: 35. 36 A. 64. 5<j
— n. (tvG. TtaiS. 7 p. 488 f. Littrk:
35 A.62. Thuc.7, .so: 53.
— 7t. inra\L. 9: 36 A. 64. y?i\-x-o (?) b. Mart. Cap. 6, 609: 17
Hippo Metapont. b. Censor d. n. 7, 2 : A. 3 1 .
62.
Hör. ca. i, 28: 104. . Zenob. 5, 57 u. 80: 4 A. 7.
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologiscli-liistorisclie Klasse
71. Band 1919 6. Heft
Alfred Körte
Zu neueren Komödienfunden
Leipzig
Bei B. a.Teiibner
1919
Vorgetragen für die Berichte am 5. Juli 1919.
Das Manuskript eingeliefert am 5. Juli 1919-
Druckfertig erklärt am 17. Oktober 1919-
I. Eupolis' Demen.
Die von Lefebvre^) zuerst veröffentlichten, von mir^)
als Reste der Demen des Eupolis erwiesenen Blätter aus
Aphroditopolis sind in den letzten Jahren mehrfach Gegen-
stand eindrinorenden und fördernden Studiums gewesen.
Während Bruno Keil (Grött. Nachr. 191 2, 237 ff.) hauptsäch-
lich die Komposition des Stückes aufzuklären suchte, hat
Christian Jensen die Erg-ebnisse seiner wieder höchst er-
folgreichen Revision der Blätter in einem gehaltvollen Auf-
satz mitgeteilt (Hermes 51, 19 16, 32 lö'.^)), der die Text-
gestaltung wie die Komposition des Ganzen gleichmäßig be-
rücksichtigt, und endlich hat die Besprechung von Demi-
ariczuks Supplementum comicum Carl Robert Gelegenheit
gegeben (Gott. Anz. 191 8, 168 ff.), auf Grund von Jensens
neuen Lesungen weiterzubauen und sowohl einzelne Verse wie
Kompositionsfragen zu erörtern. Daß trotz dieser vereinten
Bemühungen noch vieles dunkel, anderes unsicher bleibt, ist
hei dem traurigen Zustand der Blätter und der Schwierigkeit
des Stoffs selbstverständlich. Auch mich haben die kostbaren
Reste andauernd beschäftigt, ich würde aber Bedenken tragen,
meine bescheidenen Ergebnisse zu veröffentlichen, wenn es
mir nicht geboten schiene, einer scharfsinnig begründeten
Hypothese Roberts entgegenzutreten, die den Charakter des
ganzen Fundes wesentlich umgestalten würde.
Das dritte der Blätter ist bekanntlich schon 1905 von
dem Besitzer der Hütte, unter welcher bald darauf LEFEB\TiE
den Topf mit den Resten des Menanderkodex und den beiden
andern Blättern des Eupolis entdeckte, gefunden worden.
i) Catal. gen. des antiqu. egypt. du musee du Caire Nr. 43227
Papyros de Menandre, Le Caire 191 1, S. XXI ff. Taf. XLIX— LIII.
2) Hermes 47, 191 2, 276 ff.
3) Hier ist auch die übrige Literatur angegeben; vgl.auch E.Wüst,
Jahresber. 174 (191 6/8), 176 ff.
PhiL-hiBt. Klasse 1919. Bd. liXXI. 6. I
2 ALFUEn Körtk: I?'.^»
Wiilirend dem Entdecker, der die beiden andern Blätter für
Aristopliunes hielt, der Charakter der alten Komcidio in dem
dritten weniger ansjjropräjjjt schien, so daß er fj^eneii^t war, ea
einem andern Dichter znzuBchreiben (a. a. 0. XXI), i^lanhte
ich, die Zngoliörij^keit auch des dritten Blattes zu Eupolis'
Demen mit äußeren und inneren (t runden erwiesen zu haben.
Nun sind .Tknsen wieder Zweifel frckommen (a. a. 0. 349f-)>
die er zwar nicht ganz überwunden (a. a. 0. 352), aber doch
zurückgedrängt hat (a. a. 0. 350); ßOBERT hingegen (a. a. 0.
i74ff.) begreift nicht, wie Jenskn „seine schöne Entdeckung
wieder fallen lassen konnte", und will sich „des verwaisten
Kindes annehmen", was er dann in ausfülirlicher Beweis-
führung tut. Ich halte das verwaiste Kind für einen Wechsel-
balg, dem schleunigst das Lebenslicht ausgeblasen werden
muß, ehe es Unheil stiftet.
Wie liegen denn die Sachen? Zunächst das Äußere. Das
Blatt ist, wie der Augenschein lehrt, und auch von nie-
manden angezweifelt wird, von demselben Schreiber ge-
schrieben wie die beiden andern Demenblätter, das Natür-
liche ist also, daß man es demselben von dem byzantinischen
Notar makulierten Buch zuteilt wie sie. Es ist im höchsten
Grade unwahrscheinlich, daß der Notar zufällig zwei von
dem gleichen Schreiber geschriebene alte Bücher hatte, deren
eines Eupolis' Demen, deren anderes ein Stück der mittleren
Komödie enthielt. Daß das Blatt zufällig früher gefunden
wurde, macht nicht das geringste aus, auch von den Blättern
des Menanderbuches wurden manche (s. meine Menandrea^
praef. IXf.) im Topf über den Akten, manche, wie die beiden
ersten Demenblätter, zwischen den Akten, manche außerhalb
des Topfes in der Erde gefunden. Ebenso unwahrscheinlich
wie der Besitz des Notars von zwei alten Büchern desselben
Schreibers ist aber die Annahme, in demselben Buch seien
die Demen mit einem Stück der mittleren Komödie vereinigt
gewesen.^) Und weiter: die Blätter stammen aus dem 4. oder
i) Das hebt auch v. Wilamowitz Herrn. 54 (191 9), 69 hervor.
7^,(^] Zu NEUEREN Komödienfunden. 3
5. Jahrhundert n. Chr. ^), wer soll damals in Aphroditopolis
ein Stück der mittleren Komödie abgeschrieben haben? Die
Papyri zeigen aufs deutlichste, daß die mittlere Komödie in
Ägvpten niemals beliebt war, außer dem neuen Alexis-Bruch-
stück (v. WiLAMOWiTZ, Sitz.-Ber. der Berl. Ak. 19 18, 743 ff.,
s. u. S. 36 ff.) aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., haben wir nur
einen Rest von Antiphanes' Änthropogonie aus dem 3. Jahr-
hundert n. Chr. (Ox. Pap. III 427) und ein unsicheres Blatt
aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. (Pap. Soc. Ital. II 143). Im
4. und 5. Jahrhundert, wo sich der Kreis der gelesenen und
abgeschriebenen Dichter immer mehr verengert, ist die mitt-
lere Komödie nach unserer bisherigen Kenntnis tot. Natür-
lich müßten wir diese äußeren Unwahrscheinlichkeiten kopf-
schüttelnd hinnehmen, wenn der Inhalt des dritten Blattes
mit den Demen unvereinbar wäre, aber meiner Überzeugung
nach ist gerade das Gegenteil der Fall. Entscheidend ist da
der Anfang. Hier fertigt nach meiner Herstellung, die durch
Jensens neue Lesungen nur in Einzelzügen berichtigt wird,
ein gerechter Mann einen Sykophanten ab, der sich selbst
rühmt (V. 3), ein öCxuiog dvrJQ zu sein, und dann erzählt,
wie er von einem Fremden Geld erpreßt habe. Der Fremde
hatte xvxsav, den heiligen Mysterientrank, getrunken (V. 4)
und kam mit Graupen im Bart (V. 5) auf den Markt. Der
Sykophant bemerkt das (V. 6), geht spornstracks in des
Fremden Haus (V". 7), stellt ihn zur Rede (V. 8) und verlangt
100 Goldstücke von ihm (V. 9 f.), die er auch gegen das Ver-
sprechen, seine Aussage über den Trank, den der Fremde
getrunken, zu ändern, ausgezahlt erhält (V. 11 f., über die
Herstellung dieser Verse s. u. S. 10 f.). Es kann nicht dem ge-
ringsten Zweifel unterliegen, daß die Klage, mit welcher der
Sykophant den Fremden bedroht, die wegen Mysterienfrevel
ist, die Graupen im Bart machen ihn der Mysterienentweihung
verdächtig. Gerade die Kürze, mit der das Gaunerstück be-
richtet wird, beweist, daß solche Klagen damals aktuell
i) So setzt sie jetzt auch Schubabt, Einf. in die Papyrus-
kunde 476
4 Alfred Kokte: |7i,6
waren, und ilamit koimnou wir uiiwiderlo<ijlic'li in die Zeit
der allgemeinen Aufrej^ung über Mysterienentweihnngen, iu
die Jahre bald nacli 415, also in die der Demen. In einem
Stück aus der Glitte des 4. Jahrliunderts wäre die Szene
durchaus unverständlich gewesen, ganz abgesehen davon, daß
ein solcher politischer Handel in die mittlere Komödie über-
haupt schlecht paßt. Die Verhandlungen des gerechten Mannes
mit dem Sykophauten ziehen sich ziemlich lang hin — es
ist eine durchaus irrige Behauptung Uobkrts, sie seien mit
III r. 14 abgeschlossen, denn noch III v. 5!'. sagt der Ge-
rechte: äXX' ov[h eyä)] ^vyiö)]0ä 6\ dXX' 6 ^Evos 6 toi' ocvxea
7tLG)[v — sie enden damit, daß der Sykophant gebunden (III
V. 5) und trotz allem Sträuben (ILL v. 7 — 11) abgeschleppt
vt^ird (III V. 13 f.) Daran schließt der Gerechte eine kleine
Ansprache^), gern würde er so auch den Diognetos fassen,
dessen Sündenregister er in Kürze entrollt (III v. 15 — 18),
und zum Schluß wendet er sich feierlich an die ganze Stadt:
V. 19 f. eyio ÖS Ttdör] TCQOöuyoQSvco xi] n6X\si
slvai d/[x]atov?, ag bg dv öCxaiog rji usw.
Es ist mir unbegreiflich, daß ein so guter Kenner der alten
Komödie wie Robert iu der ganzen Szene den Stil der
agyaCa verkennen kann, das Aktuelle der Episode, die rasche
Justiz, die Bescheltung einer bestimmten Persönlichkeit als
Anhang, und schließlich die ernste Wendung an die gesamte
Bürgerschaft, alles paßt vorzüglich in die aQiaia, und nur in
die uQ%aCa. Wie kann man zweifeln, daß der wahrhaft Ge-
rechte, der den heuchlerischen Sykophanten entlarvt und
straft, andern droht und der Gesamtheit die Pflege der Ge-
rechtigkeit mahnend ans Herz legt, Athens gerechter Mann
nax i^oxr]v Aristeides ist, der iu den Demen mit den andern
TtQoöxurai in die Oberwelt geschickt wird (s. I v. 13), um
die verfahrenen Zustände Athens zu bessern? Wie vortrefflich
i) Nach Jensens Herstellung der Verse III v. 15 — 18 scheint mir
aus grammatischen Gründen ihre Zuteilung an den Gerechten un-
bedingt geboten, während ich früher (a. a. 0. 311) einen Wechsel des
Sprechers für möglich hielt.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 5
paßt dazu, daß der Gegner des Sykophanten auf sicli einen
Vers der Euripideischen Melanippe anwendet (III v. 3) xi x\ovq
d-avövras o[t']>c säig rsd-vriXEi'lai: und daß auch in III r. 20 f.
in nicht ganz klarem Zusammenhang von den d-avöjnsg die
Rede ist.
Dies alles fügt sich so tadellos zusammen, daß ich nach
wie vor die Zugehörigkeit der Blätter zu den Demen nicht
für eine Möglichkeit, sondern für eine Tatsache halte, Roberts
Gegengründe lassen sich alle leicht beseitigen.
Ausgangspunkt für ihn ist Jensens Hinweis auf die
Weihinschrift eines Rhamnusiers Phrynon für seinen Sohn
Diognetos au Asklepios aus der Mitte des 4. Jahrhunderts
(IG II 1440). In III V. 15 ff. haben wir nun einen Diogne-
tos gg t&v navoyjQycov B\(5\ti t&v v£(or[sQC3v] TCoXkoi xgccttötog,
bnoxav s'b rö 6aii £%\ri. In III r. 17 liest Jensen nicht
ohne Schwanken q Oqvvcov aTtsKlsiö' sxTiodchv.
Irgendein Zusammenhang zwischen dem fraglichen Phry-
non und dem nach Abschluß der Episode anhangsweise ge-
nannten Diognetos besteht in dem Text nicht. Robert be-
nutzt aber weiter das Vorkommen des Namens ovTiLdavQLog
III r. 16, um Dedikanten und Gott jener Inschrift auf dem
Blatte vereinigt zu finden. Der unsichere Zusammenhang ge-
stattet leider nicht, in dem Epidaurier mit Sicherheit den
vom Sykophanten geprellten Fremden zu erkennen, wie zu-
erst ich (a. a. 0. 309), dann entschiedener Jensen (a. a. 0.
347) vorgeschlagen haben (s. u. S. 9), jedenfalls aber deutet
in den erhaltenen Worten nicht das mindeste darauf hin
daß unter dem Epidaurier Asklepios zu verstehen sei.
Wenn man erwägt, daß Asklepios im 4. Jahrhundert
viele Hunderte von Weihgeschenken attischer Bürger zum
Dank für die eigene Genesung oder die ibrer Angehörigen
erhalten hat, ist es wirklich eine seltsame Vorstellung, daß
nun gerade das keineswegs besonders prächtige Weihgeschenk
des Phrynon für Diognetos so stadtbekannt gewesen sein
ßoU, daß ein Komödiendichter sich mit den Beziehungen der
beiden zum epidaurischen Gott befassen und bei den Zu-
\
6 Alkked Körte: [71,6
schauern auf Kenntuis dieser Bczichunj^eu hätte rechnen
können. Der Name Diognetos ist in Attika ziemlich häutig;
hei KiKCHNKK und Sindwall finde ich zusammen ^t, Träger
verzeichnet, und von diesen gohiut nicht einer, wie Rohkkt
(a. a. 0. 175) meint, sondern mindestens drei der Zeit der
Demeu an (Prosop. Att. 3849, 3850 wohl = 3875, 3851 wohl
<= 3863), und zwei von ihnen sind in die Entweihung
der Mysterien verwickelt. Der eine, wahrscheinlich Nikias'
Bruder, ging 415 als Opfer der Denunziation des Teukros in
die Verbannung (And. 1 15, s. Kikc'HNER, Pros. Att. 3851
und 3863), er kann natürlich nicht der im Papyrus genannte
sein, der andere war 415 tv^rjrijg nach der Anzeige des
Pythonikos (And. I 14, s. Kikchner, Pros. Att. 3850 und
3^75)) ^ind auf diesen passen die Worte des Aristeides vor-
trefflich.^) Den zweifelhaften Phrynon kann ich freilich nicht
in der Zeit der Demen nachweisen, aber der Name ist in
Attika schon für den Ausgang des 7. Jahrhunderts bezeugt
(Kirchner, Pros. Att. 15029) und ein unbekannter Träger
wäre durchaus nicht auffallend.^)
Roberts übrigen Einwände gegen die Zugehörigkeit der
Blätter zu den Demen sind so wenig beweiskräftig, daß ich
sie kurz erledigen kann. Er wundert sich (a. a. 0. 178) mit
Jensen, daß „der eben aus dem Hades gekommene Aristeides
den Sykopbanten binden (III v. 5) und ins Gefängnis führen
lassen könne" — das kann Aristeides, der doch zur Besse-
rung der Stadt hinaufgekommen ist, genau mit demselben
Recht der komischen Person, mit dem z. B. Dikaiopolis in
den Acharnern (952 ff.) den Sykopbanten bindet und vom
Boioter über die Grenze schaffen läßt. Robert hält es ferner
i) Irrtümlich habe ich a. a. 0. angegeben, Kirchner halte den
tr\trixrig für Nikias' Bruder, iiud Robert wiederholt dies Versehen.
2) Er könnte auch mit dem aus Ar. Thesm. 861, Isokr. XVIII 57,
Aisch. III 137 übel bekannten Phrynondas identisch sein. Zahlreiche
Beispiele für das Nebeneinander von Kurznamen und Patronymen zur
Bezeichnung derselben Persönlichkeit bringen Wilhelm, Urk. dram.
Auff. i33f., und Radkemacheb, Philol LXXV, 1919, 474, bei.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 7
für unmöcrlich, daß Aristeides die auf Dioguetos bezüglichen
Verse (III t. 15 — 18) spreche, denn „was konnte Aristeides
von Diognetos wissen?" Ich frage dagegen, was kann der
Aischylos in den Fröschen (1431 f.) von Alkibiades, der
EpopB in den Vögeln von Kallias und Hipponikos (283), der
Tereus des Anaxaudrides (vor seiner Verwandlung) von Poly-
euktos (fr. 45), der Linos des Alexis samt seinem Schüler
Herakles von der ganzen griechischen Literatur (fr. 135)
wissen? — Jede Figur der Komödie weiß eben von den
Zeitgenossen des Dichters genau so viel wie seine Zuschauer,
auch wenn sie dem fernsten Altertum angehörte.
Robert findet weiter (a. a. 0. 178) das Zitat aus Euri-
pides' Melanippe (s. o. S. 5) im Munde des Aristeides „eine
große Geschmacklosigkeit", da dieser „sich selbst der Todes-
ruhe ohne Zutun des Sykophanten beraubt" habe. Daß die
Toten nicht aus eigenem Antrieb auf die Erde gekommen
sind, werden wir weiter unten sehen, der Sykophant ist frei-
lich unschuldig an ihrem Erscheinen; da hat der Wunsch,
einen Vers aus einem beliebten Euripideischen Stück anzu-
bringen, Eupolis allerdings zu einer kleinen Entgleisung ver-
führt, aber damit nimmt es die alte Komödie nicht so genau.
Daß die Verse des Euripides (fr. 507 N.) in die gefesselte
Melanippe gehören, nicht in die weise, wie ich a. a. 0. 310
annahm, behauptet Robert wahrscheinlich mit Recht, aber
sein Versuch (Herrn. 44, 1909, 402), die Desmotis ins Jahr
409 zu datieren, ist ganz unsicher.^) Daß es endlich im 5-
Jahrhundert in Athen keinen Zeuspriester gegeben habe,
dessen Erwähnung (III v. 8) also gegen die'Demen spreche
(Robert a. a. 0. 178), ist eine unbeweisbare und an sich un-
wahrscheinliche Behauptung.
So komme ich wieder zu dem Ergebnis: nichts spricht
gegen die Zuteilung des dritten Blattes an die Demen, alles
dafür.
i) Daß der Dichter in drei gleichzeitig aufgeführten Stücken
Antiope, Hypsipyle, Melanippe Desmotis, dasselbe Grundmotiv behandelt
habe, ist sogar äußerst unwahrscheinlich.
8 Ai,iui;l» Köutk: l7',6
Ich gt'be nun den Toxt der S'/ene, soweit ioli sie ver-
stehe oder das Verständnis lörilern v.n können glaube:
III r. 2 {^üi'x.) i'vv avTi'lx | ('(y^'^j^ si^i ^'v^i
xal yctQ öC\xai6i; tla dmJQ. (^Q-) \^y ö xl ktyeig,
(^vx.) ^E:riöi<vQt,]6g ttot tii^ (xyo\(ja\i> xvxeöj tiliov
5 it,ijX&e x{)]{fivcov T>/|j'l vTCipnjV ccvaTiXeog
jui'o'Ti,()jx ](?)/'• Toi'T ivvoovnaC Tiag iytb.
iX\t)-o)i' dl xuii'tog o'ixaö^ evd-vg tov i,ivov
„r(\ fd^aöug to navovQys xal xvßevra övf
e(p]iji', xtXsvcpv rbv i,tvov ^iol iqvöCov
lo dof'i']««. 6ra-r[^i\Qag ixciTÖv ijv yccQ 7tXox'>6iog.
Xovö]i)'ov (^Tor ovvy ex\^e\ktv6e ^ tinslv ort nibiv
i^^/Al^£l'■ [^r^ro:], xat «Aa/'iot' t6 iqvöIov.
didovg de 7toL\strG} ng ort jrorf ßovXetKL.
('/^().) vrj zli aya^al öt] zf^g öixuioGvvTig öörj.
3. xal '/äg Jen.; SixKiog K., Leeuw., Wilam. 4. 'EniSuvQiog Jen.;
icyoQäv K., Leeüw. 5. ^^i/AQ-f Jen.; Kgi^vcav K., Naheu, Wil. 6. (iv-
GTTjQixcbv K., CO TCgoaitEOÖav Jen. 7 — 10. erg. K. 11. j^ovöqov (röz
ovvy K., yaläxriov Rob. ; i-KiXevce Leeuw. 12. i^fiX^sv tlnu K., slnov
H. Schöne. 13 — 14. erg. K.
Die Verse III r. 15 — 22 und III v. i — 2 kann ich nicht
herstellen, auch nichts Neues für sie beibringen.
III V. 3 {^Q.) tC t^ovg d^avovtag g[v]x iätg red-vrjxsy\ai-,
(Uvx.) ^]aQTVQoaai' xC d' o\^vx] c(y(aui[o]v^[i:d-a]
s xa\kt6ag us övvdslg xädL[xslg]. ('^().) o:XX ov[x iyoj
h,yy£dt]6d ö\ aAA' 6 ^tvog 6 xov xvxeä jCic)[v.
{2Jvx.) dCxa[ia] drjra ravxa näöiEiv fiv Sfis]
(l^Q.) iQQv ßudLt,03v ie^m <(t6v)> xov zJiog.
{Xvx^ vßQL^s' xavta d' o(ii}v ex 6(pXri<5eig i.^gC.
10 (L^p.) ex\L] yccQ 6v xovcfEiXstv Xsyeig ovxtog f[jj]c9v;
(2Jvx.) xal yal /xa ^Ca xXdovxa xad-eöa (?' [ejv ye[xQOLg.
3. erg. Leeuw. nach Eur. fr. 507 N. 4. ri S' ovx Jen.; ccyaviov-
y.s&a Wil. 5 — 6. erg. K. u. Leeuw. 7. igov Wil.; Ieq^u röv Leeuw.
9. ö' ovv Jen. lO. ici und tovcpsiXeiv Jen.; ^x^v Leeuw. Ii. iv
vsxQotg Jbn.
71,6] Zu NEUEREN KOMÖDifiNPUNDEN. 9
(L4^.) xcd rovTo (lov t6 XQSog 7tKtat(jsvd[ei xuxcög.
(^ccXXy a.7t(x.\yax avtbv nal naQadox Oi\yEl rayv^
ovrog 'y]c<Q b6tl räv zolovtov ölsöJtorrjg.
15 s[§gvl]6(iijv d' av y.al ^LÖyyrjxov l[a§elv
xhv IsQoGvXov^ og tcox^ r}v räv evdslxa,
gg xav navovQycov b[6^xI xäv ve(j3x[eQcov
tioXXg} TtQCiXLöTog, oTtoxav £v xb öafi sxlj}-
iya dh Tcdörj %Qo(5ayoQEvco xfj 7t6l\£L
20 slvcci dt[K]cci'ovg^ ag bg av dCxuiog fjt
12. xarcxipBvSsL caqicag Leeuw. ; Hancög Jen. 13. cclX' andysz' Jen.;
Otvsi ru^v K. 14. erg. K., ncclui, yÜQ Leeuw. 15 — 18. erg. Jen.,
v£(OT£Qojv (17) und ^^r] (18) K., Leeuw.
In V. 4 halte ich Jensens den Raum genau füllende
Ergänzung ^EindavQLog trotz dem Fehlen des indefiniten rtg
für richtig. Daß xig in der späteren Sprache beim Bthnikon
nicht selten fehlt, hebt Jensen selbst (a. a. 0. 347) unter
Verweisung auf Plutarchs Laconum apophthegmata, die Bei-
spiele in Fülle bieten, hervor, aber aus der klassischen Zeit
vermag er kein Beispiel anzuführen. Sehr ähulich ist immer-
hin Eur, Ale. 675 :
w italj xiv av^ßlg-, ^oxsqu Avöov ?] 0Qvya
xaxotg s)mvvslv]
und noch mehr die Nachbildung dieser Stelle in Aristo-
phanes' Vögeln 1244:
qpe^' l'doj, TioTSQcc Avöov iq Ogvya
xavxl Xsyovöa noQßoXvxxsßd^at doxslg]
Die Auj;lassung von xig ist also in der klassischen Zeit un-
gewöhnlich, aber nicht unmöglich, und gemildert wird die
Härte durch das indefinite Tioxe. Entschieden empfohlen wird
aber Jensens Ergänzung durch den unvollständio;en Vers 16:
(ov {^syTiga^av ov^idavQiog, ein Epidaurier muß in
der mit V. 4 beginnenden Erzählung genannt gewesen sein,
und für seine Erwähnung ist schlechterdings nur in V. 4 Platz.
In V. 6 vei-zeichnet Jensen „geringe Spuren am unteren
Buchstabenrand, die sich am besten zu IICC](jüN ergänzen
lo ALFRED Kokte: f7'.6
lassen" und schlägt die Lesung co 7TQ(}(S:Tf(Jcov vor. Ich habe
gegen diese Ergänzung sachliche bedenken, das jr()oö7i{nrfiv
könnte dem n'i'osiOiyai kaum vorangehen'), und bei der
offenbar großen Unsicherheit der Spuren wagc^ ich den Vor-
schlag iivöTtiQixüi', der den Zusaiiunenhaug uoch klarer
stelleu würde.
Das A'erständnis der von mir in dem Ilermesaufsatz
(289 und .^oSf.) nicht glücklich behandelten Verse 1 1 f ". liat
RonKiv' I' angebahnt. Er sagt S. 177: „Der P'remde besticht
den Svkoi)hanten, damit dieser eine falsche Aussage mache
und statt des xvxscov ein anderes Getränk angibt, das der
Fremde angeblich getrunken hat." Aber sein Ergäiizungs-
vorschlag yaläxtiov kaim nicht richtig sein.^) Das nur bei
Alkiphron IV 13, 10 eita yaläxxia TioixCkcc^ rä [itv ^sUjitixtcc
tä d' arcb rayijvov, Ttvtiag ^oi doxsl xaXovdv aina xal
excöXvixag rä 7cs^p.diia vorkommende Wort bezeichnet kein
Getränk, sondern einen Kuchen^), und selbst ein aus Milch
hergestellter Trank würde nie die Graupen im Bart erklären
können. Wir brauchen ein Getränk mit Gerste darin, gewisser-
maßen einen Doppelgänger zum Kykeon, und ein solches
kennen wir in der Tat aus der alten Komödie. Bdelykleon
führt Ar. Wesp. 738 unter den Genüssen, die er dem Vater
verschaffen will, auf iövÖqov Xs(%eiv, und Athenaios sagt
III 127 c: lövÖQov 8s eiQTjxs t6 QÖcprjiia ^QL6toq)ävrjs iv
^aixalavöiv ovrojg (fr. 203 K.);
rj IÖVÖQOV 'tipcov Sita ^vtav t^ßaXcov
ididov QocpEiV UV.
Auch in der medizinischen Literatur kommt ^övögog, das ja
meist einfach Graupe bedeutet, für Gerstentrank vor. Jensen
sagt (348) über den Versanfang: „Da die Lücke am Anfang
des Verses nur für 4 — 5 Buchstaben Raum hat, so wird die
i) Das zeigt auch gerade die von Jensen angeführte Stelle Arist.
Ekkles. 694.
2) Er ist auch zu lang.
3) Das bleibt bestehen, auch wenn man mit Hebcheb ra neynid-
ria. als Glosse streicht.
71,6] Zu NEUEREN KoMÖDIENFUNDEN. II
senkrechte Hasta vor O ein Iota sein", xövöqov füllt die
Lücke also aus, nötigt aber zur Annahme des Ausfalls zweier
Silben. Diese Annahme ist ganz unbedenklich, denn der nach-
lässige Schreiber hat leider ziemlich oft einzelne Buchstaben
und Silben fortgelassen (III r. 15, 16, v. 8, 9, I r. 11, 13,
V, 10), aber meine Ergänzung ^av ovv oder tot' ovv befrie-
digt mich nicht ganz.
Den Anfang des folgenden Verses gibt Jensen Cl
. . . . K AT ', das paßt zu ii,fiX%-^ev, dann muß die Zusage
des Sykophanten kommen. Hermann Schoene, der mir 191 7
aus dem Felde wertvolle Vorschläge zur Textgestaltung der
Demenblätter schickte, wollte h.ci^a\ö\ b\171ov schreiben, aber
man sieht auch auf der Tafel den Ansatz einer senkrechten
Hasta vor der Lücke, und deren Umfang bestimmt Jensen
auf vier Buchstaben. Ich habe deshalb slna eingesetzt. Die
Form elna ist fi-eilich erst bei Alexis (fr. 2 K.) nach-
zuweisen, aber elTiag steht schon bei Phrynichos (fr. 20 K.).
In III V. 1 1 halte ich die von Jensen zweifelnd vor-
geschlagene Ergänzung kv vsxqoIs, auf welche die Spuren
führeü, für richtig. Daß der Sykophant in seiner ohnmächtigen
Wut seinem Bezwinger Aristeides noch Rache in der Unterwelt
androht, scheint mir ein der Komödie durchaus würdiger Einfall.
In V. 13 nimmt Jensen am Anfang gewiß mit Recht
den Ausfall von äXl' vor äTcdysx'' an, zum Schluß vermerkt
er „nach O am oberen Rand der Ansatz zu einer Vertikal-
hasta". Das führt auf Iota und damit scheint mir die Er-
gänzung OivEl gegeben: Das bekannte Fragment der Kolakes
159 schildert am Schluß das Mißgeschick des Akestor:
V. 15 f. öxoj^iia yaQ ein aösXyag, sit avxhv 6 nals %^vQcct,E
ai,ayay(ov äyovxa hXolov naQadcoxev Olvst.
Was hier Oineus zu bedeuten hat, erkannte Meineke (zu
Alkiphron S. 152^)): Das Barathron, in das die Leichen der
Hingerichteten geworfen werden, liegt nach Bekker Anecd.
219, 10 im Gebiet der Phyle Oineis, und deren Eponym
i) Vgl. V. WiLAMOwiTz Herrn. VII, 1873, 143.
12 Alkukü Köutk: [71,6
mag dabei eine Statue oder einen Bezirk gehal)t liaheii; dem
Oineus übergebeu werden ist also so viel wie ins Haratliron
geworten werden. Das paüt auch au unserer Stelle vor/.iiglieli.
Dann wird im nächsten Vers die Nennung des Oineus be-
gründet, leicht ergiin/.t niaji ovtoc; ynQ im Anfang, aber für
den Schiuli luibe ich nit-lits g.in/ Helriedigendes gefunden,
d£a:T6Ti]g unti dj/'/iiot,' scheinen mir denkbar.
Bevor ich auf die beiden andern Kairener Demenbliitter
eingehe, möchte ich zwei kleine Reste anderer Herkunft be-
sprechen, die neuerdings gewiß mit Recht den üemen zu-
geteilt worden sind. Den einen von ihnen, Ox. Pap. VI 863
aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., hat Otto Schuoeder (Novae
com. fragm. in pap. rep. exe. Menandreis Bonn 191 5, 65 ff.)
als Fragment der Demen erkannt und unterstützt von seinem
Lehrer Sudhaus zu ergänzen versucht.
V 2 1) örj^ov[s ] r}Xv<j\iov.
ixcop av el /z))] roig iveQ[r£]Qotg d-soig
r'jQeöe Ts9'vyj]xiog oux dvsßicov ovÖ' unai,.
5 ^/i^ot T^S 7i6ke(og tcXhGtov nolv
lr\auol dtacp&eLQovöi vvv
] ÖQoC T£ xal ndQtdsg ouov
ol vvv XQCitovvreg Tt^ay^drav] t(öv iv^dds'
TtaQslsiZOV TIQO T[o]'y.
10 sig dvdxQiöiv
V7C£Q 7c6Xs\cog ^a^ovli-ievog
] rai . d-ey[
2. Si]^ovg ScHR., jjXvGiov Sud., beispielsweise ergänzt Schr. amacov
ithv ovv I ^ycoys rovg Srjiiovg hXntov ri]lv6t,ov. 3. xotg ivsQZSQOig Küerte,
Schr. axav — ^^ beispielsweise Sud. 4. i'iQtos Sud., taQ-vri^wg ovk
&vsßla)v Schr. 5. dTJ^iOL oder d'q hol Schr. 6. Itaiioi oder -d ^oi
ScHB. 7. 'AU^avSgoi Gr. H., IleiaavSQOL zweifelnd Schr. 8. beispiels-
weise ergänzt von Sud. 9. rov Gr. H., die erste Hälfte will Sud. etwa
ergänzen ndvv' dvccrgsTcovaiv ii ri. 10. rovrcov ^ihv ovv ilTqXvd^ oder
ävfiyov Schr. ii. vnhq -nöXtag beispielsweise Sud., yba^oviLsv — Gr. H.,
liaxovfisvog Schk.
i) Von Vers i sind nur unsichere Reste zweier Buchstaben IC
über ä'^iLovg vorhanden.
71, 6j Zu NEUEREN KOMÖDIENFUNDEN. I3
Entscheidend sind die erst von Schroeder riclitig ab-
geteilten und ergänzten Worte in V. 4 tsd-vrjxag ovx aveßCav
ovd' arcai,, die nur ein aus der Unterwelt Aufgestiegener
sagen kann. Der sichere Dativ ToTg evsQTSQOig d-eolg führt
unmittelbar zu Sudhaus' vortrefflicher Ergänzung von V. 3
und 4. Nimmt man dazu drjaov[g (2), sig äväxQLöiv (10) und
das zweifellose politische Interesse der Verse 5 0'., so kann
man in der Tat kaum zweifeln, daß hier einer der TCQoöTcctai
der Demen spricht, der zur Untersuchung der verderbten Ver-
hältnisse der Stadt in die Oberwelt gesandt ist. Schröeders
Vermutung für V. 7 IIsLöavÖQOi ts Kai UccQLdsg 6^ov ist
leider unsicher, man sieht nicht recht, warum der Demagoge
Peisandros mit Paris verkuppelt wird. Als Subjekt von
%aQbXai7iov (V. 9) würde ich lieber den Sprecher als die
jetzigen Volksführer annehmen. So dürftig die Reste sind,
lehren sie uns doch, die Richtigkeit der Ergänzung von V. 3 f.
vorausgesetzt, für die Komposition der Demen etwas sehr
W^ichtiges: Nicht aus freien Stücken sind die alten Führer
aufgestiegen, sondern auf Geheiß der unterirdischen Götter, die
wohl ihrerseits das Flehen des jüngst im Hades eingetroffenen
Myronides (s. Keil a. a. 0. 241 f.) erhört haben werden.
Nach anderer Seite hin wertvoU sind die jämmerlichen
kleinen Fetzen eines Papyrus aus der ersten Hälfte des 2. Jahr-
hunderts, die Grenfell und Hunt Ox. Pap. X 1240 ver-
öffentlicht haben. Ich gebe sie in der Anordnung der Heraus-
geber, die freilich unsicher ist.
fr. I. ^vQcovi§\rlg^^ ccq ovxl (pav[EQÖv
i] Ttov ^sy ol[^c)^SLV
~ ^V-[
nöößog
5 (zwei Zeilen ohne lesbare Spuren)
fr. 2. s]ßßaivs 7Cc(q[
iccb^a^\ OTCofcpl^
iöl
(eine Zeile ohne lesbare Spuren)
I. erg. Gr. H. 2. erg. Koeete. 6. erg. Gb. H.
14 Alfred Küktk: (71» 6
fr. I. 0]heTt]^\. . .
10 . .Ji>fa Tov
fr. 3. Xo{Q6g) iyu) dh (fik
xal (pik
xar vvv
TO
15 0«'x]£'r>;(ij) (fii) loa jtXuy.\ovvra
9. erg. Gr. H. 15. ol^irj]? (»h. H., nXaviovvTa Wii.amowitz.
Fragment 4 enthält nur das letzte Wort eines längeren
Verses (t.L6vTac:. Die Herausgeber bezeichnen es als sehr
möglich, daß fr. i und 3 zu verbinden sind, und berechnen
für diesen Fall die Zahl der zwischen V. 5 und 1 1 aus-
gefallenen Verse auf etwa 9, fr. 2 könne einen Teil dieser
Lücke füllen. Der Wechsel von iambischen Trimetern und
eingerückten^), also lyrischen Versen und die Beteiligung des
Chors weisen die Fetzen der alten Komödie zu, der gleich
den übrigen Personalnoten von anderer Hand beigeschriebene
Name Ux^QcovCdrig ließ v. Wilamowitz und mich sofort an
die Demen denken, aber natürlich schlugen wir statt TJvqco-
vCd)]g vielmehr MvQovCdi^q vor. Die Herausgeber erklärten
jedoch TT für sicher, und damit schien die Zugehörigkeit zu
den Demen ausgeschlossen, wenn man nicht zu der bedenk-
lichen Aauahme eines Schreibfehlers seine Zuflucht nehmen
wollte. Nun stellt aber v. Wilamowitz Herm. 54 (19 19), 69
fest, daß in Plutarchs Perikles 28^ der einzigen Stelle, die
vor Auffindung der Kairener Blätter Myronides' Auftreten
in den Demen bezeugte, UvQiovCdrjv überliefert, MvQavCdrjv
byzantinische Konjektur ist.^) Du weiter im Kairener Papyrus
einmal H r. 15 -vqojvCöt^v steht, das andre Mal II v. 9, wie
mir Jensen brieflich ;iiitteilt, die Lesung nvQG}vCöi]g statt
MvQ03Vidr]g „nicht ausgeschlossen" ist, wird man in den
Demen durchgehends Myronides durch Pyronides zu ersetzen
i) Da die Yersanfänge von Fragment 2 auch für Trimeter passen,
ist mir die Einordnung an dieser Stelle doch fraglich.
2) "Wie ich nachträglich sehe, hat darauf bereits G. Thieme in seiner
sorgfältigen Dissertation Quaest. com. ad Periclem pert. 59 hingewiesen.
71,6] Zu NEUEREN KoMÖDIENFUNDEN. 15
haben. Der Oxyrliynchos- Papyrus und die gute Plutarch-
Überlieferung stützen einander gegenseitig, und der Kairener
Papyrus fügt sich. Daß Eupnlis unter Pyronides gleichwohl
den bekannten Staatsmann Myronides verstanden wissen
wollte, ist nach II v. 14 ff. kaum zu bezweifeln. Weshalb er
den Namen leicht änderte, läßt sich nicht sagen, denkbar
wäre, daß der tatkräftige Mann bei Lebzeiten vom Volk mit
auszeichnendem Spitznamen Pyronides statt Myronides ge-
nannt worden ist. Eine ähnliche durchsichtige Namensände-
rung ist der Hund Actßr^s statt Aderig im Hundeprozeß der
Wespen (V. 836 und 895 ff.), auch rvi]6i7i7tog für N6d-L7C7tog
(Wilhelm, Urk. dram. Auif. loif.) wäre vergleichbar, wenn
nur die Gleichsetzung beider Personen sicher wäre (s. P. Maas
R. E. YII i479JBr.). Die leichte Umformung des Namens rückt
Myronides immerhin von den mit richtigen Namen ein-
geführten älteren Volksfübrern etwas ab. Daß übrigens der
in den Demen eingeführte Myronides, der Sieger von Oino-
phyta im Jahre 457, von dem Gesandten und Strategen des
Jahrs 479^8 (Plut. Arist. 10 und 20) zu scheiden ist, hätte
Jensex (a. a. 0. 343, 6) nicht wieder anzweifeln sollen
Beuno Keil hat bereits (a. a. 0. 238) auf die wichtige Stelle
des Ephoros-Diodor XI 82, 4 hingewiesen: MvQCOvCdrig fiev
ovv STCKpavBl ticcxV vi'inqöag rovg Boiojzovg evd^ilXog sysvy}d-i]
xolg TtQO avvov ysvo^ivoig rjysfiöötv STtigjavsördtoig
QsuLöroy.Xst xal MiXtiddr} xäl KCiicovi. Der Stratege von
Plataiai, den Plutarch (Arist. 20) neben Leokrates als Haupt-
helfer des Aristeides nennt, war kaum jünger als Kimon, der
479 mit ihm als Gesandter nach Sparta geschickt wird (Plut.
Arist. 10) und erst nach der Schlacht von Plataiai eine
führende Stellung gewinnt (Plut. Kim, 6, Arist. 22>). Nun
hat vollends WüST (Jahresber. 174, 178) darauf hingewiesen,
daß durch schob Ar. Lys. 801 ausdrücklich zwei Männer des
Namens für die ältere Zeit bezeugt sind, es heißt da : dvo
MvQCOvCdai ipav^ cjg sv tatg 'EnK^rjöialovöaLg dsdrjlcotai.
ivd-dÖE toCvvv ^savrjTai toö ev Oivocpvtoig vmr^öavtog. In
dem Scholion zu Ekkles. 303, wo Symmachos (oder Didymos)
i6 Alkiieu Köute: l7',t)
die binden llomonynieii auislululiiher beliaudelt hatte, lesen
wir leider jetzt nur noch MxfQioi'Cih]g' tiov svdoxi^oin'rcaj'
ovTos o öTiyuTt^yög. Daß Myronides in den Denien nicht zu
den :tQonT(xrai «rohfirte, sondern nur als V'Z^}'w^'<^s' i" Be-
tracht kam, sei im Anschluli an lvi:iLs vortreilliche Aus-
führungen (a. a. 0. 241t'.) noch einnuil betont.
Auch bei iler Behandlung des /weiten Kairener Blattes
geht RouERT (a. a. O. 168 ff.) eigene Wege, die aber meiner
Ansieht nach nicht über Keils und .Jensens Ergebnisse
hinaus zum Ziel des völligen Verständnisses, sondern in die
Irre führen.
Das wichtigste Ergebnis von Keils Untersuchungen über
die Komposition des Stückes scheint mir die Einsicht, daß
die erste Hälfte im Hades spielte und daß der Demenchor
dort in anderer Gestalt, als rüstige Altathener der Maratiion-
zeit, auftrat, während er sich in der Oberwelt in kläglich
veränderter Erscheinung darstellt (a. a. 0. 246 jBF.). Ein solcher
Kostümwechsel ist mit nichten unerhört, wie Kohert (a. a.
0- 173) wieder behauptet, in den Fröschen wird der Frösche-
chor, dessen sichtbares Auftreten Keil (a, a. 0. 248) sehr
richtig für unerläßlich erklärt, durch den Mystenchor ab-
gelöst, das ist eine viel gewaltsamere Umgestaltung als die
des Demenchors. Der natürliche Einschnitt für den Wechsel
des Kostüms ist die Parabase, darum läßt Keil nach ihr
die TtQoördraL erscheinen und den Chor in veränderter Gestalt
wiedereinziehen, und im Anschluß an Keil bestimmt Jensen
(a. a. 0. 345) die Lücke zwischen I v. und H r. auf nur
10 — 12 Verse.^) Robert hingegen wiU nur den Prolog im
Hades spielen und den Chor nur in der Oberwelt auftreten
lassen, deshalb setzt er Blatt H vor Blatt I (a. a. 0. 172 f.)
und läßt die wiedererstandenen Führer in zwei Gruppen auf
die Oberwelt kommen, erst Myronides, Peisistratos, Solon,
i) Zu beachten ist, daß, wenn Jensen, wie ich nicht bezweifle,
mit Recht II r. vor II v. stellt, die Anordnung der Blätter im Demen-
kodex anders war als im Menanderkodex, wo ausnahmlos Rectum auf
Rectum und Versum auf Versum folgt.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden, 17
dann nach der Parabase Aristeides, Miltiades, Perikles. Aber
abgesehen davon, daß dieHadesszenen, besonders die Dokimasie
der TtQoardtai viel Raum erforderte (s. Keil a. a. 0. 247 f.),
spricht der kleine, aber sehr wichtige Szenenrest nach der
Parabase (I v. 13 ff.) ganz entschieden gegen Roberts Ver-
mutung. Die feierlichen Begrüßungsverse des Aristeides I v. 1 3f.:
(b yi] TtccTQaa %alQE' oh yc(Q df[y.rj Itya^)
Ttaö&v Ttöksav B'ii7CuyX\oxdxi]V xal (piXtdtrjv
werden durch die erregte Frage des Probulen unterbrochen: t6
de TCQäy^a xC söxl; Unmöglich konnte der Probule,
dessen Person Jensen aus der Personalnote zu V. 15 IIq.
vortrefflich erschlossen hat, so erstaunt sein, wenn schon
vorher drei Tote aus dem Hades erschienen waren, und er
selbst nach Roberts eigner Annahme (a. a. 0. S. 171) längere
Gespräche mit ihnen geführt hatte. Es ist auch an sich
schwer glaublich, daß der Dichter die glänzende Wirkung des
Erscheinens der toten 7tQ06xdrat durch ihre Zerlegung in
zwei Trüppchen abgeschwächt haben sollte. Man muß also
mit Keil und Jensen daran festhalten, daß II r. unmittelbar
auf I V. folgt und den ersten Sprecher der Toten, Aristeides,
im Gespräch mit dem I v. 15 erschienenen Probulen zeigt.
Die ersten 7 Verse von I r. lassen sich mit Hilfe der Frag-
mente (108 K. und Kratinos fr. 65 K. vgl. Hermes 47, 191 2,
306) wie folgt herstellen:
xsXsv , Iva 6nXdyy^voi6i\ 6yyysvcia\£\d-a. ,
i) Sehr ungern opfere icli die auf Lefebvres Lesung gestützte Er-
gänzung aanä'Qoiiai. dem Einspruch Jensens (a. a. 0. 327), der den
Buchstaben nach yccQ bestimmt als A, die folgenden Reste als I K oder H
(auch El nicht ausgeschlossen) las. Ist diese Lesung richtig, so weiß
ich auch keine bessere Ergänzung als Roberts SUri liyw, oder etwa
8eZ TCQoanaXiiv. Gegen die für Aristophanes unmögliche Zerreißung des
Anapästs x'^'^9^' <J^ Y^Q würde ich mich sträuben, wenn nicht gleich
der nächste Vers eine ganz "entsprechende ngäy^a ri iati; brächte.
Phil.-hi8t. Klasse 1919. Bd. LXXI. 6. 2
iS Alfiikp Körte: [71,6
(Uq.) f//oJ jUfAj^tfff] Tuvra xal 7ia:rQ(ii.etai.
dkX sv^ttog yv\cpö£öd-s Tov^ df/f/ot's' ööfo
5 navTi] xäxiöv el\6i vvv diaxti^ievoL
r) ngöod^sv, t)vi\x i'jQxstov av xal 2J6Xav
ijßijc: r ixe{vi]g r\ov r ixei'vov xul q)Qev(öv.^)
ROBEHT hält für den Mitniiterredner des Probulen Peisistra-
tos (a. a. 0. 170), weil Aristeides und der 100 Jahre ältere
Solon nicht „zeitlieh und durch den Dual so eng miteinander
verbunden werden" könnten, wie es in V. 6 f. geschieht. Aller-
dings ist das Auftreten des PeisiBtratos in den Denien durch
schol. Ar. Ach. 61 (fr. 123K.) bezeugt, aber zu den in die
Oberwelt aufsteigenden ngoörärai hat er sicher nicht gehört.
Wir haben das bestimmte Zeugnis des Aristeides Scholiasten
(III 672, 4 Dind.): Evzohg inoiypsv dvaöTccvra tbv MiXrLdörjv
xal 'Aqi6t£C8i]v xal EöXava (so Valckenaer für das über-
lieferte TeXojpu) xal TlsQLxliaj und diesem Zeugen dürfen
wir den Glauben nicht versagen, denn er hat noch die ganzen
Demeu gelesen, sonst könnte er nicht den Abstand zweier
Zitate (fr. 94 und 96 K.) auf 5 Verse beziffern (s. Br. Keil,
Anon. Argent. 48, i). Für Peisistratos ist also nur in der
Dokimasie der Abgesandten im Hades Raum^), und man wird
es hinnehmen müssen, daß Solon und Aristeides inV. 6f. so
eng verbunden sind. Die gute alte Zeit erscheint dem Dichter
i) Die Ergänzung von V. 3 verdanke ich Hermann Schoene ; ich
hatte ihv -Ail.svGoi vermutet, was Jensen mit dem Raum und der
ersten Buchstabenspur für unvereinbar erklärte. In V. 4 stammt &XX'
sv&icog von Jensen, yvnGBaQ-s von Keil, in V. 5 Ttävrrj von Keil, kÜklöv
siöL von mir, V. 6 ist von mir ergänzt.
2) Unbedingt sicher scheint es mir nicht, daß Peisistratos selbst
aufgetreten ist. Allerdings sagt der Aristophaues-Scholiast: EvTiolig Sh
iv ^fiaoig slaäysL tbv TI>:i6i6TQDctov ßaadsa, aber in dem entsprechen-
den Suidaa-Artikel u. ßaaiXshg y,syag heißt es -nal E^xoXig JlEieiGTQaxov
ßaaiXiu y,aXst und bei Ammonios de diff. verb. (138 Valck ) xal rbv
xvgavvov ßaGiXia ^Xfyov, «s EvnoXig iv /Irj^oig iitl tov TIei6i6TQa.tov .
Vielleicht war also in der Dokimasie nur von ihm die Rede. Kaibel
erwägt sogar, ob nicht im Aristophanes-Scholion für dedysL vielmehr
XiysL oder xalat einzusetzen sei.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 19
so einheitlich, ich möchte sagen fiächeuhaft, wie etwa dem
Neuhumaniamus um 1800 die Antike.
Der Rest der Seite entzieht sich der Wiederherstellung^),
aber einiges läßt sich doch ermitteln (s. Herm. 47, 307 und
Jensen a. a. 0. 345 f-)- -^^^ gewiß noch dem Probulen ge-
hörenden Versschlüsse g övivr] und 10 TtQoöbQ^iBtai werden
das Auftreten des Chors ankündigen, und dann folgen lyrische
Verse des Chors,, denn weder 12 jr]^ü(?0-£v noch 17 aöTid-
öaöd'ca kann Trimeterschluß sein. Ob die Chorverse durch
Trimeter unterbrochen werden, läßt sich nicht ausmachen,
jedenfalls sind die Versschlüsse 13 — 16 -^]rj TtQoöüg, -xriv
TCQo&vfiCav, -n^vQiovidrjv, -ovg dvr^yayev für Trimeter möglich.
Den gleichen Wechsel von lyrischen Versen und Tri-
metern haben wir auf der andern Seite des Blattes (U v.).
Jensen hat die ersten trochäischen Verse :
-zog yaQ c)o[7tSQ] \ dvÖQsg
G)i> x[L'](^6v]tsg iv toCaiöLV
schön hergestellt (a. a. 0. 339), auch seine Annahme, daß eine
Tragikerstelle parodiert sei, ist trotz Roberts Zweifel (a. a.
0. 171 f.) sehr ansprechend, aber seine Behandlung der fol-
genden Trimeter scheint mir verfehlt. Er gibt sie in folgen-
der Form:
5 ETCsl] do[x]ö tovg avÖQag '^drj tov[6d^ oQäv
iiad']r]^svovg, ovg (paGcv rjXSLV [■Jt]a[Qä vsxqöv,
evtav]d'cc ^hv örj xGiv (pCXcov 7tQo6x[ri6o^ai.
cp]g oQd'hg §(3tr]xco[g^ 7i!;[a]()[£]ör' auröv [/xoVog
MvQ(ovCdi]g, SQa^ed^ [ay^r6[v, st doxst (?).
und legt sie dem Probulen in den Mund. Das halte ich für
ganz ausgeschlossen: Wie kann der Probule, der schon
III V. 1 5 mit den Auferstandenen in Verbindung getreten ist,
i) Roberts a. a. 0. 170 nur beispielsweise gegebener Ergänzungs-
versuch von V. 8 f. ovdhv XiXsmxai vvv a7t]äy[v] i]ä[ri öwj^drcov uyäl-
fiutcc, ipv^cbv TtuQ]gi,[vi]u 6v%vri befriedigt nicht; H. Schoene schlug mir
brieflich vor: „Wir geben aber gern -xav <>7r]aj'[is] r; d[(aß7j]fictroJv."
2*
20 Ali'ked Köutk: [71.6
den wir in II r. in Irbhaftoni Gespräch mit ihnen finden,
jetzt sagen: „du ich die Männer hier, die von den Toten ge-
kommen sein sollen, sitzen zu sehen «^flaubo, will ich hier für
die Freunde eintreten. Da aufrecht stehend von ihnen allein
Myronides (vielmehr Pyrouides) anwesend ist, wollen wir ihn,
wenn's beliebt, f raison" — '?
Das kann nur jemand sagen, der die Ankömmlinge
eben erst erblickt und eine Verbindung mit ihnen erst an-
knüpfen will. Fällt der Probule fort, so ist der Chorführer,
dem ich die Verse schon früher zugeteilt habe (a. a. 0. 303),
der einzig mögliche Sprecher. Für die Zuweisung an ihn läßt
sich auch die Tatsache anführen, daß weder nach V. 4 noch
nach V. g eine Paragraphos steht, während sie nach V. 13
und V. 16 gesetzt ist, nach der Handschrift gehören also
I — 13 derselben Person, d. h. dem Chor, dessen sprechender
Führer von der singenden Menge nicht geschieden wird.-*)
Der Probule ist vermutlich beim Einzug des Chors abgetreten,
um für das gewünschte Mahl zu sorgen.
Im einzelnen sind die Verse 5 — 9 noch keineswegs be-
friedigend hergestellt. Auffallend ist, daß Jensens Ergänzung
von V. 5 mit seinen eignen Lesungen nicht übereinstimmt.
Er hebt ausdrücklich hervor, daß snal (oder ixet) die Lücke
am Anfang nicht füllt, da könnte man durch xu:tel oder
xdxsL helfen, aber auch oq&v verträgt sich nicht mit dem von
ihm an dritter Stelle nach TOY gelesenen „unteren Ende
einer senkrechten Hasta". Auch inhaltlich befriedigt das dei-
ktische rovööe neben ogäv öoxü nicht recht. Roberts Vor-
schlag (a. a. 0. i6g), die VV^orte in V. 8 ag oQ&bg sötr^xag
von dem folgenden durch Punkt zu trennen und mit dem
vorangehenden hvrav^a fi£V di) tcöv cpClorv TtQoöxriöofiaL zu
verbinden, ergibt einen inhaltlich und formal wunderlichen
Satz, aber mit Recht hebt er hervor, daß man auf ^övog in
i) Trimeter im Munde des Chorführers sind trotz Sieckmanns (De
com. Att. prim. 53 fF.) für die ältere Zeit zutreffender Beobachtung in
einer Komödie des Jahres 412 durchaus nicht auffallend, vgl. Jahxes-
ber. 152, 241 f.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 21
V. 8 nicht bauen darf, weil es ganz ergänzt ist. Ich finde
für V. 8 keine einleuchtende Herstellung; Schoene dachte
daran, das ag als Ausruf zu fassen: ag ÖQd-bg e6ri]i ag . . . .
Tf, aber ^[4]q[s'\<3t fügt sich dem nicht und läßt sich schwer
durch etwas anderes ersetzen. Für V. 9 halte ich die Er-
gänzung ITvQCovLdrjg, SQ^^sd-' [ay]Tb[v 0 n &sXsi, für ziem-
lich sicher.
In den folgenden lyrischen Versen sind gewiß mit Robert
(bei Jensen 341) Kretiker zu erkennen, die sich wenigstens
dem Sinne nach herstellen lassen:
10 sine ^OL, d) {^dxccQ^ £-
/ioAfg Sr[£bv 6X VSKQGiV
TtQog jcoAt-rö[v Tio&rjrög]
qppa[(?]0V, TL K[o^i6ig',
^dxaQ s^oXsg ersov verdanke ich Schoene, ix vsxq&v schlug
Robert nach ^o^^og vor. Jensen hält S. 342 ^Qog Tcohrav
für sicher, da er aber S. 329 die Buchstaben TCü für schatten-
haft erklärt, ist vielleicht auch yiQog noUrag no&ovvxag denk-
bar. Mit xo^islg habe ich das richtige Wort schwerlich ge-
troffen.
Myronides (Pyronides) antwortet mit drei Versen, deren
Wortlaut ebenfalls recht unsicher ist. Im ersten scheint mir
Gerckes, mir brieflich mitgeteilte, Ergänzung
o](f avrog sl^' ixsivog '6v 6[v 7CQo6xaXstg
denen von Wilamowitz jtQoödoxäg und Keil Ttvvd'dv'^ vor-
zuziehen. Der folgende ist durch Jensens Feststellung, daß
im Eingang b]g oder d]g zu ergänzen sei, nicht verständ-
licher geworden: ö]g ra? 'AQ'^vag :jc6X^ str], nun erwartet man
ein Verbum, „der ich Athen viele Jahre geleitet, gefördeii, ge-
stützt habe", aber ich finde keine dem Sinne und Metrum
angemessene Form.
Im letzten Vers bestätigen Jensens Lesungen meine Er-
gänzung dva\yÖQOvg dv8Q\ag, aber davor liest er . . (.)«§ r
und bemerkt: „der geringe Rest einer Vertikalhasta scheint
eher zu dem zweiten als zu dem dritten Buchstaben des
22 Alfukp Körte: [71,6
Verses zu gohören"^, I^ohkrts Vorschlag r(u«s', das auch
ein Schüler Geiukks, Kkiuhkl, vermutet hat, passe nicht zu
seinen Zeichnungen, bg] rdg oder avrccg sei nur möglich,
wenn der Schreiber den Zeilcnraud nicht genau innegehalten
habe. Zu diesen Angaben p:ißt woiil nur erccs, und ich halte
es nicht für unmöglich, daß Eupolis dies der höheren Poesie
eigne Wort in dieser gehobenen Szene gebraucht hat. Ai.schy-
los verwendet tTijg liik. 247 und fr. 377 für Privatmann,
Bürger, im Gegensatz zu Herrscher und Volk, so kcinnte es
auch hier angewendet sein.
Von den folgenden lyrischen Versen des Chors hat
Jensen noch den Anfang
1^ xal öacpäg 0([d' ort ttccq
glaublich hergestellt.
Endlich noch ein Wort über die Personenzahl dieser
Szene, die unnötige Bedenken erregt hat. Robert läßt (a. a.
0. 172) die Schatten in zwei Gruppen auftreten, um nicht
zu viele Personen gleichzeitig spielen zu lassen. Warum ich
an eine Verteilung in Gruppen nicht glauben kann, habe ich
oben (S. 16 f.) ausgeführt; auch die Worte des Chorführers
II V. 5 ff. setzen die Gesamtheit der Ankömmlinge aus dem
Hades voraus. Das sind also die vier :iQ06tdrui mit Pyro-
nides als Führer, und als sechste Person tritt der Probule im
Beginn der Szene hinzu. Tatsächlich sprechen aber zunächst
nur Aristeides und der Probule, später nach Abtreten des
Probulen Pyronides und der Chorführer. Nun leugne ich zwar
grundsätzlich durchaus, daß wir uns in der Komödie auf die
Dreizahl der Schauspieler zu beschränken brauchen, fast
keine Komödie des Aristophanes ist mit drei Schauspielern zu
spielen, und z. B. in der Göttergesandtschaft der Vögel haben
wir längere Zeit (1565 — 1693) vier Schauspieler in lebhaftem
Gespräch zusammen, aber die Gesandten aus dem Hades
können sehr wohl zu fünft gekommen sein und doch nur
i) Im Majuskeltext gibt er an zweiter Stolle die Querhasta eines T.
71,6] Zu NEUEREN KoMÖDIENFUNDEN. 2^
zwei oder drei Schauspieler erfordert haben. Die II r. i fi.
verlangte Zurüstung eines Mahls wird wohl den dramatur-
gischen Zweck gehabt haben, die fünf Ankömmlinge nach
erfolgter Becrrüßung durch den Chor mit guter Manier in ein
Haus zu bringen, aus dem dann die einzelnen Führer nach-
einander herauskamen, um in einer Reihe episodischer Szenen
ihre erzieherische Tätigkeit auf den verschiedenen Gebieten
des Staatslebens auszuüben, wie das besonders Keil (a. a. 0.
244) schön ausgeführt hat.
Als besonders ärgerlich wird es jeder, der sich mit den
Demenblättern beschäftigt hat, empfinden, daß die im ganzen
so wohl erhaltene, in Form und Inhalt so eigenartige (s. Herrn.
47, 191 2, 293) Antode der Parabase in der Hauptsache noch
immer unverständlich ist. Einiges ist freilich auch hier ge-
wonnen: Wüst hat (Woch. f. klass. Philol. 1913» 943) ge-
zeigt, daß das Erhaltene in zwei Strophen zu je 20 iam-
bischen Metren (8 -f 6 -|- 6) zu gliedern ist, Jensen hat nach-
gewiesen (a. a. 0. 3 34 f.), daß die Antode vier solche Strophen
umfaßt hat, also von erstaunlicher Länge war^), auch der
Wortlaut ist an mehreren Stelleu glücklich berichtigt worden.
Aber leider sind die Anspielungen des Dichters meist so
knapp und beziehen sich auf so unbedeutende Ereignisse,
daß wir sie ohne die Hilfe von Schollen nicht verstehen, vor
allem aber ist der Sinn des das ganze Rügelied beherrschen-
den Leitwortes diaöxQtcpEtv noch immer dunkel; vermutlich
würde uns die verlorene erste Strophe das Verständnis wesent-
lich erleichtern.
Ich setze das Lied noch einmal her, im wesentlichen in
der von Jensen (a. a. 0. ^2^,) gegebenen Form, ohne die
Urheber der einzelnen Ergänzungen und Änderungen zu
wiederholen; nur wo ich von Jensen abweiche, gebe ich die
Gewährsmänner an:
i) Durch die Vierzahl der Strophen wird diese Antode von den
Parabasen des Aristophanes noch schärfer geschieden als ich a. a. 0.
293 ausgeführt habe.
24 Alfukd Körte: [71,6
x(d öl) dh //f/'o'« !'(?[() Ol'] dis-
^ 6TQ(((piyca x^^^'^ ccqkJtioi'tk (pa6\
t7i\tyi ^tU'ov riv oj'T fV|tft-
roi' ovx ecpaöxa ifQt'il.'fLV.
5 Ilavöcoi' dh ^()oö<^öyTä^ QsoyBvei
öeiTtvovvTi TCQoc; r))i> xuqÖCuv
xCov bkxäöoiv XIV avxov
xX\eil>ag a;r«5 dieüTQfcpev'
X]vxbg ö' sxetQ^ 6 &6oysvrig
10 T))]!/ vvx^ ökrjv nfTCOQÖäg.
(ßiu}(5xQBq)£iv ovv j[QCbxa fiav
. XQi) KalXCav xovg iv ^axQolv
xsQoi yc'cQ sIgiv iiaäVy
(15) N]Lxi]Qar6v x jixo(.Qvia
IS XQCoy\uv didövxa x^^vLxag
dv' i] XL ^XSJOV ixdöTCOLj
öxav t]'' V-)
XÜV XQV^^''^^^ [^^ XaTtCXOLTT
(20) ovo' ay] XQLXog TCQiaCiiriv. -
In V. 9 scheint mir an Stelle des von Lefebvre ein-
gesetzten, von Jensen, und auch von mir früher, angenommenen
avxog das von Maas (Berl. Philol. Woch. 191 2, 862) als mög-
lich erwogene Ivxog'^) aus metrischen Gründen geboten.
Wir brauchen nach ÖLSöTQScpsv einen Konsonanten, da inner-
halb der Periode syllaba anceps unmöglich ist. .
Am Anfang von V. 15 (16) gibt Jensen CI]N oder 81] N
und davor eine Lücke von vier Buchstaben, das führt auf
einen Infinitiv, und da (payslv zu kurz ist, habe ich das in
der Komödie so beliebte xQCiysiv ergänzt.
Im folgenden Vers ist meine Ergänzung öv iq xi nliov
für den Raum etwas kurz, aber die Schrift ist in diesem Verse
besonders breit, den 7 Buchstaben von exäöxcoc entsprechen
i) Maas denkt" auch an x^roe oder nXvtdg, letzteres ist durch den
Eaum ausgeschlossen.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 25
in der darüberstehenden Zeile fast 9. Jensen (a. a. 0. 336)
nimmt gewiß mit Recht an, daß von Nikeratos gesagt war,
er verteile zu große Rationen, nicht, wie ich früher annahm,
zu kleine. Die Choinix = 1,1 1 (s. Hultsch R. E. III 2356 ff.)
wird oft (Her. VII 187, Athen. III 98 E, Diog. Laert. Yill 18,
Suid. u. Uvd-ayÖQa tä öv^ßoka) als das Normalmaß für den
täglichen Getreidebedarf eines erwachsenen Mannes bezeichnet:
die athenischen Gefangenen in den sizilischen Steinbrüchen
bekamen täglich nur eine halbe Choinix Gerste, aber das gilt
freilich für ganz unzureichend (Thuk. VII 87, Plut. Nik. 29).^)
Zwei Choinikes oder etwas mehr sind also eine überi-eich-
liche Ration, was gerade jetzt noch mehr einleuchten wird,
wenn ich das Hohlmaß in Gewicht umsetze, das Durch-
schnittsgewicht von zwei Choinikes Weizen beträft nach
freundlicher Mitteilung meines Kollegen Kirchner etwa 1650
Gramm (Gerste etwa 1540 g).^) Da Jensen am Schluß des
nächsten Kolon, das im Papyrus nicht richtig abgesetzt ist,
T] I H gelesen hat, ist es wohl sehr wahrscheinlich, daß in
einem Satz mit sdv oder ötav die näheren Umstände der
Getreide Verteilung augegeben werden; einen bestimmten Vor-
schlag wage ich nicht. Die für den verfügbaren Raum aller-
dings etwas lange, aber doch wohl mit ihm vereinbare Er-
gänzung dh TUTtLloiTt verdanke ich Immisch ; den Sinn trifft
sie gewiß, was vom Vermögen des zu freigebigen Nikeratos
noch übrig ist, das ist nicht der Rede wert.
Zum Schluß möchte ich noch kurz auf das leidige Wort
diaöTQ^'cpsLv eingehen, obwohl ich weder selbst eine einleuch-
tende Deutung vorbringen noch einen der mir von be-
freundeten Kollegen gemachten Vorschläge unbedingt emp-
fehlen kann. Meine erste Erklärung (a. a. 0, 294) „prellen"
i) In dem Waffenstillstandsvorschlag der Spartaner nach der
Einschließung von Sphakteria wird als Tagesration für jeden Spartiaten
zwei, für jeden d-sgäncov eine Choinix vorgesehen (Thuk. IV 16).
2) Unsere deutschen Kriegsgefangenen in England erhielten im
Winter 1918/9 außer einer Pferdefleisch-Kohlrübensuppe täglich 140 g
Brot als einzige Nahrung.
2 6 Alfred Köktk: (71,6
liat mit Rerht wenig Beifiill gefuiuleii, >ibor auch der fast
gleichzeitig von AuGUST Mayer (Beil. IMiilol. VVoch. U)i2,
830) und Paul Maas (ebenda 862) gemachte, von Jknskn
(a. a. 0. 336) /ögeriid angenommene Vorschlag, öiuaxQtrpuv
gleich Tcvyil^fiv zu setzen, tiiilt schwerlich das h'icliiige. Es
ist Maykk nicht gelungen, die obszöne Bedeutung von öia-
6TQE(pen> zu belegen mlcr einwandfrei herzuleiten, und der
Sinn ließe sieh alleiil'alls mit den beiden ersten Beispielen
vereinigen, aber unnu'jglich mit dem dritten — wie soll p]u-
polis eine paedicatio der Tausende in den langen Mauern fiir
notwendig erklären, weil sie zu eßlustig seien? Auch für den
Handel des Pausen und Theogenes (V. 5 — 10) paßt die Be-
deutung notzüchtigen nur unter der Voraussetzung, daß öXxdg
für Eu])olis' Zuschauer ohne weiteres im Sinne von Dirne
verständlich war. Das läßt sich aber aus dem von Mayer
angezogenen Epigi-amm des Hedylos (Anth. Pal. V 160) ganz
und gar nicht entnehmen, denn hier werden die Beziehungen
von Schiffsherren zu bestimmten Dirnen gründlich ausgepreßt,
und da heißen die drei Grazien des Diomedes vavxhJQcov
6kxädsg sixoöoQOL, das Bild ist also deutlich ausgeführt. Be-
denkt man weiter, daß wir über Theogenes schol. Ar. Av.
822 ausdrücklich hören XeyerccL ort asyaXt^TioQÖg rtg ißovXsto
alvai nsQalTi]g, aXat,cov ■^BvÖonkovrog^ so scheint mir noch
immer die Beziehung der hlxdg auf eines der in Wahrheit
gar nicht vorhandenen Frachtschiffe des angeblichen Groß-
kaufmanns am nächsten zu liegen, obwohl ich die Anspielung
nicht ganz verstehe.
Auffallend ist, worauf mich IjviMisCH schon vor Jahren
hinwies, daß in allen Fällen das diaörQtfpeiv oder ÖLaörfJkcpe-
6%ai mit Essen in Verbindung erscheint, Peisandros öü-
CTQaTtrai beim Frühstück, als er einen hungrigen Fremdling
nicht füttern wollte, Pauson tritt zu Theogenes, als dieser
nach Herzenslust schmaust, und öiaörQscftL ihn selbst (was
mir noch immer wahrscheinlicher ist) oder ein Lastschiff,
Kallias und die Anwohner der langen Mauern muß man
SLcc6rQsq)£LV, weil sie zu gern frühstücken, Nikeratos, weil er
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 27
zu große Portionen austeilt. Immisch erinnert daran, daß
6tQ6(}.og Bauchweh, 6xQo(pov6Q'ai Bauchweh haben bedeutet,
möchte diaöTQt'cpsa&ai von einem durch vieles Fressen anf-
getriebenen Leib verstehen, „dessen natürliches Ergebnis der
vvxd'' olriv TCSTtcoQÖas sein dürfte" und erklärt das Aktiv
als ,,zu einem aufgetriebenem Leib verhelfen, den Magen ver-
derben". Für die Beziehung des Yerbums auf die Verdauung
ließe sich noch anführen, daß sich auch das Simplex öxqs-
(pEiv in diesem Sinne findet Ar. fr. 462 oX^ioi xdkag, xC ^ov
örgiffEi rrjv yaöxsQa;^) — aber es will mir nicht gelingen,
die einzelnen Szenen mit Hilfe dieser Interpretation wirklich
verständlich zu machen.
H. ScHOENE nimmt das Wort allgemeiner „den Hals
umdrehen", also umbringen, und ich bekenne, daß mich diese
Erklärung noch am ehesten befriedigt. Zunächst haben wir
ÖLaOTQecpsöd-ai im Sinne von „sich den Hals abdrehen" bei
Aristophanes Ritt. 175 und Vög. 177, dann steht es aber
auch überti-agen im Sinne von „umkommen" neben djiod-avslv
Ach. 15 xTixsg ö' ojie&uvov xal öia6TQä(priv Iddiv^ öxs örj
7t(XQ8xvil>s XaiQLs i%l xov OQd'LOv. Mit dicscm burschikosen
Gebrauch von umkommen, bzw. umbringen, kommen wir zur
Not in allen Strophen des Rügeliedes aus. Peisandros kommt
beim Frühstück um, als ihm das Ansinnen gestellt wird,
einen hungrigen Fremden mit zu füttern. Pauson^) bringt
den schmausenden Theogenes um, dadurch daß er ihm eines
i) Vgl. auch Ar. Plut. 1131, Antiph. fr. 177, 4.
2) Herr Professor E. Kind weist mich darauf hin, daß Pauson der
bekannte Maler ist (s. Brunn, Gesch. der griech. Künstler II 49 ff.), und
versucht, eine mehrfach von diesem erzählte Anekdote zur Erklärung
des Liedes zu benutzen: Plut. de Pyth. orac. 5, 396 berichtet iy.lcipmv
yccQ, töff ioiKSv, iTTTtov Ö:XlvSovii£vov yQccipai, TQS^ovru '^ygaipsv. ccyavcc-
KTOvvtoe äh rov ccv&Qmitov ysXäGug 6 IIccvGcov xaT^ffrpsif £ tbv Ttivav.cc'
■Kui ysvoiiivoav avoa x&v Kdra, näXiv 6 imiog ov TgSj^Mv aXX' ccXivdov-
fisvog icpaivtro (ähnlich Ael. var. bist. XIV 15 und Luc. enc. Demosth.
24). Leider handelt es sich hier aber nicht um ein öiaargecpiiv., sondern
um ein KaraatgscpEiv oder äva6tQt(p£i.v , und zu den übrigen Personen
ist gar keine Beziehung vorhanden.
28 Alfred Körtk: [71,6
seiner lefjfiMuliirou Fnichtsc-liilfe stiehlt; erschöpft durch den
Schreck liegt Theogenes die ganze Nacht und forzt. Kallias
und die Anwohner der langen Mauern muß man umbrimren.
weil sie zu sehr aufs Essen erpicht sind, Nikeratos, weil er
zu große Kornratiouen ausgibt. Das alles ist nicht übermäßig
witzig, aber doch erträglich.
2. Mailänders Misumeuos.
Unter neuen Dichtorfragmenten aus der Papyrussamm-
luug des Berliner Museums veröffentlicht v. Wilamowitz
als Nr. 6 (Sitz.-Ber. der Berl. Akad. 1918, 747 ff.) den unteren
Teil einer Seite aus einem Papyrusbuch des 3. Jahrh. n. Chr.
mit im ganzen i^ Versen eines Dichters der neuen Komödie.
Der Herausgeber ist schon wegen der Zeit des Papyrus ge-
neigt, sie Menander zuzuweisen, und ich glaube, daß sich
diese Zuteilung wesentlich bestimmter geben läßt, wenn man
einige Einzelheiten etwas anders auslegt, als V. Wilamowitz
es getan hat. Ich konnte für das Studium des interessanten
Blattes gute Photographien benutzen, für deren Vermittlung
ich Herrn Professor Schubart zu Dank verpflichtet bin.
Ich beginne mit der besser erhaltenen und inhaltlich
entscheidenden Rückseite. Die schönen Ergänzungen v. Wila-
mowitz' und ScHUBARTs habe ich sämtlich beibehalten, aber
durch Hinzufügung der Personalnoten und einer Bühnen-
weisung meine Auffassung gleich angedeutet:
(Tipoqpdg.) «[()' o\v XIV 01p lv ovde 7CQo6d[oxc)^Evrjv
o[q]ü; [KgateLCi.) xl ßovlai xr]d-La, xl ju-ot kaXsig\
%axriQ s^bg tcov-^ [^rjiisag.) naiöCov KQccteia, [nal
15 Jca/lft ^s. {Kq.) Ttdnna xaiQs noXlä (piXxax[s.
{'^Tj.) e%Gi 0£ XExvov. (Kq.) g) no^ov^svos q)Kv[sCg^
6qS> (?' bv ovx äv aiö^rjv löatv sxi.
{&QaGcovCdii]g y.al Fhag a^sqiovxai^
(Tq.) ih,fjXd^£v eh,(o. {&Q.) Ttal xi rcöO-'; avxyi xCg [ff;
ccv&QC37C£, Xi Ttostg ovxog] ovx iyco 'Xslyov,
20 STC avxocpäQCii x6\y\Ö£ xov t,'rixovii£[yov
I
71, 6] Zu NEUEREN KomÖDIENFUNDEN. 29
EX(o' ysQCOv ovrog ys jtoXtbg (paCve\xaL
iräv Ttg i^'yjxovra' oucog ds TcXaylöetai.
xiva TisQißdkXsLv xul (piXslv ovrog [doxelg]
Vor V. 12 las Schubart „mit starkem Zweifel" die Personen-
bezeichnung TS, für die auf der Photographie kein Platz
ist; der Papyrus scheint seit der ersten Lesung etwas gelitten
zu haben, auch an Stelle des ersten 6 in V. i6, das v.Wila-
MOWITZ ohne Punkt gibt, zeigt die Photographie ein Loch.
Ich glaube, in V. 1 2 an erster Stelle ein A, dann den
unteren Ansatz eines Buchstabens, der mit P vereinbar ist,
zu erkennen.
Zwischen V. 13 und 14 sehe ich eine von den Heraus-
gebern nicht mitgeteilte Paragraphos.
V. 15 Ttaxa steht im Pap.
Vor V. 1 8 gibt v. Wilamowitz die Personenbezeichnung
re, ich lese auf der Photographie [^ , also FGT, der
oberste Strich des T steht zu weit links, um als Paragra-
phos gedeutet werden zu können. Die Notiz ist blasser als
die übrige Schrift, auch von abweichender Form, also wohl
spätere Zutat.
Y. 2S TteQißdXsLv Pap.
Wir haben eine Erkennungsszene zwischen Vater und
Tochter, die schon als solche wertvoll ist. Der Anagnoris-
mos vollzieht sich hier viel schneller und einfacher als in
dem einzigen bisher im Original bekannten Beispiel, dem
Leipziger Blatt aus der Perikeiromene (V. 33^^- meiner
Menandrea). Interessant ist, daß auch hier durch das Fehlen
aller Auflösungen in den Versen der eigentlichen Erkennung
und durch die Längung von rtxvov in V. 16 eine tragische
Stilisierimg erzielt wird, wie in dem Anagnorismos der Peri-
keiromene (s. Ber. der Sachs. Ges. der Wiss. LX 1908, 169 f.).
Die Erkennung wird vorbereitet durch eine als TjjO-ta an-
geredete Alte, welche die Tochter Krateia auf die Bühne
führt. V. Wilamowitz hat bereits für das bisher unbelegte
Wort trj&La auf die Notiz des Aristophanes von Byzanz hin-
v)
o Alfkkd Köutk: [7', 6
gewiesen (S. 140 Nauok) //«m x<xl 1) anXög TCQeößi'Tf'go: yx<i'}j
fAf'p'fTo, 1) d' ccvTi) xcc] T};i>i; xat tj/O-/'«.') Dio Toehtor sioht
deu Vater /.uuüohst nicht und scheint /weiiel o-oinißcrt 7a\
hnben. die der alten Wärterin Anlaß zu der halb vorwurfs-
vollen Bemerkung geben: „sehe ich nicht einen Anblick, auf
den mau gar nicht gefaßt sein kann?" Dann erfolgt die
kurze, aber warme Begrüßung von Vater und TtH'hter. die
erweist, daß beide einander nicht frtMud sind. Krateia ist
wohl längere Zeit vom Vater getrennt gewesen, aber nicht
wie Glykera in der l'erikeiromcue als Neugeborene ausgesetzt
worden. Die Freude der beiden wird unterbrochen durch das
Heraustreten eines Mannes aus dem Haus, das, otfenbar von
der Alten, durch die Wendung ^'. 18 f^>;A9-fj' et.co angekündigt
wird. Hinter tiw steht mir ein Punkt, aber der Pcrsoueu-
wechsel ist, wie v. Wii.amovvi rz mit Uecht bemerkt, unver-
meidbar. Natürlich ist es das Nächstliegende, die Tcrsonen-
bezeichnuug am Bande Fer. (^oder I>.^ auf die Alte zu be-
ziehen, wie es V. \\n.\Mowirz tut; gleichwohl glaube ich,
sie anders auffassen zu müssen.^)
Wer ist nun aber der erregt Herauskommende, der weder
die Amme noch deu Vater kennt und letzteren sofort heftiff be-
droht? Nach \ . Wii, vMtnvrrz ist es ein alter Herr, der Krateia
wie seine Tochter hält, von Annäherungsversuchen des wirk-
lichen Vaters schon etwas gemerkt hat und deshalb mißtrauisch
ist. Aber weder die Altersabschätzung des vermeintlichen Bau-
bers V. 20a'. noch die Androhung körperlicher Mißhaiuiluug
(V. 22), noch der ganze hitzige Ton passen in deu Mund eines
alten Pflegevaters, so kann nur ein junger, lebhafter Maiui. ein
Verliebter, der in dem umarmenden Vater einen Nebenbulüer
sieht, reden, v. Wii.amowitz ist wohl dadurch zu seiner Auf-
fassung gekommen, daß er die Worte V. 18 jtcd ri ror^'; an
1) Ich sehe keinen Grund, mit v. Wilamowitz das überlieferte
TTjd'i] durch rT]&ig /.u ersetzen; Nauck wollte für rrjO'i« vielmehr t7;9'/>-
schreiben.
2) Auch v. WiLAMowiiz hebt hervor, diiß ihm kein mit Fi- be-
ginnender Frauenname bekannt sei; er denkt lUi Fiiii.
71,6] Zu NEUEREN KOMÖDIENTCXDEK. 31
Krateia gerichtet glaubte. Aber mit xC rovro nul] fMen. .Sam.
145, Perik. 126, fr. 113 K.j oder xC ob uol xovxo Ttc/Ä: TSam.
147) werden bei Menander nur Sklaven angeredet, die ein-
fache Anrede neu ohne den Namen — wie oben TtuiÖLOv
KoäxtLu, 71UL — oder mindestens w vor nul finde ich Kindern
ffeo-enüber bei Menander überhaupt nicht. Die Worte n:ar xC
Toü-d-'; sind also an einen mit ihm heraustretenden Sklaven
gerichtet, erst mit aurrj xCg al: wendet sich der Zornige an
die Alte, mit uvi^oojxe xC Tcoeig oütoj; an den Vater, die ihm
beide fremd sind. Auf den Sklaven geht meines Erachtens
die Personenbezeichnung Fct = Fhas am Rande: gerade weil
es nicht selbstverständlich ist, daß Getas mit herauskommt,
hat wohl ein Leser seinen Namen am Rand vermerkt.
Meine Auffassung, daß der Störer der Erkennungsszene
ein Liebhaber der Krateia ist, der sich durch den Vater in
seinen Rechten gekränkt glaubt, wird nun voll bestätigt
durch eine überraschend ähnliche Szene in Plautus' Poenulas.
Hier wird die Erkennungsszene des Hanno und seiner Töchter
durch den Soldaten Antamoenides, den Liebhaber der Ante-
rastylis gestört 1294 ff.
(Ante.) Ut nequeo te sätis conplecti, mi pater, (Anta.) Ego
me moror.
Propemodum hoc öpsonare prändium poterö mihi.
Sed quid hoc est? quid est? quid hoc est? quid ego video?
quömodo?
Quid hoc est condaplicätionis? quae haec est congeminätio ?
Qais hie homost cum tünicis longis quasi puer caupönius?
Satin ego oculis cemo? estne illaec mea amica AnterästylLs?
Et east certo. iäm pridem ego me sensi nili pendier.
Nön pudet puellam ämplexarei bäiolum in media via?
lam hercle ego illunc excruciandum totum carnufici dabo.
Säne genus hoc mülierosumst tiinicis demissiciis.
Sed adire certumst hänc amatricem Africam.
Heus tu, tibi dico, mulier, ecquid te pudet?
Quid tibi negotist aütem cum istac? die mihi;
32 Alfued Körte: f7i.6
(Ha.) Adulescens, salve. (Anta.) Nolo: nil ad te jittinet.
Quid tibi hanc digito tactiost'? (Ha.) Quia mihi lubet.
(Auta.) LubetV (Ha.) Ita dico. (Auta.) Ligula in nialani
cruceni V
Tune hi'c amator aiidcs esse, hallox viri,
Aut contraetare qiukl mares homines amaut? usw.
Die Breite der Ausführung namentlich in den Scherzen über
Hannos weibische Tracht, die den Anschein des Eunuchen
erweckt, wird hier auf Rechnung des römischen Bearbeiters
zu setzen sein, aber der Kern der Szene ist genau der gleiche
wie auf dem Papyrus: Ein hitziger Liebhaber hält den seine
wiedergefundene Tochter umarmenden Vater für einen be-
sünsticften Nebenbuhler und geht ihm mit Scheltreden und
Drohungen zu Leibe. Daß der Polterer ein Soldat ist, kann
nicht als Zufall gelten, denn unüberlegte Heftigkeit gehört
zum Typus des komischen Soldaten. Wir werden auch in
dem ungestümen Bedroher des Papyrus einen Soldaten zu er-
kennen haben, und dazu paßt vortrefflich, daß in V. 9 der
Vorderseite von einem eoßuQ^bg ^tvog die Rede ist.
Damit ist aber das Stück unmittelbar gegeben, es ist
der Misumenos Menanders, für den der seltene Mädchenname
Krateia bisher allein bezeugt ist. Einen zweiten Namen aus
dem Misumenos liefert die Personenbezeichnung zu V. 18
rstag, falls ich sie richtig gedeutet habe. Aus den früher
bekannten Fragmenten und dem Ox. Pap. VU 10 13 wissen
wir über das Stück etwa folgendes (s. Menandrea^ praef. LI f.
und S. 127 ff.): Der Soldat Thrasonides hat ein Mädchen Krateia
erbeutet und liebt sie glühend, während sie ihn verschmäht
(fr. I, 2). Obwohl sie in seiner Macht ist, berührt er sie
nicht (fr. 4) und bemüht sich, eine ihr zugefügte Kränkung
durch Bitten und Geschenke wieder gutzumachen (fr. 2).
Seine Leidenschaft treibt ihn bis zu Selbstmordgedanken,
deren Ausführung sein treuer Bursche Getas verhindert (fr. 2).
Dann, laugt Krateias Vater Demeas (fr. 13) an, um die Tochter
loszukaufen, Thrasonides kann oder will sich dem Loskauf
i
71,6] Zu NEUEREN KoMÖDIENFUNDEN. 33
nicht widersetzen und erhofft nun sein Glück einzig von einer
Sinnesänderung der Geliebten und der Zustimmung des Vaters
zu einer legitimen Ehe (Ox. Pap. 39 ff^, wie er seinem
eio-enen Vater in lebhafter Bewegung bekennt. Der Schluß
ist nicht erhalten, aber zweifellos wurde das Herz Krateias
durch den Edelmut des ungestümen aber ehrlichen Soldaten
besiegt, und sie gab ihm den Vorzug vor einem andern
Freier Kleinias (Ox. Pap. 12 ff.), der etwa die Rolle des
Moschion in der Perikeiromene gespielt haben wird. Das
Stück ist in den Grundmotiven und Charakteren der Perikei-
romene sehr ähnlich: in beiden stößt die unbesonnene Heftig-
keit eines stürmischen Soldaten ein Mädchen zunächst ab,
dann legt aber der hitzige Krieger so viel Zartheit und echtes
Gefühl an den Tag, daß er über die flache Genußsucht eines
jungen Lebemanns triumphiert und die Braut heimführt. Im
Misumenos, der das spätere Stück sein wird, ist das Motiv
dadurch sesteigert, daß Thrasonides rechtlich unbeschränkte
Gewalt über die Geliebte besitzt, aber von seinem Herren-
rechte noch keinen GeTjrauch gemacht hat, während Glykera
bereits vor Beginn des Stücks in einer Art Gewissensehe
mit Polemon lebt (s. V. 236 ff), aber frei ist und das un-
bezweifelte Recht hat, ihn zu verlassen.
In das, was wir von der Handlung des Misumenos wissen,
fügt sich nun die Berliner Erkennungsszene , ganz vortreff-
lich ein; ein solches Wiedersehen von Vater und Tochter war
unbedingt vorauszusetzen und die Heftigkeit, mit der Thra-
sonides die Situation verkennt und stört, entspricht ganz dem
Bilde, das wir von ihm besonders aus fr. i und 2 gewinnen.
Den Umschwung seiner Stimmung nach dem Anagnorismos,
der wieder dem des Polemon in der Perikeiromene entspricht
(398 ff.), zeigt dann Ox. Pap. 1013.
Weniger durchsichtig ist die durch etwa 20 verlorene
Verse von der Rückseite getrennte Szene der Vorderseite.
Die Sprecher scheinen mir freilich auch hier kenntlich zu
sein, es sind erst Getas und dann, nach dessen Abgang ins
Haus, die Amme, die mit einem Monolog die Erkennungs-
PhU.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 6. 3
34 Ai.v'RKi) Körtk: [7'.^
Bzeno vorbereitet. Leider fehleu (lurchgiin;i;ig die Versanfänge,
und es zeigt sich wieder, d;iß bei Meuiiiider VersautTnige
schwerer 7-u ergänzen sind als Versschi üsse. Die Ergänzimgon
rühren, wo nichts anderes bemerkt ist, von Wilamowitz
her, V. 4 ist von Sciiuuakt hergestellt.
{Fe.) (> • C^f* ijxsis JtQog riaag. aXku xC
^u&ojv dvii\iii<}inTEL<^ xal Tcdkcv OxikkEL diöovg
xal imöT\i)k(xg] £1 jtttj TL xaxbv ij^äg noelg^
rC 7iccQEX£\kevöco xovtö ,a tTil dtt-rcvov nüktv
5 TOI' de6:x\orr^v xakeöuvxa-^ (pavfQOg iöxi yaQ
äÖixCoV ßlaötovu siöco de xal :jtsiQd6ofiui
XQVTi:rc3]y eiiccvxbv ETttd'scoQyjöai xi rüv
noioviiB\vcov Evdov kakox'jxevav O-' afia.
(Tq.) 6oßaQcö\xEQOif xovxov iia reo itfo? ^tvov
lo ovnä7io]x Eidov cd xdkag' xC ßovkExai
s%ELv na\Q olxa xdg öTcdd-ag xäv yEixövav]
I. Der erste deutliche Buchstabe M' steht über TTT von
dva\xd^jtxEig, davor sind zwei kleine Buchstabenreste sichtbar,
die sich wohl mit A, vielleicht auch mit H, YC, IC, aber
schwerlich mit O vereinigen lassen. Zwei Stellen davor, über
dem K von dvaxdiijtxEig, sehe ich auf der Photographie noch
das Ende einer längeren senkrechten Hasta, wohl von P oder
Ö^, möglich wäre ein auf -QLa[ia ausgehendes Schimpfwort.
3. V. Wilamowitz ergänzt xdg ßvfißokdg und denkt eher
an geschäftliche Beziehungen, die der Fremde angeknüpft
habe, als an den Beitrag zu einem Öeitcvov djtb övußokäv.
Beides scheint mir zur Rückseite nicht zu passen, denn offen-
bar hat der Störer der Erkennungsszene Krateias Vater weder
gesehen, noch weiß er über den Fremden etwas Genaueres,
nur daß sich jemand bei seinem Haus zu schaffen gemacht
hat, ist ihm bekannt. Nicht ohne Bedenken habe ich xal etcl-
öxokdg, was den Raum genau füllt und natürlich mit Krasis
zu lesen wäre, eingesetzt, vor -okag glaube ich auf der Photo-
graphie die Ansatzspur einer Queidiasta zu erkennen, die für
T passen würde, aber das Bild mag täuschen. Wäre ivxokdg
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 35
8i86va,L eine mögliche Verbindung, so würde ich öi8ov£ tLvas
ivroXag vermuten.
4. ScHUBAETs Ergänzung tl TtaQSxsXevöoj (das 6 ist über
der Zeile nachgetragen) ist kaum zu bezweifeln, der Sinn aber
bei der Kürze des Ausdrucks dunkel. Wilamowitz will
merwürdigerweise aus V. 4f. herauslesen, der Fremde sei von
dem Herrn des Sprechers schon zum zweiten Male zu Tisch
geladen, aber das widerspricht dessen Benehmen in der folgen-
den Szene durchaus und läßt sich auch mit dem Wortlaut
unmöglich vereinigen. Die Worte rC TiaQSXsXavGco rovto [i'
STtl delTtvov TcäXtv xov ösöTCÖrrjv xakeöavra; weiß ich nicht
anders zu übersetzen als: „Was fordertest du mich dazu auf,
als ich den Herrn noch einmal zum Mahl gerufen hatte?"
Vielleicht läßt sich die Situation so erklären: Getas ist aus
dem Haus gekommen, um seinen Herrn, der Essen und Trin-
ken vergißt, zur Mahlzeit zu rufen, und ist dann einen Augen-
blick allein auf der Bühne geblieben, um seinem Ärger über
die Gemütsverfassung seines Herrn Luft zu machen. Da ist
Demeas mit irgendwelchen Aufforderungen an ihn herange-
treten, und diese erwägt nun der Sklave in dem vorliegenden
Monolog. Da wir nur den Schluß seiner Betrachtungen haben,
läßt sieh nicht sagen, welcher Art Demeas' Anliegen gewesen
ist; nur so viel ist klar, daß Getas dem Fremden und auch
wohl der Krateia mißtraut, cpavsQÖs £<5Tt yäg aÖLxäv ist das
Ergebnis seiner Überlegungen. Nach beliebter Sklavenart geht
er ins Haus, um etwas zu spionieren.
An seiner Stelle tritt (V. 9) die Alte auf, deren Ge-
schlecht durch den Schwur ^ä tw d'eco gesichert ist. Ihr
erstes Wort ergänzt v. Wilamowitz ^avixäxBQov, ich ziehe
öoßaQatSQov vor, weil dies Beiwort auch auf Polemon an-
gewendet wird (Perik. 52).
1 1 . Die Ergänzung ex^i'V naJQ' oUa wird sich kaum um-
gehen lassen, obwohl v. Wilamowitz mit Recht betont, daß
oixog im Attischen nicht das Haus, sondern entweder den
Hausstand oder das einzelne Zimmer bedeutet. Menander sagt
einmal fr. 610 vvv d' sqii ait oL'xcov x&vds, aber das ist
3*
36 Alfred Kokte: [7', 6
Piiratnigodie nach Eur. llcl. 477 aXl" cqjc' ccti' oI'xcüv. Offen-
bar fürchtet Tlirasouicles in seiner Aufre^un«^ eine gewaltsame
Entführung der Kratcia und hat di'shall) bewaffnete Nachbarn
aufgeboten. Im Zusammenhang damit kann IV. 11 (meiner Aus-
gabe) des Misumenos stehen aq)uvEtg ysyövaöLv al anocd-ai,.
Unleugbar enthält die \'orderseito nichfs, was die aus
der Hiickseite erschh)ssene Zuteilung des Blattes an den
Misumenos bestätigt, aber aueh nichts, was ihr widerspricht.
|Nach Abschluli der Arbeit bekomme ich den 13. liand
der Oxv-rhyuchos-Papyri zu Gesicht und finde, daß Guknfell
und Hunt S. 46 das Berliner Blatt ebenfalls mit kurzer Be-
gründung dem Misumenos zuteilen. Das von ihnen als Nr. 1605
veröffentlichte Papyrusfragment aus dem 3. Jahrh. n. Chr.
enthält leider nur 27 Versaufänge und vereinzelte Versschlüsse
einer vorangehenden Kolumne. Das Vorkommen der Namen
Thrasonides (V. 25) und Getas (Personaluote zu V. 34 oder
35) sowie das Wort ^r]Xotvn[og (V. 2g) weisen mit Bestimmt-
heit auf den Misumenos, aber da von den einzelnen Versen
immer nur 5 — 7 Buchstaben erhalten sind, läßt sich nichts
ergänzen und ist der Papyrus für die Kenntnis des Stückes
vorläufig wertlos.]
3. Alexis.
In derselben Abhandlung veröffentlicht v. Wilamowitz
unter Nr. 5 (S. 743 ff.) interessante Reste von Mumienkar-
tonnage des 3. Jahrh. v. Chr., welche Verse der mittleren
Komödie, aller Wahrscheinlichkeit von Alexis, enthalten.^)
Der Chor beteiligt sich V. 24 ff. in einer Weise an der Hand-^
Ixms, die in der neuen Komödie nicht nachweisbar ist, ander-
seits enthält das kleine Fragment 2 die Notiz ;|jo]()ot), die
i) Die Zuteilung an Alexis beruht einmal auf der Form 7taX]cct-
ctQixäg in V. 23 , die von Phrynichos (242 Lobeck) speziell Alexis zu-
geschrieben wird (fr. 325 Kock), während die älteren Attiker naXaiart-
xog sagen. Daneben auf der seltenen Schwurformel V. 21 f. vi] rov JLa
Tov 'Olviiniov -/.al zrjv 'A9T]väv, die sich bei Alexis im ToKiGzrig fr. 231,
außerdem freilich auch zweimal bei Menander (fr. 402 und 569) findet.
71,6] Zu NEUEREN Komödienfunden. 37
Benutzung des Chors liegt also auf der Linie, die von Aristo-
phanes' Plutos zu Menander führt, uud damit ist die Zu-
weisung an die mittlere Komödie gegeben.
V. WiLAMOWiTz' Auffassung des Blattes ist im ganzen
gewiß zutreffend, aber in Einzelheiten glaube ich von ihm
abweichen zu müssen. Die ersten Verse lauten bei ihm:
(Ä.) rb d]aiii6vLov xa rotavra Tol[g Ttsjtov&ööLV
TCSQi TCQccy^fiattt ixrCd-rjöiy, äkkoxQiav ort
t,cirf[v Eio^isv äjtavtsg, rjv, öxrcci' doKfji^
7tdXi]v TiaQ' ixdörov QUiöCcog acpellsto.
5 aAA'] slöicav ^stä trjg isgecag ßovXo^ui
Ti^v] hm^BkEiav xS)^ TCQoörjxovzav kccßstv.
Da scheint mir die Wortstellung und Konstruktion im
ersten Satz unerträglich hart, ich schlage statt dessen vor:
TÖ d^aiiiövLOv xa xoiavxa xol\g ^vr^xotg öacpri
7taQaöeC'y]uaxa sxxL&rjGiv %xs.
Das Verbum sKxi&ivai paßt für TtaQccösCy^axa besonders gut.
In dem auf die Sentenz folgenden Satz, mit dem der
Sprecher (A.) sein Abtreten von der Bühne ankündigt, nimmt
V. WiLAMOWiTZ xav TtQoörjKÖvxcov persönlich und bemerkt
dazu: „TtQoörjxovxsg werden keine nahen Verwandten sein",
ich halte es für besser, das Wort neutral zu nehmen.^) Der
Sprecher, der den schützenden Tempel der Demeter (V. 12)
glücklich erreicht hat, will mit der Priesterin Sorge tragen
für das, was sich gehört.
Der erste Sprecher ist damit verschwunden, und zu
einem neuen Ankömmlinof sagt der Chorführer, dem v. Wila-
MOWITZ die Worte gewiß mit Recht gibt, wohl eher:
TL Jio]x svkaßsl ßiXxiGxs'^ als xC b\x svXaßsT
(v. WiLAMOWiTz), der obere Querstrich des T steht unter
der ersten Hasta des IT von i^i^eXsLav^ für vier Buchstaben
ist also vor T durchaus Platz.
1) So auch Fränkel, Sokrates VI 366.
,g Alfukp Körtk: f7^<>
l.-h t^'obe die folgemle lebhiifto Szoue im ZusaniinonlmiiR,
obwohl U-h nur für zwei SteUen Änderungsvorscbliigo zu
ruacbeu habe.
(Xo.) TL rrolr EvXaßei ßaTtare; {B) nQb^ &£äv naQsg-
duö]xo^iui yc(Q, xurä xQdrog diwxo^ufa
r..TÖ| ToO xaraQKTOv xhiQovo^ov, Xij(piyüöo^ai.
lo (KX.) iov]. öi'axs l^GJöia, övv(iQ:tu6ov
TÖi/j avdQaTTodiOrriv, Xaße Xäß avrov. ov nsveig;
(B.) 03 (p]iXrdTij Jiuiy]r£Q, dvaTi»y]t^C 6oi
succvTOv a^iö TS <3(Oit,eLV. {KX.) nol öv, Jtol:,
(5.) iJQOv iuf, TiQog T>)r döcpdXsiav h^adl
15 £[öa]x inavTov dvTetaid^i]v xi 601.
(KX.) ovx £6ri]v dötfdXsLa tm 7t£7Con]x6tt
TotaiiT •] dxoXio]v^ei ^ärrov. {B.) a, a, fiaQtvQOiiai,
^aQ\ryQOii v^äg ((vÖQsg. av rijv %£lQd ^ol
lK£]ty]QLia\i xig nQ06(pBQi]t, nsnX-i%£tai
20 7ra](»ax9»>« ^' *^^^^ rdnCxeiQCC Xiji'sraL.
{KX.) xt] (pr]Lg; vnb öov ^aöxiyta; {B.) vrj tbv Aia
xbv\ 'OXv^TiLOV xal xr]v 'A&rjv&v, sv ys aal
^aX]aL6xQixüg, ntiQav ö' tdv ßovXvjL Xaßi.
{Xo) bQ(b\vxEg i)^ilg y oi Ttagövxsg sv&dÖE
25 Ed6]o^tv öE Ttagavo^iEiv Big ttjv ^eov;
{B.) p) xovx]ö y avÖQEg- ev y£ TCQOöTCaC^ELV doxEt.
Der neue vom Chorführer begi-üßte Flüchtling {B.) ist
Sklave, denn er wird V. 21 ^aßriyCa angeredet und gehört
der Partei des ersten Sprechers {A.) an. Da sein Verfolger
(V. 9) als „der verdammte Erbe" bezeielmet wird {KX.), und
dieser ihn 'in der Wut (V. n) dvdguTtodiöx'ng nennt, hat B.
offenbar geholfen, ein Mädchen — an mehrere zu denken,
liegt bei neutraler Auffassung von x&v 7tQo6r,x6vrav in V. 6
kehl Grund mehr vor — voraussichtlich eine Erbtochter, der
Gewalt ihres wirklichen oder angeblichen xvQiog zu entziehen.
Es verdient immerhin Beachtung, daß Alexis, wie vor ihm
Antiphanes, nach ihm Menander, Diphilos und andere, eine
Komödie 'E7iCxXr,Qog benannt hatte. Freilich geben die spar-
71,6] Zu NEUEREN KOMÖDIENFUNDEN. 39
liehen Fragmente dieses Stücks (CAF II 32 2 f. Kock) für
den Inhalt kaum etwas aus, und die Nöte einer bedrängten
Erbtochter können in vielen Komödien verwertet worden
sein. Der verfolgende Erbe ist von einem Sklaven Sosias be-
gleitet, der stumme Person bleibt, mit Gewalt versuchen die
beiden, den Flüchtling vom Altar der Demeter fortzureißen.
Ersänzuno^sschwieriffkeiten macht in der lebhaften Streit-
rede zunächst V. 15. v. Wilamowitz druckt den Anfang
€ . . HK', hält an erster Stelle auch 0, an vorletzter, ob-
wohl er H nicht punktiert, auch Cü für möglich, würde am
liebsten öEöaxa ergänzen, was mit den erhaltenen Resten
unvereinbar sei, während das zu ilmen am besten passende
sörrjxa sich mit s^avrov und avtEta^diiriv rs öol nicht ver-
trage. Mir scheint das von Wilamowitz auch schon erwogene,
aber verworfene sdcjxa die einzig mögliche Ergänzung. Der
Buchstabenrest vor K paßt nach der Photographie für üJ
soffar besser als für H und bei der Breite dieses Buchstabens
füllt er den Raum unter OY von tjqov in dem vorangehen-
den Vers tadellos; ich glaube, außer der rechten oberen Ecke
auch noch ein Restchen der Mittelhasta des Gü zu erkennen,
und an zweiter Stelle Ansatzspuren vom ersten Schrägstrich
des A. Vor allem brauchen wir aber neben dvtsTah,durjv
einen Aorist, und da 6&r]Ka ausgeschlossen ist, wird sich außer
eöcjxa kein Aorist auf -xa finden lassen. Für den zunächst
auffallenden Ausdruck sdaxcc E^avrbv TfQog triv aöcpdXEiav
geben Stellen wie Pol. V 14, 9 cdo'xft yaQ sig rÖTtovg avrbv
dEdcaxavai Ttagaßolovg und Diod. V 59 didovg ö' eavrbv £tg
rag BQrj^Cag hinreichende Analogien.
V. ig. V. Wilamowitz ergänzte den Versanfang zu
ßaxtriQiai und erinnerte an die Stöcke in den Händen der
Bürger, die den Chor bilden. Aber der Ausdruck T7)v %slQd
XLVi 7tQo6(psQE6d-ai ßaxrrjQLcc wäre sehr seltsam, und sachlich
spricht gegen die Ergänzung, daß der Flüchtling nicht ein
Verprügeltwerden auf dem Altar, sondern ein Fortgeschleppt-
werden von ihm zu fürchten hat. Ich ziehe deshalb den Vor-
schlag Fränkels (a. a. 0.) ixsrrjQCoL vor und glaube, daß — •
40 Alfkkd Körte: Zu neueuen Komödhonkunden. [71,6
falls (lio Photograiihie nicht täuscht — auch diu Tintcureste
auf dem zerfaserten Kand dos Tapyrus besser zu IK als zu
BA passen. Persönlichen Gebrauch von Ixsri'jQiOij; belegt
Fränki:l mit Soph. Oed. R. 327 orävTfg 6s TtQoöxvvov^ev
oid' IxTlJQtOl.
V. 24 f. lauten bei v. Wilamowitz
vo^i(t]oiitv öS Tiagavo^etv £ig rijv ^sov.
In dieser Fassung' scheint mir r()/<<'S;o;u£v viel zu zalim,
außerdem setzt der folgende, sicher richtig ergänzte Vers
fii) Tovr\6 y avÖQsg nicht eine bloße Meinungs-, sondern eine
Willensäußerung des Chors voraus. Ich würde xcolvöofisv ver-
muten, aber der Kaum scheint dies ebenso wie vo^Ct,o^ev
auszuschließen. Das erste O steht nämlich genau unter dem
N von aztt]vT£s (oder 6QG)]vx£g), es fehlen also nur 3, aller-
höchstens 4 Buchstaben. Somit ist wohl idöjo^sv^ als Frage,
die gebotene Ergänzung. Der folgende Vers paßt sehr gut
dazu, aber man wird dann in V. 24 statt ajiavtsg wohl
6Qco]vT£g schreiben müssen. Das Nebeneinander der beiden
Partizipien ogcövreg und 01 jtaQÖvrsg ist nicht gerade schön,
steht aber ähnlich in V. 16 des Misumenos Papyrus a jcod-ov-
[isvog (pavelg. Den folgenden Vers gibt v. Wilamowitz an-
scheinend dem Verfolger, ich natürlich dem Flüchtling, der,
erfreut durch die Äußerung des Chorführers, den Chor be-
schwört, die Verletzung des göttlichen Rechtes nicht zu
dulden. Das wird auch durch die Worte ev ys 7iQoöJiait,ELv
doxsi empfohlen, die man am natürlichsten auf den Verfolger
bezieht.
Bericilte über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologisch-liistorisclie Klasse
71. Band. 1919. 7. Heft
Richard Heinze
Ovids elegische Erzählung
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1919
Vorgetragen für die Berichte am 2. Februar 19 18.
Das Manuskript eingeliefert am 24. September 1919.
Druckfertig erklärt am 18. Februar 1920.
Ovid liat den Raub der Proserpina zweimal erzählt, im/
vierten Buch der Fasten (v. 417 — 620) und im fünften der
Metamorphosen {v. 341 — 661), beide Male in großer Ausführ-
lichkeit — die Fastenerzählung ist die längste elegische Er-
zähluno- die wir aus dem Altertum besitzen — , beide Male
ohne daß der Plan der Werke es unbedingt forderte. Die
Fastenerzählung geht weder darauf aus, den Cereskult über-
haupt zu begründen — denn gerade die Einführung des Ge-
treidebaues, die in den einleitenden Versen 395 ff. als Wohl-
tat der Göttin gepriesen wird, ist in der Erzählung selbst
ganz kurz (569 ff.) und keineswegs mit besonderer Betonung
erwähnt — , noch haben die zahlreichen beiläufig angemerk-
ten ai'tia griechischer Kultbräuche nähere Beziehung zu den
Riten der ludi Ceriales, an die der Dichter mit exigit ipse
locus, raptus ut virginis edam seine Geschichte leichthin an-
knüpft. In den Metamorphosen ist die Erzählung, die in
ihrem Kern auf keine Verwandlung hinausläuft, nur der un-
nötig breite Rahmen für eine Reihe von Verwandlungssagen,
unter denen die Metamorphose der' Cyane von Ovid erfunden,
die der Sirenen aus eigener Erfindung begründet zu sein
scheint, die der Arethusa gezwuno;en genug herangezogen
wird, während die reizlose und flüchtig erzählte Lynceusge-
schichte einen unorganisch angeflickten Schluß bildet. Ovid
hatte seine beiden großen Werke gleichzeitig in Arbeit; man
fragt sich, was ihn dazu bewegen mochte, ein und denselben
Stoff in beiden so ausführlich zu behandeln. Offenbar hat
ihn gerade die Schwierigkeit der Aufgabe gereizt, die darin
lag, bei diesem Unternehmen lästige Wiederholung zu ver-
Puü.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 7. I
2 RiciiAUu IIf.inzk: [71,7
moiden. hls liat in dvv Tut nuch l'ür den heutigen Leser eincMi
eigenen Heiz zu sehen, wie verschiedene Form der iu ch'u tJrund-
zügen durchaus gleiche Mythus gewinnt, je nachdem ihn der
Aetien- oder der Metamorphoseudichter darstellt. Die sach-
lichen Diskrepanzen, die sicli hieraus ergeben, hat die neuere
Forscliung scharf ins Auge gelaßt, geleitet namentlich durch
die Frage nach den Quellen Ovids. Als das Ergebnis, das
vor allem einer Untersuchung L. MaltknsM zu verdanken
ist, sehe ich an, daß wir für die llauj)tgeschichte nur mit
einer Quelle, einem hellenistischen Gedicht (vielleicht einer
Elegie des Kallimachos) zu rechneu haben, dem sich Ovid
in den Fasten näher anschloß als in den Metamorphosen.
Über der sachlichen Analyse ist aber eine andere und, wie
mir scheint, für das Verständnis ovidischer Kunst wichtigere
Frage gänzlich übersehen worden. Die Fasten sind ein ele-
gisches, die Metamorphosen ein episches Gedicht. Sollte die-
ser Unterschied auf die metrische Form beschränkt sein?
Das ist von vornherein bei der Bedeutung, die Ovid und
andere römische Dichter dem Unterschied der beiden Gattun-
gen beimessen"), wenig wahrscheinlich. Eine Prüfung des
Erzählungsstils beider Fassungen wird die Frage entscheiden.
i) Hermes 45 (19 10), 506. S. auch Wilamowitz, Berl. Sitzungsber.
1912, 535-
2) S. die Stellen bei Dilthey, de Callimacbi Cydippa p. i. Für un-
sere Frage kommt weniger in Betracht die beliebte Gegenüberstellung
der erotischen Elegie und des heroischen Epos, als Äußerungen wie
fast. U 125 quid volui demens elegis imponere tantum ponderis? heroi
res erat ista pedis (nämlich die Verherrlichung des Augustus als pater
patriae) oder ex P. III 4, 85 ferre etiam molles elcgi tarn vasia triumphi
pondera disparihus non potuere rotis. Diesem Gegenstande, hieß es
vorher, wäre selbst der Sänger der Aeneis nur mit Mühe gerecht ge-
worden, über mollis als Epitheton constans des elegischen Maßes s.
Rothstein zu Properz I 7, 19; Skuxsch, Gallus und Vergil 20, i (wo
aber Ciris v. 20 mißdeutet ist}. Vgl. auch Statius' gesuchte, aber
charakteristische Bezeichnung der Elegie als dulce . . Jieroos yressu trun-
care tenores silv. I 3, 98 und die Elegea ctlsior adsueto ebd. I 2, 7
(sonst also humilis, wie der elegische Dichter vom epischen taxiert
wird Prop. I 7, 21).
71,7] OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. 3
I.
Hauptinhalt der Geschichte ist das Suchen der Ceres
nach der geraubten Tochter. In den Fasten ist alles Gewicht
darauf gelegt, den Schmerz der Mutter nachempfinden zu
lassen: nie miseram ist ihr erstes Wort, als sie aus den
Klagen der Gespielinnen das in ihrer Abwesenheit geschehene
Unglück erschließt; von Sinnen, wie eine Mänade stürmt sie
dahin. Der Dichter yergleicht sie mit der säugenden Kuh,
der man das Kalb genommen hat, mit Philomele, die um
Itys klagt; ihre gemitus v. 461, miserae querdae v. 48 1; mae-
stissima sitzt sie auf der äysiaörog tcstqu nieder; sie weint
bei dem Gedanken an den Gegensatz zwischen einst und jetzt,
und Tränen des Mitleids vergießen bei diesem Anblick
Celeus und seiue Tochter (521); als sie endlich Nachricht
über den Raub erhält, qiiesta diu secum, ehe sie sich an
Juppiter wendet, und als entschieden ist, daß Proserpina der
Unterwelt verfallen, non secus indoluit, quam si modo rapia
fuisset, maesta parens, longa vixqiie refecta mora est. Das Bild
der in schmerzlichste Trauer versenkten ist durchofäno-io-
festgehalten und in immer neuen Wendungen eingeprägt. In
den Metamorphosen hören wir nicht, wie Ceres von dem
schweren Schlag zuerst getroffen wird; nachdem Pluton mit
seinem Raub verschwunden und Cyane im Schmerz um die er-
littene Kränkung zerflossen ist, heißt es, vergleichsweise ruhig,
interea pavklae nequiquam filia matri omnibus est terris, omni
quaesita profundo 438; die erste Tat, die von der Irrenden
berichtet wird, ist die Bestrafung des vorwitzigen Ascalabus;
als ihr Cyane den Gürtel der Tochter entgegenhebt, trifft sie
das freilich, tamquam tmic denique raptam scisset (471), aber
der Schmerz äußert sich in leidenschaftlicher Wildheit, sie
zerreißt sich das Haar und zerschlägt sich die Brust, und im
Zorn über den vermeintlichen Undank der Erde sendet sie
Mißwachs und Unfruchtbai-keit; ihre saevitia und ira werden i
anschaulich geschildert. Die Entdeckung des Raubes durch
Arethusa läßt sie zunächst zu Stein erstarren, bis dolore pulsa
gravi gravis est amentia und sie flugs zu Juppiter eilt. Und
J
^ UiciiAKi) Hkin/.k: (7'. 7
wio sii-h hier ihre lliütuii}; von der C»M-eB der Faston unter-
scheidet, 80 sind auch die Worte, die sie an den Gatten, den
Vater der Gerauhten, richtet, hier und dort hei alh-r nahen
Ähnlichkeit charakteristis.h nuanciert. Statt der Einführung
der Fasten sie est adfata Tonanion, maximaquc in voltu signa
doloifis rra)if, die von neuem den Sclinier/, und ihn allein her-
vorhebt, heißt es liier toto iiiihila voltu ante lovcm passis
sfttit incidiosa capiUis. Die Reden seihst setze ich ganz her:
Met. 514
proquc meo veni supplcx iihi, luppiter, i)iqnit,
mmjuine, proque tiio. si nulla est (jratia matris,
nata patrem movent, neu sit tibi cura precamur
vilior illinSj quod nostro est edita partu.
en quacsita diu tandcm mihi nata reperta est,
si reperirc vocas amittere ccrtius, aut si
scire nbi sit reperire vocas. quod rapta, feremus,
dummodo reddat eam. neque cnim praedone marito .
ßia digna tua est, si iam mea filia non est.
Fast. 588
si memor es, de quo mihi sit Proserpdna nata
dimidiam curae debet habere tuae.
erbe pererrato sola est iniuria facti
cognita. commissi praemia raptor habet,
at neque Fersephone digna est praedone marito,
nee gener hoc nobis more parandus erat,
quid gravius victore Gycje captiva tulissem,
quam nunc te caeli sceptra tenente tuli?
verum iiyipune ferat, nos hacc patiemur inultae;
reddat et einendet facta priora novis.
Die Stilisierung der Metamorphosen mit ihren durchge-
(führten Antithesen ist die der Rede, kouzis und energisch,
ohne poetische Floskeln; wolilberecLnete Steigerung in dem
auf den Anfangssatz zurückweisenden Schluß. Die Ceres der
Fasten spricht in gewählteren Wendungen {dimidium curae,
commissi praemia, te caeli sceptra tenente, emendet etc.), mit
71)7] OviDs ELKGiscHE Erzählung. 5
kaum merklicher Verwendung rhetorischer Kunstmittel. Sie -
beklagt sich über die erlittene Unbill mehr, als daß sie sich
beschwerte; sie appelliert fast schüchtern an Juppiters Vater-
schaft; sie sucht ihn zu rühren, erwälmt ihr weltweites Irren,
die Demütigung, der sie unter Juppiters Szepter ausgesetzt
war; aber sie verzichtet in Ergebenheit auf Strafe und Kache,
wenn nur der Räuber die Tat wieder gut macht. Sehr anders
die Ceres der Metamorphosen. Sie, die große Göttin, muß
dem Juppiter supplex nahen, und zwar für sein eigenes Blut:
schon darin liegt ein Vorwurf. Wie hart, fast gehässig klingt
das si nidla est gratia matris und erst recht die Begründung
des folgenden; wie bitter das effektvoll hingeworfene en . .
tandem reperta est und das ironische si . . tocas; wie schroff
die Bedingung, unter der sie den Raub hingehen lassen will.
Nicht das Mädchen ist, wie in den Fasten, praedone marifo
indigna, sondern 'deine Tochter': damit appelliert sie an die
verletzte Würde des Götterkönigs, um endlich mit einer
Pointe zu schließen, aus der ihr ganzer ohnmächtiger Zorn
spricht. Jeder Versuch, das Mitleid des Hörers zu erwecken
unterbleibt; man empfindet, daß diese Ceres glauben würde,,
sich dadurch zu erniedrigen.
Juppiters Antworten sind, um dies gleich anzuschließen,
dem verschiedenen Tenor der Anreden entsprechend variiert.
In den Met. erkennt er zunächst den Anspruch der Ceres
auf seine Teilnahme für Proserpina an (commune est pigmis
onusque nata mihi tecum), stellt sich dann der Anklage gegenüber
auf den status definitivus (*. e. cum in controversia est, quo
nomine factum appelletnr auct. ad Her. I 2 1 : si modo nomina
rebus addere vera placet, non hoc iniuria factum, verum amor
est), widerlegt endlich die Behauptung, daß Pluto der Ge-
raubten nicht würdig sei, mit starker Betonung seiner eigenen
Würde und in rhetorischer Steigerung (ut desint cetera, quan-
tum est esse lovis fratreml quid quod non cetera desunt, nee
cedit nisi sorte mihi!). Versprechen und Bedingung seiner Er-
füllung schließt mit Emphase: sie Parcarum foedere cautum
est. In den Fasten dagegen 'entschuldigt' er den Bruder, ge-
6 IxiciiAUi) IIkin/.k: [7^7
stillt ihm jj^leifluMi Kuntj; mit siili selbst zu (non cgo nn-
hilior) uiul stellt die dri'i lu'iche einander gleich, vers})richt
nicht autoritativ repcfrt Proserpina cadum, sondern erklärt sich
zum Versuch bereit {Jwc (juoquc tmiptoutis); der Schluß einla-
cher als dort infertil e(miti</is uxor erit. Man sieht, die Ma-
jestät des Götterkönigs ist hier gellissentlich gedämpft.
Als Juppiter den Pakt mit Pluton geschlossen hat, daß
die Gerauhte für die Hälfte des Jahres zur Mutter zurück-
kehre, setzt nach der Erzählung der FastsiU- die Getröstete
sich den Ährenkranz aufs Haupt, largaqne provenit cessatis
7uessis in herbis. Vorher ist nichts davon zu lesen, daß Ceres
in ihrem Groll Mißwachs gesendet habe. Das hat Ovid na-
türlich nicht, wie man sagt, 'vergessen' zu erwähnen: die Ceres
der Metamorphosen, in* blinder Wut die unschuldige Erde
strafend und ihr eigenes VV'erk vernichtend, steht in schroft-
stem Widerspruch zur Ceres der Fasten, die selbst in ihrem '
Gram sich als Wohltäterin im Hause des Celeus und an der '
gesamten Menschheit erweist.
Pluto tritt in den Fasten sehr wenig hervor; zwei Disti-
cha sind dein Raub und dem Hinabfahren zur Unterwelt ge-
gönnt; seiner Liebe ist nur in Juppiters Entgegnung mit
einem Wort gedacht — beim Raube selljst hören v^ir nur
hone vifJet et visam patrims vclociter aufert. Es ist, als wollte
der Dichter den finsteren höllischen Spuk möglichst bald
wieder verschwinden lassen, um die zarten Farben seines Ge-
dichts nicht zu trüben. Ganz anders in den Metamorphosen.
Die reich ausgeführte Einleitungsszene zeigt uns den rex si-
lentum, der cursu atrorum vediis equorum die Insel Sizilien
umfährt, um sich zu vergewissern, daß das Toben des Ty-
phoeus die Grundfesten der Erde nicht erschüttere und
einen Spalt bis zur Unterwelt aufreiße; Venus erblickt ihn
und heißt Amor, ihn mit seinem Pfeil zu treffen und so auch
den Tartarus sich Untertan zu machen; zugleich der Perse-
phone, die Jungfrau zu bleiben hoffe, dies zu verwehren. Flugs
gehorcht Amor dem Gebot. Der Erfolg bleibt nicht aus:
X>aene simul visa est cUlectaque raptaque Diti. Seine Fahrt
7I,7J OVIDS ELEGISCHE ErzÄHLUNÖ. 7
wird anschaulich beschrieben (402 — 407); als ihm Cyane in
den Weg tritt, entbrennt sein Zorn (420),
terribilesqice hortatus equos in gurgitis ima
conf ortton valido sceptrum regdle lacerto
condidit; icta viam Tcllus in Tartara fecit
et pronos currus medio cratere recepit.
Ovid ist in diesen Partieen, meine ich, ganz selbständig ,
voro-eo-ano-en: so gut wie die Umgestaltung der Cyanemeta-
morphose ist die Motivierung der Liebe durch den Schuß j
Amors und die Anknüpfung an den Typhoeusmythus sein
Werk.^) Die Tendenz liegt offen zutage: Annäherung an das/
Epos. Die Szene zwischen Venus und Amor hat ihre näch-
sten Vorbilder bei VirgiP) und ApoUonios; erhabener als bei
diesen wird das Eingreifen der Göttin durch den Wunsch be-
gründet, ihre Macht auch über die Unterwelt auszudehnen./
Der Räuber selbst erscheint in der ganzen Majestät des tyran-
nus der Unterwelt; um dur.ch Kontrast zu wirken, sind bei
Proserpina geflissentlich die noch kindlichen Züge betont.^)
Das Blumensuchen ist dagegen hier sehr viel kürzer behan-
delt als in den Fasten. Da verweilt der Dichter lange bei
i) Mat.ten (a. a. 0. 519. 532) nimmt das alles für Ovids Autor in
Anspruch. Aber gerade wenn dies Kallimachos war, traue ich dem
feinen Künstler nicht zu, daß er den Eingang seiner Elegie mit einer *
weit ausholenden Szene beschwert hätte, die für den Kern des Gedichts ^
bedeutungslos war. Für die Met. ist sie als Übergang ganz am Platze,
und die Haupterzählung schließt unmittelbar an: nach der Ortsbe-
schreibung führt V. 391 den Bericht, der 384 abbrach, weiter: 396 usque
adeo est propcratus amor. Der breit ausgeführte Eingang der Fasten-
erzählung würde jene Götterszene unliebsam isolieren. — Daß Venus
373 fg. fürchtet, Proserpina werde immer Jungfrau bleiben, ist kein
glücklicher Einfall Ovids, der damit nur die Hauptperson schon hier
einführen will: das Mädchen ist ja noch ein halbes Kind, und zudem
kann der Liebesgöttin nichts daran liegen, daß Proserpina wider
ihren Willen Gattin Plutons wird.
2) An dessen Verse Aen. I 664 Ovid sich v. 365 fg. unmittelbar
anlehnt.
3) ludit; puellari studio (so Fast. 433 von den comi'es); aeqiiales
certat superare legendo; tayitoque simpUcitas piierilibiis adfuit imnis.
8 Kicii \i;ii IIkin/k: [71, 7
dem lieblichen Bilil (4,^1—444), wie uaclilier bei dein idyl-
lisch-rilhronden Gomiilde des armen Celeus uud der Seinen:
das würde /iir Erlinbenlieit der Metainorpliosenerziililuni: nieht
stimmen. /
Eini<re Einzelheiten raupen das Gesamtbild des Gegen-
satzes ergänzen. In den Fasten hat Arethusa die himmlischen
matns /um Schmaus ^'eladen; auch Ceres nimmt daran teil,
und so ist die Tochter unl)e\vacht zu Uau.s geblieben. Dies
Motiv aus bürgerlicher Sphäre verschmäht lUis Epos; es
vevzichtct lieber darauf, die Abwesenheit der Ceres während
des Raubes zu motivieren. — Als Ort des Kaubes nennen
die Metamorphosen den tiefen, waldumschatteten See Pergus,
hatid procul Hennaeis a moenihus; dies, man möchte sagen
feierliche Bild wird noch gehoben durch den von Ovid gewiß
erfundenen Zug, daß die Wellen des Sees Schwäne singen
hören so zahlreich wie der Caystrus; perijctuum ver est schließt
die Schilderung hyperbolisch; wie im goldenen Zeitalter ver
erat aeternum Met. I 107. In den Fasten wird nicht das Bild
der ummauerten Stadt Henna, sondern das der fruchtbaren
Landschaft erweckt (culto fertUis Henna solo), und den Ort
des Raubes beschreibt der Dichter, soviel wir wissen, ohne
jeden Anhalt an der Tradition, als in einem schattigen Tal
gelegen, wo das zerstäubende Naß fallenden Wassers einen
reichen Blumenflor sprießen läßt: ein idyllisches Plätzchen,
wie es die Elegie zu schildern liebt. ^) — In den Fasten ist
i) Auch hier kann ich Malten nicht folgen (a. a. 0. 526), wenn
er Ovids Quelle durch Kombination der beiden Fassungen rekonstruiert.
Die Ortsschilderung Diodors V 2, von der Malten ausgeht, ist, durch
Schuld des Schriftstellers oder der Abschreiber, völlig verwirrt (s. 0.
Rossbach, Castrogiovanni [Lpz. 1912] 15). Die Topographie der Met. —
Hain {ex Hennensium nemore Cic. Verr. IV 106) am Pergussee unweit
Henna — entspricht der durch Timaios übei'lieferten Lokaltradition
(nur daß diese, wie es scheint, den See erst nach dem Baube ent-
stehen ließ, Cic. 107); der See ist etwa 2 Stunden von Heuua entfernt,
natürlich nicht auf der Stadthöhe gelegen. Die Tüi>ographie der Fast«n
ist ganz konventionell. Was Ovids poetische Quelle bot, läßt sich nicht
sagen.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 9
reichlicher Gebrauch von direkter Rede gemacht, auch abge-
sehen von dem Gespräch der Ceres mit ihren Gastfreunden;
wir hören die Worte, mit denen Proserpina ihre Gespielinnen
zu den Blumen ruft, ihre Klage bei der Entführung, die
suchenden Rufe der Mädchen, den ersten Schmerzensschrei
der Ceres, ihre Rufe nach der Tochter, ihre Frage an die
Begegnenden. All diese eingestreuten, die Erzählung beleben-
den, aber feierlich gehaltenem Tone nicht gemäßen Stücke
und Stückchen direkter Rede fehlen in den Metamorphosen;^
hier beschränkt sich der Dichter, im Stile Virgils, auf die
beiden beschwörenden längeren Reden der Cyane und Are-
thusa und auf die oben analysierte Verhandlung mit Juppiter;
selbst bei der Ascalabusmetamorphose ist auf die so nahe-
liegende Einführung direkter Rede verzichtet. — Die Tendenz
bringt es in den Fasten mit sich, daß die Erzählung mehr-
fach unterbrochen wird durch die ätiologischen Anmerkungen
des Dichters: 494 hinc Cereris sacris nunc quoque taeda datur;
504 ülud (saxum) Cecropidae nunc quoque triste vocant; 535 quae
quia principio posuit ieiimia noctis, tempus lidbent mysiae sidera
Visa cibi; dazu kommt, mit sententiöser Einleitung 507 fors
sua cuique loco est: quod nunc Cerialis Eleusin dicitur, hoc
Celei rura fuere senis. In seiner poetischen Quelle wird Ovid
noch mehr dergleichen Hinweise gefunden haben, die er
unterdrückt hat: an die Erwähnung der Schweine, die die
Fußspuren der Proserpina unkenntlich gemacht haben (466),
war gewiß eine Bemerkung über die Schweineopfer im Ceres-
kult geknüpft; Ovid hat dies früher (I 34g) schon anders
motiviert und wohl deshalb hier auf den Zusatz verzichtet.
Mit dem Mohn (532. 547) und den Schlangen (497) mag es
ähnlich stehen. In den Metamorphosen fehlen solche dem
echt epischen Stil nicht gemäße Unterbrechungen; auch die
Form der praeteritio dicere longa mora est 463 ist weniger
subjektiv gefärbt als die entsprechende der Fasten 573 quo
feror? immensum est erratas dicere terras. — Endlich mag
noch als für den Stil charakterisch der häufige Gebrauch
der Apostrophe in den Fasten erwähnt werden: außer bei
lO RiciiAun IIkinze: [7Ii7
i
Ortsnainou (,458. 468. 470. 499. 500. 502 und, mit Bozujr iuil"
des Dichters Gegenwart 572 ie, future pamis Tliyl>ri poicntis
aqiuie) noch 439 has In/acinthe ivnes, illas amiirnntc moraris
uud 548 papavera . . dat tibi . . hihcnda imcr. In der Meta-
niorpbosenerzählung niclits dorgleiclien.
Wir dürfen nach dem allen zusammenfassend sagen: Ovid
hat in den hoiden Kedaktionen seiner Gescliichte Beispiele
zweier Typen der poetischen Erzählung, offenl)ar mit vollem
Bewußtsein, einander gegenübergestellt. In der Metamorphosen-
erzählung herrschen starke aktive Affekte, jähe Liebe und
jäher Zorn, in der Fastenerzählung weichere Empfindungen,
schmerzliche Klage und Mitleid. In den Metamorphosen ist
die göttliche Majestät der Personen geflissentlich gesteigert;
in den Fasten wird die Gottheit vermenschlicht. Die Schil-
derung der Metamorphosen bevorzugt das Grandiose, die der
Fasten das idyllisch Anheimelnde. Der Stil der Erzählung
wahrt in den Metamorphosen eine gewisse feierliche Würde;
der der Fasten ist lebendiger, beweglicher^); jener hält streng
fest an der Objektivität der Rhapsoden; die Fasten lassen die
Persönlichkeit des Erzählers und seinen Gegeuwartsstand-
punkt mehr hervortreten.
Ist der geschilderte Unterschied der beiden Erzählungen
ein genereller Unterschied zwischen Metamoi^phosen und
Fasten? und dürfen wir sonach den Erzählungsstil der Fasten
I als elegischen dem epischen der Metamorphosen gegenüber-
isteUen?
2,
Es ist oft ausgesprochen worden, daß den ovidischen
Göttern Erhabenheit und Würde fehle. Im Vergleich etwa
mit den virgilischen_ trifft dies Urteil ohne Zweifel zu, aber
nicht für alle Werke Ovids in gleichem Maße. An die Rea-
lität der mythischen Götter glaubt der eine Dichter ebenso
wenig wie der andere; aber während der Dichter der Aeneis
sie als Vertreter der nicht sichtbaren und nicht dai-stellbaren
i) Über den Spracbstil, den ich vorläufig beiseite lasse, s, unten
im Abschnitt 8.
71,7] Ovms ELEGiscHt: Erzählung. ii
einen Gottheit, an die er glaubte, in einem Abglanz der
dieser wahren Gottheit zukommenden Erhabenheit sah und
darstellte, bedeuteten sie für Ovid nichts als ein poetisches
Spiel^ das mit den Gottheiten des römischen Kultus, an dessen
Nützlichkeit er glaubte, nur durch ein loses Band verknüpft
war. Die Frage, wie diese mythische Götterwelt im Gedicht
darzustellen sei, ist für ihn keine Glaubens-, sondern eine
Stilfrage, und er hat sie für die Metamorphosen anders be- '
antwortet als für die Fasten: dieser Unterschied hat bisher,
soviel ich sehe, keine Beachtung gefunden.
In den Metamorphosen ist Ovid sichtlich bestrebt, die
Götter, soweit und sooft es sein Stoff irgend gestattet, mit
einer Majestät zu bekleiden, wie sie nach seinem Stilgefühl
der Würde epischer Dichtung zukommt; Virgil ist dabei sein
Führer gewesen. Er eröffnet die eigentlich mythische Er-
zählung mit einem concilium deorum eigner Erfindung (1 162 ff,),
das er mit aller Würde, die ihm zu Gebote steht, ausmalt,
und in dem insbesondere Juppiter, der zürnende Rächer, eine
nach des Dichters Begriffen höchst majestätische Rolle spielt.
Wenn freilich sonst irdische Majestät sich durch eine An-
leihe bei der himmlischen zu erhöhen sucht, so steht es hier
umgekehrt: das Idealbild, das dem Dichter vorschwebt, ist
das einer Senatssitzuug im Kaiserpalast, in der Augustus den
patres die Entdeckung einer gegen sein Leben gerichteten
Verschwörung kundtut.^) Ovid hält darauf, den Götterkönig
i) In Lucilius' concilium deorum wirken die Reminiszenzen an den
römischen Senat absichtlich parodisch; Ovid meint den Olymp zu T
ehren, wenn er ihn dem Palatin angleicht. Daß Lykaon den Plan-'
faßt, Juppiter bei Nacht zu ermorden — eine künstlerisch recht schwache
Dublette zu dem auch von Ovid beibehaltenen traditionellen Frevel —
ist nur erfunden als Gegenbild zu dem denkbar höchsten Frevel auf
Erden, dem Attentat auf die geheiligte Person des princeps. Die letzte
Szene der Metamorphosen spielt gleichfalls im Olymp; da ist der
Gegenstand der Verhandlung die geplante Ermordung Cäsars. Auch
sie wird gerächt werden: aber der Rächer ist hier nicht Juppiter, son-
dern der von ihm zu diesem Amt bestellte Augustus (XV 821). Juppi-
ter mußte einst das sündige Menschengeschlecht vertilgen; Augustus
wird es durch sein Beispiel bessern (834). ' \
12 IJiciiAHi) Hi;rN/K: 71 7
bei diesem seiueu ersten Aui'treteu aucli ixls den uin »las
Wohl der Welt besorgten llerrselier und Erlialter zu kenn-
i/XMchnen*); aber das tritt /uriiek hinter dem Amt des Kücliens
und Strafeus, in dem sich für Ovid die göttliche Majestät
am mächtigsten und erliabensten dartut. Das Motiv der
ira iicorum war freilich durch den Stolf der Metamorjdiosen
nahegelegt; aber Ovid verwendet es offenbar mit beson-
derer Vorliebe und weiß es oft genug wirklich grandios aus-
zuführen; wenn er dabei den Frevel der dem göttliclien
Zorn Verfallenen geflissentlich steigert, so soll dies da7Ai
dienen, in der Strafe das erhabene Walten göttlicher Ge-
rechtigkeit deutlicher fühlen zu lassen.'^) Aber Ovid sucht
1) cuncta prius temptata (raan sieht nicht recht, was das ge-
wesen sein soll), sed inmedicdbilc corpus esse recidcndum, ne pars sin-
cera trahatur. Es wirkt ungewollt komisch, daß Juppiter sodann seinen
Vernichtungsplan mit der Sorge um die seviidei auf Erden motiviert,
die vor den bösen Menschen geschützt werden müßten; aber das Motiv
stimmt durchaus zum Ganzen der Metamorphosen, in denen überwiegend
Yerschuhlung gegen die Götter, impietas, gestraft, Frömmigkeit be-
lohnt wird: beides in ganz anderem Sinne verstanden als bei Virgil.
2) Dahin gehört die neue Fassung des Lykaonfrevels, s. Ehwai.d zu
I 226. Weitere Beispiele: Erysichthon ist bei Kallimachos (Hymn. in
Dem.) ein roher junger Bursch, der, um sich einen neuen Speisesaal
zu bauen, im heiligen Hain der Demeter Bäume fällen läßt und die
Priesterin Nikippa (in deren Gestalt die Göttin warnend zu ihm tritt)
mit brutaler Drohung abweist. Bei Ovid (VIII 738 ff.) wird er von
Toruherein als Verächter der Götter (wie Virgils Mezentius) eingeführt;
als die Knechte zögern, den heiligen Baum zu fällen, greift er selbst
zur Axt und spricht lästerliche Worte gegen die Göttin; aus den Wun-
den des Baumes fließt Blut (wie in Virgils Poljdorosepisode) ; auch das
macht den Frevler nicht in-e, er erschlägt mit eigener Hand seinen
Warner und führt das Werk durch, trotzdem nun die klagende Stimme
der Dryade aus dem Baum tönt und ihm Strafe prophezeit. So ist
Erysichthon nicht nur gottlos, sondern doppelter Mörder, des Menschen
und der Nymphe: diesem Motiv zuliebe läßt Ovid Ceres selbst bei der
Tat nicht auftreten, sondern er.=it nachher durch die Nymphen um Be-
strafung des Frevlers gebeten werden. (Lafaye hat in seinem ausführ-
lichen Vei'gleich der beiden Erzählungen, Les metamorphoses d'Ovide
et leurs modeles grecs, Paris 1909, S. 132 ff., das Entscheidende nicht
erkaniit, daß eben Ovid die kallimacheische in primitivem Märchenton ,
71 , 7j OVIDS ELEGISCHE ErZÄHLUNO. ^ 3
die Erhabenheit des Göttlichen nicht ausschließlich in ihrer
Strafgewalt; ich erinnere nur an die regia Solis (II i ff.)? den
Hymnus auf Bacchus (III uff-), die Apotheose des Herakles
(IX 239 tf.), die Einholung des Asclepius (XV 622 ff.); in die-
sem letzten Stück hat der Dichter die schwierige Aufgabe,
die Schlange als Inkarnation des Gottes empfinden zu lassen
und im Leser etwas wie einen horror sacer zu erwecken,
meisterlich gelöst.^)
gehaltene Geschichte ins 'Epische' übersetzt. Darum fällt weiterhin
alles realistische Detail weg — die Ausflüchte der Mutter, die Auf-
zählung der von dem hungernden verzehrten Tiere — ; darum darf
nicht Ceres selbst den Hanger senden, sondern muß, nach dem epi-
]schen Schema, eine Botin an den Dämon Farnes abordnen und diesen
'mit der Strafe beauftragen; die '^yitpgaaig der Farnes nach dem Vorbild
von Virgils Fama. Demeters Worte Kall. t. 63 fg. mit ihrem bitteren
Witz und dem Schimpfwort xvov würden in Ovids Stil nicht passen.)
— Die GeBchichte von Latona und den groben lykischen Bauern (über
die jetzt im Hermes 53, 1918, 236 ff. Kurioses zu lesen steht) hat
Ovid VI 331 dem Nikander (bei Antonin. Lib. 35) nacherzählt, verein-
fachend und nach seinem Geschmack verbessernd: bei Nikander will
Latona ihre Kindlein in der Quelle Melite baden, Hirten verjagen sie,
um ihre Rinder zu tränken. Bei Ovid ist Latona auf der Flucht vor
Juno, verschmachtet vor Durst und will nur einen Trank aus dem Teich
tun, an dem die Bauern Rohr und Schilf sammeln: sie wehren der
Armen und, als sie flehentlich bittet, drohen sie und schimpfen und
springen ins Wasser, um es zu trüben: also gemeine Bosheit und Grau-
samkeit dazu. (Die Metamorphose ist bei Ovid sehr viel hübscher ein-
geführt; die Frösche, die im Wasser springen und schimpfen, setzen
fort, was die Bauern getan hatten. Nikanders Arjrco . . liQ-ca xQu^^st
xvTtxQvau xcc växa xai toi'S wfioug v.axi^ulz nävxag slg x)]v v.Qrivi]v ist
einer ovidischen Göttin unwürdig.) Dann vergißt die Göttin ihren
Durst über dem Zorn und hebt sich zu rächender Größe; bei Nikander
nimmt sie erst nach der Rückkehr vom Xanthos Rache: das mußte das
Pathos des aufbrausenden Zorns schwächen. — Das gleiche Verfahren
ist z. B. bei Niobe sehr wahrscheinlich, aber nicht sicher nachzuweisen.
I) Der Vergleich mit der in manchem nahe verwandten Fastener-
zählung von der Einholung der Magna Mater (IV 249 ff.) ist lehrreicii:
da ist gar kein Versuch gemacht, die religiöse Bedeutung des Vorgangs
und die Erhabenheit der großen Göttin wirklich fühlen zu lassen; das
Interesse liegt wesentlich auf der Claudia-Episode, also dem mensch-
lichen Beiv.erk.
(
14 Kit II \i{i> IfKiN/.n: [71, 7
Restlos lioli sii'li mm IVeilioli ^['\v^^' Subliinii-rung nic-lit
durchführen, weder für die olympischen Untertanen Juppiters
noch für diesen selbst. Eine böse Kli])pe waren vor iilleui
die nach dem Plan des Gedichts unvermeidlichen Liebesaben-
teuer der Götter, zu deren Darstelhnif^^ es den Dichter ^cwiü
im Grunde besonders 7.o>^, und die doch mit vielem Takt
behandelt sein wollten. Zwar, daß Götter zu irdischen Frauen
in Liebe entbrennen und sich ihrer bemächti^'on, war ein in
der mythischen Dichtun<r jeden Stils so allgemein<,ailtiges
Motiv, daß Ovid nicht entfernt daran denken konnte, hieran
Anstoß zu nehmen. Aber wenn es nun galt, diese Abenteuer
in dem ganz auf Detailzeichnung angelegten Stil der Meta-
morphosen zu erzählen, so lag die Gefahr nahe, die göttliche
Würde dadurch zu beeinträchtigen, daß sie der Dichter einer
Leidenschaft erliegen ließ, die er selbst so oft und mit sol-
cher Virtuosität als Schwäche, ja als Krankheit, und dann
wieder in leichtfertigen Elegien als nequitia besungen hatte.
Beide Auffas-sungen waren nach Ovids Empfinden im Grunde
der göttlichen Hoheit, wie sie dem Epos ansteht, nicht würdig.
So erscheint denn göttliche Liebe zumeist einfach als herri-
sches Verlangen, das ohne Werbung zum Ziel führt. Auch
wo es anders steht — und die feststehende Sage nötigte dazu,
solche Ausnahmen zuzulassen — ist es unverkennbar Ovids
Bestreben, möglichst wenig von der göttlichen Erhabenheit
aufzuopfern.^) Vollends die burleske Darstellung göttlicher
Liebe bleibt dem Epos fern. Zwar erzählt eine der Minyaden
IV 171 — 189 die lustige Geschichte vom Ehebruch des Mar.s
und der Venus — nicht um ihrer selbst willen, sondern als
Einleitung zu der Geschichte von Sols Liebe zu Leucothoe"),
i) S. den ersten Anhang.
2) Diese Liebe flößt ihm Venus ein, um ihn für sein indicium
zu strafen; Strafe aber ist nicht eigentlich die Liebe, sondern ihr für
den Gott so bitter schmerzlicher Ausgang, der gleichfalls durch das
indicium (237. 257) einer dritten Person herbeigeführt wird. So wird
der Gott mit der eigenen Waffe verwundet, und die so heiter begin-
nende Geschichte endet tragisch.
7f,7j OviDS ELEGISCHE ErzÄIILUKG. I5
und daher nicht in der breiten Ausführung einer Haupter-
erzählung — ; aber dieser StojBt' ist durch die Odyssee sozu-
sagen episch legitimiert; und vergleicht man die Paralleler-
zählung ars am. II 561 — 590, so sieht man, was dem Elegiker
erlaubt schien und was der Epiker sich versagte: die Er-
zählung der ars ist durchaus frivol, auch in der Tendenz,
am frivolsten das, was der Dichter in eigener Person 575 fg.
anmerkt; die der Metamorphosen demgegenüber, soweit das
ein so heikler Stoff zuläßt, zurückhaltend und ehrbar; sie ver-
weilt nicht bei dem Bild des ertappten Paares, sondern nur
bei der Schilderung der zauberhaften Kunst Vulcans, und
wenn auch die lustige Klausel der homerischen Erzählung
nicht ganz fehlt, ist sie doch mit aliquis de dis non tristihus
optat sie fieri turpis so dezent wie möglich wiedergegeben.*]
Die Fasten wollen ein nationales und religiöses Gedicht
sein; sie dienen, wie der Verherrlichung Roms und seines
Herrscherhauses, so der seiner Sacra; die Götter sind in erster
Linie die des römischen Kults, und demgemäß sind denn
Gebete und Götterhynmen über das ganze Werk verstreut.
Aber wer nun etwa erwartet, in dem Gedicht die erhabenen
Schauer der religio zu finden, wird enttäuscht sein. Schon
die Art, wie der Dichter selbst mit den ihm erscheinenden
Göttern verkehrt, hat hie und da etwas Vertrauliches, um nicht
zu sagen Familiäres; und wenn nun die Götter als Personen
der erzählten Sagen, griechischen wie römischen, auftreten,
so ist der Dichter nicht, wie in den Metamorphosen, darauf
bedacht, ihre suhlimitas fühlen zu lassen. Was erlauben sich
nicht die Fasten im Punkte derb erotischer -Götterkomik:
Priapus und Lotis (I 393), Faunus und Omphale (II 305),
Priapus und Vesta (VI 319); dann, weniger obszön, aber doch
auch für den hohen Gott recht beschämend, die Täuschung
des verliebten Mars durch Anna Perenua (III 677). Juppiter,
iindomiio luturnae captns amore, muß es sich gefallen lassen,
daß ihm die schnelle Geliebte immer wieder entwischt {multa
i) a. a. 585 hie aliquis ridens: in vte, fortissime Mavon^, si tibi sunt
overi, vincula trcnsfer, ait.
l() lin iiAKU Hkinzk: l7'.7
iulit f't)i(() non 2)atimil(i tleo II 5H6\ uiul sieht sich <jftMii>tiR-t,
au lue HtMliilte der NynipluMi des Landes zu appcUicien. Die
verliebte Fortuna pliej^l uaohts durch ein eii^'es Fenster zu
ihrem Scliat/ einzustoii^en (VI 577), schämt si(^h freilich
nachträglich rcchtschaÜcn der Verirrung. Und wie ganz
menschlich ist es geilacht, wenn .lanus' (VI 105) Doppel-
köpfigkeit die List der Crane zuschandcn macht, die versucht
hatte, ihn so gut wie ihre früheren Liebliaher zu übertölpeln:
ein anderer Gott, muß inan sich denken, der nur über einen
Kopf verfügte, wäre dem nicht entgangen. Auf nicht eroti-
ßchem Felde haben wir den Schwank von Silen und den
Bienen (III 737); der gleichen j;ZeAs dcoriim wie Silen gehören
Faunus und Picus an, die der weise Numa trunken macht
(III 295); aber auch Juppiter läßt sich dann vom selben
1 Numa wenigstens scheinbar überlisten (337). Die Situation,
in der wir V 531 Juppiter, Neptun und Merkur sehen (jmdor
est ulferiora loqui), wäre in den Metamorphosen kaum denk-
bar. Merkur als Rinderdieb begegnet auch dort (II 685): an
dieser durch älteste Poesie geheiligten Vorstellung nahm auch
der hohe Stil keinen Anstoß; aber der Übermut, mit dem
nun auf Grund dieser Sage der Gott als Patron des Betrugs
und Meineids in dem vertrauensvollen Gebet des Kaufmanns
fast. V 681 aufgefaßt wird, stünde dem Epos nicht au. Die
ira deorum spielt in den Erzählungen der Fasten eine sehr
kleine Rolle; eigentliches Thema einer Geschichte ist sie nur
in dem cdrtov der ludi Florales V 2970".: aber wenn sich die
liebenswürdige Göttin, gleichsam um sich zu rechtfertigen,
auf die Fälle beruft, in denen Diana und Venus Vernachlässi-
gung grausam straften, so hat sie es selbst doch weitaus
nicht so bös gemeint: zwar hat sie ihr Amt nicht versehen
und die Blüten sind verdorben, aber: nee volui fieri nee sunt
crudelis in ira, cura repellendi sed mihi nulla fuit: man sieht,
es ist mehr ein Schmollen als ein Grollen. — In den Meta-
morphosen sind es die frechen Pieriden, die von der Furcht
der Götter vor Typhoeus singen (V 318) — der Inhalt des
Liedes wird nur kurz wiedergegeben und der Dichter deutet
71,7] OviDS ELEGISCHE EkZÄHLUNG. 17
an, daß die Verkleinerung der Götter böswillige Lüge ist — ;
in den Fasten erzählt Ovid (II 459) ganz unbefangen selbst
von der Flucht der Venus, ihrer zagen Ängstlichkeit, ihrem
Erschrecken vor dem Rauschen des Laubes: sie fleht die
Nymphen um Hilfe an, springt ins Wasser — und wäre
wohl crar mitsamt dem göttlichen Sohne ertrunken, wenn die
mitleidigen Fische sie nicht gerettet hätten.
Das alles lehrt: die Elegie, selbst so ernster Tendenz,
wie es die Fasten sind, verzichtet in der Behandlung des
Göttlichen auf die epische Erhabenheit und neigt dazu,
den Abstand zwischen Gott und Mensch aufzuheben oder zu
verrino-ern. Wie dieser Höhenunterschied bis in Einzelheiten
des Ausdruckes wirkt, mag man aus der Form ersehen, die
ein und dieselbe Rede eines Gottes, die Bitte des Mars
um die Apotheose des Romulus, in beiden Gedichten an-
nimmt. In den Met. heißt es (XIV 805):
occiderat Tatius pojndisque aequata duobus
Uomule iura dahas, posita cum casside Maiors
talibiis adfatur divumque hominumqiie parenfem:
'tempüs adcst, genifor, quoniam fundamine magno
res Romana vdlet nee praeside pendet ab uno,
praemia — sunt lyromissa mihi dignoqiie nepoti —
solvere et ablatum terris inponere caelo.
tu mihi concilio quondam praesente deorum
— nam memoro memorique animo pia verba noiavt —
''unus erit quem tu tolles in eaerula caeli"
dixisti: rata sit verborum summa tuorum.'
In den Fasten dagegen (II 481):
nam pater armipotens postquam nova moenia vidit
midtaque Bomulea bella peracta manu
'Lqypiter' inquit 'habet Bomana potent ia vires:
sanguinis officio non eget illa mei.
redde patri notum: quamvis intercidit alter.
pro se proque Remo qui mihi restat erit.
"ünus erit quem tu tolles in eaerula caeli"
tu mihi dixisti: sint rata dicta lovis.'
Phil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 7. 2
l8 IvKMivKi) Hkinzk: r7',7
Dort episch j)omphafte Einführung der Hede; hitM- oeuiii>t
das einfache itu/uit] die Kode selbst dort zwei viorzcilige l'e-
rioden, hier drei zweizeilige, die nocli dazu in zwei selbständig
geformte Kola zorfalleu; dort feierlichste Berufung auf das
feierlich gegebene Versprechen, hier einfach tn mihi dixisti]
dort die eindrucksvollen Metaphern fioiilaminc maijno res llo-
niaiia rald und ncc pracside pendet ab uno, hier die schlichten
Wendungen habet lloniiuia polcnlia vires und stnu/uinis offi-
cio non vget illa mci^ endlich dort die Auffassung der Apo-
theose als eines Lohnes der Heldentaten, den der Götterkönig
verleiht, hier der Anspruch des Vaters auf den einen Sohn,
der «ihm auch den anderen gefallenen ersetzen soll. Man
meint dort einer Staatsaktion, hier einer Familienszene bei-
zuwohnen. Die beiden Reden des Mars verhalten sich zu-
einander ganz ähnlich nvie die beiden Reden der Ceres, die
wir oben nebeneinander hielten.
Ein Unterschied des Stils, nicht des Glaubens liegt auch
in der Stellung vor, die der Dichter in beiden Werken zum
Wunderbaren einnimmt. Die Metamorphosen erzählen selbst-
verständlich, wie es das Epos (von ganz seltenen Ausnahmen
abgesehen) tut, ohne einem Zweifel des Dichters am Wunder
Raum zu geben.^) Auch die Fasten hüten sich wohl, die alten
Sagen zu rationalisieren oder in ihrer Glaubwürdigkeit zu
erschüttern: aber auffallend häufig betont doch hier der
Dichter, daß er etwas Verwunderliches^) oder kaum Glaub-
liches^) nach der Tradition berichte, oder lehnt die Verant-
i) Wo Zweifel angedeutet werden (wie gelegentlich auch bei Yir-
gil, V.s epische Techn. '243), geschieht dies, wenn ich recht beobachtet
habe, nur bei flüchtiger Erwähnung wunderbarer Sagenzüge, nicht in
der eigentlichen Erzählung : III 3 1 1 , XIII 733 ; dann im Vortrag des Pytha-
goras XV 282.
2) U 413 venu ad expositos (mirum) lupa fela gcmellos. III 370
crcdite dicenti: mira sed acta loquor. IV 267 7nira canum: longo trenm-
it cum murmure tellus. 326 mira, sed et scaena testificata loqimr.
VI 612 mira quidem, sed tarnen acta loqiiar.
3) IV 203 luppiter ortus erat — pro magna teste vctustas creditur,
acceptam parce movere fidem — veste latens saxuni caelesti gutture
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. iQ
/ wortimg für diese ab^), oder erklärt gar, das Überlieferte
selbst nicht glauben zu können.^) Zu dieser Haltung stimmt
es denn auch, daß Ovid, der in den Metamorphosen unbe-
denklich Wunder auf Wunder häuft, in den Fasten, die so
viel rein Historisches zu berichten haben, auch in Mythus
und Legende das Wunderbare oder Märchenhafte gelegentlich
abschwächt. Daß in Ovids Umformung der virgilischen Er-
zählung von Hercules' Kampf mit Cacus (I 545 ff-) sich mehr-
fach das Streben zeigt, 'aus der Sphäre des Märchens etwas
mehr auf den Boden der Wirklichkeit zurückzukehren', hat
MüNZER^) bemerkt. Cacus ist kein wirkliches monstrum mehr,
kein halb tierisches, halb menschliches Fabelwesen, sondern
ein vir heroischer Art; aus dieser verschiedenen Grundan-
schauung ergeben sich weitere Modifikationen der Erzählung,
z. B. Ovids Verzicht auf den von Virgil erfundenen zauber-
haften Verschluß der Höhle. — Bei Plutarch (Num. 1 5) macht
Numa die Waldgötter trunken, indem er — man sieht nicht
recht wie — die Quelle, aus der sie zu trinken pflegen, mit
Wein und Honig mischt; bei Ovid (HI 301) geht das sehr
natürlich zu: pleyia odorati disponit pocula JBacchi. — Bei
Philemon und Baucis (met. VHI 679) manifestieren sich die
besuchenden Götter durch das Wunder des immer neu von
selbst sich füllenden Weinkrugs; bei Hyrieus (fast, V 513)
durch Merkurs Worte da nunc hihat ordine Iwppiter: wie
wenn hohe inkognito Reisende sich durch unbedachte Namens-
nenuung verraten.
3-
In der Erzählung der Fasten war Ceres, wie wir sahen,
vornehmlich als die leidende und klagende Mutter, in der der
sedit. VI 631 inter cineres öbsceni forma virilis aut fuit aut visu est,
sed fuit ilJa magis.
1) I 469 orta prior luna (de se si creditur ipsi) .. tellus.
2) II 113 inde (fide maiusj tergo delphina recurio se memorant
oneri subposuisse novo. 551 vix equidevi crcdo: busiis exisse feruniur
. . avi.
3J Cacus der Rinderdieb, Progr. Bas. 191 1, S. 54.
\
20 KiClIAKD HkIN/.K. [71,7
Rletamorpliosen als dio beleidigte uiul züriieudf Ciöltin dar-
gestellt. Dort ist, Ulli es scharf weim aiu-h eiusoitig zu tbr-
iiiuliereu, der Naehdruck auf das fXeftvüv, liier auf das öfivov
gelegt. Dieser Ciegeusatz gilt, so ausgeprägt, natürlich uicht
für die beiden Werke durchweg. Auch in den MetanK)r]>ho8en
fehlt es nicht an Darstellungon /tiefen, seelischen Scliiiierzes,
mitleiderregendeu Schicksals.') ^Aber das sind doch gnißen-
teils Leiden, die durch den starken aktiven Aflekt einer an-
deren Person, etwa den Zorn einer Gottheit, herbeigeführt
Averdeu; oder es sind seelische Schmerzen, die zur iiaserei,
zum Selbstmord trci])eu, so gewaltsam auftreten, daß sie da-
mit selbst wieder gleichsam zu aktiven Affekten werden, die
nicht reines Mitleid, sondern Furcht und Mitleid wecken.
Und daneben, wie viele Schilderungen alfektischer Verbrechen,
heroischer Taten, auch gewaltiger elementarer Ereignisse!
Selten Erzählungen nicht patlietischen, ganz selten solche
heiteren Charakters. In den Fasten fanden wir die letzteren
bereits bei den Göttergeschichten reichlich vertreten; das
Pathetische herrscht weitaus nicht so unbedingt wie in den
Metamorphosen; bevorzugt wird unter seinen Erscheinungs-
formen durchaus das slssivöv. Alles Heroische im Leiden und
vor allem im Tun wird eher vermieden als gesucht.
Ich suche das an zwei Gruppen von Erzählungen, den
Aeneas- und den Romulussagen, zu veranschaulichen. Inhalt-
I) Die berühmteste dieser Geschichten ist wohl die von Ceyx und
Alcyone XI 410 — 749, ein Prunk-stück ovidischer Erzählungskunst. Es
ist lehrreich zu seTien, wie Ovid diese riihrende Geschichte, die zu
schlichter elegischer Darstellung wie geschaffen wäre, episch stilisiert:
eine leidenschaftlich bewegte Rede der Alcyone, um den Gatten von
der Reise zurückzuhalten; die sehr ausgeführte ^xqpoacits des Seestur-
mes, nach besten epischen Vorbildern; Junos Auftrag an Iris — episch
konventionell; die £y.cpQcc6ig der Höhle des Schlafgotts und der Traum-
dämonen; die pathetische Traumerscheinung; der Monolog der Alcyone
mit dem Entschluß zum Selbstmord; ihr furchtbares Erschrecken, als
sie in dem angespülten Leichnam den Gatten erkennt. Die wesentlichen
Züge dieser Erzählung verdankt Ovid, wie es scheint, dem Nikander
(WiLAMowiTz, Herm. 18 [1883], 418 tf); aber von der pathetischen und
ekphrastischen Ausgestaltung wird vieles auf seine Rechnung kommen.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZAHLUXG. 2 1
liehe Analyse ist dabei nicht ganz zu umgehen; es kommt
mir nicht sowohl darauf an, Ovids Quellen zu benennen —
was selten genug gelingt — als nach Möglichkeit Ovids eigne
Arbeit an der Gestaltung der Mythen festzusteUen; das ist
für die Erkenntnis seiner künstlerischen Tendenz wichtig.
Aus dem Kreise des Aeneas ist ausführlich erzählt nur
die rührsame Novelle von der Anna Perenna III 545 — 656'),
in der die Mitleid erregenden Momente stark betont sind: zu
Anfano" die Erinnerung an die miserahilis Dido. dann Annas
tränenvoller Abschied von der Heimat und der -Asche der
Schwester; das Leid der zum zweiten Male Vertriebenen und
i) Gar zu gern wüßte man, wer diese Novelle erfunden hat. Daß
es nicht Naevius ist, wie Maäss vermutet hatte, habe ich Virg. ep.
Techn.' 115, i gezeigt (vgl. Leo, Rom. L. G. 82, 8). Nachvirgilischer Ur-
sprung stünde ja außer Frage, wenn wir wüßten, daß erst Virgil den
Aeneas zu Didos Liebhaber gemacht hat; aber der zuletzt von Dessau
Herm. 49 (1914), 508; 52 (1917), 470 hierfür versuchte Nachweis schei-
tert schon daran, daß eine (von Dessau 517 evident falsch datierte)
Schrift des Ateius Philologus die Frage behandelt hat an amaverit
Didun Aeneas. Es bleibt also die Möglichkeit, daß auch die Anna-
geschichte schon vorvirgilisch ist (freilich nicht varronisch: Yarro ließ
Anna auf dem Scheiterhaufen sterben): dann aber nicht in der ovidi-
schen Fassung, die aufs engste an Virgil anschließt. So ist das auf-
fallende Motiv, daß Pygmalio um Annas willen dem Battus von Malta
mit Krieg droht, klärlich aus Virgila quid bclla Tyro svrgentia dicam
germaniqiie minus IV 43 herausgesponnen; die Rede des Aeneas setzt
nicht nur seine von Virgil erfundene Begegnung mit Dido in der Unter-
welt voraus, sondern ist deutlicher Reflex der dort gesprochenen Worte
VI 456 ff. Die Ausführung mindestens ist also weitgehend Ovids Eigen-
tum: es ist ganz die Art, wie er im 14. Buch der Metamorphosen die
Aeneis benutzt und an ihren Motiven weiterdichtet. Nun scheint mir
aber auch die Etymologie des Namens, offenbar doch der eigentliche
Keim der Erfindung (amne perennc latens Anna Perenna vocor)-, so dilet-
tantisch — denn sie rechnet weder mit den Tatsachen des Kults noch
vor allem damit, daß Anna diesen Namen doch schon bei Lebzeiten
trug — daß ich sie keinem Grammatiker, wohl aber Ovid zutraue: in
dem wir also doch vielleicht den Erfinder der ganzen Novelle zu sehen//
haben. Silius Italicus VIII 28 ff. ist zweifellos von Ovid abhängig; die
von AusT Myth. Lex. III 477 gebilligte gegenteilige Behauptung Cauers
ist mir unbegreiflich.
22 l\i('iiAiin Hkin/k: [7^,7
die ToiU'suugst tlor VVeiuciulou beim Seesturiu (der ganz knapp,
ohne anl"iT«:;oudt' i-xq^QciOt^, erzählt wird); die Bege^nunjjf mit
Aeneas, dem die Eriunoinng an Diclo Tränen entlockt (er
lustwandelte mit dem treuen Achates nackten 1^'ußes auf ein-
samem Strandweg: der epische Held gcdit überhaupt nicht/
spazieren); endlich die Trauuierscheinuug der S(jiialr)ifi D'uh
sayujHiuühnta conin, deren Worte die kaum erst beruhigte
i^chwester in lunie Furcht stürzen und zu l)esinnungsloser
Flucht treiben; nur ein Schlußdistichon gibt an, wie alle
diese leidvollen Begebenheiten schließlich zu der Froudenfeier
führten, die das Vorbild des ausgelassen lustigen Volksfestes
am Tiberufer sein soll. — Im übrigen tritt Aeneas in den
P'asten nur noch einmal auf, in der an die Viualia des 2^. April
(statt an die Vinalia rustica des 19. August) geknüpften Er-
zählung aus den Kämpfen in Latlum (IV 87g). Ovid denkt
nicht daran, den Aeneas als Heros zu zeigen: er gewinnt
durch das Gelübde des neuen Weines den Beistand des Jup-
piter gegen I^Iezentius, der sich die Weinernte der Itutuler
als Preis seiner Bundesgenossenschaft hatte versprechen lassen:
der Kampf, in dem Mezentius lallt, wird in einem Distichon
erledigt; der Kern der Erzählung ist bei Ovid die Rede des
Mezentius, der sich darin auch weniger als Helden, denn als
beredten und geschickten Diplomaten zeigt, den Wert seiner
Leistung hervorhebend, den Wert der Gegenleistung herab-
drückend.^)
i) Daß Ovid die beiden Vinalia verwechselte, hat Peter gesehen
und Fast. IP p. 72 gegen andere Meinungen verfochten. Diese Ver-
wechslung geht aber nicht auf Verrius Flaccus zurück (so Franke, de
Ov. Fast, fontibus capp. tria^ disa. Hai. 1909, 39): die fasti Praenestini
{lofvij . . m . . ded . . [Vini 0)iniis twvi Uhamenhim lovi consecratum
[est, cum Latini hello premejrentiir ah Rxitulis, quia Mezentius rex
Etrus[co]rum paciscehatur, si subsidio venisset, omnium annoriim vini
fritctum) haben zwar zum 23. April die Geschichte erzählt, aber offen-
bar nur um den Brauch der libatio an Juppiter, die an diesem Tage
stattfand, zu erklären, nicht um das Gelübde zu datieren, das Verrius
in de signif. verb. richtig auf den 19. Aug. gesetzt hat (Fest. 265).
Üvids Irrtum erklärt sich aber leicht aus flüchtiger Einsicht in eine so
71,7] OviU.S ELEGISCHE ErZÄHLUNG 2^
Ebenso deutlich tritt die Eigenart der elegischen Er-
zählung in der Auswahl und Behandlung der Romulusge-
schichten zutage.") Im Beginn des dritten Buches soll der
kurze Notiz wie clie der fasti, und ebendaher wohl auch, daß er der Ge-
Bchichte die Spitze abbricht — was wie es scheint noch nicht bemerkt
ist, so oft auch neuerdings darüber gehandelt ist (außer Franke s.
RiTTEK, de Varrone Vergilii . . auctore, diss. Hai. XIV 340 ; Schür,
Aeneassage i. d. späteren röm. Litt., Diss. Straßburg 1914, 77). Diese
Spitze besteht darin, daß die Latiner dem Juppiter eben das geloben,
was Mezentius für sich beansprucht hatte; so daß der Gott veranlaßt
wird, mit Mezentius zu konkurrieren. In der ältesten uns kenntlichen
Fassung, bei Cato (orig. fr. 12 P.), hat Mez. von den Rutulern die pri-
mitiae aller Früchte verlangt, die sie sonst den Göttern weihten (dar-
aus hat Virgil seine Konzeption des contemptor deorum); die Latiner
fürchten das gleiche für sich und geloben diese Erstlinge dem Juppiter,
'si tibi magis cordi est nos ea tibi dare potius quam Blezentio.'' Bei
anderen bedingt sich Mez., sei es von den Rutulern als Preis der Hilfe
(Yarro; fast. Praen.), sei es von Aeneas (Plutarch) oder Ascanius (Dio-
nys) in den Friedensverhandlungen, die latinische Weinernte des lau-
fenden Jahres (Varro) oder aller Jahre (Dionys; fast. Praen.) aus, und
das Gelübde der Gegenseite bezieht sich auf das gleiche (die Spezia-
lisierung auf den Wein ist offenbar erst eingeführt, als man die Ge-
schichte mit den Yinalia in Verbindung brachte). Ovid dagegen läßt
den Mez., viel weniger heroisch, weder Götterehren noch einen Teil
der Beute beanspruchen, die er selbst erst erkämpfen muß, noch harte
Friedensbedingungen stellen, sondern sich einfach die Hilfeleistung
durch rutulischen Wein bezahlen, worauf denn Aeneas, viel weniger
gut motiviert, mit dem Gelübde des latinischen Weines (vielmehr
Mostes: Ovid denkt sich die Lösung des Gelübdes im Herbst, weiß also
gar nichts von der Erstlingsspende des jungen Weins im Frühjahr)
antwortet. Die Fassung der fasti Praen. kann dahin mißverstanden wer-
den; gemeint ist da aber gewiß beide Male der latinische Wein.
I) Ovid hat fast den ganzen Stoff der Romulussage für die erste
Hälfte seines Werks verbraucht; nur die Aufnahme der Zwillinge durch
Faustuius und der Raub der Sabinerinnen blieb für die zweite übrig.
Auch die übrigen Gebiete der altrömischen Ursprungs- und Königssage
sind in I— VI so ausgeschöpft, daß man schon suchen muß nach wei-
teren Episoden, die sich zu elegischer Darstellung eigneten. Nimmt
man hinzu, daß auch die Monatsnamen Juli bis Dezember nicht ent-
fernt so viel Möglichkeiten zur Anknüpfung von Erörterung und Er-
zählung boten wie Januar bis Juni (der Juli und August hätten nur
^4 HiOHAUD Hk.inze: |7i,7
.McniiitsMiinu' Mdtiius diiuius erklärt wordi'U, daß Ivoinulii.s,
der er.sto Ordner des römischen Jahres, ihirch diese Benen-
nung des ersten Monats seinen Vater Mars geehrt habe: so
ist es in der Ordnung, daß zunächst erzälilt wird, wie Mars
der Vater des Roniuhia ward. Diouys, der uns außer Ovid
die einzige ausführliche Darstellung des Hergangs überliefert
(l 77), erzählt, daß der llia im heiligen Hain des Ares, in dem
sie Wasser zum Opfer holen wollte, von dem (jotte, der ihr
in übermenschlich großer und schöner Gestalt erschien, Ge-
walt autretan sei; dann habe er sie über das ihr widerfahrene
Leid getröstet, indem er sich als Mars bekannt und ihr ge-
sagt habe, sie werde Zwillinge gebären, die an kriegerischer
Größe alle Sterblichen übertreffen sollten; hierauf sei er, in
eine Wolke gehüllt, gen Himmel gefahren^). Eine Erzählung,
Gelegenheit zu panegyrischen Tiraden gegeben), so fragt mau sich,
ob Ovid die Bücher VII— XII wohl je ausgeführt hätte, auch wenn er
in Kom hätte bleiben dürfen.
1) Die Erfindung steht dem, was die Odyssee X 248 ff. den Po-
seidon beim Scheiden zu Tyro sagen läßt, so nahe, daß man sie dem
Manne zuschreiben möchte, der die ßornulussage nach dem Vorbild der
Tyrosage (Trikber, Rh. M. 43, 1888, 570) zuerst novellistisch ausgestal-
tet hat, also Diokles (s. Krampf, Die Quellen der röm. Gründungssage,
Diss. Lpz. 191 3, 3 ff.). Fabius Pictor, dem Plutarch folgt und den
Dionys erst c. 78 als seine Quelle für die Geschichte der Zwillinge nach
der Geburt nennt, hat, was bei dem Römer sehr begreiflich ist, auf
dies iivd-o)öiGTaTov verzichtet (wir begegnen der Erfindung außer bei
Dionys und der aus Dionys schöpfenden Origo gentis Rom. 22 nur
noch, bei Konon 48, der sich, wie manche Abweichungen seines weite-
ren Berichts von Dionys und Plutarch lehren, au Fabius jedenfalls
nicht ausschließlich gehalten hat). Zur Beglaubigung der Vaterschaft
des Mars (diesem Zweck dient eigentlich die Erfindung, s. Dionys I 78,
4. 5) scheint dem Fabius die wunderbare Hilfe von Wölfin und Specht,
den heiligen Tieren des Mars, genügt zu haben {oütv ovx rj^nota nlcTiv
itGxsv ri TfKOüea rä ßgitpr} rsKStv i'g "Agsag Plut. Rom. 4, ähnlich, aber
ohne den Specht, Augustin c. d. XVIII 21); der Specht fehlt bei Dionys
und sonst zumeist, Fabius erwähnte ihn {et simul vklebant picum Mar-
timn fr. ann. lat. 3 P., aus Buch I). Ovid hat beides vereinigt; der
Traum deutet der llia das voraus, was ihr bei Dionys Mars prophe-
zeit; verstehen wird sie ihn freilich erst später und dann erkennen.
71,7] OviDs ELEGISCHE Erzählung. 25
die sich in allem sehr wohl zur epischen Darstellung eignen
würde. Ovid führt einen Zug ein, der uns literarisch sonst
nicht, wohl aber durch zahlreiche bildliche Darstellungen
überliefert ist: Mars sieht die Vestalin schlafend. Das ge-
staltet der Dichter, mit liebevoller Ausführung des einzelnen,
zum idyllischen Bilde eines Flußufers mit schattigen Weiden,
Voo-elo-esans: und leis murmelnden Wellen, die das ermüdet
niedersitzende Mädchen in Schlaf wiegen; er vergißt nicht
hinzuzufügen, daß sie, um sich vom Winde kühlen zu lassen,
das Gewand von der Brust verschoben hatte. Statt hemsch
zu fordern und sich dann als Gott zu offenbaren, beschleicht
Mars die Schläferin und verbirgt divina ope seine Tat: als
Silvia erwacht, weiß sie nicht, was ihr geschehen ist (so daß
denn jeder, auch der leiseste Verdacht von Schuld schwinden
muß). Die Voraussage des Gottes aber wird zum Traum
umgewandelt, den Silvia sich dann, während sie ihre Urne
füllt, monoloo-isch ins Gedächtnis zurückruft: in anmutigem
flaß er wirklich gottgesandt war (an somno clarius illud erat v. 28). Auf
Mars deutet darin das Eingreifen von Wölfin und Specht, der aus-
drücklich als Martia avis bezeichnet wird ; auch die weitere Erzählung
nennt ihn (v, 54, nicht der ausführlichere Bericht II 413 ß"-)- — I^^ ^^"
merke nebenbei, daß Ovid ebenso wie Plutarch (qu. Rom. 21 öqvoko-
/.ÜTttris ri-s inicfoix&v iipmuit^v, noch ausführlicher de fort. Rom. 8) aus-
drücklich sagt, der Specht habe die Kinder gefüttert: nicht gut, denn
die Neugeborenen brauchen keine Speise außer der Milch. Dem ur-
sprünglichen steht wohl näher, was Serv. Dan. zu Aen. I 275 berichtet:
cum eos Faustulus animadvertissct mitriri a fera et picum parraiiiqiie
circumvolitare. Die parva hat nichts mit Mars zu tun, aber sie ist, wie
der Specht, ausgesprochen ein "Weissagevogel, unter Umständen glück-
bedeutend im altrömischen wie im umbrischen Ritual (_s. zu Hör. od.
III 27, i). Nun zeigt der Spiegel von Bolsena, der die alimonia Remi
et Romuli darstellt (abgebildet z. B. Mjth. Lex. IV 207), auf dem Baum
zwei Vögel, von denen der eine deutlich eine kleine Eule ist: das
könnte sehr wohl die parra sein, deren Natur ja noch strittig ist, die
aber aus anderen Gründen auch schon als Schleiereule aufgefaßt wor-
den ist. Dann hätten die beiden Vögel ursprünglich nur augurale Be-
deutung gehabt, und erst um die nähere Beziehung zu Mars einzu-
führen, hätte man (Fabius?) die parra beseitigt und den Specht neben
der Wölfin zum Ernährer gemacht.
26 K'iciiAKi» Kkin/j;: |7',7
Hilde ist daiiu die Geburt der Zwillinge und ihre Hetlniii;
vor des Oheims iniirderischer Absieht sowie die eiii.sti<;e Uröüe
des Roinulus voriredeutct. Die Anref^unjjf zu dieser Erlmduug
wird aus Enuius' Traum der Ilia stamiiien (ann. 35 fg.); die
Erfindung selbst geh()rt vermutlieli Ovid ganz zu cigeu. Er
hat naeh Mögliehkeit alles vermieden, was Silvia als die
unter göttlieher Willkür Leidende zeigen künnie: auch im
folgenden ist von ihren aej'umnae, die ilir bei Eunius der
Traum kündet, nichts gesagt: es soll keine Ilühi'ung erweckt,
sondern die göttliche Abstammung des Romulus besungen
werden, und das geschieht in dem der Elegie gemäßen Stil.
Die Aussetzung der Zwillinge und ihre Rettung durch
die säugende Wölfin berichtet Ovid II 383 ff. nach der durch
Eabius festgelegten Tradition, die mit geringen A])weichun-
gen bei Dionys, Plutarch (Romulus), Livius vorliegt. Aber
er hat, angeregt wohl durch eine abweichende, uns durch
Plutarch (fort. Rom. 8) und Konon überlieferte Fassung einer
Einzelheit'), die fabianische Erzählung bereichert durch die
i) Bei Fabius eoUon die Zwillinge im Flusse ausgesetzt werden;
der ist über die Ufer getreten, bo daß die Diener an die eigentliche
Strömung nicht herankönnen und die Wanne im flachen Wasser aus-
setzen: das ist die Rettung der Kinder. Bei Plutarch und Konon soll
der Diener die Kinder töten (wie Harpagos den kleinen Kyros), bringt
das aber, als iXst'jfiav xccl (ptXävd-Qconos., nicht übers Herz, sondern setzt
die Wanne im Tiber aus. Die erstere Fassung erweist sich auch sach-
lich als die echte: der Sinn des Befehls ist ja offenbar (wenn das auch
von keinem unserer Berichterstatter ausdrücklich gesagt wird), das Land
von der Befleckung durch die sündige Geburt dadurch zu reinigen, daß das
fiLaßncc fließendem Wasser überantwortet wird: nur darum müssen die
Diener von Alba hundertundzwanzig Stadien weit zum Tiber herab-
steigen. So werden Zwittergeburteu meist zwar ins Meer geworfen
(lebendig in einer Kiste verschlossen : Liv. XXVII 37), aber gelegentlich
auch androgynus in flumen deiectus Jul. Obs. a. 133; so der Vatermörder
devehatur in profluentetn Auct. ad Her. I 23 {voluerunt in fhimen deici
Cic. pro Rose. Am. 70), mit gleichem Ausdruck Livius I 4 pneros in
profluentem aijuam mitti iuhet und imperavit deportari ad aquam pro-
ßuentcm atqiie eo ahici orig. gent. Rom. 22: deportare Terminu.s der
Prodigiensühnungen. — Daß übrigens Ovid sich nicht etwa ausschließ-
lich an Livius gehalten hat, lehrt eine unscheinbare, aber beweis-
I
71,7] üviDS ELEGISCHE Erzählung. 27
rührselige Schilderung der mit der Aussetzung beauftragten
ministri, die sich nur widerwillig zur Ausführung der iussa
lacrimosa entschließen, am Ort der Tat zärtliche Worte über
die Kleinen und ihre unglückliche Mutter sprechen und end-
lich mit nassen Wangen heimkehren: ein echt elegisches Mo-
\tiv, durch das statt des öelvöv des Mordbefehls vielmehr das
/ i/isstvöv des Hergangs in den Vordergrund tritt.
Die Aufnahme der Zwillinge durch Lareutia und Faustu-
lus sollte bei den Larentalia im 12. Buch erzählt werden:
aus der Ankündigung III 55 fg.^) ist zu schließen, daß wir eine
Schilderung des ärmlichen Haushaltes des Ehepaares erhalten
haben würden, dessen Gegensatz zur göttlichen Abkunft und
künftigen Größe des Komulus betont worden wäre, also ein
Gegenstück zur Aufnahme der Götter bei Hyrieus oder der
Ceres bei Celeus.
Den Brauch, daß bei der Feier der Lupercalia die Lu-
perci nackt laufen, erklärt Ovid II 361 ff. durch eine Ge-
schichte, die in eigentümlicher Weise Motive der verschiede-
nen uns sonst bekannten Ätiologien in sich vereinigt. Die
eine Gruppe der Erklärer schrieb die Einführung des Festes
dem Euander zu und bezeichnete die Riten als arkadisch^),
die andere, wie es scheint ältere Lehre faßte die Lupercalia
als einheimisch römisch und führte ihre Stiftung auf Romu-
kräftige Abweichung : Livius läßt die Kinder (wie auch Plut. fort. Rom.
8) beim ruminalischen Feigenbaum aussetzen; bei Ovid werden sie,
wie bei Varro 1. 1. V 54, Konen u. a. von der sanften Strömung
zu jenem hingetragen. Das ist gewiß das Echte: der Diener glaubt
seine Pflicht erfüllt, als er die Wanne wegschwimmen sieht, und küm-
mert sich nicht um das weitere.
i) non ego te, tantae nutrix Larentia gentis nee taceam vestras
Faustule pauper opes.
2) So Q. Aelius Tubero (bei Dionys. I 80), der hierin wohl seinem
Zeitgenossen Varro folgte: de gente pop. Rom. III 29 Fracc. (= Augu-
stin. c. d. XVIII 16) Fomanos etiam Lupercos ex illorum mysteriorum
(nämlich der arkadischen Lykaiosfeier) semine dicit exortos. Fabius
Pictor dürfen wir zu dieser Gruppe nicht zählen; die Notiz bei Dionys
I 79, 8 ist keineswegs mit Sicherheit auf ihn zurückzuführen. Nach
Tubero Livius I 5.
28 Richard IIkinzk: |7',7
Ins und Kemus zurück; man erzählte entweder, die Brüdir
seien einst liäubeni, die ihre Ilordou entiTihrt hatten, nackt,
um im Lauf nicht behindtM't zu sein, Uiich^esetzt'); oder man
führte das Fest, um seinen ausgelassen lustigen Charakter zu
motivieren, auf ein Sieges- oder Freudenfest zurück, das die
Brüder nach dem Sturz des Amulius begangen hätten^); aus
dem Übermut der Festfreude leitete man auch den Brauch
ab, daß die Luperci die Begegnenden mit Riemen schlugen:
das ließ sich in jene andere Ätiologie nur sehr gezwungen
einführen. Bei Ovid feiern die Brüder mit ihrer turhu dem
Faunus in althergebrachter Weise ein Opferfest — dies be-
steht also bereits und gilt nach v. 277 ff. als von Euander
eingeführt — und vergnügen sich, während die exta braten,
nudi an fröhlichen Spieleu (jjcr lusus: das geht au'f die
Lustigkeit der Luperealien )^); da wird der Raub gemeldet
i) So unser ältester Gewährsmann C. Acilius (bei Plut. Rom. 21):
als die Herde des Romulus (noch vor der Stadtgründung) abhanden
gekommen ist, beten er und seine Leute zu Faunus und laufen dann
nackt, oncog vnb tov lögwtog uij ivo^J^oivro, auf die Suche. Ganz ähn-
lich Servius Dan. aon. VIII 343: den Brüdern wird gemeldet, daß Räu-
ber ihr Vieh wegtreiben ; illos togis positis cncurrisse caesisque obvvs
(dies das atriov für die Riemenschläge) jiectts rccupcrosse.
2) So der ätiologische Dichter Butas (der P'reigelassene des jün-
geren Cato?) bei Plut. Rom. 21 : die Brüder laufen ^lstu x<^Q^s nach
gelungenem Handstreich auf Alba zum Lupercal; daraus entsteht die
jährliche Feier als ry Xvy.cävj] x<^QiaTriQi<x ^al rgofftla xal oom'iQic'. 'Pa-
livXov. In der gleichen Richtung, wenn auch im einzelnen stark di-
vergierend, liegen die Erklärungen des Valerius Maximus II 2, 9 (der
das Freudenfest durch die von Numitor gegebene Erlaubnis zur Stadt-
gründung motiviert) und der Origo g. R. 22.
3) Dies künstlerisch sehr glückliche Motiv hat wohl erst Ovid
eingeführt, der sich die Hirten nicht, wie Valerius, als togati denken
mochte, und dem es mißfiel, daß die reisigen Brüder sich davor ge-
scheut haben sollten, beim Lauf in Kleidern zu schwitzen. Daß Ovid
dem Romulus und Kemus gymnastische Spiele griechischer Art (Faust-
kampf!) zuschreibt, kann auffallen; aber auch Ennius hatte die caeatus
bei den Spielen erwähnt, die er den Romulus nach der Einweihung
des Tempels des Juppiter Feretriua abhalten läßt — falls der Notiz
der schol, Bern, zu georg. II 384 (ann. I fr. LI V.) ganz zu trauen ist.
71,7] OVIDS ELEGISCHE EuZÄHLUNG. 2g
und die beiden laufen nackt wie sie sind (lonr/mn erat ar-
mari) nach verschiedenen Seiten auf die Suche. Daran schließt
sich eine sonst nirgends überlieferte Erzählung, daß Remus
und seine Fabier, vom Glück begünstigt, als Sieger zuerst
heimsrekehrt seien und sich zur Belohnung die inzwischen
gebratenen exta zu Gemüte geführt hätten^): liaec certe non
nisi Victor edef. Romulus, der bei der Rückkehr mit seinen
Quinctiliern die Tische leer und die Knochen abgenagt findet^),
faßt es nicht tragisch auf, daß er außer dem Ruhm auch
um den Festtagsbraten gekommen ist: risit et incloluit. Die
RoUe, die der Heros-Stadtgründer in dieser lustigen Ge-
schichte spielt, kann uns nicht wundernehmen, da doch in
der Elegie selbst die Götter es sich gefallen lassen müssen,
zum besten gehabt zu werden. — Das ahiov für die Riemen-
schläge der Luperci, von denen die Frauen Fruchtbarkeit er-
hofften, trennt Ovid geflissentlich von dem eben besproche-
nen, räumlich wie auch zeitlich und sachlich^). Er schreibt
i) Das ist, wie man längst gesellen hat, der Geschichte von den
Potitii und Pinarii beim Herkulesopfer nachgebildet (Liv. I 7, I3). Es
ist sehr wohl möglich, daß dem collegium der Luperci Fabiani bei der
Feier ein Vorrecht zukam, zu dessen Erklärung dies alriov dienen soll
(es mag nur darin bestanden haben, daß die Fabiani zuerst liefen, die
Quinctiliani in einem gewissen Abstand folgten: rmv «fiqpt 'Pcoavlov rs
Kai aXXcov varsQi^ovrcov. tql^'^ yaQ sveve^rivTO xal #x diccöf^iiaros ^&eov
Tubero bei Dionys I 80); für denkbar halte ich aber auch, daß Ovid ganz
auf eigne Faust den Zug aus der Herkuleslegende übernommen oder
doch umgebildet hat, um seiner Erzählung einen lustigen Abschluß
zu geben.
2) men^as ossaque nuda videt: es ist also gemeint, daß er über-
haupt nichts vom Opferschmaus bekommt (die exta im eigentlichen
Sinne haben keine Knochen), während Livius a. a. 0. die exta, die den
Potitii vorbehalten blieben, von den cetera daps unterscheidet — viel-
leicht nur aus Mißverständnis jener weiteren Anwendung des Wortes.
3) Die oben erwähnten Datierungen des Ursprungs der Luperca-
lien in die Zeit vor der Stadtgründung hatten das Mißliche, daß die
Bedeutung der Schlä^re als Fruchtbarkeitszaubers dabei keine Stelle
finden konnte: römische Frauen gab es ja damals noch nicht. Man
half sich entweder damit, daß man die Schläge von Anfang an an alle
'Begegnenden' austeilen ließ (so Butas u.a.), oder indem man — so Ovid
30 RiCHAiiD IIkinze: [7i,7
die Kiutuliruiig zwar aucli Koinulus /u, aber dorn Ktlnig Uo-
mulus; er führt sie auf ein Orakel der Juno zurück, und man
vermißt in seiner Erzähluni^ jeden Zusammenliau«^ mit der
Luperealienfeier. ^) So wird die Geschichte, ganz in der Art
so vieler Fastenerzählungen, zu einer Aretalogie der Juno
Lucina verselbständigt, au die sich das Schluügobet 11 451
wendet: dieser Tendenz dient die Ausmalung der verzweifel-
ten Lao-e, in die Rom durch die Unfruchtbarkeit versetzt ist:
schon bereut Romidus, dessen Klagen wir hören — als Heros
erscheint er auch hier nicht — , den Raub der Sabineriunen;
Männer und Frauen beten kniefällig im heiligen Ilain der
Juno: da vernimmt Juan ihren Rätselspruch, den erst ein
glücklicherweise anwesender, aus Etrurien vertriebener Seher
löst: auch dies ein l)eliebtes ovidisches Motiv^), das den
glücklichen Ausgang als solchen stärker empfinden läßt.
Die Erzählung von der Gründung Roms (IV 807 — 862) ist
im wesentlichen nur versifizierte Geschichte mit panegyrischer
Tendenz: es ist beim Augurium sowohl wie dann bei Remus'
— eine Teilung der Ätiologien vornalim. Der für die citsarische Zeit
bezeugte Brauch (s. die Stellen bei Otto R. E. VI 2067), alle 'Be-
gegnenden' zu schlagen, mag jene erstere Fassung gestützt haben; aber
es ist mir sehr zweifelhaft, ob jener erweiterte Gebrauch, wie Otto
a. a. 0. annimmt, der ursprüngliche ist und die Zeremonie allgemein
als ßeinigungszauber zu gelten hat (zweifelnd auch Dkubnku, Arch. f.
Rel.-W. XIII 495); es ist doch zu beachten, daß, wie aus Plut. Rom. 21
Caes. 61 zu schließen, nur die jungen Frauen sich den Schlägen frei-
willig darboten, also Segen von ihnen erhofiten. Daß die Riemen, wenn
sie einmal geschwungen wurden, spaßeshalber auch Männer und Kinder
trafen, ist auch ohne religiösen Hintergi'und begreiflich genug. Den
Versuch Ungers, aus unserer Überlieferung das Riemenschlagen als
eine im 3. Jahrh. erfolgte Erweiterung des Ritus zu erweisen, hat Otto
a. a. 0. mit Recht abgelehnt; s. auch Wissowa, Kel. d. R. 210, 5.
i) In den Worten der Juno Italidas matres sacer hircus inito
eine Hindeutung auf des Faunus Namen Inuus zu sehen, liegt freilich
nahe; aber Ovid hat diesen Namen vorher nicht erwähnt; auch läßt
er dem Faunus keinen Bock, sondern eine Ziege opfern (v. 361) und
sagt kein Wort von der Umgürtung der Luperci mit dem Fell des
Opfertiers.
2) IV 261. 668. VI 389.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 31
Tod nach Möglichkeit alles beseitigt oder gemildert, was
einen Schatten auf den Geburtstag der Stadt Rom fallen
lassen könnte.^) Poetisch gestaltet ist erst der Schluß der
Erzählung: wie Romulus die Trauer über den Verlust des
Bruders mannhaft bezwingt, ganz nur König; wie aber dann,
beim Leichenbegängnis, die unterdrückte Empfindung der
brüderlichen Liebe sich doch gewaltsam Bahn bricht, Faustu-
lus und Acca sich mit ihm in Klage vereinen. Hier hat Ovid
in eigentümlicher Weise sich die seltsame Erfindung zunutze
gemacht, die wir bei Dionys I 87 lesen: Romulus habe, in
Trauer und Reue über den Brudermord (Remus ist hier in
der Schlacht gefallen), am Leben verzweifelt und sei erst
i) Bei Livius entzweit regni cupido die Brüder, atque inde foedum
certamen coortum a satis viiti principio (I 6); bei Dionys (I 85 fF.) ent-
steht gleichfalls der Streit um den Ort der Stadtgründung aus Herrsch-
sucht, i/. J& ri]g (ptlovSLY.iag ravtr]g ccv.oivmvritog sv&vg inttdrilovxo (pil-
uQXicc, Numitor beschwichtigt die ordcig durch den Rat zum Aug-u-
rium, auf das die beiden sich bei Livius und Plutarch (Rom. 1 9) selbst
einigen. Bei Ovid sehr harmlos amhigüur, moenia ponat uter, und so-
dann Romulus, versöhnlich und verständig, 'non opus est certamine
ullo: magna fides avium est, experiamtir aves'. Sodann nichts von Streit
über die Deutung des Augurium (Livius, Dionys) oder gar von Betrug
des Romulus (Dionys, Plut.), was dann zu blutigem Kampfe führt;
sondern das Augurium entscheidet unzweideutig und unbestritten:
pado Statur, et arhitrium Eomulus urbis habet. Remus springt über
die Mauer, nicht um den Bruder und seiu Werk zu verhöhnen (Liv.,
Plut., Dionys.), sondern um zu zeigen, daß die Mauern zu niedrig sind,
um das Volk zu schützen Qiis piopiüns tutus erit?), ohne zu wissen,
daß Romulus solches Tun mit dem Tode bedroht hatte. Celer, der
Bauführer des Romulus, nicht Romulus selbst, tötet den Remus: Ovid
entscheidet sich (wie Dionys) für die mildere der beiden überlieferten
Fassungen (Plut.), während zumeist (Cic. off. III 41, der die Tat aus
Romulus' Herrschsucht herleitet, das Vergehen des Remus als schlecht
gewählten Vorwand bezeiöhnet; Livius; Horaz ep. 7, 17 u. a.) nur Ro-
mulus genannt wird; aber auch Celer ist durch jenes Gebot des Ro-
mulus, der natürlich an Remus dabei nicht denken konnte, entschul-
digt; so erscheint der scelus fraternae necis hier als eine Reihe ver-
hängnisvoller Zufälle (mehr noch als in der Erzählung Diodors VIH 6,
der die ovidische am nächsten steht; dort hat Romulus seine allge-
meine Warnung doch schon im Zorn über Remus' Spott gegeben).
32 T\i('ii\i!i) TTi.in/.k: [7',7
durch das trr)stliehe Zuroden der Larontiii wiedoi- uuigt'ricliti't
worden. Be/eielmeud, daß Ovid g(M"adc dies Motiv für die
Kle«j;ie brauchbar fand: die Wendun^^, die er ilmi {.jil)t, zeijjjt
friMÜch den Koinulus, in dem die Meuschliclikeit über starre
llerrscherpHicht siegt, in ungUich liel)ens\vürdigeror, wenn auch
keineswegs heroischer Beleuchtung.
Die unniittelbai" anschließi'nde Fortsetzung lesen wir V^
451 — 484, wo die Leniuria, i'rüher Heniuria, als Stiftung des
Koniulus zu Ehren des Bruders erklärt werden. Dies cciriov
ist schwerlich Ovids Erfindung: die Ausführung aber, ganz
im Stile der Fastendichtuug, wird ihm geliören. S(!rvius
(zu Aeu. I 276) weiß von einer Pest, die nach liemus' Ermor-
dung ausgebrochen sei; ein Orakel habe geraten, die zürnen-
den Manen des Remus zu versöhnen: das sei dadurch ge-
schehen, daß Romulus bei allen Regierungshandlungen einen
zweiten Thron mit den Königsinsignieu neben dem seine)i
aufstellen ließ, ut imriter imperare vidercntur. In dieser Ge-
schichte, die mir gar nicht nach dem billigen Autoschediasma
eines leichtsinnigen Scholiasten aussieht, sind uns die Haupt-
motive, Rache eines ungerecht Getöteten und Versöhnung der
Seele auf Geheiß des Orakels, aus griechischen Heroenlegen-
den wohl vertraut^); für die seltsame posthume Ehrung da-
gegen kenne ich als Analogon nur den Beschluß, der zu
Ehren des verstorbenen Germanicus gefaßt wurde (Tac. ann
H 83): bei allen Sitzungen der sodales Augustales, zu denen
Germanicus seit Begründung des Kollegiums gehört hatte,
sollte ihm eine sella curulis mit dem Eichenkranz aufgestellt
werden. In Rom ist dies höchstwahrscheinlich der erste Fall
dieser Art gewesen, und denkbar ist, daß der Thron des
i) Beispiele genug nennt Denekens Artikel 'Heros' in Roscheus
Myth. Lex., besonders p. 2488 fg. 2520. Auch die von Virgil am Schluß
der Georgica erzählte Orpheus-Aristaeusgeschichte ist nach diesem
Muster erfunden; die (unorganische) Einführung der Nymphen als der
unmittelbaren Senderinnen des Unheils (IV 532) erklärt sich wohl dar-
aus, daß die dem Heroenglauben zugrunde liegende religiöse Yor-
stellunsf römischem Denken fremd ist.
71,7] OVIDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. ' 33
toten Reinus nach diesem Vorbild erfunden ist^); aber man
muß auch mit der Möglichkeit rechnen, daß die Ehrung des
i) Der Erfindung Hegt die Vorstellung zugrunde, daß Remus,
-n^enn er am Leben geblieben wäre, ein Anrecht auf die Königswürde
neben Romulus gehabt hätte : dieselbe Vorstellung, die wir u. a. bei
Cicero a. a. 0. finden. Ihre Voraussetzung wieder ist, daß das Augu-
rium sich nicht, wie bei Ennius, auf die Frage bezog, wer in der neuen
Stadt herrschen solle (oder, was auf dasselbe hinausläuft, wer sie grün-
den und nach seinem Namen taufen solle: denn die Unterscheidung
des Dionys, der durch das Augurium nur die jjysfiovia der neuen Ko-
lonie, nicht aber die Regierungsform der neuen Stadt entschieden sein
läßt, ist offensichtlich seine eigene aus Freude an staatsrechtlichen Fi-
nessen geborene Erfindung), sondern auf die Frage, wo die neue Stadt
gegründet werden solle: aus deren Beantwortung sich freilich dann
weiter ergab, daß Romulus den Stadtbau in die Hand nahm, aber nicht,
daß er ihr Alleinherrscher wurde. Wenn Virgil Aen. I 276 im neuen
Rom des Augustus Remus mit Romulus gemeinsam herrschen läßt
(wobei jeder Gedanke an Augustus und Agrippa fernzuhalten ist), so
bedeutet das die Beendigung des durch Herrschsucht verursachten
Bürgerkrieges, als dessen Prototyp der Kampf der Brüder gilt. Nach
der älteren (enuianischen) Legende dagegen gilt die Herrscherfrage
als durch das Augurium zweifellos in dem Sinne entschieden, daß Ro-
mulus, nicht Remus König wird; der Tod des Remus hat also staats-
rechtliche Folgen nicht mehr; Moilmsens Deutung (Hist. Sehr. I 18), daß
diese Legende an die Spitze der Königsgeschichte analog dem Konsu-
lat die DoppelheiTschaft eines fungierenden und eines nicht fungieren-
den Königs habe stellen wollen, findet in der antiken Tradition keine
Stütze (und damit fällt seine Auffassung des Remus als einer 'staats-
rechtlichen Personifikation'). Die Nachricht des Cassius Hemina (fr. 1 1 P.)
pastormn vulgus sine contentione consentiende praefecerunt aequaliter
impeno Eemum et JRomulum, ita ut de regno pararent inter se, offen-
bar der eigentliche Ausgangspunkt für Mommsens Konstruktion, soll
nur den angesichts der späteren Königswahlen auffallenden Umstand
motivieren, daß nicht das Volk den einen der Brüder zum König be-
stimmt, sondern es ihnen überlassen bleibt, die Entscheidung zu finden,
nämlich durch das zwischen ihnen vereinbarte Augurium (was die
Stiftung des Heiligtums der 'grunzenden Laren', von der anschließend
die Rede ist, mit der Königsfrage zu tun hat, wissen wir freilich leider
nicht); dem Ergebnis dieser Entscheidung hat sich das Volk im vor-
aus unterworfen, also auf sein Wahlrecht nicht prinzipiell verzichtet.
— Übrigens bemerke ich, daß Keetschmers (Glotta I 301) Ableitung der
Legende von Remus' Tod aus der Sitte des *■ Bauopfers' sich weder auf
Phil.-hiat. Klasse 1319. Bd. LXXJ. 7. 3
34 HicnAKi) Hf.inze: l7'.7
Germiinicus helleiustisi'he Vorffi'mger luittf. In den »^rioclü-
jscheu ljt>gendt.'n wiitl ilcr Heros gewöhnlich durch Stiftung
eines Kults fnit jährlich wiederkehrendem Opfer versöhntrj
darauf eben läuft die ovidiscbe Er/ählung hinaus. Die Trauiu-
erseheinuug des getöteten Kemus dagegen ist ein rein poeti-
sches, nicht eigentlich legendäres Motiv (Patroklos — Culex,
um zwei sehr disparate Beispiele zu nennen : da bittet die
Seele um Bestattung des Leichnams; in jenen Legenden tut
sich die Macht des Heros kund ganz in derselben W^eise wie
sonst der Zorn einer Gottheit); seine Einfüiirung ist dem
etymologisierenden Antiquar, der das alriov der Lemuria er-
fand, schwerlich zuzutrauen, sehr wohl aber dem Ovid. Fand
dieser bei seinem Gewährsmann die Pest und das Orakel'),
so ist es sehr begreiflich, daß er dem die Traumerscheinung
substituierte: das ist ganz im Stil seiner elegischen Dichtung.
Das nächstliegende wäre ja gewesen, daß der Schatten des
Remus dem Romulus selbst erschiene, der über die Erfüllung
seines Wunsches zu befinden hat; aber rührender ist die Vor-
Properz' Wendung (III 9, 50) caeso moenia firma licmo noch auf irgend
sonstige antike Tradition berufen darf; Properz meint nur, daß die
Festigkeit der Mauern insofern durcli Remus' Tod gewälirleistet ist,
als jeder Angreifer nun weiß, was er zu gewärtigen hat. An die sanc-
titas der Mauern, die für den römischen Bürger Geltung hat (Pompon.
Dig. 18, 11), denkt also Properz so wenig wie Ovid {'sie meos muros
franseat hostis^ 848), und es ist mir sehr zweifelhaft, ob der Erfinder
der Geschichte anders gedacht und die Unverletzlichkeit des Mauer-
rings im Gegensatz zu den Toren hat symbolisieren wollen (Mommse.\,
p. 19 nach ScHWEGLEK Pi. G. I 348, wo die antiken Vertreter dieser Auf-
fassung zitiert sind).
i) An welche Fassung der Legende vom Tod des Remus sich
diese Erfindung ursprünglich anschloß, bleibt dahingestellt. Servius
läßt (zu Aen. I 273. VI 779) Remus in dem Kampfe fallen, der infolge
der zweifelhaften Entscheidung des Auguriums entstand, und lehnt die
(ovidiriche) Version, daß Remus wegen des Mauersprungs getötet wurde,
als fabulosum ab; damit ist noch nicht gesagt, daß dies auch der
Standpunkt dessen war, der die Sühnungsgeschichte erfand. Aber die
Einführung des allgemeinen Sühnefestes der Lemuria erscheint aller-
dings besser motiviert, wenn nicht ein einzelner, sei es Romulus oder
Celer, für den Tod verantwortlich ist.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUXG. ;^ ^
Stellung, daß das greise Paar der Adoptiveltern, die soeben
heiße Tränen über der Asche des Sohnes geweint haben, nun
den blutigen Schatten sehen, und die pietas des Königs Ro-
mulus, die der getötete Bruder anerkennt, tritt in noch
helleres Licht, wenn sie sich auch der Fürbitte der Eltern
gegenüber bewähren kann.
Aus dem Sabinerkrieg, der sich an den Raub der Jung-
frauen anschloß — dieser selbst sollte bei den Consualia zum
21. August berichtet werden (III 199) — erzählt Ovid
I 263—276 die Episode von der Errettung Roms durch Janus,
der den Feinden das Eindringen in ein durch Juno geöif-
netes Tor verwehrt, indem er eine heiße Quelle hervor-
sprudeln läßt und so den Weg versperrt. ^) Das ist ein knapper,
schmuckloser Bericht, bei dem wir nicht zu verweilen brauch-
ten: aber lehrreich für den Abstand des epischen Stils ist
die Umgestaltung, die dieser Bericht in den Metamorphosen
i) Die älteste erreichbare Form der von den Historikern nicht er-
wähnten Geschichte liegt bei Macrobius sat. I 9, 19 vor. Da ist sie
das ai'riov für die öffnung'der Januspforten im Krieg, bei Ovid da-
gegen für die besondere Heiligkeit des Janus Geminns, in dem allein
der Gott ein Standbild hat: jenes offenbar das Ursprüngliche, denn das
geöffnete Tor steht ja im Mittelpunkt der Geschichte. Mit dieser Ab-
weichung hängt die veränderte Auffassung von Janus' Tat zusammen:
bei Macrobius ist Janus ein kriegerischer Gott, der den Römern zur
Hilfe kommt (ea re placitiim, ut belli tempore velut ad urhis auxiUum
profccto deo fores reserarentur) und dessen heißer Quell ganze Scharen
der anstürmenden Feinde vernichtet; wenn das Tor sich auf geheim-
nisvolle Weise immer wieder von selbst öffnet, so ist klärlich gemeint,
daß Janus selbst das bewirkt, um sich jenen Angriff zu ermöglichen.
Für Ovid dagegen ist Janus ein Hüter des Friedens {nü mihi cum
hello: pacem postesqiie tuebar 253: das gilt nicht nur für die Vergan-
genheit, denn Ovid fährt fort et clavem ostendens: haec ait arma gero,
und betet dann zum Gott um ewigen Frieden 287). Da ist die Bedeu-
tung maßgebend, die das Symbol der Schließung des Janustempcls in
Augustus' Friedenspolitik gewonnen hat. So greift denn auch Janus
bei Ovid die Feinde nicht an, sondern versperrt nur (als Hüter der
Tore) den Weg; und somit kann er nicht selbst das Tor geöffnet
haben: an seine Stelle tritt Juno. Der Ersatz der ursprünglichen Spitze
der Geschichte durch eine andere war hiermit gefordert.
3*
36 KiciiAui) IIkin/.ic: [71.7
XU' 778 — 804 erführt. Dim- Unterschied lie^t nicht nur in
der «größeren Ausiuhrlichkeit nnd darin, (h\Ü die Metamor-
phosen statt dos im Grunde auf cinon einzigen Moment he-
^^ehriinkten Berichts eine reich o;(;gliodertc l'ortschreitoude
lluudhing geben; es linden sich uucli sachliche Abweichungen.
Um in die Metamorpliosen zu passen ((^vid hält es offenbar
für angezeigt, irgend etwas aus dor Hegierungszeit des ersten
römischen Königs zu erzählen), mußte die Legende auf eine
'Verwandlung' hinauslaufen; es hätte dem die Verwandlung
des Orts genügt^); Ovid läßt vielmehr die Nymphen einen
eiskalten Quell, der schon früher hier 'taute', in einen glühend
heißen Fluß verwandeln. Die Nymphen, nicht Janus, zu dessen
Wesen sich solches Tun nicht in Beziehung setzen ließ^);
aber die Nymphen nicht aus eignem Antrieb, sondern auf
i) Fast. 274 quae fuerat, tuto reddita forma loco est.
2) Fast. 268 ipse nieae movi callidus artis opua, oraque, qua pollens
ope sum, fontatia reclusi. Ich «glaube nicht, daß Janus hier als 'Quellengott'
erscheint (Pktek) : lediglich das reciudcre ist ars und oj^s des schlüssel-
tragenden Gottes. — Wicueks (Qaaestiones Ovidianae, Diss. Gütt. 19 17,
61 fg.), der die Unterschiede der beiden Erzählungen schärfer ins Auge
gefaßt hat als seine Vorgänger (freilich ohne an den Gegensatz von
Elegie und Epos zu denken), findet in den Metamorphosen nur eine
Umformung der älteren Fastenerzählung. Ganz so einfach liegt, meine
ich, die Sache nicht. Die Erzählung der Met. enthält Züge, die in den
Fasten fehlen, aber zum vollen Verständnis der Geschichte unerläßlich
sind : nur die Met. erklären, wie die Feinde unbemerkt ans Tor ge-
langen, nur sie verdeutlicheu das puhis Sabinis der Fasten; nur sie
deuten aber auch durch die Bezeichnung der Sabiner als sati Curibus
an, wie das Eingreifen Junos zu verstehen ist, die nämlich nicht eigent-
lich als Feindin Roms, sondern als luno Curitis den Sabinern zum
Sieg verhelfen will: daß Ovid hiervon weiß (obwohl er fast. 266 durch
das visidiosa das Verständnis eher verschleiert), geht aus fast. VI 49
hervor, wo der senex Tatius neben den lunonicolae Faliaci, neben Kar-
thago und den griechischen Lieblingsstätten der Göttin genannt wird
als ein Feind Roms, dessen Niederlage geduldet zu haben sie nicht
bereue. Das alles führt zu der Annahme, daß dem Dichter eine Er-
zählung vorlag, in der die Umgestaltung der bei Macrobius erhaltenen
ursprünglichen bereits vollzogen war: aus ihr hat er in den Fasten
den Janus und das aitiov, in den Met. andere Züge beibehalten.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 37
Bitten — wieder nicht des Janus, was sehr wohl möglich
gewesen wäre — sondern der Venus. So gewinnt Ovid den
im Epos traditionellen Gegensatz der Venus zu Juno, und zu-
gleich das beliebte epische Motiv, daß eine olympische Gott-
heit sich der Hilfe untergeordneter göttlicher Wesen bedient.
Epischer Tradition (Troja) entspricht auch der Eingang der
Erzählung, die Überrumpelung der schlafenden Stadt, und
echt episch läuft sie aus in eine Kampfschilderung, über die
sich die Elegie mit einem Wort {pidsis Sahinis) hinwegsetzt,
und noch eine charakteristische Kleinigkeit: in beiden Fällen
ist die Erzählung an den Verrat der Tarpeia angeknüpft; in
den Fasten heißt es {rettulit) nt levis custos, armillis capia, Sa-
hinos ad summae tacitos duxerit arcis ifer, in den Met. arcis-
que via Tarpeia reclusa dignam animam poena congestis exuit
armis: dem Elegiker schwebt die leichtsinnige Tat des ver-
liebten Mädchens, dem Epiker die blutige Sühne des Verrats
vor Augen.
Wie die geraubten Frauen den Frieden zwischen Römern
und Sabinern vermittelt haben, läßt Ovid III 179 — 228 den
Mars erzählen. Die direkte Quelle läßt sich nicht feststellen^);
trenugf, daß, wie uns die Parallelberichte erkennen lassen, alle
wesentlichen Züge der ovidischen Erzählung — der Plan
des Jungfrauenraubes als Eingebung des Mars (Cn. Gellius
fr. 15 P.), die Versammlung der Frauen, die führende Rolle
der Hersilia (Dionys. 11 45), das Mitnehmen der Kinder zur
Vermittlung — nicht von Ovid erfunden sind; aber die Art
der Verwendung scheint doch weitgehend sein Eigentum zu
sein. Um zu erklären, warum die Matronae die Erinnerungs-
feier an ihre Tat gerade am i. März begehen, berichtet Mars,
daß er dem Romulus zum Raube geraten habe, und um hier-
für die nötige Grundlage zu schaffen, wird auf der Notlage
i) AufVarro scHießt Samter, Quaestiones Varronianae (Diss. Berl.
1891), 52 ff., für mich nicht überzeugend; ich würde eher an einen
Annalisten denken. Für die Einleitung (179 — 196) hat vielleicht
Livius einige Anregung gegeben (Sofee, Livius als Quelle von Ovids
Fasten, Progr. Wien 1906, 12 fg.); doch ist auch das ganz unsicher.
38 KicuAKi) Hkinzi:: [7',7
ilcr iVauoulosPu Köiuor lanjfo \ ciwi'ilt : ilie senlinieutalo Sohil-
(lünmj^ der Annlicliktnt und Kleinheit Urroius ist ein Lieb-
liiii^siuotiv der Fasten.*) In der Er/ilhlung stdbst ist das
wichtigste Novum Ovids dies: wählend die \'ulgat!i, der Li-
vius und Phitarch folgen, die Frauen «ich zwischen die
kämpfenden Heere werfen läßt"), i>itir (cht volantia, diä räv
onXcov (ffQÖ^iei'Ki xcd tüv i'fXQÜv ojgTCfi) i/. ^tov xdroxoi
(Plut. Koui. 19), verzichtet Ovid auf die pathetisch-heroische
Szene; er vermeidet es überhaupt, von einem Kampf zu er-
zählen, indem er den Aufzug der Frauen erfolgen läßt, während
die Heere einander gegenüberstehen und auf das Signal zum
Angriff warten. Er verzichtet auch darauf, die Frauen, wie
Livius und Plutarch, reden zu lassen (damit Hersilia, die
iiunts 3Iartis, nicht zu kurz kommt, hat er sie vorher in der
Frauenversammlung das Wort iühren lassen): rührender als
die rührendste Rede ist es, wenn die Kleinen, die nun hier
die Hauptrolle spielen, die Armchen nach den Ihren aus-
strecken und den Großvater rufen; und wenn schließlich der
harte Sabiner den Enkel im Schilde wiegt, so ist das ein
gemütvoll genrehafter Zug, der der Elegie trefflich ansteht.
i) Bei Livius I 9 lehnen die Nachbarn das conubium ab, teils aus
Furcht vor der wachsenden Macht Roms — das würde in Ovids Bild
nicht passen — , teils aus Verachtung gegen das im Asyl zusammen-
gelaufene Gesindel — das wäre dem Ovid in diesem Zusammenhange
(anders III 432) zu despektierlich: er läßt die Römer als einstige Hirten
und arme Leute verachtet werden.
2) Dionys, der solche tgaycoSiu aus anderem Grunde als der ele-
gische Dichter nicht schätzt, läßt alles sehr diplomatisch zugehen: die
Frauen fassen in einer Versammlung den Beschluß, einzugreifen, wen-
den sich dann an den römischen Senat, der mit kluger Verklausulie-
rung die Gesandtschaft an die Sabiner genehmigt, ziehen dann zum
Lager der Feinde, wo sie vor König und Senat vorgelassen werden
und Hersilia eine lange Rede hält; dann werden sie abgeführt und
der Senat berät über den Antrag, der schließlich angenommen wird:
das alles trägt so deutlich den Stempel des dionysianischen Geistes,
daß ich es (gegen Samter a. a. 0.) im wesentlichen dem Rhetor zu-
schreibe, der eine ältere annalistische Fassung (vgl. Cn. Gellius a. a. 0.)
in seiner Weise umformte.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 39
Endlich die Apotheose des Romulus fast. II 481 — 512,
die Ovid auch met. XIV 805 — 828 erzählt; die beiden Reden
des Mars habe ich schon oben S. 17 verglichen. Auch die
folo-enden Erzählungen weisen bei aller Identität des Wesent-
liehen^) charakteristische Unterschiede auf. In den Fasten
bricht die olympische Szene mit Juppiters gewährendem
Nicken ab und die irdische setzt mit est locus, antiqui Ca-
preae dixere paludem neu ein, führt zu Romulus und schildert
dann das Unwetter, während dessen rex patriis astra petebat
equis; Mars tritt nicht mehr handelnd auf. Die Metamor-
phosen halten, echt episch, auf Kontinuität der Handlung:
Juppiter nickt Gewährung und erregt ein gewaltiges Un-
wetter, in dem Mars das Signal zur Entführung erkennt: er
besteigt den Wagen, fährt zur Erde herab und entrafft den
Romulus, der eben dem Volke Recht sprach: dessen Ver-
wandlung in den Gott wird dann beschrieben. — In den
Fasten behält Ovid das traditionelle Lokal, den 'Ziegeusumpf
bei: für das Epos ist das nicht erhaben genug, hier tritt der
'Gipfel des bewaldeten Palatium' an die Stelle. — In den
i) Die Entrückung durch Mars wird Ennius berichtet haben (vgl.
Quirinus Martis equis Acheronta fugit Hör. od. III 3, 15); aber sie war
auch bei den Historikern zu finden: 7tsTti6xsv-/.a6iv inb xov TtazQbg
"AQSog xbv ccvÖQcc avr]Q7tdc9ai Dionys II 56, 2. Im übrigen sehe ich keinen
Grund zu der Annahme, daß Ovid sich näher an Ennius hält als an
die historische Yulgata, und glaube auch nicht, daß, wie es Ehwald
(ad hiatoriam carminum Ovidianorum recensionemque symbolae, Progr.
Gotha 1892, II ff.) oft nachgesprochen worden ist (nur Vahlen äußerte
sich mit berechtigter Zurückhaltung, Ennius* p. LXII), die Überein-
stimmung Ovids mit Livius auf gemeinsame Benutzung des Ennius zu
deuten sei. Livius' Erzählung hat in der Anlage wie in Einzelheiten
die größte Ähnlichkeit mit der Plutarchs, so daß mir für beide eine
und dieselbe Quelle sicher steht, die dann gewiß nicht Ennius ist
(hübsch ist es, wie der Grieche, dem römischen Militarismus abhold,
die Forderung des neuen Gottes rem müitarem colant umbiegt zu cta-
(fQOGvvriv (let avögsiccs aaxovvrsg). Auch die einleitende olympische
Szene Ovids wage ich nicht für Ennius in Anspruch zu nehmen; eher
dagegen als dafür spricht es, daß dem Mars ein ennianischer Yers aus
einem früheren concilium deorum in den Mund gelegt wird.
40 KiCHAKu Hkinzk: f7'.7
Fast(Mi wird die Eutf"iihrun<j; selbst mit wenigen (oben zitier-
ten) Worten erledigt; die Metamorphosen verweilen auf dem
Hilde des y.ur Erde herabfahrenden Kriegsgottes: es ist das-
selbe Verhältnis, das wir bei der Fahrt l'lutos in der l'ro-
serpinageschichte beohaehteten. — Die Fasten erzählen, wieder
der Tradition folgend, die Bestätigung von Romulus' Gött-
lichkeit dureli das Zeugnis des Proculiis Julius: im Epos
Avürde dies irdische Nachspiel die Erhabenheit des Vorgangs
beeinträchtigen; es bleibt weg. Gerade hier zeigt sich wieder
die Eigenart der elegischen Erzählung in der Ausmalung
von Julius' Begegnung mit dem neuen Gott: daß der Wan-
dernde von Alba zurückkehrt M und keine Fackel braucht,
i) Proculus Longa veniebat IuUuk Alba: der Ursprung dieses con-
cetto ist der, daß die Historiker von dem Manne wußten, er war zwv
tili "AXßrig irroUwv (Plut. 28) und zmv &n' yic-naviov (Üionys. II 63, 3},
was sieb übrigens bei einem Julius von selbst versteht. Ovids Aus-
druck kann freilich auch meinen, daß Julius ein Albaner ist, der als
Gast nach Rom kommt, indessen spricht das folgende nicht dafiir
(richtig ScHWEGLEE, R. G. I 537); auch wäre dann Ovid der einzige,
der mit Rücksicht darauf, 4aQ die Übersiedelung der Julii nach Rom
erst unter TuUus Hostilius erfolgt sein sollte, den Proculus noch Alba-
ner sein läßt. Denn ich kann MCnzek (R. E. X 112) nicht zugeben, daß
diese Annahme in augusteischer Zeit feste Tradition ist: sie wird nir-
gends ausdrücklich erwähnt, obwohl es doch bemerkenswert genug
wäre, daß Romulus einem Nichtrömcr seine Gottheit manifestiert hätte.
Livius faßt den Proculus zweifellos als Römer, wenn er von consilium
unius viri spricht und ihn sagen läßt: liomulus parens urbis huius. Bei
Dionys ist es ein yscoQyimg &v^q {liomo agrestis bei Cicero): der Zweck
dieser Erfindung ist bei ihm ganz deutlich: Proculus ist nicht bei der
contio gewesen, sondern kommt i| äyQov und sieht den Romulus öcTt-
lovxa iv. xf]g jtoXsag, also unmittelbar nach seinem Verschwinden; das
Zeugnis värd dadurch (und auch weil Proculus rbv ßiov aviTiiXi]Tttog
ist, wie ein rechter Landmann) vertrauenswürdiger. Bei Plutarch ist
dann vollends Proculus ein Patrizier, der sich durch den gegen die
patres herrschenden Verdacht mit beschwert fühlt. Übrigens setzt die
Erfindung der Geschichte entweder die Gleichung Romulus— Quirinus
v#raus, oder — was mir namentlich durch die älteste erhaltene Fassung
(bei Cicero de rep. II 20) sehr wahrscheinlich wird — sie diente dazu
eben diese Gleichung einzuführen. Denn wenn sich der Gott seinem
Volke offenbart, ist doch die notwendige Folge die Verehrung dieses
71.7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 4^
weil der Mond hell scheint, daß Romulus nicht vom Himmel
herabsteigt, sondern zur Linken aus der den Weg einrahmenden
Dornenhecke tritt, das sind Einzelheiten, offenbar von Ovid
erfunden, die im Epos nicht am Platze wären. Im übrigen
ist auch hier wieder die patriotisch-panegyrische Tendenz
Ovids sehr deutlich: im Gegensatz zu den Historikern läßt
er keinen Zweifel darüber, daß der Argwohn der Ermordung
des Romulus durch die Patrizier falsch ist (falsaeque patres
in crimine caedis), und gibt dem Zeugnis des Proculus ein
ganz anderes Gewicht, indem er, wieder als einziger, die Be-
gegnung selbst erzählt, nicht nur den Proculus berichten
läßt.O
4-
Der Überblick über die Gestaltung der Romulussage
lehrt uns, daß die heroischen Züge im Bilde des Stadtgrün-
ders durchaus zurücktreten. Als Kriegsheld vor allem lebt
Romulus in der Tradition: aus den Fasten würde man das
nicht entnehmen können, keiner seiner Siege wird erzählt'
oder verherrlicht. Besonders auffällig ist, wie Ovid selbst den
Gründimgstag des Tempels des Juppiter Stator nicht zum
Anlaß nimmt, von dem Kampf gegen die Sabiner zu reden,
Gottes; einen Romuluskult hat es aber nie gegeben. Man braucht nur
den Inhalt der OflFenbarung bei Cicero mit der bei Livius (der bezeich-
nenderweise von Romulus— Quirinus schweigt) zu vergleichen, um zu
erkennen, wo das Ursprüngliche liegt. Leider wissen wir nicht, wie alt
jene Gleichung ist; aus Ciceros Äußerungen entnehme ich nicht (was
ich wegen Wissowa, Rel. d. R. 156, 5 bemerke^ daß er sie für jungen
Datums hält (eher das Gegenteil), sondern nur, daß er sie als fabula
einschätzt.
i) Der Skeptizismus des Livius dagegen sagt et consilio etiam
unius hominis addita rei dicitur fides . . mirum quantum Uli vivo
nuntianti haec fides fucrü (vgl. auch Plut. Num. 2). Cicero behauptet
sogar geradeswegs, Romulus habe inpidsu patriim, quo Uli a se invi-
diam interitus Romuli pellerent, seine Aussage gemacht (de rep. II 20).
Begreiflich, daß diese einen homo agrestis vorschieben, der nicht in den
Verdacht kommen kann, im Interesse seines Standes zu lügen, s. vor.
Anmerkung.
,2 IxicMAun TTr.iN/K: l7'i7
obwohl ilocli tliis Gebet dos Köni«rs uiul »Ici- durcb .luppitiMs
Krhöniug l)0\virkto i>löt/lit'lio Umschwung, der das Schicksal
des Tages entschied, /.u poetischer Diirstellung reizen konnte
— Ovid l)egiiügt sich (VI 793 ff-) uiit der Angabe, daß l{o-
niuhis den Tempel ante Paliti»! rondidit ora inf/i. Dies Aus-
weichen vor der Kampfschilderung beschränkt sich aber nicht
auf die Homnlussnge, sondern geht durch die Fasten durch:
so oft auch Gedenktage römischer Siege oder Niedeilagen
aus nltou oder neueren Zeiten erwähnt werden, regelmäßig
bleibt es bei der bloßen Erwähnung. Um dies zu erklären,
genügt es nicht, auf die pazifistische Tendenz der Politik
des Augustus zu verweisen, denn Augustus selbst hat nie-
mals vergessen oder vergessen lassen wollen, daß der Friede,
der die jetzt römische Welt beglückt, die Frucht der von
ihm und früheren Triuraphatoren errungenen Siege war, und
hat daher die VerheiTlichung dieser Siege in bildender Kunst
und Dichtung viel eher befördert als gehemmt. Auch per-
sönliche Abneigung Ovids gegen Szenen blutiger Gewalt kann
nicht entscheidend gewesen sein. Die Metamorphosen ent-
halten zwar keine Kampfschilderungen homerisch virgilischcr
Art — der Plan des Gedichts legte solche nicht nahe — ;
aber wo sich die Gelegenheit bietet, Käm]>fe märchenhaften
Charakters zu beschreiben, tut es Ovid mit großer Ausführ-
lichkeit und sichtlicher Freude: so den Kampf der Zentauren
und Lapithen (XII 210—535), des Perseus gegen Phineus,
in dem das versteinernde Medusenhaupt die letzte entschei-
dende Waffe ist (V 1—235), cles Achill gegen den unver-
wundbaren Cygnus (XII 64—145), auch Kämpfe der Helden
gegen Ungeheuer und wilde Tiere, des Cadmus gegen den
Drachen (III 28 — 98), des Perseus gegen das Meerungetüm
(IV 663—752), die Jagd auf den calydonischen Eber (VIII
260 — 444). Die Fasten bieten an vergleichbarem nur die kurze
Schilderung von Hercules' Kampf mit Cacus (I 543 — 584, wo
der eigentliche Kampf 15 Verse beansprucht), die eng in die
von Ovid geflisf^entlich in den Vordergrund geschobene Eu-
andersage verflochten und auch, als ui'riov des römischen
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 43
Herculeskult?, vom Standpunkt des Fastendichters aus unent-
behrlich schien. Wenn Ovid Schlachtberichte, die ihm sein
Gegenstand oft nahelegte, vermied, so ist der Grund gewiß
der, daß die elegische Dichtung prinzipiell solche Schilde-
run o-en ablehnt: das war recht eigentlich die Domäne des
Epos, und das Unvermögen des Elegikers, gerade in diesem
Punkte über die der Gattung gesetzten Schranken hinauszu-
gehen, wird von Ovid wie von Properz oft genug betont.
Eine Ausnahme nur macht Ovid: den Auszug der Fa-
bier gegen die Yejenter und ihren ruhmvollen Untergang
am Cremera erzählt er II 195 — 241. Für diese Ausnahme
bedarf es einer Erklärung, die in einer sachlichen Nötigung,
gerade diese Episode dem Kalendergedicht einzufügen, nicht
gefunden werden kann.^) Ein persönlicher Anlaß dünkt mich
wahrscheinlicher. Ich sehe in der Einlage eine Huldigung
des Dichters an seinen vornehmen Freund und Gönn,er
Paullus Fabius Maximus, zu dessen Hause er auch durch
seine Frau in naher Beziehung stand (ex P. I 2, 138). Fabius
war vermählt mit Marcia, einer Kusine des Augustus (Ovid
hat den Hymenaeus für das Paar gedichtet, ebd. 133): auch
diese wird in den Fasten in ganz einzigartiger Weise ge-
ehrt, indem der Dichter VI 797 ff. die Wiederherstellung der
aedes Herculis Musarum durch ihren Vater Marcius Philip-
pus zum Anlaß nimmt, das Lob der Dame in hohen Tönen
zu singen.^) Auch ihr, der Patronin von Ovids Gattin (ex
i) Eltee (Cremera und Porta Carmentalis, Bonner Progr. 1910,
p. SsfiF.) meint freilich, wenn ich ihn recht verstehe, der Brauch, nicht
durch die porta Carmentalis zu gehen, sei für Ovid der Anlaß ge-
•wesen, die Fabiergeschichte zu erzählen. Aber auf solche Bräuche, die
nicht an bestimmten Tagen haften, geht Ovid sonst nirgends ein,
während er historische Gedenktage öfters bezeichnet, auch wenn sie
kalendarisch keine Rolle spielten.
2) In der Verbannung hat Ovid auf die Fürsprache des Fabius
bei Augustus große Hoffnungen gesetzt (ex P. I 2 : das Gedicht ist auch
durch die Stellung, als erstes nach dem Widmungsgedicht, hervorge-
hoben; III 3, 107), die, wife er später überzeugt ist (IV 6, 9), nur an
dem vorzeitigen Tode des Gönners gescheitert sind. I 2, 3 ff. erinnert
44 RiciiAiJu 11i;in/.k: [71,7
1'. 1 J, 137; 111 1, 73), mußte der Kulim der gens Kiihiii
lieblich in den Olirou klinoon. Und :ils lUilimcstiit der Fahler
vielmehr denn iils rüniisehe Niederhigc hnt Ovid die Ge-
schichte berichtet, indem er aus der Erzilhhmg des Livius
— daß er diesem hier fol<j;t, scheint mir unbestreitbar') —
geschickt alles wegläßt, was das Verdienst der Fabicr schmä-
lern kann: die große Sciilacht, an der die Legionen des
L. Aemilius teilnahmen (Liv. II 49, 10) mul der darauf ge-
schlossene Friede wird nicht erwähnt, und aus den Schar-
mützeln, die dann die Fabicr gegen die Vcjenter (sine ullo
fnaioris hcUi upparatu Liv. 50, i) siegreich bestanden, wird
eine Angriti'sschlacht, die sich an die Lagerung am Cremera
unmittelbar anschließt; die Niederlage selbst, an der nach
Livius das durch die Feinde geschickt genährte Vertrauen
der Fabier auf die eigene Unüberwindlichkeit schuld war^),
wird bei Ovid zum Ruhmestitel, indem die ehrliche und arg-
lose virtus der feindlichen perfidia erliegt.^) Aber wichtiger
als diese panegyrische Umformung ist für unsere F'rage dies,
daß Ovid hier, wo er ausnahmsweise die der Elegie gesetzten
er an den Untergang der Fabier und zitiert dabei den Fastenvers
11 236. Man könnte vermuten, daß er die auf die Fabier und auf
Marcia bezüglichen Stücke der Fasten erst in der Verbannung zuge-
dichtet hat, um sich der Gunst des Paares zu versichern. Das würde
voraussetzen, daß Ovid schon bevor er nach Augustus' Tod die Um-
arbeitung der Fasten in Angriff nahm, die einzelnen Bücher von Tomis
aus, wenn auch nicht eigentlich veröffentlichte, so doch seinen Freunden
zugänglich machte oder machen wollte, und ich kann in der Tat nicht
daran glauben, daß er auf dies vorzügliche Mittel zur Rehabilitierung
seiner Poesie ganz verzichtet haben sollte. Aber unentbehrlich ist jene
Annahme nicht. — Der Fabii Maximi wird übrigens auch fast. I 605
in höchst ehrender Weise gedacht.
i) SoFER a. a. 0. 5 ff. Das Datum des 13. Februar hat Ovid aller-
dings aus anderer Quelle; darüber gute Bemerkungen bei Elter
a. a. 0. 19 ff.
2) 50, 5 iamque Fabii adeo contempserant hostem, ut sua invicta
arma neque loco neque tempore ullo crederent sustineri posse.
3) Das liegt ganz auf der Bahn patriotisch-römischer Geschichts-
fälschung, s. Virgils ep. Techn.' 10, 2; 31, i.
7', 7] OviDS ELEGISCHE ERZÄHLUNG^ 45
stoffliclien Schranken überschreitet, auch in der Form osten-
tativ episiert: nicht weniger als drei Gleichnisse, alle aus
dem Epos wohlbekannt^), sind in dem kurzen Stück ange-
bracht, während die Erzählungen der Fasten sonst diesen
spezifischen Schmuck des Epos sehi' sparsam verwenden, fast
nur um rührende Momente zu vertiefen.")
In ganz anderer Weise hat Ovid des Livius Erzählung
von der Vertreibung der Tarquinier (I 53 ff.) ins Elegische
übersetzt (II 685 — 852). Die Komposition des Ganzen ist
eigentümlich und nicht wohlge Inneren: statt sich auf die
Lukreziageschichte und ihre politischen Folgen zu beschrän-
ken, schickt Ovid zwei selbständige Erzählungen voraus, um
die männlichen Hauptpersonen der Hauptaktion, die Tarquinier
und Brutus, zu charakterisieren: die erste, die Einnahme von
Gabii durch Sextus' List, als einen Rückblick auf Vergange-
nes, gleichsam parenthetische Erläuterung zu vir iniustus, fortis
ad arma tarnen (ceperat hie . . urhes et Gdbios fecerat . . suos)-^
hieran ist erst ecce nefas visu yii als anschließend gedacht,
womit Ovid zu der nur eben skizzierten Geschichte vom
Orakel des Apollo und seiner klugen Deutung durch Brutus
übergeht. Wenn Ovid dann 721 fortfährt cingitur interea
Bomams Ärdea signis, so ist das nicht schlechter als Livius'
Übergang reditum inde Homam, ubi adversus Rutulos bellum
i) 209 die Löwen, die die Herde überfallen: 21 352 (Wölfe); 219
der Sturzbach: E 87; 231 der Eber und die Hunde: M 146,
2) Ich zähle nur 13 Gleichnisse (gegen c. 200 der Meiamoriihosen),
meist ganz kurz, so daß ein Distichon Verglichenes und Gleichnis um-
faßt, keines sonst so ausgeführt wie hier v. 219 — 222 und 231 — 233.
Offenkundige Homerimitation nur noch in parodischer Absicht H 341
nach r 33. Über den 'Schwanengesang' Arions II 109 s. Crusius Rh.
M. 47 (1892), 70. Der Vergleich der Habsucht mit der Wassersucht
I 215 ist aus der Popularphilosophie wohlbekannt. — Die fleißige Ar-
beit von Washietl, de similitudinibus imaginibusque Ovidianis (Diss.
Wien i88j) behandelt ihr Thema nur unter dem Gesichtspunkte der
Abhängigkeit Ovids im einzelnen von Früheren; eine Vorstellung von
der Rolle, die das Gleichnis in Ovids Poetik überhaupt und in den
verschiedenen Dichtgattungen spielt, ist nicht daraus zu gewinnen.
^ü liRiiAui» Hkinzi:: l7'.7
sii))u>i<t ri panihittur.^) — In der ersten Erzilhlung sind d'iv
politisdion Aktionen, Sextus' Wirkeif in Gal)ii vor und nach
der Botschaft au dt'U Vater, mit eini-in Wort {potcus) und
einem Vers al)geiuaclil; den Dichter interessieren nur zwei
ansehauliclie 8/enen (der Illustrator der Geschichte würde
ganz ebenso verfahren): die Einfiiiirung des Sextus bei den
Gabinern und die Botschaft an den König. Die erstere muü
er freilich erst aus der unanschaulicluMi Darstellung des Li-
vius heiuusgestalteu, der uns gar nicht nicht sagt, wo und
wie und wann sich Sextus den Feinden gestellt hat 2)-, nur
seine Rede wird ziemlich ausführlich (indirekt) wiederge-
«reben.^) Ovid begnügt sich für die Rede mit einer Anleihe
bei Virgils Sinonszene^), läßt den Sextus die Wahrheit seiner
Worte durch die Spuren der angeblich vom Vater erhaltenen
Hiebe erhärten — die sachgemäß abgeschwächte Wiederholung
1) Über das überleitende interea e. Virg. ep. Techn.^ 388, 2. 456.
Auch nach oben ist Livius' Verknüpfung mit liaec agcnti portentum
terribih visitm (vorher ist von Tarquinius' Bauten und der Aussendung
von Kolonien die Rede gewesen) recht locker: mau sieht, er hat die
eigentlich an keinen bestimmten Zeitpunkt der Regierung geknüpfte
Geschichte schlecht und recht vor der Katastrophe eingefügt. Dionys gibt
sie als Exkurs vor des Brutus entscheidendem Auftreten (IV 69: statt des
Schlangenpiodigiums eine Seuche, die den ungewöhnlichen Schritt der
Befragung des delphischen Orakels besser zu motivieren schien); an
der Stelle der livianischen Geschichte (IV 63) erzählt er ein Vorzeichen
für des Tarquinius Sturz.
2) I 53 transfugü ex composito Gabios, patris in se saevitiam into-
lerabilem conquerens.
3) Zur Beglaubigung des Sextus dient, außer der inneren Glaub-
würdigkeit seiner Klagen, nur dies, daß er droht, falls ihn die Gabiner
nicht aufnehmen, flugs eine andere Rom feindliche Stadt aufzusuchen.
Dem Dionys (IV 55) genügte die simple Erzählung, die er in seiner
Quelle fand, nicht, und er erdichtet wieder eine große Haupt- und
Staatsaktion.
4) occidite inermem: hoc cupiant fratres Tarquiniusque pater; Virg.
II 103 iamdiidum siimite poenas: hoc Ithacus velit et magno mercentur
Atridae. — ignari heißen die Gabiner v. 700, die Troer ignari scelerum
tantorum 106.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZAHLUNG. 47
eines Zuges aus Herodots Zopyrosgeschichte^) — , vor' allem
aber stellt er ein Bild (m medios hostes node silente venu, nu-
darant gladios . . lima fuit), und, was für die Elegie wichtig
ist, sorgt für Rührung: wenn die guten Gabiner über das
erlogene Leid des Sextus weinen, so erregt das des gefühl-
vollen Lesers Mitleid mit ihnen selbst. — In der Szene des
Königs und der Boten hat sich Livius' hortus aedium ent-
wickelt zu einem Jiortus odoratis cultissimus herlis, den ein
leis rauschender Bach durchschneidet; der Mohn der über-
lieferten Geschichte hat sich in Lilien verwandelt. Ovid hat
hier nicht unbedacht geändert — wenn jemand in einem
wohlgepflegten Ziergarten die höchsten Lilien köpft, so ist
das noch sicherer bedeutungsvoll, als wenn er in einem be-
liebigen hortus Mohnköpfe abschlägt — , aber die Ausführung
der axfpQaöLg ist ganz konventionell, was dem Ovid nicht leicht
begegnet: seine roTCo&s^Cai sind zu allermeist in jedem Zug
darauf berechnet, Stimmung zu vermitteln, soweit sie nicht
zur Erklärung der Handlung dienen. An unserer SteUe aber
hat der Vers sectus humum rivo lene sonantis aqiiae keinen
anderen Zweck, als das Distichon auszufüUen. Ovid hat in
den Fasten streng daran festgehalten, der roico^adCa nicht
mehr als ein Distichon zu widmen, aber dies auch ganz: sie
soll als kleines in sich abgeschlossenes Ganzes erscheinen.^)
i) ctnoxsitmv iavxov tj]v qiva v.a\ xa wxcc -nal xr]v HOftTjv ■xccy.mg
TtsQLKsiQcag Kai naoxiymaas fil&s Tcagä ^agstov III 154. Die Geißelung
spielt auch bei Dionys eine Rolle: aber er ist nicht so naiv, den Ga-
binem zuzumuten, daß sie einen Schwindel wie den ovidischen glauben
sollten, sondern ctnqTttsxccL öiarpoQCCv ngbg xbv naxigcc tcsqI xfjg -naxa-
Xvasag xov noX^^ov ^laaxiycü&Hg S' in' avxov QaßSoig iv ccyogä yial xc'dXu
nsQtvßQia&sig, wgxs nsQißörixov ysvie^ai xb ngäy^a, knüpft er, zu-
nächst durch Getreue, Verhandlungen mit Gabii an. Ich halte das für
reine Erfindung des Dionys.
2) n 215. 315. 435. III 263. IV 495. 649. V 149. VI 9. 495- Zwei
Distichen nur III 295; ein paarmal schließt sich an die eigentliche xo-
«o^föi'a noch eine Ausführung in einem Distichon an: I 555 und, schon
durch das Tempus {suberant, vorher est) abgehoben, IV 429. Nicht mit
dem Hexameteranfang beginnt die Beschreibung, die dann das Disti-
chon ausfüllt, nur II 165,
48 h'icuMti) Hi;iN/i;: l7»,7
Das letztere häiiu,t mit der (liirchi^elieiuUMi disticliisclieu Glie-
derung der elogisclicn Er/.iUiiuii«; /usaninien, über die weiter
unten /u reden ist. Gegenüber der in den Fasten geübten
Besehrünkung lint sieh Ovid in dt-n IMetaniorjiliosen viel
mehr l\aum i'ür die Ortsbesehreibnng gegc'innt: da l)egeguen
fx(fQä<S{tg von 7, 8, 9 Versen'), kaum je unter 4-). In die-
sem Unterschied wirkt, meine ich, die Tatsache nach, daß
die OrtBl>eschreibung, so gut wie die fxq^QaOig von Kunst-
werken oder bildhaften Vorgängen (Seesturni u. dgl.) dem alten
Epos entstammt; der elegische Erzähler dagegen steht von
vornherein gleichsam seinen Menschen zu iialie, als daß er
die Muße hätte, bei objektiv schildernder Beschreibung von
Gegenständen lange zu verweilen.^)
Zurück zur Erzählung des Begifugium. Die Geschichte
vom delphischen Orakel hat Ovid bis zur Unverständlichkeit
verkürzt: kein Leser kann ahnen, daß unter der turha v. 716
die beiden Königssöhue zu verstehen sind: vielmehr schließt
das quisque siiae niatri jene überlieferte Fassung aus, ohne
daß wir eine neue dafür erhielten-, und jeder müßte ainiehmen,
daß das Orakel die Antwort auf die Frage wegen des Prodi-
giums ist, Avähreud uns die Historiker darüber aufklären, «kß
1) z. B, III 155. V. 385. XI 229.
2) Dies nur in sehr lebhaft dramatischer Erzählung-, in der ein
ruhig betrachtendes Verweilen unmöglich wird: III 708 (Pentheus), IV 525
(Ines Wahnsinn).
3) Die ars amandi gibt dagegen eine ausführlichere Ortsbeschrei-
bung in der Erzählung von Cephalus und Procris, III 687—694; diese
iiKpQuaig steht nicht, wie die oben aus den Fasten aufgeführten, im
Zuge der Erzählung, sondern eröffnet diese mit einem stimmungsvollen
Eingangsbild; daraus könnte sich die Abweichung erklären. Aber auch
Properz legt sicli in der Ortsbeschreibung keine Beschränkung auf
(I 20, 33—38; IV 9, 24. 27—30), so daß es fraglich ist, ob Ovid die
Technik der Fasten seinen unmittelbaren Vorgängern in der elegischen
Erzählung verdankt oder sie älteren Vorbildern abgelernt hat. — Be-
schreibungen von Bauten (wie die regia Solis met. II i) oder Kunst-
werken (wie der eurnis Solis ebd. 106 oder der Mischkrug des Aeneaa
XIII 685) finden sich in den Fasten nicht, obwohl die Tempel Roms
imd ihre Kunstschätze doch Gelegenheit genug geboten hätten.
71,7] OviDS ELEGISCHE EuZAHLUNG. ' 49
es auf eine private, nach Erledigung ihres Auftrages getane
Frage der Prinzen erfolgt. Das Prodigiuni selbst hat Ovid
umgestaltet, nach dem Muster anderer: vielleicht nur, weil
ihm das livianische nicht schreckhaft genug erschien.^) Von
spezifisch elegischem Stil weist dieser zweite Teil der Er-
zählung nichts auf. Um so mehr der dritte und Hauptteil,
die eigentliche Lukreziageschichte.^) Schon Schwegler (R. G.
776, 5) hat Ovids Darstellung ganz richtig als 'sehr fein und
kunstvoll, aber fast modern sentimental und von versteckter 1
Lüsternheit nicht frei' bezeichnet; dann hat Pokrowskij^)'
i) Bei Livius befallen den König Sorgen um die Zukunft, unguis
ex eolumna lignea elapsus cum terrorem fugamque in regia fecisset; bei
Ovid mediis altaribus unguis exit et extinctis ignibus exta rapit, womit
Schwegler R. G. I 774, 3 vergleicht Liv. 25, 16 Graccho sacrificanti triste
prodigium factum est. ud exta, sacrificio perpetrato, angues duo ex oc-
culto adlapsi edere iecur, conspectique repente ex oculis abierunt, was
sich dann noch einmal wiederholt und von den Haruspices auf eine
Gefahr gedeutet wird, die dem Imperator ab occultis Jiominibus consul-
tisque droht. Möglich immerhin, daß Ovid an diese Deutung gedacht
hat; wahrscheinlich nicht. — Mit ecce führt Ovid zumeist nicht ein im
Lauf der Geschichte überraschend eintretendes Ereignis ein (so I 433),
sondern beginnt etwas Neues, öfters so, daß vorher der Zustand ge-
schildert wird, den das Ereignis voraussetzt: I 543. III 285. 741 ; so hier,
anknüpfend wie oben gesagt an v. 689 fg.
2) Wenn Cassius Die fr. 11, 13 wirklich, wie u. a. Schwartz R. E.
III 1692 ff. versichert, von Livius unabhängig ist, so folgt daraus, daß
dieser sich hier sehr eng an seinen Gewährsmann gehalten hat; und
daß er das certamen muliebrc mit dem ersten Besuch bei Lukrezia (von
dem die aus älterer Quelle, wohl Fabius Pictor, fließende Darstellung
des Diodor und Dionys nichts weiß) nicht selbst erfunden hat, würde
man allerdinge von vornherein annehmen. Aber die Anklänge an Li-
vius sind bei Ovid so stark, daß man mit der Möglichkeit, Ovid habe
den Autor des Livius benutzt und verdanke ihm einen Teil dessen,
was er mehr bietet, nicht zu rechnen braucht. Der einzige Zug, den
Ovid mit Dio, nicht auch mit Livius gemeinsam hat, ist v. 788 der
Hinweis auf die Verwandtschaft mit Sextus, als ihn Lukrezia aufnimmt
(so auch Diodor); aber darauf kann Ovid, der ja wußte, daß CoUa-
tiuus ein Tarquinier war (Liv. 57, 6), von selbst verfallen sein.
3) Neue Jahrbb. 1902, 258 ff., mit nicht wenigen Mißverständ-
nissen in den Einzelheiten.
PhU.-hist. Klasse 1019. Bd. LXXI. 7. 4
50 IJirnAUi) Ilr.iN/.F.: [7',7
auf luam-he /Aigv liiii^cwioBon, die Livius fienul sind, abor
in Ovids Eroticis oder in dcM- ludlcnistisohen Poesie Entspre-
chunnj finden. Sie liegen so klar 7,ula<ve, ilnß ich darauf nicht
eingehen will; nur einiges hislicr meist Übersehene, das für
unseren Zweck wichtig ist, hebe ich heraus.
Die pflichttreue und keusche Lukrczia des Livius genügt
Ovid nicht; sie muß sich als liebende Gattin zeigen, damit
ihr Unglück und ihr Tod recht rührend, die Tat des Sextus
dementsprechend frevelhaft erscheine. Zu dem Ende wird
glv?ich anfangs der Wettstreit nicht wie bei Tiivius ganz all-
gemein auf die ingenia der Ehefrauen gestellt, sondern er
spitzt sich auf die Liebe zum Ehemann zu: ccquid coninf/ibiis
nostris midua cnra sumus? Dafür ist noch nicht entschei-
dend, daß Lukrezia mit ihren Mägden bis tief in die Nacht
bei der Arbeit sitzt: sie muß ihre Gefühle äußern und tut
das in einer kleinen Rede, die zwar sehr geschickt durch Auf-
forderung und Frage eingeleitet wird, aber freilich durch
ihre Inszenierung dramatische Motive (Lauschszene; Über-
raschung; Umschwung vom Schmerz zu Jubel) in die ruhige
livianische Erzählung hineinträgt. Ovid weiß in Lukrezias
Worte sehr hübsch einzuflechten, daß sie als echte römische
Matrone, wie lanifica, so auch domiseda ist^); aber im übrigen
steht ihm ihr Bild wie das der verlassenen Gattinnen elegi-
scher Poesie vor Augen, die ängstlich um den im Felde
stehenden Mann bangen und seine Tapferkeit fürchten, die
Penelope der Heroide oder Properzens Arethusa; ja Lukrezia
spricht kläglicher als sie alle mens dbit et morior, qnotiens
pugnantis imago me subit et gelidum pectora frigus habet. Die
Empfindungsweise selbst, menschlich-natürlich wie sie ist,
teilt auch Homers Andromache (dai^övis, tp^Cön 6s rö 6bv
fisvog^ ovd^ sXsaiQSig Ttaldd rs vr^nlaxov xal s^ äufioQOV . . akX
ays vvv sltaiQS xal avro&i aiav in} TtvQya)-^ aber seit die
heldischen Mädchen und Frauen der Tragödie den Typus
weiblicher Größe in Aufopferung und kühner Tat geprägt
i) 747 quid tarnen auditis? nam phira audire potestis. quantum
de hello dicitur esse super?
71,7] üviDs ELEGISCHE Erzählung. 5^
hatten, rezipiert ihn das Epos; Dido, die Stadtgründerin und
kraftvolle Herrscherin, Amata, die Kriegsfurie, Camilla, die
schlachtenfrohe Jungfrau, Juturna, die reisige Schwester des
Turnus, stehen im Vordergrunde der Frauenwelt der Aeneis,
und die Matronen von Lavinium eilen auf die Mauern der
bedrängten St&dt 2)ri7naeque mori pro moenibus ardent (XI 895).
Im historischen Epos steht's nicht anders: die Terentia Cice-
ros, die den Gatten in der Entscheidungsstunde zur heroischen
Tat anspornt^), Lucans Marcia, die bei Kriegsausbruch sich
wieder zu Cato gesellt {da mihi castra sequi II 348), werden
keine Ausnahmen gewesen sein. Von ihnen und ihresgleichen
hebt sich die Lukrezia des elegischen Dichters aufs entschie-
denste ab. Die Lukrezia des Livius hätte sich sehr wohl
nach der heroischen Seite ausgestalten lassen; es brauchten
nur die dafür geeigneten Züge in der Erzählung ihrer letzten
Augenblicke betont und weiter entwickelt zu werden. Ovid
geht hierin aber genau den entgegengesetzten Weg. Nicht
weniger als dreimal mahnt Livius' Lukrezia in ihren kurzen
Worten zur Rache am Übeltäter; bei Ovid scheint sie gar
nicht daran zu denken, ganz zerknirscht im Bewußtsein ihrer
Schmach: erst als dann Brutus seinen Racheschwur leistet,
ist's, als nickte die Sterbende ihm Beifall. Livius' Lukrezia
denkt bei ihrem Selbstmord an die Folgen, die ihr Schicksal
für die Zukunft haben könnte, wenn sie am Leben bliebe,
und scheidet scharf zwischen Schuld (von der sie sich frei
spricht) und Strafe (die sie auf sich nimmt) — wie denn
ihre Worte überhaupt für eine altrömische Matrone reichlich
viel Gewandtheit des Denkens und Redens zeigen; aber der
kühnen Entschlossenheit ihrer Tat entspricht auch die Ent-
schlossenheit ihrer Worte; auf die erste Frage, die der Gatte
an die Weinende richtet, sagt sie alles gei-ade heraus. Ovids
Lukrezia zögert nicht mit der Tat, wohl aber mit dem Wort-):
i) S. zuletzt E. Heikel, adversaria ad Ciceronis de consulatu suo
poema (diss. Helsingf. 19 12) p. 49 ff.
2) Es ist lehrreich, aus dem Epos Myrrha zu vergleichen, der die
Scham über ihre frevelhafte Liebe den Mund schließt und von der es
4*
52 RiCHAKP IIkin/k: [7'. 7
der Dichter hiit gemeint, die pmiicHia damit zu botonon, aber
/ugloich gewinnt die Szene :ui rührendem I'atlios: /u dt'ni
Mitleid mit Ijnkre/.iii kommt das mit Gatten und Vater {hinc
paiir, hinc coniunx l<icn'))ias solanlur ff orant indicrt, et cacco
flrnlquc pavcntque incfu): die ersten durcli die Seelenpein aus-
gepreßten Worte der Liikrezia (hoc quoque Turquinio debchi-
mus'f' cloquar infcUx dvdecns ipsn mcum?) sagen ihnen frei-
lich im (»runde alles, aber doch nur so weit, daß sie um so
mehr nach weiterer Aufklärung verlangen müssen: in diese
ängstliche Spannung soll sich der Leser hineindenken. Wie
Ovid diesen Stoff im epischen Stil behandelt haben würde,
mag man etwa aus der Geschichte von Tereus und Procne
abnehmen: die hinge, Wut und Rache schnaubende Rede der
Vergewaltigten (met. VI 533 — 548) hätte mutandis mutatis
recht wohl ein Seitenstück in Lukrezias Rede an die Ihren
finden können. Und mit der Schilderung der Liebe des Te-
reus (455 — 466; 479 — 482) mag man auch, mangels einer
besseren Analogie, die Schilderung der Empfindungen des
Sextus Tarquinius zusammenhalten, um auch hier den Ab-
stand des genus grande von den elegi zu bemerken: beide
Male die frevelhafte Begierde eines Gewaltmenschen, aber
dort gleichsam als elementare Katastrophe gefaßt, hier mit
eingehender Zergliederung des Reizes, den Lukrezia übt, und
mit wohlberechuetem Fortschreiten von der bei der ersten
Begegnung entzündeten Begierde zum frevelhaften Entschlüsse
nicht anders erzählt, als ob es sich um eine Begebenheit aus
ganz ähnlich wie von Lukrezia heißt (met. X 420) conataque saepc fateri
saepe tenet vocem pudibundaque vestibus ora texit et '0' dixit 'felicem
coniuge matrem\ hactemis, et gemuit. Aber die Ähnlichkeit ist doch
nur äußerlich: denn hier kämpft die Scham mit der sündhaften Be-
gierde. Und man lese die ganze Szene nach dem Selbstmordversuch,
um des Kontrasts zur Lukreziaszene inne zu werden: schon die Figur
der leidenschaftlich bewegten nutrix gibt dem Ganzen einen völlig an-
deren Charakter, dazu der jähe Umschlag in Myrrhas Haltung (exiluit
gremio furibiindu 410) nach der sorgfältig entwickelten allmählichen
Beschwichtigung (389. 393. 402. 406), die ganz Ovida epischer Erzählungs-
art entspricht.
71,7] OviDS ELEGISCHE EPvZAMLUNG. 53
des Dichters Umgebung handelte. Wie Sextus sich in der
Erinnerung Lukrezia vergegenwärtigt, zeigt Ovid nicht durch
einen Monolog, sondern durch gleichsam direkte Wiedergabe
der Gedanken: da ist, wie Peter bemerkt, Vorbild die Schil-
derung des ApoUonios (III 453 ff.) von dem Eindruck, den
lason auf Medea hinterläßt. Diese Schilderung erhebt sich
zum Monolog (464 — 470), und auch Ovids epischem Stile
wäre hier ein Monolog gemäß, der zum Entschlüsse führen
würde: die Elegie gibt uns in direkter Rede nur gleichsam
die Quintessenz des letzten Teiles eines solchen Monologs,
ein paar kurze Kommata (481 — 483). — Das Regifugium
selbst, nach dem doch der Tag heißt, und überhaupt den
Verlauf der Revolution erledigt Ovid in drei Distichen: das
ist eine aövi^i^EXQla, die sich der Epiker, wenigstens der
Epiker virgilischen Stils, nicht erlauben würde ^), und die
sich Ovid selbst in den Metamorphosen nicht erlaubt.
5.
Das Recht der aöv^iisxQia hat Ovid in den Fastener-
zählungen öfters namentlich bei den Katasterismen in An-
spruch genommen. Er pflegt den Sternmythen nicht viel
Raum zu gönnen, da die nationalen Sagen in seinem Buche
überwiegen sollen; und* eine knappe, aber gleichmäßig aus-
führliche Erzählung läuft Gefahr, zur versifizierten Handbuchs-
erzählung zu werden: welcher Gefahr Ovid z. B. beim Stern-
bild der Zwillinge (V 699 — 720) nicht entgangen ist. In an-
deren Fällen hat er in seine kurze Erzählung wenigstens einige
auf Rührung berechnete Züge eingefügt^), oder er hat — und
1) S. Virg. ep. T. ="359.
2) Die Geschichte von Phrixoa und Helle (Sternbild des Widders)
erzählt Ovid (III 853 — 876), wie Rehm, Mythogr. Unters, über griech.
Sternsageu, Münch. Diss. 1896, 34 bemerkt, nach einer der Fassung
Apollodors I 80 ff. sehr nahe stehenden Quelle, in der nur, abweichend
von Apoll., aber übereinstimmend mit anderen mythographischen Ex-
zerpten aus gleicher Vorlage, die Opferung beider Geschwister ge-
fordert wurde. Die Gefühlsmomente sind bei Ovid betont: stant simul
54 Ki( iiAKi> Hkin/.i:: [71,7
(lies mit \'i)rliel>e — «Gewisse, iler Elegie besonders geniilße
Einzelheiten der Geschielito herausgehoben und iuil' Kosten
der übrigen Partien ausgestaltet.
Im airtoi' des Orion (V 4951}".) berichten 42 Verse
von der merkwürdigen Geschichte seiner Geburt, die den
Namen erklärt; der Rest von 8 Versen kommt auf Tod und
Verstirnung; alles übrige, was die reiche Sage von Orions
Leben berichtete, bleibt weg, und kann auch beim xaraörs-
Qt6fiö^ recht wohl fehlen: a])er das gilt mit noch größerem
Rechte von der Geburtsgeschichte. Hier ist nun die Aus-
führung, wie ich meine, im wesentlichen Ovids Eigentum.
In den Grundzügeu deckt sich seine Fassung der Sage mit
der im Scholion IL 27 486 wiedergegebenen (die lateinischen
Ausschreiber der Katasterismen, Rob. p. 164 ff., haben Ein-
zelheiten verschoben und verschlechtert). Es fohlt da die
ganze bei Ovid so liebevoll ausgeführte Schilderung der Auf-
nähme und Bewirtung der Götter: die hat aber Ovid nicht
einer ausführlicheren Darstellung entlehnt, sondern selbst hin-
zugefügt^) und damit die Verwandtschaft, w^elche die Ge-
atite aras mnctaque fata yemunt, und nach Helles Sturz : paene siinul
periit, dum vult succurrere lapsae . . flebat, ut amissa gemini consorte
pericli, vor allem aber die Empfindung der Mutter: aspieit hos, ut
forte pependerat aethere (nämlich als Nscpsli]) mater, et fcrit attonita
pectora niida manu: bei Apo)l. nur NifpiXr] fistä r^g Q-vyaTQog aitbv
<tvi]Q7taae. — In der Fabel von den Fischen (II 459 — 474, Kehm
32 tf.) stammt die Flucht der Venus vor Tjijhon aus der einen, die
Lokalisierung am Euphrat aus einer zweiten, die Rettung durch den
Fisch aus einer dritten (auf Aphrodites Tochter Derketo bezüglichen)
Version der Sternsage; eigene Zutat Ovids ist die Beteiligung des
kleinen Cupido, und eigene Arbeit die Ausschmückung, insbesondere
die Schilderung der Vegetation am Flußufer. Das Ergebnis eine
rührende Szene: s. ob. S. 17.
i) Richtig Rehm, a. a. 0. 25 ff., gegen Schultz' Euphorionhypo-
these. Castiülioxi hat dann wieder behauptet (Studi intorno alle fonti
e alla composizione delle metamorfosi di Ovidio, Pisa 1906, 264 ff.),
Ovid sei für die Theoxenia sowohl des Hyrieus wie des Philemon aus-
geführten Darstellungen der beiden Sagen gefolgt, die ihrerseits sich
an die Hekale angelehnt hätten: aber nach Beweisen sucht man in
dem langen Kapitel vergebens.
71,7] OVIDS ELKGISCHE ErZÄHLUNG. 55
schichte bei ihm mit der des Theseus bei Hekale und der
Götter bei Philemou und Baucis hat, erst hineingetragen.
Keiner unserer Zeugen für die Geburtssage des Orion weiß
«twas davon, daß Hyrieus ein armer alter Bauer gewesen sei
und den Göttern seinen einzigen Pflugochseu geopfert habe-,
der Sohn des Poseidon und der Atlastochter braucht nicht
gerade ein "^König' zu sein, wie ihn einige Exzerptoren der
Katasterismen bezeiclinen (Rehm a. a. 0. 19), aber sicher war
er kein angusti cultor agelli. Es ist auch gar nicht im Stil
dieser Geschichten, daß die Götter, nachdem sie sich zu er-
kennen gegeben hatten, das große Opfer, das ihnen Hyrieus
bringen will, annehmen und den Ochsen schlachten lassen:
es kann ihnen doch nur auf den guten Willen des frommen
Mannes, nicht auf den Rinderbraten ankommen. Viel besser
paßt das für den wohlhabenden Mann, der durch das Opfer
nach der Gastfreundlichkeit auch seine Frömmigkeit bewährt:
das können sich die Götter gefallen lassen. Aber dieses
Thema war künstlerisch wenig ergiebig: Ovid, der die Ge-
schichte von Philemou und Baucis wahrscheinlich bereits
geschrieben und der auch in der Celeusepisode der Ceres-
geschichte (IV 507 ö.) die Einkehr der Gottheit in ärmlichem
Hause dargestellt hatte, führte das Motiv hier von neuem
«in, offenbar in dem Gefühl, daß Gutherzigkeit, Frömmig-
keit, Ärmlichkeit vereint dem Stoffgebiet der Elegie wohl
anstehe. Natürlich ist die Schilderung der Zurüstungen zum
Mahle und des Mahles selbst sehr viel knapper behandelt
als in den Metamorphosen, wo der epische Stil behaglichstes
Verweilen auf den Einzelheiten gestattete, und es findet sich
nichts von der parodisch-humoristischen Färbung, die dem
Ovid unerläßlich schien, um einen solchen Stoff des Epos
würdig zu machen.^) — Gern wüßte man, ob Ovid die hüb-
i) Am deutlichsten v. 668 post haec caelatiis eodem sisti-
tur argento crater fabricataque fago pocula, qua cava sunt, flaventibus
inlita ceris (vgl. Fast. v. 522 terra rubens crater, pocula fagus eranf),
aber auch sonst vielfach unverkennbar. In den entsprechenden Frag-
menten der Hekale empfinde ich das nicht. Wilamowitz sagt, 'die He-
56 RiCHAui» Hkinzk: [71,7
sehe Motivionuig iKt Kiiulorlosigkoit des llyriens — or luit
in juugon .Iiihroii seine Frau verloren und hatte ihr ver-
sproehen, nicht wieder zu heiraten — seihst aus einem ein-
lachen (hsxvog lov seiner Vorlage entwickelt hat: ich möchte
es glauben, da der so gewonnene neue Charakterzug des
Helden so wohl zu dem von Ovid neu goschallenen I^ilde paßt
und in der treuen Gattenliebe des Paares Philenion und liaucis
ihr Analogon findet. — Auch der Schluß der Erz;ihluii»j, der
Tod des Orion, weicht von unserer sonstigen Überlieferung
ab: der Skorpion tötet den Orion (was bei der Kürze des Be-
richts gar nicht einmal ausdrücklich gesagt wird), während
dieser Leto vor seinem Angriff beschützt: zum Lohn dafür
versetzt ihn die Göttin in den Himmel. Ist diese Aufopfe-
rung des Orion Ovids Erfindung, was ich für wahrscheinlich
halte ^), so hat er den Sohn die pietas des Vaters erben lassen
kale transponierte das heroische Epos geflissentlich ins Idyllische';
sollte man nicht lieber sagen, daß Kallimachos, statt wie üblich im Ho-
mer nur die heroischen Partien als maßgebend für das Epos zu emp-
finden, geflissentlich die nicht-heroische homerische Poesie — Empfang
des Odysseus bei Eumaios — in seiner Art fortsetzte?
i) Rehm (a. a. 0. 26) sieht in diesem Zuge, 'den Ovid nicht kann
hinzuerfunden haben', den entscheidenden Beweis dafür, daß dem
Dichter eine ausführlichere Wiedergabe der hcsiodischen Version der
Sage vorlag, d. h. daß er nicht die Katasterisuien, sondern die Kata-
loge des Eratosthenes benutzt habe. Aber ursprünglich kann m. E. die
Version Ovids nicht sein, weil sie den eigentlichen Sinn der Sage ver-
dirbt: welcher doch wohl darin zu suchen ist, daß Gaia auf die frevle
Drohung des unwiderstehlichen Jägers, er wolle alles wilde Getier der
Erde ausrotten (als gewaltiger Helfer der Artemis nämlich), damit ant-
wortet, daß sie ihn durch den winzigen Skorpion fällt. Aber weder
hat es Sinn, daß dieser von Gaia gegen Orion entsandte Skorpion die
Göttin Leto angreift, noch ist das Tierchen überhaupt gefährlich, so-
bald es bemerkt ist. Die Katasterismen sagen ckoqtcIov fv/tfyc'O'Tj, ganz
gut, denn je größer der Skorpion, desto giftiger ist er, und ein Riese
wie Orion kann viel Gift vertragen; der Germanicusscholiast hat das
schon mißverstanden, wenn er sagt scorpioncm immnni magnitudine.
— Warum in der alten Version neben Artemis auch Leto eingeführt
war {difjys y.vprjysrmv atva yi(iriiLi8og Ttagovai^g nai Tjjg AriTovg und
dann ^2' roTg uarQOig avrbv i'^?j"/fv 6 Zivg vno kQxiynSog ^al Arirovg
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 57
in entschiedenstem Gegensatz zu einer anderen Version, die
den Orion zur Strafe für einen frevelhaften Angriff auf Arte-
mis getötet werden ließ, und hat damit die Tendenz der ge-
samten Erzählung vereinheitlicht.
Nicht ganz so ins Auge fallend, aber immerhin stark
oenug ist die Asymmetrie in der K a 1 1 i s t o geschichte (II
j^^ — 192), die Ovid bereits viel ausführlicher in den Meta-
morphosen erzählt hatte (II 401 — 530)^); in der Fassung der
Sage schließt er sich an seine eigene frühere Darstellung^)
an. Aber während die in den Metamorphosen sehr ausführlich
behandelte erotische Szene hier mit einem Distichon erledigt
wird {de love crimen habet ist alles, was wir von dem Her-
gang erfahren), auf die Metamorphose nur zwei Distichen
entfallen und selbst die Schlußszene nebst Verstirnung nur
drei Distichen einnimmt, widmet Ovid sechs Distichen der
Entdeckung von Kallistos Schuld und ihrer Verstoßung durch
Diana: also einem Vorgange, der sachlich für die Absicht
ä^ico&sig), kaun ich freilich nicht sagen; vielleicht nur, um die Er-
füllung der Bitte durch Zeus besser zu motivieren.
i) In der Gestaltung der Sage gibt Ovid, wie es scheint, beson-
ders viel Eignes (s. darüber den zweiten Anhang); eben deshalb halte
ich seine epische Erzählung für die ältere: ich glaube nicht, daß er
sich für die kurze elegische in so viel Unkosten der Erfindung ge-
stürzt hätte.
2) Neu ist in den Fasten nur eine Einzelheit: der Schwur der
Keuschheit, den Kallisto beim Bogen der Diana leistet; nicht Erfindung
Ovids: uvrri GvvdTfQog kgri^iiSos ovaa .. cö^ioasv avrfj nslvcci Ttccg&ivog
ApoUod. III 100. Vielleicht fand Ovid in einer Darstellung, die (wie
ApoUodor) Kallisto durch Artemis' Pfeile sterben ließ, auch schon den
Schwur beim Bogen: demselben, der dann den schuldlosen Eidbruch
rächt. Diese Beziehung fällt ja bei Ovid fort; bei ihm hat der Schwur
nur die mehr formale Bedeutung, die ersten Szenen der Geschichte
fester zur Einheit zusammenzufassen, indem der Schluß {periura Ly-
caoni) darauf zurückverweist und das Thema der Jungfräulichkeit
(virginitas 158, virgo Tegeuea 167, falso virginis sono 168, virgineos
coetus desere 173) durchgeführt wird; der zweite Teil der Geschichte
knüpft mit quae fuerat virgo credita 176 daran an, matcr erat geht es
weiter: das ist das Stichwort dieses Teils, v. 184. 1S6.
^8 RiciiAui) IIkinzk: f7',7
der gauzoii Erziililuiig von j;rerinjjfer Bedeutung ist. Freilich
hat Ovid hier — zuerst liir die Metamorphosen — die ihm
überlieferte Version umgestultet; aber die Begegnung zwischen
I^Iutter und Solm hat er sogar, wie es scheint, ganz neu ge-
staltet und in den Fasten doch zurücktreten lassen. V]b muß
also doeh wohl so liegen, daß ilnn die idyllische Szenerie
— der kühle Quell im schaltigen Fiehenhain — und der
Vorgang — das Bad der Diana und ihrer Nymphen — ele-
gischer Erzälilung gemäßer zu sein schien als die Vergewal-
tigung des Mädchens, die brutale Tvachctat der Juno oder
selbst die pathetische Schlußszene mit ihrer dramatischen Zu-
spitzung.
Beim Sternbild des Stiers hat Ovid aus der ja sehr
bekannten Europageschichte nur eine Szene herausgegriffen
und durch ein einleitendes, zwei abschließende Distichen um
rahmt (V 605 — 618): Europa auf dem Stier übers Meer
fahrend. Dieselbe Szene läßt er Arachne in ihrem gewebten
Katalog der erotischen Göttermetamorphosen als erste dar-
stellen (met. VI 103 — 107): der Dichter wetteifert mit der
bildenden Kunst, die ja diese Szene der Europageschichte
stark bevorzugt hat. In Ovids ausführlicher Erzählung dieser
Geschichte met. II 736 — 875 ist gerade diese Szene vernach-
lässigt: ein paar Verse nur beschreiben recht nüchtern die
Haltung der Europa: sie genügen hier, um im Leser die Er-
innerung an zahlreiche und oft gesehene Kunstwerke zu er-
wecken.^) In den Fasten ist die Schilderung dagegen stark
i) Natürlich berührt sich diese Beschreibung mit der des Moschos
(v. 125 — 130)-, aber wie sollte das anders sein! Gerade die frappanteste
Ähnlichkeit {tremulae sinuantur flamine vestes KoXnw&t] 3' wftoKJt neiiXog
ßa9vg EvQanelrig) ist auch in den Gemälden begreiflicherweise fast
stets zu finden (xal t]v ovrog avB^og rov Jojypaqpov sagt hübsch Achilles
Tat. I i). Also aus dieser Ähnlichkeit läßt sich, da es die einzige er-
heblichere ist, nicht (mit Vollgraff, de Ovidi mythopoeia quaest. sex
Diss. Berl. 1901, S. 62) schließen, daß Ovid des Moschos Gedicht ge-
kannt habe, und noch weniger beweiskräftig dafür ist, was Pressler,
Quaest. Ovid. capita duo, Diss. Hall. 1903, 61 aus den Fasten anführt.
Von vornherein aber ist das wahrscheinlich, und dann sehr bemerkens-
71,7] OVIDS ELEGISCHE ErZÄHXUNG. 59
gefühlsbetont: der Dichter vertieft sich gleichsam in den An-
blick des schönen Mädchens, mit dessen Gewand und Haar
der Wind spielt, et fhnor ipse novi causa decoris erat; ein ovi-
discher Gemeinplatz, wie auf die Furcht, so auf Trauer u. dgl.
angewandt^), der eigentlich nur da Sinn hat, wo die Wir-
kung auf den Beschauer in Frage kommt: hier aber ist der
Dichter der einzige Zuschauer, und indem ihm das einfällt,
sagt er — so lebhaft versetzt er sich in die Situation —
Sidoni, sie fueras adspicicnda lovi! — worauf er in der Schil-
derung der Furcht und der Art, wie der verliebte Gott sie
sich zunutze macht, foi-tfährt.
wert, wie geflissentlich er sich von seinem Vorgänger emanzipiert. Bei
Mosches löst sich die Erzählung in eine Folge von Beschreibungen
oder Zustandsschilderungen auf: Traum der Europa (i — 15), Blumen-
korb (37—62), Anthologie (63—71), der Stier (80—88), Fahrt übers
Meer (115— 130); dann drei längere Reden oder Monologe der Europa
(21 — 27; 102 — 107; 135 — 152). Bei Ovid ist von Beschreibungen nur
die — unerläßliche — des Stiers geblieben (in allen Einzelheiten von
Moschos abweichend und ganz darauf berechnet, das Entzücken und
Zutrauen der Europa zu erklären); im übrigen ist alles Handlung, die
darauf ausgeht, das schließliche Wagnis des Mädchens und das Ge-
lingen der Entführung begreiflich zu machen. Sehr mit Bedacht (und
keineswegs nur, um durch Einführung des Merkur eine Anknüpfung
an die vorige Geschichte zu gewinnen) hat Ovid den Zeusstier sich
unter die königliche Herde mischen lassen, die er an den Strand
treiben läßt; und dann wartet er artig, bis Europa sich das Herz faßt,
an ihn heranzugehen. Bei Moschos 'kommt er auf die Wiese', stellt
sich vor Europa auf und leckt ihr die Haut: ein recht täppisch zu-
dringlicher Liebhaber, wird Ovid gedacht haben. — Das Ganze ist
sehr charakteristisch für Ovids epische Erzählung: er vermeidet zwar
sKcpQaang keineswegs, verwendet vielmehr große Kunst auf ihre Aus-
gestaltung; aber er venneidet es durchaus, die Erzählung in Schilde-
rung aufzulösen, hält vielmehr streng auf fortschreitende Handlung,
und zwar nicht sprunghaft, sondern sehr stetig fortschreitende Hand-
lung, in der ein Glied am andern hängt. Das gilt wie für die äußere
Handlung, so auch ganz besonders für seelische Entwickelungen. (In
Peters' Dissertation Symbola ad Ovidii artem epicam cognoscendam
[Gott. 1908] findet sich nichts hierüber.)
i) Ehwald zu met. I 527.
6o Richard IIkinze: [7', 7
Der Verstiriuiug der Krone der Ariadm- (lli 461 — 516)
bat Ovid eine ueue Wendung gegeben, iiulcm er sie nicbt,
wie in sonstiger Überlieferung, einfacb bei der lloeb/.eit mit
Baccbus stattiinden ließ, sondern eine Novelle erfindet'):
Baccbus bat die Gattin auf Naxos verlassen, um gegen die
Inder zu zieben; unter den Gefangenen bringt er die indische
Köuigstocbter mit beim, auf die Ariadne mit Grund eifer-
sücbtig ist, also eine Situation, wie die der Deianeira bei He-
rakles' Heimkehr von Oichalia. Hau))tstüek der Erzählung,
döv^i^iETQag weit über das sachlich Erforderte hinausgehend,
ist der Klagemouolog der Ariadne 471 — 506, der von dem Un-
getreuen belauscht wird, sein Gewissen rührt und ihn zur Er-
fülluug des Versprechens der Apotheose führt, mit der sich
die Verstirnung der Krone verbindet. Der Monolog ist neben
dem der Ilia (ob. S. 25) der einzige in den Pasten; er unter-
scheidet sich aufs deutlichste von den Monologen der Meta-
morphosen.^) Während diese an Vorbilder des Epjos und vor
allem der Tragödie anknüpfen und mit ganz seltenen Aus-
nahmen dazu dienen, eine Handlung der Redenden zu moti-
vieren, gibt sich der Ariadnemonolog durch die einleitenden
Verse als eine Replik der catuUischen Klage der Ariadne zu
erkennen, die nichts weiter bezweckt, als ein rührendes Bild
der Verzweiflung zu zeichnen, in die Theseus' Abfahrt die
Verlassene versetzt hat; die Haltung ist durchaus lyrisch,
und wenn Ovid das epische Stück Catulls in Elegische trans-
poniert, so gibt er der Elegie wohl nur das zurück, was von
i) Haupt opusc. 11 71. Die ÜberliefeniDg kennt Ariadne entweder
als die irdische Gemahlin des Dionysos, nach deren Tode der Gott,
um ihr Andenken zu ehren, ihre Krone verstirnt, oder als die vergött-
lichte Gemahlin, deren Erhebung zur Göttlichkeit durch das Sternbild
bezeichnet wird. Ovid kombiniert beide Auffassungen, indem er Ariadne
erst auf Naxos des im Krieg abwesenden Gatten warten und dann mit
ihm in den Himmel eingehen läßt. Wenn er die Krone der Yergött-
lichten als monimenta (513) bezeichnet, so geht auch das wohl auf jene
andere Auffassung zurück.
2) S. den dritten Anhang.
7 ) , 7] OVIDS ELEGISCHE EuZÄHLUNG, 6 I
Rechts wegen ihr gehört.^) Echt elegisch ist bei Ovid im Ein-
gang die Anrede an Wellen und Strand; ebenso entspricht
es der elegischen Haltung, wenn sich die Rede von v. 479
ab an den als abwesend gedachten Geliebten richtet: daß die-
ser in Wahrheit anwesend ist und so die Vorwürfe und
Klagen, statt imaginär zu bleiben, wirklich ans Ziel gelan-
gen, ist ein Motiv, das in Ovids elegischer Lukreziaerzählung
seine nächste Analogie findet und das hier fast komödienhaft
anmutet. ^)
6.
In der Erzählung vom Raube der Proserpina fanden wir
den rein epischen Bericht, bei dem die Persönlichkeit des
Erzählers gänzlich verschwindet, unterbrochen durch ätiolo-
gische Bemerkungen, die auf die Gegenwart Bezug nehmen;
außerdem nur durch eine lebhaft subjektiv gefärbte Form der
praeteritio. In anderen Fastenerzählungen tritt das subjektive
Element in anderer Weise und sehr viel stärker hervor. Die
Geschichte von der Aussetzung des Romulus und Remus ist
auch abgesehen von den ätiologischen Zwischenbemerkungen
Qiic ubi nunc fora sunt Untres errare videres; arhor erat — re-
manent vestigia — , quaeque vocatur Rumina nunc ficus, Romula
ficus erat) ganz durchsetzt mit Bemerkungen der Subjektivität
i) Vorher v. 463 heißt es, in der Fassung ganz ovidisch, fast
skurril und jedenfalls epischer Haltung zuwider: sorte tori gaudens:
'quid fleham rustica?' dixit 'utiUter nobis perfidus üle fuit.'
2) Ich würde es ohne Bedenken als Erfindung Ovids ansprechen,
wenn nicht auch bei Nonnos Bakchos die klagende Ariadne belauschte
(47, 419), hier natürlich bei der ersten Begegnung. Hält man neben
die in vor. Anm. zitierten Worte Ovids aus Bakchos' Rede bei Nonnos
444 oXßir], oxxi Unovea xiQsiova @ri6ecog ivvijv Ssiiviov i^SQOsvrog iß-
cc9Qt]6£ig Jiovvaov, und vergleicht v. 511 tu mihi iuncta toro [mihi
iuncta vocabula surnesj . . sintque tiiae tecum faciam monimenta coronae
mit 451 &XXcc aot, ccatBQOsv rsUaco arscpog, mg -nsv anova^g evvEtig . .
Jioviaov, so kann man vielleicht auf eine hellenistische Ariadhe-Elegie
als Quelle schließen, dieselbe, der einige dem CatuU mit Nonnos ge-
meinsame Züge (Maass Herm. 24 [1889] 527) entstammen würden. Sicher
ist das freilich keineswegs.
62 l\irii.Mii> ÜKiN/.i:: l7'.7
des Erzählers, die seine U^bhuftt' Aiiteilimhine au dem (Je-
schehenden iiusdrückeu oder den Hörer zu solcher anregen.
Dazu gehören schon \N'endungen wie viujiorunt amho pariier:
scnsisse putares uml Marie safos scires: iimor nfuii; für die
Auffassung des Erzählers wird dem Hörer der Weg gewiesen
in den Versen:
vciiit ad exjwsitos (miriuu) lupa fcta gcmellos:
quis crcdat pueris non nocuisse fvram!
non nocuisse partim e^t: prodrst quoque: quos lupa vrnirit
perdere cognatae sustinuere manus,
nnd in dem Ausruf heu quantum fati parva tahdla tulit. Oder
der Dichter denkt sich — so lebhaft vergegenwärtigt er sich
den Vorgang — als anwesend und redet den Handelnden an:
quid facis? ex istis Ilomidus alter crit — als ob er die Tat
noch verhindern könnte. So in der Kallistofabel (II 178) an
Juno: quid facis? invito est pectore passa lovem; in der Arion-
geschichte (II 10 1):
quid tibi cum gladio? duhiam rege navita puppern/
non haec sunt digitis arma tenenda tuis;
in der Fabiergeschichte (II 225)-
quo ruitis, generosa domus? male creditis hostif
Simplex nohilitas, perfida tela cavef
in der Lukreziaerzählung (II 811):
quid Victor gaudes? haec te victoria perdet :
heu quanto regnis nox stetit una tuis;
an Europa, die der Stier trägt (V 610):
Sidoni, sie fueras aspicienda lovi;
ganz besonders markant, indem die Begebenheit gleichsam
vor den Augen des Erzählers fortschreitet^), in der Fabel von
Janus und Carna VI 123:
i) So auch in der elegischen Erzählung a. a. 0. III 735 quid facis,
infelix? non est fera, supprime tela! nie miserum, iaculo fixa puella tuo
est (vorhergeht 713 ff. quid tibi mentis erat, cum sie male sana lateres.
7ij7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 63
stulta, videt lanus quae post sua terga gerantur:
nil agis, et laichras respicit ille tiias.
nil agis — en, dixi, nam te suh rupe latentem
occiipat amplexii . .
Auch die Metamorphosen enthalten sich dieses Mittels
der Vergegenwärtigung nicht völlig; aber es lassen sich doch
aus den fast 12000 Versen nur drei Fälle vergleichen^): die
Anrede an Narcissus III 432:
credule, quid frustra simulacra fugacia captas ?
quod petis, est nusquam; quod amas, avertere, perdes! usf.
in der Iphismetamorphose (IX 790), eine Apostrophe, wie sie
sonst oft begegnet, fortsetzend:
nam quae
femina nuper eras, pner es. date tnunera templis,
nee timida gaudete fide! dant munera templis,
ebenso in der Myrrhageschichte (X 315):
undique lecti
te cupiunt proceres, totoque Oriente iuventa
ad thalami cetiamen adest. ex omnibus unum
elige MyrrJia virum: dum ne sit in omnibus unus!
In den beiden letzten FäUen haben wir es mehr mit Fort-
führung einer Redefigur als mit einem durch lebhafteste Teil-
Procri, quid aitoniti pectoris ardor erat? Bezeiclmend, daß diese Imi-
tation einer von Virgil auf dem Höhepunkt der Didogeschichte ge-
wagten Apostrophe — VI 405 quis tibi tum Dido cernenti talia sensus,
qicosve dabas gemitus, cum . . — sich bei Ovid in der elegischen, nicht
in der epischen Erzählung findet); II 575 quam mala, Sol, exempla mo-
ves? pete munus ab ipsa, et tibi, si taeeas, quod dare possit habet.
I 303 quo tibi Pasiphae pretiosas sumere vestes? illa tuus nullas sentit
adulter opes. quid tibi cum speculo usf. I 691 quid facis, Äeacide? . .
reice succinctos operoso stamine fusos!
I) Das häufigere quid faciat? (I 617. II 187. 356. III 204. VI 572)
steht dem äußerlich nahe; aber es versetzt mehr in die Seele des Han-
delnden, als daß es die Handlung als gegenwärtig empfinden ließe.
Auch Virgil kennt das schon: Aen. IV 383. IX 67. 599. XII 486.
64 KiciiAKU IIkinze: [7'i7
nalimo an der voUkomiuen vorgegemvärtigten llaiuUuuij; mo-
tivierten Eingreifen iles Dichters zu tim. Die Fignr der Apo-
strophe selbst drückt eine solche Vorgegenwärtigung nicht
notwendig aus; auch wo sie, ihrem eigentlichen Sinne gemäß,
ein näheres Verhältnis des Dichters zum Angerodeten, zumeist
Mitgefühl oder Bewunderung bekundet, hebt sie doch das
Gefühl der Distanz nicht auf, das der epische Erzähler seinen
Personen gegenüber fester hält als der elegische. Das Vorbild
Homers hat die Apostrophe auch für den streng epischen
Stil legalisiert, und die römischen Epiker haben sich des
Kuustmittels bedient, um der Erzählung pathetische Färbung
zu geben: sind freilich — schon Virgil, und in steigendem
Maße die jüngeren — darüber hinausgegangen und haben es
zur bloßen Redefigur degradiert, die der metrischen Bequem-
lichkeit oder dem Abwechselungsbedürfnis dient.') Dement-
sprechend ist auch in den Metamorphosen die Apostrophe
häufig: erheblich häufiger in den Erzählungen der Fasten^),
und daß Ovid eine Empfindung dafür hat, daß die Figur dem
elegischen Stil eigentlich gemäßer ist als dem epischen, dar-
auf mag hindeuten, daß von den beiden gleichsam paradigma-
tischen Parallelerzähluugen vom Raub der Proserpina die ele-
gische besonders häufig, die epische niemals apostrophiert.
Ich bemerke gleich hier, daß auch Kallimachos, wie das neue
Kjdippestück (v. 40. 44. 53) lehrt, in der elegischen Erzählung
reichlich von der Apostrophe Gebrauch gemacht hat. Der
Vers KciXh%ÖQ03 STtl cpQrjrl xad'E^eo naiöog anvörog (fr. 469),
der wohl auch apostrophierend erzählt, mag aus Ovids Vor-
i) Endt, Der Gebrauch der Apostrophe bei den lateinischen Epikern,
Wiener Stud. 27 (1905), 106 flf. und (ohne Kenntnis dieses Vorgängers)
E. Hampel, de apostrophae apud Romanorum poetas usu, Diss. Jena 1908.
2) Nach Hampel p. 41 in je 120 Versen der Met., in je 50 Versen
der Fasten einmal: aber in den Met. sind die ausgedehnten Reden für
sich zu betrachten, in den Fasten die Erzählungen von den übrigen
Partien zu sondern. Für die Erzählungen stellt sich nach meiner
Rechnung das Verhältnis so, daß die Fasten reichlich doppelt so oft
Apostrophe haben wie die Met.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 65
läge für die Fastenerzählung stammen.^) Linos wird ange-
redet (fr. 127) ÜQvsg TOL, gpi'/lf y.ovQS^ 6vvijXi,XEg, ccqvs^-
axalQOi aöxov. Etwas anders ist es aufzufassen, daß die
lange Heraklesgeschichte in den Aitia, von der wir jetzt
Stücke besitzen, als Anrede an den Gott geformt war;
sie schloß mit dem Gruße xcclqs ßuQvöy.CTcav, und wir
haben hier also Imitation des Hymnenstils, der die apostro-
phierende Erzählung liebt. Solche lang ausgedehnte Apo-
strophen hat Ovid in den Fasten nicht, wohl aber in den
Metamorphosen, nicht nur bei Göttern, wie in der Erzählung
Ton Apollo n 676 — 683, von Sol III 192 — 203, sondern ganz
beliebig auch sonst (z. B. IX 447 — 453. X 120 — 125. XI
236 — 244); das wird er auf die Autorität Virgils^) hin als
episches Kunstmittel gerechnet haben.
7-
Die Proserpinaerzählung der Fasten unterscheidet sich,
wie wir sahen, sehr merklich von der der Metamorphosen in
der Verwendung der direkten Rede: beide haben gemein die
Rede der Ceres vor Juppiter und dessen Erwiderung, aber
in den Metamorphosen war beides auf einen höheren, pathe-
tisch-rhetorischen Ton gestimmt; die Fasten haben außerdem
noch eine große Zahl von Aufforderungen, Fragen, Ausrufen
in direkter Rede, ferner ein vielteiliges Zwiegespräch, was
alles in den Metam. fehlt. Diese Unterschiede gelten für die
beiden Gedichte als Ganze nicht durchweg. Auch die Meta-
morphosen weisen sonst fast überall kurze direkte Reden von
einigen Worten oder ein, zwei Versen auf, sehr viel mehr als
die Aeneis, die solches nicht vermeidet, aber doch sparsam
und fast nur in lebhaftest erregter Handlung, zumal den
Kampfszenen anwendet. Man darf annehmen, daß Ovid sich
dieser Beschränkung des hohen epischen Stils bewußt war
und in der epischen Proserpinaerzählung, die im Gegensatz
i) Malten a. a. 0. (ob. S. 2) 546, der aber Kci^i^Bo als Imperativ
versteht.
2) Aen. VII 1—4; X 324—327; 391—396; XII 542—547. ■
Phil.-hist. Klasse 1919. Ed. LXXI. 7. 5
66 RiciiAiin Hein/k: [71,7
z\ir FusteiuMziihlun^ ein Muster dieses Stils geoen sollt»-, mit
Absicht daniuf ver/ichtet. Ein Gespräch freilich, wie es die
Fasten 111 ^a — 346 zwischen Ndnia und .luppiter, V 235 — 254
zwischen Flora und Juno oder IV 512 — 527 zwisclien ('eres,
Celeus und seiner Tochter teils in direkter Kede, teils refe-
rierend fjfeben, wird man in d<>n Metamorphosen so weni«'
wie in der Aeneis tinden, und man wird auch bemerken,
daß die erwähnten kurzen Reden der Metam. überwieo'end,
mehr als in den Fasten, zur Illustrierung des starken n-«»h>^
c<der des vipog dienen.') Vielleicht noch Größen- und deutli-
cher ist der Abstand in den längeren Reden. Daß solche in
den Fasten überhaupt selten vorkommen, kann man auf die
Kürze der meisten ErzähUmgen schieben; aber auch die
wenigen, die begegnen, wird man kaum j(^ versucht sein als
orationcs, als anfein bestimmtes Ziel gerichtete und also natur-
(i-emäß 'rhetorisch' angeleojtc Reden zu bezeichnen. Man denke
an die Worte der Lukrezia II 745—754, die Monologe der
llia III 27 — 38 und der Ariadne III 471—506, die Bittrede
der Ceres vor Juppiter IV 587 — 596, die Klage des Remus
y 45g — 474; überall lyrische, nicht episch-rhetorische Haltung,
Die Worte, die Aeneas III 613—624 zu Anna spricht, er-
innern — wohl absichtlich — an des Aeneas Rechtfertigung
vor Dido Aen. IV T,T,i — 361: aber der Epiker gibt eine den
Gegenstand nach allen Seiten erschöpfende, wohl disponierte
Rede, der Elegiker beschränkt sich auf wenige Verse, in
i) Z. B. ist der Vergleich der Hyrieusgeschichte der Faäten V
495 ff. mit der Erzählung von Philemon und Bauci.s met. VIII 018 if.
auch hier lehrreich: die Fasten geben in direkter Hede die Einladung
des Hyrieus — ganz unpathetisch — und die Worte Neptuns da nunc
bibat ordine luppiter; die Metam. lassen zuerst Juppiter mit voller
göttlicher Autorität reden 689 ff.; die Freistellung des Wunsches ist
beiden Erzählungen gemeinsam ebenso wie der Wunsch selbst; aber man
vergleiche fast. 523 verba fuere lovis: siquid fert, impetus, npta; omne
feres mit met. 703 talia tum placido Saturnius edidit ore: dicite iusfe
senex et feniina coniuge imto digna quid optelif;, und ebeneo die Ant-
worten des Hyrieus und des Philemon, um den «reiten Abetand des
Tons zu empfinden.
7^,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 67
denen die Motive nur eben angeschlagen werden. Die lange
Rede der Carmentis I 509—536 besteht ans dem Gebet an
die Götter der neuen Heimat und dem vatieinium, das deut-
lich dem der Sibylle in Tibulls Elegie II 5 nachgebildet ist-,
ähnlich das vaticinium derselben VI 541 — 548. Mit den ge-
nannten sind die Fälle erschöpft, in denen sich direkte Rede
iu den Fastenerzälüungen über drei Disticha ausdehnt; nur
zwei bleiben noch, die für sich stehen.
Ein merkwürdiges Stück ist die Trostrede, die Ovid I
479 — 496 Carmentis, der Mutter des aus der Heimat vertrie-
benen Euander, in der Mund legt: die einfache Yersifizierung
einiger Tojrot Ttsgl g>vyi]g'^), ganz ohne individuelle Züge. Es
ist nicht abzusehen, was den Dichter bewogen haben kann,
die gottbegeisterte Seherin, deren enthusiastische Fropheten-
gabe vorher und nachher so stark betont wird, hier iu der
RoUe der verständigen philosophischen Beraterin auftreten zu
lassen^): es müßte denn sein, daß Ovid — freilich unglück-
i) Wünsch, Rh. M. 56 (1901), 398 ff. Das 'Schema der ßhetoren-
schule' kann ich freilich als Quelle nicht anerkennen, da ich nichts
davon weiß, daß ein solches existiert hätte; die Popularphilosophie
aber hat über das Thema genügend oft gebandelt, so daß ihre Ge-
meinplätze dem Ovid bekannt sein mußten. Über Euander bei Seneca
ad Heiv. VII 6 urteilt Wünsch unrichtig.
2) Die Vermutung, daß wir es mit einem Zusatz aus Ovids Exils-
zeit zu tun haben, ist von Peteh (z. öt.) für v. 481 — 486 mit Hinweis
auf ex Ponto I 10, 42 Caisaris offensum dum milii numen erit ausge-
.sprochen, von Knögkl (de retractatione fastorum ab Ovidio Tomis insti-
tuta, Diss Münst. 1885, p. 15) auf die ganze Rede ausgedehnt worden.
Bemerkenswert ist in der Tat, daß nur Ovid die mwiipüs im. als Ver-
bannuugsgrund angibt, und daß er voraussetzt, Euander habe sich
diesen Zoi-n der — nicht genannten — Gottheit ohne eigene ."-'chuld
zugezogen. Wenn ich trotzdem jene Vermutung nicht annehme, so be-
stimmen mich dazu weniger die von Winthkr (Woch. f kl. Ph. i886,
328) und Wünsch a. a. 0. vorgebrachten Gründe, als der umstand, daß
die Stellung Ovids zu seiner eignen Verbannung der hier von Car-
mentis empfohlenen entgegengesetzt ist; der Vers 540 felix, exilium cui
locus nie fuit, den auch ich als späteren Zusatz ansehe (vgl. VI 966 und
IV 83 fg.), widerspricht stracks den Worten der Carmentis 493 if. Aber
ich wünschte dies Argument widerlegt zu sehen: uann lipße t-ich die
Ö8 KiiuiAiiu 1Iiux/,k: |7',7
lieh genug — versucht hätte, an der 'Sängerin' xar ii,oyriv —
er leitet ja den Namen von Carmen ab — den Satz zu illu-
strieren, daß die votes von Urzeit an auch Lehrer der Weis-
heit und Tugend gewesen sind. Jedenfalls hält er sicli mit
seiner consolatio ganz im Ralimen der elegischen Stoffe, mag
man nun an die Trauer- und Trostgedichte z. B. des Properz
oder, was stilistisch näher liegt, an die alte gnomische Elegie
denken.
Anders steht es um den zweiten noch zu erwähnenden
Fall, die llede des Mars im Götterrat VI 355 — 374. Das ist, ganz
im Gegensatz zu desselben Mars Anrede an Juppiter II 483 ff.,
eine als solenne iudignatio stilisierte Rede, in fünf Doppel-
distichen gegliedert, voll bitterer Ironie und emjiörten Vor-
wurfs, gemahnend an epische Vorbilder, wie die indignationes
der Juno und die Rede der Venus im Götterrat von Aen. X.
Auch die weitere Erzählung arbeitet mit dem epischen Götter-
apparat: nachdem noch Venus, Quirinus und Vesta 'viel' für
die Römer gesprochen haben, verheißt Juppiter die Niederlage
der Gallier, gibt der Vesta einen Auftrag, erscheint den römi-
schen Führern im Traum und gibt einen Befehl in dunkler
Orakelsprache: das alles führt zu nichts anderem als der
Kriegslist, durch die den Galliern die Hoffnung genommen
wird, die Besatzung des Kapitels durch Hunger zur Über-
gabe zu zwingen: die Römer werfen Brote unter die Feinde.
Über den Erfolg berichtet Ovid kurz und unklar: hoste repulso
wird dem Juppiter Victor ein Altar errichtet. Dies aiZLov,
das uns nur Ovid überliefert, ist schwerlich von ihm erfun-
den; dann muß sein Gewährsmann auch die Kriegslist auf
den Rat Jnppiters zurückgeführt haben. Natürlich mußte
dann auch der List ein entscheidender Erfolg beigelegt werden;
die Fassung des Livius V 48, wonach die List eine bloße
Episode ist und schließlich doch die Hungersnot die Römer
zu schimpflichen Übergabeverhandlungen zwingt, war damit
unvereinbar. Vielmehr müssen die Gallier durch die List
merkwürdige Einlage befriedigender erklären, als ich es oben ver-
sucht habe.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. 69
bewogen worden sein, sich auf Yerliandluiigen einzulassen,
wie dies Valerius Max. VII 9, 3 erzählt, und dies muß —
anders als in der Erzählung der jüngeren Annalisten von
Camillus' Eingreifen^) — die Kettung Roms vom Untergange
bedeutet haben. Ovids hoste repidso bedeutet also eine schlechte
Verbindung zweier Versionen, durch die er einerseits die
Wirkung der List aufrecht zu erhalten, andererseits die römi-
sche Waffenehre zu retten sucht. Das ccitlov selbst ist ihm
aber offenbar, da es ja an die größte Katastrophe der alt-
römischen Geschichte anknüpft, zu kleinlich erschienen, und
er hat es durch Anleihen beim Epos zu einer olympischen
Haupt- und Staatsaktion aufgebauscht — unglücklich genug
denn das Motiv des consiliurn deorum ist hier, wo alle Götter
einig sind, übel am Platze, und die Erfindung, daß Juppiter
zuerst dem Mars das Wort erteilt, auf dessen Wunsch — so
muß man sich's doch denken — die Versammlung einberufen
ist, widerspricht aller guten epischen Tradition.") Auch der
Schluß von Mars' Rede, so heroisch er klingt, ist der Situa-
tion schlecht angemessen: es hindert ja niemand die Römer,
einen Ausfall zu machen, um Sieg oder Tod zu suchen. —
So werden wir die vom elegischen Stil abweichende Haltung
der Marsrede auf eine Linie mit dem episierenden Aufputz
der Fabiererzählung (ob. S. 44) zu stellen und sie als Fremd-
körper in der elegischen Erzählung aufzufassen haben.
Daß im Gegensatz zu den Fasten die Metamorphosen
auch in der Verwendung der hochgestimmten pathetischen
langen Rede die epische, speziell virgilische Tradition fort-
setzen, bedarf nicht des Beweises. Ovid geht dabei über
seinen großen Vorgänger weit hinaus. Auch Virgil empfindet
i) Die aber nicht selbst jungen Ursprungs gewesen sein muß:
MüNZEK, R.-E. VII 331 ff.
2) Wenn Ribbeck der Gütterrat ''wie eine Parodie' erschien (Gesch.
der röm. Dicht. 11 279), so ging er von einem richtigen Empfinden aus,
aber es ist natürlich ganz ausgeschlossen, daß Ovid wirklich an Paro-
die in der Art des Lucilius gedacht habe, wo die Rettung Roms aus
höchster Not in Frage steht.
"JO KirRAUD FTrinzk: [7 ',7
63 stetd niu-]\, wie sich dio Ereignisse in der Seele seiner
Persüiien wideri5pie«]feln; aber er befi^nüfi^t sioh zumeist damit,
( das durch dio l'ürbuuiv seiner Erzähhiupc anzudeuten; nur in
I der Did(>p;eschiehtc läßt er dio direkte liodc und drn Monolog
1 in größerem Unilange eintreten, um den Seoleuznstand seiner
Heldin in foitschreitendcr Enhvieklung zu malen. Dem Ovid
stellt dio diskrete iüiiisl d(>r ieinabgetönten P^rzählung viel
weniger zu Gel)ote: oi't erzählt ei* auödriieklieh von der Stim-
mung .meiner Personen, uoeh lieber wählt er direkte Rede
oder Monolog zur Schilderung der Seelenvcriasfeung. in die
irgendeine uugcwölmliclie Lebenslage seine Personen versetzt
hat; ja er erfindet wohl gar solche Lagen eigens, um Ge-
legenheit zu solcher Äußerung zu geben. ^) Er hält zumeist
(und besonders in den Monologen) darauf, daß die Handlung
epischem Gesetz gemäß durch die Rede weitergeführt wird;
fiber er dehnt die Rede doch oft weit über das durch die
Handlung Geforderte aus, um die Stimmung des Handelnden
allseitig zu erschöpfen.^) Nach der jetzt herrschenden Auf-
fassung sind das alles einfach rhetorische :rQoaco^o7Coiiat:
Ovid hätte danach als Epiker die Progymnasmen der Rheto-
renschule weiter kultiviert. Das scheint mir eine oberfläch-
liche Erklärung, die zudem nicht damit rechnet, daß auch
Theon noch in seinen Vorschriften für das TtQoyv^vua^c^. der
Prosopopoie offenbar an Stoffe wie die der ovidischeu Reden
nicht denkt (Rh. Gr. H iisSp.). Ich sehe vielmehr in der
ovidischen Art eine konsequente Weiterentwicklung der vir-
gilischen. auf die freilich in der Ausgestaltung des einzelnen
die moderne Richtung der Beredsamkeit auf sentenziöse Zu-
spitzung, geistreiches Gedankenspiel und psychologische Ana-
1) So I651 — 663, \s'o luacliuä die lange vermißte Tochter als Kuh
•doch nur wiedersehen muß, um dem Dichter Gelegenlieit zu geben,
■durch eine Hede auszudrücken^ was etwa ein Vater in solcher gewiß
sehr ungewöhnlichen Lage empfinden mag.
2) Su Fentheub" cohortatio III 531 — 562, oder Niobes Trutzrede
n 170—202 oder Philomelas Anklage- und Drohrede VI 533— 5+8 oder
Medeas Gebet VII 192—219 usf.
71,7] OviDS ELEGISCHE EUZÄHLUNG. 7I
lyse starken Einfluß geübt Lat. Virgil legt sehr viel größe-
res Gewicht auf die Schilderung der seelischen Vorgänge als
der äußeren Ereignisse; die Anschaulichkeit und der quellende
Reiclituni sichtbaren Geschehens, der dem alten Epos eignet,
hat dabei sichtlicli verloren. Ovid mit seiner lebhafteren Phan-
tasie, seiner Freude an der Bewegung und den Farben des
bunten Lebens ist viel reicher als Virgil an sinnlichen Ein-
drücken und hat viel mehr den Trieb, sich selbst und dem
Hörer sichtbare Bilder vor Augen zu führen. In seiner ele-
gischen Erzählung tritt das freilich ganz zurück; aber in den
Metamorphosen schwelgt er in der Erfindung und Ausmalung
solcher Bilder. Aber er ist keineswegs gesonnen, darum auf
die virgilische Eroberung des seelischen Lebens für die epi-
sche Erzählung zu verzichten. Im Gegenteil: er ist unersätt-
lich im Aufspüren und nacherlebenden Genießen immer neuer
Nuancen und AVaudlungen der Affekte — in der Bevorzugung
atfektischer Seelenzustände stimmt er ganz mit Virgil über-
ein — , dankbar für die Fülle wunderbarer oder doch außer-
gewöhnlicher Geschehnisse, wie sie ihm der Schatz griechi-
scher Mythen bot, vor allem deshalb, weil jedes solche Ge-
schehnis einen Seelenzustand voraussetzt oder hervorruft, den
es zu entdecken, zu enthüllen gilt. Er hält sich auch nicht,
wie Virgil, an die einfacheß, ungebrochenen Affekte; so wenig
er solche verschmäht, so sehr reizt ihn doch andererseits
das Komplizierte, Schillernde, ja das Perverse. Er ist in dem
allen so recht das Kind seiner Zeit, der eigentlichen Blüte-
zeit der 'Deklamation'. I/Denn wer etwa glaubt, das Wesen
dieser neuen Kunstgatiung von formalen Gesichtspunkten aus
erschöpfen zu können, irrt sehr; es steckt auch in jenen
Suasorien und Kontroversien eine FüUe von psychologischer
Beobachtung und psychologischer Phantasie, die noch ganz
der Würdigung harrt. Man kann es nur bedauern, daß die
Zähigkeit der literarischen Formen dazu geführt hat, daß
all dies Können sich, statt etwa im psychologischen Zeit-
roman, gerade in fingierter Beratungs- und Gerichtsrede
äußern mußte. Freilich dem Dichter hohen Stil standen Tra-
72 KniiAKij IIkin/.r: [7 '.7
•^ödie und Epos zu Geliote; nur niuBto er daim auf die Dar-
stellung dos gegen wärt i^'t'U Lebens verzichti'n, in dem er doch
mit allen Fasern wurzelte. Ovid traute es sicli zu, den
Heroen und Heroinen inmitten ihrer zeitlosen |diantastischen
Wundeiwclt Seelen zu geben, die alle Regungen des zeitge-
nössisi'hen Seelenlebens widerspiegeln sollten, und in denen
der psychologisehe Feinsebmccker sein (ieniigi' linden konnte.
Kein Wunder, daß der Anaclironismns, die unvermeidliche
Folge dieses Strebens, sich uns oft genug in unerfreulicher
Weise fühlbar macht; die Zeitgenossen werden das sehr viel
weniger empfunden haben als wir. Es ist aber klar, daß die
pathetische Rede für Ovids Zwecke das vornehmste Mittel
sein mußte: in der objektiven Schilderung der Stimmungen
und Atfekte war man noch wenig erfahren; dagegen war es
/.ur täglichen Übung geworden, solche psychologische Fiktio-
nen durch fingierte Rede zu veranschaulichen. In diesem
Sinne wird man denn auch vom Epiker Ovid als dem Zög-
ling der Rhetorenschule reden können; die Deklamation hat
ihm den Weg geebnet, den er in der Nachfolge Virgils, sei-
nem Genius und dem der Zeit gehorsam, gehen mußte. Das
ist doch etwas sehr anderes, als wenn man die ovidischen
Reden als versifizierte Schulexerzitien auffaßt und in den
rhetorum praecepta den eigentlichen Quell seines SchaflFens
sieht.
Daß nun die elegische Erzählung für solche Leistungen
ein sehr viel ungünstigerer Boden sein mußte, leuchtet ein;
sie erstrebt, wie uns weiterhin noch klarer werden wird, in
erster Linie nicht die Vertiefung in absonderliche fremde
Schicksale und Empfindungen, sondern den Ausdruck von des
Dichters eigener, jedem Mitfühlenden leicht zugänglicher Emp-
findung; sie wird also weniger als die epische Erzählung die
unendliche Mannigfaltigkeit der Affekte oder die durch ganz
singulare Erlebnisse erzeugte Eigenart eines Affekts zu zeigen
berufen sein. Sie steht in allem der Wirklichkeit sehr viel
näher als die epische Erzählung und bedarf schon darum viel
seltener derjenigen Kunstmittel, die den Hörer über die Wirk-
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 73
lichkeit in eine Phantasiewelt hinausheben. Sie verzichtet
im allgemeinen auf das 'Erhabene', auf den heroischen Affekt,
und kann also der gewaltsam pathetischen Rede, die das
Hauptausdrucksmittel solchen Affekts ist, entraten.
8.
Nach allem bisher Festgestellten wird man erwarten,
daß auch die sprachliche Form der elegischen Erzählung
sich durch größere Schlichtheit und Natürlichkeit von der
epischen unterscheidet. Der Vergleich bestätigt diese Erwar-
tung durchaus. Nicht als ob die Elegie auf poetischen Schmuck
verzichtete und die Sprache des Alltags redete; gerade die
Proserpinaerzählung mit ihrem vergleichsweise hohen Ton
weist kaum einen Satz auf, den der Prosaiker so hätte
schreiben können. Aber doch ist die Metamorphosenerzählung
reicher einerseits an kühnen Umschreibungen, andererseits an
pointierten Formulierungen, die den Gedanken zusammen-
raffen: der Stil hat im ganzen mehr Energie und mehr
Größe; auch spezifisch poetische Worte und lexikalische Neu-
bildungen sind dort viel häufiger. Ich stelle ein paar Wen-
dungen nebeneinander, die dies Verhältnis unmittelbar veran-
schaulichen: Fast. IV 493 illic accendit geminas pro lampade
pinus; met. V 441 duahus flanimiferas pinus manihus suc-
cendit ah Aetna perqiie pruinosas tulit inreqiiieta tenebras. —
Fast. 574 praeter itus Cereri niillus in orhe locus; met. 463
quaerenti defuit orhis. — Fast. 445 Jianc videt et visam patruiis
velociter aufert; met. 395 paene simtd visa est diledaque rap-
taque Diti. — Fast. 447 illa quidem clamdbat 'io, carissima
mater, auferor\ ipsa siios aVscidcratque sinus; met. 396 dea
territa niaesto et matreni et comites, sed matrem saepius, ore
damat, d ut summa vestem laniarat ah ora ... — Fast. 584
nupta lovis fratri tertia regna tenet; met. 507 sed regina ta-
rnen, sed opaci maxima mundi, sed tarnen inferni pollens ma-
irona tyranni. Einige parallele Wendungen aus den beiden
Fassungen der Kallistogeschichte: Fast. II 163 mille feras
Phoehe silvis venata redihat; met. 441 Bictynna per altum
74 fdrjtAKH IIkin/.k: I7't7
}fti«nal<ii> int/tu (ilci/s rt cacde supeiha femruni. - Fiust. 104
(tut plus ai(t medium solc (cm-ntr i/irni: iiiel. 454 cum den vc-
natii fnttcrnis liUKju'nUt jlnrnmis. — Fast. i()5 tU tt'fiffit ha um
(dcnsa nifjcr Hier Inrus, in »icdin (jcliddr /ntis cral nl(i(S aiiiiae);
inet. 455 n(i<l(i ))rmiis <ielidum, de (jko citin mioniurc lahms
ih(d et (ittrifns versidiaf rivus liuroias. — Fast. 168 hie, ait,
in Silva, cinjo Tvgenea, lavcmar: niel. 458 jirocid csf, ait, arhiter
ouniis: nuda sapcrfusis tiiujnmus corpora lymphis. - - Fast. 171
iiiiri »imiifesfd iumorc pmditur indicio pondcns ipsa sin;
niet. 402 niido jxdnit mm corpore crimen . — Fast. 183 iam
frin liisfrd pncr fnrto eonceptus agehal; met. 497 Lyeaoniae
prolcs ignara ^)r/>'(?«^/6'. Areas adcst (er quimjxc ferr )Hitalihus
actis. — Fast. 185 illa qiiidcm , tamqu<(m, cognosccrcl, adstitit
amcns: met. 500 quae restitit Ärcadc viso et cognoscenti similis
fiiif. — Fast. 187 JiaiiC puer ignarus iacido fixissct aciito;
luct. 504 vulnifico fiiercd fiocurus peciora telo. — Fast. 188 ni
foret in supcras rapfus uterquc domos; met. 506 2)<^^'itcr raptos
per inania vento inposvit caelo. — Fast. 192 Maentdiam toctis
ne lavet Arcton aquis] met. 530 ne puro tingatur in aequore
paclcx.
Der Spraclistil der Metamorphosen hält sich nicht durch-
weg auf gleicher Höhe: Ovids Takt in stilistischen Dingen
läßt das nicht zu. AVo Götter und Heroen nicht mitsj)iclen,
starke aktive Affekte nicht erregt Averdeu, bequemt sich die
Sprache dem an und nähert sich der elegischen Haltung.
Lehrreich hierfür ist der Vergleich der Daedaluserzähluug
VUI 1 83 ö'. mit der elegischen Darstellung desselben Stoö'es
tu's am. H 21 ff'. Hier bildet die Erzählung einen Teil des
ProoemiumSj erhebt sich daher über den gewohnten elegi-
schen Ton und nähert sich also ihrerseits dem ejiischen. So
hat denn Ovid hier — was in den Parallelerzähl ungeu der
Met. und Fasten nie begegnet — eine Anzahl von Versen
ganz oder fast ganz unverändert in das Epos übernehmen
können, und wo der Ausdruck variiert, ist der epische dem
elegischen vielfach nicht überlegen. Immerhin begegnen doch
selbst hier Fälle, in denen das Epos eine Erhöhung ver-
71,7] OVIDS ELEGISCHE ERZÄHIiUNG. 75
langte: a. a. 65 dum nionet, aptat opus puero; raet. 208
pariter praecepta volnndi tradit et iynotas umcris accommodat
alas. — a. a. 66 erudit inftrmas ut sua mater aves; met. 213
v'iut (des, ah alto qiiae teneram prolcm produxit in aera nido.
— H. a. 7 5 ff. 83 ff. iamquc novum deledat iter, positoque
timore Icarus audaci fortius arte volat . . cum puer, incautis
nlmiuui temer ar ins annis, altius efjit iter deseruitque pafrem;
met. 22^ cum puer audaci coepit gaudere volatu deseruitque
ducem caeliqiie cupidine tractus (doppelte Alliteration, und
die Unvorsichtis^keit des Knaben durch den Di-antr nach
himmlischen Höhen ersetzt) altius e(/it iter. — a. a. 85 vincta
labant et cera dco propiore liqucscit ; met. 225 rapidi vicinia
solis mollit odoratas, pennarum vinnda, ceras.
Unter den für den Gesamteindruck Ausschlag gebenden
stilistischen Momenten habe ich eines noch nicht berührt:
die Periodisieruug. Und hier nun spielt das Metrum, von
dem wir bisher keine .Veranlassung hatten, zu reden, eine
sehr wichtige Rolle. Das elegische Distichon, metrisch eine
in sich geschlossene Einheit, strebt immer und überall auch
nach syntaktischer Geschlossenheit: V bei Ovid ist das Penta-
raeterende weitaus überwiegend auch Satzende. Innerhalb des
Distichons wieder kontrastieren Hexameter und Pentameter
üo sinnfällig, daß sie dazu neigen, sich auch syntaktisch von-
einander abzuheben; man kann in den Fasten wie in Ovids
übrigen elegischen Dichtungen lange Reihen lesen, in denen
das Prinzip durchgeführt ist, an den Hexameterschluß auch
Kolonscbluß zu setzen, oder, was nur geringen Unterschied
macht, das Kolon des Hexameters nur mit einem Worte in
den Pentameter übergreifen zu lassen. Der Bau größerer Pe-
rioden ist durch diese Gepflogenheit zwar nicht unmöglich
gemacht, aber behindert. Die elegische Erzählung wird da-
durch zu einer Schnur von lauter gleichlangen Einzelteilchen,
die kleine Ganze für sich bilden. Die epische Erzählung ist
von dieser Fessel frei. Zwar liebt Ovid lange Perioden auch
hier nicht, am wenigsten solche, die durch syntaktische
Unterordnung entstehen; aber es steht doch in seinem Be-
76 Ki( iiAi!!) lli:iN/.i:: [7'. 7
lieben, solche zu Inldeu, so oft der liiluilt es wünschenswert
macht ; und so oft auch Versschliiß uiul Kohmschluli ziisiinimen-
falh'u, so oft sich ferner zwei Verse zusiininienschließcii, so
ist doch die Einförmigkeit des Baues nicht annähernd
so ijroß wie in (kr Elcorie. Neben dem Versschluß ist die
Cäsurstolle als syntaktischer Kuhej)unkt sehr beliebt, und die
distichischen luiihcn w»rden immer wieder durch Monosticha
und Tiisticha, seltener Tetrasticha unterbrochen. Diese Frei-
heit des Periodeubaus ist für die Haltung der Erzählung von
größter Bedeutung: sie ermöglicht es dem Erzähler, sich vom
Gegenstande fortreißen, sich vom Fluße der Ereignisse tragen,
den tiefgeschöpfteu Atem ausstrihncn zu lassen. Im Vergleich
damit hattet der elegischen Erzählung etwas von Kurzatmig-
keit an; sie geht mit gleichmäßigen Sclirittchen, sie eilt nicht,
fliegt nicht.
Es liegt nach allem früher Gesagten auf der Hand,
warum Ovid sich dieser Beschränkung ohne Widerstreben
fügt: er empfindet als elegischer Erzähler gar nicht das Be-
dürfnis 7iach weiter ausholendem Schritt, weil er sich selbst
nicht durch erhabene Konzeptionen oder starke Afiekte hin-
gerissen fühlt.
9-
Ovid fand, als er an die Fasten herantrat, einen fest aus-
gebildeten Stil der elegischen Erzählung bereits vor: das lehrt
deutlich sein unmittelbarer Vorgänger Proper z. Unter den
aetia Romana, die dieser in sein viertes Elegienbuch auf-
nahm, sind ganz verschiedene Formen der ätiologischen Dich-
tung vertreten: der Vertumnus legt die Erklärung des Namens
und damit der Bedeutung des Gottes diesem selbst in den
Mund: Ovid hat das Motiv in den Fasten wiederholt verwen-
det, aber auch in den Met. XIV 623 ff. sehr liübsch gezeigt,
wie sich jene Erklärung in Erzählung umsetzen läßt. Der
Apollo PalaUnus ist ein Festgedicht wie TibuU H i, der
Hymnus, den der celebrierende Dichter singt, preist die
aQsry] des Gottes; es wird nicht eigentlich der Verlauf der
Schlacht bei Actium geschildert, sondern die Schilderung der
I
71,7] OviDS ELEGISCHE EllZÄHLL'NG. 77
beiderseitigen Streitkräfte vor der Schlacht und des Ergeb-
nisses der Schlacht rahmen das Auftreten des Gottes ein;
seine Rede an Augustus (37 — 547) ist der Kern des ganzen
Gedichts, im wesentlichen eine Verherrlichung des Augustus
selbst. Der luppiter Feretrins umschließt drei kurze Berichte
von 18, 16 und 6 Versen, in denen die Eigenai-t der elegi-
schen Erzählung sich nicht voll entfalten kann; aber auch
hier treffen wir schon auf Züge, die uns aus Ovid vertraut
sind. Wenn irgendwo, so schien hier der Stoff — die Gewin-
nung der spolia opima — Kampfschilderung zu fordern: Pro-
perz entzieht sich dem fast vöUig; nur je ein kurzer Satz
ist dem Kampf und Sieg selbst gewidmet. Der Bericht über
Romulus ist der strikte Gegensatz einer chronologisch fort-
schreitenden epischen Erzählung. Er konstatiert zunächst,
daß Romulus der erste war, der die spolia opima errang, und
nimmt dann in der Form der Zeitbestimmung (tempore quo)
den Hauptinhalt der Erzählung vorweg; über die Art des
Kampfes erhalten wir nur hier eine Andeutung (portas Cae-
ninum Äcronta p>etenteni victor in eversiim cuspide fimdis equum).
Sofort schweift der Dichter ab zu dem Gedanken, wie klein
einst Rom war — wir kennen das aus Ovid zur Genüge — ,
daß selbst ein Acron, König von Caenina, ihm Schrecken ein-
jagen konnte: daran schließt sich der Kontrast zwischen den
verwegenen Hoffnungen des Acron und seinem blutigen Aus-
gang : zum zweiten Male das Resultat des ganzen antizipierend.
Dann endlich, nur gleichsam als Erklärung des letzten Disti-
chons, in zwei Distichen die Schilderung des Hergangs: aber
das Wesentliche hierbei ist Romulus' Gelübde an Juppiter;
vom Kampfe hören wir nur das eine Wort corruit, das Ro-
mulus' corruat bestätigt. Drei abschließende Distichen verherr-
lichen in Romulus die ärmliche Einfachheit des mannhaften
alten Rom, ohne nahen Bezug auf die hier zu feiernde Tat:
der Dichter hängt den Gedanken nach, die dei- Kontrast des
Einst zum Jetzt in ihm erweckte. — Ähnlich setzt der Be-
richt über Cossus gleich mit der caedes Veientis Tolumni
ein, um daran sofort eine Betrachtung über die winzigen
78 RiciiAKi) übinzk: [71,7
Geüjner des alten Iidih — Veji, Nonientuin, Com zn
knüpfen niul sodann zu einer getülilvollen Ajio.str()j)he an
das einst mächtijjfe und Mühende, jetzt verödete Veji iibzu-
sclnveifen: der (Jodiinke an die Verffän^lichkeit alles Großen
auf Erden drän«^te sich vor den eit^entliehen (ie<(eustand. Als
wollte sich iler Dichter st'll)st zur Sache rufen, setzt dann
unvermittelt der I^ericht ein, der nicht, wio bei Livius von
einer Schlacht, sondern nur von einem Zweikampf der Führer
weiß, bei dem die Ehre der Herausforderung dem Römer zu-
fällt; aber nicht der I\amj)f selbst wird geschildert, sondern
nur der Ausgang berichtet: desevta Tolnmni cervix Rommios
sanguine lavif equos. — Der dritte Bericht über Claudius Mar-
cellus uiul Virdomarus beschränkt sich auf vier Distichen, die
dem Dichter zwar Gelegenheit geben, den wüsten Gegner
bis auf seine gestreiften Hosm zu schildern — hier tritt
im Gegensatz zu den beiden ersten Fällen der Römer ganz
zurück — , aber von Erzählung nichts bieten als die Tat-
sache, daß der Feind an der Kehle gctrofl'en wurde. Es
entspricht ganz der Zurückhaltung, die Ovid in den Fasten
gegenüber den historischen Begebenheiten jüngerer Zeit übt,
wenn Properz die dritte und jüngste Heldentat am flüchtig-
sten behandelt; hier fiel der Gegensatz des Einst zum Jetzt
weg, der den Elegiker gern auf den Zeiten des alten Rom
verw^eilen ließ; der fremdartige Aufzug des Barbarenfürsten
mußte, so gut es ging, den sozusagen märchenhaften Reiz der
alten Geschichten ersetzen.
Wirklich ausgeführte ätiologische Erzählungen bietet
Properz nur zwei: die Tarpeia und den Hercules Victor. Hier
tritt denn die Analogie zu Ovid auch besonders deutlich zutage.
Die Sage von der Tarpeia ist bei Properz aus einer
Episode der römischen Geschichte zu der ganz auf individu-
elles Erlebnis gestellten Erzählung eines sqcotlxov ^c(i)i]ti,a
geworden. Das Historische tritt o-anz in den Hintergrund:
die Kenntnis der politischen Situation wird vorausgesetzt;
der historische Vorgang selbst, die Eroberung des Kapitols
durch die Sabiner, wird nur eben gestreift, um die Grundlage
7', 7] OviPS ELEGISCHK ErzÄHLUNG. 79
für die Erzählung von Tarpeias Tod zu scliaÖ'en (87 prod't-
derat portneqiic fidem patrlomf/ue iacenteni)-^ die Folgen der Tat
für Rom bleiben ganz außer Betracht. Alles konzentriert
sich auf die Person der Tarpeia; aber auch von ihr wird er-
zählt eigentlich nur das, was auf ihre Liebe und die grausame
Enttäuschung ihrer Hofinung Bezug hat; daß sie Vestalin ist,
haben wir aus der Erzählung zu erschließen; daß sie die
Tochter des Tarpeius ist und dieser die Burg befehligt, soll
der Leser wissen; ja selbst wie sie den Verrat ausführt, wie
das Einverständnis mit Tatius erreicht ist, bleibt im Dunkel,
und nicht minder die Chronoloo-ie: welcher Zeitabstand zwi-
sehen dem Monolog der Tarpeia und der Ausführung des
Verrats iiecjt, wird als unwesentlich für des Dichters Absicht
übergangen.^) Durch dies Abstreifen alles dessen, was für
den Historiker ni(;ht nur, auch für den Epiker das wichtigste
gewesen wäre, erzielt der Elesjiker eine Konzentration auf
den reinen Gefühlsgehalt seiner Geschichte, die seiner Auf-
fassung der Elegie als poetischer Gefühlsäußerung entspricht.
Und zwar erotischer Gefühlsäußerung: die wichtigste Neuerung
des Properz ist ja die, daß er das altüberlieferte Motiv des
Verrats, das Verlangen der Tarpeia nach den goldenen Arm-
spangen der Sabiuei-, durch die Liebe zum feindlichen Führer
ersetzt und damit die altrömische Legende den von der
hellenistischen Poesie behandelten Geschichten der Scylla,
Nanis (Hermesianax bei Paithenios 22) u. a. angleicht.-) Die
i) Mit RoTHSTKiN halte ich pugHahitnr v. 47 für richtig überliefert;
danach kann v. 73 nicht den Tag meinen, dessen bevorstehenden An-
bruch V. 63 ff. schildern. Übrigens würden wir sonst auch einen Uber-
orano- erwarten, nicht den neuen Einsatz iirhi festus trat . . die.'-:
Aber die 'Unklarheit in der Chronologie wie den Einzelheilen' ist nicht
etwa, Avie Eothstein meint, 'beabsichtigt, um diese Erziihluugsweise von
der prosaischen zu scheiden' — ich würde noch eher sagen 'von der
epischeu' — ; sie stellt sich vielmehr als eine nicht absichtlich ge-
miedene Folge der elegischen Erzählungsweise ein.
2) Ob er darin einen Vorgänger an dem griechischen Klegike;*
Simylos hatte, der die Tarpeiageschichte aus dem Sabinerkrieg in den
Gallierkrieg versetzte und Tarpeia aus Liebe sündigen ließ, könntu
8o RiciiAKi) Hkin/.e: I7'i7
Traditi<Hi, daß 'rarpcia Vestaliii ^^oweseii sei, konnte den Pro-
porz von seiner Fiktion nicht abliiilten: im (}(';^fenteil, sie er-
gibt ihm eine sehr willkommene Steig-erung des Frevels, zu
dem die Liehe zwinget. Daß Tarpeia durch ihre Liebe das
Keusehheitsgelübdc verhetzt, ist die wiehtigsto und iolgen-
sehwerste ihrer Verfehlungen: denn nun ist es Vesta, die
jungfräuliche Göttin selbst, die ihre Dienerin, um ilir den
verdienten Untergang zu bereiten, tiefer in Schuld verstrickt
um! zur Ausführung des Vorrats treibt (6ylf.): eine übei-aus
kühne Erfindung, durch die Properz seinem Gedichte den
religiösen Gehalt gibt, den er seiner ätiologischen Dichtung
überhaupt zugedacht hat: ganz wie Ovid, dessen Fasti ja
vorwiegend ein religiöses Gedieht sein sollten. Gerade über
den religiösen Frevel spricht denn auch der Dichter in eig-
nem Namen seine tiefe Entrüstung aus: et satis una malae
potnit mors esse imellae, quae voluit fhimnias faJlerc, Vesta,
tuus? (17 ff.). Damit ist der subjektive Standpunkt des
Dichters ijegenüber der Geschichte gegeben: ein für die ele-
gische Haltung sehr wesentliches Moment. — Im Mittelpunkt
des Ganzen steht der große Monolog der Tarpeia (v. 31 — 66):
kein Handlungsmonolog, wie ganz überwiegend die der ovi-
dischen Metamorphosen — der Dichter stellt sich nicht die
Aufgabe, das Werden des Entschlusses vorzuführen, vielmehr
tritt der Gedanke an Verrat, der einmal auftaucht, am Ende
hinter anderen Möglichkeiten der Vereinigung mit dem Ge-
liebten zurück — , sondern ein typischer Zustandsmonolog,
der lediglich die Empfindungen der Redenden in ihrem Auf
und Ab vor Augen fülirt, wie die Monologe der Fasten
(ob. S. 60). Eingeleitet ist das Ganze durch eine idyllische
Naturschilderung, die für die folgende Erzählung sehr uner-
wir leider nicht feststellen, da die Zeit des nur von Plutarch Rom. 17
zitierten Simylos nicht näher zu bestimmen ist. Die Übertragung des
Motivs lag, wenn einmal die Sage elegisch behandelt wurde, so nahe,
• daß sehr wohl auch zwei Dichter unabhängig voneinander darauf ver-
fallen konnten. — Die Eigentümlichkeiten der properzischen Erzählung
hat übrigens Rothstein bereits hervorgehoben; aber s. u. S. 99 \
1
71, 7j OVIDS ELEGISCHE EllZÄHLUNa. 8l
heblich ist, aber dazu dient, von vornherein elegische Stim-
mung zu erwecken.') Kaum hat dann ein Distichon berich-
tet, daß die Sabiner vor Rom ihr Lager aufgeschlagen
haben, so ergeht sich der Dichter wieder einmal in Betrach-
tungen über den Gegensatz des Einst und Jetzt: quid tum
Borna fait usf. Mit v. 15 ist er zu Tarpeia gelangt, um bei
ihr zu verweilen; nur einmal noch schweift er ab, um
(73 — 78) die Feier der Parilia zu schildern, die damals noch
ein Hirtenfest waren: auch hier ist an den Gegensatz des
'Jetzt' gedacht.
Die Gründung der Ära Maxima durch Herkules und ihr
Anlaß, der Sieg über Cacus, durfte in einer Sammlung römi-
scher ai'xia nicht fehlen. Aber sie war zu allgemein bekannt,
als daß ihr Properz eine Elegie eigens hätte widmen mögen;
es wird mitgesprochen haben, daß er als Elegiker in der Dar-
stellung eines Kampfes mit dem Epiker Virgil nicht wett-
eifern mochte-). Er zieht es vor, eine atQLJtrog lötoqCu in
den Vordergrund zu stellen: seine Elegie hat zum eigentlichen
Vorwurf die Erklärung des Brauches, daß Frauen beim Her-
kulesopfer nicht zugelassen waren; einleitungsweise wird
v. I — 15 die Geschichte vom Rinderdiebstahl und die Bestra
fung des Cacus berichtet, der Kampf selbst gar nicht eigent-
lich erzählt, sondern nur sein Resultat erwähnt — Maenalio
i) Die Umstellung- der Verse 3—6 nach 11, die Bähkens vorschlug
und die auch neuerdings Verteidiger gefunden hat (Butleh in seinem
Kommentar Lond. 1905; P. I. Enk, Ad Propertii carmina commentarius
oriticus, Zutphaniae I9ii,p. 311), an sich ein sehr erwünschtes Mittel,
um die topographische Unklarheit der Schilderung zu beseitigen (mit
der Änderung montem statt fontem in v. 6), scheitert schon daran, daß
die Erzählung unmöglich mit dem Präsens historicum praecingit v, 6
einsetzen kann.
2) Als Properz sein IV. Buch veröffentlichte, lag die Aeneis be-
reits vor; daß er ihr VIII. Buch bereits kannte, als er seine Elegie
schrieb, ist höchst -wahrscheinlich, wenn es sich auch aus dem Gedichte
selbst m. E. nicht sicher beweisen läßt. S. über die Frage Münzek
Cacus der Rinderdieb (Progr. Basel 1911) S. 8 ff. 32. 40, der (wie auch
Rothstein) bei Properz Hinweise auf Virgils Darstellung findet.
PMl -hisr. Klasse 1910. Bd. LXXI. 7. <>
82 Rk'haud IIkinzk: 71,7
iondt pidsus tria tcmpora rmno — , um in den Worten dos
siegreichen lloldtMi an die wieder<^e\vonnenon lünder die —
wohl von Proporz s(>ll)st erfundene — Ktyni()K)<ifie des Namens
fomni hoiirium zu j^eben; ihinn setzt v. 21 die llaupter/.iihhing-
ein. Erst spät wird «^anz beililuliij; das als getan erwiilint, was
für den Historiker die Hauptsache gewesen wäre, die Stiftung
der .Im Muxima (v. 67). Die Erzählung seihst gestaltet eine
Tradition über den Ursprung jenes Kultbrauehes, die Projiorz
wohl bei Varro gefunden hatte, in ganz freier Weise aus.')
Nach dem heißen Kampf von Durst gei)lagt, findet der Held
kein Wasser; da hört er Mädchcnlachen aus einem Heiligtum
der Bona Dea — dies Heiligtum, ein schattiger, quelldurch-
flossener Hain mit seinem halbverfallenen sacellum wird nun
in idyllischen Farben ausgemalt, selbst die Singvögel im
Pappellaubc nicht vergessen, für die Herkules gewiß damals
kein Ohr gehabt hat. Es ist, als wollte der Elegiker absicht-
lich ein Gegenstück zu der virgilischen excpQaöig der schauer-
lichen Mörderhöhle des Cacus liefern. Herkules fleht in lan-
ger Rede vergebens um Einlaß — minora" deo sind seine
Worte; er, der Allesüberwinder, muß um einen Trunk Wasser
betteln und, um Zutrauen zu erwecken, selbst an seine ärgste
Schmach, den weibischen Dienst bei Omphale, erinnern.
i) Varro hatte (nach Macrob. sat. I 12, 28) erzählt, eine Frau habe
dem dürstenden Herkules, cum boves Geryonis per agros Italiae duceret,
einen Trunk Wassers verweigert, quod feminarum deae celebraretur
dies, nee ex eo apparatu viris gustare fas esset. Properz setzt diesen
örtlich und zeitlich nicht näher beatimmteu Vorfall nach Rom und auf
den Zeitpunkt nach dem Cacussieg, und läßt dem Herkules nicht einen
Trunk vom apparatus des Frauenfestes, sondern den Zutritt zum Heilig-
tum der feminea dea und den Trunk aus der den puellae vorbehaltenen
Quelle verweigern. Die ünwahrscheinlichkeit dieser Erfindung ist arg
genug: Rom liegt ja doch in keiner wasserlosen Wüste (vgl. noch
dazu V. 5 ff.), und wo ein Heiligtum der Bona Dea steht, müssen auch
andere Ansiedelungen sein; zu den Frauen gehören Männer, von denen
das Gedicht schweigt, während in den sonstigen Erzählungen des
Cacusabenteuers, auch abgesehen von Euander, die Eingeborenen nicht
fehlen.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 83
Vergebens — dro Priesterin weist ihn warnend ab. Da er-
grimmt der Gepeinigte, erbricht die Pfosten und löscht seinen
Durst; dann spricht er sein rächendes Verdikt, mit den trüben
Worten beginnend: angulus hie niundi nunc me mea fata
trahentem accipit: haec fesso vix mihi terra patet. Dieser
Herkules ist nicht der strahlende begnadete Heros und künf-
tige Gott, den der Epiker Virgil feiert, sondern der mühselig
Beladene, der als Inhalt seines Lebens wirklich nennen konnte
öi^vv elxov ajieiQeöCrjv, wie Herakles' Schatten in Homers
Nekyia es tut; ein freilich Bewunderung, vor allem aber
Mitleid erweckender Mensch, dem das Schicksal selbst die
einfachste Labung nach vollbrachter Großtat nicht kampflos
gönnt. Herkules nimmt sich das Versagte allen sakralen Be-
denken zum Trotz — wie sollte er sich vor dem Zorn der
Bona Dea scheuen, er, der die Unterweltsgötter geschreckt,
den Dreifuß des Apollo geraubt und Helios mit seinem Bogen
bedroht hatte? — aber er nimmt es nicht mit lachender
Unbekümmertheit, sondern mit Grimm und Bitterkeit gegen
sein Schicksal; die Verkündung der tristia iura, durch die er
sich an den Frauen rächt, ist danach seine erste Tat. —
Diese Auffassung des Herakles wird Properz aus hellenisti-
scher Dichtung zugeflossen sein; man darf z. B. an das
Epyllion 'Megara' (Mosch. 4) denken, in dem die Frauen, die
dem Helden am nächsten stehen, ihn weinend beklagen, rov
ovxig ysvEx ciXXog aTtoriiörsQog ^aovrcov: wenngleich es
doch noch anders wirkt, wenn der Held selbst in jener Be-
leuchtunff auftritt, als wenn er uns durch die Reden der
Frauen gezeigt wird. Daß Properz gerade diese Auffassung
wählte, die zum Kult des Victor an der Ära Maxima im Grunde
so wenig stimmte, dazu hat ihn die Empfindung geführt, daß
gerade sie elegischer Darstellung besonders gemäß sei. — Die
Person des Dichters tritt in dieser Elegie nirgends ausdrück-
lich hervor, bis auf das Schlußgebet, in dem Herkules er-
sucht wird — nicht, wie man erwarten könnte, dem 'Lied'
oder der 'Arbeit' des Poeten seine Gunst zu leihen — son-
dern 'glückbringend in sein Buch einzugehn': so offenherzig
84 Kiilivup Hkinzk: f7i,7
wit^ hier die Elogio würde das Epos sich schworlich jo als
'Iluchpoosie' zu tM'konnen ^eben.
Außer diesen rein er/,ilhUmd(Mi Eh\i;ieii hat I'ropci/, noch
/weimal ausgeführte mythische Er/ählung in Eleoicn eiiige-
tugt: und hier treten die liosonderlioiten des elegischen Er-
/ählungsstils ganz l)esouders deutlich zutage. Der II j las
(I 20^ gibt sich als Warnung an Freund Gallus, seinen Lieb-
ling wohl zu hüten, auf daß ihn nicht, wie einst den Knaben
des Herakles, die Nvni])hen raul)en: im Grunde nur eine für
Gallus schmeichelhafte Galanterie gegen den mit Hylas ver-
glichenen.- Ganz anders also als in Theokrits Hylas, dessen
Thema die Lielie des Herakles ist, liegt bei Properz der
Nachdruck auf der Person des Hylas, und die Erzählung
richtet sich, ganz ohne Rücksicht auf öx^miETQia und VoU-
.ständigkeit, darauf, den Reiz des noch halb kindlichen Knaben
zu verdeutlichen: darum die seltsame Episode von den Bo-
readen, die die kurze Trenming des Hylas von Herakles be-
nutzen, um ihn liebend zu bedrängen^); darum die anmutige
Schilderung des am Weiher tändelnden Knaben, der über den
Blumen seinen Auftrag vergißt und sich, unerfahren wie Nar-
cissus, im Anblick seines eigenen schönen Ebenbildes ver-
liert, das ihm der stille Spiegel zeigt; und um diese Episode
einzuführen, die verweilende Schilderung des lieblichen Stückes
Natur. ^) Der Raub selbst wird ganz kurz, das weitere nur
mit flüchtigster Andeutung berichtet: wie dem Herakles die
Kunde des Raubes wird, erfahren wir nicht ^), und von seinem
i'. Sie wollen ihn nicht etwa rauben: dagegen hätte er sich mit
dem ramus nicht wehren können. Daß die Episode ohne Folgen bleibt,
wäre im Epos nicht statthaft; in der Elegie ist das ganz in der Ord-
nung: sie hat als solche den Zweck, die Schönheit des Hylas empfinden zu
lassen, besser erfüllt, als es die Schilderung dieser Schönheit vermöchte.
2) Diese — erheblich kürzer — auch bei Theokrit 40 ff., aber nicht
mit Beziehung auf Hylas, sondern um den Quell als Wohnort und
Tanzplatz der Nymphen einzuführen.
3) Gemeint ist gewiß, daß Herakles den Fall des Körpers hört —
tum sonitum rapto corpore fecit Hylas ist klangmalend — aber es
verschlägt kaum etwas, ob der Leser das bemerkt oder nicht.
71,7] OviDS KLEGISCHE EkZÄHLUNG. 85
Schmerz und dem unablässigen Suchen war schon in der
voraufgehenden Warnung au Gallus (13 ff-) genug gesagt,
daß ^ie Erzählung nicht darauf zurückzukommen braucht.
Die teilnehmende Empfindung des Dichters ist in dem Verse
32 ah dolor, ihat Hißas, ihat Hamadryasin ausgedrückt: er
genügt, um dem Ganzen die sentimentale Färbung zu geben,
die der elegischen Erzählung ansteht.
Antiope dient in der Elegie III 15 als mythisches exem-
plum für die zu Unrecht von der eifersüchtigen Geliebten be-
argwöhnte und mißhandelte Lycinna. Die Fabel wird als be-
kannt vorausgesetzt — z. B. muß der Leser wissen, wer der
senex ist, der v. 36 die Erkennung herbeiführt, und die Vor-
geschichte wird aus der Erzählung selbst nicht klar — ;
aller Nachdruck liegt auf der Schilderung von Autiopes Leiden,
die geflissentlich durch die rührende Schilderung ihrer angst-
vollen und beschwerlichen Flucht (2 5 ff.) gesteigert werden und
an denen der Dichter innigen Anteil nimmt: ganz in der Art
des Elegikers Ovid (s. ob. S. 62) versetzt sich Properz, hin-
o-erissen durch sein nachempfindendes Gefühl, so lebhaft in
die Situation, daß er in die Handlung selbst eingreifen möchte:
luppiier, Antiopae numquam succurris habenfi tot mala? corrum-
pit dura catena manus, und entsprechend nach der glücklichen
Lösung Äntiope, cognosce lovein ; tibi gloria Dirce ducitur usf.
Die aufgezeigten Eigentümlichkeiten erklären sich iu
Hylas und Antiope ohne weiteres daraus, daß der Dichter die
Geschichte nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um
auf den Angeredeten dadurch zu wirken, daß der Dichter
seiner eigenen Empfindung — dort der sorgenden Bewunde-
rung des schönen Knaben, hier dem sorgenden Mitleid mit
der armen Lycinna — deutlicher und anschaulicher Ausdruck
verleiht, als es die unmittell-are Äußerung des Gefühls ver-
möchte.^) Die elegischen Erzählungen des vierten Buches
i) Sehr nahe stehen diesen beiden Erzählungen die des Horaz in
od. ni II (Hypermestra) und III 27 (Europa), beide, wie ich meine,
Übertragungen der elegischen Erzählung ins Lied. Aber über die ly-
rische Erzählung des Horaz wäre nach den anregenden Ausführungen
86 RicHAUD Heinzb: f?',?
sind um ihrer selbst willen da; sio haben zur Person des
Erzählers keine innere Heziehun«^: wenn sie die Ei<:;enart
jener anderen, al)geschwächt aber unverkennbar, i^leiclifalls
aufweisen, so darf man vermuten, daß in dieser Ähnlichkeit
des Stils die Entstehun«^ der 'objektiven' ele<,nsehen Er/.iihliinj^
aus der subjektiven naehwirkt.
lO.
Die Annahme, daß Properz seinen Stil der clecjischen
Erzählung nicht neu geschaffen, sondern griechischen Mustern
nachgebildet hat, liegt sehr nahe. Wir wissen ja, daß die
Elegie in hellenistischer Zeit neben dem Epos dauernd den
hervorragendsten Platz als Form der mythischen Erzählung
innegehabt hatte, und werden geneigt sein, eine gewisse Kon-
tinuität des Stils bis zu den hellenisierenden Römern anzu-
nehmen. Auch wird bei llylas und Autiope niemand den
Eindruck haben, daß hier die Situation oder das eigenste
Empfinden des Dichters zur Neuschöpfung einer stilistischen
Form gedrängt habe. Der strikte Beweis für die Annahme
der Abhängiskeit ist freilich bei dem Zustande unserer
Kenntnis der hellenistischen Elegie schwer zu führen.
Der evgerrjg der elegischen Erzählung ist Antimachos.
Es war ein Schritt von größter Tragweite, daß er, statt wie
frühere Elegiker die Erzählung nur gelegentlich als ausge-
führtes Beispiel zu verwenden, sie in seiner Lyde zum Haupt-
inhalt eines großen elegischen Gedichts machte. Dies war
(nach Plut. consol. ad Apoll, q) als 7iKQU(ivd-LOV rijg kvjirjg
konzipiert: um sich über den Verlust seiner Geliebten zu
trösten, hat er ras rjQaLxäg öv^cpoQäg dargestellt, nicht, wie
n.an nach Plutarchs Ausdruck i^agid-^rjödfisvog denken könnte,
nur in katalogartiger Aufzählung, sondern, wie die aus der
Darstellung der Argonautensage erhaltenen Notizen beweisen
und ein wörtliches Zitat (fr. 3 B. aus der Oedipusgeschichte)
Reitzessteins (Gott. Gel. Anz. 1904, 956) manches zu sagen, was hier
zu weit führen vmrde.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 87
bestätijijt, wenigsteus teilweise in großer Ausführlichkeit. Es
brauchen keineswegs alles Liebesgeschichten gewesen zu sein;
aber das nächstliegende waren allerdings, angesichts des Au-
lasses der Dichtung, SQCjrixä Ttad-rj^ara. So hat Antimachos
stofflich der erzählenden Elegie nach zwei Richtungen den
Weg gewiesen: auf erotische Themata einerseits, traurige Be-
o-ebenheiten andererseits. Wieviel der Dichter von eigenem
Erlebnis und eigenem Empfinden geboten hat, können wir
nicht sagen ^); aber es scheint fast undenkbar, daß das eigene
Erlebnis, welches die Wahl der Stoffe bestimmte, nicht auch
die Behandlung der Stoffe bis zu einem gewissen Grade be-
einflußt haben sollte. Wie dem auch sei, die Idee der er-
zählenden Elegie bei Antimachos war jedenfalls verschieden
von der der epischen Erzählung, die von der Persönlichkeit
des Dichters ganz unabhängig sich bestrebt, dem Stoff als
solchem gerecht zu werden.^) Es fragt sich, ob und wann
diese Idee verwirklicht worden ist.
i) Daß die Sage den alleinigen Inhalt der Lyde ausgemacht
habe, ist eine -willkürliche Behauptung Jacobys, Rh. M. 60 (1905), 46.
2) Vgl. RoHDE Gr. R. ^150 ff., der den Unterschied der beiden Er-
zählungstypen so formuliert : im Epos behaglich sich ausbreitende Dar-
stellung und anschauliche Schilderung sichtbarer Vorgänge der äuße-
ren Tat, in der Elegie ''sprungartig vorrückende Darstellung' und Kon-
zentration auf die Gefühlsbewegungen. Er leitet diese Eigenart der
Elegie aus ihrer ursprünglich musikalischen Natur ab; gerade in der
Erzählung habe sie 'ein gewisses latentes musikalisches Element' am
sichersten bewahrt: da kann ich nicht folgen, auch abgesehen von der
Unwahrscheinlichkeit, daß jene zum mindesten sehr problematische
'ursprünglich musikalische Natur' der Elegie bei Antimachos oder gar
bei den hellenistischen Dichtern noch nachgewirkt hätte. Die lyrische
Erzählung hat allerdings, wie wir ja nun durch Bakchylides viel klarer
sehen, einigermaßen ähnlich der elegischen auf vollständige und gleich^
mäßige Behandlung eines Sagenstoffs verzichtet, Einzelszenen heraus-
gehoben: entweder weil nur diese dazu dienen, das zu illustrieren,
was der Dichter im Auge hat, oder weil es die poetischen Höhepunkte
Bind, auf die sich der erzählende Lyriker beschränken muß: der Ge-
sang setzt immer eine gewisse Exaltation voraus, mit der sich nicht
jeder beliebige Vorgang vereint. Ein kenntlicher Zusammenhang aber
mit dem persönlichen Seelenerlebnis des Dichters besteht nicht. — Ich
88 KiciiAKi» Hkinzk: [71, ;
Unser Mjiteri;il 7.1 ii- lioaiitwortmi«;" dieser Frage ist leider
wie beknnut sehr dürltig und läßt uns gonide in einigen
Fällen, die für uns sclir \vi(ditig wären, fast ganz im Stich.')
Aus dem Elegien/.yklus des Ilerniesianax, den dieser nach
seiner Geliebten Leontion benannte und in dem wir also eine
subjektive Haltung der Erzählung erwarten dürften, besitzen
wir nur einen Katalog der verliebten Dichter und PhilDSophcn,
in dem es zu wirklicher Erzählung fast gar nicht kommt;
niemand wird glauben, daraus Schlüsse auf die Art ziehen
zu können, wie der Dichter etwa die Geschichte von der sün-
digen Liebe des Leukipjios (Parthenios 5) erzählt hat. Immerhin
sieht man, auch jener Katalog ist mit Rücksicht auf die
Liebe zu Leontion (die mehrfach augeredet wird) zusammen-
gestellt, nicht etwa aus dem sachlichen Interesse an ^berühni-
ten Liebespaaren'; nur wissen wir leider nicht, welchen An-
laß Hermesianax nahm, um der Geliebten die Macht der Liebe
über die GocpoC aller Zeiten (zu denen er selbst ja zählt) zu
beweisen. Denn darauf kommt es an'-): aus dem Tun und
Dichten der großen Sänger, wo es möglich ist aus beiden,
wird bewiesen, daß sie schwer verliebt waren; darum wird
mit Vorliebe auf den Mühen und Beschwerden verweilt, denen
sie sieh um der Geliebten wiUen unterzogen haben; und
darum wird in dem einzigen etwas ausführlicher behandelten
glaube nicht, daß die elegische Erzählung von der lyrischen gelernt
hat: ihre Eigenart erklärt sich restlos aus der Eigenart der Elegie
selbst.
i) Aber dazu reicht unser Material doch aus, um eine Behaup-
tung wie die von Jacoby (a. a. 0. 51'), daß die alexandrinische Sagen-
elegie 'eigentlich weniger erzählte — was sie hätte erzählen können,
setzt sie meist voraus — als schilderte' als falsch zu erweisen.
2) Nicht etwa, wie Ellenberger (quaestiones Herraesianacteae,
Dias. Gieß. 1907, 62. 67) behauptet, auf eine Sammlung leidvoller Liebes-
geschichten, aus denen der Dichter, wie Antimachos, Trost über den
Verlust der eigenen Geliebten hätte schöpfen wollen. Dafür, daß die
Leontion ein ini-/.riSeiov gewesen sei, spricht gar nichts, dagegen mit
Entschiedenheit die Art der Anrede; z. B. yivma-Acig ctiorca v. 17 zu
einer Verstorbenen gesagt ist undenkbar.
7^7] OviDS ELEGISCHE ERZÄHLUNG. 89
Falle, dem des Orpheus (v. i — 14) nicht etwa von seiner Ver-
zweiflung nach dem Tode oder nach dem zweiten Verlust
der Gattin gesprochen — beides bleibt ganz beiseite, nicht
einmal die Tatsache des zweiten Verlustes wird erwähnt — ,
sondern von seiner Fahrt in die Unterwelt und ihren Schrecken.
Und wenigstens dies können wir aus dem für unsere Zwecke
sonst so unergiebigen Stück verwerten: als ein Beispiel für
die WiUkür, mit der der elegische Erzähler den Punkt einer
vielteiligen Handlung herausgreift, auf den es ihm persönlich
ankommt, ohne Rücksicht darauf, ob ein Leser etwa die
ganze Handlung kennen zu lernen wünscht. — Bemerkens-
wert ist, daß Hermesianax v. 35 ff. die Elegie, die Erfindung
des Mimnermos, als ')]dvg r]Xog •xal iiaXaxov nvsv^ dnb
TCevxaaixQOv bezeichnet. Damit will er augenscheinlich nicht
etwa die Eigenart der Elegie des Mimnermos im besonderen,
sondern der Elegie überhaupt charakterisieren, und zwar im
Gegensatz zum Epos, von dem vorher die Rede war. Diese
Charakteristik trifft gar nicht auf so hervorragende Vertreter
der Gattung wie Kallinos und Tyrtaios und, wie wir wissen,
auf die Poesie des Mimnermos nicht im vollen Umfanse zu.
Sie gibt aber offenbar die zu Hermesianax' Zeit herrschende
Auffassung wieder und ist also ein neuer Beweis dafür, daß
die von Antimachos eingeschlagene Richtung damals als maß-
gebend galt: für die elegische Erzählung gewiß nicht minder
als für die übrigen Verwendungen des Metrums.
Wir wissen von keiner anderen erzählenden Elecfie oder
Elegiensammlung, die wie die Lyde und die Leontion vom
eigenen erotischen Erlebnis des Dichters ausgegangen wäre.*)
i) Die Behauptung Jacobys, daß die Bittis des Philitas ein Kata-
loggedicht in der Art der Lyde gewesen sei (a. a. 0. 47. SS'*), schwebt
ganz in der Luft. Ovid stellt trist. I 6, i nicht die beiden Gedichte,
sondern die beiden Personen zusammen: das ist ein erheblicher Unter-
schied. Aus der Art, wie Hermesianax von der Bittis spricht, würde
ich eher mit Pohlenz {Xägirig für F. Leo iii) schließen, daß das Ge-
dicht subjektiv, also subjektiv-erotisch war. Daß Bittis vermutlich die
Gattin, nicht die Mätresse des Philitas war, also die Erotik andere
9© KiciiAUP Hr.iN/K: l7i,7
Möglich, (laß AlexiuuliM- der Aetolcr in seinem 'Ai)(>llün'
das Motiv von der eit^onen l*orson auf den Gott übertragen
uml ihn (>t\va zum Trost in eigenem Liebesleid (man mag
an llyakintlios oder Daphne denken) eine Reihe von leid-
vollen Liebesgeschiehten hat erzählen lassen: nur, wie es
sich für den wahrsagenden tJott ziemt, nicht als Bericht, son-
dern in der Form der Prophezeiung, also i'uturisch. Das
einzige erhaltene Stück daraus (bei Parthen. 14) behandelt
die verschmähte Liebe der Gemalilin des Phobios zu dem
schönen Antheus, ihre Kache und ihren Selbstmord; das ist
versifizierte Prosa und kommt für den Stil der elegischen
Erzählung nicht in Betracht. — Über den Rahmen, in dem
Phanokles seine elegischen Erzählungen von geliebten Knaben
(^'EQCOTEg rj KaXoC) zusammenfaßte, wissen wir nichts; das ein-
zige erhaltene Stück (bei Stob. LXIV 47) deutet nichts dar-
über an. Es geht aus von der Liebe des Orpheus zum Bore-
aden Kalais — der alte heilige Sänger ist hier gewiß zuerst
als schmachtender Liebhaber eingeführt worden (Ovid hat
das in seinem Epos X 83 ff. nicht nachzubilden gewagt)^) — ,
verbreitet sich aber dann über die Ermordung des weiber-
feindlichen Sängers durch die Tbrakerinnen und das wunder-
bare Schicksal seines abgeschlagenen Hauptes und seiner Leier:
daraus ergibt sich das ulxlov für die lesbische Lyrik; das
alriov für die 'noch jetzt' übliche Tätowierung der thraki-
schen Frauen schließt die Erzählung ab. Diese ätiologischen
Bemerkungen, die den Gegenwartsstandpunkt des Dichters
bekennen, sind der elegischen Erzählung durchaus gemäß,
während sie im Epos z. B. des ApoUonios als Stilwidrig-
Farbe trug als die des Properz, macht für das yivog so wenig einen
Unterschied wie der Unterschied der satirischen Polemik des Horaz
von der des Lucilius.
i) Peeller, Ausgew. Aufsätze 371 fF. verstand die Verse 5 — 6 da-
hin, daß Orpheus um den Verlust des Knaben klage; davon ist nicht
die Rede, und Virgil hat die Worte noXXätii dl a-Aisgolaiv iv aXasaiv
f^sT ccsläcov bv 7t6&op ganz richtig verstanden, wenn er sie auf seinen
verliebten Corydon übertrug (buc. 2, 3).
71,7] OVIDS ELEGISCHE ErZÄHLÜNG. QI
keit erscheinen und so auch gewiß von der feinfühligen alex-
andrinischen Kritik aufgefaßt worden sind. ^) Die innere
Teilnahme des Dichters an den Vorgängen ist zwar aus den
Versen über Orpheus' Liebe und über die Wunderklänge der
Leier deutlich herauszuhören, aber nicht ausdrücklich bekun-
det. Nach diesem Stück zu urteilen (und unsere sonstigen
Angaben über die von Phanokles behandelten, wie es scheint,
nicht selten erfundenen Geschichten weisen nach derselben
Richtung) ist das ganze Gedicht auf den Ton weicher und
schwermütiger Klage gestimmt gewesen: worin ich weniger
mit Preller eine ^abmahnende' Tendenz als die Meinung des
Dichters erkenne, so dem Gesetz der Gattung, das von ihrem
Archegeten Antimachos abstrahiert war, am besten zu genügen.
Am wertvollsten wäre es uns natürlich, über das Ver-
halten des Philitas und des Kallimachos unterrichtet zu sein,
der beiden anerkannten Koryphäen der Elegie, deren Kenntnis
und Schätzung für die römischen Elegiker feststeht. Über
Philitas läßt sich leider recht weniges zuversichtlich sagen.
Aber es wird doch, nach allem, was ich bisher ausführte,
nicht als Zufall zu betrachten sein, daß die wenigen aus
der Elegie 'Demeter' erhaltenen Verse — drei Distichen —
gerade von dem Leid der Göttin handeln, das eine, wie es
scheint, einer Klage der Leidenden selbst entnommen.^) Das
trifft also ganz mit dem zusammen, was wir in Ovids elegi-
scher Cereserzählung, im Gegensatz zur epischen, als vorherr-
schend fanden. — Etwas besser sind wir über Kallimachos
unterrichtet, und auch über ihn erst dank den neueren und
neuesten Funden. Wir besitzen jetzt den Schlußteil der
'Kydippe'^) und wissen nun, daß Dilthey mit vollem Recht
Aristänets Brief als eine freie Paraphrase der Elegie aufge-
i) S. Virg. ep. Techn.* 373.
2) S. PoHLENz a. a. 0. 109 ff. — Daß das Gedicht an Bittis kein
im-nridiiov war, sondern der Lebenden galt, hat Pohlenz mit vollem
Recht aus der Art geschlossen, wie Hermesianax davon spricht.
3) Am bequemsten zugänglich in Brinkmanns Abdruck, Rh. M. 72
(1918) 477.
92 Richard Hkinzk: [7», 7
faßt und zur Rekoiistiuktion im wcsentliehou riclitis: ver-
wertet luit; daß er andererseits /u Uiirecht gemeint hat, über
den (ianj^ der Erzählung weiteres aus den ovidisclien Episteln
erseliließen zu können: endlich liejjjt nun hhuy. klar vor
Augen, daß weder das hocligesteigerte Pathos noch die emp-
tindsame Sinnlichkeit dieser Episteln ein reines Echo kalli-
macheischer Art ist. Sehr viel deutlicher als früher ist uns
aber auch das Verhältnis geworden, in dem die Erzählungs-
weise der Fasten zu dem der Aitia steht: das ist für unse-
ren Gegenstand der erheblichste Gewinn.
Vor allem: der Elegiker Kallimachos hat so erzählt, daß
der Leser die Person des Erzählers über der Geschichte nie-
mals vergißt^). Er fällt sich selbst ins Wort, als ihn seine
TCoXvidQSit] dazu verleiten wollte, von Hera etwas zu erzählen,
das die Göttin lieber in Vergessenheit fallen sähe. Er ver-
wirft als aufgeklärter Mann die übliche Bezeichnung der
Krankheit, die Kydippe befiel, als einer lsqij. Er zitiert am
Schlüsse seine Quelle, die keische Mythologie des alten Xe-
nomedes. Da spricht überall der Schriftsteller, der in seinem
Stotf nicht völlig aufgeht, sondern ihn wirklich als Stoff
empfindet und empfinden läßi, den er für den Leser her-
richtet; und so hat er an anderen Stellen der Aitia dem
Leser zugemutet, sich selbst das zu denken, was er der Kürze
halber nicht ausführen will (WiL. a. a. 0. 224), oder es abge-
lehnt, über irgendeinen Gegenstand seinen ganzen Wissene-
sack auszuschütten (fr. 177). Etwas anders, aber doch auch
aller epischer Objektivität entgegengesetzt ist es, wenn er,
statt des Akontios Hochzeitsnacht zu schildern, zugibt, er
wisse davon nichts und könne nur vermuten, daß der junge
Gatte sein Glück nicht um die Schnelligkeit des Iphikles oder
die Schätze des Midas hingegeben hätte — 'wie mir alle be-
zeugen werden, die den schlimmen Gott kennen': auch das
spricht der Schriftsteller, der vom Verlauf der Hochzeitsnacht
i) S. WiLAMovriTz, Neues von Kallimachos II (Berl. Sitzuugsber.
1914), 241 ff.
7 hl] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 93
begreiflicherweise keine Kunde haben kann und nichts Unbe-
zeustes singen will: wie zuverlässig muß der Mann in allem
sein, was er als geschehn berichtet!
Diese Spezies der elegischen Erzählung ist, soviel wir
sehen, von Kallimachos erfunden. Der Unterschied von der
antimacheischen liegt auf der Hand; aber die generelle Gleich-
artigkeit ist doch auch nicht zu verkennen. Antimachos ging
aus von dem eignen seelischen Erleben, Kallimachos von gei-
stigem Erlebnis-, jenen hat die Leidenschaft, diesen die Forsch-
begier zu den Musen gewiesen; bei Antimachos durfte —
wenn anders das Motiv durchgeführt war — der Leser nie
vergessen, daß der unglückliche Freund der verstorbenen Lyde
erzählt; bei Kallimachos soll der Leser nicht vergessen, daß
der gelehrte und geistreiche Herr Kallimachos von Kyrene
erzählt. Für das Epos wäre eine solche Vortragsweise mon-
stös, und bei dem stilsicheren Künstler Kallimachos undenk-
bar. Die Reste der Hekale weisen keine Spur davon auf,
und wir dürfen mit Bestimmtheit annehmen, daß das kein
Zufall unserer fragmentierten Überlieferung ist.
Es steht nun aber doch nicht so, daß Kallimachos seine
elegischen Geschichten mit der trockenen Sachlichkeit des
Antiquars berichtet und sie nur mit gelehrten Anspielun-
gen gewürzt hätte. Die wiederholten Apostrophen des Akon-
tios, die hier nicht bloße Redefigur sind (s. ob. S. 64) lassen
empfinden, daß der gelehrte Dichter unvermerkt sich für sei-
nen Helden erwärmt hat und an seinem Schicksal inneren
Anteil nimmt ^); würde auch sonst seine Phantasie dem Akon-
i) Wir nennen das Gedicht 'Kydippe', und die Figur des Mäd-
chens hat sich schon für Ovid in den Vordergrund geschoben, wenn
er sagt: CalUmachi numeris non est dicendus Achilles, Cydippe non est
oris Homere tili rem. am. 391; Kallimachos würde, wenn er seiner Elegie
einen Sondertitel gegeben hätte, sie zweifellos 'Akontios' getauft
haben. Auf das noch zu des Dichters Zeit in Julis auf Keos blühende
Geschlecht der Akontiaden weist der Schluß hin, der T/ifpog des Akon-
tio8 {oivq ^Qcog 75) wird dann als Thema des Gedichts genannt; Ky-
dippe ist offenbar nur als Gegenstand dieses T^isqos, nicht um ihrer
94 Ku uAiu) IIhinzk: [71,7
tios ins Braut<:remaoh folgen V und aufs feinsto deutet dabei
der Erzähler an, daß eij^ne Liebescrlahrung ihm den Griffel
führt. Ähnlich mag es bei der Schilderung der verliebten
Sehnsucht des Akontios gewesen sein; die hat der Dichter
— das können "wir zuversichtlich Aristänets durch wtirtliche
Zitate gestützter Paraphrase entnehmen — mit zärtlichen
Farben ausgemalt, und gerade diese Partie scheint es gewesen
zu sein, die dem Gedicht zu seiner 13eliebtheit bei Späteren
verhalf. Sie hat offenbar nicht kontinuierliche Erzählung in
der Art des Epos, sondern zusammenfassende Schilderung
gegeben. Gegipfelt hat diese in Akontios' Monolog, der kein
Handluugs-, sondern ein echter Zustandsmouolog gewesen sein
muß^): eines der Vorbilder für Ovids elegische Monologe,
für Properz' Tarpeia und viele andere. Das mag für Kalli-
machos' Zeit ein Neues in der elegischen Erzählung gewesen
sein; ohne eine gewisse eigene Sentimentalität konnte der
Dichter nicht darauf verfallen. Freilich, von einer so auf-
dringlichen Bekundung dieser inneren Anteilnahme, wie wir sie
gelegentlich bei den römischen Elegikern fanden, zeigt sich
bei Kallimachos keine Spur, und wir würden sie ihm auch
wohl am wenigsten von den hellenistischen Elegikern zu-
trauen. — Der sentimentale Ton war übrigens keineswegs
durch das ganze Werk festgehalten, wie sich von selbst ver-
steht und wie uns die Reste der Geschichte von Herakles
und Theiodamas^) aufs beste bezeugen: da streifte die Dar-
stellung ans Burleske; der Held, der sich den geraubten
Ochsen nur um so besser schmecken läßt, weil ihn der geschä-
digte Bauer greulich verflucht, muß es sich gefallen lassen,
selbst willen in Betracht gekommen: wir wissen ja nun, daß sie den
Akontios vor der Hochzeit gar nicht gekannt, also auch nicht geliebt hat.
i) DiLTHEYs Vermutung, daß der Monolog dazu gedient habe,
Akontios' Entschluß zur Fahrt nach Athen herbeizuführen, ist nun
mit der Annahme dieser Fahrt überhaupt (und mit der Lokalisierung
der Geschichte in Athen) durch den Fund des Originals widerlegt
worden.
2) WiLAMowiTZ a. a. 0. 227 ff.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 95
vom Dichter an seinen erfolglosen Musikunterricht beim alten
Limos erinnert zu werden.^)
Endlich noch eines: Die Hekale hat mit großer und so
weit wir urteilen können gleichmäßiger Ausführlichkeit die
Geschichte von Theseus' Einkehr bei den armen Alten, sei-
nem Kampf mit dem Stier und seiner Rückkehr berichtet,
liebevoll verweilend auch bei den unscheinbaren äußeren Ge-
schehnissen, dazu in den umfänglichen Reden und Gesprächen
eine Fülle von Stofi einführend, der zur Haupthandlung nur
in loser Beziehung stand. Die elegischen Erzählungen waren
an sich auf knappere Darstellung angewiesen; aber die Ky-
dippe lehrt uns nun, daß Kallimachos hier die Kürze keines-
wesrs so gleichmäßig durchgeführt hat wie dort die Breite.
Das Orakel des ApoUon füllt acht Distichen: der Gott spricht
mehr wie ein freundlich plaudernder Berater als wie ein er-
i) Warum hat Kallimachos für das 'Bad der Pallas' elegifsche,
nicht epische Form gewählt? Vergleichen läßt sich eigentlich nur der
Demeter-*'Hymnus', der sich ebensowenig wie die Aovtqoc als Hymnus
wibt; in beiden 'spricht' Xtyst der Erzähler, um die Wartenden erbaulich
zu unterhalten, die Hymnen i — 4 dagegen uSovxai oder viivovvxcii; in
beiden ist dementsprechend die Diktion erheblich einfacher als in jenen
(auch die Gelehrsamkeit, die bei Kallimachos mit der Feierlichkeit
wächst, sparsamer zugemessen). Aber im Demeterhymnus erzählt der
Dichter doch mit der Miene ernster Ergrififenheit eine grausige Ge-
schichte von der furchtbaren Rache einer freventlich gekränkten Gott-
heit, die sich in voller Majestät strafend offenbart; Pallas wird beim
Bad, das sie mit einer guten Freundin zur Mittagszeit im stillen Walde
nimmt, von dem Sohn dieser Freundin, dem arglosen Jäger Teiresias
erblickt — eine Szene wie aus dem bürgerlichen Leben gegriffen — ,
und als der Jüngling darauf, dem ehernen Gesetz gemäß, nicht aber
(wie bei Kallimachos' Gewährsmann Pherekydes) durch den Willen der
Pallas, erblindet, gibt sich die Göttin die größte Mühe, die vorwurfs-
vollen Klagen der Freundin abzuwehren und zu beschwichtigen, indem
sie dem Unglücklichen eine glorreiche Zukunft als Seher verspricht und
ihm schließlich noch außer einem langen Leben einen großen Stock
schenkt, seine blinden Schritte zu leiten. Wahrlich eine sehr humane
Göttin, die man herzlich lieb gewinnen muß. Hat also nicht schon
Kallimachos über den Unterschied zwischen elegischer und epischer
Darstellung des Göttlichen ähnlich gedacht wie Ovid?
q6 Kiciiauu Hkin/k: I71, 7
biibcner l*ropbet uiitl ist keineswegs auf majestätische Wort-
kargheit bedacht. Dage<^en iiarliher keiu Wort darüber, wie
und von wem Akontios die Botschaft erliält, die ihn /,ur
Hochzeit nach Naxos ruft, keiu Wort auch vou seinem
Wiederseheu mit Kydippe oder deren Empfindungen; der Er-
zähler, der bei dem Liebeslcid des Helden so ausgiebig ver-
weilt hatte, führt seine Geschichte im Geschwindschritt /u
Ende. Das ist eine ccöva^ETQCa, auf die nur der Elegiker,
nicht der Epiker ein Recht hat. — Das Verhältnis der Fasti
zu den Aina läßt sich vorläufig etwa so bestimmen: in der
Gestaltung des Kahmons hat üvid die kalliniachcische Form
insofern beibehalten, als er in eignem Namen spricht, Per-
sönliches einflicht und sehr häufig, statt als vates einfach das
Vergangene zu künden, die Herkunft seines Wissens angibt.
Das geschieht freilich überwiegend in der Form, daß ihm
irgendeine Gottheit seine Zweifel löst oder seine Fragen be-
antwortet^) — eine Form, die Kallimachos, wenn überhaupt,
i) Die Stellen bei Peter Einl. S. 15. Ovid bestrebt sich, diese
Form über die eines konventionellen Kunstmittels hinauszuheben, iiv-
dem er das Äußere des Gottes, die Begleitumstände seiner Erscheinung,
seine eignen Empfindungen u. dgl. schildert; er erhärtet sogar die
Wahrheit dieser Erscheinungen im Proömium des sechsten Buches
gegenüber Skeptikern durch philosophische Begründung: v. 5 est (hus
in nobis; agitante calescimus illo, imjjetus hie sacrae seniina mentis ha-
bet, vgl. Cic. de div. I iio (nach Poseidonios) divinatio naturalis . . phy-
sica dispiUandi subtilitate referenda est ad naturam deorum, a qua, ut
doctL^simis sapientissimisque placuit, liaustos uninios et Ubatos habemus;
cumque omnia completa et referta sint aeterno sensu et mente divina,
necesse est cognatione divinorum animorum animos humanos commoveri ;
ebd. 129 animi hominum, cum aut somno soluti vacant corpore aut mente
permoti per se ipsi liberi incitati moventur, cernunt ea, quae permiocti
cum corpore animi videre non possunt. Zu dem, was der Geist im
Traume 'schaut', gehören bekanntlich vor allem die Götter selbst;
dem begnadeten vates wird im Wachen zuteil, was anderen nur im
Traum. Ovid hat ein doppeltes Anrecht auf solche Gnade, da er nicht
nur vates ist, sondern auch sacra canit (v. 7. 8); Juno bestätigt ihm das
in der gleich folgenden besonders sorgfältig ausgemalten Epiphauie
V. 21 — 24 (zu der Lokalisierung im nemus arboribus densum vgl. Cic.
ja. a. 0. 114 mulios nemora silvaeque . . commovent quorum furibunda
71,7] OviDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. 97
80 wohl nur ganz ausnahmsweise verwendet hatte ^); es fehlt
aber auch nicht an Fällen, wo Ovid, wie Kallimachos in
dem neuesten Aitienfragment bei dem Fremdling aus Ikos,
so bei Menschen, die er triffl oder aufsucht, Erkundigung
einzieht^) — womit dann immer die Schilderung einer Si-
tuation aus dem Leben des Dichters verbunden ist: freilich
ist diese Schilderung niemals annähernd so ausgeführt wie
das Gastmahl des Pollis bei Kallimachos. Im übrigen beruft
sich Ovid wohl einmal unbestimmt auf die antiqui senes
(II 584) oder sagt, er habe eine Geschichte schon als Knabe
gelernt (VI 917), oder kündigt die Erzählung einer alten fa-
btda an (II 304. III 544. V 604. VI 320), oder erklärt (ähn-
lich wie Kallimachos ob. S. 92) im voraus, daß er eine um-
fängliche Geschichte kurz zusammenziehen wolle (VIsSsfP.):
aber so weit geht er nicht im Geständnis seiner Bücherweis-
inens videt ante multo quae sint futura). Sehr hübsch, wie Ovid seine
Glaubwürdigkeit dadurch stützt, daß er in einem bald folgenden Falle
(253) ausdrücklich erklärt, die inspirierende Gottheit (Vesta) nicht ge-
sehen zu haben: lügen wolle er nicht, wie die anderen vates (mißver-
standen von Peter z. St.), übrigens ist der Dichter taktvoll genug,
um die Gottheiten nur zu bemühen, wo wirklich eine Aporie der rö-
mischen Sakrallehre zu lösen ist; ganz ausnahmsweise wird VI 697 ff.
die Erzählung eines Katasterismus dem Merkur in den Mund gelegt,
während sonst der Dichter die Stemsagen wie überhaupt die griechi-
schen Sagen in eigenem Namen berichtet. — Die Epiphanie der
Gottheit wird öfters ersetzt durch das an sie gerichtete Gebet um Bei-
stand oder Belehrung: I 467, II 269. 359, UI 261. 714, 17 723. 808, VI
483; vgl. Kallim. hymn. I 7. III 186.
i) V. Arnim hat (Wiener Sitzungsber. 19 10 p. 9) in dem Sprecher
der letzten Verse der Aitia (vor dem Schlußdistichon) Zeus vermutet;
dann liegt die Annahme nahe, daß dieser dem Dichter irgendein auf
das Herrscherhaus bezügliches aixiov offenbart bat.
2) S. darüber jetzt Malten, Hermes 53 (1918), 175; zu den drei
von ihm aufgeführten Fällen (IV 377 der Veteran von Thapsus, Ovids
Nachbar im Zirkus, 938 ein Flamen beim Robigalienopfer; VI 399 eine
alte Frau bei den Vestalien) kommen noch IV 687 der Gastfreund in
Carseoli, bei dem Ovid auf der Reise nach Sulmo einkehrt, und VI 226
die Flaminica, die ihn über den rechten Zeitpunkt für die Hochzeit
seiner Tochter berät.
Phil -hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 7 ^ 7
98 Richard Hkinzk: l7«,7
heit, daß er wie Kallimachos einen Autor zitierte. Er scheut
sich nicht, eine Erziilihiujiij zu unterbrechen, um auf ein späte-
res Buch zu verweisen (IV 55, Tgl. iqq, wo der Hinweis ge-
schickt in die Kede des Mars verflochten ist); er versagt
sich, wie Kallimachos in der Kydippe, Mitteilungen, die dem
jnus vates nicht gestattet sind (III ^^2;^ ff., vgl. VI 325); ja er
bemerkt, während er die Geschichte vom Palladion erzählt,
daß er scl))st den Pallasterapel in llion besucht habe (VI
423). Die ätiologischen Einlagen, die wie bei Kallimachos
immer wieder den Leser auf den Gegenwartsstandpunkt des
Erzählers zurückrufen, sind bei beiden durch den Stoff ge-
boten; an Stelle des rein gelehrten Interesses tritt freilich
bei Ovid die sakrale, nationale und höfische Tendenz, die
jenen Beziehungen auf die Gegenwart, aber auch vielfach der
Gesamthaltung der Erzählung den Stempel aufdrückt. Aber
sie hält sich, auch wo sie von Göttern handelt, geflissentlich
unterhalb des Niveaus epischer Grandezza: auch Kallimachos
hat, wie es scheint, die Schilderung göttlicher und heroischer
Erhabenheit der Elegie nicht für angemessen erachtet. Die
Freiheit, die sich der Elegiker Kallimachos in bezug auf die
övupsxQCa der Erzählung nahm, hat sich Ovid, wie auch Pro-
perz, weitgehend zunutze gemacht. Ob der Aitiendichter
aber hierbei das Gewicht so stark wie die beiden Römer auf
das gefühlsmäßige, auf rührende und sanftpathetische Momente
der Erzählung gelegt hat, ist keineswegs sicher; wir müssen
uns hüten, den Fall des Akontios, in dem sich die övfiTcdd^sia
des Erzählers oflFen bekundet, zu verallgemeinern. Ebenso-
wenig sicher ist es, daß Kallimachos in der Auswahl und
Gestaltung der erzählten Sagen das Rührend-Pathetische so
geflissentlich gesucht hat wie Ovid und Properz; gefehlt hat
es jedenfalls auch bei ihm nicht ^), und inhelles, wie die rö-
mischen Elegien, sind die seinen gewiß auch gewesen. Aber
i) So hat Knaack, Analecta Graecoromana (Dias. Grfsw. 1880), die
rührende Geschichte der verlassenen Phyllis mit großer Wahrachein-
lichkeit auf die Aitia zurückgeführt, um von anderen minder sicheren
Vermutungen zu schweigen.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 99
unwahrscheinlich ist, daß auf Kallimachos die überschweng-
lich sentimentale und bis zur Fiktion unmittelbarer Teil-
nahme an der Handlung gesteigerte Haltung zurückgeht, die
wir in zahlreichen elegischen Erzählungen der Römer fanden.
Diese letztgenannte Eigenheit findet nun aber ihre deut-
lichste Entsprechung in einer poetischen Gattung, die wir
bisher ganz beiseite gelassen haben: im römischen 'Epyllion'.
Ich brauche nicht auszuführen, wie Catulls Hochzeit des Pe-
leus und die über dreißig Jahre jüngere Ciris in diesem Punkte
übereinstimmen: sie sind, in striktem Gegensatz zur epischen
Objektivität, ganz getränkt von der überschwenglich gefühl-
vollen Teilnahme des Dichters am traurigen Schicksal seiner
Personen; einer Teilnahme, die sich nicht nur im ganzen
Ton der Erzählung, sondern in pathetischen Ausrufen, An-
reden, Betrachtungen kund tut. Und, einmal auf diese Pa-
rallele aufmerksam geworden, wird man leicht sehen, daß
auch anderes, das wir bisher dem elegischen Erzählungsstil
zuwiesen, ebenso dem Epyllion eignet: die Ungleichmäßigkeit
der Behandlung, die sachlich Wichtiges mit äußerster Kürze
nur eben andeutet, um desto länger auf anderen Punkten zu
verweilen; die Bevorzugung der gefühlsbetonten Momente der
Handlung, und die Verwendung des 'Zustandsmonologs' zur
Schilderung des seelischen Leides, insbesondere Liebesleides.
Liegt es also nicht vielleicht so, daß die elegische Erzählung
der Römer sich am alexandrinischen Epyllion gebildet hat?')
Zunächst: vom 'alexandrinischen' Epyllion wird man
hier nur mit wesentlicher Beschränkung reden können. Wir
haben ja Epyllien genug aus älterer hellenistischer Zeit, um
deren Stil beurteilen zu können. Die Kleinepen des Theokrit
und Moschos, sowie die in der Bukolikersammlung mit
ihnen vereinigten uns unbekannter Verfasser, die uns bis tief
ins zweite Jahrhundert hinabführen, zeigen von der halblyri-
schen Art der Römer noch kaum eine Spur; durchweg halten
i) R0TH8TEIN zu Properz IV 4: 'Die Sage von dem Verrat und
der Bestrafung der Tarpeia erzählt diese . . Elegie in der Weise eines
alexandrinischen Epyllions'.
7*
lOO RlCHAKD HlilNZE: [7'i7
sie sich, mit sichtlicher llomoriiuitation in vielen Einzelheiten,
au den echt episclien Ton der Erzilhlun<^. Etwas weiter führt
nur das einzige dieser Gedichte, das einen erotischen Stoff
behandelt'), Moschos' Europa: der Monolog der Heldin, zu
dem sie ihr Traum anregt, und die ängstlich klagenden
Worte, die sie spricht, während sie der Stier davonträgt,
klingen wie eine Vorahnung der jüngeren Manier, wie auch
die stark zur excpQaöig neigende Art der Erzählung und die
Einflechtung einer verwandten Sage in Form der Beschreibung
eines Kunstwerks die Vorstufe dessen sind, was wir bei CatuU
ausgebildet finden: der Abstand ist noch groß genug. Nach
ganz anderer Richtung weicht die Megara von der altepi-
schen Weise ab: dies tränenreiche Zwiegespräch zwischen
Gattin und Mutter des Herakles, ein sehr merkwürdiger Ver-
such die Kehrseite heldischen Ruhms in der Wirkung auf
die Angehörigen zu zeigen, opponiert freilich ostentativ gegen
die Freude der epischen Sänger an heroischer Tat und weist
mit seiner Versenkung in die Frauenseele auf die Bahn, die
dann die Römer mit Vorliebe gegangen sind; aber stilistisch
hält das Gedicht die epische Tradition durchaus aufrecht.
Der Umschwung zur 'lyrischen' Epik muß also in späthelle-
nistischer Zeit erfolgt sein; ich meine, die hochgesteigerte
und aufgeregte Pathetik Bions (im Adonis) und seines Schü-
i) Der Kyklop und der Hylas des Theokrit sind freilich auch
?«r], aber die Anrede an Nikander und die Anknüpfung der Erzählun-
gen an Persönliches (ganz wie im Hylas des Properz) lehnen von vorn-
herein jeden Gedanken an Homer ab. Der Kyklop gehört ganz zur
'bukolischen' Dichtung — wieviel er dem Philoxenoa verdankt, wissen
wir nicht, aber die Anregung ist jedenfalls von der Lyrik gekommen;
die Stimmung das Gegenteil von Sentimentalität (Virgil hat dann in
seinem frühesten Bukolikon mit wenig Glück Motive des Gedichts in
ganz andere Stimmung zu übertragen versucht). Auch den Hylas haben
die Alten nicht ohne Bedacht zu den ßovKoXiKa gestellt (Wilamowitz,
Textgesch. der Bukol. 174); aber trotz alles Unhomerischen und trotz
der Beschränkung auf das für die persönliche Absicht der Erzählung
Wichtige ist das Gedicht nichts weniger als modern im Sinne der
römischen vswtsqoi: der Vergleich mit Properz lehrt das besser als
jede Stilanalyse
71,7] OVIDS ELEGISCHE ErZÄHLUNG. lOI
lers (im Epitaphios) gibt für die Zeitbestimmung einen Fin-
gerzeig.^) Es ist bedauerlich, aber lehn-eicli für die Vorsicht,
die man bei Schlüssen ex silentio auf die griechischen Vor-
bilder der römischen Dichtung cäsarischer und augusteischer
Zeit zu beobachten hat, daß die griechischen Epyllien spur-
los verschwunden sind, die dem Catull, dem Virgil in der Ari-
staeusgeschichte und noch dem Cirisdichter als vorbildlich
galten.
Nun läßt sich natürlich die Möglichkeit einer Entwicke-
lung des Epyliions ganz aus sich selbst heraus a priori nicht
bestreiten. Aber sehr viel wahrscheinlicher dünkt mich die
Einwirkung der erzählenden Elegie. Gerade in den Haupt-
punkten — persönliche Teilnahme des Dichters an der Hand-
lung, Zurückdrängung alles rein Tatsächlichen, Hervorhebung
des Gefühlsmäßigen, Vertiefung in die nicht heroischen, son-
dern rein menschlich rührenden Ttd&rj — in allen diesen
Punkten ist die Priorität der Elegie deshalb wahrscheinlich,
weil in ihr die Erzählung ja eben ursprünglich an das see-
lische Erlebnis des Dichters unmittelbar anknüpft, gleichsam
aus ihm heraus gestaltet wird. Wenn die Annahme richtig
ist, daß die elegische Erzählung, auch als sie von dieser Moti-
vierang absah, den ursprünglichen Charakter nur wenig ab-
geschwächt beibehielt, so liegt auch die andere Annahme sehr
nahe, daß die epische Erzählung im Laufe der Zeit immer
mehr an sie heranrückte, bis der Unterschied der inneren
Form völlig verschwand.
Ich hoffe, daß neue Forschungen oder noch besser neue
Funde die Konstruktion, die ich versuchte, bestätigen oder
durch eine bessere ersetzen werden. Das, was ich als das
wesentliche Resultat meiner Untersuchung betrachte, wird da-
durch nicht berührt: mir lag vor allem daran, zu zeigen, daß
und wie Ovid den elegischen Erzählungsstil der Fasten von
dem epischen der Metamorphosen differenziert hat-, damit ist,
hoffe ich, für das Verständnis der Kunst Ovids etwas gewonnen.
i) S. den Anhang IV.
I02 Richard Heinze: [7». 7
A u h ä n g e.
I (zu S. 14).
Göttliche Erotik der Metaiuoiphoseu.
Ovid pflegt in den erotisclien Giitterniythen einfach zu
berichten, daß die Scliöuheit eines Mädchens den Gott zur
Begierde entflammt; eingehende Schilderung dieser Leiden-
schaft, für die Ovid sonst so große Vorliebe hat, wird ver-
mieden. Pktkus^) hat das richtig bemerkt, aber nicht richtig
daraus erklärt, daß die Göttergeschichten aus vorhellenistischer
Zeit zu stammen pflegen, die sich auf die Psychologie der
Liebe noch nicht recht verstanden habe. Es wäre ja Ovid
ein leichtes gewesen, gerade in diesem Punkte die etwa sei-
nen Vorgängern anhaftende primitive Einfachheit durch mo-
dernes Raffinement zu ersetzen. Vielmehr ist er der Gefahr,
die göttliche Hoheit herabzuziehen, indem er sie in mensch-
liche Schwäche verstrickt zeigt, dadurch entgangen, daß er
die 'Liebe' einfach konstatiert, ohne bei der psychischen
'Seite des Affekts zu verweilen: er schildert weder sein all-
mähliches Werden und Wachsen, noch bringt er je einen
Gott in den Konflikt der Liebe mit anderen Empfindungen,
der ihm in den Liebesgeschichten der Menschen so erwünschte
Gelegenheit zu pathetischer Seelenmalerei bietet.
Die ovidischen Götter leiden nicht, wie die Menschen,
unter unerlaubter oder unglücklicher Liebe. Die Schönen |
der Erde gehören ihnen, und dadurch nicht in letzter Linie
sind sie gewiß nach Ovids Meinung heati. Von Werbung ist j
nicht viel die Rede. Es wird wohl hie und da in kurzen
Worten erzählt, daß die Geliebte in jungfräulicher Scheu die
Bitte eines Gottes abweist^); dann erliegt sie der Gewalt —
falls nicht eine andere gnädige Gottheit sie durch Verwand-
i) a. a. 0. (ob. S. 58 ') 70. 73.
2) Pan-Sphinx I 699; Neptun-Corona II 574; Boreas-Oreithyia VI
684 (quid .. admovi preces, quarum me dedecet usus? 689); Juppiter-Io
I 588
7I>7] OVIDS ELEGISCHE EkZÄHLUNG. IO3
lung rettet. Eine Ausnahme bildet die erste, reich ausgestal-
tete erotische Erzählung, Apollo und Daphne (I 452 — 567)^).
Auch sie ist nach jenem Schema angelegt: Bitten des Gottes,
die nicht erhört werden; Verfolgung; Rettung im letzten
Augenblick durch Verwandlung. Aber hier ist die Glut der
Leidenschaft, das Entzücken des Gottes beim Anblick des
Mcädchens, seine trügende Hoffnung wortreich geschildert;
hier wird die Werbung in langer Rede vorgeführt, und der
Gott klagt selbst über seine Schwäche (519 — 324). Diese
Ausnahme ist sorgfältig motiviert. Geflissentlich zeigt uns
der Dichter zunächst in seiner ganzen Erhabenheit den Python-
töter Apollo; im vollen Hochgefühl des Sieges reizt er, der
Liebe noch unkundig, den in seiner Weise gleichfalls allbe-
zwingenden Gott Amor, und dieser rächt sich durch seinen
Pfeil; so wird, was alltägliche Liebesgeschichte sein könnte,
zur Geschichte des Wettstreits zweier großer Gottheiten, und
Apollo erliegt nicht, wie irgendein Sterblicher, dem Reiz
eines hübschen Mädchens, sondern der saeva Cupidinis ira.
Das in der hellenistischen Poesie so trivialisierte Motiv des
unfehlbaren Liebespfeils gewinnt hier, in diesem xriXKvyes
7Cq66g37Cov aller erotischen Verwandlungsgeschichten, gleich-
sam wieder seine ursprüngliche Größe. Und auch darauf
ist der Dichter bedacht, Daphnes unbezwingliche Sprödigkeit
nicht als eine Niederlage des werbenden Gottes empfinden
zu lassen, die ihm zur Unehre gereichte; er erfindet das neue
i) Die Erzählung hat nach anderen Castiglioni a. a. 0. (ob. S. 54^)
117 fF. eingehend bekandelt; er ßucht in scharfsinniger und gelehrter
Analyse nachzuweisen, daß sie (abgesehen von der einleitenden Szene,
die VoLLGKAFF, Nikaudet und Ovid I [Groningen 1909] 68 mit unzu-
reichenden Gründen gleichfalls auf Ovids Quelle — angeblich Nikander-
zurückführt) sich eng an eine hellenistische Dichtung anlehne. Ich
halte diesen Nachweis für mißlungen. Aus C.s Zusammenstellungen er-
gibt sich nur, was kaum des Beweises bedurfte, daß Ovid hellenisti-
sche Motive verarbeitet. Für verfehlt halte ich es auch, wenn Petees
a. a. 0. 54, I die Anstöße in Ovids Erzählung durch Ineinanderschieben
zweier Fassungen der Sage zu erklären sucht; dabei ist Ovids Arbeits-
weise viel zu mechanisch aufgefaßt.
I04 KiciiAUL) Ueinze: 7', 7]
Motiv des stumpfen Bleipfeils, der dem Mädchen Abscheu
treuen alle Liebe einflößt, und hiilt darauf — zum Schaden
der Komposition und des künstlerischen Eindrucks — , das
so durch Gottes Willen erweckte Verlangen nach lebenslanger
Jungfräulichkeit vor der Liebesszene eingehend zu schildern.
Darum darf denn auch Daphne nicht etwa erst die Werbung
anhören und dann fliehen — wodurch der (Jott beschämt
würde — , sondern sie flieht, sobald Apollo sie erblickt, und
dieser muß nun — wieder zum Schaden der Erzählung —
seine Werbung vorbringen, während er der Fliehenden folgt.
Er folgt ihr zunächst nur, um sie zum freiwilligen Einhalten
zu bewegen; er verfolgt sie erst, als sie nicht hören will,
und als die Flucht ihren Reiz und damit sein Verlangen er-
höht. Dieser Verfolgung wäre das Mädchen natürlich bald
erlegen, ohne die rettende Verwandlung: bei der nun wieder
ein Gott des Gottes Wunsch durchkreuzt.
Ein beliebtes Motiv des alten Mythus ist es, daß ein Gott
sich der Geliebten in Tiergestalt oder anderer nicht-mensch-
licher Vermummung bemächtigt. Eine ganze Reihe solcher
Geschichten ist VI 103 ff. aufgezählt-, es sind die Bilder, die
Arachne den Göttern zum Hohn in ihr Gespinst wirkt —
man sieht, Ovid hat dergleichen als Verstoß gegen göttliche
Würde empfunden. Die (ganz kurz berichtete) Geschichte
von Juppiters Verwandlung in einen Adler beim Raub des
Ganymedes legt er Orpheus in den Mund (X 155 — 161), der
seinen Preis der Knabenliebe nicht wirkungsvoller eröffnen
kann, als indem er zeigt, welcher Erniedrigung sich um sol-
cher Liebe willen der höchste Gott unterworfen habe {nulla
tarnen alite verti dignatur, nisi quae posset sua fulmina ferre:
das klingt wie eine Polemik gegen andere Verwandlungssagen).
In eignem Namen erzählt Ovid nur eine einzige von all diesen
Verwandlungen, obwohl er damit auf so vielbehandelte und
dankbare Stoffe wie den Schwan der Leda und den Goldregen
der Danae verzichten muß. Jene einzige Ausnahme ist die
Europageschichte (U 833), bei der doch der Anstoß wegfällt,
daß der Gott sich in Tiergestalt der Geliebten bemächtigt;
71,7] OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. IO5
alles Gewicht ist darauf gelegt zu zeigen, wie der Gott auch
in der Verwandlung so bezwingend wirkt, daß das scheue
Mädchen sich ihm anvertraut. Und dem unvermeidlichen Be-
denken begegnet der Dichter von vornherein dadurch, daß
er selbst betont, non hene conveniunt nee in una sede morantur
maiestas et amor: man soll sehen, daß er sich des Abfalls
von epischer Höhe bewußt ist. Die Verwandlung der Götter
in menschliche Gestalt ist dagegen durch die vielen homeri-
schen Beispiele als gut episch autorisiert und dient bei Ovid,
wie anderen Zwecken, so auch, wenngleich selten, den Liebes-
abenteuern: als altes Mütterchen verschafft sich Apollo Zu-
tritt zu Chione (XI 710), Sol in Gestalt ihrer Mutter zu Leu-
cothoe (IV 2 ig), die dann, als er in veram rediit speciem,
sich ihm ergibt; wie auch Pomona des Vertumnus Liebe er-
widert (XIV 771), als er die Maske der anus abwirft und in
göttlicher Schönheit vor ihr steht .^) Zur Überlistung des
Mädchens dient nur Juppiters Verwandlung in Diana, als er
der Kallisto naht. Diese ganz singulare göttliche Maske ist
nicht epische, sondern Komikererfindung, aber von Ovid dem
Amphis natürlich nicht direkt entlehnt. Die eigentlich komi-
sche Wendung, daß nämlich die unschuldige Kallisto meint,
wirklich von Diana schwanger geworden zu sein und ihr das
nach der Entdeckung ins Gesicht sagt (Eratosth. catast.
p. 50 R.), hat Ovid natürlich aus dem Epos ausgeschlossen,
so daß denn bei ihm, epischem Stil zuliebe, der Geschichte
die eigentliche Pointe fehlt; die Geschichte selbst war ihm
als Variante der sonst so gleichförmigen Begebenheit er-
wünscht.
i) Der Grund dieser und anderer Verwandlungen der liebenden
Götter ist also nicht, wie Peters a. a. 0. 78 meint, daß die sterblichen
Frauen den unverhüllten Anblick der Götter nicht zu ertragen ver-
möchten. Wenn es von Merkur, der um der Herse willen zur Erde
hinabsteigt, heißt nee se dissimulat: tanta est fiducia formae (II 73 1)1 ^^
ist gemeint, daß der Gott, seines Eindrucks im voraus sicher, darauf
verzichtet, in irgend einer Verkleidung sich mit List der Geliebten zu
bemächtigen.
io6 l^ciiAKD Hkinzk: (7',7
Die Trauer der Götter um den Verlust der Geliebten hat
Ovid sich nicht <:^escheut im Epos zu schildern.*) Hier leiden
die Götter zwar, aber Trauer ist ein weit edlerer Affekt als
eehnsüchtit'e, uubefrieditjte Liebe.
• II (zu S. 57).
Kallistü bei Ovid.
Bei Ovid wird die unsschuldige Kallisto für den Verlust
ihrer Jungfräulichkeit zweimal bestraft: sie wird von Diana,
nachdem diese beim gemeinsamen Bad die Schwangerschaft
entdeckt hat, aus ihrem Kreise gestoßen und von Juno nach
der Geburt des Arkas in eine Bärin verwandelt. Sie lebt als
solche einsam in den Bergen; als sie nach langen Jahren
dem Sohn begegnet, läuft sie Gefahr, von diesem getötet zu
werden: um das zu verhindern, erhebt Juppiter beide unter
die Gestirne. Juno erbittet von Okeanos und Tethys, daß
das neue Gestirn der Bärin niemals ins Meer tauchen darf
Das Verhältnis dieser Darstellung zu den früheren, die
umgestaltende Tätigkeit Ovids läßt sich, meine ich, schärfer
und richtiger erfassen, als es in den bisherigen Behandlungen
der Sage geschehen ist. Drei Punkte kommen in Betracht:
I. Die älteren Sagenformen lassen Kallisto von Artemis
erschossen oder verwandelt werden. Hellenistische Dichtung
hat die eifersüchtige Hera eingeführt; sie ist es, die Kallisto
verwandelt und dann durch Artemis erschießen läßt — als
Gewährsmann dieser Fassung nennt das schol. II. 2J 478 den
Kallimachos^) — ; oder Zeus verwandelt die Geliebte, um sie
i) Apollo (Coronis) 11 621, (Cyparissus) X 141, Sol (Leucothoe) IV
245, Besonders pathetisch Apollos Klage um Hyacinthus X 162: die
singt Orpheus (vgl. ob.); und Venus' Klage um Adonis X 721.
2) Ob wir diesem sehr unzuverlässigen Zeugnis glauben und die
andere Fassung als Variante eines Mythographen auffassen sollen (mit
Franz, de Callistus fabula, Lpz. Stud. XII [1890] 2850".), ist mir zweifel-
haft. In der 'kallimaeheischen' Fassung ist die zwiefache Rache der
Hera anstößig. In der anderen (bei Apollodor III 100 ff.) ist es sehr
gut erfunden, daß Hera, die (wie bei lo) die Verwandlung bemerkt
71, 7J OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. IO7
vor dem Zorn der Hera zu bergen, und diese veranlaßt Ar-
temis, die Bärin, unkundig der Verwandlung, zu erlegen. Ovid
nun kombiniert das Motiv der Arteraisstrafe mit dem der
Herastrafe und läßt infolgedessen die erstere lediglich in der
Verbannung aus der Göttin Nähe bestehen (wovon keine
sonstige Überlieferung etwas weiß). Dabei muß motiviert
werden, warum Juno ihre Rache so lange verschiebt; 466
senserat hoc (nämlich daß Kallisto ihre paelex ist) olim magni
matrona Tonantis, distuleratque graves in idonea tempora poe-
nas. causa morae nidla est (da nämlich Diana jetzt ihre Hand
von KaUisto abgezogen hat) et iam puer Areas — id ipsum
indoluit luno — fuerat de paelice natus: die Geburt, so müssen
-wir verstehen, lenkt Junos Blick wieder auf die Verhaßte und
veranlaßt sie zum Vollzug der lange verschobenen Strafe.
Das ist freilich durch id ipsum indoluit nicht ganz deutlich
ausgedrückt; aber es ist durchaus begreiflich, warum Ovid
die Geburt vor der Verwandlung erfolgen, also Juno nicht
unmittelbar nach der Verstoßung eingreifen läßt: so gewinnt
er das erregende Moment für Junos Tat und ihre gehässige
Rede (47 1 ff.) und erspart zudem sich und dem Leser die
fabelhafte Tatsache, an der ältere Dichtung keinen Anstoß
genommen hatte, daß die Bärin ein Menschenkind zur Welt
bringt (ganz Verfehltes über diesen Punkt bei Pressler a. a.
hat, nun, um nicht selbst Haud an die Verhaßte zu legen und dadurch
Zeus' Zorn zu erregen, die Jägerin Artemis auf die Spur der Bärin
bringt: eine neue, feinerdachte Motivierung der alten Sagenform, daß
Artemis die Kallisto getötet habe. Es ergibt sich dann ein Spiel und
Gegenspiel von Zeus und Hera, Zug um Zug: i. Zeus' Untreue. 2. Ent-
deckuug durch Hera. 3. Verwandlung der Kallisto durch Zeus. 4. Tö-
tung durch Hera- Artemis. 5. Verstirnung durch Zeus. Daran würde
sich 6. der nur bei Ovid erscheinende, aber gewiß hellenistische Zug
aufs beste anschließen, die letzte Rache der Hera an der Verstirnten.
(Das Gestirn des Arktophylax scheidet hier ganz aus: Arkas wird auf
Zeus' Geheiß aus dem Leib der getöteten Mutter gerettet und der
Mala in Pflege gegeben.) Mir scheint die 'kallimacheische' Fassung
eine offenkundige Verschlechterung der so rekonstruierten; ob diese
dem Kallimachoä zuzutrauen ist, lasse ich dahingestellt.
io8 Richard Heinze: [71,7
0. [ob. S. 58*] 56). So ist denn die tiberleitung zwar nicht
ganz einwandfrei gelungen, aber doch verständlich.*) — Ob
Ovid diese Kombination der beiden Bestrafungen (und die
Form der ersten) selbst erfunden hat, läßt sich natürlich
nicht mit absoluter Sicherheit entscheiden; aber ich halte
es (mit EiiWALD Komm.^ S. 96) für sehr wahrscheinlich:
solche Bereicherung durch Verbindung mehrerer Versionen
der Sagen ist, wie wir bei Gelegenheit der Fasten gesehen
haben, für Ovids Mythopoiie charakteristisch. — Die Juno-
szenen eigneten sich vortrefflich für die epische Darstellung:
die Gewaltsamkeit der von Eifersucht und Haß erfüllten Göttin;
ihr Bittgang zu den nichtolympischen Gottheiten^); ihre große
indignatio 512 — 526 (mit deutlicher Reminiszenz 516 an die
indignatio Virgils Aen. I 48) — das alles sind echt epische
Motive. In den Fasten ist die Rolle der Juno, wenn auch
sachlich gleichen Inhalts, so doch in der Darstellung stark
komprimiert (auf nur drei Distichen im ganzen).
2. Eine zweite wichtige Neuerung Ovids — das kommt
in den bisherigen Erörterungen gar nicht zur Geltung — ist
die Szene der Begegnung zwischen Mutter und Sohn und da-
mit die Motivierung des Katasterismus. Das Gestirn des
Arktophylax ist natürlich einst, wie sein Name besagt, der
Bärin Wächter gewesen, wenn das auch in den übel zuge-
i) Mißverstanden z. ß. von Wicheks a. a. 0. (ob. S. 36 ^ 54ff-, der
daraus auf die Priorität der Fastenerzählun^ schließt, wo jede Moti-
vierung für den Aufschub der Rache fehlt. Auch der Anstoß, den
WicHEES an T. 454 nimmt, wo die Entdeckung in den neunten Monat
der Schwangerschaft gesetzt wird, ist unberechtigt: das entspricht ja
genau dem initoxov ijSr] ovaav des Eratosthenes. Die Geburt erfolgt
natürlich im zehnten Monat (VIII 500. IX 286. X 296. 479. fast. II
175 u. 0.).
2) Ich glaube nicht, daß, wie Wichers S. 59 meint, erst Ovid
diese Schlußaktion von Artemis auf Hera übertragen habe. Der Arte-
mis fehlt die Beziehung zu dem greisen Paar der Meerestiefe (das Hera
auch D. S 200 besucht), und die unersättliche Rachsucht ist gewiß ein
für die beleidigte Ehefrau, nicht für die enttäuschte Freundin erfun-
dener Zug.
71,7] OVIDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. I OQ
richteten eratosthenischen Katasterismen, die wir besitzen,
nicht klar ausgedrückt wird (p. 52 ff. Rob.). Als solcher
läuft er der Bärin (die er nicht als seine Mutter kennt) un-
bedacht in das Heiligtum des Zeus Lykaios nach, das ein
ccßarov ist, und da nun beide wegen Übertretung des heiligen
Gebotes von den Arkadern getötet werden sollen, rettet sie
2eus durch Yerstirnung. ^) Die Situation, in der Ovid die
Verstirnung erfolgen läßt, paßt zum Namen Arktophylax gar
nicht: darum traue ich keinem hellenistischen Dichter die
Erfindung zu. Aber mit ihrem gesteigerten Pathos und der
raffiniert erdachten Seelenqual — die Mutter muß fürchten,
vom eigenen Sohn getötet zu werden, den sie erkannte, dem
sie sich aber nicht zu erkennen geben kann — liegt sie ganz
auf der Bahn ovidischen Dichtens.
3. Endlich ein drittes, sachlich weniger wichtiges, aber
doch für Ovid charakteristisches. Die Eratosthenesepitome
(Hesiod) und die Aratscholien erzählen einfach, Artemis habe
die Schwangerschaft entdeckt, als sie die Kallisto einmal
Xovo^Bvriv gesehen habe; die lateinischen Berichte erweitern
das zu lavacro partum accelerans (Germanicusschol.) oder prope
diem partus in flumine corpus exercitatione fessmn cum recrearet
(Hygin): d. h. sie verstehen, gewiß ganz richtig, daß die Ba-
dende von Diana überrascht worden sei. In der 'kaUimache-
ischen' Version findet die Entdeckung nicht statt. Nur Ovid
erzählt von dem Bad der Diana und ihrer Schar und von
der erzwungenen Entkleidung der Kallisto. Seine sinnliche
i) Die Geschichte ist vielfach (so von Feanz und Pressler) miß-
verstanden worden; von einer feindlichen Absicht des Arkas ist hier
gax nicht die Rede. In diese Fassung haben dann lateinische Mytho-
graphen (p. 76 ff. Rob.) die ovidische Fassung interpoliert: Arkas trifft
auf der Jagd in den Bergen die Bärin und verfolgt sie in den heiligen
Bezirk: also Verdoppelung der Todesgefahr für die Bärin und Verzicht
auf einen Sinn des Namens Arktophylax. Der Erfinder der eratosthe-
nischen Version (gewiß nicht Eratosthenes selbst) hat vermutlich der
Bärin (die auch hier ihr menschliches Bewußtsein behielt, ayvorlaaaav
rov vönov) die Absicht zugeschrieben, den Zeus in seinem Heiligtum
um Erlösung zu bitten.
iio Richard Hkinze: |7',7
Phantasie freut sich an dem Bilde; aber, was ihm docli noch
mehr bedeutet, er ji;ewinnt so eine Gelefrenheit, die seelische
Verfassung der Kallisto zu Bebildern {eruhuit . . moras quaerif-,
dubitanti vestis adcmpia est . . attonitae manihusque utrrum cc-
hirc volenti). Aus dem gleichen Grunde hat er, gewiß ans
eigner Erfindung, die Geschichte um die (für die Handlung
ganz folgenlose) Szene des ersten Wiedersehens mit Diana
nach Juppiters t'berfall (441 — 452) bereichert.
Und dies ist nun überhaupt das Wichtigste, wichtiger
als alle sachlichen Neuerungen: ganz anders, als wir es z. B,
für die oben rekonstruierte hellenistische Erzählung voraus-
setzen müssen, ist bei Ovid Kallistos seelisches Erleben und
Erleiden in den Mittelpunkt gerückt: man überblicke nur
daraufhin die Erzählung von neuem, und man wird staunen
über die Fülle von wechselnden psychischen Zuständen und
Vorgängen, die uns der Dichter malt.
m (zu S. 60).
Die Monologe der Metamorphosen.
Die Monologe der Metamorphosen sondern sich deutlich
in mehrere Gruppen:
1. Monologe der Entrüstung und Drohung: Juno (vor
der Rache an Semele) III 262—272; (vor der Rache an Ino)
IV 422 — 431; Boreas (vor der Entführung der Orithyia) VI
687 — 701; kürzere Drohreden: Juno (an Echo) III 366 ff.;
Minerva (vor der Bestrafung der Arachne) VI 2 ff.; Diana
(gegen Oineus) VIII 279ff.; Canens (gegen Picus) XI 355 — 357;
auch Junos Drohrede an Kallisto II 471 — 475 ist wohl al»
affektischer Monolog, nicht als wirkliche Anrede zu fassen.
— Das Vorbild dieser Monologe sind die großen indignationes
der Juno bei Virgil (Aen. I 37 ff.; VII 293ff.), die ihrerseits
an Poseidons Monologe bei Homer (s. Virg. Ep. Techn.^ 428)
anknüpfen.
2. Die ultima verha vor dem Tod, insbesondere vor dem
Selbstmord, der monologisch motiviert wird: Pyramus IV
71,7] OviDS ELEGISCHE EuZÄHLUNG. III
io8 — 115-, Thisbe IV 148 — 171 ; Alcyone XI 684 — 707 (zu-
näclist Antwort auf Fragen der Amme, dann ganz als affek-
tiscber Monolog an den toten Gatten gerichtet, auslaufend in
den Entschluß zu sterben: der freilich noch nicht sogleich
ausgeführt wird); Aias XIII 387 — 390; Iphis XIV 718 — 732.
— Hier standen Ovid mannigfache Vorgänger zu Gebote: das
Drama (besonders Aias' letzte Worte bei Sophokles), helleni-
stische Dichter (den Abschiedsworten des Iphis steht Theokrit
XXIII sehr nahe), Virgils Didomonologe. Es ist anzunehmen,
daß in den hellenistischen Erzählungen, die im Selbstmorde
unglücklich Liebender gipfelten, diese ultima verha selten ge-
fehlt haben.
3. Die Totenklage: ApoUo über Hyacinthus XI 778 — 782
(auslaufend in den Entschluß der posthumen Ehrung); Venus
über Adonis X 724 — 731 (die Metamorphose vorbereitend);
Hecuba über Polyxena XIII 494 — 532 (der Schluß führt die
Erzählung, die sonst der Dichter selbst hätte geben müssen,
frostig genug in Hecubas Worten weiter); Aesacus über He-
speria XI 778—782 (endet mit dem Entschluß zum Selbst-
mord). — Auch dies seit langem feststehende Form-(Virg. ep.
T.^ 430); Ovid hat aber die rein lyrische Monodie dem Epos
nicht angemessen gefunden, sondern die Klage stets, indem
er sie in einen Entschluß münden ließ, zum Teil der Hand-
lung erhoben.
4. Eigenartiger und von Ovid offenbar mit besonderer
Vorliebe und Aufgebot aller seiner Kunst behandelt ist eine
Gruppe von großen Monologen, die den Widerstreit zweier
Mächte in der Seele des Redenden schildern. Bei aller Ähn-
lichkeit im wesentlichen sind die Unterschiede in Anlagre
und Durchführung so groß, daß sich Einzelbetrachtung lohnt.
Medea (VII 11 — 71) wird sich ihrer Liebe zu lason be-
wußt, indem sie ihr Unvermögen feststellt, dem Geheiß des
Vaters zu folgen (11 — 21). Und nun stellt sie sich, indem
sie Einwendungen der eigenen ratio widerlegt, in vier Ab-
schnitten das Kommende in zeitlicher Folge vor Augen: die
Gefahr des lason, in der ihm nicht beizustehen grausam
112 RiCHAKi) IIkinzk: [7if7
wäre (21 — 38)0; das Verhalten lasons nach der Kettung:
er wird sie nicht im Stich hisssen (39 — 50); das Verhissen
der Heimat und der Ihren: sie wird Besseres dafür eintau-
schen (51 — 61); die Gefahren der Fahrt: vereint mit dem Ge-
liebten wird es ihr eine Lust sein, sie zu bestehen (62 — 68).
Unerwarteterweise trägt in einem kurzen Schhißstück (69—71)
doch für diesmal noch die Pflicht den Sieg über die Liebe
davon-), damit der Dichter im folgenden den sieghaften Ein-
druck des Wiedersehens mit lason schildern und so einen
letzten dramatischen Umschwung einführen kann. — Es liegt
auf der Hand, daß Ovid die Medea des Apollonios vor Augen
hatte, als er seinen Monolog dichtete; der große Abstand ist
nicht minder klar. Apollonios' Heldin ist das keusche, zag-
hafte Mädchen, in dem das Gefühl jungfräulicher Scham und
i) Das Motiv kehrt wieder im Monolog der Atalante vor dem
Wettlauf mit Hippomenes (X 611 — 635), in dem Ovid versucht hat,
anders als im Medeamonolog, die ihrer selbst noch nicht bewußte Liebe
{ignorans amat et non sensit amorem) im Kampf zu zeigen gegen den
Vorsatz, unvermählt zu bleiben (der hier durch ein unheilkündendes
Orakel, nicht durch freien Entschluß des Mädchens motiviert
ist). Auch dort stehen der Schönheit, von der Atalanta nicht be-
rührt zu sein sich einredet, aetas et genus et virtns (615 — 617) ge-
genüber; freilich kommt die Liebe des Hippomenes (618. 627) hinzu.
Es ist nicht ganz klar, ob und wie in der hesiodischen Version der
Sage, der Ovid im übrigen folgt (Robert, Herrn. 22 [1887] 448), die
Liebe der Atalanta (die Ovid jedenfalls nicht selbst erfunden hat,
Theokr. HI 40) mit dem Motiv der ihren Lauf hemmenden Äpfel der
Aphrodite verbunden war; bei Ovid ist in der Erzählung vom Wettlauf
der Liebe nicht mehr gedacht, obwohl der Wunsch utinam velocioi'
esses (629) ihre Mitwirkung vorzubereiten scheint. Aber Ovid hat wohl
gemeint, durch die Schlußworte des Monologs (quodsi felicior essem
nee mihi coniugium fata importuna negarent) den Entschluß der Ata-
lanta, fest zu bleiben, genügend ausgedrückt zu haben. Dann ist frei-
lich das Liebesmotiv sachlich überflüssig und von Ovid wohl nur, um
den Monolog resp. die psychologische Verwicklung anbringen zu können,
aus anderer Quelle in die hesiodische Version eingeführt.
2) coniugiumne putas speciosaque nomina culpae inponis Medea
tuae? nach Virgils Dido IV 172 coniugium vocat, hoc praetexit nomine
culpam.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 113
Sittsanikeit mit der Liebe kämpft; noch in der entscheiden-
den Zusammenkunft mit lason denkt sie nicht daran, ihm als
Gattin zu folgen-, daß er sie nicht undankbar in der Heimat
vergessen möge, ist alles, was sie wünscht. In Ovids Medea
kämpfen nicht zwei Gefühle miteinander, sondern ratio und
furor (v. 10}, mens und cmj>w7o (19), und die Folgen ihres
Entschlusses, die Flucht, die Ehe, die Vorzüge des zivilisierten
Griechenlands vor ihrer barbarischen Heimat stehen ihr klar
vor Augen, ehe noch lason Gelegenheit gehabt hat, ihr auch
nur von der Möglichkeit zu sprechen, daß sie ihm folge. So
handelt sie nicht in dumpfem Drange, sondern mit klarem
Bewußtsein des Ziels und der Wege, die zu ihm führen; der
Monolog drückt das aufs durchsichtigste aus. Man mag diese
Intellektualisierung seelischen Erlebens als 'rhetorisch' be-
zeichnen; aber man sollte nicht meinen, die unleugbar vor-
handene Verwandtschaft der ovidischen Poesie mit der zeit-
genössischen Rhetorik, eine Erscheinung, deren Wurzeln tief
in der Lebensauffassung der ovidischen Generation liegen, be-
quem auf ein paar Schulregeln und deklamatorische Rezepte
zurückführen zu können. Medeas Monolog ist weder eine
suasoria — bei welcher der Redner doch vor allem genau
wissen muß, was er will — noch gar eine thesis — welcher
allgemeingültige Satz würde denn hier erwiesen? — , und für
das Verständnis des Stückes ist gar nichts gewonnen, wenn
man an seine Einzelteile die Etiketten der rshxä xsqiäkccia
heftet.^) Aber sehen wir erst weiter, um uns die Mannig-
faltigkeit der gleichartigen Stücke zu vergegenwärtigen.
i) Als hiesig hat den Monolog der Medea wie die anderen im
folgenden behandelten zu analysieren versucht Brück, de Ovidio scho-
lasticarum declamationum imitatore (Diss. Gießen 1909) 19 ff-: ein Ver-
such, der recht geeignet ist, die Unfruchtbarkeit solcher äußerlicher
Betrachtungsweise zu illustrieren. Wenn sich Medea einzureden sucht,
auch ohne zu lieben müsse sie den unschuldigen, den schönen, adligen,
tapferen Jüngling retten, um nicht grausam zu sein, so heißt das eine
Xvais Karu t6 dixcciov, wenn sie sich die Gefahren der Fahrt vorhält,
80 ist das eine &vri&£eig i% xov xaXsnov usf.: soll man denn wirk-
lich glauben, Ovid sei von diesen Kscpälaia ausgegangen, die so wenig
Phil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. 7 8
114 KiCHAUij HciN/ac: [71, 7
Der Monolog der Scylla (VIII 44 — 80) soll zeigen, wie
das verliebte Mädchen zu dem gnuisigeu Entschlüsse gelangt,
ihrer Liebe das Haupt des Vaters /ura Opfer zu bringen.
Hier steht nicht von vornherein das Ziel fest, und es handelt
sich nicht darum, die Leidenschaft gegen die Einwürfe der
Vernunft oder des Pflichtgefühls zu verteidigen. Scylla heftet
den Blick auf das schimmernde Kriegszelt des Minos: sie
denkt zunächst nur an den Krieg, der ihr Schmerz und
Freude zugleich gebracht hat: Schmerz, da der Geliebte ein
Feind ist, Freude, da sie ihn kennen gelernt hat (43 — 46).
Aber der Schmerz hätte ja schon enden können, wenn Minos
sie selbst als Geisel, als Unterpfand des Friedens annähme
(47. 48; hier schwebt die Möglichkeit der friedlichen Überein-
kunft vor; der Gedanke an das Verbrechen liegt noch weit
ab). Diese Vorstellung erweckt neu das sehnsüchtige Ver-
langen nach dem schönsten Manne: daraus entspringt .der zu-
nächst ganz phantastische Wunsch {prnnis lapsa per auras),
selbst die Verhandlung mit dem Feind führen zu können:
alles würde sie ihm zugestehn — nur nicht den Verrat der
Vaterstadt (48 — 56).^) Kaum ist der Gedanke, daß Minos
diese fordern könnte, in ihr aufgetaucht, da muß sie ihm
nachhängen und sucht sich einzureden, daß das vielleicht so-
gar ein Glück für die Vaterstadt wäre: unterliegen muß diese
doch schließlich — warum soll dann nicht Minos ihrer Liebe,
statt seinen Waffen den Erfolg verdanken? Unwillkürlich
schiebt sich wieder der Geliebte in den Vordergrund der Er-
wägung: ihm würde dann nicht länger Gefahr drohen. Das
gibt den Ausschlag: der Verrat ist beschlossene Sache (57 — 68).
zur Ausführung stimmen? Und wenn das sclilechterdings nicht anzu-
nehmen ist, was soll dann die Etikettierung? Die wirklich von Ovid
gegebene Ordnung der Gedanken, wie ich sie oben kurz angedeutet
habe, wird bei solcher 'Analyse' natürlich nicht bemerkt.
i) In den Versen 44 — 54 sollen wir nach Brück 21 ein prooemi-
um a% iy^a^iLov erkennen (Theon prog. p. 121, 2); das ist ebenso schief
wie die Inhaltsangabe des ganzen Monologs deliberat illa, an patrem
prodat Minoique adsit stumpf.
71, 7j Ovros ELEGISCHE ErzÄhlung. 115
Aber seine Ausfülarung? jetzt erst denkt sie an den Vater:
er allein steht im Wege; der frevelhafte Wunsch di facerent
sine pafre forem drängt sich auf die Lippen. Vom Wunsch
zum Entschluß, ihn selbst zu erfüllen, ist nur ein Schritt (die
pietas kommt gar nicht zu Worte): sie redet sich ein, daß es
ignavia sei, die Erfüllung von den Göttern zu erwarten, for-
titudOf der Liebe Hemmnis zu beseitigen, und wie leicht ist
ihr das gemacht: sie braucht ja nur die Locke des Vaters zu
rauben: dann hat sie das höchste Lebensglück in der Hand
(69 — 80). Torbild' Ovids, sagt man, sei der Monolog der
Tarpeia bei Properz IV 4: von den regellos flutenden Träu-
mereien der Tarpeia, die schon von vornherein den Verrat
der Scylla und der Ariadne ganz begreiflich findet und am
Schluß ihres Monologs nicht weiter ist als am Anfang, unter-
scheidet sich die zielbewußt foi-tschreitende Gedankenfolge
Ovids so stark, wie das in der Behandlung zweier nahe ver-
wandter Vorwürfe überhaupt möglich ist. Tarpeias Monolog
gibt ein lyrisches Bild der fessellosen Leidenschaft, Scyllas
Monolog führt die Genesis eines Entschlusses vor, ist also
ein Stück Handlung, fortschreitender epischer Erzählung in
Monologform. Daß Scylla sich über den Verrat der Vater-
stadt mit einem billigen Sophisma weghilft, vor dem Ver-
brechen gegen den Vater gar nicht zurückschaudert, ist von
Ovid wohl erwogen: ganz anders als die Scylla der Ciris, die
nach langem Ringen der von göttlichem Zorn über sie ver-
hängten Leidenschaft erliegt, ist seine Scylla wirklich, wie
der iustissimus Minos sie nennt, eine infamia saecli (97).^)
i) Dem entspricht ganz die weitere Erzählung. Statt der rühren-
den Klagen und Bitten der von Minos ans Schiff gebundenen Scylla
der Ciris hat Ovid 108 — 142 den Zornausbruch vor der Abfahrt des
Minos, consumptis precibus violentam transit in iram (nicht Monolog,
sondern an Minos gerichtet), in dem sie sich selbst des scelus schuldig
bekennt und nur nicht begreift, daß Minos, der durch ihr Verbrechen
gesiegt hat, sich nicht dankbar zeigt: sie sieht darin nur seine feritas.
Sie wird auch nicht, wie in der sonstigen Überlieferung durchweg
(außer bei Hygin fab. 198, bei dem mir aber trotz Knaack Rh. M. 57
[1902], 220 Entlehnung aus Ovid wahrscheinlich ist), von Minos ans
8*
ii6 Richard Heinze [7»i7
Der Monoloj; der Byblis (IX 474 — 516) zeigt, wie die
Liebende zu dem imerbörten Entschlüsse gelaugt, sich selbst
dem Bruder als Geliebte anzutragen. Hier handelt es sich
nicht, wie bei Medea, um einen Kampf der Leidenschaft
gegen die Vernunft, nicht wie bei Scylla um das allmähliche
Wachsen eines verbrecherischen Planes, den die Sophistik
der Liebe beschönigt; Byblis verhehlt sich noch bis vor dem
Entschluß nicht, daß es Sünde ist, was sie begehrt: aber sie
kann dem sündigen Begehren nicht widerstehen, das sich
ihrer Phantasie bemächtigt hatte, noch ehe sie sich selbst
ihre Liebe mit klarem Bewußtsein eingestehen wollte. Sie
freut sich des Traums, der ihr die Vereinigung mit dem Bruder
vorspiegelt, während sie noch den Gedanken an wirkliche
Vereinigung weit von sich weist; aber die Vergegenwärtigung
der erträumten Lust treibt sie doch schon weiter, zu dem
Wunsche, daß sie dem Caunus nicht verwandt wäre, um seine
Gattin werden zu können: damit ist die bis dahin geleugnete
Liebe, wenn auch noch nicht ausdrücklich, zugegeben; aber
noch steht die Unmöglichkeit der Erfüllung fest (492—494).
Wieder kehrt sie zu ihrem Traum zurück, in ähnlichen
Worten wie zu Beginn des Monologs, aber doch spielt sie
schon mit der Möglichkeit, daß das Gesicht Wahrheit werden
könnte {an habent et somnia pondus) — um das dann gleich
selbst entsetzt abzulehnen: di melius! und auch den an die
Nennung der Götter angeknüpften Einfall, daß Geschwister-
ehen ja im Olymp bestehen, verwirft sie sofort, um sich in
dem Entschluß zu festigen, die verbotene Liebe — hier ist
der ardor endlich offen eingestanden — aus dem Herzen zu
reißen; wo nicht, so betet sie um den Tod: der Bruder wird
dann die auf dem torus Ausgestreckte küssen: man sieht, wie
die verliebte Phantasie selbst den Todesgedanken in ihren
Bann schlägt. Und jetzt denkt sie^ zum ersten Male daran,
Schiff gebunden — das könnte Mitleid erwecken — , sondern springt
dem fahrenden Schiffe nach ins Meer, erreicht es faciente cupidhie
vires und haeret comes invidiosa carinae: das ist, meine ich, Erfindung
Ovids, in der er seiner Auffassung der Scylla treu bleibt.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 117
wie denn der Bruder ihre Wünsche ansehen würde ^): gewiß
als Verbrechen! Freilich die Aoliden dachten nicht so — sie
erschrickt vor sich selbst, daß ihr dies Beispiel sogleich zu
Gebote steht, und weist zum letzten Male die ohscenas flammas
von sich. Aber schon hat sich die Phantasie des Gedankens
an den Entschluß des Bruders bemächtigt und wendet ihn
nach der anderen Seite: ja wenn er und ich die Rollen ge-
tauscht hätten, er um mich würbe — dann, das gesteht sie
sich, könnte sie vielleicht erliegen; und kaum ist dieser starke
Schritt vorwärts getan, reißt es sie weiter: das ipsa petam
tritt ihr vor die Seele, sie malt sich die Begegnung mit dem
Bruder aus, weiß, daß die Liebe alle Scham überwältigen
wird: und nun dünkt es sie ein leichtes, wenigstens im Brief
ihre Liebe zu gestehen. — Wie hier der Traum, in dem die
Hemmungen des wachen Bewußtseins wegfallen, die geheimen
Wünsche zur Reife bringt, wie dann die erwachte Byblis
meint, gefahrlos mit der Traum er innerung spielen zu dürfen,
bis diese schließlich volle Macht auch über ihr Handeln ge-
winnt — das ist mit einem erstaunlichen psychologischen
Raffinement, freilich auch mit erstaunlicher Kühnheit darge-
stellt: die Szene v. 470 fi^. ist wohl das Gewagteste, was
auf erotischem Felde in den Metamorphosen begegnet. Der
Gedanke an die Rhetorenschule als die Mutter solcher Leistung
ist hier ganz unmöglich. Die Entwicklung geht wieder ihren
sicheren Schritt: jedes Glied der Kette fest mit dem vorher-
gehenden und dem folgenden verbunden.^)
i) et tarnen arbitrium quaerit res ista dtiorum: finge placere mihi,
scelus esse videbitur Uli; d. h. 'und auch abgesehen von dem zuletzt
Gesagten (diese Bedeutung von et tarnen 'übrigens auch' wird immer
•wieder verkannt, vgl. V 373. IX 6oi. fast. IIT 79. IV 699), d. h. von mei-
nem Entschluß: es haben hier ja zwei zu entscheiden; und selbst wenn
ich wollte, der Bruder täte es gewiß nicht'.
2) Sehr viel geringer in Erfindung und Durchführung ist der einen
ähnlichen Vorwurf (Liebe der Tochter zum Vater) behandelnde Mono-
log der Myrrha X 320 — 355. Schon die Einführung in die Handlung
ist nicht einwandfrei: die Situation, in die der Monolog gestellt ist —
Entscheidung unter den Freiern, s. 315. 356 — berührt dieser selbst
ii8 RiCHAKi) Hkinze: l7',7
Einen nicht orotisclion Seelenkanipf, den Koutiikt zwi-
schen schwesterlicher und nüitterlicher Liebe, stellt der Mo-
nolog der Althuoii (Vlll 481 — 551) dar: Eutschlußmonolog
in doppeltem Sinne, indem er über den Tod des Meleager
und den Selbstmord der Althaea entscheidet. Die duhii aff'cc-
tus sind schon vorher (402 — 477) ausführlich geschildert;
der Monolog führt eigentlich nur nochmals dramatisch vor
Augen, was vorher episch dargestellt war; man sieht, wie
Ovid das l^roblem in jeder Weise auszuschöpfen sich bemüht.
Das eigenartige des Falles ist, daß hier nicht Affekt gegen
Vernunft oder Pflichtgefühl oder Vorsatz, sondern Affekt
mit keinem Wort. Myrrha hält sieb zunächst an die kynisch-stoischen
Argumente für die Verwandtenehe {damiiare ncgatur hanc venerem
pietas, also Berufung auf andere), den Brauch der Tiere und die
v6ni^a ßccQßuQfKä, Diogenes bei Dio Chr. X p. 305 R. gegen Oedipua'
Beschränktheit: yJyai'axTet kccI ißöcc (leyccXa, ort rcöv avr&v narriQ ^''^^
na\ adeXcfbg xal T^g avrf)g yvvaixbs &vrjQ kccI vlog (tune soror nati ge-
netrixque vocabere fratris? 348)* 01 dt aXtKZQvövig ovx &yavay.tov6iv inl
TovToig oväh oi tivvsg ovöh xäv övwv ovdilg, ovSh ol üigcaL' yiuitoi
doxovöi räv xarä ri}v 'Aaiav agiaroi (vgl. Zenon beiSext. Emp. Pyrrh.
hyp. III 246) Der zweite Versuch, ihr Recht auf die Liebe zum Vater
zu erweisen (337 — 340, ebenso wie der vorhergehende und folgende
von Brück, dem leider Ehwald folgt, p. 24 besonders verständnislos be-
handelt) — quin iam mens est, non est meus? usf. — ist wirklich
nichts anderes als eine schlechte Deklamatorensentenz; der Anschluß
von V. 341 unklar: eine Seltenheit bei Ovid. Dann 345—353 eine wenig
überzeugende Selbstinvektive, mit offenkundiger Anleihe bei einer be-
rühmten Invektive Ciceros {quot confundas et iura et nomina, sentis:
tune eris et matris paelex et adultera patris etc.: Cic. pro Cluent. 199
atque etiam vomina necessitudinum, non soJum naturae nomen et iura
mutavit: uxor generi, noverca filii, filiae paelex. So auch Sen. contr.
VI 6 generi adultera, filiae paelex) und einer Warnung vor der Strafe
der Erinyen, die, was ich sonst nicht kenne, auch Gedankensünden
strafen. Daß die Heiligkeit des naturae foedus hier proklamiert wird,
überrascht nach dem Satze (330) quod natura remittit, invida iura ne^
gant: es ist, als wollte Ovid zeigen, wie sich solche Argumente nach
beiden Seiten wenden lassen. Der Schluß (354 ff.), eine mattere Wieder-
holung der Überlegung der Scylla IX 505 ff., bereitet die folgende Szene
vor: wir sollen wissen, mit welchen Wünschen im Herzen Myrrha dem
Vater gegenübertritt.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 119
gegen Affekt streitet. Die bisher besproclienen Monologe
hoben, vergleichsweise ruhig, mit dem Dilemma an; Althaea
beginnt, mit Anrufung der Erinyen, in vollster ira (474);
klarer Entschlossenheit zum scelus und nefas des Opfers, das
sie den Manen der Brüder darbringen will. Aber wie sie
das accipite inferias spricht, das Scheit ins Feuer legen will,
versagt die Hand den Dienst: der gegenteilige Affekt wirkt,
wider ihren Willen. Sie bäumt sich gegen ihn auf, resuscitat
iram durch die Vorstellung der Folgen, die ihre Schwachheit
haben t^ürde, und gelangt von neuem zum pereat sceleratus:
aber indem sie in neuer Verblendung über die Folgen dieses
Untergangs für Vater und Vaterland triumphiert — spemque
patris regnumque trahat patriaeque ruinam — empfindet sie,
daß doch auch ihre Hoffnung, die sie einst zehn lange Monate
getragen, damit für immer hinsinkt, und alle Freude, die ihr
der heranwachsende Sohn gespendet hat: wäre das verhäng-
nisvolle Scheit doch^leich nach der Geburt verbrannt: wie-
viel leichter hätte sie damals den Verlust getragen! Aber ge-
rade der Gedanke, der sie noch eben von der Tat zurück-
hielt, soll ihr jetzt die Kraft dazu verleihen: hat sie ihrem
Sohn zweimal das Leben gegeben, so mag er es nun zum
Lohn für seine Verbrechen ihr zurückgeben: so scheint ge-
rade sie, als Mutter, zur Tat berechtigt, der Konflikt damit
gelöst. Und doch folgt dem redde animam noch immer nicht
die Ausführung: et cupio et nequeo. So scheint ein toter Punkt
erreicht: sie wird sich — hier erst — über das furchtbare
Dilemma völlig klar. Da zeigt sich plötzlich ein Ausweg.
Die Brüder sollen ihr Recht haben, aber sie selbst wird ihr
Opfer nicht überleben: so büßt sie die Schuld gegen den
Sohn, und beide affedus, die sich auszuschließen schienen,
siegen.
Die besprochenen Monologe sind keineswegs — das ist
wohl deutlich geworden — nach eiuer Schablone gearbeitet;
aber sie vertreten doch alle einen und denselben Typus des
pathetischen Monologs, der eine zerrissene Seelenstimmung, das
Sichdurchringen zu einer Entscheidung zwischen widerstrei-
120 Richard HiiiNZE: [7'i7
tenden soclisclien Mächten vorführt: uusniihmslos sinkt die
Wagschale der sündigen oder frevelnden Leidenschaft. Woran
hat Ovid hier angeknüpft? Zunächst: gewiß nicht an rheto-
rische Übung. Die fraglichen Monologe haben mit den For-
men der Suasoria und der Thesis nichts zu schaffen; es ist
aber auch für ihr Verständnis nicht das geringste gewonnen,
wenn man sie als TCQOöcoTtojtoiCai oder rj&ojtotCaL bezeichnet.
Dies n.Qoyv^vaö^a, — von dem es übrigens sehr zweifel-
haft ist, ob es in der Khetorenschule frühaugusteischer Zeit
schon eingeführt war — umfaßt ja doch alle Reden, die nicht
vom Redner in eigenem Namen gesprochen gedacht sind»
sondern irgendeiner sei es nur generell charakterisierten, sei
es individuell bestimmten Person bei irgendeiner bestimmten
Gelegenheit in den Mund gelegt werden; Theon, unser älte-
ster Zeuge, nennt (Rh. Gr. II 115) als Beispiele 'Abschieds-
worte eines Abreisenden an seine Frau', oder 'Worte des
Datis an den Großkönig nach der Schlacht bei Marathon*
(an Monologe denkt er gar nicht). Einwirkung dieser Übung
auf Ovid könnte höchstens darin gefunden werden, daß dieser
öfter als die früheren Epiker seine Personen ihre Gefühle in
längerer Einzelrede (nicht im Pialog, sondern in Ansprache
oder Monolog) äußern läßt. Aber die Neigung hierzu sehen
"wir doch schon in hellenistischer Poesie und dann in Rom
ganz unabhängig von der Rhetorik (man denke an Catull
64) im Wachsen begriffen. Und sodann: jene Einwirkung
selbst zugegeben, so bliebe die Frage nach der Herkunft der
einzelnen Formen immer noch offen: sie wäre dann nur für
die rhetorischen, statt für die poetischen Trosopopoiien' zu
stellen.^) In dem Falle, der uns hier zunächst angeht, können
i) Wenigstens solange man es nicht für möglich hält, daß lite-
rarische Kunstformen durch elementare Anfängerübungen erzeugt wer-
den. Aber gegen eine solche Annahme verliere ich keine Worte; so
■wenig -wie es mir einfallen kann, gegen die kuriose Annahme zu
streiten, daß der griechische Liebesroman aus den Progymnasmen her-
ausgewachsen sei. In diesem Punkte stimme ich ganz mit Reitzkn-
STEiN Hellenist. Wundererzählungen 169 überein; seine eigenen Ver-
71, 7j OviDS ELEGISCHE Erzählung. 121
wir jedenfalls von der Rhetorik ganz absehen: nicht die
leiseste Spur führt darauf, daß Ovid für seine pathetischen
Entscheidungsmonologe in der Rhetorenschule etwas anderes
hätte lernen können als ganz allgemein die Kunst der Rede,
die Zuspitzung des Gedankens in treffsicheren Worten.^)
Leo zieht eine Linie von den ovidischen Monologen zu Me-
nander. 'Die Monologe der liebenden Frauen in Ovids Metamor-
phosen stellen diesen von der Komödie ausgegangenen, durch
die hellenistische Poesie gegangenen Liebesmonolog am reich-
mutungen über den Einfluß der Progymnasmen auf die römische Elegie
muß ich freilich auch ablehnen. Ein ngärov 'xptvSos scheint mir dies:
wenn Theon für ein paar Einzelheiten der Lehre von der äiijyr]aig Bei-
spiele aus Menander zitiert, und Cicero als Beispiele für gewisse Er-
zählungagattungen terenzianische narrationes anführt (wie für eine an-
dere ein Stück Eunius), so sieht Reitzenstein darin ausgedrückt, daß
es ein ngayviLvac^un war, 'eine jener kurzen Komödienerzählungen, sei
es in Poesie, sei es in Prosa, nachzubilden': wovon ich weder bei
Theon noch bei Cicero ein Wort gesagt finde. Daraus folgert Reitzen-
sTEiN weiter , daß z. B. Ovid am. I 8, die Rede der Kupplerin, eine
rhetorische itQoaa-jionoda sei, in Anlehnung an Menander (Plaut, most.
I 3). Nun ist aber weder die nQoaaTtonoda eine Erzählung, noch sehe
ich ein, warum wir des Umwegs über die Prosa bedürfen, um Ovid
(oder seinen elegischen Vorgänger) an Menander anzuknüpfen: zumal
da eben von jener angeblichen Übung der Rhetorenschule nichts über-
liefert ist. Gleich schwere Bedenken habe ich gegen die bei Reitzeh-
9TETN folgende Behandlung tibuUischer und properzischer Gedichte;
doch brauche ich darauf hier nicht einzugehen.
i) Bhück meint freilich (p. 75) für Ovids Lehrmeister Porcius
Latro eine Neigung zu solchen Schilderungen bezeugt zu finden: Sen.
contr. VII I, 20 Latro illum introduxit colorem rectum in narratione,
quo per totam actionem usus est: non potui occidere. et cum descrip-
sisset ingenti spiritu titubantem et tnter cogitationem fratris occidendi
c(mcidentem , äixit: noverca, aliud quaere in privignum tuum crimen;
hie parricidium non potest facere. Man braucht nur zu lesen, was Se-
neca aus dieser Deklamation des Latro vorher 17 zitiert: volui fra-
trem occidere, non potui. ohortae sunt subito tenebrae, diriguit animus,
sublapsum est intercepto spiritu corpus, non possum fratrem occidere —
um zu sehen, daß hier einfach das Versagen der Nerven, kein Seelen-
kampf geschildert war: an einen Monolog vollends ist gar nicht zu
denken.
122 KiCHAiiD Heinze: [71,7
liebsten und deutlichsten vor Augen, wie er einerseits in dem
Streit von Vernunft und Leidenschaft sein altes dramatisches
Element wieder aufgenommen, andererseits gerade die Behand-
lung dieses pathetischen Stoffes durch die rhetorische Technik
schematisiert, durch die rhetorische Praxis gesteigert und
amplifiziert hat'.*) Ich glaube, hier ist die literarhistorische
Bedeutung der Komödienmonologe überschätzt. Einerseits
habe ich Bedenken dagegen, aus ihnen den Monolog der er-
zählenden Elegie abzuleiten. Der Komödiennxonolog bewegt
sich in weitaus der Mehrzahl der Fälle unterhalb der Sphäre
des Affekts; er vermeidet diesen nicht, aber er kennt, von
ganz wenigen für sich stehenden Fällen abgesehen, nicht das
liebevolle Verweilen, das Sichvertiefen in die Darstellung des
Affekts um seiner selbst willen. Der Komödienmonolog hat
aber andererseits auch mit den ovidischen Monologen, die
uns beschäftigen, keine andere Ähnlichkeit, als die vergleichs-
weis geringfügige, rein technische, daß es sich in beiden
Fällen um wirkliche Selbstgespräche handelt, bei denen keine
andere Person neben der redenden anwesend ist. Im wesent-
lichen aber, nämlich in der seelischen Haltung und dem po-
etischen Gehalt, sind beide voneinander so verschieden wie
möglich: der Komiker sucht, auch in den seltenen Fällen,
wo er monologisch nad^r} darstellt, doch keine öv^Ticc&eia zu
erwecken, so wenig er selbst solche empfindet; er, und folge-
richtig auch der Zuschauer, sieht vielmehr dem Affektsaus-
bruch seiner Personen mit einer gewissen ironischen Belusti-
gung zu, oder gar mit einer Art von moralischer Schaden-
freude, wenn etwa der Schelm oder der Schurke in Angst
und Zorn vergeht. Diese Haltung disponiert gar nicht dazu,
in die Geheimnisse der psychischen Entwickelungen und der
Kämpfe einzudringen, die einen bedeutsamen Entschluß her-
beiführen; nicht verfolgt wird das Ziel, die Notwendigkeit
eines solchen Entschlusses dem Hörer aufzuzwingen, indem
i) Der Monolog im Drama (Abb. d. Gott. Ges. d.W. N. F. X, 1908)
ii7fF. Zusammenhang der ovidischen Monologe mit der hellenistischen
Elegie: ebd. 6.
7 1,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 123
ihn der Dicbter in die Seele des mit sich selbst ringenden
hineinversetzt, so daß er vermöge der 6viindd-Eia das be-
greift, vras dem nüchtern erwägenden Verstände unbegreiflich
wäre. In diesem, dem wichtigsten Punkte, haben die ovidi-
«chen Monologe vielmehr ihr einziges Gegenstück in der Tra-
gödie. Es verschlägt gar nichts, daß der Monolog im stren-
gen technischen Sinne der Tragödie, die das Alleinsein einer
Person fast nur vor der TiccQodoi kennt, so gut wie ganz versagt
ist; die Surrogate des Monologs, das affektische Sprechen
ohne Beachtung der Anwesenden, das pathetische Gebet, auch
-die Anrede, bei der der Angeredete nicht eigentlich das Ziel
der Worte ist — all dies steht in Wahrheit mit dem Mono-
log poetisch ganz auf einer Linie. Eine Tragödie vor allem
ist, meine ich, für die Entwicklung des pathetischen Mono-
logs von größter Bedeutung geworden: die Medea des Euri-
pides. Ihre beiden großen Q^Geig v. 364 — 409 und 1019 — 1080
werden in Anwesenheit des Chors, die zweite z. T. auch in
Anwesenheit der Kinder gesprochen; in Wahrheit sind es
Entschluß monologe, von denen der erste die Anwendung des
Oiftzaubers, der zweite den Mord der Kinder herbeiführt;
der erste, wenngleich aus starkem Pathos gesprochen, doch
mehr überlegend, der zweite aber den Kampf der Rachsucht
Tind der Mutterliebe unmittelbar vor Augen stellend. Merk-
"würdifT genug, daß Euripides selbst den hier betretenen Weg
nicht entschlossen weiter verfolgt zu haben scheint: in den
erhaltenen Tragödien findet sich, wenn auch manches Ver-
wandte^), so doch nichts völlig Gleichartiges. In keiner frei-
lich wird auch ein Entschluß gefaßt, der dem Medeas gleich-
stände; die Ermordung der eigenen Kinder — Euripides hat
empfunden, daß ein so Furchtbares der Mutter nicht von an-
deren nahegebracht, daß sie sich nicht von anderen dazu
überreden lassen kann: auf solch widernatürlich frevelhaftes
Tun kann nur ein von wahnwitziger Wut und Rachsucht aus
i) Z. B. die qfißts Ions (369 ff.), in der er zum Entschluß kommt,
das Kästchen zu öffnen (1385 xa/roi xi rcÜ6%(o\ die Abkehr von einem
Entschluß zum anderen).
124 RiciiAiiD Hioinzk: [71, 7
der Bahn geworfenes Gemüt verfallen; und die Ausführung
eines solchen Entschlusses wäre trotz allem, was vorgegangen
ist, nicht glaublich, wenn uns nicht gezeigt würde, wie die
natürlichste Empfindung, die Mutterliebe, sich zwar dagegen
aufbäumt, aber schließlich doch unterliegt. So hat das
Problem, ein einzigartiges Tun begreiflich zu machen, zu der
uns vorliegenden Lösung geführt. Die ovidischen Fälle aber
stehen dem der Modea nahe, auch die ovidischen Heldinnen
ringen mit dem Entschluß zu widernatürlichem Verbrechen:
Incest mit Bruder oder Vater, Verrat an Vater und Vater-
stadt, Hinopferung des erwachsenen Sohnes: das sind Taten,
die nach gleichem Gesetz vorbereitet werden wollen wie die
der Medea des Euripides. Der Entschluß der ovidischen Me-
dea, dem Fremden gegen den Vater zu helfen und mit ihm
Vaterhaus und Heimat zu verlassen, scheint nicht ganz auf
gleicher Linie zu stehen: aber gerade hier hat Ovid zweifel-
los das euripideische Vorbild vor Augen gehabt, ja seine
Leser durch Übernahme einer markanten euripideischen Wen-
dung an jenes Vorbild erinnert.^) Nun wissen wir ja, daß
das Medeaproblem vor anderen den Ovid gereizt hat; seine
Tragödie wird es gewiß nicht versäumt haben, in jener Szene
vor dem letzten Entschluß mit Euripides zu wetteifern: wir
ahnen einen Monolog, der der unmittelbare Vorgänger der
Metamorphosenmonologe gewesen sein kann.^) Es ist sehr
wohl denkbar, daß die nacheuripideische Tragödie dem euri-
pideischen Beispiele bereits gefolgt war und Ovid für die eine
oder die andere seiner monologisierenden Heroinen direkte
Vorbilder hatte; die Erzählung hellenistischer Zeit, die ältere
i) Am Schluß der einleitenden Perikope: aliudque cupido, mens
aliud suadet: video meliora proboque, deteriora sequor^ am Schluß der
euripideischen pjjöj? : xal iiard-ccva (isv ola Sqüv (i^X7.oa xaxa, ^v^iog dh
yiQsLeewv Tcör ifi&v ßovXev(idto)v.
2) Seneca hat sich dies Hauptstück natürlich nicht entgehen
lassen: Med. 893—977. — Verwandten Inhalts ist bei Ovid der nur
skizzierte, nicht vollständig wiedergegebene Moöolog der Deianeira, der
Ovid auch den Gedanken zur Ermordung der Nebenbuhlerin zuschreibt
(IX 143 — 151): auf diesem Höhepunkt des Pathos bricht der Monolog ab.
71,7] OviDS ELEGISCHE ErzÄHLUNG. I25
wie die durch die Römer für uns repräsentierte jüngere,
liefert uns nichts Vergleichbares, und so wenig das bei der
Dürftigkeit unseres Materials einen sicheren Schluß gestattet:
sehr wohl möglich ist es immerhin, daß Ovid auf den Ge-
danken, tragische Monologe in das Epos einzuführen, aus eige-
nem gekommen, nicht durch hellenistische Epiker geführt
worden ist. Die Tragödie Senecas zeigt uns den Typus als
ganz feststehend; wahrscheinlich ist auch hier nicht das Epos
Ovids, sondern die nacheuripideische Tragödie maßgebend ge-
wesen. ^)
5. Den zuletzt besprochenenen Monologen nahe stehen
zwei andere, in denen nicht eigentlich ein seelischer Kampf
vor Augen geführt wird, aber doch eine sozusagen zerrissene
Seelenstimmung, nämlich eine Liebe, die sich ihres eigenen
Widersinns bewußt ist; der Monolog der Iphis, die vor der
Hochzeit mit einem geliebten Mädchen steht (IX 726 — 763),
und des Narcissus, der vor seinem Spiegelbilde zur Einsicht
iommt, daß er sich selbst liebt (III 442 — 473). Das Thema
des Iphismonologs gibt Ovid selbst an (724): Iphis amat, qua
jßosse frui desperat, et äuget hoc ipsuni flammas. Die Verse, in
denen sie sich selbst ermahnt, von ihrer Liebe zu lassen
(745 — 750), rücken diesen Monolog der soeben besprochenen
Gruppe nahe; im übrigen deklamiert Iphis lediglich über
die Widernatürlichkeit (726 — 737) und Hoffnungslosigkeit
(737 — 750) ihrer Liebe, und der Dichter hat wirklich ver-
sucht zu zeigen, wie dies flammas äuget: indem sie sich in
i) Leo bezeichnet S. 90 als nächstes Vorbild für die Monologe
Senecas Ovids Metamorphosen; aber S. 118 sagt er 'wie Ovid von Me-
nander, so kommt in einer durch die Rhetorik gebrochenen Linie
Seneca von Euripides her'; von der Rhetorik habe Seneca 'sowohl die
Vorliebe für monologische Äußerung des Affekts' (was ich für ganz
unbeweisbar halte) 'als die Technik der Ausführung, besonders die zu-
gespitzte Argumentation der Leidenschaft' (was cum grano salis richtig
Bein mag, nur -wissen wir gar nicht, wieviel 'Rhetorisches' schon die
lacrimosa poemata Pupi und andere hochpathetische Tragödien augu-
steischer Zeit {an tragica desaevit et ampullatur in arte? Hör. epp. I 3,
J4) enthielten, an die Seneca unmittelbar angeknüpft haben wird).
126 RiciiAHi) Hkinzk: [71.7
den Widerspruch ihres scheinbaren Glückes mit der Unmög-
lichkeit, dies Glück zu genießen, vertieft (750 — 763) und sich
ausmalt, was ihr boschieden wäre, wenn sie das wäre, wofür
sie sich ausgibt, steigt ihre Leidenschaft; in dem Schlüsse
iam 7nea fid lanthe ncc mihi contingd sollen wir die Ver-
zweiflung hören. Zu einem Entschlüsse kann nach Lage der
Dinge dieser Monolog nicht führen. — Der Monolog des
Narcissus beginnt ganz in der Weise der elegischen Liebes-
klage mit einer Apostrophe der silvae, die er zu Zeugen seines
Leids anruft; aber der Dichter verweilt nicht lyrisch auf der
Klage, sondern führt im Monolog die Handlung episch weiter:
indem Narcissus die Übereinstimmung der Gesten des ver-
meintlichen anderen mit seinen eigenen im einzelnen be-
merkt, wird er sich der Identität inne (iste ego sunt 463) und
damit zugleich der Unerfüllbarkeit seines Wunsches; dabei
fühlt er, wie seine Kräfte bereits von der Sehnsucht verzehrt
werden, wie er der Auflösung nahe ist: die Metamorphose
bereitet sich vor. — Li beiden Fällen hat des Dichters Inter-
esse für die psychische Abnormalität zum Monolog geführt;
die Liebe der Iphis und des Narcissus sind 'Fälle', an sich
wohl vergleichbar denen der Scylla und Byblis, die gleich-
falls im Banne einer naturwidrigen Liebe stehen: aber der
große Unterschied ist der, daß hier der Monolog ein festes
Ziel hat und die Liebe zur Tat treibt, während Iphis und
Narcissus in passiver Gefühlsäußerung verharren. In diesem
Punkte haben beide Monologe unverkennbare Ähnlichkeit mit
dem elegischen Monolog, der Narcissusmouolog auch in der
Art der Einkleidung. Man wird diesen geradezu als einen
Versuch bezeichnen dürfen, den elegischen Monolog durch
Einführung eines Fortschritts der Handlung zu episieren; beim
Iphismonolog ist selbst dieser Versuch unterlassen.
6. Isoliert steht der mit einer Anrufung der Juno ein-
geführte Monolog des dem Tode verfallenen Hercules IX
176 — 204. Hier ist an der Herkunft kein Zweifel: Ovid hat
ein Stück der großen Qf^ßig des Herakles in den Trachinie-
rinnen (1085 — 11 06) in seinen Stil übertragen, im Anfang
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. 127
das Stoßgebet an Zeus um raschen Tod durch die gleiche
an Juno gerichtete haßerfüllte Bitte ersetzt, dann statt des
Bophokleischen Rückblicks auf die a^Aa eine sehr viel voll-
ständigere Liste gegeben und mit der witzigen Pointe ge-
schlossen, daß der Heros, der unmittelbar vor der Erhebung
zum Gotte steht, an der Existenz der Götter zweifelt.
IV (zu S. 100).
Zur Entwicklung der 'subjektiven' Elegie.
Ich halte es für wahrscheinlich, daß in derselben Zeit,
wo das Epyllion die beschriebene Wandlung erfuhr, auch
die subjektive Elegie, an deren dauernde Pflege bei den
Griechen ich glaube, die Wendung zum Übergefühl voUen
und, wie gleichfalls das Epyllion, zur Verkünstelung der
Komposition und Überladung des Inhalts genommen hat, die
uns bei Catull (68) begegnet: die Elegie an Allius wird zu
einer frühhellenistischen in ähnlichem Verhältnis gestanden
haben wie die Hochzeit des Peleus zu einem Epyllion Theo-
krits. Cornelius Gallus ist wahrscheinlich bereits, wie dann
TibuU und Properz, in der Komposition zur älteren Einfach-
heit zurückgekehrt (falls sie nicht auch darin an Jüngere
anknüpfen konnten; denn es ist ja nicht ausgemacht, daß die
Weise von Catull 68 zur allein herrschenden geworden war),
während sie in der pathetisch-sentimentalen Haltung modern
blieben. Wie eine 'subjektive' Elegie kallimacheischer Zeit
ausgesehen haben mag? Etwa wie die 'Locke der Berenike'.
Dieses Gemisch von Enkomion, Klage, Betrachtung und in
Empfindung aufgelöster Erzählung kann als Vorstufe der
Alliuselegie mit ihrem noch bunteren und doch durch eine
Stimmung zusammengehaltenen Inhalt gelten; ich gestehe,
daß mir z. B. die Verse 43 — 50 mit ihrer Verwünschung der
Erfinder des Stahls erst recht wirkungsvoll scheinen, wenn
ich mir vorstelle, daß in ähnlichen Tönen 'subjektive' Elegi-
ker, nicht nur die Personen elegischer Erzählungen, über die
Trennung vom Freund oder von der Geliebten geklagt haben.
128 KicHAui) IIkinze: l7',7
Jacohys vii'ldiskutierter Autsatz 'Zur Entsteliuii»; der römi-
sclien EU'gie' (Uh. M. 60, 1902) hiit das Verdienst, die Vor-
stellun«^ eudjjjüUig als unbegründet erwiesen zu haben, als sei
die römische Elegie ein Abkhitsch von entsprechenden etwa
des Kallimachos und l'hilitas, weil IVoperz diese als seine
Vorbilder nennt; ich gebe ihm auch darin recht, daß es
trotz aller Mühe nicht gelungen ist, für irgendeine tibullische
oder properzische Elegie die Existenz eines griechischen Vor-
bildes etwa in dem Sinne nachzuweisen, wie ein archilochi-
scher lambus das Vorbild für Horaz ep. 10 war. Aber die
These 'die römische Elegie ist erwachsen aus dem erotischen
Epigramm' scheint mir wie Leo^), Rkitzknstkin, Poiilenz
u. a. unhaltbar. So sicher die Römer epigrammatische Motive
in der Elegie übernommen haben (woran auch Leo natürlich
nicht gezweifelt hat), und so gern ich glaube, daß kein Grieche
jemals seine eigene unglückliche Liebe mit einem Nimbus
umgeben hat, wie die Römer es tun, so unabweislich scheint
mir auch für hellenistische Zeit die Existenz einer ausge-
prägten elegischen, von der epigrammatischen trotz vorhan-
dener Übergangsglieder wohl zu scheidenden Form, die den
verschiedensten Gefühlsinhalt, wenn auch vielleicht mit Be-
vorzugung ernster oder gar trauriger Stimmungen, aufnehmen
konnte (wie sie es bei den Römern auch tut), Beileid und
Mitfreude, Totenklage und Festesjubel, Freundschaft und
Liebe — ja auch Haß-, dies scheint sich freilich nur, originell
wie immer, und zwar in einer Art von Opposition gegen die
Liebeselegie, Kallimachos im Ibis erlaubt zu haben. Die
Existenz dieser Form gewährleistet mir, um von anderem zu
i) Leo hat, wieseine Bemerkung Plaut. Forsch.* 144, i besagt, an
seinei Überzeugung von der Existenz einer hellenistischen erotischen
Elegie trotz des Widerspruches von Wilamowitz und Jacoby festge-
halten; seinen Vorsatz, auf die Frage zurückzukommen, hat er leider
nicht mehr ausführen können. Es wäre sehr zu wünschen, daß das,
was er etwa mündlich über seine Gründe geäußert hat, bekannt ge-
geben würde. Durch die neueren Arbeiten, die er a. a. 0. zustimmend
zitiert, bekenne auch ich mich sehr gefördert, wenngleich mir vieles
dort Vorgetragene nicht beweiskräftig erscheint.
71,7] OviDS ELEGISCHE Erzählung. i2g
schweigen, was weitläufiger Ausführung bedürfte, eben Catulls
Alliuselegie: die verkünstelte Form setzt die einfachere vor-
aus, so gut wie wir mit Sicherheit aus CatuU 64 auf die
Existenz einfacher, geradliniger Kleinepen schließen würden,
auch wenn uns nichts davon überliefert wäre. Die 'subjektiv-
erotische' Elegie aber ist keine Gattung für sich (und gar
mit Jacob Y von einem 'Zwang der Gattung' zu reden, der
den TibuU veranlaßt hätte, seine bukolischen Gedichte zu
verderben, ist ein verhängnisvoller Irrtum), so wenig wie
die erotische Ode des Horaz; Tibulls Quis fuit horrendos pri-
mus qui protulit enses würde doch gewiß auch ohne den ero-
tischen (aber nicht subjektiv- erotischen) Schluß nicht nur
für antikes, sondern auch für unser Empfinden, ganz zu
schweigen von der literarischen Terminologie, zur selben
Gattung gehören wie Castra Macer sequitur: tmero quid fid
Amori? Die stofi'liche Einschränkung, die in der sehr starken
Bevorzugung des Erotischen liegt, ist ein Vorgang, der in
die Geschichte nicht der poetischen Formen, sondern des
seelischen Lebens gehört (und hier fi'eilich ein sehr merk-
würdiges und wichtiges Ereignis ist)- Ähnlich wie die Frage,
warum Kallimachos keine Liebeselegien gedichtet hat, eine
psychologische, keine formengeschichtliche Frage ist.
Phil-hiat. Elasge 1919. B<L LXXI. 7.
13»
Stclleuverzoichni^ zu Ovid.
(Nach den Aniangsvereen der Erzählungen. )
arii am. II 21 :
74
561:
'S
III 687:
48,
3
fast. I 263:
35
479:
67
545:
19-
42
II 153:
57.
73-
100
195
43
361.
27
383
26
45y
17
481
17-
39-
685
45
in II:
24
179
37
461
60
545
21
«53
: 53,
2
IV 249
: 13,
I
417
: I und
pas3.
807
: 30
879
: 22
V 297
: 16
451
: 32
495
: 54.
66,
I
inst. V 605
VI 355
797
met. I 162
452
11 401
736
lU 442
IV 171
V341
VI 831
VIT 11:
vni 44:
183
481
738
IX 176
474
726
X 320
611
XI 410
XIV 778
805
XV r,2 2
10<i
58
6S
43
1 1
57-
5«
»25
M
I und
12, 2
II i
114
74
118
12, J
120
116
125
117, 2
122, I
20, I
36
•7- 3'i
•'3
.USd
Cbf^m'eic/it vnm Verfasser
Berichte über die Verhandlmigen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Pliilologiscli-liistoriscli.e Klasse
71. Band. igig. 8. Heft
Bruno Keil
Beiträge zur Geschichte des Areopags
Leipzig
Bei B. G. Teubner
IQ20
k
SU HSISCHK AKVDEMIK DER WISSENS(^11AFTEN
-——=== /r l.ElPZKi
IMMloloiiisch-liistorisclie Klasse.
Von Druckscbriften der Akademie sind separat erschienen:
Klassisclie I'hiloloi^ic:
a) Aus den Abha ndluii<,'en:
E. Bethe, Hektors Abschied. XXVII (1909), 12 M. 1.20
A. Ebert, Tertullians Verhältnis zu Älinucius Felix, nebst einem An-
hang über Connnodian's Carmen apologeticuni. V (1868), 5 . . . „ 1.40
G. Goetz, Der Libor Glossaniu). ]\Iit einem Facsimile. XIII (1891), 2 „ 1.50
Zur Würdigung d. grammatischen Arbeiten Varros. XXVlI(i909), 3 „ i. —
B. Hcinze, Ciceros politische Anfänge. XXVII (1909), 27 ... . „ 2.60
R. Hirzel, l4)'ßag-09 a^'o;lOb^ XX (1900), i „ 3 —
Die Strafe der Steinigung. XXVII (1909), 7 > '-^o
Der Name. Ein Beitrag zu seiner Geschichte im Altertum und
besonders bei den Griechen. XXXVI (1918), 2 ......... . „ 480
F. Hultsch, Scholien zur Sphaerik des Theodosios. Mit 22 Figuren.
X (1887), 5 " '-^o
Die erzählenden Zeitformen beiPolybios. Ein Beitrag zur Syntax
der gemeingriechischen Sprache. I. XIII (1891), i ....... „
II. XIII (1892), 4 1.
III. XIV (1893), I „
Die Elemente der ägyptischen Teilung-srechnung. I. XVII (1895), i „
Die Gewichte des Altertums nach ihrem Zusammenhange dar-
gestellt. XVni (1898), 2 ■ ,
Die ptolemäischen Münz- und Rechnungswerte. XXII (1903), 3 ,■<
J. llberg, DasHippokrates-Glossar des Erotianos und seine ursprüng-
liche Gestalt. XIV (1893), 2 „ i.—
Die Überlieferung der Gynaekologie des Soranos von Ephesos.
Mit 6 Lichtdrucktafeln. XXVIII (1910), 2 „ 5-—
L Lano-e, Der homerische Gebrauch der Partikel si. I. Einleitung
und El mit dem Optativ. VI (1872), 4 „ 2. —
n. fi xav (ti UV) mit dem Optativ und d ohne Verbum finitum.
VI (1873), 5 • "
Die Epheten und der Areopag vor Solon. VII (1874), 2 . . . „
H. Lipsius, Zum Recht von Gortyns. XXVII (1909). n '» ^-^
E. Martini, Textgeschichte der Bibliotheke des Patriarchen Photios
von Konstantinopel. I. Die Handschriften, Ausgaben und Über-
tragungen. Mit 8 Tafeln in Lichtdruck. XXVIII (1911), 6 . . . „ 7.—
R. jM ei st er. Die Mimiamben des Herodas. Herausgegeben und er-
klärt, mit einem Anhange über den Dichter, die Überlieferung und
den Dialekt. XHI (1893), 7. [Vergriffen]
3-50
2.—
1.80
8.—
IG. —
2.40
I. —
I. —
I
ABDRUCK
AUS DEN BEKICHTEN DER PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN KLASSE
DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU
LEIPZIG. BAND LXXI.
SITZUNG VOM 14. NOVEMBER igiQ-
Unsere Kenntnis der Verfassungseiurichtungeu der athe-
nischen Kommunen und ihrer Entwickelung unter römischer
Oberhoheit ist ebenso lückenhaft wie unsicher. Zu den
wenigen gesicherten Tatsachen ans dieser Verfassungsperiode
orehört die Hebungr der staatsrechtlichen Stellung des alten
aristokratischen Rates der Areopagiten. Die Demokratie des
5. Jahrh. v. Chr. hatte ihm alle politischen Kompetenzen ge-
nommen, nur richterliehe und polizeiliche Funktionen be-
lassen; spätestens seit dem Ausgange des 2. Jahrh. v. Chr. tritt
er neben, ja selbst vor die beiden Körperschaften, in welchen
sich die Souveränität der demokratischen Polis einst darstellte.
Bule und Ekklesie. Die veränderte Stellung des Areopags
in dem Staatsorganismus zeigt sich besonders in folgenden
drei Punkten. Einmal erscheint sein Obmann, der x^^u| rr^'
«I 'AotCov Tidyov ßovXfis, neben dem GTQCiTrjybg STti tä Ö7t?M,
der vielleicht schon in vorrömischer Zeit zum eigentlichen
Präsidenten der athenischen Republik aufgerückt war. Zweitens
\
[Die hier veröffentlichte Abhandlung hat sich in den nachgelasseneu
Papieren Bkuxo Kkils gefunden. Der laufende Text kommt so zum
Abdruck, wie ihn Ivku. selbst niedergeschrieben hat; einige kleine Ver-
sehen sind stillschweigend geändert worden. Die Anmerkungen hatte
Keil nur zum kleineren Teil ausgearbeitet; im übrigen mußte ich hier
aus Notizen und fi'üheren Entwürfen das Material sammeln, welches
Ketl in diejenigen Anmerkungen verarbeitet hätte, die er nicht mehr
hat fertigstellen können. Die so entstandenen Anmerkungen sind in
eckige Klammern gesetzt; diese besagen also, daß zwar der Inhalt der
Anmerkungen von Keil stammt, daß sie von ihm aber noch nicht in
die endgültige Form gegossen sind. Keii. hätte sicherlich hier noch
mancherlei hineingearbeitet; ich selbst habe mich jeder sachlichen Er-
gänzung enthalten, um Ki:ils Ansicht ungetrübt hervortreten zu lassen.
RiCHAKU LaQCKL'K.]
Phil.-hi8t. Klaäse 1919. Kd. LXXJ. i. I
2 Bkuno Kkii.: [71, 8
lautet die amtliche Adresse an den athcnisi-lieu Stiiat: t/) f'^
■igsiov rtäyov ßovk]] xul zfj ßovXfi xcd rrJ dtj^co. Kiidli(;li —
und «lies ist das Beweisendste - kann jetzt der Arcopag als
souveräno Körpersehat't allein oder in Ubereinstimninnjj; mit
Rat und Volk auf einem bestimmten Keelits^ebiete Beschlüsse
fassen, die früher diesen i)eiden die Souveränität allein re|)rä-
sentierenden K()rperschat"ten vorbehalten waren. Die amtliche
Hezeichinmg eines solchen Areo))a<^besch]usses gibt Cicero an
bekannter Stelle (ad fam. Xlll i, 5; vgl. ad Att. V 11, 6):
decrotum illud Areopagitarum, quem v:ionv)^iuiti6pi6v illi
vQcant. Der Brief stammt ans dem J. 31 v. Chr.; andere
literarische Zeugnisse für den athenischen Terminus hnoavy]-
uaTLöuo^ fehlen. In den attischen Inschriften erscheint er
erst auf einer Weihung, die nicht in vorflavische Zeit fallen
kann (!(». III 806), und ist mit den einigermaßen 'datierbaren
Belegen (IG. III 903 a; 772 b) bis in die zweite Hälfte
des 2. Jalirh. /ai verfolgen. Das Wort erscheint hier aus-
schließlich in der mehr oder minder variierten Formel xai)"^
v7CO}ivr}uccTi6^iov TTig i^ l^QSiov jiäyov ßovlf^g. Wie diese
kahlen Belege an sich nicht zahlreich sind, .so bieten die
attischen Stenie kein einziges Beispiel eines vjtoavrjfianöuog
in extenso. Erhalten ist aber ein solcher auf einem epidau-
rischen Steine, der auch den letzten Bearbeitern späterer
athenischer Verfassungseinrichtungen entgangen ist, nicht zum
Vorteile der Sache. Denii das einzigartige Dokument, auf
das Ad. Wilhelm jüngst hingewiesen hat und das ich schon
mehrfach verwertet hatte, wirft klärendes Licht auf das Wesen
und die Stellung des von Rom reorganisierten Areopags. Das
soll die folgende Erläuterung der Inschrift zeigen.
Es handelt .sich um den zuerst von Kavvadl4.s, Fouilles
d'Epidaure I 205 — 207 herausgegebenen und von Fr.Xnkel
mit einigen Verbesserungen wiederholten Stein IG. IV
936 — 938. Vom athenischen Staate waren dem als Knaben
gestorbenen T. Statilius Lamprias, dem Sprößling eines über
Athen, Epidauros, Argos, Sparta verbreiteten, im i. Jahrb. v.
Chr. blühenden Adelsgeschlechies, drei Statuen — auf der Akro-
71,8] Beiträge ZUR Geschichtk DES AuEOPAG.s. 3
polis, iu Eleusis und im Asklepiosbezirk in Epidauros —
gesetzt worden. Zu dem epidaurisclien Exemplar gehörte der
Stein als Basis. Er trägt drei Inschriften^), die sich auf
diese Ehrung beziehen. Erstens die eigentliche Unterschrift
für das Standbild, die als solche auch durch die weit gesperrten
Schriftzeichen charakterisiert ist. Dieselbe Unterschrift tragen
einst die beiden athenischen Exemplare. Ich setze die Zeilen
her (n. 936) :
{] l^ 'AqeLov Ttdyov ßovXt) xcd >") ßov-
A») ribv e^axoöLUJV xal ö djjuo[g]
Titov EzaTsiXiov EraxuXiov
viov TeLuoy.QÜxovg yla^iZQiav
darunter in engerer Schriftgebung der vjcofivriucitLöfiog des
Areopags (n. 937) — als solcher in dem Schriftstück selbst
(Z. 12) bezeichnet — und endlich das ipi^cpKj^a der Bule und
Ekklesie (n. 938), durch welche die Ehrung des Verstorbenen
bestimmt worden war. Die beiden Aktenstücke sind durch
die Jahresdatierung (937, i; 938,0 -^^' Uszovvdov cigyovTog
xcd isQsojg ^qovöov vTidrov nach Kavvadias' einleuchtender
Begründung auf die Zeit 66 — 68 n. Chr. datiert. In vor-
hadrianeische Zeit weist ja ohne weiteres die ßovh) töv
i^axoöiojv.
Das Psephisma, mit welchem sich der vnoiivri^atLöaög
seinem Zwecke nach völlig deckt, gehört zu der Klasse jener
rhetorischen Beileidsadressen, die nach verbreiteter spät helle-
nistischer Sitte seitens griechischer Gemeinden an die Hinter-
i) Im ganzen vier Inschriften, denn die Basis stammt aus dem
Ende des 4. Jabrh. v. Chr. und trägt auf der ursprünglichen Vorderseite
die alte Weihung IG. IV iioo; bei seiner zweiten Verwendung haben
n- 936. 937 auf der alten Rückseite und 938 auf der linken Querseite Platz
gefunden. P'benso ist für die weiter unten erwähnten spartanischen
Inschriften (n. 939. 940) eine ältere Basis verwendet worden, deren ur-
spüngliche Inschrift (n. iioi) dem Schriftcharakter nach in die Zeit
um 300 V. Chr. gehört.
I*
4 liiuNo Kkm.: [7>. 8
bliebenen vou Veistorbenen vornchint'r Kftmilicu «jjerichtet
wurden. Im vorliocroiideu Falle ergeht der Boileidsausdruck
Athens an die Eltern und den Großvater des Laniprias, die in
E{>idauro3 lebten. Eine gleichartige Adresse hat aucli Sparta
an die Eltern nach Epidauros gerichtet, zugleich der
Schwester des Laniprias, Pasicliareia, nebst ihrem Manne
Pratolaos, sowie dem Onkel Aristokrates, die ihren Wohnsitz
in Sparta iiatteu"), persönlich (xaro: 7tq6(Sco:tov) durch eine
f)e})utation das Beleid der Gemeinde ausdrücken lassen und
weiterhin Athen noch insofern überboten, als es dem jungen
Manne vier Staudbilder verschiedener Art, je zwei in Sparta
und Epidauros, errichtete. Hierüber unterrichtet die Basis,
welche zu der im epidaurischen Ilieron aufgestellten Statue
gehörte, und die wie der athenische Stein außer der Unter-
schrift aucli das die Beileidsadresse enthaltende Psephisnia
trägt (Kavvaüias a. a. 0. 208. 209; IG. IV 939. 940). Auch
im Tenor ihrer Adresse haben die Spartaner die athenische
in Schwulst und Übertreibung merklich überboten, so daß
hier der Typus dieser :iaQa^vQ^rjrixoc noch schärfer heraus-
kommt. Man darf von ihm aus auf die Fassung des Be-
schlusses vou Epidauros zurückschließen: denn für die Wohn-
sitzgemeinde der Eltern sind entsprechende Maßnahmen —
wohl auch für Argos^) — ohne weiteres vorauszusetzen,
auch wenn kein Stein darüber berichtet, und neben dem
Mezzoforte und Forte Athens und Spartas wird hier das
Fortissimo erklungen sein.
K. BuRESCH hat diese Urkunden unter dem Titel „Grie-
chische Trostbeschlüsse" im Rhein. Mus. 1894 IL 424 ff. einer
Besprechung unterzogen, die dem fruchtbaren Thema leider
schon damals in vielfacher Hinsicht nicht gerecht wurde.
Besonderes Unglück hat er mit der Besprechung unserer
2) Den Stammbaum darin habe ich im Zusammenhange mit den
athenischen Steinen GGN. 19 12, 18 f. erläutert.
3) Der arcrivische Zweig der Familie begegnet in TG. IV 590, einer
Ehreninschrift für T. 2^TaTiXiov ylaunQinv vov TtfiaKgärr] Msfifiicevov,
IIsQO^og y.ai ^lOGy.ovotov &nöyovov.
71, 8J ~ Beiträge zur Geschichte des Areopags. 5
athenischeD Dokumente gehabt. Er bemerkt (S. 453 f-) über
das Verhältnis des vTcouvrj^uTiöuöi^ (n. 937) zum 4'i](pi6(itt
(938): 'nicht nur den förmlichen Volksbeschluß der Athener
teilt . . die epidaurische Basis mit, sondern auch den Vor-
beschluß des Areopags . . . v7Convi]^iaTL6u6g genannt. . .
den später zürn Volksbeschluß erhobenen Antrag betreffs des
verstorbenenen Lamprias offenbar im ersten ganz flüchtigen,
schlecht und völlig uulapidar stilisierten Entwurf. Also der
v:toavi]naxi6^6g ein Vorbeschluß für das ijjriCpiGua. BuRESCH
hat einfach die Präskripte nicht gelesen. Auf die Jahres-
angaben folgen in beiden Dokumenten die Tagesdaten; da-
nach hat der Areopag getagt ^r]vbg BoridQouLon'og :cB^i7iTr]
«.Ttdi^TO^ d. h. am 26. Boedromion, die Volksversammlung
f'jrt rfig 'E^sx^^t'dog x^Ctr^g TCQVTavsCag^ f] llQX'cXuog AvGi-
udxov MaQCcd^cyviog efgau^idtevei' " BotjdQOuiojvog öydor^ ecrl
Ötxa, öydöri xal ÖExaTtj T>Jg TtQvravsCag d. h. am 18. Boedro-
mion, volle acht Tage vor dem Areopag. Mithin kehrt sich
die Sache geradezu um: das ipijcpiö^iK ist eher ein Vor-
beschluß, der vTto^vr^aarLG^iog der endgültige Beschluß. Das-
selbe lehrt das Q-egeuseitige Verhältnis der drei Aktenstücke.
Ich will für die weitere Untersuchung hier gleich den Text
der beiden Beschlüsse nebeneinander stellen.*)
Areopag: a^j^ aar>]?.Xux6rog Ekklesie: a)*^ £;r£tdj) öv^ße-
tv 'EnidavQOi vsavCov öiaör^^o- ß)\yitv AauTiQiuv Tsi^ozQdrovg
TfiTOi^l, Bvysvdai iit%Qr^ubvov ev ^E^iiöavQCii nQO togag xelsv-
iTil ccTcäoijg rr,s 'EXXäöog ri^öat, V£a\viav y.ööULOv xal
öu)(f(iova xal 7iic6)^i ccQSxiji ev
TTjt 7CQ(oz)ii ■r]liy.Cai'-') xov ßCov
xcix' d^iuv I x7]g xCov TtQoyovav
(3ü^7jS x£y.o6fir,n£vov
4) So kanu auch die fortlaiU'ende Gesamtdar.-5telluug von deu Einzel-
benierkungen beireit werden, deren mehrere Stellen der Texte zu ihrer
Erläuterung bedürfen.
5) Die Worte iv rij nQwty r,Xty.ioi sind au dieser Stelle eigentlich
unverständlich; in richtigem Zusammenhange stehen sie in der Areo-
pagurkunde {a.^), identisch mit noö o>oag der vorhergehenden Zeile.
6 Bri'no Kkii,: [?'. 8
b) ano TS Tb)V nag' 1)1111' hi- h) fxtyfVflcu xf xi]Ll4di]vyi(!iv
(pttVfÖTCTCi}!' CCl'fdQOiV CC7C0 tCoV \ CtQlu{MV Xul JTpo)-
TOii' ch'diiäv'^), legeojv xaJ
TToXecoa ^Yi-ov xal\^^ 'uoorpccvri-
yVljdLOV^) VTTciQXOVTCi^
Einen Sinn kann man liineinzwängen, wenn mau vor ihnen den Aus-
full eines steijjformlen ijArj oder eines hescliränkendon iiaor annimmt.
Has letztere würde dem panegyrischen Ton des l'^ephisnui aber nicht
entsprechen. Ich bin vielmehr geneigt, darin eine Korrektur zu Trpo
mgccg zu sehen, die der Steinmetz an falscher Stelle einsetzte; den
gleichen Vorgang habe ich bei Pkkiskskb, Sammelbuch griech. Urkunden
aus Aeg. n. 286 aufgewiesen.
6) Fkänkei. bemerkte zu Kp;jaici)i': viroruni ex antiquis gen-
tibus ortorum, das heißt die Worte völlig verkennen. Die Worte
iBQBcav xßi IsQsiäiv — &10V sind die erklärende Apposition dazu, wie das
Asyndeton und das danach neu einsetzende Kolon y.al — vnäQxovtcc be-
weisen. Die 'iBQSua sind die der ^J^^7]) ■« Uolidg, deren Priestcrtum be-
kanntlich im Geschlecht der Eteobutadeu erblich war (z. B. Töi-kek,
Att. Genealogie S. 127 ff.). Wie gleich darauf mit den oixot isQocpuvzLnol
"Kol Sa8ov%iv.oi die Herkunft von den Evtiof-itiSca und Kr'jQ^'Ksg — in
der spartanischen Inschrift (940, 4) daher ano utv twv !-id'rivwv (?)
TÖ ivSo^ötuTov KiiovKcov yivog, cqp' 01» Suäovxovaiv 01 bv^svioraroi. — be-
zeichnet wird, so hier die von den 'EvfoßovTädui. Stutzig macht nur
einen Augenblick das nackte hgicov; denn das Priestertum des Poseidon
war im Eteobutadengeschlecht. erblich. Entweder ist also rov Iloaei-
öcbvog ausgefallen oder mit Absicht ausgelassen, weil hier die Betonung
nicht nur auf der Bezeichnung der eponymen Göttin der Stadt liegen,
sondern nuch ein Gegensatz zu Eleusia herauskommen sollte. Die
Statuen der Athenapriesterinneu hatten ihren Platz auf der Akropolia,
die der Daduchen und Hierophanten in Eleusis: auf der Burg und in
Eleusis soll ja ein Staudbild des jungen Lamprias aufgestellt werden.
Sind mit jenen Worten zweifellos die Eteobutaden bezeichnet, so wird
der Stammbaum hier auf Erechtheas, den Sohn der Ge ([Plut] v. x. or.
843), zurückgeführt, somit auf die Autochthonie der Athener hingedeutet:
das bedeutet uQ%ciiwv xorl TtQcoTojv avÖQcbv. Die Bestätigung enthält
die spartanische Inschrift, nach welcher die epidaurische Linie des
Geschlechtes sich auf Inachos zurückführte.
7) Dies Adjektiv scheint sonst nicht belegt. Der Verfasser hatte
eben mit ütio rön> Ko-^cdmv xrZ. die übliche Ausdrucksweise ver-
71,8] Beitiügk zur Geschichte des Areopags. 7
c) xal a:tb räv evdo^ordrcjv c) ov ^6vov dh rfiL'^d-ijvrjßiv \
iv xriL 'Ellddi nökecov svysvsCai^) xal la^jiQÖrrjri xa-
xo6ui}nii>ov^ dkXä xal iv rartf
ivöoh,oxdraig xccl evyEveörcc- \
raig rijg 'EkXudog nöXeöi^
Aay.eöatfiovc xal "A^yai xal
xfi IsQca 'ETiiöttVQCp^ ovdai'bg
otxov öav\taQov yavoiistfov,
l'raucht; so vermied er sie jetzt: ruv anb SkSovxcov IG. III 137. Dittkn-
BEKGKH, Syll.* 872 lind IG. III 915 t) ano 6abov%(ov xar/ ysvovg anii
Il£Qiy,Xsovg xcä Kövavog xarä 3i Maxsdövfg (so) ccno 'Alf^dvSgov, was
ich als Parallele zu der Leitung des epartanischen Zweiges der Lamprias
über Lysandros anführe (GGN. a. a. 0.).
8) Fhankel bemerkt: necessario significat eognatum und notiert,
daß ein so frühes Vorkommen dieser byzantinischen Bedeutung des
Wortes bisher nicht bekannt war. Aber der Stammbaum soll ja den
Lamprias nicht als eognatum, sondern als echten Sproß dieser Adels-
geschlechter erweisen. Es ist eben ^■nyovov zu ergänzen, und daß
/VT^cio? ßo ohne Bxyovov gebraucht werden konnte, dafür genügt es
auf Demosth. IX 30 zu verweisen: öacc niv vno AaxEÖccniovlav 1] vcp'
Tj^öjv inaaxov oi " EXXr]vsg, aXX ovv vno yvrialcov yovroiv r^g 'ElXddog
TjdiKOVVTO.
9) Das Psephisma ist von einem rhetorisch ungewöhnlich schleclit
geschulten Manne stilisiert, der nicht der Antragsteller Timosthenea
selbst gewesen zu sein braucht. In den vier Z. 8 — 11 hintereinander
svysvsiK — svysvfiK — nvyBvsGTdtaig ebenso 7 — 11 Koauiov — x£xo-
6\imLkvov — xExoöf^rJf^e'^'o^^ Dabei steht das erste dieser Partizipia
UTto yioivov zu dem weit vorhergehenden Ttdaij ägstfi und zu dem un-
mittelbar folgenden eiysvtia; das würde in aristotelischer Diktion oder
auch iu der Sprache der Nomoi nicht eben auffallen, aber hier, in
rhetorischer Satzgliederung beleidigt es deshalb jedes stilistisch ge-
geschulte Ohr, weil xExoffftTj^trov so scharf als Abschluß des Kolons
gestellt ist, daß man am Schlüsse des folgenden Kolons ein entsprechendes
Keagens für die Substantive erwartet, wie tsriitriiisvov oder besser noch
üianQiTtovxu, mit dem ganz rhetorisch im nächsten Kolon xc<J — vTtdg-
Xovxa korrespondieren würde; statt dessen verläuft das mit cvytviioc
einsetzende Glied im Sande. Man sage nicht, der Verfasser habe die
Sätze eben nicht rhetorisch halten wollen; das widerlegen schon die
folgenden reimenden Partizipia xtxoaiirjiisvov — yevoiisvov — TtriftTj-
(livov, widerlegen auch stilistischen Künsteleien. So ist evysvsia kocI
8 Hurso Kkii,: [7', K
duiuovog 1^ ((710 aeyi'(ST(oi'
tÄnidcov f'r rf;/ 7TQ(ÖT)]1 tov ßioi'
))kixiai
(1) (fehlt.) (DtCQÖc Tt TOVTOl^TfTfliniflE-
l'OV T))t iityCöxr^i xal TraQoc
XaiiTTQOTtjt ein ?«■ diu dvotv, denn es «toht für ytrort; XufiTTfiÖTrjrt,
wie Hn rKNiiKuaKK, Syll. ' 809, 20 zoi^'cn kann. Audi die Verl)in-
duuLT TOD ^vytvt6TäTalg mit Trdifff« beweißt rhetoriecbe Aspiration;
«leno 80 redet Nero in seinem Erlaß (DiTTKNnKiioi;i!, Syll. '' 814, 1) an
die Hellenen : Ti}v siyevsatÜTip' 'KXXüda, und dies Schriftstück stammt,
wie sich von selbst versteht und jeder Satz boweist, aus hober rheto-
rischer Werkstatt. Jicovo\iur,aivos 14 ci<:fnet seit Isokrates dem litera-
risichen. nicht dem Urkundenstil. Kar &^iuv riyg — «^ö^'/S füi' '•^'•^^ gewöhn-
liche ali'wg ist ebenfalls prcziös. Indem der Verfasser das terminolofjische
i7rwvv\Log zu vermeiden sucht, greift er zu dem mißverständlichen — bisher
übrigens nur hier sich findenden — TTQooöivi'iiog. Vollends aufs Glatteis
gerät er, wo er die aus Herodoi I 23 den Späteren bekannte und bei ihnen
nicht unbeliebte Wendung ovöevog divregog anbringen will. Gesagt
sollte da werden: er stammte aus einer Familie, die in Argos usw.
hinter keiner zurückstand. Das hätte ergeben: o/'vior oidsvog {oi'xov)
dfvtigov ysvo^tvov. Die Doppelfunktionen der Genetive, des Genetivs
der Provenienz und des komparativischen Genetivs, verwirrte ihn; so
gab er ovdsvog oI'-kov öevtsqov ytvo^evov, womit dann der Gedanke
sauv. schief herauskam: er stand hinter keiner Familie zurück. Und
doch hätte er sich so einfach helfen können: ovösvog oi'y.o&ev ÖBvxtQov
ytvimtvov. Der Stein hat nur O 7 JvO/ erhalten; ich habe mich gefragt,
ob man danach ot'xoi lesen, und unter Annahme einer Vertauschung der
Ortevorstellung, wie sie ja im Griechischen häufig ist, oiy,oQ^tv verstehen
solle. Allein diese Vertauschung wäre doch zu grob, um nicht unwahr-
scheinlicher als die Annahme des Unvermögens des Verfassers zu .sein.
Hingewiesen sei noch auf das grundprosaische und auch logisch schiefe
TTiV dvruTiji' Tiifirjv 23 im Sinne von 'die allein noch für Verstorbene
mögliche Ehrung'; vielleicht soll rotg ret^Xtvtriiiöai, das ja von nuQi-xo-
uivT) abhängt, auch dazu gezogen werden. Stilistisch unsauber ist die
notwendige Ergänzung von ccvSQiävrsg in dem Relativsatz ov — &v-
d-AiiVTca 14 f. aus ävögiccvra. Anderes in den folgenden Anmerkungen.
Doch den in schriftlich schon verhältnismäßig früh auftretenden Dual
raiv &salv (Meisteruaxs-Schwyzkk * 123, 1 13) darf man nicht anrechnen;
ihn hat auch ein Purist wie Aristides (XXII § 4 K.); diese Form war
damals sakral.
71,8] BBiTRÄ<iK ZUR Geschichte des Areopags. 9
TiäöLV liVxfQaxoiQ duovofia-
G^idvr} 'Pcoualav TCoXiteCui '
g) iXißd^CU uhv KlQfÖlV Tt)v
xoQev&i]\'oo^£vy]v y.ai Ttccgccf-ix)-
9ri6ousvr,v ror? rt yovstg avxov
AOcl TOV TfliTCnOV
e) (\v(i{)nv(a ^ 81 y.ul av- e) deÖöx^ai rf]i ßoidfit xca
ÖQKivrccs avTov sv rT/t ^") äxQo- tcol drj^ai. dvad-ell^^vai- avtov
:töX6i xui ev ry fi' 'EXevölI- ävÖQiavra ev äxQOTCÖkti xcd sv
VI civXfiL^^) TcaQii rolg \^ :iQO- 'EXsvöstvt, iv Tf,c isgca avXfii
yövoig xal iv 'ETiLÖavQcoi ri]i raiv d^saiv, ov xal \ tüv tcqo-
iSQäi iv xäi xeuivti rov \46- yövcov avrov äväxsivxai., xal
xXrjTVtov xr^v eniyQacpijV |^° iv 'ETnöavgcoi xfji UQdi sv xon
f'XOVTicg • rsusvsL TOü ^AGxXipLOv I xriv
STtiyQacpijV iiovrag '
f) 'H sl 'Jqbi'ov :iäyov ßovXi] iYH ßovXr} ij il 'JqsCov ndyov
xal i] ßovXi) xibv ei,(ixo6tG)v^^ ) xal i) ßovX)) xcöv itaxoeCcov xal
xcd odriiios Tixov Zxa\^^X£iXiov 6 ö>"JiUoj 1 Ttxov ZxaxsUiov
ZxuxsiXiov xnöv TsipoxQaxovg TCxovHxaxsLXCovTti^oxQKXovg
Auu.7CQLav r,Qm:\ vibv AccuzQiav uQSxijg evsxsv.
g) oben vor e). g) iXiö^ca \ 8e xal TCQSößsCav
xijv ÖLuxo^iovöuv fig 'E%idav-
Qov xöSe xo xl'tjcpiö^cc^ i^xig xal
:raQuuv\^^&)](}£xaL anb xov
xfig ütöXecog övo^uxog^^) xovg
10) Der Artikel in dieser Formel ist jünger, wenn auch sclioii seit
355 tlG II - 133, 17 = * 69) belegt. Das Psepbisma ebenso wie das
srleicbartige, etwas spiiter fallende IG. 11 - 1072 = 111 ' 2 wahrt also
hier die alte Tradition.
11) Die Ortsbezeichnung ungenauer als im Psephisma; man er-
wartet iv (rw) 'EXtvaivia, weil 'iBQa bei avlrj hier fehlt. Übrigens ein
guter Beleg dafür, wie überflüssig Korais" Änderung ^Eksvoirim bei
[Flut.] V. X. or. 838 iv 'EXsvalvi. sUmv . . . iiiitQ06&ei> tov Ttgoataov ist.
12) Frä.nkkl in der Umschrift versehentlich k'^uxtaxdiav.
13) Ein starker Hellenismus; Diod. XVIII 57, 3 ygccipag inLoroXriv
i-A TOV twr ßaadtav ovö^atog; 60, 6 (Steph. Thes.). Vgl. aus l'apyri:
TtciQtßyov äno Xöyov ÖTquociov = vnsQ örmoGiov (Klhkinu, De praepos.
lO
Uruno Kkm,: [7^,^
yovtii: avrov TfiuoxQnTtp' xa!
Ttiuood^fi'iiice j x«) TOI' :t(i:i7roi'
AciiLTcgiiiV
h) (fehlt.) \i) iV« Tovrcov :TQUTTo^ievoj}>
(p(n'vi]Tui (pai'fQa^^) jiüaiv rj
atjdev) xKiQiö IvXiiTCovaa nQO(i
Graec. in cbartis Aegypt. neu, Bonn 1900, p. 29), wie liier ano — öi-d-
\iiXTog = VTCSQ r;"/s nölnai. Die Umsehreibung mit ufOftu stammt aus
dem Geschäftsverkehr; Beispiele bei ruEisuiKK, Giroweseu im <^riech.
Ägypten, Index 11. d. W.
14) VerballhoniuDg einer typischen Formel, die auch den athenischen
Psephisnion der Kaiserzeit nicht fremd war: IG. II * 1072 (oben Anm. lo)
c:va6ra9f]tcu iv &XQon6Xsi, aQStfjg tvtxa, o^rwgai' toÜtwi' TtQc:rro(iBVO} v
■f] T^s noXstog q)iXc(v9QC07citt TOig xa-Xotg y.uyad'oig r&v &vdQÖi>i' (^derselbe
Genetiv wie oben» vnägyovai cfccvFQU Tcäni ytivqrui. Der Verfasser
konnte hiernach schreiben: Iva - ;ivr\Ti:i (pavega näsiv ii Md-rivaiav
yvioiiT] tXXfiitovöu xtX. oder mit den rarallelformen Tva (puivrirai 17 r. 'A.
yvcüfii], nicht aber durfte er beide Formeln vermischen. Er tat es, weil
er die yrco^tj selbst verherrlichen, sie selbst als eine qparspa hinstellen
wollte, wie es Iv. Priene 114, 7 ^furf^üv (^h •/.«/ i-v rtd-i-lg tliv nro/.ii' ge-
schieht. Dadurch wurde nun nicht bloß der Ausdruck — cpaveQCi
tpaivriTai, nebeneinander — verdorben, sondern auch der (iedanke. Denn
wie in den vielen Parallelen sollte natürlich, was die Partizipia iii]di:v
iXXsiTtovea — (tt]6E ansXovßa . — naQf:Xo\iivi] besagen, von der noXig
ausgesagt werden: l'vt: 1) JioXtg (fuvBQCc yivijict — illtiTiovcu . Indem
nun die -/rcburj vorgeschoben wird, gebt alles auf diese; da hätte er
sich doch leicht mit der gleichfalls typischen Formel i'vcc 17 yvwfir] (pu-
vBQo. ylvrtTCii, ort j'j TFoXig — na^tx^tca helfen können. So geben ihm
also zunächst zwei Gedanken- und Stilwendungen durcheinander: ivu
i] TtoXig (puvsga 7. — nuQ'cXOnivr] und iva. rfig nÖKsüig tj -/Wj/at] qpßi-.
yivrjc:i ort k&rivaioi 7tuQf'/,ov%ci \ mit ihnen die Verselbständigung der
yvio^i] in Einklang zu bringen, war er nicht imstande, obwohl doch
eine Verbindung wie ivc< i] kür^vcätov yrrnfir] ^■x(pavi\g yivr\Tc».i v.cd (fci-
vr]tai Tj nöXig — Ttaosxontvtt nicht gar fern lag. Die Armseligkeit seines
Wortschatzes (Anm. 9} und sein stilistisches Unvermögen wiesen ihn
eben auf die Formeln an; an sie klammerte er sich in seiner Hilf-
losigkeit so ängstlich, daß er selbst den Ausdruck von Gedanken, die
in ihnen nicht vorgeprägt waren, ans ihnen zu bestreiten versuchte.
71» 8] Beiträge zur Geschichte des Akeopags. ii
iv riji 'Ek\lddt, ccvÖQäv firjö'
iv tutg tOLavtttLg üviKpogais
a^eXovda, ccl}.ä ttjv re dvvcctr}v
^£^,a^)v | rolg rstaXsvrtjXüöi xal
:tccQcc}ivd^Cav rotg ^ojdi y.a\ r)ri'-
XrixÖ6L TcaQsyonsv}].
i) xov dl y.rJQvxa JvöLadiiv^^) i) (fehlt.)
ygcil^'xijca ti}i 'Emdavoicov tto-
Xsi xal dia:tty,tpcc6&ai. rbv vtco-
Ör}u.oGCai örfQaysldi.
k) xccT6örd&t] a'iQeaig Tai- k) j'" jrotößsig eigs^rjöai'
pL06d^svrjs Kakki6To^d\^^yov Tsi^oöd^ivrjg KaVu6tofi«xov
^yivacpXvötiog, KaXXvdTÖ^Kxog Avacplvönog^ Kukkiöxouaypg
K(i?J.t6Tou<xxov 'JvacplvöTtog. K(xkXiöto\[.i,dxov 'Ava(pXv6riog.
N^GxroQ Jiooa&svovg 0).vsvg.
Ohne weiteres springt in die Augen, daß die Weih-
inschrift (o. S. 3) nicht nach der Fassung, die im Psephisma
vorliegt, ausgeführt wurde, sondern nach dem Areopagbeschluß
(/"); sie bietet mit diesem 17 f| Aq. tt. ßovXi) gegen i] ßovXij 1)
s^ Aq. :i., läßt mit ihm das Pränomeii des Vaters T/tov aus
15) FkXnkkl in der Uiusclirift AvÖiäöriv (und dabor leider im
Index nominum), obwohl sein Majuskeltext, wie auch Kavvadias gibt,
das zweifellos richtige AveiäSriv bietet. Jener fehlt der attischen
Namengebung ganz, er scheint überhaupt ausschließlich in Megalopolis
heimisch (IG. V 2 Index); Av6iäSr}g dagegen ist mindestens seit dem
5. Jahrb. vielfach aus Athen belegt (KiRcnNER, Pros. Att. 9333 — 9348, vgl.
9332a; SuNDWALL, Nachtrüge /.. Pros. Att. S. i2of.), seit dem i. Jahrb.
bis in das 2. Jahrb. n. Chr. hinein gerade aus den vornehmsten Familien.
Zu Ciceros Zeit ist ein Aveiädrts Areopagit (Cic. Phil. V 13. Pros. Att.
9337, dazu SuNDWAi-L a. a. 0.); er kann sehr wohl zu der seit der
frühen Kaiserzeit blühenden Daduchenfamilie der Ti. Claudii aus Melite
gehören, deren Stemma Dittenbekg er zu IG. III 676 aufgestellt hat
Die zeitlichen Verhältnisse würden gestatten, in Ti. Claudius Lysiades I
den Keryx unserer Inschrift zu suchen. KfiQv^ r. f| A. ß. [A]v6idd[rii
IG. III 1012 ist dagegen sicher um zwei Generationen jünger, beweist
aber doch die Vornehmheit des Namens.
12 Hiu:n<» Kkil: [71, 8
uud stellt sii-h vor allem zu ilim dureh »las Srlilubwort i',(jcoc(,
wofür (las l'sephisnia ü^tTt]^ n'fxfv bietet; das hat auch
HüKKSCii (S. 455, i) heuu'rkt, «»iiiie stutzig zu werden;
FkäNKKL suchte über die Schwierii^keit mit der Anuahine
hinwPü;zugleiteii, daU der epidaurische Steinmetz die gewcihn-
liche Formel ageTt]^ {'rtxfv für das seltene j^pw« eingesetzt
habe; als oh »iQcnu etwas Seltenes in liasenaufschriften fiir
Verstorbene wäre. Beiden hat die unbedachte N^eniaclilässigung
lies Taszesdatums die einfache Erkenntnis verschlossen, daß
der AreopagbeschluB, nicht das Psej)hisnia in diesem I 'unkte
zur Ausführung gekommen ist. Die Autorität des Areopags
steht eben über der der beiden demokratischen Kc'irperschaften.
Die Antwort auf die sich geradezu aufdrängende Frage,
warum der Areopag die Schlußformel des Psephisma ver-
schmähte, ist leicht gegeben. Der Knabe starb ^qo cooui;, tv
Tf} rrpwTj/ TOI' ßioT' rilixCa, das bedeutet, da er die civitas
Romana besaß (d), vor Anlegung der toga virilis; die An-
leoruuüT fand in der Kaiserzeit durchschnittlich im 15. ])i8
16. Jahre statt.^^) Dieses Alter hatte also der junge Lamprias
nicht erreicht. AVenn einen solchen Knaben das Psephisma
:r«ff/j c.Qtxi] . . '/.uz ai^Cuv ri]g xCov :iQoy6viov Öd^7/g -Atzo-
öyLr^iüvov in) nennt, so ist das eine unerträgliche Übertreibung;
diese hat der Areopag nicht mitmachen wollen und statt ihrer
die für einen hoffnungsvollen Knaben angemessenere Wendung
ifQ'xaöatvov . . a-xh ^eyiötoyv sknCöcov (a^) gebraucht. Die Wen-
dung ist sicher stereotyp gewesen (Ttaldcc tÄTCidoiv ayad-Cjv
(iVTS/6ii£vov, I. Pont. Eux. 26, 17), aber hier ist sie richtig
angewendet und zweifellos mit der Absieht, die widersinnige
Fassung des Psephisma zu korrigieren. Sie 'für eine jiuthe-
tische Floskel' zu erklären, wie Bikesch es tat, die eigentlich
keinen Raum in dem überknappen Stil des vTiouvriuariöuög
habe, heißt die Verhältnisse völlig verkennen. Gerade, weil
die AVendung eine Korrektur sein sollte, mußte sie voll
gegeben werden. Es leuchtet nun vollends ein, wie unzutreffend
16) Übersieht bei MÄK(vrAKDi, Privatleben d. Römer I ' i28tf.
71,8] Beiträge zuk C4eschichtk des Aueopags. i,>
es von Fkänkel war, für die Einset-zung der Formel aQsriig
fvexsv den epidaurischen Steinmetzen verantAvortlich zu machen.
Die ägarij hier ist ja durch jene Phrase :i(x6i} agerij — xexo
6fii](isvov bedingt; wer diese strich, mußte auch das ägsriig
£V£X£V beseitigen. Das verständige Urteil der Areopagiten
hat daher einfach iJQaa 'den Verklärten' eingesetzt; verständig
war das V^erfahren schon deshalb, weil die Formel ccgstii^
evr/.Ev gerade auch für Weihungen zu Ehren Lebender im
Gebrauche war, also nicht erkennen ließ, daß es sich hier
um eine Ehrung post mortem handelte.
Die falsche Auffassung des zeitlichen Verhältnisses der
drei Inschriften ist lediglich durch ihre Reihenfolge auf der
Basis veranlaßt; und doch ist es bei Ehreninschriften eine
sewöhnliche Erscheinuno-, daß aus einer Anzahl von sachlich
zusammengehörenden Dokumenten dasjenige die. erste Stelle
erhält, um dessentwillen die andern entstehen mußten. So
steht aus dem fünf athenische Urkunden umfassenden Akten-
bündel (IG. II ^ 360 = n 1 5, 179b) das jüngste vom
J. 2>2 5:2^ vor den andern, die selbst wieder gruppenweise
der Zeit nach rückwärts geordnet sind.^') Nimmt man nun zu
17) Nicht ganz zutreffend war es, wenn Dittesbergkk, Syll. ■' 304
o-erade zu dieser Inschrift bemerkte, daß jene Anordnung für alle Ehren-
dekrete gelte. Bei nur zwei Inschriften steht natürlich die Weihinschrift
Tor, hier handelt es sich um eine größere Anzahl von Aktenstücken,
die insgesamt in zeitlich aufsteigender Abfolge stehen. Dieses Zurück-
gehen von der letzten Gegenwart in die Vergangenheit erschwert das
Verständnis der Genesis des jüngsten Aktes, um dessentwillen die
übrigen Urkunden doch mitgeteilt werden. Zur psychologischen Erklä-
rung hierfür wird man an den auch in der Sprache hervortretenden
Grundzug griechischer Anschauung erinnern dürfen, die 'das ngörsQov
nghg ijii&s so häufig dem iiqÖtsqoi' t)) rpveei [d. i. zugleich tcÖ XQOvm]
vorangehen liißt', wie C'lasskx den Vorgang in seinen Betrachtungen
über den Hora. Sprachgebrauch S. 200 formuliert hat, einem Buche,
welches sehr zum Schaden solider Sprachkenntnis — nicht nur der
epischen Sprache — und exakter Interpretation die jüngere Philologie
dem Staub der exilierten Bücherreihen zu überlassen scheint. Stilästhetik
nennen sie, was auf dem Felde der homerischen Probleme, gepflegt
von bequemem, dünkelhaftem Besserwissenwollen, an mehr oder weniger
14 Bruno Kkii,: |7', 8
«lein y.eitlichen V»Mhältnis, in dem das xjjycpnJ^iu zu dem vno-
(^itnjt.iiCT(ö^ög stellt, die oben vorgeiülirten formulen Unter-
jschiede /wischen den beiden Urkiniden hinzu, so wird man
geneigt, den Satz von liruKSCii umzukehren, also das il^t'jqjLOua
als nQoßovXsv^ci für den vTto^ivtiUaTiauoi^ auzusj)rechen; doch
darüber wird noch zu reden sein. Es gilt zunächst, den Akt
des Areopags genauer ins Auge zu fassen.
Der vnoi-iinjnur lOuos.
.Die griechischen Termini vTCoiivij^uiTiö^oL; oder vzofivrj-
^u(T(( geben in der Amtssprache der Kaiserzeit das römische
commentarii wieder. \V esen und Einrichtung dieser Urkunden-
gattung hat WiLCKEN ^'^j an der Hand ägyptischer Papyri
zu lebendiger Anschauung gebracht. Es sind die amtlichen
Tagebücher römischer Magistrate, in welche die einzelnen
Amtshaudlungen und Amtsentscheide des betreffenden Magi-
strates in der Abfolge des Datums eingetragen oder vereinigt
wurden; auch fremde Aktenstücke, welche sich auf die gebuchten
Amtshandlungen bezogen, konnten Aufnahme finden. Die
Eintragungen in die Amtstagebücher haben entweder die Form
kurzer j>rotokollarischer Notizen, oder sie waren in ausführlicher
liedc gehalten.*^) Der Beamte beglaubigte sie jeweils einzeln
dilettantischen Betracbtungeu und Beobachtungen da em])orschieüt, weil
aus Mangel au jiositiven Kenntnissen und an kritischer Fähigkeit oder
Energie der Boden liir exakte Forschung zu mager ist.
i8) Fhilolog. 1894 LIII 80 tf.; derselbe verzeichnet (irundziige
u. Chrestomathie der Papyruskunde 1 2, 59 die an jenen Aufsatz sich
anschließende neuere Literatur, aus der der austukrliche und urteilsvoUe
Artikel von A. v. Pkkmekstein: Commentarii, Reahnc. IV 726 besonders
genannt sei. WiLfKEN (Philol. a. a. 0. S. 112) hat die Tagebücher des
Ptolemaios Philadelphos eine Mischung von Geschäfts- und Hofjournal
genannt. Die Fiktion des Pseudolnkian (Demosth. laud. 26), bei dem es
heißt May.edovLxoTi ivw^ojv rfn- ßccciXiKfig oiMiag vnoiivrmaGL beruht
auf dem Vorha)idensein von Tagebüchern dieser Art.
19) Die Inschrift von Skaptopara (Ath. Mitt. 1891 XVI 2G7 ;
CILUI 12336; Dittkkbeeqkk; Syll. ^ 888, abgedruckt auch I. Imp. Rom. I
674) ist für das Wesen der Commentarii doch nur mit Vorsicht zu
verwenden. Ich finde die zugrunde liegende Situation verwickelter,
71,8] Beiträgk zur Geschichtk uks Arropags. 15
oder suinmarisch in bestimmten Zeitabschnitten durch sein
als die von Mommskn begründete Auffassung sie erscheinen läßt. Ist
der in dem leider verstümmelten 2. Teile (102 ff.) Redende (ßonsl St (loi)
ein Agent der Kommune oder ein zu dem statthalterlichen Forum ge-
hörender Advokat und der Angeredete (inl ai) der Statthalter, an den
der Kaiser die Gemeinde mit ihrem Bittgesuch gewiesen hatte, so muß
das Ganze allerdings eine an den Statthalter gerichtete Eingabe oder
die Aufzeichnung eines solchen mündlichen Vortrages sein. Ist es das
erstere, dann begreift man nicht, welche Audienz mit iitl Tr]v kvtsv^iv
Tuvrriv gemeint ist; denn sie hat zweifellos bei eben diesem Statthalter
stattgefunden und bezeichnet diejenige, in der die Gemeinde ihr Anliegen
vorbrachte und ihre Sache durchfocht. Davon wird wie von Ver-
gangenem gesprochen. Was soll hier eine spätere Eingabe? Die
Wiedergabe eines mündlichen Berichtes kann es auch nicht sein. Für
wen war er bestimmty Doch nicht für den Statthalter; denn er hatte
die Audienz ja selbst erteilt und mit eigenen Ohren {tfjg nccgovcrig)
das Gutachten des Diogenes mit augehört. An die Gemeinde? Dazu
stimmt doch die Anrede inl oi nicht. Das ravtiiv am Anfang
zeict daß wir einen Ausschnitt aus einem Schriftstück haben, und
zwar, wie der ganz rhetorisch gehaltene Eingang beweist, aus einem
von einem berufsmäßigen Rhetoren verfaßten Texte; das wird auch
durch das Gesuch an den Kaiser bestätigt, das gleiche Arbeit zeigt,
doch wohl von der gleichen Hand. Ich halte das Stück für einen Aus-
schnitt aus einem TtQ06(pMvrixivM<s, den die Gemeinde dem Statthalter
entweder schriftlich zugehen oder durch eine Deputation halten ließ,
um den Dank für seine Entscheidung auszusprechen. Darin war der
Gang der Ereignisse geschildert: 'Göttliche Güte hatte zu dieser
Audienz gerade den Diogenes kommen lassen, ein Gott die Abgabe
des Gutachtens vorgesehen, wie es denn schon ein Werk der gnädigen
Tyche war, daß der Kaiser selbst gerade an Dich in unserer Angelegen-
heit schrieb, der Du vorla-r schon eingegriffen hattest. So aber lautete
das Gutachten.' Der Statthalter hat den i'assus der Rede, der das
Verfahren schilderte, mit zu den Akten gegeben. Die Rolle des
Diogenes erhält zunächst eine Parallele aus [lulian.] ep. 35i den ich
GGN. a. a. 0. erläutert habe. Der Sprecher dieser Rede tritt vor dem
römischen Beamten genau so für die Argiver ein, wie hier Diogenes
für die Gemeinde der Pantalioten. Allerdings ließ sich die Stellung
jener Sprecher zu den Argivern und dem Beamten ebensowenig er-
kennen wie bisher die des Diogenes zu den Pantalioten und dem
Beamten. Aber ein unterschied ist vorhanden, der weiter hilft. Die
Sache spielt 238/39, also nach der Constitutio Antoniniana. Em Mann
von ersichtlicher Autorität, wie dieser Tyrier Diogenes, hat also die
i6 . Bkuno Kkii,: (71. 8
KVf'yinov (recoguovi).^") Dadurch irowanuen sit« urkunileii
mäßii^e iiechtskrat't. zu^liMrh aucli Publizität, sie wurden von
Amts wecren verötfontlicht, das hieß nQOTi&h'ca, und dann in
amtlichen Archiven deponiert*'), so daß auch für privaten
Gehraiu'h Abschriften von ihnen genomnieji werden konnten.
Diesen Aintstaoebücliern der einzelnen Beamten nicht
gleich, aber analog gebildet, müssen die Amtsjournale gewesen
sein, welche in röniisclier Zeit von Gemeinden — richtiger
von bestimmten, die Gemeinde repräsentierenden Körper-
schafte»! — geführt wurden und gleichfalls den Namen
commentarii, vTtofivyuaTia^oi' trugen. Ihre Existenz war bi.-<
Civität gehabt, während sie dein Fürsprechfr der Argiver .sicher
fehlte. Ich möchte also Jioyivi]? b Tvgios o «[arpwv ( fjfiMv] zu bedenken
geben. Das sind genau soviel Buchstaben wie Momm.skns nlguynccrixb',-]
und das Pränomen ^/(«r in dem im Namen der Gemeinde gehaltenen
Prosphonetikos zu finden, kann nur natürlich er.scheinen.
20) Daher konnte Aristides (L § 78) von einem Spruche (yvwaig)
des Prokonsuls Severus schreiben: ravt slnt drjuoaicc, ravt ivifQutit
Toig vTfoiivrniccair, wenn ivtyQccifis natürlich auch nur er ließ auf-
nehmen' bedeutet. Sehr charakteristisch ist übrigens, was sich aus
dem Traum des Aiistides und besonders seinen daran geknüpften Er-
wägungen über die Möglichkeit der Fälschung der vTtouvrjuuriauoi durch
Bestechung erschließen läßt (§ 80 — 82); höchst verdächtig ist es daher,
wie er von dem ihm hernach sehr gefälligen legatus iuridicus, der
dem Prokonsul fast ein ygaiiuaTivg, Kabinettschef, war, den Verdacht
der Bestechung abwälzt durch Nachrechnung, wie teuer ihm die ganze
Sache durch laufende Ausgaben zu stehen gekommen sei, nämlich etwa
500 Drachmen, gerade die Summe, die ihm der Gott im Traume als
Bestechungssumme angegeben hatte. — Übrigens hatten natürlich die Ent-
scheidungen des Beamten, auch wenn sie in das Amtstagebuch auf-
genommen und veröffentlicht waren, nur für die Zeit seiner Amtsführung
Gültigkeit, weshalb sich Aristides § 83 Gedanken macht. — Der Grund,
weshalb Aristides sich an jenen mächtigen Mittelsmann wendet, war
einfach der, daß dieser curator Smyrnae war, ijv inl xfjg öioixrjaems ttj?
tcbqI Zluvnvav. und Aristides als Smyrnäer Atelie erreichen wollte.
Übrigens vermeidet der Redner wieder den griechischen Terminus
Xoyiari^g (Real-Enc. IV 1807), weil er noch puristischer als Philostratos
ist, der einfach 'Povcpoi rohg E[LVQvaiovg iloyiavi-vs (v. a. p. 19, 25) sagt.
21) WiLCKEN, Alexandrinischer Antisemitismus S. 49 (Abh. Sachs.
Ges. d. W. 1909 XXVII): vgl. Pkki.sigkk, Girowesen S. 283.
71,8] Beiträge zur Geschichte des Areopags. 17
zu WiLCKEN.s Untersuchuugen nur für den athenischen
Areopag bezeugt, bis Mommsen bei Wilcken (S. i 10) aus
der Inschrift C'ILXI 3614 das Genieindetagebueh auch für
das municipium Caere für das J. 1 13/14 ö- Chr. nachwies:
descriptum et recognitum factum in pronao aedis Martis ex
conimentario quem iussit proferri Cuperius Hostilianus per
T. Rustium Ljsiponum scribam. Die Anführung daraus trägt
nach Vorausschickung des Jahres- und Tagesdatuins die Über-
schrift: Commentarium cottidianum municipi Caeritura,
inde pagina XXVII Capite VI.
Dem Osten gehört der aus Puteoli stammende Beleg vom
J. 174/5 über die Aratstagebücher der Bule von Tyrus an
(CJG. 5853, 20 = IG XIV 830, DITTENBEKGER 10. 595; I I^P-
Rom. 421) c<7cb ay.rcov ßovXfig axd'sCör,g xä /ICov xoi) frot-j
T.-'^) Ein weiteres, aus einer reingriecliischen Polis stammendes
Beispiel bietet die bisher hierfür nicht herangezogene I. v.
Priene n. 246, die dem 3. Jhd. n. Chr. anzugehören scheint:
'H ka^Ttgorcai] TTonivscov 'Icovcov nöXig xccl fj xQ^arCör^]) ßovXi]
Httl TÖ (piXo6£ßcc6rov övi'sÖQiov Tijg ysQovöi'ag ixEi^r^öav xaxcc
rä Tiolkuxig vtio uvtcov sv y.oiva 81 V7to[ivt]^dro3i^ loyi-
GrtBVTa ml ßovXsy.xh'jöiäi' xal diä t/;r/gpK?iiia'Twv vTfSQ öjv
i7COii]6aro diä töjv aQi&v tisqI trjv TtoXiv avaXco^drav AL
Ävq^ijIlov) Taxiavbv ß xxL, d. h. Volk, Rat und Gerichte
von Priene liaben den M. Aurelius Tatianus II in ihren zu
wiederholten Malen protokollierten Plenarbeschlüssen der Bul-
ekklesiai^^) und in Volksbeschlüssen geehrt für die Aufwen-
22) Herübernahme des lat. acta ist mir aus Inschriften und
Papyri sonst nicht begegnet. Als frühesten, mit dem tyrischen etwa
gleichaltrigen Beleg führen die Wörterbücher lustin. apol. I 35 au.
ccxxÜQiog (beim Heere) ist für 143/4 durch BGU. HI 741,4 belegt; für
ccxxovöiQioi weist aus späterer Zeit Wessely, Wien. Stud. 1902 XXIV 123
noch wenige Stellen nach. Der Beamtentitel wurde natürlich leichter
übernommen. Zur Zeit des M. Antonius scheint in Tyrus noch die rein
hellenistische Ordnung des Urkunden wesens bestanden zu haben:
loseph. Ant. XIV319; s. A. Wilhklm, ßeitr. z. gr. Inschriftenkunde S. 245.
23} Über die sonst unbelegte ßovlsxxXrißlcc eine Vermutung unten
S. 33; loyia^ivtci heißt '(ihm) in Anrechnung gebracht', dann gebucht.
Phil.-hist. Klasse 1919. IM. LXXI. 3. 2
1 S BurNO Ki-.ii.: [71, 8
«hiu^oD, die ergelcgi'ntlicli seiner Aniterverwaltunt^ (am Sehlusse
der Insehrit't spozitiziert) tiir dif (leineiiide o^eniiicht hat.
Hier stehen dii' vTroinnjuccr« der Bidekklesiai den ilnjrpCönatcc
iiatürlii'h von Kat und \'(>11\ genau so gegenüber, wie der
v:joi.ivtjpic(Tiöu6i: des Areo])ag neben dein ilni(pi()(.m in unserer
Insclirilt sti>ht. Eine anah)ge Beobachtung uiaclit nian end-
lich auch HU den Urkunden des Thessaliselien Bundes aus der
Zeit nach der Neuoninuug der Provinzen durch Augustus.
Hill- wird bei (h'ii Bescliliissen der Buiulesversamniluutr der
6in'£d()oi zwischen il.>t'j(pn)U« und vitonvifHixxKSaöi^ geschieden.
So bezeichnet sich der lauge Bundesbeschhiß (Z. i ,s iöoi.tv
Toi^ ("JeeoaXaig) aus Larisa IX 2, 507 seilest als i^>/'9nf?^a«'''j,
dagegen bietet 62 7 Xlxiov (^) v[ibg \ 'jQiOto(p\ -**) Yjqcog j xjard
Tov T(')[ j' I 6]i'i'sdQioi> [vTio ij\rn]uaTial^m' | x(d y.a\ru rh. Die
beiden Urkuudengattuugen stehen hier nicht wie in Athen
zueinander. In Athen werden sie von verschiedenen Körper-
schaften ausgestellt, Areopag und Ekklesie, hier von einer und
derselben, den Syuedroi. Die letzte Zeile der Inschrift wird
man nach athenischem Muster zu ergänzen hfiben: hui xcc\rcc
rö [ipy]\q:>i6{ia rov dj/uoi' (vgl. 624 tljrj^töa^ivov rov dr'jixov)
mit oder ohne den Zusatz tov jl(iQ(s)i.6uiu)i' (vgl. 617. 618),
so daß nun das Nebeneinander von v7rofivy]iiarujuöi; des Bun-
des und il)ri(piö^iu der Gemeinde eine noch genauere
Parallele zu Athen bildet. Der Unterschied ist aber der, daß
24) Z. 33 [ävct yg]d[ti}]ui to [ij))/ 9 ]'[<»."]" [tovjto sig v.iova Xi^i-
vr][v], die Lesung ist an sich sehr unsicher, steht in ihrem Tenor aber
völlig fest, besonders auch durch die Formel si$ -tiiovu Xid-ivT]v; s. u.
S. 24.
24a; Kkkn hat 'AQiCTO(p[wv ergänzt, allein, wenn das von ihm ein-
gesetzte vloa richtig ist, hat hier der eigentliche griechische Name des
Vaters in der üblichen Weise als Koguomen nach dem römischen Gen-
tilicium gestanden. Die Zeile wird dadurch notwendig etwas länger
als die vorhergehenden; das erklärt sich aber aus der Absicht des
Steinmetzen, vor dem zu isolierenden ijQas mit voller Zeile zu schließen.
Übrigens handelt es sieb, v.^enn man den in Thessalien häufigen Namen
AgiaTO(p[iXov einsetzt, nur um eine Stelle, <lenn Z. 5 steht \uuv] mit
liXov] auf gleicher Vertikale.
71,8] Beiträge zur Geschichte des Areopags. 19
sich so in Thessalien zwei von verschiedene)! Instanzen, Bund
und Gemeinde, ausgehende iffr^cpiaacctu ergeben, während in
Athen anscheinend dem Volksbeschluß nur der v:toav)]^ia-
TLö^ög des Areopags gegenübersteht. Auf die Frage, wie nun
die beiden Urkundenarten des Synedrions formal geschieden
waren, wird weiter unten zurückzukommen sein.
Die vorgeführten lassen eine weitere Verbreitung der
Führung von Amtstao-ebüchern in den örtlichen Verwaltungren
zur Kaiserzeit erschließen, als unsere epigraphische Überlie-
feruns: — denn die literarische zählt hier nicht — zu er-
kennen gibt. Die Ursachen ihrer Unergiebigkeit sind das
Festhalten an den aus der Zeit der freien Polis überkommenen
Beurkundungsformen und die Spärlichkeit umfangreicherer
Aufzeichnungen über Handlungen der Gemeindeverwaltung
überhaupt; die Steinurkunde war zu kostspielig für die ver-
armten Gemeinden, dazu war das Beurkundungswesen durch
Anlage staatlicher Archive seit der hellenistischen Zeit um-
gestaltet, wodurch für die Erhaltung der Urkunden auf andere
Weise als durch die Dauerhaftigkeit des Beschreibmaterials
vorsfesorgt war. So ist uns vollends eine ins einzelne
gehende Vergleichuug der Beamten- und Gemeindetagebücher
versafft, doch läßt die athenische Urkunde in zwei wichtigen
Punkten Übereinstimmung zwischen den beiden Gattungen
erkennen. Ich spreche nicht von der Datierung — sie ver-
steht sich bei Urkunden von selbst — , sondern von der wich-
tigeren Tatsache, daß den vTCot-ivriuaTLö^oi des Areopags auch
fremde Aktenstücke eingefügt wurden und ihnen Publizität
zukam. Den Motiven für den Areopagbeschluß fehlt jeder
Eigenname, der erkennen ließe, auf wen der Beschluß sich
bezieht. Der Geehrte heißt einfach vsavucg diccörjaöruTos, als
Adressaten werden allgemein yovHg und TtccTtTCog genannt;
das war nur möglich, wenn dem v7toiivr]^aTi6uös das j^');g;t(?(ia
beigelegt war, durch das er veranlaßt wurde. Die Weihinschrift
selbst wird vollständig gegeben, aber nicht, um die Motive
zu ergänzen; daß sie hierzu tatsächlich nicht dienen sollte,
geht einfach daraus hervor, daß sie nicht nur den Namen
20 Bruno Kkii,: (71, 8
der Mutter iiiclii na('hl)riii<;t — der wäre bei Nonuunjj; des
Vaters vielleicht zu entbelireii — , sondern iiuch den des (iroß
Vaters ausläßt, so daß der Ttdnjioi^ völlif^ unbestiinnit bleibt.
Der vollständiü^e Text der Weihuu^- soliie abtir, wie schon
ge!=<agt, die Abweichunjjfen von der im Psephisnui vor<^eschla-
p;enen Fassung- festlegen. Diese Korrektur setzt also ebenso
wie die Uuvollstäudifrjieit der Motive das Vorhandensein
eines Selirit'tstückes bei den Akten voraus; oImk; dieses wäre
das Fehlen der Namen eine nicht «Geringere urkundliche Un-
möglichkeit gewesen, wie es die Auslassung des Datums sein
würde. Zweitens die Pu])lizität: Dieses skizzenliafte Protokoll
wird von den leitenden Beamten des Areoi)ags auf" ausdrück-
lichen Beschluß der Körjjerschaf't mit dem Staatssiegel ver-
sehen; das entspricht dem dvsyi'coi' oder recoguovi in den
V7iouv}j^aTiö(ioi der Beamten. So beglaubigt geht es an die
Eltern, uiid die Familie darf es in Stein einbauen lassen und
ötfentlich ausstellen; der Areopag übergibt also den vno^vY
fiatiöiiog den Interessierten zum jtQOTtd'i'vuL. Das ist altgrie-
chische Geptlogenheit. Die Mehrzahl der athenischen Ehren-
dekrete ist ja auf eigene oder so gut wie auf eigene Kosten
der Geehrten in Stein eingegraben worden.
Endlich noch eine stilistische Übereinstimmung, die sich
bei dem Vergleich der syntaktischen Form der beiden athe-
nischen Aktenstücke aufdrängt. Das Psephisma wahrt die
alte Periode, die mit dem solennen t^rsid)} den die Motive
gebenden Vordersatz einleitet: iTisidij 6v^ß6lh]xsv . . . deÖö-
yß-ai. Der v^toavriiiariöiiog kleidet dagegen die Motivierung
in die kürzere Form des Genet. absol. ^srrjX^axotos . ■ • vecc-
VLOv . . . ccvadstvai; dem Participium ist das den ganzen Satz
regierende föol« vorausgeschickt, die alte feierliche Periode
also gesprengt. Die in Papyri erhaltenen v7to^vrj^uai(ipioC
zeigen zwei Stiltypen. Der eine ist der des in kurzen Haupt-
sätzen erzälilenden Referates. Er findet sich bei einfachen
Angaben über laufende Tagesereignisse (z. B. Wilcken, Grund -
Züge I 2 n. 41J und in den Akten, die das nackte Protokoll
der Verhandlung in Frage, Antwort, Urteil geben; diese Form
71,8] Beiträge zi;u Geschichte des Areopa(}S. 21
ist nach dem bisher vorliegendeu, nicht kleinen Beurteilungs-
material entschieden selten. Der zweite Typus wird durch
das Einsetzen mit einem Genetivus a))solutus charakterisiert,
in dem die Nebenumstände vorausgeschickt werden. Er ist
für diese Fälle durchaus als der normale zu bezeichnen, zu-
mal auch jene einfachen Verhandlungsprotokolle vielfach mit
dieser Konstruktion erööhet werden. Eine ganze Serie von
Mu.sterbeispielen enthält der Pap. Cattaoui (Arch. f. Pap. III 57)
vom ersten Akt an: JovxCug May.Qivug Öiä ^avsCov yj/'ropog
siTiovörjg — ylovTtog siTcev, und selbst mit zweitem, in einen
abhängigen. Satz eingeschobenem Gen. abs.: Xgcöndos dtä (Pi-
/.o^evov QTjroQO^ einovör^g — övvsXrjlvd'svat 'löiötoQG) . . .
uEtcc ruvza Öh 6TQar6v6aj.Levov ty.eivov — E6%ri'Ktvai . . ., dva-
yvcoodsLöTii; dia&i]X}]g 'lovXtov . . . AovTtog laXi-jöag . . . alTCsv;
dabei hängt von siTtovörjg eine große Periode, mit Infinitiv-
und 0T< -Konstruktion, sowie einem Relativsatz ab, so daß die
ganzen absoluten Konstruktionen slTtovörjg — ävccyvcjöd'scörig
neun Zeilen (IV 2 — 10) umfassen. Noch schlagender ist viel-
leicht BGU. 136,50*. BsQvtiziavov QriroQog eijiövrog Ilsv^tu
. . . tsteXsvTiiy.svai, hutu ds tovg vöuovg . . . övvtETccxevat . . .,
(XTiod^ccvövTog de rovg avriöCxovg . . . ivöeGiXSVta . . . civttXa^-
ßavoatvovg [i)]xE Xoyovg xetai&ai fxrjre yQa(fi]v . . . üuruxs-
)[(OQiyJvaL pLrjTE tQoq^ug . . . xEyoQr^xivui t zliovvßCov %aC 'Aqtio-
'/iQCCTiGJVog Qrjr(6Qoni) ccjtozQivaasvcov . . . TioXXä y.araXsloiTctvui.,
t,riueCug ovv — ai,LOvVj et ßovXsTUi . . . xara%£LV rä aargmu,
7iaocc8oyJ]V yareöd-UL . . ., ÖLaßsßcaov^avov rov IJaöCavog ^lij
yeyovevuL tbv TCureQCi . • • | KluvÖiog . . .: '0 rov vo^ov xtA.,
wo das Verbum finitum slTtsv ausgelassen ist. Ich habe diese
lange, über lö breite Zeilen umfassende Periode hier im Um-
riß ausgeschrieben, um zu zeigen, daß gerade wie in den Pse-
phismen der Vordersatz mit snatÖri ins Ungemessene an-
schwellen kann, so im hypomnematischen Stil die Partizipial-
konstruktionen außerordentlich weite Rahmen für Einschub-
sätze jeder Art abgeben können.
Für weitere Beispiele verweiseich auf POx. 40, 4 ; 2 3 7 VII 20 —
25 ( Petition der Dionysia), BGU. 36 1 II 1 2,PTebt. 2g i , 2. Die Vor-
21 lliujNo Kkii,: [71, «
lielje für (lif l'artizipiulkonstruktioii i^elit so woit, ilaB sio selbst in
die Sentenz des Kichters Einlaß eiliillt: Arch. f. Pap. III ,)4i 'de-
monstrnntae (1. -te) sKscrpfo fuo\ was die 'fofnii'ft'u mit vno-
ötxvvi'To^ Tov vnl) (Jov lUn'ijyoQoi'f^ie'vov wiedergibt (.^22 n. Chr.X
während der Entscheid natiirlieh in feierlicher Korni erfolgte, wie
PLips. 38 1 16 bestätigt, wo die Sentenz des Präses Thebaidos
mit sjidöi] einsetzt. Nirgend bin ich einem Eingiing von
Protokollen mit vollem Nel)ensatz begegnet. Es findet sich die
Vermischung l)eider Typen nnd sie ist besonders beweisend:
BGU. .H7 (= Wti.ckkn, (^ruudzüge I 2 n. 76) i]a7ia6c(To (der
Oberpriester^ roi' Xa^iTtfjoTaTov {jye^wva x(d ufrä rccvra . . .
IlavecpQi'f^iUFi . . . :TQoaK'yay6i'Tog . . . xcd a^uoduvTog ... a/'«
öovrog Tf Tyv . . . f:tiöroXijV . . ., ejrvd-^ro ... fl Elit6v-
Tcov . . . Hl'ui I OrA;r/(»s'| . . ixelfvösi'] ebenso geht in der nicht
mehr sicher zu ergänzenden Stelle BGU. 5 II 18 — 22'-'") die
Konstruktion von einem xaTy'ivrr^öav in ahriöaiievcjv . . . xcc\
TOV "HQcovoi; d^icböavrog über. So fest sitzt eben die Parti -
zipialkonstruktion im hyponmeuiatischen Stil, daß die Proto
kollführer unwillkürlich in sie hinübergleiten. Ein inschrift-
liches Beispiel endlich bietet der bekannte v7rofivy]^ari.6^6^
des Königs Antiochos — welches, steht nicht fest — in Sachen
des Dorfes Baitokaike^"); er beginnt: TtQoöavfx^^vTog ^lot :t£qI
tfjg ij'sgysLag dsov Zlihg Baito\y.aiy.')}g\ izQid-i] GvyiooQiid-fivai
xtA. Dies Zeugnis behält seine Kraft, wie man auch die von
Laqueuk aufgeworfene Echtheitsfrage dieses Dokuments-')
beantworte; denu es handelt sich hier um eine Stileigentüm-
lichkeit einer Urkundengattung, und so lange diese besteht,
wird jene beobachtet werden, in echten Stücken kaum strenger
als in unechten, wenn anders dem Fälscher daran liegen muß,
auch durch die äußere Form seinem Machwerke den Schein
25) Zur Lesung von Z. 19 s. Preisigkk, Berichtigungsliste der griech.
Pap. S. 7.
26) DiTTENBERGER 10. 202; Dkj^sau, luscr. Liit. sel. u. 540; Ijeideg
überholt durch LrcAs, Griech. u. lat. Tnschr. aus Syrien usw. S. 21
(Sonderabdruck aus Byz. Zschr. 1905, XIV) nach neuer Leauiig.
27) S. den Exkurs u. S. 96.
71,8] Bkitraüe /jVR Geschichtk dks Areopags. 2^
der Echtheit /u gebeu. Ich habe deshalb auch die Papyrus-
zeugnisse ohne Datum hissen können; sie fallen sämtlich in
die Zeit vom 1. bis 4. Jhd. und zeigen, daß der Hypomnema-
tismos der athenischen Körperschaft dem des römischen Be-
amten auch in stilistischer flinsicht entsprach. Natürlich ist
die absolute Partizipialkonstruktion als Kürzungsform der
Hypotaxe für das Protokoll die gegebene Ausdrucksweise,
aber sie ist doch nicht die einzig mögliche, wie die daneben
stehende seltenere Parataxe beweist. Daher mußte auch auf
die Übereinstimmung zwischen den Dokumenten aus Athen
und Ägypten hingewiesen werden, die insofern an Bedeutung
gewinnt, als die Kechtsquelle die.ser Dokumente eine verschie-
dene ist. Das führt auf die Form des Zustandekommens des
areopagitischen Hypomnematismos.
Die Rechtskraft der ägyptischen Akte dieser Art tließt
aus dem Erkenntnis oder Befehl (xQivsLv, xelevscv^ Hytiv^
unocpaCvEöQ-ca ) des einzelnen Beamten in Ausübung seiner
magistratlichen Potestas; sie sind für seinen Amtsbereich und
zunächst nur für seine Amtszeit bindend. Der athenische
Akt beruht auf der Ausübung des verfassungsmäßigen Rechtes
der Körperschaft, entweder selbständig oder in Verbindung
mit anderen staatlichen Organen für die (resamtgemeiude
bindende Bestimmungen zu treffen, die zeitlich in ihrer Rechts-
wirksamkeit nur durch Beschlüsse der gleichen Instanzen be-
schränkt oder aufgehoben werden könnnen, falls nicht —
das ist für die römische Zeit natürlich hinzuzufügen — die
Reichsregieruug kraft ihres Souveränetätsrechts eingriff. Da
der Wille einer Körperschaft nur durch Abstimmung welcher
Art auch immer festgestellt werden kann und sich in der
Form eines Beschlusses darstellt, ist der vTto^vriüurid^ög des
Areopags ein Beschluß: föo^^t/ steht da. Also ist die Bezeich-
nung Ööyaa in der Formel '/mxdc tu do|arr« reo . . . övveÖQCo)
(rfj si, 'J. 7t. ß.); {Totg) 'AtJEüTtayLtuig oder doyaccti rCbv . .
'AQeo:it<.yLTG}v (tov awsÖQiov) terminologisch durchaus genau,
dagegen ist festzuhalten, daß die daneben stehenden Wen-
dungen ^//9^iö,u«Tt TifS £^ 'A- 7f- ß- oder i'ri(pL6au,hn]g rfjs i^
•^4 Hki:n<) Kkil: [7>, ^
"./. ,T. ji.-^) lormal unrichtig' sind, «(.'im sio suclilieli auch ver-
Btändlich sind, da ja jedes Abstininu'n in einer Körperseliaft
zu dieser Zeit mit ^^((fnXtOdui bezeielinet werden kann. Schon
weil /,weifelh)s «/'»/qpiö//« dem l'oiinelh^n N'ollvHbeschlusse vor-
behalten war, wird diese an sicli aucli seiteuere J^enennunüf
eines Areopagbeschlusses uiclit dem amtliehen Gebranclie ent-
sprechen. Man darf dessen um so sicherer sein, als döy^ia
und övvtd{)ioi' seit der lielleuistischen Zeit zusammengehörig-e
Bezeichnungen sind und in Athen niemand auf die Benennung
6vveö^L0v statt des uralten und stets allein oftizieil gebliebe-
nen ßoi'XYj für den Areopag kommen konnte, Avenu nicht in
der amtliehen Bezeichnung der Beschlüsse des Areopags als
döyficcra eine Verleitung zu der ungenauen Benennung der
Körperschaft selbst gelegen hätte. So heißt es denn nie ipritfiöafit-
i'or> Tof' owaögCov x. J^., wohl aber xuxu ri\ 66i,avr(c t/} , . .
ßorkij. Im Thessalischen Bunde heißt der Beschluß des
ijvi'iÖQiov allerdings 4'ijq)iöu« (o. S. i8j; allein in dieser
Bundesverfassung stand neben dem övvsÖqlov keine ßovh'j^
die zusammen mit einer Ekklesie auch ein in^cpia^u beschlie-
ßen könnte; in ein und demselbeu Staate Avar die Scheidung
der Terminologie zwischen zwei bestehenden Ratskörperschaf-
ten geboten. Der Areopag wird es gemeinhin bei einem pro-
tokollierten Beschluß, also bei dem vjionv)]^ariö^6g haben
bewenden lassen, zumal die Sparsamkeit mit inschriftlicher
Dokumentierung im allgemeinen Zuge der Zeit lag; daher
haben wir keine weiteren Beispiele erhalten, wie ja auch die
Zahl von athenischen Psephismeu aus römischer Zeit für uns
eine äußerst geringe ist. Sollte aber einmal ein Areopag-
beschluß in feierlicher Form ausgefertigt werden, so konnte
es nur unter dem Namen eines döy^u geschehen.
Diese Unterscheidung zwischen der Terminologie der Ur-
kunden der beiden athenischen llatskörperschaften wird durch
die Sprache des Hypomnematismos selbst bestätigt. Das
Präskript nach dem Jahresdatum lautet: ai]vbs Bor]dQO^i(bvog
28) [Die Belege für die verschiedenen Formulierungen verzeichnet
Larx^eld, Handbuch der griechischen Epigraphik II S. 86i.J
7',^] Beiträge zur Geschichte des Areopags. 25
TTf^^T)] untovxog' jQtiO'i Tcdyog sv 'Elevöslvi' ?.öyovg btioli']-
6axo Tet^oö&e'vrjg Kakliöxo^dxov 'Ava(pkv6Ti,0£. Das einfache
Tagesdatum gegenüber dem doppelten im Psephisma (o. S. 5)
ist berechtigt; für den Areopag kommen die Prytaniemonate
nicht in Betracht, da sie auf der Geschäftsordnung der ande-
ren Körperschaft beruhen. "AQSiog Tidyog iv 'EXsv^stvi hat
sein Entsprechen in Psephismen, besonders hellenistischer
Zeit: ßovh) ev ßovXsvrrjQLC) (xal ix tov ßovXsvttjQCov iv tä
EktvaivCa) und sxx?<.y]6ia iv TlfiQaist^ allerdings weicht die
rein geographische Angabe von dem älteren Gebrauche ab,
der iv rä 'EXivöLvCa forderte""); aber das war sicher spätere
Ausdrucksweise, denn so steht auch in dem schon oben
( Anm. 10) berührten Psephisma IG. 111 2, (= ed. min. 1072 [hier
falsch ergänzt]) 3 hadrianischer Zeit: ßovli] Uqu iv 'EXsvöeivi^
weil der Name der ehemals eximierten Polis Eleusis für den
Athener nur noch den Begriff des Isqov erweckte. Unerhört
ist aber nicht nur in athenischer Amtssprache, sondern über-
haupt für die Terminologie der Beschlüsse griechischer Kör-
perschaften die Formel für den Antragsteller : löyovg ETCoirjöaxo.
Das stammt aus dem Formular des römischen Senatus con-
sultum, ist die in der ViERECKschen Sammlung immer wieder
belegte Übersetzung von verba fecit (fecerunt).
Ganz ebenso unerhört in sonsticrer griechischer Amts-
spräche ist die Angabe über die Wahl der Abordnung, wel-
che dem Betroffenen das Beileid der Gemeinde aussprechen
soll: y.ar^ördd-i] uigsöLg statt der im Psephisma gewahrten
alten Formel TtQe'ößstg tigi^riöav (o. S. 11). Ich habe seit
etwa zwanzig Jahren auf das Vorkommen von aiQSöig in der
Bedeutung von 'Ausschuß' oder 'Kommission' geachtet und
nur ein Beispiel gefunden, auf das ich bei Immischs Sonder-
behandlung des jjseudoplatonischen Axiochos aufmerksam
Avurde^'^) (367 A): xul nag 6 tov ^siQaxCöxov Tiovog iörlv
v:xb 6(0(pQ0VL6xäg xul ti]v inl tov? viovg aiQtijiv xfig
29) [Andoc. de luysteriis iii; IG. II 431 (== ed. min. 848), 30 — 31.]
30 [Otto Im.misch, Philologische Studien zu Plato, I. Heft: Axiochus
S. i4f.]
2b ÜRUNO Kkil: l7«.*<
f^ A^eiov :inyi)V ß o x' k yj •; . also von eiiKMii Ausschuß, hier
dem Erziohuugsausschuß, wieder dos atliouischeii Areopa<>;s.
Das ist kein Zufall, vielmehr stellt sich aiQeßi^ in dieser Be-
deutung als ein spezitischer Terminus aus der Geschät'tst)r(i
iiung und Sprache des athenischen Areopags dar. Die Son-
derbarkeit des Ausdrucks wird noch durch das Verb erhöht;
denn auch xcciftGrcivai von der Bestellung einer (Gesandtschaft
ist der Terminologie der alten Polis völlig fremd. Wenn das
Psephisina die alte amtliche Ausdrucksweise wahrt, der amt-
liche Hypomnematismos dagegen eine andere wählt, so liegt
darin ein beabsichtigtes Abweichen der Bureausprache des
Areopags von der der alten Verfassung uuverkennl)ar ausge-
sprochen.
Als die Römer dem Areopag erhöhte Bedeutung in der
athenischen Kommunalverfassung gaben, haben sie zugleicli
seine Geschäftsführung neugeordnet und umgestaltet. Deu
Beweis liefern dafür das romanisierende löyovg eTtoirjöuTo
nicht weniger als die Einführung der Beurkundung durch
den Hypomnematismos, die der demokratischen Verfassung-
völlig fremd ist. Das führt zum dritten Teile der Interpre-
tation unserer Urkunden, der die aus ihnen sich ergebenden
Erkenntnisse für die Organisation Athens zur Rönierzeit in
die bereits bekannten Tatsachen einzureihen liat.
Verfassungsrechtliche Folge runden.
Die Darlegung der den Urkunden zugrunde liegenden
Voraussetzungen oder in ihnen enthaltenen Angaben über die
athenische Kommunalverfassung erfordert eine kurze Revision
unserer Kenntnis von dem gegenseitigen Verhältnis der drei
in Athen bestehenden Körperschaften. Vorweg sei bemerkt,
daß das Material für verfassungsrechtliche Untersuchungen
des römischen Athen besonders unzulänglich ist. Einmal
sind die auswertbaren inschriftlichen Zeugnisse — die litera-
rischen kommen kaum in Betracht — an Zahl äußerst ge-
ring, zweitens ist ihre Ausdrucks weise vielfach ungenau, ent-
behrt leicht der rechtlichen Schärfe, so daß man die vor-
71,8] Beituäge zur Geschichtk des Aueopags. 27
kommenden älteren Termini, namentlich weiin sie vereinzelt
auftreten, nicht pressen darf: hier kann nur die Masse der
Zeugnisse beweisen. Ferguson ^^) hat mit der Lässigkeit in
der Ausdrucks weise dieser späten, dazu meist von privater
Seite ausgehenden Inschriften nicht genügend gerechnet und
daher auch Verfassungsänderungen aus den Inschriften her-
ausgelesen, deren Annahme einer sonstigen positiven Beglau-
bio-uno- entbehrt und bei richtiger Auffassung von der Stel-
lung der drei Körperschaften -zueinander überflüssig erscheint.
Er berücksichtigt auch nicht, daß von einem Wechsel zwi-
schen Oligarchie und Demokratie im eigentlichen Sinne unter
der römischen Oberhoheit nicht wohl die Rede sein kann.
Die römische Regierung hatte die Macht und nahm sich da-
her das Recht, je nachdem die Kompetenzen der kommunalen
Yerfassuntjsorgane zu ändern, zeitweise zu verkürzen oder
aufzuheben und wiederherzustellen. Der Grundcharakter der
Verfassung bleibt dabei derselbe; solche Änderungen sind für
diese Zeit einfache Regierungsmaßnahmen.
Athen hat eben seine demokratische Verfassung in dem
Augenblicke eingebüßt und gegen eine timokratisch-oligarchi-
sche Ordnung eingetauscht, wo die Römer den alten oligar-
chischen Rat vom Areopag den beiden demokratischen Kör-
perschaften, der Bule und Ekklesie, nicht bloß an die Seite,
sondern vorangestellt haben. Ob diese beiden zusammen oder
nur einer von beiden beschließt, ist für das eigentliche Wesen
der Verfassung gleichgültig: denn diese ist durch die führende
Stellung des Areopags ein für allemal bestimmt. Es gilt
eben, sich von der Vorstellung freizumachen, daß die In-
schriften noch wirkliches Staatsleben widerspiegeln. In ihrer
politischen Geschicklichkeit haben die Römer bei aller grund-
sätzlichen Änderung die alten äußeren Formen weiter be-
stehen lassen; diese Fossilien sind aber nicht mehr auf wirk-
liches Leben ausdeutbar. So muß man auch die Vorstellung
aufgeben, das typische Schema des gegenseitigen Verhältnisses
31) [\Y. Scott Ferguson, Klio IX (1O09) S. 323 If. und Hellenistic
Athens London 191 i.J
2 8 Bri'no Kr.iL: |7', 8
der beiden diMiiokratischcn Kör|)erschat'teii habe Geltung für die
Könier/.eit behalten. Natürlich ließen die Römer Hule und
Ekklesie wie in don anderen ^griechischen Koninmnen auch
in Athen weiter l)esteheu; sie <i;inifen in ihrer Rücksicht auf
die bestehenden athenischen Institutionen sogar so weit, daß
sie von der Eiuset/.ung eines eigentlich regierenden, von ihnen
dirigierten Beanitenkollegiums, dergleichen andere Politien
ihnen in den Synarchien boten, absahen; denn d.is wäre i'ih
Athen eine tief eingreifende Änderung gewesen, weil dessen
Demokratie eifersüchtig das Beamtentum niedergehalten, eine
oligarchische Beamtengewalt nie zugelassen hat. Sie fanden
statt dessen das Organ, durch welches sie ihrer Regierung
den nötigen EinHuß auf die kommunale Verwaltung sicherten,
in dem alten Areopag, dessen Zusammensetzung von ihnen
derartig geregelt worden sein muß, daß er das gewollte timo-
kratisch-oligarchische Element in die Ordnung trug, dessen
Machtbefugnisse so bemessen gewesen sein )nüssen, daß er
seinen Charakter der ganzen Verfassung aufprägen konnte,
bei dessen altgeheiligter Stellung und in hellenistischer Zeit
allgemach gewachseneu Autorität die neue Ordnung als wirk-
liche Rückkehr zur nccxQLog TtoXirtCu ausgegeben werden durfte.
Natürlich ließen sie wie in den übrigen griechischen Städten
es auch darin beim alten, daß Bule und Ekklesie noch ge-
meinsame Beschlüsse als xl^)](pi6iiaxa im Namen der TtoXtg
fassen konnten, für die der Rat sein :TQoßovXex)ua an das
Volk brachte. Aber die Gleichheit war eine äußerliche: das
Grundgesetz der demokratischen Verfassung: ovx et,£6Tiv ov-
dhv ÜTCQoßovXsvTov . . . ipijcpiöccöd'at TW Ör'i^co (Aristot. rp. Ath.
45, 4) war aufgehoben. Der alte Geschäftsgang konnte, wie
ich sagte, wohl noch befolgt werden, aber er mußte es nicht
mehr. Zu Beginn des 111. Jahrhunderts^-) lautet ein Präskript:
«yaO'iJt tvx)]i di-d6%^ai tdi örjiKot] daß hier ein reiner Volks-
heschluß ohne Probuleuma des Rates zustande gekommen ist,
stellt gegen jede Ausdeutelei das Postskript fest: ysvee&at dh ttjv
32) [IG. III 5; vollständiger ed. min. 1078; Dittenbkbqer Syll.-'' 885.]
71,8] Bkitkäoe zur Geschichte des Areopags. 29
yvG>^i^v Tavniv (pavsQccv xccl rrit it, ^AQfCov näyov ßovliit xal
Tijt ßovlfji T&v (f xccl rät iSQO(p(kvxt]L xui töl yt'vii tcöv
EvuoXTttdöJi'.'^) Die Ekklesie macht also von ihrem Beschluß
nur Mitteiluntf, und zwar an den Rat nicht anders als an die
Eumolpiden, die doch nie in einem bedingenden Verhältnis
zu der reofierenden Betätigung der Volksversammluno; ge-
standen haben. Und dieser Beschluß der Volksversammlung
hatte an sich bindende Kraft für die gesamte Gremeinde;
darüber läßt der Ausdruck cpavEQUv ysveöd-ca ebensowenig
wie die Tatsache seiner Aufzeichnung auf Stein einen Zweifel
aufkommen. Umgekehrt liegen seit dem i. Jahrh. v. Chr. Zeug-
nisse dafür vor. daß die Bule für sich, ohne Hinzuziehung
des Volkes gleichfalls Beschlüsse fassen konnte [dEÖoyß'aL
Ti]^ ßovliii), die dadurch als jl-'rjcpÜJaaTa für die Gesamtge-
meinde ausgewiesen werden, daß sie die Unterschriften )}
ßovXrj und 6 dfjfiog tragen oder mit 'Jyad-fjt rvxV' ^^/^ ßov-
Xiig xal tov dtjfiov tov 'Ad'iqvaCcav beginnen.^*) Ebenso finden
sich zahlreiche Zeugnisse dafür, daß auch in der Kaiserzeit
die Bule allein durch ihren Beschluß Ehrungen bestimmen
oder gestatten konnte. Klar die Ordnung im einzelnen zi;
durchschauen, wird nie gelingen. Die Römer haben augen-
scheinlich die Kompetenzen verschieden zu verschiedenen
Zeiten erteilt, je nachdem die beiden Körperschaften Ungefü-
gigkeit oder Unfähigkeit an den Tag gelegt hatten. Da die
jeweiligen Veranlassungen zu den Änderungen völlig unbe-
kannt sind, ist der Wechsel der Verfügungen völlig unfaß-
33) [Ebenso siud Ehrungen ganz allein, ohne Mitwirkung der Bule,
von der Ekklesie zuerkannt woi'den: 6 dfnt,o<s UönXiov Kogvrjliov . . .
&QSTi)s s'vsKsv IG. III 591. I; ferner 588. 593. 601—3. 771. 785. 795.
837. 865 — 7. 869. 873—877. 885 f. Diese Zeugnisse gehören allerdings
sämtlich der Zeit von ca. 50 v. — 50 n. Chr. an. Es scheint demnach,
daß dem Demos die selbständige Zuerkennung von Ehren genommen
wurde, augenscheinlich, weil er in ihrer Zuerkennung oder Zulassung
zu freigebig war; daß das Recht selbständigen Beschließens ihm aber
auf anderen (rebieten blieb, beweist die im Texte bebandelte Inschrift.]
34) IG. II 481 (= ed. minor 1039), 43; 60; 482 (= 1043;, 52; 480
(= 1041), 7; 489' (= 1046).]
30 JJiJi'No Kkii,: I71, «
bar, im übii;^en «luch zifinlic^li gleichgültio-, dn es sich hei
ihm zumeist nur um Verwuliunyfs-, nicht um Verfnssiin<:sver-
schieilenheiteii hamlelt. l)esh;ilh eben konnte ihis alte Band
zwischen IJat und Volksversammlunsj; so oeh)ckert werden, daß
beide die Möglichkeit freien Handelns hatten.
Bei der dritten Körperschaft, dem Areojiaw;, fehlt so-
«j;ar die Möglichkeit verfassungsmäßigen Zusammenwirkens
mit den beiden anderen Versammlungen. Die Demokratie
hatte den alten aristokratisclien Kat herausgebrochen aus dein
Organismus der Staatsmaschine; die Römer mußten um
80 weniger Veranlassung versi)üren, in diesem Punkte zu
ändern, als nur die Isolierung des Areopags ihnen diesen
völlig in die Hand gab. Eine Bindung an die Ekklesie
auch nur durch die Möglichkeit, einen Areopagbeschluß von
dem Entscheid der Ekklesie in probuleumatisclier Form
abhängig zu machen, würde zudem unvereinbar mit der
ganzen Verfassungsänderung gewescji sein, welche dem
Areopag eine überi'agende Stellung zu geben und zu sichei'u
bezweckte. Ebenso lag nicht der geringste Grund vor, den
alten geschichtlichen Gegensatz zwischen den beiden liats-
Versammlungen durch eine Geschäftsform zu überbrücken,
welche gemeinsames Handeln beider bedingte. Es gibt eben-
sowenig ein nQoßovXsvfic des Areopags, wie es einen Vor-
beschluß des Rats für den Areopag gibt. Aber seit der
Mitte des i. Jahrh. v. Chr. liegen die inschriftlichen Beweise
dafür vor, daß der Areopag endgültige Beschlüsse ohne Mit-
wirkung der anderen Körperschaften fassen konnte. Die relative
Selbständigkeit, die so jeder der drei Körperschaften zuge-
standen war, bedeutete tatsächlich eine Schwächung zum
mindesten des ßates und der Volksversammlung. Korn verfuhr
auch hier nach seinem alten politischen Grundsatz des 'divide
et impera'. Waren die Körperschaften alle oder auch nur
zwei von ihnen in ihrem kommunalpolitischen Handeln an-
einander gebunden, so traten sie in ihrer Vereinigung mit
einer Autorität auf, die der einzelnen fehlen mußte, einer
Autorität, der gegenüber selbst die römische Regierung im
71, 8] Beitrage '/.vn Geschichte des Akeopags. 31
Einzelfalle sehr wohl Bedenken tragen mochte, mit dem
rauhen Griff des souveränen Bestimmungsrechtes das Selbst-
bestimmungsreeht der civitas libera et foederata Athen bei-
seite zu schieben. Jene Isolierung konnte zudem Zwie-
spältigkeiten entstehen und zutage treten lassen, und sie gaben
der römischen Regierung freie Hand, sich auf die eine oder
die andere Seite zu schlagen. Diese Auffassung bedeutet kein
Hineinklügelu in die vorliegenden Tatsachen. Der Grad der
Größe einer Ehrung hängt von der Höhe der Autorität ab,
die sie erteilt; als höchste Autorität aber wird nach alter demo-
kratischer Auffassung die Gesamtheit der Gemeinde gelten,
wie sie sich in Rat und Ekklesie darstellte. Daher die Wen-
dung y) Ttöug övvTiccöa xhv iavrrig evegystriv xei}uo6a avBGtri-
öev (IG. HI 709; Mitte des 3. Jahrh). Noch höher mußte
in der oligarchischen Verfassung der römischen Periode
natürlich eine Ehrung gelten, an der sich auch der Areopag
beteiligte: 1^ it, 'Jqsöov nüyov ßovli] xal i] ßovh) täv % (^)
/.u\ 0 drj.aos"*') oder in ungewöhnlicher, aber für uns, wie sich
noch zeigen wird, lehrreicher Formel: 86y^axi xov öe^voxd-
rov (jin^aÖQiov (d, i. Areopag) x«t xijg TioXscog (ivv7id6)]g
(Id. m 687«).
Hiernach ist zu bemessen, was die Ehrung des jungen
Lamprias unserer Inschrift in den Augen seiner Eltern und
der Mitwelt bedeuten sollte. Eine Steigerung war in ganz außer-
ordentlichen Fällen gelegentlich möglich, wie das Präskript
für den Beschluß über die Beglückwünschung der Ernennung
des Geta zum Mitregenten seines Vaters Septimius Severus und
seines Bruders Caracalla lehrt (IG. HI 10 = ed. min. 1077;
etwa 209): diese Steigerung ist aber nicht durch eine weitere
beschlußfasseude Autorität erzielt worden — denn mehr als
drei Körperschaften waren nicht vorhanden — , sondern nur
durch eine Verstärkung der Autorität der beantragenden
Faktoren und durch ein exzeptionelles Verfahren für die Be-
schlußfassung. Jene Verstärkung bestand darin, daß die
35) [IG. III 578: 604; 807: 808. 678; 768; 901; 907; weitere
Stellen bei Laufklu II 861.]
3-' Bkuno Ki;ii.: I71, ^^^
beiden ßorlui sicli zu tleni botreffeiulen Vorschlair veieinicrten:
dv^yvcööi^t) yvcöin, nov örn'fdgtiov z. 7; die BesehlußlassuiiiTj fand
in einer Gesaiiitversaninilunjif der Iväte und des Volkes statt;
diese Versanunlunp;, deren Protokoll dem der gewöhnlichen
Ekklesie entspricht, heißt ßovX)} (z. 5 ßovh) awrlx^Vt ^^^
Tor^' siHcyyfh'oii^). Dies hat Swohoda (Die «];riechischen Volks-
beschlüsse) S. 191 f. zutreti'end gegenüber Nkuuaukr (Athe-
niensiuni reipublioae quaenam Romanorum temporibus fuerit
coudicio, Halle 1882) festgestellt; nicht zutreti'end ist dagegen
seine Bezeichnung TTQoßovlsviia für die yvo)^r] tö)v dvveögicav,
denn der Areopag kann verfassungsmäßig ein solches gar
nicht fassen. Womit sie vor das Volk treten, ist eben ihie
yvco^u], die zu Kecht bestehen wird, ob nun die Ekklesie sie sich
zu eigen macht oder nicht. Aber es kommt darauf an, völlige
Einigkeit aller Faktoren nach Rom berichten zu können.
Daher jene außergewölmliche Versanimlung, daher auch die
Erwähnung der drei höchsten Beamten des ercorw^og^ öxqu-
rijybg s^l rä onka und y.iiQr''t. xov /iQsioTcdyov im Eingänge
der Vorlage. Diese Erwähnung ist völlig singulär und wider-
spricht der Verfassung, weil die aufgeführten Beamten unter
dem Gesamtbegriff aQ^ovrig zusammengefaßt werden, als ob
es in der Organisation des athenischen Kommuualverbandes
eine öwagy/a wie anderswo gäbe. Gemeinsame Sitzungen
von Körperschaften, die sonst nicht zusammen tagen — alt-
griechisch würde man sie etwa avlXoyog genannt haben —
sind in der Kaiserzeit, wo die ycQox^öCai, neben den ßovkai
wieder zur Geltung kamen, vielleicht häufiger vorgenommen
worden. Wenigstens liefert die (S. 17) herangezogene In-
schrift aus Priene ein sicheres Zeugnis: dfjfiog, ßovXij und
ysQovöCa tagen iv xoLva {övvrjid^i] ßovAyj)-^ die gefaßten
Beschlüsse werden entweder nur protokoUieit im Amtstage-
buch dt v7ro^v)]UKtov oder zu offiziellen Beschlüssen, öiä
i^r^(pL6iio:x(o\> erhoben. Es kann keine Fi-age sein, daß die
vzioiiviiauxa Bekundungen der ßovXai sind, iptjcpLöaaxo: Be-
schlüsse, für die ein TTQoßovXsxHici der ßov?.rj an den ^rjuo^,
wofür hier .ToAig gesagt ist, eingebracht war. Das an sich
7T,8J UkitkÄgk 7.vn Gkschichtk dks Areopags. 3,5
völlig rechtskräftige v:i6uvrj^o: der ßovlij konnte natürlich
auch als :X()oßov?.EV}iu fungieren, wenn die ßovhj Wert auf
die Zustimmung des dil^iu^ legte. So ergab sich neben dem
V7c6av)]na ein 4.n\cpLöiLa\ der schließliche Endbeschluü beruhte
dann formal auf diesen beiden Willensakten zugleich. Die
Analogie zu der athenischen Gesamtsitzung der Körperschaften
ist also eine vollständige. Die beiden Räte treten mit ihrer
yvä^u], die ohne weiteres Rechtskraft besessen hätte, hervor,
und diese yvco^r, fungiert wie im TtQoßoidsvfxa, ohne daß .sie
ein solches von selten des Areopags sein konnte oder von
Seiten des Rates zu sein brauchte. Dabei ist es natürlich
gleichgültig, ob die yviöiiij formal ein vnoavr^iii'.XLöaöq oder
ein öoy^a war: die allgemeine Bezeichnung verschleiert die
Art der Willeusbeurkunduug. Der Name ßov}.ey.xh]öi(a. den
solche Plenarsitzungen tragen, wird nun durch die athenische
Analogie klar: es sind Zusammenberufungen der ßovkal und
6xxlr]6icc^ denn die ye^ovGia ist, wie die adjektivische Bildung
ihres Namens besagt, eine ßovhj.
Wie die Miterwähnung der Beamten und die Berufung
der Plenarsitzung einzigartige Erscheinungon in unserer Über-
lieferung sind, so auch endlich die Sanktionsformel (Z. 26 f.
öedöxifcci' tri ^^ '^^QsCov Tcdyov ßovlfj xal tfj ßovlTj xCiv <f
xcd XG) öij^or, sie täuschten ein verfassungsmäßig bedingtes
Zusammenwirken des Areopags mit den beiden anderen
Körperschaften vor, das nicht bestand, auch nicht bestehen
konnte, wie sich weiterhin noch klar hei-ausstellen wird.
Trotz so großer formaler wie sachlicher Abweichungen von
der alten Ordnung der V^äter haben die V^erfasser des Akten-
stückes üewacrt, den Eincrano" mit den Worten zu schließen:
yvtöiDiV äjiocpaCvovGLv xaxa. xä :TuxQiu. Das ist ein Schwindel,
der dem gleichen Zwecke diente, wie jene anderen Unregel-
mäßigkeiten, dem Beschlüsse größtmögliche Autorität in den
Augen der Kaiser zu oeben.
Ich habe diese athenische Urkunde hier ausführlicher
besprochen, um zu zeigen, welch ungewöhnlicher Maßregeln
es auch für eine öffentliche Sache bedurfte, um eine Autorität
Phil.-hist. Klasse 1919. Bd. LXXI. S. 3
34 Hkind Ki:il: fyi, 8
zu !<cliaffon, die ilbiT die ln!unisf>;iii<4\ \vt»lt'lio i'iir l'rivat
angelpi^eiiluMton die höchste hleibcn mußte, näuilich die iihiM--
einstiinniondo Erkoinitnis vom Areopag und den beiden denu>-
kratisclion Körj)ers(dmi't(Mi. Es iVaot sich nun, wie l)ei der
vorher dargeh><^t<Mi Isolierun«;- der drei KörjjcrscharU'u einn
solche Übereinstimmung herbciiroffihri werden konnte. l<'ür
die zwischen Rat und Volk war der alte Weg über das .-r^x)-
ßovXfvua immer gegeben: wie aber gelangte man zu der
zwischen Areopag und diesen beiden Versanimlungen, wofür
doch keine verbindende (Jeschäftsonlnung von alters her über-
kommen war? Es gab zwei Wege. Den einen lernen wir
aus den Lainpriasurkuiulen erst kennen, von (h'.m anderen
reden die Inschriften seit langem, doch ist ihre Si)rache, wie
ich glaube, bisher nicht wirklich verstanden worden. Den
Antrag auf die Ehrung des jungen Lamprias stellt in der j
Ekklesie dieselbe Person wie im Areopag: TeiaoO^^tvi^i; |
KtcXkiGrouüyov AvatpkvOxio^. Er trägt keinen Amtstitel.
Folgt hieraus einerseits für die Ekklesie, daß Dittenueroeus
Aufstellung^"), in nmiischer Zeit habe nur der GxQaTyiyo^ ijil
XU ÖTiXu allein oder in Gemeinschaft mit anderen Beamten
das ins ageudi cum populo gehabt, wenigstens in dieser Form
nicht haltbar ist, so erhebt sich andererseits für den Areopag
die Frage nach dem Antragsrecht im Areopag. Es scheint
ausgeschlossen, daß dieses Recht in einer Körperschaft so
reservierter Stellung, wie sie der Areopag genoß, andern als
Mitgliedern der Körperschaft selbst zugestanden habe; selbst
der axQarrjyo^ dürfte es nicht besessen haben, wie sich aus
der weiterhin zu erörternden gegenseitigen Stellung von
Ekklesie und Areopag ergeben wird.
Es ist hier noch nicht der Ort, über die Zusammensetzung
des Areopags in römischer Zeit zu sprechen, so viel aber wird
ohne weiteres zugegeben, daß die Areopagiten den ersten Fami-
lien der Gemeinde entstammten. Dies trifft für den Antragsteller
36) [Hermes 12 S. ijff ; Swoboda (a. a. 0. S. 190) diesem zustim-
mend. IG. III 44 ist unklar, so daß sich keine Schlüsse daraus ziehen
lassen.]
7I,8J BeITHÄOK ZUlt (i B.SCHICHTE DES ArEOPAOS. 35
T€iy.oöfyevi]g KuXhGTouüiov \4v(i(fXv6Tiog zu. Schon /.u Ende
des 2. und Anfang des i. Jahrb. v. Chr. werden Mitglieder
dieser Familie als no^TCoötöloi für Dolos von dem Priester
des Zeus Polieus und Soter sowie der Athena Soteira be-
rufen: ViiQoöTQCixog KalkiöToaä^ov ''Ava(pXv6xiog und sein
jüngerer Bruder KakXiöxonaiog KalXidroyittyov ^-^vacplv-
öTLog^^), als ein gleichnamiger Vorfahr des mit in die Kondolenz-
deputation gewählten Bruders des Antragstellers. Das Urteil
über die soziale Stellung der Familie des Timosthenes ist
um so sicherer, als diese zweifellos in verwandtschaftlichem
Verhältnis zu der Familie des Lamprias stand; denn dessen
Schwester hieß Tfiiioa^svi's (s. S. 4). Die Brüder Timo-
sthenes und Kallistomachos stellen eben den athenischen
Zweig des großen über Sparta, Argos ijnd Epidauros ver-
breiteten Geschlechtes dar. Deshalb bemüht sich der erstere
um die Ehrung des jungen Verwandten bei der Ekklesie und
im Areopag; zugleich tindet die Abordnung der beiden Brüder
als Deputierte aus der Geschlechtsverwandtschaft ihre natür-
lichste Erklärung. Die Herkunft des Timosthenes steht also
im besten Einklänge mit der Annahme, daß Timosthenes dem
Areopag angehörte und deswegen in diesem als Antragsteller
auftreten konnte. Wenn er nun in gleicher Eigenschaft vor
die Ekklesie treten durfte, andererseits aber das ins agendi
cum populo nach den bisher bekannten Zeugnissen nur dem
6TQ(cr7]yös allein oder im Verein mit den anderen Beamten
zustand, so folgt, daß auch die Areopagiteu das Hecht des
Antragsteilens beim Volke besaßen. Diese Kechtserstreckung
auf die Mitglieder gerade des Areopags kann nur natürlich
erscheinen, weil sie rechtlicher Konsequenz nicht entbehrt.
Der Areopag setzte sich aus früheren Beamten höchster Rang-
ordnung — ich spreche absichtlich so allgemein — zusammen,
die einst das ius agendi gehabt hatten. Das wurde ihnen, wenn
sie zur Aufnahme in den Areopag gelangten, belassen. Die
überragende Stellung der Körperschaft macht diese Bevor-
37) [ß. C. H. 26, 519 und 543. Si'NDWAi.r., Nachträge S. 44 und 107.]
36 Ukuno Kkii.: [/'. ^
rPfhtnn^ iluer Mit^licdor unmittelhar bej^reiflich. Dieses
Kocht eiößiiote also einen We<j;, auf dem wenigstens ein
paralleles und gleich^eiichietos Ilandoln von Aieopa}^ unvl
Ekkk'sie oder Bule zustand«' konunon konnte, unrichti<v wäro
es, von <j[oiueinsauieni Handeln der KöipeiBclmt'ten /u sprechen.
Denn ein solclies Zusainnieuj^ehen war kein organisches Zu-
samnienhaiuleln, beruhte nicht auf einer /weiseiti«»" bindenden
Geschäftsordnung, sondern war nur durcli das Medium einer
rechtlich besonders beeioenschafteten Persönliciikeit eiraöglicht.
Die Gescliäftskreise einerseits des Areopa^'S und andererseits
der Ekklesie mit der Bule berührten sich nicht. Das wird
besonders klar, wenn man sich vergegen wärt igt, daß das Zu-
sammengehen der Körperschaften keineswegs wie im Falle
des Lamprias an die Identität der Antragsteller im Areopag
und in der Ekklesie gebunden war; es ließ sich auch da-
durch erreichen, daß nach persönlicher Übereinkunft zwischen
einem Areopagiten und dem orQaTtjybi^ ml rcc o%Xa oder
einem anderen mit dem ius agendi ausgestatteten Beamten
je in der betreffenden K(")rperschaft gleichlautende Anträge
gestellt wurden. Dieser Fall läßt sich aus unserem spärlichen
Beobachtungsmaterial nicht belegen, aber es liegt in der
Natur der Dinge, daß er einstige Wirklichkeit in Betracht
zieht. Auch hier beruht das Zusammengehen der Körper-
schaften nur auf persönlichen Beziehungen, nicht auf rechtlich
geordneter Haudlung.sgemeinschaft. In allen Fällen also, in
denen die Formel )/ kt, \4q6Cov näyov ßovXi) xal 1) ßovXri xcov
X (^) aal Tov dri^ov erscheint, liegt die Beurkundung min-
destens zweier und zwar getrennt zustande gekommener
Willensakte vor: das der areopagitischen Bule in der Form
des döyiia oder des vnouvri^ariß^og und das von Bat und
Volk in der Form des tyq:i6(^ia.
Das gleiche muß von der dritten Form einer Willens-
äußerung der Körperschaften, von dem en:aQ(öri]iia, gelten,
auch da, wo die Beurkundung einen einheitlichen Akt der
Körperschaften anzuzeigen scheint. Doch der Begriff des
ma^iorrina selbst verlaugt erst eine Erklärung, da icli ihn
71, 8J Bkiträgk zur Geschichte des Arkopags. 37
nirifends wirklich erläutert oder gar rechtlich definiert finde;
in einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit des Terminus
dürfte aber der Grund dieses Schweigens nicht zu suchen
sein. Ich muß also die voi-kommenden Formeln und Ver-
bindungen vorlegen. Die bloßen Zahlen gehen auf IG. III,
dessen Indices unvollständig sind. Den Wechsel zwischen
xuru TÖ und xkt' £'-T£^07T);,u« — der Terminus kommt nur in
dieser ])räpositionulen Verbindung vor — notiere ich nicht;
er ist ebenso sleichg-ültio- wie der zwischen xard töv und
xad-' vnou i> t/UKTLöaov .
1. ejTSQvnrjUcc tT/c tt, 'Aq^lov Ttcr/ov ßoi'?S]g 731 (neue
Lesung Eph. arch. 1894, 185). 908. 920. 924. 964. 965.
965 a — c. — T(ov 'öeavordtcav '^QeoTtayitav Eph. arch.
1885, 145-
2. LrsQätijUtt r))'^ ßov/Sjg tlov (p 607. 780b.
3. insQcÖTTjfiu tC)1' (<?£/< j'OTßTojv) 6vve8qicov (d. i. Areopag
und Bule)^**) 747. 693.
4. bitCQ^rri^iCi TT]g ^^ 'AqeCov -t. p'. -/mI T>/g ßox}?Sjg räv
if, y.cd Tov dyjfiov (rov 'A^-iivaCcov) 67g. 716.
5. '/.a\xä rbv vjio[^n]^ci]ti6ubv '^[ p£o:ra^]f iT(t-j)v x[(d
Tu i:x£QC}]ryiua rf/g [/^otJ-liJ?] twv [. . . | 832 a.
Keiner der einigermaßen datierbareu Belege ist älter als
die hadrianische Zeit, und sie bilden die Mehrzahl; keiner
der undatierten (832a. 920. 924. 965a — c) Fetzen widerstrebt
der Einreihuno- in die Zeit von Hadrian bis in die Zeit des
Herennius Dexippo?^, in welche der jüngste der datierten
Texte (716) fallt. Sämtliche Belege beziehen sich, soweit
die Überlieferung es erkennen läßt, auf Ehrungen, und
zwar auf solche ausschließlich von athenischen Gemeinde-
angehörigen.
Der Terminus eTtEQcoräv ist inschriftlich seit der ersten
Hälfte des 4. Jahrh. v. Chr. bezeugt. Das älteste Bei^pieP^)
38) [So auch 767 nach DirrENBERaKK; allein es ist auch xar« [ro
frrfptö]TTju[a räv 6siivoTa]T(o[v 'AQSonayirwv möglich. 1
39) [Favrk, Thesaurus verborum quae in titulis ionicis leguntur,
Ht'idelberg 1914, p. 160 führt aus Thasos S. G. D. I. 5464, f2: 13 an,
38 HiuiNO K'ku,: (71,8
stammt aus Amorgos (Arkeaiiu': Ki. Xll 7, .5, 23 == Dittkn-
UKH(ii:K, Syll. ■ 51 1) ^iridl jiQVTa\i'iii ^JCiii'tjfpiXeTco [.«»/dt -too-
TtO-fc'rci) TC)t d\}j^i(o nr^dl f;rf()a)|T«TO) ''*'), wo/ii sicli aus dem
j. .lahili. aus oincm von A. VViiJiKLAi vorütlciitlicliteii He-
scliluBse der attischen 7fT(«c;TcUftg (^Eplioin. arch. 1005,229,8)
0T£ i-i7t[u^ xid\ LreQO)T>ja[c(i; xaJ irci^nicpiaa^ stellt. Der
g-leichen Zt-it gehört ein Dekret aus lasos au mit dem Ein-
gang: :rQVT('<.vf(<iv yvcou),' JtfQl lov f7i)]Xd^oi' of v&iojtolai i-:t€qo)-
rCötneg Tiiö^ dtl x((\ n^öri- tö fxy.h](iia6Tr/ov Öidövai. (MicHKii,
Rec. 4Ö6). Gleichaltrig dürfte sein das Fsephisnia aus Sanio-
thrake mit dem belehrenden Passus: ()!Ö6i\yai räi d)\ubii
Toi's imarccrug SjteQontiöccL tijv kxxXijOCav xarä rbv vouov ei
doxsi öovi'ut nokiTtCtcu Tltola^KdojL^^) xal iav do|j/t, 6vv-
rsXe'ßca xal rriv ipy,(poq)OQC(cv ev tT, xf<;a>iyXoi;o'»^t hxxkridCui
x,al i.(cv a7rni'}](piöd-i] tirccL avxovg TtoXlxaq (IG. XIT, 8, 158).
Ich kauu mir zufällig notierte Belege für diesen in hellonisti
seilen Inschriften mehrfach begegnenden Terminus bringen,
aber sie geniigen, um erkennen zu lassen, daß tTttQioTC.v '^eine
amtliche oder formelle Anfrage stellen' bedeutet, und /.war
ergeht die Anfrage, um eine Antwort zw erzielen, die die
TJbernahme einer rechtlichen Verbindlichkeit seitens des Ant-
wortenden enthält. Beamte richten die Anfrage an eine staat-
liche Körperschaft, deren Antwort Recht schafft. So die
technische Bedeutung des Wortes nach den Inschriften, die
nur für die Sprache des öffentlichen Rechts zeugen. In der
literarischen Überlieferung erscheint das Kompositum vielfach
im Wechsel mit dem Simplex sqc3T(':v, aber auch sie läßt er-
kennen, daß IzaQinca' neben der Bedeutung des einfachen,
■welches suiist vielleicht das älteste iuschriitliche Beispiel wäre. In
dem 1909 erschienenen Heft IG. XII 8, 267 lauten jedoch die Stelleu
\ir(ti iiTtüv {ii'jT i7tL-[X9'sT]v . . . jUyV iniil!)]cpt6ai und iiTtrii 7) ^n:f-'iO'jjj 1/
40) [infQonÜTO) ergänzte Szanto, Athen. Mitt. XVI, 1891, 37, i
(= Ausgewühlte Abhdl. S. 169, Anm. 2).]
41) [Dem Ptolemaeus war vorher die Proxenie verliehen worden
IG. XII 8, 157.J
71,8] Beitrage zur Geschichte des Akeopags. 39
nachträglichen, wiederholten Fragens besonders auch die der
formellen und solennen Anfrage besitzt, die als solche dadurch
charakterisiert ist, daß sie eine sachlich entscheidende oder
für den Frager bedeutsame Antwort erheischt, sei es daß sie
von einer autoritativen Stelle oder an eine solche gestellt wird.
Die letztere Eventualität gilt von der Befragung von Orakel-
gottheiten; daher tTtEQCorüv der solenne Ausdruck für diese
Art von Anfragen sowohl in der Literatur wie auf Inschriften,
in denen allerdings das Simplex auch nicht fehlt. Für
sntQcoxdv als Terminus der Fragestellung seitens einer
Autorität liegt eine Reihe von Zeugnissen vor. Weil die
Frage des Keryx in der Volksversammlung eine amtliche ist.
sagt Aischines (I 23) tTteQcotCa 6 xfjQx^^. Demostheues drückt
sich in der Kranzrede (XYllI 170) mit tjQiorcc ö xfiQv^
weniger formell aus, gerade wie er in der Rede gegen Androtion
(XXII 9) von den Prytauen und dem Epistates der Volks-
versammlung i]QG)rcov sagt, unmittelbar darauf jedoch, gleich-
sam sich korrigierend, von ein und derselben Fragestellung
derselben Beamten ovÖ' fTtfQOJväv ^QOöijxev. Soviel ich fest-
stellen kann, kommt cnrfpcjTijjia in attischer Prosa nur bei
Thukydides in der Verhandlung über das Schicksal von Plataiai
vor. Die Spartaner in der Rolle der verhörenden Richter
stellen die formelle Frage, an deren Beantwortung das
Schicksal der Platäer hängt, und diese wird zweimal mit
i7CBQ(öry]nu (III 53, 2; 68, 1), einmal mit SQiorrj^a (UI 6oj
bezeichnet, dem ein rjQatav (III 52, 4) entspricht. Wo im
Plutos des Aristophanes der Jixcciog wie ein Richter das
Verhör des Sykophanten beginnt, sagt er (902) xul ^n)v
87ceQoott}'d-£L^ aTtöiiQcvut ^lOi. Der Bericht des Aristoteles,
(rp. Ath. 55, 3 ) über die Dokimasie der athenischen Archonten
beginnt i:i£Q(oxCi6iv ö\ otav doxi{iäL,o}6iv'^'), und das Schlag-
wort ejreQcotä kehrt sogleich (§ 4) in der formellen Bedeu-
tung wieder. Nach athenischem Gesetze wird von dem in-
'o
42) [Bezeichend, daß iTTtgonav von Pollux VIII 85 gewahrt ist,
im Lex. Cant. das einfache igioT&v erscheint s. Test. ed. Academ.
ed. Kbxvox.j
4Ö liiirNo Ki;ii,: [7', ^
stniieroiideu Kichter, dem ß«oi/.f-vg, i'iir d'\o Zula8sun«r zur
ADkla«^eerhebung auf Moni bei der Abnalinu' des I'arteieides
das fTTeQojTciv ri 7i^o(Jy^x(oi' /-»Jr;' tjefordert (| Deinosth. | XliVII
72). So liegt durcliaus alter Sj)raeligebraiu'li vor, wenn das
von dem löniiscben Beamten und dem Oberpriester mit
(/hristus vorgenommene Verliör in de)i Berichten als fTCfQOitC.v
bezeichnet Avird (Mt. 27, ii; Mc. 14, 60. 61; vgl. AG. 5, 27).
'H:Ti-Q(orüv hat also die Sonderbedeiitun<j; dei" Stelluii<r einer
Frage, aus der sieh reehtliehe Konsequenzen ergeben.
Auch diese literarischen Zeugnisse /eigen de)i Terminus
nur im öfleutlichen Recht verwendet; für sein Vorkommen auf
dem Gebiete des zivilen Rechtes finde ich in vorrömischer Zeit
keine sichere Spur. Das ist kein Zufall. Auf dem Gebiete
dieses Rechtes hat die formelle Frage mit rechtlich bindender
Antwort ihre eigentliche Stätte da, wo das Obligationsrecht
die verborum ol)ligationes mit ihren verba solemnia, die
stipulatio, kennt. Diese war abei-, wie seit Gneist bekannt
ist, dem griechischen Obligationsrechte fremd-, das Fehlen
von Belegen für ijTFocoTiiV in ziviler Kechtssphäre beruht also
auf einer organischen Eigentümlichkeit des griechischen
Rechtes überhau])t. Das wurde anders, als zur Kaiserzeit
die römische stipulatio im hellenistischen Osten Aufnahme
fand. Seit dem 2. Jahrh. n. Chr. weisen die ägyptisch-
griechischen Papyri nicht nur in wirklichen obligatorischen
Verträgen, sondern auch in anderen zivilen Rechtsdokumenten
die Formel i:rfQ(OTr]&£ig Gvvco^iOAÖyriöa u. a. auf*^) als Wieder-
gabe des römischen inten-ogatus (stipulanti) spopondi. ^EneQotav
ist jetzt auf dem Gebiete des zivilen Rechtes in seiner tech-
nischen Bedeutung ebenso richtig verwendet, wie früher auf
dem des öffentlichen Rechtes; denn die Frage der einen
Partei und die entsprechende Antwort der anderen erzeugt
ein neues rechtliches Verhältnis. Die Übernahme dieses
Verbs in das zivile Recht hat schließlich die von ihm ab-
geleiteten Substantive e7ca()ioxi]6ig und t:ttQibxi]aa noch eine
43) [Belege bei Gkadknwitz, P'infiihruno' in die Papyruskunde
S- 137-]
71, Sj Hkiträge züu Gkschioute dks Aueüpags. 41
aligeraeine Bedeutung gewinnen lassen. Aus der älteren
griechischen Kechtssprache war bei dem Fehlen der Institution
der stipulatio die bei ihrer Herübernahme nötige Benennung
nicht zu entnehmen; o^okoyia hatte einerseits einen zu
weiten Begriff, andererseits fehlte ihm das ursprünglich
sakrale d. h. gerade das bindende Element der sponsio. Nicht
von der die Verpflichtung angelobenden Antwort, dem (Jrr'o/to-
?.oyeh', also nahm man die Benennung für das neue Recht,
sondern von den die Verpflichtungsformel hervorrufenden
Fragen; denn ixegaräv, t:TcQi>')r},6i,g und enegarr^u« werden
die Übersetzung von stipulatio.'^)
Ich kehre zu dem i-nsQiori]^a r)]g bt, \-Jqhov ■xäyov
ßovXT]^ oder rf/j ßovXviS; t&v qp zurück. Die Bedeutung
stipulatio ist natürlich ausgeschlossen, ferner sprachlich wie
saclilich o'leich unmöglich die Deutuuo^ auf Anfrage "^an' den
Rat; also besagt jene Formel, daß die betretiiende Körper-
schaft eine amtliche Anfrage an eine Pi-ivatperson stellte, um
dieser eine Verpflichtung aufzuerlegen. Daß sich diese Ver-
pflichtung auf die Übernahme der Kosten der Ehrung eines
verdienten Menschen erstreckte, folgt aus der schon hervor-
o-ehobenen Beschränkung der Formel auf das Gebiet der
Ehrenbezeugungen. Der tatsächliche Vorgang, der bei den
f3rfp«r);af<:- Urkunden vorliegt, ist hiernach leicht vorzustellen,
wenn man sich gegenwärtig hält, daß die geldarmen Staaten
die Aufzeichnung der Ehren beschlüsse auf Stein ebenso wie
die Errichtung von zuerkannten Statuen fast durchgehends
der privaten OpferwiUigkeit der nächstbeteiligten Kreise über-
ließen. Von Areopag oder Rat wird anerkannt, daß eine
Persönlichkeit öffentliche Ehrung verdient; sie wollen den
Staat in keiner Weise belasten, halten die Persönlichkeit
auch nicht für so bedeutend, daß sie zum Hypomnema oder
Dogma hinaufgehen wollen; so richten sie an Verwandte oder
Freunde die Anfrage von Amts wegen, ob diese die Aus-
führung der Ehrung übernehmen wollen. Bejahende Antwort,
44) [Belege bei Du Cangk, Glossarium mediae et infimae Grae-
citatis 8. v]
i
^2 lliu'No Kk.ii,: [71. ^
deren luaji sii'li vorhor vor^ewissert haben wird, imirlite aus
der freiwillig übernonnm'ueii Leistunjj; eine rechtliehe Ver-
pHichtuuL!;- So der äußere Voroiuig. Die rechtiiclu'u Ver-
hältnisse sind diese. Die Anfrage setzt einen diese begrün-
denden Heschluß der betretfemlen Körj)erselmft voraus; also
stellt «las f:Tfnior),U(i eine vom r.To/u'fiiiiarjü'udc,', ööyfia und
i'il(pia}xci unterschiedene Art der Körpersehattsbcschlüsse dar.
Das ijTSQiÖTyj^r. tritft keine Verordnung, daß etwas zu ge-
scludien hat, sondern veranlaßt, daß etwas geschieht, indem
es die freiwillige Übernahme einer bindenden Verpflichtung
zu einem Handeln im Sinne der Aufrage hervorruft. Als er-
läuternde Bestätigung dieser Auflassung ersclieint nun die
Tatsache, daß der f,Tf<>f6T)/U«-Beschluß der Ehrung nur von
athenischen Bürgern gilt (o. S. 37); natürlich: eine athenische
Körporschuft konnte zur Ehrung eines Nichtatheners nicht
wohl unter der Bedingung auffordern, daß dem Staat keine
Kosten dabei erwuchsen. So gut nun, wie jene höheren
Arten von Beschlüssen von den einzelnen Körperschaften
in völlio-er Unabhängigkeit voneinander teils gefaßt, werden
konnten, teils gefaßt werden mußten, so auch der iTcegonriua-
Beschluß. Daher die Formel i und 2 (o. S. 37); ebenso lag
die Möglichkeit vor, daß von zwei Seiten gleichzeitig ein
sntQtoTriiiu i)eschlossen wurde; das beweisen die Formeln
3 und 4, die eben geradesowenig auf ein organisches
Kooperieren der beiden Räte oder gar des Areopags mit Uut
und Volk für das i:T£Qibzriiia auszudeuten sind, wie das bei
den anderen Beschlußarten angängig war. Die Selbständigkeit
der einzelnen Beschlüsse tritt besonders in dem Fall 5 hervoi-,
wo der Rat sich mit dem insQÖjrrnia begnügte, während der
Areopag zum Hypomnematismos hinaufgriff.
Ehe ich dazu übergehe, das hier erörtei-te Verhältnis
der athenischen Körperschalteu zueinander auch aus dem
gleichzeitigen Beamtentum zu beleuchten, muß ich die in
meinen letzten Worten ausgedrückte Graduierung der Be-
schlußformen kurz rechtfertigen; es lällt damit auch ein
Seiteulicht auf unsere Lampriasinschrift.
\
7 1,8] Bkituäge zur Gkschichtk dks Akeopaos. 43
Bei deru doy^ia, i'>j(pi6ua, vjTonvijfiatiöuög, ineQbnvi^ia lag*
wenigstens formell die Initiative zu einer Ehrung bei einer
der staatlichen Autoritäten; auf rein privater Seite liegt sie
in den Fälleu, wo die Formel cdriiöä^ievog (o. ä.) Tta^a r/js' f'l
'AqsCov Tcäyov ßov?.i)g oder TtaQüc r))g ßovlr^g rCov cf auftritt. Von
dieser Seite erfolgende Errichtungen von Bildsäulen an öffent-
lichen Stellen — denn dieser Standort ist die Voraussetzuno-
in allen jenen Fällen — unterlagen naturgemäß der Genehmi-
gung der zuständigen Behörden; als solche erscheinen beide
Uäte, und zwar jeder für sich: also hat jeder für seinen Ver-
waltungsbereich entschieden. Eine Abgrenzung dieser Bereiche
ist für uns nicht möglich, da nur zwei Beispiele einer Ein-
gabe an die ßovkri rCov (f (IG. III 822a. 836d) bis jetzt
gefunden zu sein scheinen. Nun ist der theoretisch voraus-
zusehende Fall, daß eine Behörde erst durch die Eingabe auf
die Notwendigkeit oder die Berechtigung einer Ehren-
bezeugung aufmerksam gemacht wird, tatsächlich eingetreten;
da eignet sie sich das Gesuch als Antrag an und faßt ihrerseits
einen positiven Beschluß. So ist IG. III 704 zu verstehen:
döyauTi \4QsoitayvxGiv airriöafidi'ox^ tov a:icovv^ov i'.Qx^vxog
xrX.; daß hierbei die hohe amtliche Stellung des Gesuch-
stellers keine Rolle spielt, beweist der auf den ersten Blick
widerspruchsvolle Tenor von 697, xarcc tö ijtsfjcotij^uu tfig
ßov/Sfg tüv (f — aiT)j<5a^8vov tov (pCkov Avq. AlovvöCov
OahjQtoig y.xl. Dionysios hat die Erlaubnis zur Aufstellung
der Statue seines Freundes nachgesucht; der Rat erteilt nicht
einfach diese Erlaubnis, sondern sanktioniert durch einen
f'nrf^okj^aa-Beschluß. Dieser Beschluß ist so eiiie reine Form-
sache, aber er hob die Errichtung der Bildsäule doch über
die Stufe der reinen privaten Ehrung, auf der sie bei
schlichter Erlaubniserteilung verblieben wäre; natürlich steht
als Ehrung diese Sanktionierung durch das sTCSQcorrj^a in noch
viel stärkerem Grade unter der Erhebuno- eines Gesuchs zum
doy^a des Areopags als die einfache Genehmigung unter
dem £7t£Q(orrjfia.
Ich habe vorher darauf hingewiesen, daß die Athener
D 7
i
44 MiMNo Kkil: [7^, 8
dieser Spiitzeit die Hedeutuug einer Khrun^^ /.u erlu'dicii
snchtt-n. indem sie m<)jj;liclist iUl»' staatlichen Autoritäten für
tiie Tereinten; hier halten \y\v dazu das KomphMnciit. Nicht
hloB an der Zahl der Autoritäten hinjjj der Wert eiiiei- Eiirung,
fast jihMche Bedeutnu«' muß der Form «'c/ollt worden sein,
in welcher die Autoritäten sich an der Ehrung heteilis^den.
Gab es eiuen rntcrsehied zwischen döy^ia untl v:Toui>i]u«rt6-
U(>t: des Areopags, und galt jenes, wie natürlich, mehr als
dieser, so hat der junge Lamprias, ffir den der Areopag nur
mit dem llypomnematismos neben das l'.sephisma trat, noch
nicht die höchste Khrung erfahren; das entspricht ja ganz
dem abdämpfenden Verhalten des Areopags in dieser Sache.
Aber es gab sehr viel mehr Unterstufen: Parallelbeschlüsse
der beiden Räte, Einzelbeschlüssc der Räte, Psephisma von
Kat und Volk. Die Aveiteren Abstufungen durch e7i{()iÖTrjfLu
und einfache currt^i^ kannte die Ordnung des i. Jahrh. noch
nicht. Wie das eTTSQtörijua erst seit Hadrian auftritt, so be-
gegnet die Formel mit ulrrioäuevog zuerst im 3. Jahre nach
der STtidr^aCa Hadriaus.^^) Zu den mannigfachen Veränderungen
in der Organisation und Verwaltung Athens, die dieser erste
Aufenthalt des Kaisers veranlaBte"'), gehört auch die Einfüh-
rung des f,T£p(.jT);|UK-Beschhisses und der uXrt]öig. Durch
Schaffung dieser Unterstufen sollten wohl die höheren Ehrun-
gen vor der Abnutzung geschützt werden, die Ijei dem eitel-
holilen Drängen dieser Generationen drohte; den gleichen
451 [d. h. 126/7 bzw. 127/8, je nachdem man das Jalir des ersten
Aufentlialtes mitrechuet oder nicht: denn die Datierung dieses Auf-
enthaltes ist nun entgegen der von Otto Tn. Scmi.z (Leben d. Kaisers
Hadrian 1904) S. 69 und Koksemanx (Kaiser Hadrian und der letzte
große Historiker von Rom 1905) S. 50 gebilligten An.setzung von Dlrb
Reisen des Kaisers Hadrian 1881) S. 42ff. auf 125/6 durch das vom
Aug. Sept. in Tibur ausgefertigte Sehreiben Hadrians bei Bourglet,
de rebus Delphicis, 1905, 82 3 auf 124 5 festgelegt, wie W. Wkbki!,
Untersuchungen zur Geschichte des Kaisers Hadrian S. 160 richtig
gegenüber Bolrguets Komin-omißkritik betont hat.]
46} [Ich verweise auf die Zusammenstellung von Webki: a. a. O.
161 — 178, ohne ihm in allem l^eizustimmen.]
71,8] Beitrage zur Geschichte des Areopaos. 45
Trieb suchte die Bindung privater Ehrungen auf ööentlicher
Stätte an obrigkeitliche Genehmigung iu ein engeres Bette
zu zwängen.
Wie im Beginne dieser Darlegung erwähnt wurde, hatten
die Römer trotz der Isolierung der drei Körperschaften doch
soviel des alten Greschäftsganges bestehen lassen, daß Rat und
Volk gemeinsam }i-)](pi6iio.Tu beschließen konnten. Es blieben
also die demokratischen Versammlungen gegenüber dem neu-
gestalteten, aristokratischen Areopag iu gewissem Sinne zu-
sammengeschlossen. Dieser steht neben jenen, geht keine Ver-
einiffuno; mit ihnen ein; die Kommunalverfassung des römi-
sehen Athens hat ein ausgesprochen dualistisches Gepräge.
Auch in der Organisation des Beamtentums tritt dies zutage.
Die Römer haben die bestehenden Amter, soweit sich ihre
Beibehaltung mit der veränderten politischen und wirtschaft-
lichen Lage der Stadt vernünftigerweise vereinigen ließ, nicht
angetastet, vieiraehr die ältesten Ämter gehoben; das ent-
sprach ihrer Politik, der Xeuordnung die Maske der :t(y.tQiog
Ttolirsiu vorzusetzen. So wird das Kollegium der 9 Archon-
ten mitsamt dem ^ifiQvh, des Archou und dem uvXriTr]g, die
beide schon von Aristoteles (rp, Ath. 62, 2) erwähnt werden,
beibehalten*'^), ja seine Autorität wird gegenüber seiner poli-
tischen Wichtigkeit unter der Demokratie dadurch gehoben,
daß das Amt des 'Agycov in die Reihe der höchsten Kommu-
nalämter aufrückte. Fast gleich mit ihm rangierte das des
ßa6ikavq.
Anders und doch auch ähnlich verfuhren die Römer mit
dem Strateoenkolleurium. Seine Zusammensetzung und die
Verteilung der Spezialressorts in der Zeit nach 307 kennen
wir nicht, nur so viel ergeben die Inschriften, daß die Ressort-
einteilung im Verlaufe der Zeit geschwankt hat, sowie daß
das Kollegium sich bis 94 v. Chr. aus mindestens 7 Mitgiie-
47) [Die Archontenverzeichnisse sind von Fimmkn f Athen. Mitt.
XXXIX, 1914, S. i3otf.) zusammengefaßt. Jüngstes Verzeichnis IG. III
1012 aus der Antoninerzeit. \'gl. jedoch S. 64 ff.]
4^ Bkuno Kkif,: I71, f<
(lern ztisainineustt/.to uinl luclirgliedrig auch noch in tlen
Jahren von 83 — 78 war. Als Obmann erscheint deutlich der
öT()((Ttfyos tnl T(( o.tA« (rovg oTiXi'tug)***) in den Jnschriften
seit c. 100 V. Chr.. als solcher tritt er anch darin hervor, dali
er aiiitlicli einfach n lirfycat^yöi^ genannt werden kann, wäii-
rend das Kollegium noch heeteht, allerdings ist er einiger-
maßen durch die Zusammenstellung mit dem x»/(>t'^ rrjg i^
AQfi'ov :T(<yov ßoi^Xijg charakterisiert.''") MaTi sieht die Zeit
nahen, wo das Kollegium eingegangen ist und der 6T()UTy]ybg
/>tJ tu ÖTrXtc als Einzelamt allein von ihm übrig geblieben
ist. Das ist der Zustand, den die ganze Kaiserzeit aufweist"").
Wann diese Veränderung eingetreten ist, läßt sich aus
unserem Beobachtuugsmaterial, soviel ich sehe, unmittelbar
weder entnehmen noch folgern. Der früheste, völlig unan-
fechtbare Beleg für das Einzelamt stammt aus der Zeit des
48) I Variante in) toh- orrAw}' Posidouius bei Atheu. \', 2130; vgl.
(hapot, La province liouaaine (1904) S. 242, wo eiu OTQUT)y/bs M t&v
OTtXcov für Smyrna belegt vird.]
49) [Es sind belegt oi atgaDy/oi durch IG. II 471 (== ed. minor
1006), 95 für 123 I, durch IG. II 470 (= loii), 19 für 107/5. Für 102/1
biß 95/4 bezeugt IG. II 985 den CTparrjyos inl tä 07rÄ.a, zwei tnl t6
vavrixbv, einen im tijv itttoacyisv^v rriv iv aazsi; dazu kommen für
95/94 drei üTgarriYol inl tov neigcciü, belegt durch IG. II 1207. Die
Mehrzahl ist auch noch für 83--78 (Archen Apollodoros; vgl. Kolbk,
Archonten S. i4'4) durch IG. 11 481 (= 1039), 51 bezeugt. Wenn in der-
selben Inschrift Zeile 63/64 neben dem x^pvl ti]g i^ 'Aqbiov iiäyov ßov-
Äjjc: TÖv arnciTTiyov im Singular erscheint, so ist dies kein Widerspruch,
wie NEt;BAUEn, Atheniensium ... condicio (1882) p. 43 tf. und Hauvette-
Besnaült, Les strateges Atheniens (1885) p. 175 mit Recht bemerken,
gegen dei-en Darlegungen Gii.heets Widerspruch (Griech. Staatsaltert.*
I 181, i) nicht in Betracht kommt.]
50) [DiTTENBKRQEK zur Sessclaufschrift GrQaTrjyov III 248. — Der
neben dem aTQaTr,ybg im tu onXa in der Prytanenurkunde III 1020
(Ende des i. Jahrh. n. Chr.) erwähnte argutiiyög ist ünterbeamter, wie
die Abfolge uvXrirrjc — n£Q'i to ßfjiicc — CTgarr^yog — XirovQybg inl
Tr]v Ekiüöu beweist. Er wird wohl so etwas wie Polizeibeamter ge-
wesen sein. Mau vergleiche damit den atQuxriybg iirl rfjg f/ß^vTjs, den
vv>iT06ToaTTiy6g bei Chapot a. a. 0. 242, oder den fftrparjjyos tov isoov in
Jerusalem (Briess, Wiener Studien XXXIV, 1912, 356).]
71,8] Beiträge zur Geschichte des Areopags. 47
Tiberius (IG. III 651), ist also von dem letzten Zeugnis für
ilas Kollegium aus den Jahren 83 — 78 durch das Intervall
eines ganzen Jahrhunderts geschieden. Für die Zeit nach
c. 80 V. Chr. bis zum Ende des Jahrhunderts sind nur 3 Ho-
plitenstrategen ^'), kein anderer Stratege belegt. Das Kollegium
hat also die sullanische Verfassungsreform nach der Erobe-
rung im Jahre 86 überlebt, bald darauf versagen die Zeug-
nisse für sein Bestehen.
Man wird hiernach annehmen dürfen, daß das Kollegium
mit der Ordnung Sullas, die es beibehalten hatte, gefallen ist,
also erst nach dem Jahre 78. Um einen schroffen Bruch
fiuch in diesem Punkte zu vermeiden, haben die Römer die
überkommene Institution zunächst beibehalten, sie auch über
zwei Generationen bestehen lassen, außerdem ihr die beson-
dere Stellung, die sie unter der Demokratie besaß, gewahrt,
ja diese noch gehoben. Das Strategenamt war seit der peri-
kleischen Zeit unbedingt das wichtigste politische Amt, weil
ihm das ins agendi cum populo ohne die Zwischeninstanz der
Bule zustand; nun erhält, wenn auch noch nicht sogleich, so
doch sicher im Beginne der Kaiserzeit, spätestens unter Clau-
dius der OTQaTViybs tnl rä oitka allein^-) die Initiative für alle
Anträge und Anliegen, die Rat oder Volk angehen, und nur
in den Areopagiten konnte er, wie gezeigt (S. 35), Konkur-
renten finden. In der offiziellen Beamtenreihenfolge gehört
ihm die erste Stelle vor den Archonten. Diese Ordnung be-
gegnet sofort in dem ältesten einschlägigen Zeugnis (102/1
V. Chr.: IG. II 985) und es liegt kein Grund vor, ihre Ent-
stehung erst in die Zeit dieser Bezeugung zu setzen; werden
doch auch bei der Führung der delphischen Pythiadentheorien
Archon und Stratege völlig paritätisch behandelt, ^^j Die
Stellung ist den Inschriften nach die ganze Kaiserzeit über
51) [Übersicht bei Suxdwall, r)fversigt af Finska Vetenskaps-
Societetens Förhandlingar L (1907 — 8) S. 10.]
52) [SwonoDA, Yolksbeschlüsse 192. Vgl. Strklow, Zapiski der
histor.-phil. Klasse Akad. Petersburg XLVIII, 1898, 304.]
53_) [Colin, Le culte d'Apollon Pythien 1905, 31 ff.; 9o).J
48 Bkuno Kkii.: |7 I. s
die «^(leiohe geblieben, wie denn uuch l'hilostratos an oft zi-
tierter Stelle bezeugt: diiccn()£:rt)i; dh xal tä :TohTixa yevöfte-
roij (^der Sophist iVpollonios von Athen) . . . h> rt keitovQ-
yiai^a, clg ufyCöra^ \-id^tji'atoi vo^iit.()vai, r»^/- ti- /'ttcoi/j'/jo?' xtn
T>)i' f-T< Tc'iv öttXo)!' f:ieTQi'cZi]/^*) Die (lesrhicklichkeit der
Röraei'. den Scliein {detätvoUer Sehonung altüberkoniuiener
Einrichtungen /u wahren unA diese doeh für ihre Zwecke
und den veränderten äuüereu Verliältnissen giMnäli umzugestal-
ten und zu verwerten, erfaßt man hier nicht weniger deut-
lich als l)ei der Reorganisation des Areopags. Die Zusammen-
ziehuiiiT der Kollegiums auf das Einzolamt ließ sich den
Athenern gegenüber unmittelbar durch den Hinweis auf die
zusammengeschrumpfte Verwaltung und die zurückgegangene
wirtschaftliche Lage der Kommunalstadt rechtfertigen. Die
Ausstattung dieses Amtes mit einzigartigen Machtbefugnissen
widersprach nicht der athenischen Tradition, entsj)rach aber
dem Drängen der hellenistischen Zeit nach monarchischer Zu-
spitzung von Stadt- und Bundesverfassungen. Den Zwecken
der römischen Regierung mußte diese Zuspitzung in beson-
derem Maße entgegenkommen, denn so hatten sie eine ver-
antwortliche Stelle, die sie stets in der Hand halten konnten.
Die Stellung des Strategen war tatsächlich schon in der
I. Hälfte des i. Jahrh. v. Chr. so prominent, daß sein Amt als
eponym neben dem Archontat sich einzuführen begann. Man
hat die Zeugnisse dafür fortinterpretieren wollen ^'J, tatsäch-
lich ist das bei einigen die richtige Kritik gewesen, aber
das wächtigste aus Cicero, wonach ein Hypomnematismos in
der Zeit vor 51 v. Chr. nach dem Strategen (ad Att. V, 9 Po-
lycharmo praetore) datiert werden konnte, übersehen, und
dies stützt andere angezweifelte Belege.
Daß hier ein gewisser Kompromiß stattgefunden hat,
folgt aus der in der beginnenden Kaiserzeit zuerst auftreten-
54) [Leben der Sophisten II 20, i.]
55) [Gnaedingeu, De Graecorum magistratibus eponymis, Diss.
Straßb. 1892 p. 44sqq. Der Stratege hat aber gar nichts mit dem
Areopag zu tun.]
71,8] Beiträgk zuk Geschichtk des Areopags. 49
den^®) Erweiterung des alten einfachen Archontentitels zu
ccQxav inavvuog] hierdurch sollte das Vorrecht der Eponymie
dieses Beamten gegenüber dem Strategen gesichert werden.
Das erschien auch als ein hutk za ndxQiK TCohxsvsGQ'ia und
war zugleich eine sehr verständige Maßregel, da sie dem Un-
fug doppelter Datieruugsweise steuerte.
Die Würdigung, die diesen zwei Ämtern Philostratos (oben
S. 48) angedeihen läßt, fordert Kritik heraus; ich denke dabei in
erster Linie nicht an den y.fiQv^ des Areopags — das Ver-
hältnis seiner Stellung zu der jener beiden Beamten wird
später zur Sprache kommen — : Cassius Dio (LXIX 16) redet
richtiger, wenn er das epouyme Amt als die iieyiGtri ciQxi'i^^^
bei den Athenern bezeichnet. Das bezeugt aus den Inschrif-
ten mehr als ein oursus bonorum: ausnahmslos steht 'äQ^^a^
ri]v {TTcbvvpiov aQxrjv' an erster Stelle ^^); das ergibt sich auch
daraus, daß Kaiser, Fürsten und Männer fürstlicher Stellung
Eponymoi Athens haben sein mögen, keiner «Jr^^Tj/yö^ stcI
tä ojiXa. Das Archoutat war eben im wesentlichen ein Titu-
56) [Die amtlichen Archontenlisten ergeben, daß bis 9 n. Chr.
iniovv[ios fehlt. Dies zeigt in ihnen IG. III, loii mit dem Archon
Metrodorus, der nach allgemeiner Auffassung (Dittenisergek zu 108 r
in das Ende der Regierung des Claudius gehört. Hiernach kann auch
die Liste 1006 nicht mehr unter Augustua fallen. Das paßt, da Nlv.6.-
v<oQ viog 'OuriQog als Stratege erscheint, der III, i erwähnt wird.
Diese Inschrift aber hat Neubai;ek, Commentationes epigraphicae p. 147,
in die Zeit des Claudius? verlegt, damit allerdings den Widerspruch
DiTTENBEKGERS gcfundeu. (Vgl. jetzt ed. min. 1069 d. Herausgeber.)
IG. in, 88 mit der einfachen Titulatur äQxcov nolvv.lino? stammt, wi«
die delischen Inschriften gelehrt haben, aus frühaugusteischer Zeit,
gehört also in IG. II (Pros. Att. 11 978 f.). Theatersessel 254 kqxovxo^
muß also aus früher Kaiserzeit stammen, wenn die Inschrift nicht
mechanisch erneuert wurde. Der Sophist Herennius Dexippus erscheint
natürlich mit dem einfachen äoyoiv (III 715).]
57) [Damit deckt sieb das Zeugnis des Trebellius Pollio Script,
hist. Aug. vita Gallieni 11, 3: Gallienus apud Athenas archon erat, id
est summus magistratus.]
58) [Z. B. Ephem. Archaeol. 1883, 139; 1885, 147 n. 25 (1. Hälfte
des 3, Jahrb.); 1895, iii (= Dittenbergek* 409) im Jahre 163.]
Phil.-hiät. Kls3äe 1910. Brl. LXXI. S. 4
so
Um NO Kr.ii,: \l^,^
larumt, »las des Strategen »mu volles Vorwnltmi«,'saiut. Das
alte Amt i:ai> höhere Ehre, »las jün«j;erf des Strategen wirk-
liehe Maeht und durcligreifenden Einfluß in der VerwrtUung,
/uinrtl es auch wiederholt hekleidet Werden konnte. Das ist
aiudi ein Halancement. Man wird hier fragen: was wissen wir
von den Amtspfliehten und -l)el"ugnisscn beider Beamten?
Die Demokratie hatte die Archonten schon völlig aus der
HcLMeruniX und Verwaltung ausgeschieden, also auch von den
StratetJ-en »>-esondert. Es ist vorauszAisetzen, daß die R(>mer
bei ihrer Tendenz, die kommunalen Faktoren '/u isolieren,
nicht da eine Verbindung schufen, wo sie keine vorfanden.
Tatsächlich findet sich nicht die geringste Si)ur einer ver-
fassungsmäßig angeordneten Kooperation der beiden amtli(,'hen
Stellen.^»)
Der Amtskreis des Strategen ist im einzelnen füglich
nicht zu bestimmen. Da durch ihn alle Anträge an Hat
und \'(dk ergehen, ruht in letzter Linie die ganze Verwal-
tung, soweit sie diesen Versammlungen gelassen war, in sei-
ner Hand. Die literarische Überlieferung setzt ihn mit der
Ephebie in Verbindung, beschränkt andererseits seine Tätig-
keit auf die Fürsorge für die Volksernährung. ^'^) Das erstere
bestätigen die Epbebeninschriften seit dem i . Jahrh. v. Chr.,
für die zweite Angabe zeugt seine Nennung in der hadria-
nischen Verordnung über Ölverkauf*^\), aber falsch ist in ihr
ebenso die Beschränkung auf diese Tätigkeit wie die Auf-
fassung, daß dies eine Neuerung; vielmehr gehörte die Für-
sorge für Landesverpflegung sicher seit dem 4. Jahrh. v. Chr.
zu den Pflichten des Strategenkollegiums.''-) Beide Betäti-
59) [Der Antrag von Strateg und Archon begründet keine Ausnahme;
denn niclit als Eponymus, sondern als hoher Beamter kann er im Ver-
ein mit den Strategen Anträge stellen]
60) [Ephebie: Plut. quaest. sym. 9, i, i (737 D) — Volksernähruug:
Philoßt. vita sophist. I 23. Das Zitat II 16 bei Gilbert P 182, i gehört
nach Smyma.]
6i)'[IG. III38, 50]
62) [Arietot. noX. 'A&r,v. 43, 4= y-«« ^tgl citov x«i mgl qpvÄax^g tt/s
^eöpa? xoriUUTtifiv. Die Zusammenstellung mit (fv7.uy.fji ißt beweisend.
71,8] Beituäge zur Gkschichte des Areopags 51
gungen leiten sich ohne weiteres aus dem Wesen des Amtes
her. Von der amtlichen Tätigkeit des Archonten wissen wir,
soviel ich sehe, nur tlas eine, daß zu ihr wieder die Leitung
der großen Dionysien gehörte, die der Arehon im Jahre 307/6,
wie es seheint, an einen ccyavod-hrig hatte abgehen müssen.
Wann die Zurückweisung dieser Amtsohliegenheit an den
Archen erfolgte, steht nicht fest; wir haben dafür überhaupt
nur zwei Zeugnisse, eine Ehreninsehrift aus den Jahren 90
bis 100 uDd die literarische Nachricht, daß Hadriau als Arehon
die großen Dionvsien geleitet habe; das war im Jahre 1 1 i/i 2 ^^).
Ein sicherer Analogieschluß erlaubt die Betrauung des Archonten
mit der Leitung des Festes bis an das Ende der 2. Jahrb.
n. Chr. zu verfolgen; im J. 192/3 hat nämlich der Basileus
noch das Parallelfest der Lenäen geleitet (IG. III 11 60, 12 ff.)
Das Bestehen der Dionysien ist sicher belegt noch für die
Zeit um 220^); da eine abermalige Änderung in der Fest-
leitung nicht wahrscheinlich ist, wird diese nicht nur auch so
lange beim Arehon o-eblieben sein, sondern bis zum Ein-
gehen der pagaueu Feste in Athen, also bis in den Ausgang
des 4. Jhd. Wenn der Basileus wenigstens im i. Jahrb. v. Chr.
noch die Prozesse dösßsfag zu instruieren und vor die
Richter zu bringen hatte, so wird dem Arehon seine alte
Gerichtsbarkeit, d. h. also auch seine Amtstätigkeit auf dem
Gebiete des Familien- und Familiengüterrechts bis in diese
Zeit belassen worden sein. Ob und wie weit spätere Ver-
fügungen an dieser alten Ordnung geändert haben, entzieht
sich unserer Kenntnis. Wir sind über diese kommunalen
Ämter durchweg ja sehr schlecht unterrichtet, aber für die
beiden wichtigsten ergibt sich doch das eine mit Sicher-
In dem getreidearmen Attika hatte man früh gelernt, was der jetzige
Krieg gelehrt, daß wirtschaftliche Rüstung neben der militärischen
gtehen muß.]
63) [Alte Ordnung Ariet. noX. 56, 5. Über die Zwischenperiode vgl.
Rki-!CH bei Pauly-Wissowa I 875. Zur Agonothesie der Archonten in der
Eaiserzeit IG. III 78; Cassius Dio 6y, 16.]
64) [Philostrat. vita Apoll. 4, 21.]
4*
52 BuiNi» Kkti,: [71, ^
heit: sie stehen in verfa>suugsinäbigrr (i<\sLhiedenheit neben
einander; die Befu»rnis8e des einen sind weder !il)hiingi};' von
denen des anderen, noch sind sie weclisolseitig verschränkt,
noch gar einander ungoglielien. \)vr Archon bleibt von der
gesamten Koinnuuialverwallnng, soweit sie der Verwaltung
der ehemaligen freien Polis entsprach, ausgcschlossj-ii. Die
Initiative auf diesem Gebiete ist in die (luusimonarchischc Spitze
des Einzelbeamten aus der früheren kollegialen oder körper-
schaftlichen Form (lieser staatsrechtlichen llandlungsbefähi-
guug und -betätigung /usaramenge/ogon. Äußerlich betrach-
tet war fast alles wie ehedem und der Schein konnte um
so leichter täuschen, als die alten mit der Initiative ausge-
statteten Gewalten, die Bule und die Prytanen, in den über-
kommenen Formen weiterarbeiteten.
Als eine Neuerscheinung in dem athenischen Beamten-
turne führen die Inschriften seit dem Ausgange des 2. Jahrh.
v. Chr. den xijgvt, t);^ e^ 'JoeCov nüyov ßov},f\g ein, in den
gleichen Zeugnissen, denen wir die durch die Römer verän-
derte Stellung der Körj)erschaft selbst entnehmen. Er ist
der leitende und die Körperschaft nach außen vertretende
Beamte des Areopags. Es fragt sich: ist das Amt bei der
Neugestaltung des Areopags erst geschaffen worden, oder hat
wie die ganze Körperschaft in der Gesamtverfassung so das
schon bestehende Amt in ihm selbst eine Erhöhung erfahren?
Vorbedingung für eine Antwort wäre die Kenntnis der inneren
Organisation des Areopags in vorrÖniischer Zeit. Davon wissen
wir .schlechterdiuors nichts. Wir wissen nicht, wer ihn zu-
sammenberief und seine Sitzungen leitete, falls er nicht etwa
als Gerichtshof konstituiert wurde, wo natürlich dem Archon-
Köuisr die Ladung- und der Vorsitz zustand, wissen nicht,
unter welchen Formen er tagte und verhandelte, wissen nicht,
welche exekutiven Orgaue er für seine Beschlüsse, übei- Nach-
forschungen nach öffentlichen Vergehen, Aussetzung von De-
latorenprämien usw. hatte. Der Areopag erscheint stets in
einer fast mystischen Abgeschlossenheit, unter deren schauer-
vollem Nimbus wie bei der heiligen Feme Individuellem
71,8] Beitkäge zur Geschichte des Areopag.s. ^^
versagt ist in die Erscheinung zu treten. Wie unpersönlicli
sein ganzes Wesen auch geworden sein mag, er konnte eines
Organes, durch welches er seine WiUensmeinung kundtat,
nicht entbehren; auch Avenn Avir dem y.f,Qv^ nicht in dem
romanisierten Areopag begegneten, müßten wir das Vorhan-
densein eines solchen Beamten dieser Körperschaft als prak-
tisch unabweisbare NotAveudigkeit fordern. Man kann also
nicht im mindesten daran zweifeln, daß wie es stets einen
xf]Qv^ trjg ßovXfjg (später :<cd tov d)/fiov) gab, so in vor-
römischer Zeit einen TtijQv^ der alten ßovhj. Diese Auffassung
hat innere Wahrscheinlichkeit dadurch, daß sie für die Be-
handluno* dieses Amtes seitens der Römer genau das gleiche
Verfahren voraussetzt, wie es hier schon so oft hat hervor-
gehoben werden müssen: sie schufen nichts Neues, sondern
knüpften wieder an Bestehendes an, wahrten die alte Form,
gaben ihr aber einen ihren Zwecken entsprechenden neuen
Inhalt. Was haben sie aus dem 'Sprecher' des Areopags ge-
macht? Nicht mehr und nicht Aveniger als einen Präsidenten
des Staates neben dem 6rQUX7]'yüg s^l tovg b%Uxag. Zweifelt
jemand daran, unsere Lampriasinschrift enthält den urkund-
lichen Beweis. Nach Aristoteles (rp. Ath. 44, i) hatte der
Tagespräsident, der sjCLöxdrrjg räv Trovravtcov außer den
Schlüsseln zu den Heiligtümern, in denen die Staatsgelder
und -akten deponiert waren, auch das Staatssiegel in Ver-
wahrung, Avas für seine Zeit durch die große Inschrift über
der isQ(c oQydg vom Jahre 3521 (IG. II 5, 104* (= ed. min.
204J, 40) bestätigt wird. Es liegt nicht der geringste Anlaß
zu der Annahme vor, diese streng demokratische^) Einrich-
tung sei in A'orrömischer Zeit geändert worden.*'*') In unserem
65) [Keil bei Gehcke-Nobdkn, Einleitung *III 377.J
66) [Durch die Ergänzung Köhlers IG. II 443 (= ed. min. 1037)
(ohne Zeitangabe, aber nicht zu jung ?Mr, doch A) rovg dh] ctQa.rri-
yovi S^anf:u\^Ha ävziyqufpov acpQayioa^svovg rjj driiio6l]ccU a)(pQa'
'/idi darf man sich nicht täuschen lassen. Es muß asaijucca^hvov heißen,
übrigens auch nach dem festen Sprachgebraucli das Medium dtaiti^t-
t^ae^ui eingesetzt werden, j
54 Ijruno Kr.ii,: [7^,^
Hypoiuuem.itismos heißt os nhev. röi' de xiJQvyiu /Jvoiddiir
■yQati'ai rjj« 'E:TiÖcii'oii>)V TtoXei Kcd ()t(cnei.nl-aoi}((( top vjto^vij
fiaTLöubv (5 t, u }]i>ä u f i'o 1^ (^niclit ()S(S}jftix>iun'()i') rf^t dtino-
6 IUI riq)Qa}'f.tdi.
Also in neronisclier Zeit führt der erste Beamte des Areo-
pags das Staatssiepjel. Was hieraus für die staatsrechtlicTio
Stellung des Areupags /u f()l<»orn ist, wird weiterhin zur
Sprai'lie koninien, für die Stellung des Keryx hedeutet es,
daß er nach plutarehischeni Ausdruck wirklich die iTCLGvcGia
des Areopags"') hatte, nicht anders als der Stratege in der
Bule. Daher die Tatsache, daß dies Amt in der ofliziellen
Aufzählung IG. III lo (-= ed. min. 1077 f^ws 20Q/10) mit
dem Epouymos und Strategen unter dem Gesamttitel oi kq
Xovteg zusammengefaßt ist (o. S. 32) und in vollstiuidigeien
Amteraufzählungen auf Ehreniuschriften regelmäßig neben
ihnen jjenaiint wird. Diese Erscheinuucr richtig zu werten,
muß man das ganz vereinzelte Vorkommen des Titels ßadt-
X(vg zwischen den anderen Ämtern in den Ehreninschrif-
ten dagegen halten. Der ikcatkevg gehörte eben juit den
Thesmotheteu zusammen in die jenen drei Amtern nächst
untergeordnete Beamtenschieht.^**) Eine Rangfolge zwischen
den drei höchsten Beamten ist nur insofern zu beobachten,
als dem Eponymos stets der erste Platz zukommt in amt-
lichen wie in privaten Aufzeichnungen ^'■'); in jenen hat ferner
der Orgarriyos den Vortritt vor dem x)J()i'|; aber daß in dieser
Reihenfolge keine Wertung der Amter zu suchen ist, zeigen
einmal die Privatweihungen, die den x^](>^'^ häutiger dem
öTQaTiiyüg voranstellen, und ergibt sich aus dem Prinzip, das
äußerliche Ansehen der alten demokratischen Institutionen im
67) [au seni 20, 794 B.]
68) [Ich bin geneigt, das äpfiaiaa njv toi ßaadsoyg iv &iou.o9tTais
uQxrfv IG. ni 716 so zu verstehen; dem Eponymus stehen die anderen
8 Archonten als O'ffffiottf'rat gegenüber]
69) [Es sind keine cursus bonorum in römischem Sinne; denn es
fehlt das chronoiogisciie Moment des Aufsteigens; sonst könnte das
höchste Amt nicht regelmäßig vorabstehen.]
71, 8J Bkitkäge zur Geschichte dks Aukoi'ags. 55
iuuereu Komraunallebea nach Möglichkeit zu wahren. In den
drei höchsten Beamten spiegelt sich die Gesanitorgaiiisation
der athenischen Verfassung römischer Zeit in ihrem Dualis-
mus und ihre äußerlich festgehaltene Einheit wider. Zwei
Präsidenten hat die Kommune entsprechend der Zweiheit ihrer
beratenden Organe: der Stratege ist der der alten demokra-
tischen Körperschaften, der Keryx der des timokratisch-aristo-
kratischen Areopags. Sie führen die Geschäfte jeder in den
Grenzen der von ihnen geleiteten Teile des kommunalen Lebens,
sind die höchsten Verwaltungsbeamten. Beide hatten ihren
Ehrenplatz im Theater Sitz an Sitz (IG. III 250), wie es den
gleichgestellten 'Präsidenten gebührt. Über beide erhebt sich,
ohne an diesen Geschäften irgend teilzuhaben'^''), allein auf
Grund der ihm zuerkannten Amtswürde als Ehrenpräsident
des Kommunalstaates der Archon (Eponymos); er verkörpert
die Einheit des Gemeinwesens. Das Amt des Ehrenpräsidenten
haben die Kaiser und niederen Potentaten anzunehmen geruht,
die in der Liste seiner Eponymoi zu führen Athen sich be-
rühmen wollte.
Das war nur eine äußerliche Überbrückung oder Ver-
schleierung des die Verfassung durchziehenden Dualismus;
aber sie erfüllte ihren Zweck. Die geschickte Verkoppelung
der entkräfteten demokratischen Organe mit dem wieder-
belebten aristokratischen Rate war tatsächlich dazu angetan,
von sophistischen Lobrednern Athens als eine Verwirklichung
der seit fast einem halben Jahrtausend gepriesenen gemischten
Verfassung betrachtet zu werden, einem Manne wie Aristides
das Lob der athenischen Verfassung seiner Zeit als glücklich-
ster iili,tg TtohtELüv einzugeben. Und mit dieser Auffassung
konnte er des blinden Beifalls der in ihrer Eitelkeit so gern
sich selbst täuschenden Athener nicht weniger sicher sein
als der verständnisvollen Zustimmung der zielbewußt täuschen-
den Römer.
Der Form nach w^ar ein Gleichgewicht zwischen den
'o^
70,. [Die Archonten erbitten vom Areopag Aufstelluug IG. III 7iO-]
56 Bkitno Kkii-: [71.8
beiden Seiten der Uei;ierun«^8gewalton hergestellt nud mit der
Zuerkeunung der besonderen Stellung des Arclionten änßerlieh
sogar der demokratischen Tradition ein Privile^j; erteilt; in
Wahrheit stand die gesamte Kegierung vom Areopag in Ab-
hängigkeit, empfing die Verfassung von ihm den < 'harakter. Es ist
erstaunlich, daß man die völlig neue Stellung, die der Areopag
seit der reimischen Verfassungsänderung einnahm, lial leugnen
können.'*) liaii/ al)g(>8ehen von direkten Zeugnissen beweist
ein Blick in die Inschriften den Umschwung unwiderleglich.
In den vier Bänden der IG. II ist der Areopag nur in zwei
der voniimischen Periode angehörenden Fällen ötientlicher
Maßnahmen erwähnt.'') Die neue Periode wird sofort von
dem l)ekannten Psephisraa mit der Maß- und Gewichtsord-
nung (IG. 11476= 1013) eröÖ'net''^), in welchem dem Areo-
pag ein Beaufsichtigungsrecht zugesprochen wird. A^om i . Jahrh.
V. Chr. ab bildet der Name des Areop;)gs oder seines Keryx
eine der häufigsten Erscheinungen in den Inschriften. Gesetzt
der Areopag hätte in römischer Zeit wirklich keinen faktischen
Maclitzuwachs erhalten, so würde doch aus seinem }tlötzlichen
Auftreten in den Urkunden dieser Zeit zu folgern sein, daß
seine formale Stellung in dem Staatsorganismus eine höhere
geworden war, deren rechtliche Folge eben die Notwendig-
keit akteumäßiger Erwähnung war. Allein für eine starke
Erstreckung seiner Kompetenzen nach außen hin wie in der
inneren Kommunalverwaltung liegen zahlreiche Beweise vor.
Nach außen: durch seinen Obmann führt er das Staatssiegel,
über das einst die Bule durch ihren tTilöTKriqq verfügte; auf
seine Anordnung entsendet sein Obmann amtliche, durch
dieses Sieorel beo-laubiste Schriftstücke über die Grenzen des
71) [Philipi'i, Der Areopag und die Epheben S. 309ff-J
72) [Besondere Fälle: Orejiasiiiechrift II 5, 104* (= ed. min. 204),
IG und die im Duplikat erhaltene Inschrift II i, 252 und 252'' (=479,
480) au.s dem Jahre 305/4, also noch vor der Einführung der gemäßig-
ten Demokratie im Jahre 301, vgl. Fkrousox Klio V (1905) 'SS^m
Ed. Meykr ebda. 180 ff.]
73;^ [S. zuletzt ViEDEBANTT. Hemies 47 (19 12) 449 ff]
71,8] Beiträge zuk GKSciiumrE des Arkopags. 57
Landes, wie es einst der yQCi^nuTSvg t^jj ßovXfjg getan hatte.
Also der Areopa«^ hat eine der wichtigsten Funktionen der
demokratischen Bule übernommen: er vermittelt den Verkehr
mit der politischen Außenwelt, vertritt den Gesamtstaat gegen-
über den Rechtsgebieten, die in der Zeit der freien Polis als
Ausland gelten. So liegt auch der Verkehr mit der römischen
Regierung zunächst in seiner Hand; daher ist er die Instanz,
an die die amtliche Adresse in erster Linie sich wendet: Tiji s^
^^QSt'ov TTciyov ßox'Xijc y.td rfj ßovkru rüv % (q)) xal röt drjiicoi.
Ein systematisch gegliedertes Bild von der Beteiligung des
Areopags an der inneren Verwaltung läßt sich aus den Mosaik-
steincheu der uns zufällig erhaltenen Tatsachen nicht zusammen-
setzen. Die Lehrbücher führen die Belege für seine dauernde
Beaufsichtigimg der staatlich organisierten Jugenderziehung,
der Ephebie, an, wobei jedoch die Tatsache bemerkenswert ist,
daß in den Ephebeninschriften der römischen Periode der
Areopag als solcher nie in handelnder oder beschließender
Weise auftritt.'"^) Die Ephebie ist aus der Demokratie über-
nommen und bleibt unter der formalen Verwaltung der Bule;
daher diese die Beschlüsse über sie faßt, daher auch die Ar-
chonten in den Ephebenlisten bis in das 3. Jahrh. Erwähnung
finden können.'^) Gleichwohl erscheint der Keryx neben dem
Strategen als Exekutivbeamter ^''); darin zeigt sich die starke
Ligerenz des Areopags auf die Leitung dieser dem römischen
Athen besonders wichtigfen Institution. Die ihm im Jahre
352/1 V. Chr. für alle Zeit übertragene Beaufsichtigung und
Fürsorge für die Heilicrtümer hat er zweifellos in römischer
Zeit ausgeübt. Mit diesem Ressort ist in gewissem Sinne
seine bekannte Tätigkeit nach baupolizeilicher Richtung hin
verbunden. Ebenso liegt ein sachlicher Zusammenhang zwi-
schen der schon erwähnten (o. S, 56) Teilnahme an der Auf-
sicht über die Maß- und Gewichtsordnung und der schon in
74) [IG. III 1233 ganz iinverwertbar. — 1085 hat mit der Verwal-
tung nichts zu tun.]
75) [Belege bei Larfeld S. 324 — 358.]
76) [Belege aufgeführt von Dittenbekger im Index IG. III 2 p. 317.]
,s8 HicUNi» Kkil: [71, S
den Autung des .'. -luhrli. v. Ohr. lüimufgi'iR'udeu Beteiligung
des Areopiigs iin iler Kontrolle über die Münzprägung seihst
voi-, solange den Athenern das Kecht seihstäiidiger Münz-
prägung von der römischen Regierung belassen wurde.''')
Darauf wird noch /urüek/.ukonnnen sein. Auf die verschie-
densten Zweige der Versvaltung erstreckte sich die Mitwirkung
des Areopags: das beweisen diese Beisj)iele. Und doch ist
unsere Kenntnis dieser l^itsachen notwendig durchaus lücken-
haft; sie beruht zumeist auf /.ufälligcn Eiuzelangaben, die fast
ausschließlich den Inschriften entstammen, und zwar Inschrif-
ten von /.. T. verzweifelter Trümmerhaftigkeit. Wäre das Be-
obachtungsmaterial umfangreicher und ausgiebiger, so würde
— darüber kann kein Zweifel bestehen — die Bedeutung,
die der Areopag für die innere Verwaltung hatte, und die
Ingerenz, die er auf sie ausübte, um vieles ausgedehnter und
tiefgreifender erscheinen. Gleichwohl tritt diese ganze, viel
verzw^eigte Tätigkeit der Körperschaft in unserer literarischen
Überlieferung völlig zurück gegenüber seiner Betätigung als
Gerichtshof. Liegt diese Einseitigkeit an der Eigenart der
literarischen Überlieferung als solcher oder hat sie einen tie-
feren Grund? Die Antwort hierauf verlangt die Beantwor-
tung der Vorfrage: was wissen wir von den Kompetenzen
und der Organisation des Areopags als Gerichtshof in der
römischen Zeit?
Die Gerichtsbarkeit und Gerichtsverfassung der griechischen
Stadtgemeinden unter römischer Herrschaft sind für uns in
ein besonders tiefes Dunkel versunken, so daß es schwier hält,
auch nur die gröbsten Umrisse zu erfassen. Die Ursache hier-
für bildet nicht nur die Gerincrfügigkeit historischer Bezeu-
guüg: in höherem Grade kommt die Lage dieser Institution
zu jener Zeit selbst in Betracht. Die römische Regierung
konnte direkt oder durch die Beamten von dem Rechte der
höchsten Souveränetät im Reiche, in die kommunale Juris-
diktion einzugreifen, jederzeit Gebrauch machen, und sie hat
77) [ScNDWALL, öfversigt of Kinska Vetenskaps Societetena För-
haudlingar L S. 23.]
71,8] Beitraok zur Gbschichtk des Akeopags. 59
davon Gebrauch gemacht, wenn sie auch ihrem Prinzipe uach
auf möglichste Schonung der Autonomie der Griechenstädte
bedacht war. Aber die Griechen selbst untergruben die Auto-
rität ihrer kommunalen Kechtspflege und damit die Anerken-
nung von deren Existenzberechtigung durch die Sucht, die
Eechtsstreitigkeiten möglichst bis vor die letzte Instanz, das
Forum des Pi-ovinzialstatthalters, zu bringen.'*^) So wurden
die Grenzen zwischen der kommunalen Gerichtsbarkeit und
der richterlichen Gewalt des römischen Beamten fließend,
verschoben sich also im Laufe der Zeit, und zwar unter den
obwaltenden Verhältnissen , naturgemäß zu Ungunsten der
lokalen Rechtspflege. Diesen Wandlungen zu folgen ge-
stattet uns die Überlieferung ebensowenig wie die Ver-
änderungen zu erkennen, welche durch die Verschiebung
der Gerichtsbarkeit in den kommunalen Gerichtsverfassungen
unausbleiblich herbeigeführt werden mußten. Das gilt auch
von unserer Kenntnis der athenischen Rechtspflege zur
Römerzeit.
Die civitas libera et foederata Athen besaß auf Grund
ihrer Souveränetät in ihrem Gebiete Zivil- und Kriminal-
gerichtsbarkeit.'^) Wem die athenische Gerichtsverfassung
den Zivilprozeß in die Hände gab, ist meines W^issens nirgend
direkt überliefert-, dagegen liegen eine Reihe von Zeugnissen
über die Ausübung der Jurisdiktion in den Grenzen des
öfl'entlichen Rechtes vor; ihnen zufolge ruhte die Recht-
sprechung auf diesem Gebiete in einem Ausmaße beim Areo-
pag, welches der vorrömischen Zeit unbekannt war und die
konkurrierende Jurisdiktion anderer Kommuualorgane weit
zurücktreten ließ.
Es ist bekannt, daß seit der Mitte des 4. Jahrb. der Areo-
pag, abgesehen von vereinzeltem, durch besondere Zeitverhält-
nisse bedinirtem Hervortreten unter der demokratischen Ober-
fläche der Verfassung still, aber gleichmäßig an Einfluß i-m
Staatsorganismus gewann. Zwar ging seine Rechtssprechung
78) [Plutarch an scui Cap. 19, 794 a.]
79) [MiTTKis, ReicliBrecht und Volkarecht S. 86.]
6o Ituus" Kt.ii,: l?',!^
über Ficvil all lieiligi-n Ollfiimnen etwa /.wischen 390 (Lys.
Vll) und .>30 ^^Aiistot. rp. Ath. 57, 2) faktisd» ein, aber die
Stimniiin«; u;t>g»'iiül)i'r dem ArcopaLi,-, die in Isoknites Areopa-
ijitikos ihi-i'ii Ulassisi'ht'ii Auadnu-k t'aiid, hatte fast gleich-
zeitig (^^^52/1) (Ich praktischen Kriolg, »hiB der Aie()))ag neben
den von iViiher veiorthieten Ant'siehtsorganen mit der Aul-
sicht über dio Orgas und die übrigen luiligen Ländereien des
Staates betraut ward.'*'^) liier, anf dein Gebiete des heiligen
Hechts, ilürfte überhaupt (he gesetzliche Erweiterung der Koni-
]ieteir/.eu des Areopags eingesetzt uui\ schnellere Entwicklung
g.'fuuden hal>en. Das ist aus dem sakralen Nimbus, dessen
ihn auch die Demokratie nicht liatte entkleideji könnea, an
sich l)egreifJich, und eine llbei-leitung l)ildete stets seine enge
Verbinchmg mit dem Basileus; dieser hatte ja, abgesehen von
der Leitung der Blutgerichtsbaikeit, auch die Verpachtung
der iieiligen Ländereien (Aristot. rp. Ath. 47, 4J zu bearbeiten
hatte die (xerichtsbarkeit über Priestertümer und Sportein,
nahm die Anklagen äöeßeiag entgegen (ebda. 57, 2). So
scheinen die Nachrichten nicht unglaublich, nach denen die
früher vor die Heliasten gehörenden yQucpal äöißtCus in den
beiden letzten Dezennien des 4. .lahrh. vor dem Areopag zur
Entscheidung gelangten (Diog. L. II 101. iiö). Im übrigen
zeugt für diese Gerichtsbarkeit der Areopagiten in römischer
Zeit nieiit bloß Paulus vor dem Areopag (Act. 17, 19), son-
dern auch die Angabe des Origenes (c. Cels. IV 67 [I p. 337 Kö.]
V 2of. [II p. 22])^ Sokrates sei vom Areopag verurteilt. Der
Schriftsteller gibt eben der 'Apologie' zum Trotz die Ver-
hältnisse seiner Zeit wieder; und sollten jene Nachrichten über
diese Gerichtsbarkeit am Ausgange des 4. Jahrh. v. Chr. wirk-
lich nicht zutreffen, so beweisen sie doch in der gleichen
Weise wie Origines für spätere Zeit.
Eine starke Erweiterung der Gerichtsbarkeit wuchs dem
Areopag auf einer anderen Seite des Strafprozesses zu und
zwar hier durch eine veränderte Qualifizierung von Gesetze.s-
80) [h. 0. S. 53. IG. II 5, 104* (= ed. min. 204), iCtf.]
71,8] Beitragk zur Geschichtk di:s Akeopaos. 6i
Übertretungen. xaxovQyoi hießen in der älteren Reclitsspraclie
die gemeinen Verbrecher, Diebe, Räuber von Sachen oder
Menschen, Einbrecher ^^); die advokatische Sophistik hat dem
Begrifi* der xa/.ovQyCu weitere Ausdehnnno- gegeben, die dann
am Ende des 2. Jahrh. v. Chr. als vom Gesetzgeber rezipiert
erscheint. Das Fälschen oder Vernichten von Normalmaßen
und -gewichten ist ein y.ay.ovQyfiv^-), ebenso ein Verstoß
o-eoren das Ölausfuhr- und Deklarationsgesetz Hadrians^*); ein
weiteres Zeugnis aus dieser Zeit wird sogleich erschlossen
werden. Auf diese xaxovQyoL ist nun auch in römischer Zeit
das Forum des Areopags erstreckt worden. Und gerade wie
in dem Psephisma über die Orgas wird 'auch der Areopag'
mit der Almdung der Übertretuugen des Gesetzes über die
Normalmaße betraut (Zeile 59), also neben den bisher dafür
bestehenden Gerichten. Hier sieht man den Weg, auf welchem
dieser Körperschaft ihre Kompetenzen zuwuchsen. Der Areopag
wurde mitbeteiligt, trat konkurrierend ne))en die älteren Or-
gane, nicht an ihre Stelle. Allein die Autorität des alten
Rates, besonders als Gerichtshof, war eine zu große, als daß
die Konkurrenz nicht zu einem Übergew^icht des Areopags
hätte führen müssen. Tacitus (ann.IIös) erwähnt aus der Zeit
kurz vor 18 n. Chr. einen Fall, welcher einen Areo iudicio
falsi damnatum betrifft. Die griechische Rechtstermino-
logie hat kein Äquivalent des römischen falsum; was nach
Dig. XLVIII 10, 1 darunter zu verstehen ist, würde nach alt-
athenischer Rechtssprache je nachdem in einer ÖUri oder
yQdcpi] y.axoTcyvi&v, linouaQTVQiov , vielleicht övußo).ccuov.
7CccQaßo:6£(o^, U^'Svdo^iicQTVQicbv^ äyQc:(piov, xi^evdsyyQcccpfjg^ tl^sv-
doxJ.r,rs{(cg, auch xaxdoöacoi^ zu ahnden gewesen sein, endlich,
wenn die Sache so lag oder gewendet wurde, etwa auch in
einer döuyyEXiu. Ich glaube aber nicht fehlzugehen, wenn ich
in dem allgemeinen römischen falsi damnatum ein xuxovq-
yCag xaxsyvcooueifog wiedererkenne, dessen Begriff" ja eben-
81) Aristoteles noL 'tdr,. 52, i; Lipsils, Das attische Recht S. 781".
82) [IG. II 476, 56, 58, 59 (=io'3)-l
83) [IG m 38 (= iioo), 57.]-
02
Bhuno Kkii,:
7'.«
fiiUs weite (iienzen iiatte. War einmal liue (iattun^ der
x((XO\'i)yoi dem Forum des AreopagB zugewiesen, so erfol«ifte
•1er Analt)£jie nach nattirgemäÜ eiue Ausdehnuut^ d<'r aicopa-
^itischen (ierichtsltarkoit auf weitere Gattungen. Ks ist klar,
daß bei der Dehnbarkeit des Beitrittes 'Gesetzüberiretnng' der
Areopai;' dir nuinni'^laehsten Strafsachen zugewiesen erlialti'n
oder selbstämlig an sich ziehen konnte. Ihnl dafür lieii sich
in dieser reaktionären Zeit ohne weiteres auf die alte Stellung
der Kch'porsehaft als (pvka^ nov )'(!«(.)!' hinweisen. Seine
Kompetenz in Kriininalsadien beleuchten weiter die Reste
von drei kaiserlichen oder prokousularischen Erlassen an-
scheinend aus der Zeit des Sei)tiinius Severn.s; sie lassen trotz
aller Trünmierliaftigkeit keinen Zweifel darüber, daß der Areo-
pag auf Ver))annung, natürlich nur aus dem liechtsgebiet
Athene, erkennen konnte.***) Man nehme die ihm nie bestrit-
84) IG. III 46 (--= II 18) fr«. (• 3 yu]{}ci diiy/ii()evTai u);v\vriv'^]
4 ',ilpfioTf-'7£('ri;i? roi's cctt--; zu dem von mir ergänzten Kctd'a vgl. die
folgenden Inscbviften ^^a 3, h 4). — Das Fragment IG. III 47 (= 1119)
hat. was nicht bemerkt zu sein scheint [jetzt auch Dkssau zu 11 19],
eine Tarallele gefunden in dem Eph. arch. 1894, 211 veröffentlichten
Kragmeute, so daß beide sich gegenseitig ergänzen. Ich stelle die
Texte nebeneinander, so daß ich zur Kaumersparnis die Zeilen für die
Ergänzungen nicht abbreclie; beide Steine sind rechts vollständig. Für
die nicht aus der Parallelisierung sich ergebenden Ergänzungen ist der
Urheber genannt.
a (IG. III 47 = II 19)
2 Ol] (WiTtoTi ovv [rgonov
/jjcraO'/; /) xu&cc t6 6vvfp[io vtj^i:
-fag j] icpi-vQr,u,äTcov 1] d-irio [riag
5 -lov uia&üaai tolui^ari xi]
-teil ri]v Tf/g rtrQai:Tia[g \ uia&o)-
atv - -
7 fjTi]ri oiv Titioifdoit )r(}),oäufvog
(Dm.)
s.Z. II
1) fE)i}i. arch. 1894, 211
niiii. 1086)
od.
3 dl]Tto\T8 OVV Tq6[7TOV
y,\udo cvfi(fü) [vt]^cc (Keil;
5 7} itptVQriU \Üto)v fj CHI [raviccg
Ti]v rfjg Tir(i«e]rißc iu6d(o\aiv -
8 -CO r^ -L'aÄcirfi,£[tJj'-
Totg dTiiito[7iQ(iTotg (Kkii.)
IG Xa^ißcivitr To
xwTaJxßfTOJ' (Kkil) rotg itfoo-
crXiag inirtulotg
71,8] Beitragk /.IUI Geschichte des AuEorAGs. 63
tene Blutgeriehtsbarkeit hinzu, um das Bild von der über-
ragenden Bedeutung, ja beherrschenden Stellung zu vervoll-
ständigen, die der Areopag als Gerichtshof für öffentliches
Recht einnahm.
Allein das einzig richtende Organ war er auf diesem
Gebiete wenigstens im 2. Jahrh. nicht. Die Verfolgung von
Übertretungen des hadrianeischen Gesetzes über den Olliandel
ist bis zu Unterschlagungen im Werte bis zu 500 Dr. dem
Rate, darüber liinaus der Ekklesie zugewiesen. Das Verfahren
leitet folgerichtig der Präsident dieser Körperschaften, der
Stratefie, ein.^^) Dabei ist es nun von weittragendem Inter-
esse, ein Strafprozeßverfahren dem Rate und der Ekklesie
zuerteilt zu sehen. Einmal wird auch hier der Charakter der
8 rov 'P]aii(iiü)v aigagiov xcci i^faTca
-ViV Ttoiovßi r)';i' rsi^i^v nig |
10 ? 7CQ0? i] ut ai6T}-/i]6äuBvov i (Ditt.)
rois ifQOGvXias \ \i7Tiruuoi.g\(Dnr.)
12 TW ' Pojua]ia>v ulgagla (pt'|[y7/r Tic:- 12 rö 'P(o^ui]coi' uioagim (pv\yriv
Ttyvwatisv- xuTsyvtoGufv- (Keil)
ßovXi) {-ff} Tüiv I 'AgtiOTiaystTwv ßovXij (-ff) T]m'liQ£io:TayBi^[Töiv
Ferner ergänzt man b 17 ov drjTiorB ovv tQ]6nov «fra [re-ö^T] aus a 3.
fpv{yi]v y.aTtayrioGiLBi- nach IG. III 44 (= 1113), 8 -ov (f>vyiiV KarsyrcoGfiBv-,
wo im Anfange nach dem im Texte dargelegten natürlich ön-6 rfjs ßovlfjg
Tf]g i^ 'Aqbiov Ttiiylov, nicht vnb rov Si]fi\ov zu ergänzen ist. Diea ist
dann das vierte Zeugnis, a und b sind deutlich nach demselben For-
mular verfaßt, was der gleichartige Inhalt begreiflich macht, also wohl
auch gleichaltrig. Es zeigt sich, daß entgegen Dittknbergkes Vermu-
tung III 47 (a) nichts mit III 46 zu tun hat. Das Alter der beiden
Fragmente bestimmt sich also nicht nach dieser Inschrift, die Dittkn-
BERGKK unter Septimius Severus setzte; viel jünger können sie aller-
dings auch nicht sein, a 1 1 hat Ditten-bkugku unter der Voraussetzung
ergänzt, daß die Fragmente der Zuschrift des Statthalters (oder Kaisers)
entstammen. Das scheint sich zu bestätigen. Denn b 24 wird doch
vrohl r]fifr 6vvy.Ti][c- (dvva]nLv Skias) zu ergänzen sein, und 34
a]vBTfd-T] iv \ - - führt darauf, daß die vorliegende Abschrift der In-
schrift (35 ergänze ich 8iay]Qdu^uTo[g.) vermutlich in einem Asklepios-
heiligtume (36 '^ffxJATjÄtw Skias) aufgestellt wurde.
85) [IG. III 38 (= iioo), 51: inävctyKsg ö argurriyög rfj f^f}e r^Uga
64 ÜKi NO l\Kii,: I71, -"^
römischen ()rijjanisiitii»n t"uül);ir: wenn zugleii-li Jen hoidfu
demokratisrhou KörjuMschiirteii uuil dem Areopag diese liechts
spreclumjj; zuerkannt \\ iitl. ist. darin das liestrel)en einer weni»;
Bteus äußeren l?alanoierun<!; der ndu iicinunderstehenden ü«-
walten der ilualistischen Verfassung ausgesprochen; und wenn
die Wirkimgssphäre des Areopags hier ersichtlich die weit
umtassendere und tiefer greifende war, so entspricht das wie-
der der Verteilung der (»egierungsgewalt, wie sie voiher dar-
gole<Tt wurile. Zugleich tritt ihu" reaktionäre Urundzug der
römischen Organisation scharf hervor. Die demokratische
Institution xar' tto/ijv sind die Geschworenengerichte ge-
wesen-, ihnen ist in all den aufgeführteu Fällen der Strafprt)-
zeß orenorauieii w^orden; ihn z. T. auch der Bule und Kkklesie
creben, hieß auf das Hecht und die Praxis des 5. Jahrh. zu-
rück"reifen. Und sollte der Fall ein vereinzelter seinV Das
führt zu dem zweiten, wichtigeren Punkte. Was kann weiter
bei der Jurisdiktion des Areopags und der vielleicht kom-
plementären der Bule und Ekklesie im <)ifeutlichen \'erfahren
den Geschworenengerichten überhaupt geblieben sein? Jetzt
erkennt man, daß das vorher (S. 5g) hervorgehobene Fehlen
von Zeugnissen über die Verteilung oder Zuteilung der Zivil-
gerichtsbarkeit nicht auf Zufall beruht. Der öffentliche Pro-
zeß welcher Art auch immer war den Gesell worenengerichten
genommen; einzig geblieben w^ar ihnen die Zivilgerichtsbar-
keit mit dem Privatprozeß. Daher fehlen die Zeugnisse. Denn
daß von ihm in den wenigen öffentlichen Urkunden und der
großen Literatur nirgends die Rede ist, liegt in der Natur
der Sache. So also stellt sich die Gerichtsordnung im römi-
schen Athen wenigstens im 2. Jahrh. dar; Als der Gerichts-
hof Athens erscheint der Areopag, denn er ist in erster Linie
das Forum für öffentliche Verfahren, daneben mit Ausschluß
der Kapitalprozesse der Rat und die Ekklesie; auf den Zivil-
prozeß sind die Geschw^orenengerichte be.schränkt.
Hier ist dann der Ort, wo man fragen muß, ob die
unter dem Namen der Aichonteulisteu gehenden Verzeich-
nisse, die eben Fimmen, Athen. Mitt. ,S9, 1914, i3öff... zusara-
71,31 Beituagk zuii Gbschichtk dks Areopags. Ö5
/',
mengestellt hat, diese Bezeichnung mit Recht tragen. Die
feste Abfolge ist diese: aQxcov {ijtb)v^>^ioc;) — ßa^ücv^ —
:ioXi^iaQxog — O^fö/ioO^fcVfa — /.fiQvl ti\t Ji 'AgeCov :idyov
ßovkfiL — xijQv^ uQxovTi — avkrjt^g — IsnovQyög {drjuo-
6iog). Was in aUer Welt hat der y.fjQvh, mit und unter den
neun Arehouten zu tun? Eine Archontenliste ist ein solches
Verzeichnis mithin schon wegen der Aufnahme dieses Be-
amten nicht. Also etwa ein Verzeichnis der höchsten athe-
nischen Beamten? Und dann sollte der örQat7]ybg ml xovg
oTTurag fehlen? Also auch diese Auffassung ist ausgeschlos-
sen. Ich frage weiter: wie kann dem at)Qv^, dem Beamten,
der an Rang über dem Basileus steht, in einer offiziellen
Liste der Platz hinter den durchaus nicht hoch eingeschätzten
sechs Thesmotheten und unmittelbar vor dem Hilfspersonal
des Archontenkollegiums angewiesen werden? Man wende
nicht ein, die Archonten bildeten eben ein geschlossenes Kol-
legium, daher die Einschiebung des xriQv^ nach dem uQxciv
sich verboten hätte. Als ein Neunerkolleg hal)en seit der
Demokratie die Archonten bis auf eine Ausnahme nicht fun-
giert: der uQiav aber nimmt eine so exzeptionelle Stellung
ein, daß die Einfügung des KXiQvi, ebenso wie die des Strategen
nach ihm sehr wohl möglich war, wenn es sich allgemein
um ein Verzeichnen der höchsten Beamten handelte. Aber
gerade jene Ausnahme kommt hier in Betracht und lehrt die
Natur dieser Kataloge erkennen. Li der Gerichtsorganisation,
bei der Auslosung der Geschworenengerichtshöfe, arbeiteten
die Archonten als Kollegium. Der Areopag war zur wich-
tigsten Gerichtsbehörde o-eworden; ihm gebührte eine Ver-
tretung in der richterlichen Kommission, die bislang von
Archonten gebildet war. So verliert nicht nur das Auftreten
seines Obmannes aii sich — und weiter keines Beamten —
in einer und derselben Liste mit den Archonten alles Be-
fremdliche, sondern auch die ihm zugewiesene zehnte Stelle.
Er war eben später hinzugetreten. Es ist sehr wohl möglich,
daß der Kervx bei der Bestellung der biy.a6xi\Qia beteiligt
war, da diese noch im 2. Jahrh. n. Ohr. bestan.den und Lukian
Pliil.-liist. Klaase 1919. Bd. LXXI. «. 5
66 Bkuno Kkii.: [71, 8
iu einer zwar karikiereiuluii, aber in diesem Punkte unver-
ränj^liclu'n Sehil«lernn<^ das r'7r<)xA»|<jorj' T« dixccönj^xn an»
Areojtiig- i^eseliehen liißt/*^) .Itiic Lislcii ilürfen idso nidit
als Dokumente ü))er die Ktimmunalverwaltung oder verfas-
suujj;, sondern als Zen«]jnisse t'iii- dii' (}( riclitsverlasxun^ «be-
wertet werden, die eine nirlit uirlir test/ustellende Beteilij^iinj;
des Areopajjjs an iler Ziviljj^eriflitsbarkeit Ix^kunden. Und viel-
leicht •'im; seine Mitwirkun«»- hier noch weiter.
An oft herangezogener SteUe berichtet (Jicero (pio
Balbo 30), er habe in Atlion römische Bürger in nurncro
iudicum at([ne Areopagitar um certa tribu certo üu-
mero gesellen. Der certus numerus bezieht sich auf die
Ordnungsbuchstabeu AK (M) der i\.ichterabteilung(>n. Dali
die Areopagiteu je iu die dixaöTtJQiu gelost wurden, ist aus-
geschlossen; bei Cicero, der aus {Vi.scher Erinnerung spricht
— er war in Athen und plädierte für Bulbus 65 — eine di-
rekt falsche Angabe auzunelinum, wird man sich nur ent-
schließen, wenn jeder Erklärungsweg abgeschnitten ist. Als
solchen verjuag ich nicht die Ausflucht zu betrachten, daß
Cicero sich lässig ausgedrückt hal)e und certa tribu certo
numero allein auf iudices zu beziehen sei, stelle vielmehr
folgendes zur Erwägung: Nirgend wird bezeugt, daß die in-
struierende und präsidierende Richtertätigkeit des Verwaltungs-
beamten der alten Polisverfassung in die römische Zeit hin-
übergenommen Avorden sei. . Will man die Erklärung hierfür
in einem zufälligen Fehlen von Belegen suchen, so lautet die
Gegenfrage, ob denn die alte Institution bei der Aufhebung
einer großen Anzahl von Amtern überhaupt aufrechterhalten
werden konnte, einer Aufhebung, die, wenn sie die Inschriften
nicht zu einer notorischen machten, aus dem Zurückgehen
i>(>) [Liikiau, bis acc. 12. Im l\'. Jahrh. und später entsprach die
Zahl der Richterabteiluugeu oder die "Zahl der Mitglieder der Aus-
losuugskommissiou noch den Phyleii. Das ist für die römische Zeit nicht
mehr nötig, wie es auch im V. Jahrh. noch nicht der Fall war (vgl. die
Literatur bei Keil in der Straßburger Festschrift zur 46. Philologen-
versammlung 19ÜI S. 135. Daselbst auch zur folgenden Cicerostelle).]
71,8] BkitrÄ(;k zur Ukschichtf, des Aueoi'Aos. 67
des gesamten politisclien Lebens wie der Einwohneranzalil er-
sehlossfu werden müßte. Der Dezentralisation der Bearaten-
täticrkeit der Demokratie tritt in der nhnischen Organisation
der athenischen Verwaltung doch die Konzentration auf mög-
lichst wenige Beamte gegenüber, und die Römer knüpfen da-
bei an bestehende Einrichtungen an. Da die Thesmotheten in
der ' Demokratie das gerichtliche Zentralorgan waren, ist es
mir durchaus wahrscheinlich, daß die römische Verfassungs-
ordnung die richterlichen Funktionen der Einzelbeamten auf
dieses Kollegium zusammenzog, ihm aber den Keryx beiord-
nete zur Mitwirkung oder richtiger Kontrolle, damit bei zwei-
felhaften Fällen eine widerrechtliche Entziehung oder Zuwei-
sung von Prozessen gegenüber den verschiedenen Gerichts-
orffanen, Areopag wie Geschworenengerichten, verhindert werde.
Doch ob diese Vermutungen über eine Beteiligung des
Areopags an der Zivilgerichtsbarkeit zutreffen oder nicht, ist
für die Einschätzung seines Einflusses auf das gesamte Ge-
richtswesen Athens und der Machtstellung im Staate, die er
gerade auch durch seine richterliche Kompetenzen einnahm,
ohne Bedeutung. Er konnte wie die gewöhnliche Gesetzes-
übertretung des xaxovQyos so jede Verletzung der Verfassungs-
ordnung vor sein Forum ziehen, gleichviel ob sie von einem
Beamten oder Privatmann begangen war, da er die Kriminal-
gerichtsbarkeit in den Händen hatte. Damit war er der (pv-
A«| rcju vö^ov, hatte die Verfassung selbst in der Hand.
Nimmt man seine kommunalpolitische Stellung, wie sie vor-
her dargelegt worden ist, hinzu, besonders sein Recht, das
Staatssiegel zu führen und den Verkehr mit dem offiziellen
Auslande zu unterhalteu: war er nicht die erste Macht in
Athen? Und dieser faktischen Machtstellimg fehlte es nicht
an der Krönung durch einen Nimbus, mit dem die Mythen
von seiner Begründung und die von abergläubischem Schauer
genährten Vorstellungen über sein geheimnisvolles Walten
ihn umwoben ^'), und den die tatsächliche Wertschätzung^^)
87) [Aristides, Panathenaikos p. 170 sq.: Himerius orat. XXVIL]
88) [Vgl. Lukian bis acc. 4. i:. 14 |
()8 I^KiNo Ki:ii.: |7', •'^
bestiiti^te, wolclir vom Beginn»' dor römischpu Ohcrht-n-
schait. alt mtch ein hall)Os .Tahrtauseiid ihm einstimmig; zollte.
Als dem weisestt'ii und ^ertM'h tosten (u'richto wios ihm im
i.lahrh. v.Chr. »»in römischer Statthalter die fxxAf/roj,' <)t'}ci,
über einen smyrnüischen Uechtslall /.u*"'); der Sojjhist um das
.lahr 300 heißt ihn das dixaüTijotoi' Tf}< ()ti((aoOvvij<^ und nennt
ihn mit und vor Lykeioii und AkachMnie als die athenischen
Stätten, die kennen zu lernen ein Ziel der Sohnsucht sein
k(\nne''°i; wo der Kaiser lulianus den ujiheistechlichen llichter
fordert, weiß er nichts anderes zu sa<^en als ''/iQt.onayixi]'^ £6ro3
xQiTr'jg.^^) Es war eine gleich kurzsichtige Kritik, ('icero der
Übertreibnng zu zeihen ^^), weil ei- den Areopag den Lenker
des athouischen Staates genannt hat"''), oder die.'^es Urteil
auf die zufällige BeobachtuJiu; vorübergehender V'^erfassungs-
phasen während der beiden athenischen Aufenthalte Ciceros
zurückzuführen.''*) Jenes wird durch die Tatsachen widerlegt,
dieses traut einem der kundigsten, praktisch und theoretisch
gebildeten Staatsmänner Roms, abgesehen von einer starken
Obertlächlichkeit der Beobachtung, auf dem ihm eigenen Ge-
biete eine unbegreifliche Unkenntnis zu. Es heißt die man
nigfaltigste und fast alltägliche Verbindung, die seit der Sci-
pionenzeit zwischen Athen und llom bestand, völlig übersehen,
wenn man Cicero für seine Angabe allein auf die kurzen
eigenen Beobachtungen augewiesen sein läßt. Die eigentlich
regierende Behörde keiner anderen Stadt kann in Roni so
allgemein bekannt gewesen sein wie die Athens. Über sie
berichteten die römischen Beamten, mit ihr hatten die römi-
schen Kaufleute aus Athen und Delos zu tun gehabt^ von ihr
89) [Valerius Maximus YIII, i amb. 2 = Gelliu» noctes Atticiio
XII, 7.]
90) [Alkiphron 2, 3; Menander pag. 92 § 8 Bursian.J
91) flulianuä ed. Hertlein I, 77 Zeile 24. j
92) [Philippi, Der .\reopag und die Epheben S. 314; Thalheim,
R. E. II, 632.J
93) [Cicero de natura deorum II, 29, 74.]
94'; [B'kkgi.-.'son, Klio IX 1909, 325.)
71,8] Bkituaüe ZUR Geschichtk DES Areopags. O9
erzählten die Reisenden und vielen heimkehrenden Stndenten,
die unter der Aufsicht der (XLQtöis rijg i^ yigeCov näyov ßovXi]g
ijci tovg veovg gestanden hatten. Fast genau zweihundert
Jahre später ringt dem Rhetor Aristides^^), an einer Stelle,
Avo er in ersichtlich archaisierendem Bestreben die atheni-
sche Verfassung seiner Tage der alten Demokratie nahe zu
rücken sich bemüht, die Wirklichkeit doch das Geständnis
ab: wie vorzüglich auch das oligarchisch-aristokratische P]le-
ment in der athenischen Verfassung sei, ergebe sich, wenn man
vergleiche rd yf. trjs ßovkt^g övve'öqiov (d. i. Areopag) nQog
xä tTtoiod-C 7COV xvQLU xttl rjyov^ievtt. Die vollste Bestäti-
gung von Ciceros Athenieusium rem publicam consilio
resri Ariopaffi. Und so ist es sicher bis zur diokletianischen
Zeit geblieben.
Man hat mehrfach Erörterungen darüber augestellt, auf
welchem Wege oder durch Avelche Maßnahmen der Areopag
in der Zeit von 480 — 461 ohne Änderung seiner verfassungs-
mäßigen Stellung innerhalb des demokratischen Staatsorga-
uismus über den beiden souveränen Körperschaften der Bule
und Ekklesie einen bestimmenden Einfluß im Staatsleben habe
ausüben können. Die gleiche Erscheinung entwickelt sich,
zwar zu Anfang anscheinend in geringerem Maßstabe, doch
allmählich deutlicher hervortretend, im Verlaufe des 3- und 2.
Jahrh. v. Chr. Mit welchem Rechte und in av eichen Formen
übte also der Areopag die zuwachsenden Funktionen aus?
Mit welchem Rechte: In der Persernot um 480 hat er die
ihm nötig erscheinenden Rechte nach Aristoteles' Zeugnis
(rp. Ath. 23, 1) einfach okkupiert. 352/1 dagegen wird ihm
die Aufsicht über die heiligen Bezirke auf gesetzlichem Wege
durch einen Volksbeschluß übertragen, nicht anders als in der
römischen Epoche die Jurisdiktion über die xaxovQyoi (s. o.
95) [I 315^- Das Bestreben, die athenische Verfassung möglichst
der alten Demokratie ähnlich erscheinen zu lassen, hat schon der
iScholiast klar durchschaut III, 335, 22: tTttidi] tt)? dXi/ciQX't^e ofojxa
oix rjv xaXöv naQußäAXsi.v rij 'ATzi^y, &vrl tov slnsiv üliyao^iav ßov-
"jo Ukuno Kr.ii,: [71, S
S. ti). DioBe jj;esot/liche Hejjfriiiuiuii«; v\nvn Kingioil'rns dos
Areopags in dio Sphäre der amtlich vororthuMuloii Gewalten als
Heg.'l für ruhige Zeiten zu hetrarhten, zwingen das Psephisnia
des Teisainen()s vom .lahre 103 (Andok. I 84) sowie neben
einer ausdrückliclien Augahe des I )ein:ireh«>s (1 50) eine grö-
ßere Zahl von ZongnisstMi aus dem \. Jahrh.'""'), die sich aber,
wie hervorgehoben zu wercU-n verdient, sänitlicli als Mandate
des Volkes für Einzelfälle'"'), nicht als genert'llc Itechtsbe-
trauungeu des Areopags erweisen."^) Zu diesen geht eben die
hellenistische Zeit über, womit der areopagitische Hat in ge-
wissen Grenzen auf legalem Wege als Behörde ne))eii die ver-
fassungsmäßigen Amtsorganc und auf (Usni (iebiete der Ver-
waltung neben die so tief in dieses hineinbezojienen Rats- und
Volksversammluugen rückt. Der Areopag hatte diese Gewalten
nicht aus ihrer Sphäre verdrängt, sondern war selbst in diese
Sphäre eingedrungen uiul luitte sicli nach vielen Seiten darin
festgesetzt, und das war nicht auf revolutionärem Wege ge-
schehen, sondern allmählich. Der Areopag hatte die Geduld
und die Klugheit abzAiwarten, wie ihm die wachsende Un-
fähigkeit und t^berlebtheit der demokratischen Institutionen
eine Berechtigung nach der anderen in den Schoß fallen ließ.
Als die Kömei- in die Verfassung eingriffen, war an den
Grundzügen der demokratischen Verfassung Athens äußerlich
96) Vgl. Thai.hkim, K. E. II 631!.
97) ■:xQ06Ti:t,uvT0i tov di]\Lov Deinaich. a. a. 0. u. ö.
98) Es ist fest/uhalteu, daß ilie Bezeugungen von sittcnpolizei-
licliem Eingreifen des Areopag.s (vgl. besonder.-; Athen, pag. 167 E. 168 A")
keine Be-weist; für «eine staatsrechtliche Stellung sind. Er hat wohl
das Recht, aus eigener Initiative oder auf Veranlassung der Regierung
(Rat und Volk) sich mit einschlägigen Fällen zu befasf^en, aber er
kann keine rechtsgültige Entscheidung treffen, sondern muß die Sache
zur Aburteilung an die zuständigen ordentlichen Gerichte abgeben, die
durchaus nicht an seine Beurteilung gebunden sind. — Ich weiß nicht,
worauf die Angabe bei Schokmans-Lipsius, Griech. Staatsalt. I 542 be-
ruht, daß durch Demetrios v. Phaleron dem Areopag wieder die Sitten-
polizei übertragen sei. Das steht durchaus nicht mit dessen sonstigen
Maßnahmen in Einklang; die yvvarAovöy,oi, die er bekanntlich einsetzt,
sind ja gerade eine besondere Behörde auf sittenpolizeilichem Gebiete.
71,8] Beiträge zur Gkschichte des Arkopaos. 71
fust nichts zerstört: aber darunter war in aller Stille ein
neues Element zu stark bestirameudem Einfluß tjelangt. Die
Römer haben die Unklarheit dieser halben Verhältnisse be-
seitigt einmal dadurch, daß sie auf Grund einer revidierten
Verfassung den Areopag als Regierungsbehörde in das Re-
gieruugswesen selbst einfügten, ausgestattet mit völliger Ini-
tiative und unabhängig in seinem Handeln von den daneben
stehenden alten demokratischen Regierungsfaktoreu, weiter
ihn zu einer regelmäßig mitarbeitenden Verwaltungsbehörde
erhoben, endlich als höchste Gerichtsbehörde anerkamiten.
Die zweite Frage war, in welchen Formen der Areopag
seine Funktionen ausübte. Ich verstehe darunter die Fracre
danach, ob der Areopag seine verschiedeneu Tätigkeiten als
Gesamtkörperschaft oder durch Mandatare, also durch mehr
gliedrige Kommissionen oder Einzelkonimissare ausübte, und
uml zwar in den drei skizzierten Epochen, der okkupierten
Machtstellung, der niandierten Einzel berechtigungen, endlich
des verfassungsmäßigen Regierungs-, Verwaltungs- und Ge-
richtsorgans. Als Gesamtkörperschaft trat er bis zur Römer-
zeit sicher in seiner Funktion als höchster Blutserichtshof
auf. Das läßt nicht nur die Überlieferung erkennen, die nir-
gend von einem aus Areopagiten zusammengesetzten Gerichts-
höfe, sondern nur von dem Areopag spricht, es folgt auch
aus der Tatsache, daß bei Stimmengleichheit Freisprechung
seitens des Areopags erfolgte.'*'') Bei den athenischen Heliasteu-
geriehten war der Fall der Stimmengleichheit durch die ge-
setzlich bestimmte ungerade Zahl der Mitglieder der Richter-
kollegien (201, 401, 501, looi) ausgeschlossen; konnte er
beim Areopag eintreten, so muß die Zahl der Richter dem
Zufall ausgeliefert gewesen sein; zufällig war aber der Mit-
gliederbestand des Areopags, weil abhängig von dem laufenden
Abgang durch Todesfälle und dem jährlichen Zugang der neu
99) Aeschyl. Eum 753. Die Geltung dieses Prinzips auch noch
für die 2. Hälfte des 2. Jahrh n. Chr. bezeugt: Aristid. XXXVII 17 K
xai Toivvr hi rvv ffcS^sj nävTag, iav i'eai yivavTat. Über die spätere
Zeit 8. u. S. 92.
7 j Hiu'Nii Ki'.ii.: 17'-^
eiutretomlon Mit«j;lioiloi-. Als Gesnintkörpersehaft hat iiatürlich
der Areopiig auch soiiu* doyuar«, v:rouiniUi(TnHLo{, eTTegtorij
uara in nnnischiT Zi'it lieschlosscii. In der überwiegenden
Zahl (Um- KäUe aber hat der Are()i)a^ mit Kommissionen oder
Kin/elkommissarien arbeiten müssen. Das toIi^t einl'acli daraus,
daß ihm ein geschäftpführcnder Ausschuß wie die l'rytauen
für die Bule fehlt. Es mußten also jeweils Dflej^ationen für
die an ihn herantretenden (jieschilfte ansj^esondert werden.
Das gilt für alle Zeiten und für das gesamte Tätigkeitsfeld
der Köiperschaft. Ans der Zeit ihrer Vorherrschaft im 5. Jahrh.
bringt der Bericht des Aristoteles über die Arretierung des
Ephialtes einen Beleg; die Anekdote ist sicher unhistorisch '°''),
sie beweist aber doch, wie man zur Zeit ihrer Ertindung den
Areopag handelnd dejiken mußte, und sie bravicht durchaus
nicht erst dem 4. Jahrh. anzugehören: Themistokles zeigt dem
Areopag die Verschwörer an und führt roüg iciQt&tvro:s tijg
ßovXrtg^'^^) an den Aufenthaltsort des Ephialtes '°2). Eine
Kommission des Areopags konnte auch abgesondert werden,
\im die Entfernung eines heiligen Ölbaumes festzustellen. ^°*)
Eine Kommission, nicht der Areopag in pleno, ist natürlich
an der von Aischines geschilderten Volksversammlung des
Jahres ,^47/6^°^), wo sein Sprecher Autolykos über Baulich-
100) Zuerst R. Schokll, i;eil. Allg. Ztg. 1891 u. 107. 108; vgl.
V. WiLAMowiTz, Aristot. u. Athen T i8uf.; weitere Literatur bei Bu.solt,
Gr. Gesch. III i, 29 Anm.
101) Der Pap. KcputQsd-ivTctc, corr. Kcnyon: es ist eben eine ctigs-
cig des Areopags.
102) Die Anekdote bietet die einzige erhaltene Schilderung einer
i(fi'iyi]6ig, <lie bei Lipsus, Att. Recht u. Rechtsverfahren 337 f. nachzu-
tragen ist. Es ist mir eine pietätvolle Freude, als Urheber dieser Be-
obachtung Adolf Kiksslino nennen zu können, der sie mir 1891, so-
gleich nach dem Erscheinen der TtoX. '.1&., mitteilte.
103) Ljs. VII 22. Die Worte tov^ ivvia aQxovrag t; aXXovg rirag
T&v f| 'Aqsiov -xäyov lassen deutlich erkennen, daß die Feststellung des
Tatbestandes stets durch eine Kommission, nicht durch einen Einzel-
kommissar erfolgte; s. 0. S. 74.
104) Aeschin. I 81 f. rjjg -/uq ßovXfjS t;}c iv 'Agsim Ttäyat nooaodov
TtotovfiH'r,g ngo; lov ofjuor -/mtcc to xlTiCfiGj-ia to tovtov 7]v fiev
71, SJ Beitrage 7.v\i (tes( iuchte des Aueopag.s. 73
keiten .luf der Pnyx referierte, erschienen. ^^'') Die aus dem
4. Jahrh. bekannten kriminalrechtlicheu Voruntersuchungen,
ö TÖr '/.oyor '/.i--/oiv ix rtbv '-iQsonayiXMV AvröXvAO'i. Die Wendung 84 bI
ovx ccia^vvoivxo ytltämg 7tagovcy]g rfjg ß. r. i^ 'A. n. beweist natürlich
nicht das vollzählige Erscheinen der Körperschaft; die Kommission re-
präsentiert sie.
105) Diese Stelle dürfte eine trefleude Analogie zu den Präskript-
foruieln der Psephismen aus Mcthymna und Eresos bieten, die jüngst
Rehm im Miletwerke H. Ill (Das Delphinion in Älilet) n. 152 veröifent-
licht hat: 1 = 18 TtiQl 6)V ä ßu'/.la TiQotßovlsvai- xal 0/ OTQCctayol tiqo-
Tii>s(Ct xal rä)j' zi(iwx(ov xai ■nQSCßvxiQCov vi nagboirsg i7n]liroi' (Me-
thymna), vgl. 58 TztQi wv u ßöllcc ngosßoXXivai y.ai tcov KQ^övrcor 01
TTctgsovtsg Ttgoti^siGi v.al intjld-ov (Eresos). Daß die Areopagiten vor
dem Volke erscheinen können, ist durch besonderen Antrag erwirkt,
daher ngoai-ld-Bii'. Dasselbe besagt das t7ir,lQ'ov der lesbischeu Prä-
skripte. Deutlich ist in Metliymna das gesetzlich geforderte TtQoßov-
7.svBt.v des Kates und TtQOTi&ivat des Strategen von dem fakultativen
inaX^stv gesondert. Die formelle Antragstellung ist verfassungsmäßig
den Strategen vorbehalten; der Antiag geht aber eigentlich von den
Tiniuchen und Presbyteroi aus, die in der Ekklesie erscheinen, um den
Antrag zu motivieren, d. h. ihre Sache zu vertreten. Es erscheint von
ihnen aber nur eine Kommission, wie deutlich der partitive Ausdruck
Tür r//u.');fwv xai TtQsaßvTBQav oi TiccQiovrsg zeigt. Sollte die Formel,
wie ÜEHM meint, dem römischen qui adfuernnt entsprechen, müßte es
doch wohl V.UI Ol riuwxoi x. TtQBaßvTiQOi TTCfjiovzh^ heißen. Ich bin mir
übrigens nicht sicher, wie man ol tut y.ai rrotoß. verstehen, d. h. ob als
eine oder zwei Körperschaften fassen soll. Müßte es im letzteren Falle
nicht TCOV Till, y.ai xäv ngscß. heißen? Auf alle Fälle liegt in TCQsaßv-
TBQwv hier wieder aus vorrömischer Zeit — die Inschrift fällt in den
Anfang des 2. Jahrh. v. Chr. — ein Indiz für das Bestehen eines er-
sichtlich älteren Faktors neben den demokratischen Regierung:?organen
vor. der sich unter bestimmten Bedingungen und Verhältnissen neben
diesen geltend machen kann. Hier schimmert, wie in Athen, Argos,
Ephcsos und sonst eine der unter der Demokratie eingeschrumpften
älteren Institutionen durch, die später wieder zu kräftigerem Leben
gelangten; vgl. Gercke-Nohden, Einleitung IIP 370 f. — Das Präskript
von Eresos ist weniger durchsichtig. Vielleicht bezieht sich das ngo-
ri&ti6t nur auf die eigentlich mit dem ius agendi ausgestatteten Be-
amten, inr^l^ov auf andere Beamten, die den Antrag unterstützten, so
daß oi TictQBovTBg eigentlich nur auf diese geht, aber die hierdurch
bedingte Genitivkonstruktion im Kurzausdruck auf das Ganze ausge-
dehnt ist.
^4 H»u N(» Kk.ii.: [71. ^
zu denen t-r von der lu'gie'uuij henmije/.oijon wurde, komit«
die Körperschaft als solche nutürlich nicht durclit'iihren, son-
dern luuBtc die Nju'hforschunsj;en eiiM>r Koniniissinn oder
einem einzelnen ans ihrem Scholio ill>ci weisen. ANenn, wie
gesajrt, bei Kaintalprozesscn der Areopau; /.weitellds in seiner
Gesamtheit /.u Gerielit saß, so ist gleiches d(»ch l>ei seiner
erweiterten Gerichtsbarkeit zur b'ömerzeit nicht wohl an/n-
uehnien: er wird sich hier in kleinere (Tcrichtshöfe. d. h. rich-
tende Kommissionen gegliedert haben, die für die einzelnen
rhvlen festgesetzt waren. So kimnte sich Ciceros Angabe
erklären i^o S. Ot>\ daß er in Athen Areopagiten wie lleliastcn
certo numero oerta trüm gesehen habe. YiS wird auch mit
der Krnenunnii von Einzelrichtcrn zn rechnen sein; der t.it
ueh,Ttjg JijXov ist. wie von vcrsehiedciuMi Seiten zu größter
Wahrscheinlichkeit erhoben*"^), au^ den Areopagiten cTif-
uomuicu, und Kechtsprechen bildet seine Haui>ttätigkeit.'°')
Abtresehen von solchen richtenden Kommissionen und Einzel-
richtern, die selbständig endgültige Entscheidungen treffen
mußten, haben die Mandatare natürlich an das Plenum berichtet;
als Äußerung des Areopags selbst trat an die Oilentlichkeit,
was jener gebilligt oder sonst für richtig befunden hatte. "^'^')
106^ SiNDw.vi.i.. Untor.-.'.u-bmi'.'eu über du- att. Müu/.en neueren
Stils (Öfvorsigt of Fin.'ska Vetonsk. Soeietotens FörhsniUhigar 1900/7
XLIX) S. 71, wo Literatur und Belege.
107) VON ScHOKKFKit, De Deli iusjulae reV)Us p. 201.
loS") TDie einzelneu .Xreopagiteu können natürlioli für sieli Naih
fersoliungen anstellen; erst wenn der Areopag auf ihre Mitteilunir'-n
die Sache in die Hand naliu). begann die offizielle kommissarischo
Uutejsnchuug. .Als Areopagit bat in ilor oben ^^vgl. S. 72) schon lierau-
gezogeneu Anekdote Themistokles aus eigener Initiative die Anzeige
gegen Ephialtes ei^-tattet. Der Areupag nahm die Sache offiziell auf,
indem er eine Kommission entsandte. Wenn der Areopag es ablehnte.
die Sache zu verfolgen, 90 kann der Areopagit auf eigene Gefahr die
Anzeige bei den betreffenden Instanzen erstatten. Die Anzeige und
wenigstens von Dinarch (I, 48 ff' behauptete Verwerfung des Areopa-
•riten Tisiias bietet ein Beispiel. Die tintrierten Situationen der Alki-
pbroubriete dürten natürlich tut- die Gesvinnung wirklichen Hechts
ebensowenig ausgenutzt werden wie die rhetorischen Schuldeklama
71,^] BKiTRÄfiK zru GKscmciiTK iJKs Areopags. 75
Die Kommis-siorien und Einzelkommissare treten so nicht an
die Öffentlichkeit und hleiben der Überlieferung unbekannt.
Daher sind die letzteren noch seltener faßbar als die Areo-
pagkoinmissionen. 306/5 liefert eine Fünferkomniission von
Areopagiten unter Vorsitz oder Kontrolle des r</.(.iCag räv
öTQaxicoriXGJv auf Lemnos und Inibros eingezogene Gelder an
die tu^Cca 'Ad-yjvaiug xal rav aV.(ov d-täv ab.^''^) Im Anfang
des Jahres 221 wurde eine Kommission zur Herstellung eines
Anathems aus kleineren Beständen von Edelmetallen aus 3 Mit-
gliedern ik 'A\yrivuC(av aTcdimov und zweien ^'i,AQi07tttyixG)v^^^)
eingesetzt Eine zu ähnlichem Zwecke ganz ebenso zusammen-
gesetzte Kommission ist für 2 15 '16 bezeugt.^^^) Als Dele-
gierten des Areopags hat Sundwall auf Grund prosopogra-
phischer Beobachtungen das seit dem Anfang des 2. Jahrh.
in den Aufschriften der Münzen neueren Stils erscheinende
dritte Mitglied der Münzkommission erkennen können *^^);
daß hiermit die Betrauung des Areopags mit dem Schutze
der Xormalmaße (o. S. 56) in sachlichem Zusammenhange
steht, liegt auf der Hand, und die Analogie läßt vermuten,
daß der Areopag auch diese Aufsicht in irgendeiner Form der
Mandierung ausübte.
Die Kommission für Jugenderziehung (cdgeßig inl tovs
tionen. Wenn sie jedoch zu der im Texte gegebenen Aufstellung, die
ohne jede Rücksicht auf sie gewonnen wurde, stimmen, so bieten sie
immerhin eine bestätigende lUuBtration. IIJ, 72: Kleainetos ist. als
Vorsitzender und Referent der Kommission für die in Frage stehenden
Vergehen bestimmt Irccvxa TiQmxivst § 2) ; er berichtet darüber an den
Areopag. — Die Stellung auch des einzelnen Areopagtten beleuchtet
ep. III, 43: er kann ohne weiteres die Freilassung bewirken.]
109) [IG. II 737 und Addenda p. 508. Vgl. Fkankki. zu Bueckii,
Staatshaushaltuug* I 38 n. 237.J
110) [IG. II 403 (== ed. min. 839J, 25; 4 7 ff. Zeit ist fedtgelegt
durch DiTTENBEKGER, SylL' 557 not. 8 (Archont Thrasyphon).]
111) [IG. II 839. Zur Zeit des Archon Diokles vgl. Koluk, Att.
Archonten S. 50 und 73. J
112) [Sundwall, Untersuchungen über die attischen Münzen de«
neueren Stils (Öfversigt of Finska Veteuskaps-Societetens Förhandlingar
XLI.\ S. 10; 69 ff).]
/
t> f^iUNo Ki-ii.: \7'< ^
i'An'i:) aus dem i.Jiihrli. \ . ('lir. ist schon erwähnt (o. S. 26 u.0());
sie beistand auch noch im Jahre () i n. (Mir., nur «hiB sie, wie
es sclieint, in/wischen durch llinzu/iehung vou An«i;eh()rigen
der Khisse der yi'nvccüi(:i}xi><<>> erweitert worden war."^)
Cieero, der nach FkicgUSON nur oltcnliin inii den athenischen
Verliältnissen liekannt gewesen sein soll, wandte sich an den
Areopag, um den Peripatetiker Krati])))()s für Athen /,u er-
halten: er wollte, daß sein Sohn ihn dort im Jahre 45 hören
könnte. Der Areopag faßte einen entsprechenden Beschluß."'')
Cicero kannte eben den vorschriftsmäßigen ^^'eg, wußte, daß
die Sache durch die „Universitätskommis.sioü'" dieser Körper-
schaft ging. Es ist füglich nicht zu bezweifeln, daß der Areopag
in dieser Form au der Beaufsichtigung und Leitung des Ejiheben
iustitutes bis zu dessen Eingehen in der s])äteren Lebenszeit
des Herennius Dexippos beteiligt blieb."'') Ln 4. Jahrb. haben
.sich diese Verhältnisse geändert; darüber wird noch zu handeln
sein."")' [Vou Keil nicht mehr dargelegt. D. Hrsg. |
113' [IG. in 1085 folgt auf die Liiate derer o'i iyv^ivaGidg^riaav die
Rubrik AQSonaysirui avr ro/t,' yvfivaaiaQj^ixoig oids. Uiuichliu' faßt
Oehleu K. E. V 2740 die Areopagitcn als Ephebentitel. Daw wird schon
durch YV(ircc6taQXi'>ioi verboten; von dem Titel ruiißte es yvyi,vaciuQy^oi
heißen. ( ber die yvfiraetaQxixol als Miiuizipaladel vgl. Wilamowitz,
Staat und (-ieselLschaft der (Jrieclien S. 161 Phit. Ant. 33 steht nicht
fiCTU TcÖv yviivuCiaQxiKcbi' iv i^uriw ymI rpaiy.ualoig ttqoibi, wie Okiilkk,
R. E. VII, 1987, 7 aussehreibt, sondern ui-ta x&v yvuvaancQ/iy.wv ^äß-
deov . . . TtQofiSi, wodurch der athenische Beleg hinfällig wird. — Auch
IG. III 3QOO wird nicht yv^va]6iuQx{i^y.o[i. sondern yByvuva]aic(QyriK6[r . .
zu ergänzen sein.]
114) [Plut. Cic. 24: dikitQä^aro dh rijv i'^ .lotior Tidyov ßoiduv
ipijqjiCacd'ai y.al d£ri&)'jvcii utvsir nvTOi' (Kratippos) tv lid^qvuig xc^rt äiu-
Xiyt6%cci, Toig vsoig.^
115) [Die letzte einigermaßen datierbare Urkunde IG. III 1202
fällt spätestens 262/3; sie nennt als äg^oir ^cf'i]ßo)f den Sohn des Ge-
Echichtschreiber.-5. Da wir im 3. .Jahrh. auf je 3 — 4 .Jahre eine Ephe-
benurkunde erbalten haben, kann das Institut schwerlich lange Zeit
über jenes Jahr hinaus bestanden haben.]
116) [Einzelmandate lassen sich, wie erwähnt, schwer nachweisen.
Vielleicht war der Pistias ein solcher gewesen, gegen den sich der
Haß des Sprechers von Diu. 1 5 3 ff . wendet; der Areopag hatte sich
7',^] BeitrÄgk zur Gksghichte des Areopags. 77
Wie raaunigfncho Kommissionen auch gebildet werden
mochten, alles was sie fanden, befanden, in Vorschlag brachten,
bedurfte, wie schon hervorgehoben, der Ratihabitation des
Gesamtrates und trat als dessen einige Willensmeinung oder
Erkenntnis au die Ofleutlichkeit. Man kann also nicht fragen,
auf welche Weise die Kommissionen Feststellungen, Rat-
schlätje, Weisunofen an andere staatliche Organe orelanffen
lassen konnten; wohl aber muß man fragten . welche Weorp
Gebrauch oder Gesetz der Gesamtköriierschaft für ihre Äuße-
rungen geöffnet hatte. In die vorrömische Zeit läßt die schon
herangezogene Aischinesstelle (o. Anm. 104) einen Blick tun:
der Areopag bestimmt eines seiner Mitglieder zum Bericht-
erstatter oder Antragsteller bei der Ekklesie. In gleicher Weise
bringt ja die demokratische Bule selbst Anträge, die aus ihrem
Schöße hervorgehen, durch ein dafür bestelltes Mitglied vor
das Volk. Es ist müßig, für diese Zeit eineu anderen Fall,
wo der Bericht nicht an Rat oder'Volk ging, zu konstruieren ;
da der Areopag in der vorrömischen Epoche jeweils nur als
Mandatar der souveränen Körperschaften in Tätigkeit treten
konnte, hatte er über diese Tätigkeit auch nur an die Man-
danten zu berichten. Und wo er mit einzelnen Delegierten in
gemischten Kommissionen vertreten war (o. S. 75), erfolgte
Bericht und Rechenschaftsablage seitens der Gesamtkommis-
sion. Eine Ausnahme konnte folgerichtigerweise nur eintreten,
wenn der den Areopag heranziehende und beauftragende Be-
schluß die Anweisung enthielt, sich mit einer bestimmten
Stelle in Verbindung zu setzen. Das wird vielfach bei Be-
auftragung mit gerichtlichen Voruntersuchungen geschehen
sein; Zweckmäßigkeitsgi'ünde müßten ohne weiteres darauf
führen, in diesen Fällen den Areopagbericht direkt an die
seinem Bericlat und seiner Auffassung nicht angeschlossen; daher der
Angriff auf ihn. Das Zuständliche dürfte auch hier Alk. 43 widerspie-
geln, wo eine ä^rorycoyTj optima forma geschildert wird {&7tc:x^^'^W^V'<
dort heißt es von dem Areopagiten: avfm^ev rifilv tb deauo)Ti,Qiov. Der
Mann ist eben als ein mit der Tatersuchung betrauter Einzelkommissar
zu denken.]
78 liuiNo Kkti,: [71, «
insiruiereudon Rieht«.!', zumeist also uii die TheBinotheteii zu
verweisen. Es cntspriclit iler Slellimg des Areopii<^s in der
Demokratie, daß die oideni liehen Gerichte in keiner Weise
an seine FeBtstellungen oder gutachtliehen l>ats(dililge gebun-
den waren, wenn diese im Eiuzelialle auch immer (his Ge-
wicht eines autoritativen Präjndizium behielten. Dinarcli
(1 53 sqq.) berichtet ausdrücklieh ülier Fälle, in welchen die
demokratischen Geschwonnen das Urteil des oligarchisehen
Areopags desavouierten.
Eine solche Arbeitsorganisation ist bei einer Körperschaft,
die ebenso eines leitenden Beamten wie ausführender Organe
entbehrte, unmittelbar verständlich. Die Neugestaltung der
^\•ri■asbung in römischer Zeit hat an dem Prin/ipe des Ar-
beitens in Kommissionen nichts geändert; eine grundsätzliche
Neuerung jedoch war die Einsetzung des xfiQvi, rfig tt, 11q£iov
aayo»' ßoxf/.fjc; als eines ständigen Beamten der Körperschaft.
Es ist schon ausgeführt, in welcher Weise die Schaffung die-
ses Amtes den Interessen der römischen Regierung diente;
man muß aber hinzufügen, daß die neue staatsrechtliche
Stellung des Areopags an sich das Vorhandensein einer testen
amtlichen Stelle erforderte. Eine solche wurde schon durch
den geschäftlichen Verkehr bedingt, in den die neue dritte
souveräne Körperschaft mit den beiden demokratischen not-
wendig treten mußte. Sie war eine Notwendigkeit angesichts
des ungeheuer erweiterten Geschättskreises des Areopags. Der
Bürger mußte ein bestimmtes Oro-an kennen, an das er sein
Anliegen richten konnte: der Areopag selbst konnte seine
Willensäußerungen nicht mehr der Mannigfaltigkeit oder for-
malen üngenauigkeit individueller Fassung aussetzen, seitdem
er zu einem souveränen Organ erhoben war. Nur die Zen-
tralisierunu" des ^cesamten Geschäftsverkehrs auf ein einheit-
lieh geleitetes Bureau konnte den Emanationen des Rates
diejenige Gleichartigkeit und rechtliche ünantastbarkeit der
Form geben, wie sie bei einer souveränen Körperschaft unent-
behrlich sind. Und als Überraittler der Wllleusäußerungea
des Areopags muß er jetzt auch Anordnungen, Befehle und
71,8] Bkiträok zur Gkschiohtk dk.s Areopa(js. 79
Beschlüsse dieses Rates direkt an die ausführenden Beamten,
soweit diese uach dem Geset/ von dorn Areopag Weisungen
zu empfangen haben, haben gelangen lassen; denn seit der
Areopag selbst souverän geworden war, bedurfte es des Um-
weges über die beiden anderen Körperschaften nicht mehr.
Endlich konnte der Areopag als Körperschaft in dieser Zeit
eines Kepräsentanten nach außfcJi nicht entbehren.
Das also ist das Bild des Areopags in römischer Zeit.
Eine Körperschaft, die sich für ihre Betätigung in eine grö-
ßere Anzahl von Kommissionen mit jeweiligem oder auch
dauerndem Arbeitsanftrag (cägsöLg in\ rovg t^eovg) gliedert.
Sie bestimmt sich ganz selbst, ist in ihren Beschlüssen völlig
souverän innerhalb der Grenzen der Verfassung und des Ge-
setzes. Sie besitzt in dem xijQvt, einen geschäftsführenden
Beamten; durch seine Hände geben alle Agenden des Plenums
wie der Kommissionen; er gewinnt so eine Geschäftskenntnis
und hat damit notwendig einen Einfluß in der Körperschaft,
wie kein anderes Mitglied sie haben kann. Er ist faktisch
der primus inter pares, wie er es entsprechend dem Range
seines Amtes in der Beamtenhierarchie erscheint. Ich habe
die Züge dieser Korporationsorganisation noch einmal kurz
zusammensfefaßt, um so die Gleichartio-keit einer Parallelbil-
*n^
dung aus unseren Ta»en eindringlicher vor Augen zu stellen.
Diese Parallele bietet die Verfassung und Verwaltung der
englischen Munizipalstädte (Boroughs). ^^') Die Vertretung
der Stadtgemeinde bildet der durch Wahl aus der Gemeinde
bestellte Stadtrat (^^Town Council). Für die Ver waltun gsge-
schäfte gliedert er sich in so viele ständige Ausschüsse oder
Spezialausschüsse i Standing. Special Committees), wie nach
Ansicht des Plenums für die Verwaltung nötig sind; ihre
Tätigkeit untersteht der Überprüfung durch das Plenum des
117) J. Redlich, Englische Lokalverwaltuug (Leipzig 1901), S. 307 fF.
338 ff. Für den Hinweis auf das Vorhandensein einer der oben darge-
stellten Organisation ähnlichen Ordnung in der englischen Lokalver-
fassung sowie auf das zitierte Werk bin ich meinem Kollegen, Herrn
Prof. RicH. Schmidt, zu Dank verpflichtet.
8o Pkino Ki;ii.: 17', ''^
Stadtiutes. Das Gesetz Hißt der <Joineimle, also dym Stadtrat,
freii' Hand in der ScliatViinn' von Ivonununaliiintern, sowie
Bcstelluny: oder Entlassiin<f von KoiMinunalln'anitou: nur zwei
Beanituugen fordert es iu jeder (Temoinde, den Treasiirer und
Town Clerc. Dieser wolint allen Sit/.uugen des Plenums bei,
ebenso denen der Ausschüsse, soweit er sich in diesen niclit
durch Hilfskräfte vertreten läßt. Alle Fäden der GenitMnde-
verwaltung laufen in seinen Händen /usaiuinen. Er ist der
Chef der Stadtkan/lei, ist 'der Archivar und Registrator der
Gemeinde: ihm obliegt die Ausfertigung aller iiamens der
Gemeinde ausgehenden Schriftstücke und Urkunden, sowie der
Verkehr mit den Zentralbehörden'. Durch ihn gelangen der
Regel uacli alle Weisungen der einzelnen Ausschüsse an die
dem Verwaltungszweic; des betreffenden Ausschusses dienen
den ausführenden IJeamten. 'Der Town Clerc stellt ferner
nach außen hin die Spitze der kommunalen Beamtenschaft
vor." Das Amt selbst gibt seinem Träger eine hohe soziale
Stellung; es wird zurzeit 'fast durchgehends als das eines
Gentleman betrachtet'. Es ist überflüssig, die Übereinstim-
mungen in der Organisation der beiden verglichenen Körper-
schaften und zwischen den Amtern des Keryx und des Town
Clerc im einzelnen herauszuhehen. Einen Vergleichspunkt
will ich noch hinzufügen. Der Stadtrat wählt aus sich aul'
ein Jahr seinen Präsidenten, der zwar das Recht der Berufung
des Stadtrates hat, sonst aber nur der höchste Würdenträger
ist. Sein Amt ist ein repräsentatives, das den Besitz eines
größeren Vermögens voraussetzt, wie denn sein Träger das
repräsentative gesellschaftliche Oberhaupt der Stadt, Ehren-
präsident aller gesellschaftlichen oder gemeinnützigen Bestre-
bungen usw. ist, aber nicht das verantwortliche Haupt der
städtischen Verwaltung, 'der Bürgermeister'. Man vergleicht
ohne weiteres das Verhältnis des Town Clerc zum Major mit
dem des xrjQvh, r^g it, 'Aq^iov .rdyox^ (iov).i]<^ zum uQyiir
(i^oivv^og). Endlicli sei noch auf die Alinlichkeit in der ver-
fassungsmäßigen Stellung der verglichenen Körperschaften hin-
gewiesen: der Areopag römischer Zeit ist eine kommunale
71,8) Beiträgk zur Gescuiciitk dks Arkopags. 8i
Körperschaft wie der Town Council und untersteht der römi-
schen Zentralgewalt zunächst in der Person des Statthalters
wie der Town Council mit seinen Beschlüssen den betreffen-
den Zentralbehörden, die im letzten Grunde Mandatare des
Parlaments sind. Daß jeder Vergleich Ungleichheiten unter-
streicht, versteht sich; es wäre sonst eine Gleichung. Doch
die Verschiedenheiten verschwinden hier vor den Überein-
stimmungen in den Grundlinien. Es genügt, wenn die Par-
allele meine Darstellung der Organisation des Areopags be-
lebt hat; ich denke aber, sie hat noch mehr getan, hat ge-
zeigt, daß das hier entworfene Bild die Züge einer in der
lebendigen Wirklichkeit bestehenden rechtlich gleichartigen
Institution trägt.^^^)
Jetzt ist es möglich, der Frage nach dem Ergänzungs-
modus des Areopags zur römischen Zeit näher zu treten. In
der ersten Hälfte des 4. Jahrh. werden die Areopagiten vom
proconsul Achaiae ernannt; die Dankrede des Himerios au
Skylakios für seine Ernennung zum Areopagiten ist kurz nach
dem Jahre 343 verfaßt.^'^) Ich habe früher diese Bestelluugs-
art der Areopagiten auf die ganze römische Periode ausdeh-
nen zu dürfen gemeint, dann die Frage angesichts des Mangels
direkter Zeugnisse oÖen gelassen ^-°); bessere Anschauung von
der Stellung des Areopags in der Kommunalverfassung sowie
das Hinzutreten indirekter Bezeugungen lehrt, daß man auch
hier die Zeiten scheiden muß. Den Schnitt bringt die dio-
kletianische Epoche. Ich spreche also zunächst von dem Er-
«ränzungsmodus während der drei ersten christlichen Jahr-
hunderte.
11 8) Ich will doch ausdrücklich hervorheben, daß ich die vorge-
führte Organisation und Arbeitsart des Areopags aus den zerstreut über-
lieferten Indizien und Zeugnissen erschlossen hatte, ehe mir die eng-
lische Parallele bekannt wurde. Meine Auffassung ist also völlig unab-
hängig von dieser entstanden, keine Konstruktion nach modernem Muster.
119) [Himerios or. 27 a. E. Zur Zeit vgl. Skkck, Briefe des Liba-
nius S. 270.]
120) [Gkrcke-Noudkn, Einleitung III 360 (Zweifel dagegen, doch
ohne Begründung, äußerte Swoboda, Gr. St. 177, 5) und *394 ]
Phll.-hist. Klasse 1910. Bd. LXXI. 3. 6
82 Hni'No Kkii,: (71, s
Es läßt sich niclit iiiU'lnvcison oder iiucli nur iiU'Muhvic
wahrscheinlicli machen, ihiß der Eintritt in den Areopaji; olnu*
die vorliorige HckleidnnL»- eines Arclionteuamtes in dieser
I'eriode niö'ii'lich gewesen wäre: umgekehrt heweisen die In-
schriften positiv, daß der Keryx stets ein soK-hes Amt inne-
gehaht liat. Alh-rdiugs ist die r)eol)aclitung auf diesen einen
Areopagiten beschränkt, da ja die sonstigen einzelnen Mit-
glieder des Areo])ags überhaupt keine amtliche Erwähnung,
kaum eine solche in einem cursus bonorum finden; allein nur
bare ^^ illkür kann bestreiten wollen, daß für die gesamten
Mitglieder des Areopags gilt, was für den Kerj'x feststeht,
daß sie Arcbonten gewesen waren. Hiermit ist jedoch nicht
gesagt, daß mit dem Erwerb der Qualifikation /um Areopa-
giten durch Bekleidung irgendeines der neun Arclionten-
ämter auch der Anspruch auf einen Sitz im Areopag erwor
ben wurde, wie es in der demokratischen Zeit der Fall war.
Diese Vorsicht zu üben zwingen die Inschriften mit Angabe
der Amterlauf bahnen, deren ältest»^ in die Mitte des 1. Jahrb.
V. Chr. zu fallen scheint.^^')
[ j xt]QVXfv0uvxa xcd ■yi'HvaöLUQp'jöavTU Öig, ccyiovo-
&tTrjöavTa. öTQurijyijöavta i%l tuv^ (inlurac; IGr. 111 722:
Mitte 1. Jahrb. ^*2)
121) [Ich beschränke mich auf die gegebenen cursus bonorum; es
wird sich noch für einzelne Beamte aus getrennten Angaben die Lauf-
bahn wiedergewinnen lassen, wie z.B. der Archon Epikrates IG. Ill 136
mit dem Keryx 1013 identisch sein dürfte; doch bleiben meist Zweifel.]
122) Zeit annähernd bestimmt durch die Erwähnung der yLbyäXcc
KttiedQ)]a Hsßaarä, die nicht wohl nachflavisch sein können, und die
der augusteischen Zeit besonders eignende Orthographie -pTj«, für die
IG. III 652 (gerade mit Kaiaagijcov UsßaeTcov) aus dem Jahre 57 nach
Mkisteuuans, Gramm, d. att. Inschr.^ 48, 353 das jüngste Beispiel liefert.
— Z. 3 ist unleserlich, auch Z. 2 am Schlüsse vielleicht nicht ganz ge-
lesen. Ob nach dem Namen F. Me^niiov Zaßsl^rov UaiGuvSQuv noch
der Name des Vaters folgte, ist unsicher; sicher daß das Archontat
genannt war. Stand der Name des Vaters, bleibt nur Raum für ßaai-
'kiv6avxa\ fehlt er, so lautete 3 aQ^avra ttjv inävvfiov ägj^'^v. Dies hat
nach der Sehriftverteilung der folgenden Zeilen die Wahrscheinlichkeit
für eich.
71,8] Bkituäge zur Gkschicutk dks Areopags. 83
ci(flavra tijv i:TCC3vv^ov ccQX^iv^ xrjQ. r^g s^ 'Jq. 7t. ß.. xrJQvxa
ßovXr}g Kai drßioi> yfvöufvov, f%Li.isXi]riv6avTi< rrjg ^ölscog.,
ayojv., yv}iv., argar. BCH. 1895 XIX 11.3, 2. Hälfte,
^x. xr]Q. öTQccr. aycor. yvfivaff. STti^skrjzrjv yavo^uvov riyg 7t6-
Xsag IG. in 721: kaum nach 150.'^*)
s:i. öTQccT ijtL^isXT]rrjV yvuvuöLaQxiag ^eov 'AÖQiavov, äyavo-
^ki]v xQig Eph. arch. 1883, 77 (= Dittenbergek, Syll.^
872): 163/4.
£.T. '/.r]Q. II 28, 8: 165/6.
i:T. :tavi]yvQiuQxri6avTog^ x}]q. argtcT. yv^iv. aycov. Dittenher-
GER-'' 869, 9.
iTt. %avriy. xrjQ. f(Qh,ciVTa, Jt(ivi]y. yv^v. ebda. Z. 13: 165
bis 169.
i7C. öxQdx. yvav. xr^g. Epli. arch. 1897, 65: Ende 2. Jahrh.
0T(}aT. ßaöiXsvöuvrog xt^q. IGr. III 680: dgl.
£X. xtjQvxsvöavtog t6 ß, aytav. axoar. Eph. arch. 1883,
139, 13-'^^)
123) Zeit durch die eponyme Priesterin Flavia Laodamia (IG. III
895) angezeigt. Der Vater des Tißsgiog Kkavöiog . . KcdkiKgaridov Tql-
I xsQvcios ist identisch mit dem durch IG. III 648—650 als atgctzriyög
int xovs OTtXsirag, Panegyriarch und KfiQv^ rfjg ßovlfig y.al tov öijilov
bezeugten Kcdliy.QuriSrig ZvvSqohov TQi-xoQvoiog, wie das Demotikon
zeigt. Yorhadrianisch : ßovXij rmv i^ay.oauov. Derselbe wohl der aQx<av
KüUiKQaridrig 1082 klaudiacher Zeit. Die relative Chronologie bestä-
tigt: c. 55 Vater Archon, in nachflavischer Zeit der Sohn am Ende
seiner Laufbahn.
124) Die iTTm^Xrital ri'ig nöXswg lassen sich nicht über die hadria-
nische Zeit hinab nachweisen; Literatur und neuer Beleg bei A. Wil-
HKLM, Ost. .lahresh. 1909 XII 148.
125) TOB für einfaches B, d. h. 3ig, wie Z. 24 atQCiTTjyjjGuvrog . . .
TÖ [^?]. — Zeit: die Geehrte, Aelia Kpilampis, ist Nichte {ävh^iä) so-
wohl des Ardys, Archon 150/1 (IG. III U2u), der noch als uQiisQBvg
xmv 2:£ßccezüv, d. h. des Marcus und Verus (161 — 169) bezeichnet wird,
wie des Aelios Gelos, Archon 165/6 (ebda. 1128). Der Stein von dem
Enkel der Epilampis während seines Amtsjuhres als Eponym gesetzt. —
Übrigens ist Z. 29 das N nach dem Namen dieses Enkels o trrwvv/tog
agxtov n. iIo(i(3tflbvtos) 'Hyiag ^alf]Qsvg als v{iwTfQOs), nicht als N{ov-
ftfQiog) zu verstehen; der Zusatz war nötig, weil sein gleichnamiger
C*
84 Hkiku Kkii,: [71,8
f.-T. ifTQUT. x}jQ. ccycov. ebdii. Z. 18: um Joo.**^)
/,T. ßai-si).. (»TpfiT. yviw. xi}Q. Epli. ;iicli. 1H85, 148, 25: Anfang-
3. Jahrli.
Nirgend treten hier aus der Neunzahl der Archonten der
Polemarch und die Thesniotheten :int' Die beträclitliche An-
zahl der sich iil)er mehr (hiin aiiderthalh Jahrhunderte ei'-
streekenden Heispiele schlielit liie Austlucht aus, diese Er-
Rcheiuunjj^ auf die Zufälligkeit unserer Uherlieferun«»- zurück-
zuführou. Hätten die Polemarchie und Thesmothesie den Ein-
tritt in den Areopag eröltuet, müliten sie in diesen Äniter-
aiifzählungen irgendwann sich zeigen. Die Inschriften sagen
also aus: von der Mitte des l. .lalirh. alt können aus den
jährlich abtretenden Archonten nur die beiden höchsten, der
Eponvmos und Basileus in den Areopag gelangen. Hier greifen
nun die beiden literarischen Zeugnisse ein. Da iiire Beweis-
kraft für eine gegen früher veränderte Bestellungsart des
Areopag nocli jüngst l)estritten worden ist'-^), kann ich sie
nicht ohne eingehendere Interpretation lassen. Scr. r. A. vita
Gull. II, 3 heißt es: Gallienus apud Athenas archon erat, id
est summus magistratus, vanitate illa, qua et civis adscribi
desiderabat et sacris omnibus interesse; quod neque Hadrianus
<^nisi)> in summa felicitate neque Antoninus nisi adulta fecerat
Vater, der immittelbar vorher genannt ist, ebenfalls Eponymos war.
Man unterscheidet in dieser Zeit die homonymen Archonten nicht mehr
wie früher mit o uträ So folgt aus der Datierung des Todes-
jahres des Proklos (Marinus v. Procl. 36) ägxovTog kd'jjvrioi Nikuyoqov
Toß vtMTtgov, daß für das frühere 5. Jahrh. u. Chr. noch ein Eponym
Nikagoras, vermutlich der Vater des jüngeren, in unserer Archonten-
liste nachzutragen ist.
126) Die Geehrte, F. Aelia Herennia, ist Tochter dcd P. Aelius
Apollonios, der mit dem in der Liste IG. III 1030, 13 (aus den Jahren
165 — 1851 aufgeführten Epheben als identisch zu betrachten ist; ihr
Großonkel (:TpoO'6<o?; vgl. CIG. 3936), der Daduch P. Aelius Diouy-
sios, dürfte der Ephebe gleichen Namens der Liste 11 20 vom Jahre
150/1 sein.
127) Ln'.sm.i, Att. Recht u. Rechtsverfahren S. 122. Fekgi;80n, Klio
1909 IX 328 f.
71,8] BeitkÄgk ZUR Geschichte DES AuEOPAus. 85
pace ... 5 Areopagitannn prneterea cupiebat ingeri n\imero
fontempta fere republica. Uabefangene, d. h. uicht durch die
Kücksicbt auf die ältere Ordnung beeintlußte Interpretation
muß die Möu'liehkeit anerkennen, daß hier der Eintritt in
den Areopag als ein von der Erreichung des Bürgerrechts
und des Archontates sowie von der Einweihung in die eleu-
ßinischen Mysterien ^^^) gesonderter Akt dargestellt ist,
der nicht als selbstverständliche Konsequenz aus der Beklei-
dung des Archontates folgte. Dadurch, daß sich aus den In-
schriften eine Veränderung in der Areopagitenbestellung er-
schließen ließ, ist jene Möglichkeit zur Glaubwürdigkeit gestei-
gert worden. Natürlich erlaubt der Wortlaut des Berichtes
nicht, ein Hervorgehen der Areopagiten aus den Archonten-
kollegien überhaupt zu leugnen und eine von der früheren
völlig verschiedene BesteUungsart anzunehmen; nur das er-
geben sie, daß eine Veränderung stattgefunden hatte. Und
das war ja anch der Fall, wenn der Areopag sich nur noch
den beiden höchsten Archonten öffnen konnte — konnte,
nicht mußte; denn das muß man allerdings daraus entnehmen,
daß der nun beglaubigte Bericht die Erlangung der Areopa-
gitenwürde von der des Archontates handgreiflich scheidet.
Das zweite Zeugnis liefert Plutarch (Per. 9): avtai yccQ ul
uQ%a\ (die Q Archonten) '>iXi]Q(x3raC rs i](3av £x TcaXaiov xal
ÖL ^"') avxCov ol öo/iLnuad^'cVTS^ dvsßaipov elg 'Aqsiov Ttäyov.
Daß hier das Präteritum infolge logischer Attraktion an die
vorhergehende präteritale Darstellung (ou ^isTulxe) nach grie-
chischer Ausdrucksweise stehen kann, ist unbestreitbar; allein
128) Daß diese vor allem unter den eacra zu verstehen sind, ist
ohne weitere« klar und wird durch den Hinweis auf Hadrian und Mar-
cus bestätigt. Für die Weihung des Hadrian die Belege bei Webkr,
Unters, z. (Jesch. d. Kaisers Hadrian 168 ff.; zu den Zeugnissen für
Marcus in R. E. I 2301, 54!". noch Dittexbkroer, Syll.' 872. Übrigens
hatte auch L. Veras die Weihen, Eph. arch. 1895, in (= Dittenbergek
869) ebenso Commodus: a. a. 0. 1883, 77 (=: Dittenbkrgkr 872).
129) Diese Präposition verstehe ich nicht; es ist eher Dittographie
nach KAI als Verschreibung aus i^.
86 I)Ui;no Kkii.: [71, 8
zu (lieser Erkliiniu>:< greift man docli nur, wenn sidi keine
Mögliehkfit l)i«'tet. solch«' Worte in dem aifh uiunittelhnr
bietenden Sinne zu verstellen; iliese Möglichlieit besteht aber
hier, da nichts als liistorisch beeinflußte l'^rklärung die Auf
fassung verhindert, daß Plutareli durch diesen Zusatz sein<>
Leser über die alte Ordnun«; lielehren zu müssen '•laubte,
weil diese eben zu seinen Zeiten nicht mehr bestand. Man
wird jetzt diese näclistliegende h]rklärung in ihr Kecht ein-
setzen. Ks war schon immer bedenklicli, die beiden vonein-
ander völlig unabhängigen literaris(;hen Zeugnisse beiseite zu
schieben, wo sie sich doch gegenseitig stützten. Dabei über-
sah man außerdem, daß für den einen Teil der plutarchischen
Worte der Gegensatz von ehedem und jetzt tatsächlich zum
Ausdrucke kommt. Daran, daß in der timokratisch-oligarchi-
schen Verfassung der Kaiserzeit die Arcbonten gewählt, nicht
erlost wurden, bezweifelt wohl niemand mehr; darum setzte
Plutarch das Kh]Qcor(d re i]6av hinzu, das den Gegensatz zum
Jetzt enthält. Und das auf das engste hiermit verbundene
xal — avhßaivov soll man danach verstehen, als ob ein log;
hl xa) vvv dabeistünde? Was die Verwerfer des Zeugnisses
verstehen, käme somit nur klar zum Ausdruck, wenn Plutarch
etwa geschrieben hätte: xXrjQcotcd i]6uv ex otalaiov, äveßaii'ov
df, cjg tri xal vvv, avtciv 01 öoxLnaöd^tvxEg xxX. Die Aus-
drucksweise des Schriftstellers wird nur konzinn, wenn beide
Satzteile die gleiche Perspektive haben, entweder besagen: so
wie heut, oder: anders als heut. Da jenes durcli x).i]qo}t«l
ausgeschlossen ist, bleibt nur dieses, und Plutarch bezeugt
für seine Zeit, daß wie für das Archontat die Losung abge-
schafft war, so auch der Eintritt in den Areopag eine Ände-
rung erfahren hatte.
Die kombinierten Zeugnisse der Inschriften und Schrift-
steller ergeben also, daß überhaupt eine Änderung in diesem
Punkte stattgefunden habe; weiter ließen die Lischriften er-
schließen, daß die Veränderung in der Beschränkung der
Kandidatur füi- den Areopag auf den Eponymos und Basileus
bestand. Es gilt jetzt zu prüfen, ob diese Ordnung mit dem
71,8] Beitragk zun Geschichte dks Aueopags. 87
Chariikter der Verfassimg zur Römerzeit und der Stellung
des Areopags in ihr in Einklang steht. Die Prüfung wird
diese Übereinstimmung ergeben und damit den äußeren Zeug-
nissen die wichtigere innere Beglaubigung hinzufügen.
Die timokratisch-oligarchische Verfassung band natürlich
den Zutritt zu den höheren Amtern an bestimmte Zensus-
stufen. Das Archontat war demgemäß nur einer beschränkten
Anzahl von Bürgern zugänsflich. Wir kenneu die Zensus-
zahlen nicht; aber die Geldspenden und sonstigen freiwilligen
Leistungen der Beamten, auf deren Munitizenz die arme Ge-
meinde rechnete, erforderten immerhin große Vermögen. Der
Archon Tib. Claudius (Anm. 123J gab eine ÖLdSoöi.<^ von einem
Medimnos und 15 Drachmen, derselbe als yfja^^atsv':; ßovkrjg
xul di'juov 2 Denare, vermutlich für jeden Bürger.^^°) Die
Largitio stuft hier deutlich die Würde der beiden Amter
ab. Für den Eponymos war ein höheres Vermögen als für
den Grammateus erforderlich; danach wurde gewählt. Der
öTQatip/ös, der die cura annonae hatte (o. S. 501, muß stets
ein recht wohlhabender Mann gewesen sein; das beweisen die
freiwilligen Spenden und die :taQajiQäöeig^^^\ der Agoranomen
der anderen Staaten, deren Funktion eben der Stratege in Athen im
wesentlichen ausübte. Um Athen mit billigem Getreide zu
versehen, richtiger vielleicht, weil in dieser Zeit des tiefsten
wirtschaftlichen Ruins sich kein Athener zu dieser kost-
spieligen Liturgie bereit fand, hat noch Kaiser Konstantin
130) [B. C. H XIX 1895, 113 ()' 4 inl usdi(ipcp neu dtytuTTh'te öoo:-
Xuoil?, 6 iTTi drivagioig SvaL Die Berechming nach den verschiedenen
Nominalen fällt auf, da doch der Denar und die attische Drachme
sonst gleich gesetzt werden. Die Spende von 15 Drachmen war bei-
spiellos hoch; denn es wird kein Unterschied gemacht wie gelegent-
lich bei Stiftungen zwischen Beamten und Bürgei'n (Laum, Stiftungen
I 93). Die Inschrift fällt etwa in dieselbe Zeit wie III 69, in welcher
nach MoMMSENS Darlegungen die athenische Drachme als '/^ Denar be-
rechnet ist; das ergäbe dann hier 2'/^ Denare neben den 2 Denaren.]
r3i) [WiLUKLM, Arch. Epigr. Mitteil. 1897 XX 77; besonders illu-
strierend noch J. V. Magnesia 179, 20, 25.J
88 Bruno Keii,: I71, 8
das athenische Strategenanit übernommen.*^') Wie groß soll
man sioli t'igentlidi die Zalil so begiiterter Biir»>;rr in doin
Terarniten Athen denken, das mit seinem liürf^erreclii Schacher
trieb ''•'), bis die römisclie K'egierung einschritt, nnd Inseln
die ganzen .Tahrhunderte hinihirch erbettelte, um seinen Fi-
nanzen aufzuhelfen y"**) Wir kennen ja die ))ürgerliche Ein-
wohnerzahl Athens in dieser Zeit nicht. Hklocii hat aus
Ephebenlistcn für die Zeit der AntoniJie einen Bestund von
annähernd 4000 wohlhabenden Bürgern berechnet '■'"'), wohl-
habend doch in dem beschränkten Sinne, daß ihr Einkommen
ihnen erlaubte, ihren Söhnen die gymnasiale Bildung der
Ephebie angedeihen zu lassen; Vermr)gen zur Bestreitung der
großen Liturgien waren das natürlich zum allergeringsten
Teile.
132) [lul. I p. 9 Hertl.; Koustantiu erhielt dafür eine Stiitue iu
der Amtstracht des Strategen roiavTris Bi^övog Tvy%dv(av atr' ini-
ypaHfiaros.]
133) [AugiistuH verbot den Athenern firiätv« TtoXiTi^v ö-p/vp/ov not-
ficd-ctt (Dio Cass. LIV 7).J
134) [Den luselschacher betrieben die Athener von Augustus' Zeit,
wo Nikanor ihnen das verpfändete Salamis znrückkanfte, bis Julian,
dem Himerios in Grallien ein paar Inseln abbettelte.]
135) [Die einzige feste Zahl aus der römischen Zeit (Ephera. Arch.
18.S4, 167) bietet die Angabe der Stimnienzahl in einer Volksversamm-
lung: 3461 Stimmen mit ja, 155 mit nein. Also waren in der Volks-
versammlung 3616 Anwesende. Da lange nicht alle Bürger erschienen,
muß die Gesamtzahl der Bürgerschaft sich reichlich auf 5000 erhoben
haben. Soviel hatte Beloch (Bevölkerung d. griech. röm. Welt S. 71)
für das Ende des 2. Jahrb. berechnet. Seit Sulla hat .sich die Ein-
wohnerzahl kaum mehr gehoben. Nach Zos. V, 5, 8 hat Alarich vor
Athen mit Ernährungsschwierigkeiten in der Stadt, aber auch damit
gerechnet, daß die Stadt wegen ihres Umfanges von der (zusammen-
geschrumpften) Einwohnerschaft nicht verteidigt werden konnte (395).
Herennius Dexippus (F. H. G. III 680 frg. 21) gibt 2000 Verteidiger an.
Weil wohl kaum beachtet, möchte ich noch erwähnen Porphyr, in Categ.
p. 109, 17 ed. Busse: ir ^;-r yuo ralg 'A9^1]vcae *( tv^oi tq^oxi^iojv ovtcov
ai'&Qä7T(ov (pauhv dliyovg tlvai, iv ös tTj jcw/it; kccv loaiv tgLatcooioi,
/.iyo[Lfv TtolXoi elßLV, ■Kccitoi TtoXlanXaGioyv (ivroiv 'A&ijva^s. — Für die
Qualifikation zu den hohen Ämtern kommen die genannten, die tief-
sten Zensusklassen umfassenden Zahlen nicht in Betracht.]
71,8] Beiträge zun Geschichtk des Areopags. 89
Wie klein tatsächlich die Zahl der Zensiten ersten
Grades war, lehren die Inschriften: nach ihrem Zeugnis be-
kleiden die gleichen Personen die kostspieligen Ämter der
Reihe nach, und zweitens laufen diese Amter durch Genera-
tionen der gleichen Familie oder des gleichen Geschlechts.
Gesetzt, es hätte für alle neun Archonten der gleiche Zensus
gegolten, oder, vorsichtiger ausgedrückt, man hätte sie alle
unter der Voraussetzung eines den kostspieligsten Liturgien
gewachsenen Vermögens gewählt, für wieviel Jahre hätte
dann die Zahl so leistungsfähiger Bürger gereicht? Der
Strateg ist auch noch in Rechnung zu stellen, wenn auch
die Fälle mehrfach wiederholter Bekleidung dieses Amtes
nicht selten sind. Es entspricht nur dem Wesen dieses timo-
kratisch-oligarchischen Rates, wenn er allein den Allerbegü-
tertsten offenstand; bei jährlich 9 Kandidaten hätten auch
Minderbegüterte zu Mitgliedern werden müssen. Indem eben
zwischen den beiden höchsten Archonten und den übrigen
Mitgliedern des Kollegs für den Areopag eine Grenze ge-
zogen wurde, wahrte man diesem seinen Charakter; und ge-
wahrt wurde ihm auch die Stärke der Zusammensetzung, die
einem solchen entspricht. Die oligarchisch-timokratische Ord-
nung erforderte neben dem großen demokratischen Rat einen
kleinen oligarchischen Rat. Setzt man die Rekrutierung durch
jährlich q neue Mitglieder an, so wächst die Zahl der Mit-
glieder über das Maß der mit dieser Verfassung vereinbaren
Stärke der Ver.sammlimg hinaus. Weil rein nach timokrati-
schen Gesichtspunkten gewählt Avurde, konnte das Archontat
in verhältnismäßig frühen Jahren erreicht werden; der un-
mittelbare'Übertritt in den Areopag l)rachte diesem also Mit-
glieder, die noch weit vom Alter der ysQOvtss entfernt waren.
Eine Mitgliedschaft von 25 Jahren kann gar nicht selten ge-
wesen sein. Der natürliche Abganor mußte weit hinter dem
jährlichen Zuwachs von 9 Stellen zurückbleiben. Von den
während einer 25jährigen Periode eingetretenen 225 Archon-
ten hätten am Schlüsse dieses Zeitraumes noch etwa 150 Mit-
glieder gelebt; denn wir haben es, wie angedeutet, doch mit
QO BiiUNf» Kku.: [71.^
MüMiicrn von etwa 30 — 60 Jahren /,u tun. V]\ao solcho Vor
Biuninlunjjj ist viel zu groß als olit^archisch hemmomier un«l
rcgit^render b'aktor nelxMi doiu Ivat der 600 odor 500. Ich
glaube, im Grunde hat sich auch niemand den arcopagitischen
Kat vorgestellt. Setzen wir eine Ergän/ung von jährlich
2 Mitgliedern an, so ergehen sich in 25 Jahren als ents[)re-
chonde Zahlen 50 eintretende Archonten, von denen miin am
Schlüsse der Periode gegen 30 als lebend annehmen darf.
Es wird nicht leicht bestritten werden können, daß ein Areo-
pag von etwa 30 Mitgliedern dem Wesen eines oligarchisclien
Rates überhaupt und seiner Stellung in der athenischen Ver-
fassung im besonderen nach jeder llichtung hin entspricht.
Der Einwand läßt sich doch nicht erheben, daß (Mue solche
Mitgliederzahl zu gering für die mannigfachen nnd umfang-
reichen Regieruugs- und Verwaltungsgeschäfte sei, die dem
Areopag dieser Epoche oblagen. Athen ist nur einer eng-
lischen Kleinstadt zu vergleichen an Einwcdinerzahl und in
zutreffenderer Weise nach dem Umfange der Verwaltung;
das moderne Kommunalleben macht ja Verwaltungszweige
nötig, die in der Antike überhaupt nicht gedacht werden
können. Und doch ist der Town Council in diesen Gemeinden
nur 20 — 40 Mitglieder stark und bestellt aus sich die ver-
schiedensten Kommissionen. Selbst Städte wie Manchester
und Liverpool kommen mit einem Town Council von 104
bzw. 112 Mitgliedern aus'''®), die doch zusammen soviel Ein-
wohner haben, wie die griechische Halbinsel in der Römerzeit
überhaupt an Menschen gezählt haben mag. Eine ganz dünne
Schicht des Geldadels hatte so die höchsten Amter inne, re-
gierte die Kommune Athen. Um das Jahr 400 steht, wie ein
auch nur flüchtiges Lesen der Lebensbeschreibungen des Pro-
klos und Isidoros lehren kann, Athen geradezu unter der
Herrschaft ganz weniger reicher Familien. In nichts unter-
scheiden sich die Zustände von denen in allen anderen grie-
chischen Gemeinden dieser Zeiten, auch darin nicht, daß diese
136) [Rrdlicu S. 270, 308.]
71,8] Bkitk\(".k /,l'r Geschichte des Areopags. 91
Geldaristokratie zu großem Teile nicht bloß gauz iuut>' er-
worbenes Bürgerrecht hatte, sondern ihren Ehrgeiz und Stolz
mehr in dem Besitze der römischen Civität als in dem des-
jenigen Rechtes suchte, das sie durch dumme Stammbaum-
tiktiouen als altererbtes Recht in Anspruch nahm. Das aber
war es. was die Römer woUen mußten; so fesselten sie die
resrierende Oberschicht, die die Beamten lieferte, an sich, hatten
deu Areopag auch durch die persönlichen Interessen der Ein-
zelmitglieder in ihrer Hand. Entsprach endlich die Art, wie
die Besetzung des Areopags geändert wurde, nicht ganz dem
Kompromißverfahren, das ihre Umgestaltung der athenischen
Verfassung schon in so vielen Punkten hat erkennen lassen'?
So wurde das aus der Demokratie übernommene Archonten
kollegium in seiner Neunzahl gewahrt, gewahrt auch der
Grundsatz, daß es die Vorstufe zum Areopag bildete; aber
zui^leieh wurde durch die timokratische Beschränkung der
Qualifikation zum Areopagiten auf die beiden ersten Archon-
tensteUen diejenige Ergänzung des Areopags erzielt, welche die
Römer sich sichern mußten, sollte anders dieser Rat bleiben,
was zu sein er durch die Verfassung bestimmt war, das im
römischen Sinne die Kommune leitende und verwaltende Organ.
Jetzt wo, wie ich glaube, der dargelegte Besetzungsmodus
des Areopags für erwiesen augesehen werden darf, muß ich noch
einen Schritt weiter gehen. Wenn, wie es das Beispiel des
Kaisers Gallienus an die Hand zu geben scheint, aus der Be-
kleidung des eponymen Archontates nicht ipso iure der Ein-
tritt in deu Areopag folgte, welcher Akt machte das virtuelle
Recht zum faktischen? Die Dokimasie, wie sie schon in der
Demokratie gefordert wurde? Beim Kaiser? Wer soll die
Dokimasie in dieser Zeit vorgenommen haben, wenn nicht
der Areopag selbst? Also kooptierte der Areopag die neuen
Mitglieder. Dieser Ergänzungsmodus entspricht wieder dem
Prinzip oligarehischer Körperschaften; er ist hier für deu
Areopag nicht aus diesem Prinzip hergeleitet worden, sondern
aus den vorauszusetzenden rechtlichen Verhältnissen erschlos-
sen; daß dies Ergebnis dem Prinzipe sich fügt, dient zu sei-
g2 HiUNO Kfii,: [71, 8
ner Restätij^uiig. Einllich: L(laubt man wirklich iinnehincn
7.U tUirtV'ii, daß die alles re^fluden Homer bei der für sie wich-
tigsten athenischen Kiirpersclial't den irrationaleii Kaktor einer
vom Zufall al)häii<i;igcn Mitt;lieder/ahl ;nis der Urzeit weiter-
gesehleppt hätten? Ich wenigstens vermag für diesen Areupag
von Roms (ilnadcn einen numerus clausus nicht als ausge-
schlossen zu 'octracliten. Dann muß er nach Bedürfnis ko-
optiert haben. Daß eine solche (.)rdnung bei Mangel von
\'akan/,en Schwierigkeiten gegen eine höhereu Ortes ge-
wünschte Aufnahme erheben lassen konnte, ist leicht
einzusehen, ebenso leicht aber auch, daß sie für einen Kaiser
nicht bestanden. Aber Ortsanwesenheit wird von den Areo-
pagiten gefordert worden sein; bei dem Archontat, der Gym-
nasiarchie und ähnlichen Amtern mochte der Kaiser aus seiner
Vertretung eine Auszeichnung machen*-''), der Areopag war
eine arbeitende Körperschaft. Ich weiß, das sind alles Mög-
lichkeiten oder Fragen, auf die wir keine Antwort aus unserem
Materiale heVauslesen können, aber sie müssen erwogen und
aufgestellt werden, will man sich von dem Wesen und Ar-
beiten des Areopags ein wirkliches Bild machen, sich be-
freien von der unklaren, verschwommenen Vorstellung, die
sich, wie ich aus den anderen Darstellungen glaube entneh-
men zu müssen, für die Römerzeit wenigstens jetzt mit dem
Worte Areopag zu verbinden scheint.
Doch eine Frage, die ich noch nicht erörtert habe, läßt
eine bestimmte Antwort zu. Es ist die für die staatsrecht-
liche Stellung des Areopags und für das Verständnis seines
Einflusses in der Kommunalregierung gleich wichtige Frage
war der Areopagit ein Beamter?
Über die Zeit der Demokratie kann kein Zweifel sein.
Der Areopag war verfassungsmäßig von jeder politischen und
administrativen Betätigung ausgeschlossen. Übte er dennoch
durch seine Mitglieder Gewalt auf diesem Gebiete aus, so ge-
nügte die Frage nach ihrer rechtlichen Begründung, uns die
137) [DlTTESBEROKR ZU SjU.^ 872 adll. ß.j
71,8] F^KITRÄfiK ZUR Gk.SCHIC'HTF. uks Arkopai.8. 93
Widerrechtlichkeit seiner quasiamtlichen Maßnahmen darzu-
tun. Der Areopagit war also kein Beamter; er konnte daher,
ohne Verstoß gegen den streng demokratischen Grundsatz,
die jede Ämterkumulierung verpönte, ein Staatsamt bekleiden.
Themistokles war 493/2 Archon, trat in den Areopag ein,
wurde aber für 480 zum Strategen gewählt. Aiisteides, Ar-
chon 489/8, war 479/8 und mindestens auch 478/7 (Aristot.
rp. Ath. 2^. 3. 4) Strateg. Tn römischer Zeit ist der Areopag
politisches Regierungsorgan, seine Mitglieder hätten also nach
der demokratischen Maxime wie die Buleuten Beamtenqua-
lität besessen, so daß die Bekleidung eines kommunalpoliti-
schen Amtes durch sie gesetzwidrig gewesen wäre; denn die
Kumulation zweier kommunalpolitischer Amter war auch in
der römischen Zeit ausgeschlossen. Soviel ich beobachtet
habe, läßt sich kein Beispiel für die gleichzeitige Bekleidung
zweier kommunaler Amter aus dieser Zeit beibringen; diese
empirische Beobachtung erhält dadurch allgemeine Bedeutung,
daß im Gegensatz dazu die Kumulierung eines kommunal-
politischen Amtes mit einem und selbst mehreren ßepräsen-
tationsämtern, wie die Gymnasiarchie, sehr häufig durch die
Inschriften bezeugt wird.^"^) Man müßte also erwarten, auch
138) [Die Liste obeu S. 82 läßt sich leicht vermehren. Besonders
bezeichnend ist IG. III 1085: GtQccrriyovvTog inl Tohg önlfiras rb oydoov
Kai ägj^iegeoig NsQcoi'Oi .... xccl ini^ieXi]TOv Tfjg jrdifwff öicc ßlov v.al
IsQtag zJ)]).iov 'Anoz-Xonog xai ininf-h]Tov rfjg itgäg ^j'jXov xai c:qxis-
QiO}g Tov ol'iiov Tcbv Zisßccaräiv kccI agiatov x&r 'EXXi'jvojv kcu voiio^t-
tov TilisQiov KXuvSiov Noviov i| Oi'ov. Die Prädizierung kqiotov r&v
' EXh]V(ov ist mir nicht unbekannt (z. B. Dittenberger Syll.' 871 ; fehlt bei
Gkrlach, Griech. Ehreninschriften), aber sie kann hier nur den Schluß
der Lobeserhebungen bilden. Es folgt aber v.a) ro(io&tTOi\ Und was
bedeutet dies ohne Epitheton? Ich halte also dafür, daß xai vor vouo-
&£rov vom Steinmetzen stammt, der die ihm bekannte Floskel ccQiarov
x&v 'EXXtjvoyv verselbständigte. Wie hier im Jahre 61, so noch 198:
IG. HL 10 (= 1077), 12 TOV inl TU OTcXa örparrjj'oC Kcd i7riu&Xr]Tov ]'i'[f<-
vaoiccQxi^ag d'sov Aöqiuvov y.al ocvTäg^ovrog tov isocoTccTOv a[ycofog tov
HjavsXXrivlov Mag. Avq. 'AXxceutrovg Aa^rTTQtiog. Die l'riesterschaft des
DruBUs ist sogar gesetzlich mit dem ersten Archontat verbunden ge-
wesen (R. E. III 2717).]
94 Bitt'NO Keil: I71, 8
jener Amtervereinigung auf den Steinen zu l)r<^t'oni.'n. wenn
ihr kein gesetzliches llindeniiö im Woge gestandon hätte.
Die Inschriften leinen aher weiter, daß die Strategie von
Areopagiten sogar häutig ))ekleidet wurde, daß auch der
t7TiueXtjT))g rf^jg :t6Xfcog. der seinem Namen nach doch ein
kommunaler Beamter gewesen sein niulj, vielleicht sogar dei-
xf/pi'l ßovXijg xal (Tf^iitoi' Areojtagit sein konnte. Kb folgt
also: die einzelnen Areopagiten der riimischen Kaiser/.eit
hatten keine Beamtenqualität in dem Sinne wie die Bnleuten
der Demokratie: wo sie eine Beamtentätigkeit auszuü])en
scheinen. l>leihen sie Mandatare ihrer Ktirperschaft, die ja ir
gendein Nichtmitglied mit irgendeiner Tätigkeit /u beauftra-
iren stets das Recht gehabt haben muß, da sie mit ihrer
Autorität hinter ihm stand. Es konnte also ein Areopagit
ein kommunales Amt bekleiden. Das würde bei unwichti-
geren Amtern, wenn ein vVreopagit überhaupt noch für solche
gewählt oder erlost werden konnte, zu keinen weiteren Kon-
sequenzen für das Verhältnis des Areopags zu den beiden
demokratischen Körperschaften führen. P^twas befremdlich
muß dagegen schon der Areoj)agit als xijiJi^h, ßovlt^g xal di]-
uor anmuten; vollends widerspruchsvoll erscheint die Be-
setzung der Strategie mit einem Areopagiten. Zum Präsi-
denten der alten demokratischen Kegieruugsorgane wird so
ein Mitglied aus derjenigen Körpersciiaft bestellt, die in histo-
rischem Gegensatz und in verfassungsmäßigem Antagonismus
zu jenen steht. Und dies geschah nicht selten, sondern war
die Regel, wie die vorgeführten cursus bonorum lehren. Gewiß
kann mau nicht von einem Gesetze reden, denn es gibt einige
wenitje Ausnahmen, wo also der Stratege nachweislich noch
nicht in den Areopag gelangt war*^''); aber das timokratische
Prinzip brachte es mit sich, daß das, was nicht Gesetz war,
doch zu einer nur selten durchbrochenen Regel werden mußte,
weil die wirtschaftlichen Verhältnisse dazu zwangen. Der
Strateg mußte ja aus derselben höchsten Zensitenklasse ge-
139) IG. III 658: wohl auch 653 uud 723.
71,8] Bkitkägk zur Geschichtk des Akeopags. 95
uommen werden, wie die ersten Archoiiteu, aus denen sich
der Areo))ag ergänzte. Und so stark war eben diese Klasse
nicht, daß sich für die Bestellung der jährlich wechselnden
Strategen ein Zurückgreifen auf die Mitglieder des Areopags
sich hätte vermeiden lassen. Ich sprach oben (S. 34) von
den beiden Wegen, auf welchen bei der formal getrennten
Geschäftsordnung der beiden demokratischen Körper.schafteu
und des areopagitischen Rates ein praktisches Zusammen-
gehen ermöglicht wurde, und deutete auf einen dritten hin:
hier ist er. Die Vereinigung der amtlichen Eigenschaften des
Strategen und des Areopagiten überbrückte die reclitliche
Scheidung, und dieser Weg wurde gewiß am häufigsten ge-
wählt, weil er der kürzeste und sicherste war. Der Stratege
hatte die Initiative völlig in der Hand; er konnte als solcher
kraft seines Amtes ohne weiteres bei Rat und Volk bean-
tragen, was er als Areopagit mit beschlossen hatte. Es hieße
aber die realen Verhältnisse völlig verkennen, wollte man die
Bedeutung der I)i)ppelstellung des Strategen auf die Behand-
lung einzelner Geschäftsfälle beschränken; tatsächlich beein-
flußte sie das gesamte Verhältnis zwischen Rat uud Volk
und dem Areopag, machte jene von diesem in weitem Maße
abhängig. Denn er hat ihre Initiative in seiner Gewalt, so-
oft eines seiner Mitglieder die Strategengewalt in Händen
hatte; und dies führten, wie dargelegt, die äußeren Verhält-
niese mit einer an Gesetzlichkeit streifenden Regelmäßigkeit
herbei. So regiert er tatsächlich das athenische Gemeinwesen.
Tatsächlich: verfassungsrechtlich dieses Abhängigkeitsverhältnis
festzulegen, haben die Römer selbst bis zum Anschein ver-
mieden; ließen sie doch Rat und Volk formal völlig gesondert
und selbständig neben dem Areopag bestehen. So haben die
Römer in ihrer politischen Geschicklichkeit auch hier ihre
Maxime zu wahren gewußt, die Freiheit zu vernichten, ohne
die Form der Freiheit anzutasten.
QÖ liiu N«> Kkii.: i7'.3
Ex ku i's.
i'hiM' (Ich ll\|»(»mii('iiiatisiiios. Dittnibci':;!'!' 10. 202
[iAyuKi'K, (^uaest. o])i>:friipliicao et ])ai)vr()logicai; aol. (Diss. StraB-
burg 1904) p. <>f)8q(i. hiit heobaclitot, daß die Splciikidfji in ihren of-
fiziellen Schreiben stets im Plunil von sich sprechen; der itu Anfang;».'
des Schriftstückes sicli lindcnde Sinif. ^01 erregte den Verdacht der
Fälsehun;,', lien L.vvrr.i it dureh den Aufweis weiterer Anstöße /um Ver-
damumnysurteil verdichten /.u küunen j>laubto. Ich glaube, der über-
wiegende Teil seiner Anstöße erledigt sich von selbst, sowie man be-
achtet, daß wir es hier mit einem Ifypomnematismos zu tun haben, es
also unberechtigt ist, an dieses protokollarische Dokument den Maß-
stab der oftiziellen Schreiben zu legen, die sich doch nicht anders als
die Psephismen von jener Dokumentengattung unterschieden. So findet
hier der einfache Sing, fto/ an Stelle des feierlichen rj(irv der königlichen
Rundsehreiben ungezwungene Erklitrung. Ein weiteres Beispiel des
Singular, vollends in der Verbindung '^do^i fiot 6 -KaTaKexoiQKi^^vo^
v7toitrf]fiaTi6u6g, enthält das Schriftstück nicht; LAyrEius diesbezüg-
liche Angaben (p. 102. 103; müssen auf gedächtnismiißigor Umgestal-
tung von 2 ^do&T} ö -iiaTaxBx- i't. beruhen. Unter jener falschen Vor-
aussetzung mußte natürlich auch die Zeitbestimmung in den Worten
9 6vv Tots tov ivtanoTog hovg ysri'jaaaiv Befremden erregen, zumal ihr
Laqiiel'r aus DriTKNBKiuiKK 10. 225, 5 6VV tccTg TOV ivurov y.<xi mpTti-
xoffrov hovg TrQoaödois als echt entgegenhalten konnte. Aber das
Protokoll trug ja in den Akten selbst ein Datum; die kurze Datierung
mit 'd. .T.' ist also bei weitem erklärlicher und eine viel ungefährlichere
Protokollierung.sbequemlicl.keit als das Auslassen der Eigennamen in
dem athenischen Hypomnematismos. Nicht anders steht es im Prinzipe
mit der Wendung olg si'&iGTui in dem Schlußsatze ös^aet ovv yQuq)))-
vai olg iid'iorai i'va yivr]rLxi u'KolovQ'Oig rolg Sr]).ovyi,ivoig. Laqcklk
verlangte nach der Kanzleisprache des Ptolemilerreiches olg ■Ku9rjY.ii.
Wir haben jedoch kein Recht, sie als Norm für die des Seleukideu-
reiches in. Anspruch zu nehmen, die wir in Wahrheit nicht kennen.
Weshalb soll hier jene Wendung nicht besonders beliebt gewesen sein
imd die Grenzen des Verwendungsgebietes, das xaö/Jxfi in Ägypten
hatte, überschritten haben? Schon Z. 12 steht (oTCo^g rj . . . nQoaodog . .
(iva/.t(Jx;]r«j . . .; öig it^icrai.: 'damit die Einnahme . . ihre übliche Ver-
wendung finde". Aber olg xa&r',x£i wäre schärfer. Gewiß; aber die un-
71, 8] Bkiträgk zur Gkschichtk de.s Akeopags. 97
bestreitbare Trefflichkeit des ägyptischen ürkundeuwesens hätten wir
auch dann kein Recht auf das Seleukidische zu übertragen, wenn wir
es hier mit einer stilgerecht ausgefertigten Urkunde und nicht mit
einem Protokoll zu tun hätten. In einem solchen scheint mir ois xa-
^jjxft völlig genügend. Auch heutigen Tages wäre die ProtokoUfas-
Bung: 'es wird hiernach an die üblichen Stellen zu entsprechender
weiterer Veranlassung zu schreiten sein' durchaus unbeanstandbar.
Die 'üblichen' Stellen kennt das Bureau und fertigt danach die Be-
nachrichtigungen aus; jene fassen dann in ihren Verordnungen auch
das protokollarische rov ivsßrtaTog hovg in zahlenmäßige Angabe um.
Schließlich ist die Ausdehnung der Privilegien 5 tlg unavta töv xqÖ-
vov zur Verdächtigung benutzt, weil die gleiche Wendung sich häutig
in den von den Juden gefälschten königlichen Schreiben des i. Jahrh.
V. Chr. fände. Allein Privilegierung aller Art, namentlich auf religiösem
Gebiete (z. B. in Asyliedekreten), findet fast ausnahmslos 'für ewige
Zeit' statt; Belege gibt Dittenukrgek, Syll. III p. 4 37 (XQ^vog), so daß
die Juden durch Weglaseung jener Dauerbestimmung gerade den Ver-
dacht der Fälschung erregt hätten. Zufällig bietet gleich das Schrei-
ben Antiochos VIII. Dittenbkugek 10. 257, 14 iKQiva^sv si]g tbv unav-
ta xqÖvov iXEv9^Qovg nvai. So bleibt noch das eine sachliche Bedenken,
welches Laqitf.ur aus Haussoullikrs (Iiltudes sur l'histoire de Milet et
du Didymeion S. 94 ff.) Vermutung — nur als das gibt er selbst sie —
herleitet, daß Apameia der Hauptort nicht einer nach ihm benannten
Satrapie, sondern einer vnaQxia, des Regierungsbezirks einer Satrapie,
sei; in dem Dokument heißt es aber ivtovQymva (so Lucas) tjJs Trspt
'Aitäai&v aarQKitiiag. Das hypothetische Fundament der Beanstandung
liegt auf der Hand; man wird mit der Stelle überhaupt nur ungern
argumentieren, solange das die Ortsbestimmung regierende tvzovQycovci
rätselhaft bleibt. Aber wo ist die Gewähr dafür, daß die Provinzial-
einteilung des Seleukideureiches stets die gleiche war? Regierungs-
bezirke können in Provinzen verwandelt werden und umgekehrt, wenn
es die Verwaltung durch Wandel der Verhältnisse erfordert. Zwischen
der Zeit, der Haussoulliers Belege angehören, und der des Hypomne-
matismos werden fast anderthalb Jahrhunderte liegen. Denn jene sind
aus der Zeit Antiochos II. (281/0 — 261/0), für diesen wird man v. Wila-
MowiTz' Datierung (bei Lucas S. 21, 4) auf die 2. Hälfte des 2. Jahrh.
V. Chr. ohne weiteres zustimmen. Die Schicksale des Seleukideureiches
nach außen wie im Innern während dieser langen Zwischenzeit würden
Veränderungen in der Reicheorganisation wahrlich begreiflich erschei-
nen machen, wenn wir auf solche Erwägung angewiesen wären. Aber
genaue Interpretation der Strabostelle (749. 750), auf die sich Haus-
souLLiER stützte, läßt den Spieß geradezu umdrehen. Strabo zerlegt zu-
nächst das gesamte syrische Gebiet nach rein geographisch-ethnogra-
Phil.-hiat. Klasse 1919. Bd. LXXI. 8. 7
k
gS BuiN«) Kkil: [7', 8
pbischem (iesichtspunkte in eine Reibe von fif^n'Jti", deren eine die
^slsvxig ist. IJei der Beschreibung der einzelneu Landschalton heißt
es: xa?.fiTai de TfTQänoltg ^al t'tfn, denn in ihr liegen die vier größten
StSdte Antiorhoia, Seleukeia, Ajjameia, Lao<likeia. Das gilt für seine,
Strabos, Zeit. I>ann heißt es weiter: oixticog di rjj rsrt'ajro^tt x«i e/g
auTQundiii: äi>'jQj]To TtTraQag r; Z!fXevxig, üc (pr]Ot Hoandtovios d. i. ent-
sprechend der Vierzahl der Städte M-ar die Seleukis zur Zeil dos
Poseidonios in vier .Satrapien eingeteilt. Einen siehereren Zeugen als
Toseidonios konnte es für die Organisation der Seleukis und die Exi-
stenz Tfjs nfQt li-:T<i:uiuv öKTganfia^ in der 2. Hälfte des 2. Jahrb. v. Chr.
nicht geben; seine Geburt fällt genau in diese Zeit und seine Vater-
stadt war gerade dies Apameia. Also Poseidonios bestätigt die histo-
rische Richtigkeit der Angabe tles Hypomnematismos. Ich kann mithin
den Beweis der Fälschung, so begreiflich eine solche auch von eeiten
der (Gemeinde in ihrem Interesse — nach ihrer Angabe natürlich in
maiorem dei gloriam — auch erscheinen mag, nicht für erbracht hal-
ten, glaube vielmehr in gewissen Erscheinungen positive Anzeichen für
seine Echtheit zu erkennen. Im 3r()oöfi'i;j'9'{;rTO? im Eingang und
14 uT]6euucg d-.Topp/jfffojs' TtQuasvtx^sici^g ('wenn keine widerrufende Ver-
ordnung beigebracht wird', nämlich durch die Quartiermacher) begeg-
net ein gerade in der Seleukidenkanzlei beliebtes Wort, das nicht in
dem in der Koine so verbreiteten Sinne von 'sich betragen' gebraucht
wird, sondern von der Grundbedeutung 'heranbringen' aus verschie-
dene Bedeutangsnuancen annimmt; die Stellen, an welchen es 'hinzu-
fügen' heißt, hat Ditienberger 10. S. 701 u. d. W. verzeichnet (vgl.
auch n. 221 Anm. 4'. In unserem Dokument bedeutet es in Z. 4 'ein-
geben' und 14 'beibringen'. Es gibt m. W. keine Kanzlei, in der dies
Wort so oft und in so besonderer Bedeutung gebraucht wird. Denn
wenn es in dem Schreiben des Lysimachos (Dittenberokr 10. 13, 19)
in dem ersteren Sinne steht, so ist das natürlich keine wirkliche
Ausnahme. Ohne viel Gewicht darauf zu legen, will ich noch auf
8 jtsQioQißuovg hinweisen; das steht auch in der bekannten Schen-
kungsurkunde für Laodike, Ditten-bergek 10. 225, 31, die zugleich
das Verb TTsgiogi^itv (30. 39) bietet; sie ist von Antiochos IL, also
um 250 ausgestellt. Das Substantiv urkundlich sonst nur aus dem
Jahre 138 oder 133 v. Chr. in einem Schiedsspruch der Magneten
(1. V. Magn. 105, 28. 36 == Dittenberger, Syll.^ 685, 57, 66), literarisch
seit Dien. Hai. Die Simplicia sind durchaus das Regelmäßige in der
Torchristlichen Zeit; für das Verb habe ich Herrn. 1908 XLIII 547, i
zu CIG. 3776, 9 Belege nur aus ganz später Zeit geben können.
Darum charakterisiert das Kompositum TttgioQiafiög den Stil der Ur-
kunde. Beweisender ist folgendes. Sprachlich fällt in den beiden
Stücken aus der königlichen Kanzlei vielleicht am meisten die starke
71,«] BeitkÄgk zun Geschichte des Areoi'acs. 99
Verwendung passivischer Ausclrucksweise auf: iSod'ri 6 — i'^o^pruiK-
Tiefiög, risSriXcorai, äst.. evvTsXead-fivcd in den 2*/^ Zeilen des Königs-
briefes. Dann im Hypomnematismos: nQoGuvsx^fVTOs, ixp/^r; ovyX(>^9^-
^f/vcii, ccnoQQ^ascos 7tQoacV8y9'£i0i]g, TtQoyfyQa^t^i^vmv, &vciyQa(pf)i><xi . . re-
&fjvut re, dii'jdsi , . . yQcccpfivai, rotg dr}lov^svoi,s- In den Briefen Autio-
chOS I., DiTTENUERGEK 10. 221, 54 56 iTtlXSXiOQfjOd'Cit. ... 7lC<QUÖtLX^flVCCl.
. . . GvyxaQr,9'fjvai hintereinander, wo sogleich ein 7fQ06tviy/.aa9ai, folgt,
nnd 224 yQucp^vTsg, c:7iods6sixd'cii, ^ataviexMQiGTcii, tnsGTaluti'Ovg, ava-
yQUffivru, &vaTE&fji in 9 kurzen Zeilen, auf denen sonst nur je zwei
Aktiva (Ssiv, evvzilsi) und Media {oistai, ngovoi^d-riTi) gebraucht sind.
In dem angeschlossenen Erlaß 32 — 37 avvTaXsiod'co, Ttgoyfyoix^uEvoig,
ScvuyQucpbvta, &vcits9'T]Tco, ocvayQcccpsi'ta [driX]w[r]<xi. Um den Hinter-
grund für diese von der altgriechischen aktiven abweichende Ausdrucks-
weise empfinden zu lassen, führe ich die Mischwendung 244, 41 ava-
yQixqn']vai . . . y.al avcc^^£tval an. Im allgemeinen neigt ja die Koine
überhaupt dem passiven Ausdrucke mehr zu; es handelt sich hier um
den Grad der Erscheinung, und der entspricht in den inkriminierten Ur-
kunden durchaus dem der seleukidischeu Amtssprache. Die Urkunde
erhält durch diese Form etwas Unpersönliches; das einzig persönliche
Element in ihr ist jenes fioi, von dem ich ausging; die Instanz, an die
der Bericht ergangen war, mußte genannt werden; sie konnte natür-
lich eine verschiedene sein, z. B. der Satrap; hier war sie dieselbe
Person, die ihr placet, in welcher Form auch immer, zur Beglaubigung
unter das Protokoll zu setzen hatte, der König. Da war das persön-
liche uoi anstatt des objektiven reo ßaetXsl selbstverständlich gegeben.
Hat dieser Hypomnematismos nun als echt behandelt zu werden, so ist
er das älteste Beispiel dieser Dokumentengattung und verdient beson-
tlere Beachtung, weil er die späteren Formen schon vorgebildet zeigt,
nnd auch den späteren Namen gibt, den die Papyri bisher erst für
die römische Zeit belegt haben. Man darf ihn hiernach auch für das
ptolemäische Ägypten voraussetzen; denn daß die Römer einen syri-
schen Terminus in Ägypten einführten, ist ganz unwahrscheinlich, und
ebenso unwahrscheinlich ist es, daß in der syrischen Kanzlei eine Do-
kumentenform in Anwendung gekommen sei, die der ägyptischen fremd
war. Denn das Beurkundungswesen der ptolemäischen Verwaltung ist
zweifellos das durchgebildetste der hellenistischen Monarchien gewesen;
wenn eine Entlehnung stattgefunden hat, so jedenfalls von selten
Syriens. Es ist ja aber nicht nötig, an eine Entlehnung zu denken.
WiLCKENS Annahme, daß der Hypomnematismos aus den Ephemeriden
Alexanders entwickelt ist, hat in diesem echten seleukidisehen Doku-
ment eine starke Stütze. Es zeigt die gleiche Art bequemen Kurz-
ausdruckes im Tenor des Protokolls und im Eingang die gleiche stili-
stische Eigentümlichkeit wie der athenische Hypomnematismos, und von
loo Brit^o Kku,: Hkituack /.i;h (ikschichte dks AuKorAtJs. [7',!^
römischem Einfluß auf dnn Hi'ltnikidisoho l rkuiidenweson im 2. .Talirh.
V. Chr. wird man nicht reden wollen. Zu l)eaehten ist, »laß das Akten-
stück oin köni^rlirher Hypomncniatisnios ist; no wind Amtstagehücher
des Königs für Ä^^'ypten bekannt, bis jet/t wenifj^stonH keine der Be-
amten (Wii.cKKN, Grundzüge I 1, 34); diese Übereinstimmung int viel-
leicht kein Zufall, sondern könnte sich ei>enso durch di<^ Morleitung
dieser Urktindenform aus einem Keservatrecht des Kimigs im makedo-
nischen Urkundcnweson erkliiren wie überhauiit die Existenz dieser
ürkundenart in mehreren Diadochenreichen, so daß an eine Entleh-
nung 7.U denken kein Cirund vorliegt.
Berichte über die Verhandlungen
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
zu Leipzig
Philologiscli-historisclie Klasse
71. Band. 1919. 9. Heft
Justus Hermann Lipsius
Lysias Rede gegen Hippotherses
und das attische Metoikenrecht
Leipzig
Bei B. G. Teubner
1920
Vorgetragen lür die Berichte aiu 6. Dezember 1919.
Das Manuskript eingeliefert am 12. Januar 1920.
Drucbfertig erklärt am 10. Fobruar 1020.
I
Der dreizelinte Band der Oxyrhynehus-Papyri hat neben
andern wertvollen Gaben Bruchstücke neuer Reden von Ly-
sias gebracht. Leider ist die Rolle sehr zerstört, in mehr als
anderthalbhuudert Fragmente aufgelöst, deren größter Teil
zu wenig umfangreich ist, sehr oft nur von wenigen Zeilen-
teilon oder Buchstaben, um irgend etwas auszugeben. Nur
von zwei der mindestens fünf Reden, die die RoUe enthalten
hat, gelingt es nähere Kenntnis zu gewinnen, von der schon
aus zwei Anführungen bekannten Rede gegen Hippotherses
und von einer neuen Rede gegen Theomnestos. Von der
ersten hat das eine zusammenhängende Stück von fünf ziem-
lich vollständigen Kolumnen die dem Abschluß der Beweis-
führung dienende Charakteristik der beiden Gegner und den
Epilog, von der anderen den Eingang, die Erzählung und
den ersten Teil der dilemmatischen Beweisführung bewahrt.
So erhalten wir bei dieser Rede durch den Spi'echer über
den Gegenstand des Rechtsstreits volle Auskunft; er klagt
gegen Theomnestos auf Rückgabe eines nach seiner Behaup-
tung diesem ohne Zeugen gegebenen Darlehns, also ein
Gegenstück zu Lysias' Verteidigungsrede für Euthyuus gegen
den ''AadgrvQos des Isokrates. Aber auch über den der Rede
gegen Hippotherses zugrunde liegenden Rechtsfall, über den
der Herausgeber Grenfell mehrfach in die Irre gegangen
ist, gelingt es mit Hilfe der zugehörigen Fragmente i — 5 zur
Klarheit zu gelangen. Von einer dritten Rede sind in der
ersten Kolumne von Fr. 10 die Schlußzeilen bewahrt, nach
denen der Sprecher die Teilnehraerschaft an einem Handels-
geschäft seines Gegners bestreitet, sowie der Schluß der sub-
scriptio, den Grenfell Tcgog] • yXiov^ liest, aber auch andere
Lesungen für möglich erklärt, von denen indessen keine die
Rede mit einer schon bekannten zu identifizieren gestattet.
Auf der zweiten Kolumne des Stückes sind von dem Eingang
einer vierten Rede nur wenige Zeilenanfänge von 2 — 3 Buch-
staben erhalten. Außerdem erkennt der Herausgeber in den
Stückchen 19 — 22 Reste von Redentiteln, sicher mit Recht
2 JisTUH Hermann Lipsiit.s: [7>.9
bei (leu beiden ersteu, von denen aber 19 ] top nicht xara
SeoutnjiiTov ergiinzl werden darf, da die Rede TtQog ®b6ilvi]
öxov war. Zur subscriptio der dritten Rede gehörte wolil
20 TlQOg [ .
Besonderes Interesse nimmt die Rede gegen Ilippothersos
in Anspruch, einmal weil sie von Lysias in eigener Sache
geschrieben war und unsere Kenntnis seiner persönlichen Ge-
schicke in willkommener Weise ergänzt, mehr noch aber weil
sie eine vielerörterte Streitfrage des attischen Metoikenrechts
zu sicherer Entscheidung bringt. Aus ihr entnahm vielleicht
schon die Quelle von Pseudoplutarchs Biographie die bisher
auf die Rede tceql xCov löCcov evEQyeöicbv zurückgeführten
Angaben über die Unterstützungen, die Lysias dem Unter-
nehmen der Demokraten unter Thrasybul zuteil ^verden ließ^j.
Daß er aber auch in Person sich an ihm beteiligte, was
aus den Worten der Rede gegen Eratosthenes 53 inndi] elg
rbv neiQaLci i'jld^oiiei' sich nicht mit Sicherheit folgern ließ,
erfahren wir aus Fr. i, nach dem er schon damals den An-
spruch auf Rückgabe seines von den Dreißig eingezogenen
Vermögens geltend machte.^) Aber noch nach Jahren war er
nicht in seinen Wiederl^esitz gelangt, wie die Klage in dem
gleichen Fragment beweist: vvvl de i^stdi] ^ksl ovSs rijv xl-
^Yjv aTtodovg toig S03in]aBvoLs tä iavrov dvvarat xo^uc^söd'ai.
Denn daß die Rede nicht schon unter dem Archontat des
Eukleides, sondern nicht vor dem Jahre 394 geschrieben sein
kann, geht mit voller Evidenz aus den mit Sicherheit er-
gänzten Zeilen Fr. 6 II 27 hervor: fi[eio]v vvin cpQovel xäv
1) Fr. 6 U i. A. schreibt Gkenfell hnsiGev avzov 8vo xüXavxa
nuQuaxslv tbXri (Pap. tsItji) und übersetzt provide in laxes, sachlich
wie sprachlich gleich bedenklich. Lysias schrieb ScxbItj, lastenfrei, also
unverzinslich.
2) Fr. I, 10 liest mau bei Gkenfell vor den oben ausgeschriebenen
Worten xkI tag n,]hv iv Usigaisl 9>^f[T0 i)^i]ov KarFXQ-cbv &n[ocp^Q]saQixi.
Für letzteres besser ccvaKoiii^sa&ai. Unmöglich aber ist für den von
jeher im Peiraieus seßhaften Lysias der vorausgehende Ausdruck, also
öit£i notwendig, dessen Sinn sich durch den Zusammenhang näher
bestimmt.
71,9] Lysias' Rede gegen Hippothekses usw. 3
t[€lxöjv c}xo]do(it]uevav [r] töi/] t6t€ xad^iiQr]^bvav. Daß seit
dem Vertrage von 403 schon längere Zeit verstrichen ist, da-
für spricht auch, daß kurz zuvor von Lysias gerühmt wird,
er sei nach seiner Rückkehr keinem Bürger durch Geltend-
machung der eigenen Verdienste oder Vorwürfe über fremdes
Verschulden lästig gefallen. Und wenn zweimal hervorge-
hoben wird, er habe für seine Verdienste um die Herstellung
der Demokratie vom Volke keinen Dank und Lohn geerntet,
so war diese Klage besonders wirksam, wenn der Sprecher
nicht bloß die Annullierung von Thrasybuls Psephisma über
Erteilung des Bürgerrechts au alle xarsld^ovreg ix IleLQaLecog,
sondern auch die zwei Jahre später erfolgte Aufnahme der
Metoiken, die schon bei Phyle mitgekämpft, in die Bürger-
schaft vor Augen hatte ^). Was nach der Rückkehr der Ver-
bannten über ihre Ansprüche auf die von den Dreißig ein-
gezogenen Vermögen in dem von den Parteien geschlossenen
Vertrage festgesetzt war^), lernen wir aus Fr. 2: was von
ihnen verkauft war, sollte den Käufern verbleiben, was noch
nicht verkauft war, den früheren Besitzern zurückgegeben
werden. Dabei aber war für den Grundbesitz eine Sonder-
bestimmung getroffen, deren Inhalt sich leider wegen des
Abbrechens des Fragments nicht mit Sicherheit erkennen läßt:
ovrog ovre yrjv ovr olxCav xs'/urjfievog a xcd al övvd-fjyMV
tolg xccrs?^d-ovöiv ujtsdiÖoöccv, [sa]v ds av 8\y\ cctioöüöl —
darauf nur noch eine Zeile mit wenigen zum Teil unsicheren
Buchstaben in der zweiten Hälfte. Es kann nicht zweifelhaft
sein, daß der Fehler in den letzten Worten sich nicht nur auf
eine Dittographie beschränkt.^) Geenfell vermutet av av
8e uij uTCodäöi^ ohne daß man erkennt, wie er die Periode
1) I. G. II* n. 10 mit A. Körte, Atben. Mitt. XXV S. 397.
2) Nichts darüber hatte das von Pausanias vermittelte Abkommen
zwischen den Parteien enthalten. Denn die Bestimmung ccnUvai ini
xä iccvTüv iAocGtov schloß durchaus nicht, wie man geglaubt hat, die
Wiedereinsetzung der Verbannten in den Besitz ihrer Güter ein.
3) Stärker verderbt ist der Text auch Fr. 6 I 1 2, wo die Einsetzung
von KQiöiv in keiner Weise genügt. Ebenda II 34 ist slta T[oi.ovrog]
(Gkenvkll teXsos) wv TToiiTTji? ZU ergänzen.
4 JusTi's Hkumann Lii'siis: [71,0
forl^ Steffi hrt denkt, um einen passenden Gedanken /u erj^oljon.
^^'as man erwartet, ist die Festsetzunjjj einer liedinjjjun«,', unter
der, wenn es sich um Grundbesitz handelte, dem iVülu'ren
Eigentümer entgegen der allgemeiueu Heijjel das Itecht auf
liückforderung eingeräumt war. und da legen die oben aus
Fr. I angeführten Worte den üechinken nahe, daß dies Kocht
ihnen dann zustand, wenn sie den Kaufpreis erstatteten, also
etwa füv yf (h'xuzodioai \ri)v Tifirjv. Als Grund dafür, daß
Lysias nicht hat zu seinem Eigentum wieder gelangen können,
wird ein Uechtsstreit angegeben, den I\'iy.6oT Qarog ^txä S'f-
i'ox[Af'oi'cj?] tov ncoXr'jcSuvtog führt, man denkt, da in der
nächsten lückcmhafteu Zeile die Zeichen ccöTit erkennbar sind,
über die Schiidfabrik, Lysias' früheren Haui)tbesitz. Je öfter
es vorkommen konnte, daß ein konfisziertes Gut nicht in der
Hand des ersten Käufers verblieben war, um so mehr mußten
solche Besitzstreitigkeiten sich in die Länge ziehen.
Um einen Besitzstreit handelt es sich auch in der Hede
gegen Hippotherses: rig sörat tovxov ävd-QiÖTCojv 8v6TviiOTi-
pog, heißt es im Epilog, f^ xä [lav avxol hjtpovxai xä d' vfistg öcoösxs.
Aber Lysias ist nicht der Kläger, sondern der Beklagte: (pivyei t^v
di)iy]v Fr. 6 II 10, ösonai v^iäv ccKo^priCplöaöQ-ai Avöiov III 4. Über
den Gegenstand der Klage werden wir nur durch den Zusatz
im Titel der Rede vnsQ ^■SQaxaCvrig unterrichtet. Grenfkll
verstand ihn in dem bei Verteidigungsreden gewöhnlichen
Sinne von imtQ und gründete darauf die Vorstellung, die
^SQC(7raiva sei die Agentin des Lysias und habe in dessen
Auftrag auf Hippotherses' Weigerung, den Grundbesitz des
Redners herauszugeben, Schritte gegen ihn getan, die zu einer
öCyiri eiovlrig führten. Es ist nicht nötig darzulegen, wie
diese Vorstellung mit der Stellung der Frau und insbesondere
der Sklavin (denn das ist \tfQd7Ccava bei den Rednern und
in der Komödie) im attischen Recht ganz unvereinbar ist.
Vielmehr kann vtiIq Q-£Qa7iuivt]g nur in dem Sinne verstan-
den sein, in dem es in der späteren Atthis sich von ttsqC
kaum noch unterscheidet. Inwieweit freilich der einzelnen
Sklavin ein besonderer Wert zukam, der es veranlaßte, ihren
7>,9] Lysias' Eede gegen Hippotherses usw. 5
Besitz zum Gegenstand einer besonderen Klage zu machen, das
entzieht sich unserer Kenntnis, da Erzählunj; und Beweisführung
der Rede bis auf wenige Bruchstücke verloren gegangen sind.
Von Bedeutung aber ist es, was schon bisher ersichtlich
geworden ist, daß von Lysias in der Rede immer nur in der
dritten Person gesprochen wird, sei es, daß er mit Namen ge-
nannt oder mit ovtog bezeichnet wird, das wenn nicht das
Vorausgehende eine andere Beziehung ergibt, überall ihn
meint \). Wenn also Lysias seine Verteidigung nicht selbst
führt, so kann dies seinen Grund nur darin haben, daß er
dazu nicht in der Lage war, und dies wieder nur darin, daß
er als Metoik seine Vertretung einem ngoörccxr^^ zu überlassen
hatte. Denn daran wird niemand denken können, daß die
Rede, die allem Anschein nach die Klagbeantwortung in vollem
Umfange enthalten hat, von einem övviqyoQoq gehalten worden
sei, nachdem er selbst seine Verteidigung geführt hatte. Und
keine Instanz gegen die gezogene Folgerung ist seinem per-
sönlichen Auftreten gegen Eratosthenes bei dessen Rechen-
schaftsableorung zu entnehmen: denn dies findet in dem Außer-
ordentlichen des Verfahrens seine aasreichende Erklärung^).
Mit dem o^ewon neuen Ergebnis ist nun aber auch dem be-
kannten Satze von v. Wilamowitz das endgültige Urteil ge-
sprochen, die Tätigkeit des jiQOGtdrrjg habe schon im Beginn
des vierten Jahrhunderts sich darauf beschränkt, die Auf-
nahme des Nichtbürgers unter die Metoiken durch Übernahme
der Bürgschaft für ihn gegenüber dem Demos za vermitteln.
Daß mit diesem Satze bekannte Stellen des Isokrates und
Aristoteles schwer in Einklang zu bringen sind, darauf habe
ich schon früher hinzuweisen gehabt. Mit ihm zugleich ist
i) Besonders deutlich Fr. 6 I 17, wo oiiros und 'InTCoQ'BQCTig ein-
ander gegenübergestellt sind. Auch Fr. 2 I 16 macht der Gedanke die
Beziehung auf Lysias erforderlich.
2) Abenteuerlich ist der von Clerc, Les meteques Atheniens p. in f.
■wieder aufgenommene GedanVe, das Verfahren gegen Eratosthenes sei
in die kurze Zwischenzeit zwischen der Annahme und der Annullierung
von Thrasybuls Antrag gefallen.
ö Ji;sri;s Hkkmann Liivsius: l7'i9
aber die ganae Lehre von cUuii Quasi- oder Ilalbbürgerreclit
der Metoiken, deren Ausiluß er ist, schwer erschüttert; auch
gegen sie waren bereits von mir und anderen Bedenken
geltend gemacht, die unwiderlegt geblieben sind. Einer Be-
richtigung bedarf nun aber auch die andere Meinung, die
ich selber früher geteilt habe, die Isotelen seien in ihren
Kechtshäudeln den Bürgern gleichgestellt gewesen. Maßgebend
war für sie zunächst die Stellung des Lysias als Isotele,
die durch I'seudoplutareh bezeugt und durch Ciceros Miß-
verständnis bestätigt wird. Eine Stütze aber schien sie in
dem Volksbeschluß für die Akarnanen, die bei Chaironeia
mitgekämpft hatten, I. G. II n. 1 2 i (^ 237) Z. 26 f. nach sicherer
Ergänzung xal didovai ccvrovg dixt([g xai Xa^ißävsiv xud^d-
;r[fp 'A%^y]valoi zu linden. Allein daß dies Recht nicht allen
Isotelen zugestanden haben kann, folgt aus ihrer damit un-
verträglichen Unterstellung unter die Jurisdiktion des Pole-
marchen. Überhaupt muß schärfer als bisher geschehen ge-
schieden werden zwischen der Isotelie, die schon in Attika
wohnhaften Metoiken, und der, die Angehörigen anderer
Staaten für den Fall und die Dauer ihrer Übersiedelung nach
Athen (oixovötv 'Jd-rjvt]6i) verliehen wird, und hier wieder
zwischen der, die einzelnen durch Ernennung zum Proxenos
und Euergetes und der, die größeren Gruppen zum Dank für
ihre Betätigung in Athens Interesse, namentlich den darum
aus ihrer Heimat Verbanntan oder ganzen Bürgerschaften
zerstörter Städte zuteil wird. Während in den beiden ersten
Fällen die Isotelie in vollem Umfange gewährt wurde, mußten
für die Bemessung der der letzten Kategorie zugestandenen
Rechte die jedesmaligen Verhältnisse bestimmend sein. So
wird z. B. den Akarnanen außer dem schon erwähnten Vor-
recht und der ccreXsia [iSToiaCov von den beiden wesentlichen
Stücken der Isotelie, dem rag £l6(poQäg siöcpägsiv und dem
rag öTQaxsCag örgaTSvsöd-ai jMsrä ^A^rivaCav nur das erstere
zuerkannt, ofienbar darum, weil sie schon bei Chaironeia in
den Reihen der Athener mitgefochten hatten. Den mit
Astykrates aus Delphi Vertriebenen wird die volle Isotelie
Lysias' Rede gegen Hippotherses usw. 7
verliehen I. G. II n. 54 (^ log). Den Bewohnern der Insel Tenos
wird nach der zweiten Zerstörung ihrer Stadt die ihnen schon
früher gewährte erneut II 5 n. 345*^ [^ 660); den Bürgern
einer von Philipp zerstörten Stadt aber nur die von ihnen
selbst erbetene atsXsia ^eroixCov bewilligt nach Wilhelms
glücklicher Herstellung von II n. 224 (^ 211). Wenn da-
gegen einmal in dem Beschluß II 5 n. 145^ (^287) in jene
Formel noch xal teXslv rä rslrj xad^djrsQ '^^y^valot ein-
gefügt wird, so liegt darin keine Erweiterung der sonst
gewährten Hechte, da durch die vorausgehende Formel ds-
dööd^at avTotg i^otsksiav die Gleichstellung mit den Bürgern
in allen Leistungen für den Staat verliehen ist, also auch in
den Leiturgien. Es liegt also nur eine besonders umständ-
liche Ausdrucksweise des einen Psephisma vor^). Nur ver-
einzelt wird auch die aDgemeine Beschlußformel eivai avrä
LöotiXsiav in das etöcpsgeiv und ötgarsveöd-ccL ^stä A^ijvaia^'
auseinandergelegt, das häufiger für sich allein auftritt, so daß
man darin die eigentliche Verleihungsformel der Isotelie hat
erkennen wollen; freilich fehlt in ihr die Erwähnung der
Leiturgien, die erst durch die Reform des Demetrios von
Phaleron unnötig gemacht wurde. Es hat sich eben in den
attischen Ehrendekreten kein fester Stil dahin ausgebildet,
daß nicht Ehren und Reahte nebeneinander verliehen wurden,
von denen das eine das andere in sich schließt. Während
das Recht zum Grunderwerb weder mit der Isotelie noch mit
der Proxenie verbunden ist und stets besonders verliehen
werden muß, wird in einzelnen Psephismen II n. 48 (* 83),
II 5 n. 145^ (^ 287), 179'' (^ 360) die Isotelie neben der Pro-
xenie zuerkannt, wiewohl II 5 n. 145^ gelehrt hat, daß sie in
ihr enthalten war slvui d' avroig xad-(X7t£Q tolg allotg jzqo-
^svoig xal evegyeraig [löorsXsiav 'Ad^rjvrjßi. Und ebenso steht
es mit der ateXsia II 5 n. 5° (^ 9): eivcci. — xal u]rEl6Lav
xa^K:i[£Q rotg akXoig nQoi,evoi\:^ verglichen mit II 42 (^ 53),
91 (2 180), 131 (2 265), 144 (2 286), II 5 n. 73^^ C 48). Nur
l) Anders Clerc a. a. 0. p. 206.
8 JusTiis Hkumann Lii'sirs: [7'. 9
iu scheiiibarom Widerspruch steht damit die Außeruiii^ von De-
inostheues gegen Leptines 131 ot'» yaQ för ovdeig aTeJ.i}g
TcaQ* i^fiii'^ OTCp /uj) il>yjq'iß(.ic( r] vouog öft)(oy(£ Tt]v ccrikFiav.
Denn Demosthenes spricht nur von der Atelie von Leiturgien.
Auf die ül)erraschenden Aufstellungen über die Isotelie
und ihr Verhältnis zur At(4ie, die iu der letzten Behandlung
dieser Fragen durch Fkancottk in seinem Aufsatz de la
condition des etrangers dans Ics cites grecques, zuerst im
Musee Beige VlI (1903), dann in mehrfach voräudertor Ge-
stalt in seinen Melanges de droit ])ublic grec (1910) gedruckt,
und wieder in seinem verdienstlichen Buche Les finances des
eites grecques (igog) vorgetragen sind, näher einzugehen, ist
nicht erforderlich. Es genügt der Hinweis'), daß Atelie in
allen seinen zahlreichen Verwendungen überall nur die Be-
freiung von Leistungen bedeutet, es also ganz unberechtigt
ist, bei der Atelie der Metoiken diesen negativen Begriff durch
den positiven der Verpflichtung zu den den Bürgern obliegen-
den Leistungen zu ergänzen und die Ausdrücke Atelie und
Isotelie für gleichbedeutend zu erklären. Daß die Nichtbür-
gern verliehene Atelie nur Befreiung von den Metoikensteuern
ist, machen die älteren Zeugnisse unzweifelhaft, I. G. I Sap.
n. 27* und II 5 n. 85 (^ n. 174), dazu die Bewilligung der
axiXna xov iiixoixCov in den beiden Beschlüssen des 5. Jahrb.,
die Wilhelm nach seiner Mitteilung in den Comptes rendus
de l'Acaderaie d. iuscr. 1900 p. 525 aus mehreren zum Teil
noch unedierten Bruchstücken hergestellt, aber noch nicht
veröffentlicht hat. In dem gleichen Sinne ist das Wort ari-
ksia auch in den Ehrendekreten des 4. Jahrh. verstanden, iu
denen der Zusatz xov [istolxCov fehlt, der in gleichzeitigen
Beschlüssen gemacht wird. Zu seinem Paradoxon ist Fran-
COTTE offenbar durch die beiden oben angeführten Psephismen
l) Nichts gegen Fkancotte entscheidet, wie Thalheim glaubt, daß
durch den Beschluß II 54 (* 109) der Delphier Astykrates noXitsia und
ciTflsia, seine Gefährten laoxiliLu erhalten. Denn bei jenem kann es
sich nur um Atelie vor den bürgerlichen Leiturgien handeln, die mit
der Isotolie nichts zu tun haben.
7r,9] , LvsiAs' Rede gegen Hippothekses usw. 9
verführb worden, nach deren einem in der Verleihung der
Proxenie die der Isotelie, nach dem andern die der Atelie mit
inbegriffen ist. Aber es durfte nicht übersehen werden, daß
beide aus verschiedener Zeit stammen, das letztere aus dem
Anfang des 4. Jahrb., das erstere aus dessen Mitte, nach der
Atelie überhaupt nur vereinzelt gegeben wird.^) So tritt auch
für die Proxenie allgemein an deren Stelle die Isotelie, die
vorher nur einzelne erhalten haben. Auch für die der Isotelie
zugeschriebene Entwicklung, in der ein besonders bezeichnen-
der Beweis für die Virtuosität des athenischen Volks in der
Anpassung seiner Einrichtungen an neu entstehende Bedürf-
nisse gefunden wird, fehlt es an jeder zureichenden Begrün-
dung. Sie soll zuerst nur ein finanzielles Privileg gewesen
sein, das einzelnen zuteil wurde; ein eigener bevorzugter
Stand von Isotelen habe sich erst dadurch gebildet, daß den
damit beschenkten Fremden auch die jtQÖöodog Tcobg xbv 7to-
XiiLUQxov gewährt wurde, die als der wertvollste Teil der
vollen Isotelie bezeichnet wird (offenbar darum, weil sie mit
dem öCxag Xu^ßaveiv %cd öidovaL xa^unsQ Hd-Yjvaloi iden-
tifiziert wird), das sei aber im Interesse der vorübergehend
in Athen weilenden Fremden geschehen, während den Pro-
xenoi der Zutritt zu dem Polemarchen schon an sich, den
Metoiken durch Vermittlung ihres Prostates zustand. Anders
wieder die antike Überlieferung, die, allerdings zu eng, in
der Isotelie eine Ehrung verdienter Metoiken erkennt: ti^rj
tig ösöo^svT] rolg ä^Coig (pavalöL xäv ^exoCxov. Und Metoiken
hatte sicher Thrasybul vorzugsweise im Auge, wenn er nach
Xenophon Hell. II 4, 25 den Fremden die Isotelie versprach,
die ihn bei ^gy Befreiung Athens unterstützen würden, wo-
gegen Francotte wegen des Akarnanenbeschlusses geneigt
ist, die Entstehung der vollen Isotelie erst in das Jahr 338/7
zu setzen. Eher darf der Versuch Anspruch auf Beachtung
1) Das jüngste Proxeniedekret, das Atelie verleiht, II u. 144
(* n. 286) lautet auf äriXuu ndvx(ov, die sonst für Athen nur durch
Demosthenes g. Lept. 60 gleichfalls aus einem Proxeniedekret zu belegen
ist. Fkancotte freilich bezweifelt den attischen Ursprung jenes Dekrets.
lo JusTus Hermann Lipsius: f7ii9
erheben, eine weitere Katej^orie der iu Athen anfhliltlichen
Fremden, die eine Mittelstelhmg zwischen den Metoiken und
den vorübergehend anwesenden Fremden, den :TC(Qe:rtdy]^ovi>ri-g
eingenommen habe, in den etran^ers residants naehzuwcüsen,
die als xaroixovvrfc; bezeichnet worden seien. Hat er doch
bereits die Zustimmung von Busolt iu seiner noch unvoll-
endeten Griechischen Staatskunde S. 392 o-et'unden, der von
den Metoiken eine zweite Klasse von ortsausässigen Fremden
scheidet, die mit jenen zusammen die xatoixovvreg gebildet
hätten. Der Angabe des Aristophanes von Byzanz, daß jeder
in Athen sich aufhaltende Fremde nach Ablauf einer be-
stimmten Zeit zum Eintritt in die Metoi kenschaft und zu
iinanzielleu Leistungen an den Staat verpflichtet, bis dahin
aber :iaQt7rCdr,uog und steuerfrei sei, versagt er den Glauben,
weil er die Frist nicht genau bestimme und seine Definition
von .uETOixog auch sonst unvollständig sei. Entscheidend sei
vielmehr nur, wie Harpokration sage, die Verlegung des Wohn-
sitzes nach Athen ohne die Absicht späterer Heimkehr. Ohne
diese habe der Fremde sich jahrelang in Athen aufhalten dürfen,
ohne Metoik zu werden, habe aber ebenso wie dieser sowohl
das Recht des Bodenerwerbs erlangen können, wie die Ver-
mögenssteuer zu zahlen gehabt und wohl auch zum Kriegs-
dienst herangezogen werden können, so daß beide Kategorien
in ihren Leistungen für den Staat sich wenig unterschieden,
die Metoiken aber das Recht der TtQoöodog Ttgbg rbv noXi-
uuQxov vorausgehabt hätten. Allein zunächst verträgt sich
die behauptete Steuerpflicht der nicht zu den Metoiken ge-
hörenden ortsansässigen Fremden nicht damit, daß nach dem
wichtigen Gesetz II- n. 244 zur Eisphora im Bedarfsfalle Bürger
und Metoiken herangezogen werden sollen, wie wir auch nur
von ^sroLxixut und tioXitikuI ßvit^uoQCai wissen. Für jene fun-
gierte nach Isokrates Trapez. 41 der Sohn des Sopaios aus
dem Bosporos als einer der iniyQdifelg, dessen Zugehörigkeit
zu den Metoiken Francotte, Finances p. 273 trotzdem wegen
der angesehenen Stellung seines Vaters für ausgeschlossen
erklärt. Überhaupt aber ist das Bestehen einer von den
71,9] Lysias' Rede gegen Hippotherses U8w. ii
Metoiken geschiedenen Klasse ortsansässiger Fremden schon
darum überaus unwahrscheinlich, weil die ariXsia xov (xstol-
XLOv in der Mehrzahl der Fälle gerade den aus der Heimat
Verbannten bewilligt wird, deren Rückkehr ausdrücklich in
Aussicht genommen wird {kag av xavak^cjötv). Wird sie
doch auch zusammen mit der Befreiung von Leituro-ien und
Eisphora den Kaufleuten aus Sidon gewährt LG. II n.86 (-143),
d. h. sie werden von der Verpflichtung, in den Metoiken-
stand einzutreten, entbunden, auch wenn sie über die geordnete
Zeit in Athen verbleiben. Dazu ruht die ganze Scheidung
auf sehr unsicherem Grunde. Ihre hauptsächliche Stütze ist
der Volksbeschluß für Nikandros und Polyzelos I. G. II 2 -|- 5.
n. 270 (- 505). Aber die ihm vorausgeschickten Motive, ins-
besondere die zwanzig Jahre lang von ihnen beiden gezahlten
Beiträge zu der für die Erbauung der SchiflFshäuser und der
Skeuothek erhobenen Steuer machen vielmehr unzweifelhaft,
daß sie Metoiken gewesen sind.^) Einzig und allein um
des von ihnen gebrauchten Kompositums xarotxommg statt
des sonst üblichen Simplex willen aber sie für etrangers
residants zu erklären, wäre erst dann berechtigt, wenn
jenes sich als die eigentliche Bezeichnung dieser Kate-
gorie erweisen ließe. Daß das Wort in der allgemeinen Be-
deutung 'wohnen' auch in der amtlichen Sprache gebraucht
wurde, wird natürlich nicht verkannt. Aber für die als Be-
lege der behaupteten speziellen Bedeutung in Anspruch ge-
nommenen Stellen meist später Inschriften ist nur so viel rich-
tig, daß nichts in ihnen unter xaroLxovvtsg an Metoiken zu
denken zwingt, aber für keine der Stellen ist bewiesen, daß
unter ihnen eine besondere, von jenen verschiedene Bevölke-
rungsklasse verstanden sein muß. Aus mehreren Inschriften
der letzten vorchristlichen Jahrhunderte von Priene werden
zwar nebeneinander TioXlrat TräQoixoi adtoLxoi und ^evoi auf-
i) Im Widerspruch mit seiner Abhandlung de la condition d.
ötr., die in beiden Redaktionen das Psephisma zum Ausgangspunkt
nimmt, erklärt sie Fkancotte selbst dafür in dem zwischen beiden
liegenden Inich Finances a. a. 0.
12 J. llt;KM. Lu'.suis: Lysias' Kkük (ii;(iKN llii'i'(>riiHi;sr,s usw. [71,9
geführt, daraus über auf den Sinn vou o[ xaroixovtfxeg eineu
Schluß zu ziehen ist darum unzulässig, weil dies in den
auderen Inschriften der Stadt ohne diese spezielle BedeutuiuT
verwendet wird. Nicht das geringste aber mit dieser hat es
zu tun, wenn die athenischen Kleruchen auf Delos sicli als
6 öfjuog 6 'A^i]vuCcov xäv iv /ii']Xc> xaroixovi'tcoi' oder die
sumischeu Kolonisten in Minoa als 6 d)~j}iog 6 l^afitav 6 xa-
xolxCjv SV Mtvcöa bezeichnen. Aus Athen werden als weitere
Belege für das Bestehen der neuen Kategorie noch drei Volks-
beschlüsse geltend gemacht, die dort aufhältlichen Fremden
die Ehre der Proxenie zuerkennen, während diese mit der
Stellung eines Metoiken unverträglich sei. Gewiß verstößt
die Verleihung der Proxenie an einen Metoiken wider den
eigentlichen Sinn der Institution, aber das gleiche gilt auch
den etrangers residants gegenüber, solange sie in Athen weilen.
Besonders bei den beiden älteren jener Proxeniedekrete aus
dem letzten Drittel des vierten Jahrhunderts II 5 n. 179^
(^ 360) für Herakleides von Salamis und II n. 186 (^ 373) für
den Arzt Eueuor spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß
sie dem Metoikenstande angehört haben, da beiden durch in
längeren Abständen aufeinander gefolgte Beschlüsse sich stei-
gernde Ehren bewilligt werden, dem Euenor zuletzt das Bürger-
recht. Allerdings läßt schon v Wilamowitz, Hermes XXII
S. 240 A. I gerade diesen nur als Fremden gelten, da die
Arzte ebenso wie andere drjfiiovQyot eine internationale Rechts-
stellung genossen hätten. Aber das würde nocb keine beson-
dere Klasse der Fremdenschaft bedingen, der freilich auch
Apollas aus II n. 380 (^ 835) ohne ein Wort der Begrün-
dung zugewiesen wird. Für Euenor aber läßt der Wortlaut
des zweiten Beschlusses izeiÖ)) — anavxa 06a TtQoöexa^sv
avxa 6 dfifiog 6 'J&r]vaCcov xai idCa xai xoivfj fTtifit'XsraL
keinen Raum für den Zweifel, daß er als laxQog dr]^o6i£vc3i/
tätig war, wie nach II n. 256^ (« 583) Pheidias von Rhodos
ohne Entgelt tat. Mit einem solchen Auftrag, der nur eine
impJXsia in sich schloß, konnte sehr wohl auch ein Metoik
betraut werden.
Woliiiuiiffeii
der
einlieimisclien Mitglieder der math.-phys. Klasse
Febrnar 1920.
Ordentliclie Mitglieder.
Herr Dr. Biedermann, Professor, Geh. Hofrat, Jena, Botzstraße 4.
„ „ Boehm, Professor, Geh. Medizinalrat, Seeburgstraße 100.
„ „ Des Coudrcs, Professor, Geh. Hofrat, Linnestraße 5.
„ „ Drude, Professor, Geh. Rat, Dresden, Stübelallee 2.
„ „ Ellenherger, Professor, Geh. Rat, Dresden, Zirkusstr. 40.
„ „ Flechsig, Professor, Geh. Rat, Windmühlenweg 29.
„ „ Foerster, Professor, Geh. Hofrat, Dresden, Hohe Straße 46.
„ „ Garten, Professor, Leipzig-Stötteritz, Marienhöhe, Ludolf-
Colditz-Str. 40.
„ „ HallwacJis, Professor, Geh. Hofrat, Dresden, Münchner Str. 2.
„ „ Hanfzsch, Professor, Geh. Hofrat, Liebigstraße 18.
„ „ Held^ Professor, Inselstr. 1.
„ „ Herglots, Professor, Leipzig-Gohlis, Erfurter Straße 6.
„ „ Holder, Professor, Geh. Hofrat, Schenkendorfstraße 8.
• „ „ Knorr, Professor, Geh. Hofrat, Jena, Kahlaische Straße 9.
„ „ Kossmat, Professor, Geh. Bergrat, Simsonstraße 2.
„ „ Krause, Professor, Geh. Rat, Dresden, Friedrich -Wilhelm-
Straße 82.
„ „ Le Blanc, Professor, Geh. Hofrat, Linnestraße 2
„ „ Luther, Professor, Dresden, Herderstraße 4.
„ „ Marchand, Professor, Geh. Rat, Goethestraße 6.
Herr Dr. Mei-^culieimer, Professor, Talstraße Ö.'i.
„ NcMmann, Professor, Geh. Rat, Querstraße 10/12.
„ Ostwald. Professor, Geh. Hofrat, Groß-Botlien.
„ Paal, Professor, Geh. Hofrat, Schreberstraße 13.
Rinne, Professor, Geh. Hofrat und Geh. llegierungsrut,
Leipzig, Talstraße 38.
„ „ Jlohn, Professor, Geh. Hofrat, Beethovenstraße 31.
„ „ Tliomae, Professor, Geh. Rat, Jena, Kasernenstraße 9.
„ „ Wiener, Professor, Geh. Hofrat, Linnestraße 4.
„ Wxmdt, Professor, Wirkl. Geh. Rat, Exzellenz, Schwägrichen-
straße 17.
Außerordentliclie Mitglieder.
Herr Dr. Felix, Professor, Gellertstraße 3.
„ Stobbe, Professor, Simsonstraße 4.
('
Wohnungen
der
einheimischen Mtglieder der phil.-hist. Klasse
Petruar 1920.
Herr Dr. Beclcer, Professor, Emilienstraße 15.
„ „ Bethe, Professor, Geh. Hofrat, Davidstraße 1.
„ „ Brandenburg^ Professor, Geh. Hofrat, Leipzig-Gohlis, Poeten-
weg 21.
„ „ Bücher, Professor, Geh. Hofrat, Goethestraße 6.
„ „ Conrady, Professor, Färberstraße 15.
„ „ Delbrück^ Professor, Jena, Marienstraße 10.
„ „ Fischer^ Professor, Geh. Hofrat, Grassistr. 40.
„ „ Förster , Professor, Geh. Hofrat, Sedanstraße 4.
„ „ Goets, Professor, Geh. Rat, Jena, Beethovenstraße 4.
„ „ Heime, Professor, Geh. Hofrat, Mozartstraße 19.
1, „ Körte, Professor, Geh. Hofrat, Leipzig-Gohlis, Wahrener
Straße 20.
1, „ Köster, Professor, Geh. Hofrat, Leipzig-Gohlis, Schön-
hausenstraße 6.
„ „ KoschaJcer, Professor, Leipzig-Stötteritz, Naunhofer Str. 22.
„ „ Kromayer, Professor, Geh. Hofrat, Leipzig-Gohlis, Berg-
gartenstraße 10.
1, „ Lipsius, Professor, Geh. Rat, Weststraße 89.
„ „ Mitteis, Professor, Geh. Rat, Hillerstraße 9.
„ „ Mogk, Professor, Studienrat, Salomonstraße 25b.
„ „ Murko, Professor, Mozartstraße 9.
„ „ Partsch, Professor, Geh. Rat und Geh, Regierungsrat, Grassi-
straße 44.
Herr Dr. Eoscher, Professor, Gcli. 1 lotVat, Dresden, Aiiton-Ciraff-Str. 1 0.
Scliw<nsou\ Professor, (!eli. Hofrat, Nordplatz 10.
Schmidt, Professor, (Jeli. llofrat, Siernwarieiistraße 79.
Seeliper, Professor, Geh. Ilofrat, Iieii)zig-riohlis, Kircli\veg2.
.V/(///7r, T., Geh. l?at, Blasewit'/, b. Dresden, llosidenzstr. oS.
Sievers, Professor, Geh. Hofrat, Schillerstraße 8.
Strindorff, Professor, Geh. Hofrat, Leipzig-Gohlis, Pritzsche-
straße 10.
Stieda, Professor, Geh. Hofrat, Sehillerstraße 7.
Studniczlca, Professor, Geh. Kat, Leibnizstraßo 11.
Stumme, Professor, Südstraße 72.
Treu, Professor, Geh. Rat, Losch witz b. Dresden, Heinrich-
straße 21.
Volkelt, Professor, Geh. Hofrat, Auenstraße 3.
Wocrmann, Professor, Geh. Rat, Dresden, Hübnerstr. 5.
Zimmern, Professor, Geh. Hofrat, Ritterstraße 16/22, Tr. A.
Ordentliclie Mitglieder der philologisch-historischen Klasse.
Geheimer Hofrat Eduard Sievcrs in Leipzig, Sekretär der philol.-
histor. Klasse bis Ende des Jahres 1920.
Geheimer Hofrat liichard Heime in Leipzig, stellvertretender
Sekretär der philol.-histor. Klasse bis Ende des Jahres 1920.
Geheimer Rat Hermann Lij)sh(s in Leipzig (2. II. 1885).
Professor Berthold Delhriiclc in Jena (2.11 1885).
Geheimer Rat Georg Goetz in Jena (i5- X. 1888).
Geheimer Hofrat Wilhelm Boscher in Dresden (2. IL 1891).
Geheimer Hofrat Eduard Sievers in Leipzig •(i3- ^I- 1892).
Geheimer Hoft-at Karl Bücher in Leipzig (25. YIL 1894).
Geheimer Hofrat Angust Schmarsoio in Leipzig (25. VII. 1894).
Geheimer Rat Frans Shidniczlca in Leipzig (19. XII. 1896).
Geheimer Hofrat Georg Sfeindor/f in Leipzig (i. VIII. 1898).
Geheimer Hofrat Gerhard Seeliger in Leipzig (26. IL 1900).
Studienrat Eugen Mogle in Leipzig (30. VIL 1900).
Geheimer Hofrat Angust Fischer in Leipzig (30. VH. 1900).
Geheimer Hofrat Heinrieh Zimmern in Leipzig (30. VII. 1900).
Geheimer Rat Liidtvig Mitteis in Leipzig (3. VI. 1901).
Geheimer Hofrat Albert Köster in Leipzig (16. V. 1904).
Geheimer Hofrat WiÜiehn Sticda in Leipzig (16. V. 1904).
Geheimer Regiernngsrat Josef Bartsch in Leipzig (25. V. 1906).
Geheimer Hofrat Erich Bethe in Leipzig (17. VI. 1907).
Geheimer Hofrat Bichard Heinze in Leipzig (17. VI. 1907).
Geheimer Hofrat Erich Branelenhurg in Leipzig (27. IV. 1908).
Professor Hans Stumme in Leipzig (24. V. 1909).
Geheimer Hofrat Johannes YolJcelt in Leipzig (21. II. 19 10).
Geheimer Hofrat Max Förster in Leipzig (14. XL 191 2).
Geheimer Hofrat Johannes Kromayer in Leipzig (22. II. 19 15).
Professor August Conradg in Leipzig (24. V. 1916).
Professor Baut KoschaJcer in Leipzig (31. VII. 1917)-
Geheimer Hofrat Bichard Schmidt in Leipzig (31. VIL 191 7).
Phil.- bist. Kl. 1920. '!•
If MlTQLlEDliU-VKKZKlCrilNl.S
C.tilieinipr Kat Wohletnar von Scidlilz in Drescltu (31. VII. 1917).
Geheimer Kat Karl Wonwnnn in Dresden (31. VII. IQI?)-
Professor Mailhias Murko in Leip/ij; (15. VII. 1918).
Cleheimer llol'nit Alfred Körte in Leipzig (15. VII. 1918).
Professor PhUipp August IJcclcr in Leipzig (14. XI. 19 19).
l<"'rülHMP ordontliche, <>;eorenwärti;j; auswärtige Mitglieder der
philulügisch-bistorischeu Klusse.
Gebeimer Hofrat Lujo Brentano in München.
Geheimer Regierungsrat Friedrich TJelifzseh in Berlin.
Geheimer Hotrat Friedrieh KliKje in Freiburg i. 13.
Gebeimer Regierungsrat Friedrieh Marx in Bonn.
Professor Ulrich WilcJcen in Berlin.
Ordentlicbe Mitglieder der matbematiscb-pbysi.scben Klasse.
Geheimer Hofrat Otto Holder in Leipzig, Sekretär der mathem.-
phys. Klasse bis Ende des Jahres 1919.
Gebeimer Regierungsrat Fritz Einne in Leipzig, stellvertretender
Sekretär der matbem.-phys. Klasse bis Ende des Jahres 1919.
Gebeimer Rat Ccirl Xetimcinn in Leipzig (22. III. 1869).
Wii-klicber Gebeimer Rat Exzellenz WiVielm Wxindt in Leipzig
(24. VII 1882).
Gebeimer Rat Faid Flechsig in Leipzig (14. IIL 1885).
Gebeimer Rat Johannes TJioniae in Jena (18. VII. 1885).
Gebeimer Medizinalrat Ihtdolf Boehm in Leipzig (13. IL 1886).
Gebeimer Hofrat Wilhelm Osiicald in Groß-Botben (23. XII. 1887).
Gebeimer Rat Wilhelm Pfeffer in Leipzig (23. XII. 1887).
Geheimer Hofrat Karl BoJni in Leipzig (2. XII. 1889).
Gebeimer Rat Martin Krause in Dresden (2. XII. 1889).
Gebeimer Hofrat Ludwig Ktiorr in Jena (23. A^'II. i8g8).
Gebeimer Hofrat Otlo Wiener in Leipzig (31. VIL 1899).
Gebeimer Hofrat Otto Holder in Leipzig (31. VIL 1899).
Gebeimer Hofrat Wilhelm Biedermann in Jena (30. VII. 1900).
Gebeimer Rat Felix Marchand in Leipzig (30. VII. 1900).
Mitglieder- Verzeichnis. III
Gebeimer Hofrat TJicodor Des Coudres in Leipzig (i. YTII. 1903).
Geheimer Hofrat Arthur Hantzsch in Leipzig (i. H. 1904),
Geheimer Hofrat WilJtclm HaUwachs in Dresden (15. VIT. 1905).
Geheimer Hofrat Max Lc Blanc in Leipzig (17. VI. 1907).
Geheimer Rat Oskar Drude in Dresden (2. XIL 1907).
Professor Hobert Luther in Dresden (20. VH. 1908).
Geheimer Regierungsrat Fritz Rinne in Leipzig (14. XL 1910).
Geheimer Hofrat Fritz Foerster in Dresden (14. XL 1912),
Geheimer Hofrat Karl Paul in Leipzig (14. XL 191 2).
Geheimer Bergi-at Franz Kossmat in Leipzig (12. XIL 1914).
Professor Gustav Herglotz in Leipzig (12. XIL 191 4).
Professor Johannes Mcise)iheimer in Leipzig (14. XI. 1915).
Professor Siegfried Garten in Leipzig (31. VIL 191 7).
Professor Hans Held in Leipzig (31. VII. 191 7).
Geheimer Rat Wilhelm Fllenberger in Dresden (18. II. 1918).
Professor Max Siegfried in Leipzig (18. II. 191 8).
Außerordentliche Mitglieder der mathematisch-physischen
Klasse.
Professor Johannes Felix in Leipzig.
Professor Hans Stolhe in Leipzig.
Frühere ordentliche, gegenwärtig auswärtige Mitglieder der
mathematisch-physischen Klasse.
Geheimer Hofrat Ernst Bechnann in Berlin.
Geheimer Hofrat Vilhclm Bjcrhies in Christiania.
Professor Friedrich Fngel in Gießen.
Geheimer Regierungsrat Felix Klein in Göttingen.
Professor Arthur v. Octiingen in Bergheim a. d. Bergstraße.
Archivar
Julius Erich Schröter in Leipzig.
a*
IV
MlTOLIKDEK - Vku/.KICHNIS.
Verstorbene Mitglietlor.
Ehrenmitglieder.
Fnlkni<!cin^ Joluunt i'aid von, 1882.
Gnhcr^ Carl Fried rieh von. 1891.
Seydi'wilü, Kurt Damm Pnul von, 1910.
Wietershcim, Karl Aiipust WilJivlm Eduard von, 1865.
Philologisch-bis
Älhrccht, Eduard, 1876.
Ammo7i, Christoph Friedrich von,
1850.
Becker, Wilhelm Adolf, 1846.
Berger, Hugo, 1904.
Birch-Hirschfeld, Adolf, 1917.
BöhtUngTc, Otto, 1904.
Brockhaus, Hermann, 1877.
Brugmann, Karl, 19 19.
Bursian, Conrad, 1883.
Curtius, Georg, 1885.
JDrorjsen, Johann Gustav, 1884.
Ebers, Georg, i8g8.
Ebert, Adolf 1890.
Fleckeisen, Alfred, 1899.
Fleischer, Heinr. Leberecht, 1888.
Flügel, Gustav, 1870.
Franke, Friedrich, 187 1.
Gabelents, Hans Conon von der,
1874.
Gabelentz, Hans Georg Conon
von der, 1893.
Gebhardt, Oscar von, 1906.
Geizer, Heinrich, 1906.
Gersdorf, Ernst Gotthclf 1874.
Göttling, Carl, 1869.
Chitschmid, Hermann Alfred von,
1887.
Hänel, Gustav, 1878.
Hand, Ferdinand, 1851,
torische Klasse.
Hartenstein, Gustav, 1890.
Hasse, Friedrich Christian Au-
gust, 1848.
Ifauck, Albert, 19 18.
Haupt, Moritz, 1874.
Heinrici, Georg, 19 15.
Heinze, Max, 1909.
Hermann, Gottfried, 1848.
Hirzel, Mudolf, 191 7.
Hidtsch, Friedrich, 1906.
Jacobs, Friedrich, 1847.
J"a/m, 0^0, 1869.
Janitschek, Hubert. 1893.
TTeJ/, Bruno, 1916.
Köhler, Beinhold, 1892.
Krehl, Ludolf, 1901.
Lamprecht, Karl, 19 15.
J^ange, Ludwig, 1885.
Leskien, August, 191 6.
Marquardt, Carl Joachim, 1882,
Maurenbrecher, Wilhelm, 1892
Meister, Bichard, 19 12.
Miaskowski, A%igust von, 1899.
Michelsen, Andreas Ludwig
Jacob, 1881.
Mommsen, Theodor, 1903.
Nipperdcy, Carl, 1875.
Noorden, Carl von, 1883.
Overbeck, Johannes Adolf, 1895,
Pertsch, Wilhelm, 1899.
Mitglieder -Verzeichnis.
reschcl, Oscar Ferdinand, 1875.
Peter, Hermann, 19 14.
Preller, Ludivui, 1861.
Batzel, Friedrich, 1904.
Bihbeck, Otto, 1898.
BitscJd, Friedrich Wilhelm, 1876.
liohdc, Erwin, 1898.
Röscher, Wilhelm, 1894.
Buge, Sophus, 1903.
Saupiic, Hermann, 1893.
Schleicher, August, 1868.
Schrader, Eberhard, 1908.
Schreiber, Theodor, 19 12.
Seidler, August, 1851.
Scyffarth, Gustav, 1885.
(Socm, Albert, 1899.
Sohm, Budolph, 1917.
Springer, Anton, 1891.
ÄterÄ, Ca^Z Bernhard, 1879.
Stobbe, Johann Ernst Otto, 1887.
2«c//, Friedrich, 1867.
Ukert, Friedrich August, 1851.
Fof<7f, Georg, 1891.
Fo?^f, Moritz, 1905.
Waclismuth, Curt, 1905.
Wachsmuth, Wilhelm, 1866.
Wächter, Carl Georg von, 1880.
TT'^c.sfenHa^zw, -4wfow, 1869.
Windisch, Ernst, 191 8,
TF«//cer, Bichurd Paul, 19 10.
ZarncTce, Friedrich, 1891.
Mathematisch-physische Klasse.
J.6&C, .£Jj-«5/, 1905.
Arrest, Heinrich d', 1875.
Baltzcr, Heinrich Bichard, 1887
i?ecÄ;, Bichard, 191 9.
Bezold, Ludteig Albert Wilhelm Hansen, Peter Andreas,
von, 1868. Harnack, Axel, 1888.
Braune, Christian Wilhelm, 1892. Hempel, Walter, 191 6.
Funke, Otto, 1879.
Gegenbaur, Carl, 1903.
Geinitz, Hans Bruno, igoo.
Hankel, Wilhelm Gottlicb, 1899.
1874.
Bruhns, Carl, 1881.
Bruns, Heinrich, 1919.
Carus, Carl Gustav, 1869.
Carus, Julius Victor, 1903.
Chiin, Karl, 191 4.
Cohnheim, Jiüius, 1884.
Credner, Hennann, 191 2.
Hering, Ewald, 1918.
Zr/5, Wilhelm, 1904.
Hofmeister, Wilh dm, 1877.
Huschke, Emil, 1858.
Knop, Johann August Ludtvig
Wilhelm, 1891.
Kolbe, Hermann, 1884.
Döbereincr, Johann Wolfgang, Krüger, Adalbert, 1896.
1849.
Drobisch, Iloritz Wilhelm, 1896.
Erdmann, Otto Linne, 1869.
Fechner, Gustav Theodor, 1887.
Feddersen, Wilhelm, 1918.
Fischer, Otto, 19 16.
1863.
Kunze, Gustav, 1851.
Leitmann, Carl Gotthclf,
Lcuckart, Jiudolph, 1898.
i«e, Sophus, 1899.
LAndenau, Bernhard August von,
1854.
VI
MrrOLIKDKK-V'KUZKlCIINIS.
lAuhrUi, Carl, 181)5.
Mardtand, liicJiard Felix, 1850.
Mayer, Adolf, 1908.
Metteniu.t. Georg, 186Ö.
Meifcr, l'jrn.^t von, 1916.
Möbiiis, Aiujust Ferdinand, 1868.
Müller, Wilhelm, 1909.
Naumann, Carl Friedrich, 1873.
Pöppiih Fduard, 1868.
Habt, Karl, 1917.
Beich. Ferdinand. 1882.
Bichthofen, Ferdinand v., 1905.
Seheerer, llicodor, 1S75.
Scheibner, Wilhelm, 1908.
Sehenk, August, 1891.
Schieiden, Matthias Jacob, 1881.
Schlumilch, Oscar, 1901.
&"/;;><///, 7??/(7o//' Wilhelm, 1898.
Schumann, Victor, 1912.
Sehu'ägriehen . Christian Fried-
rieh, 1853.
Seebeck; jAtdirig Friedrich Wil-
helm August, 1849,
StoA/, iVn.s7, 1919.
(SYr//j, Samuel Friedrich Nathn-
nael von, 1885.
Stohmann, Friedrieh, 1897.
Töphr, August, 191 2.
Volk mann, Alfred Wilhelm, 1877.
iye6(T, Eduard Friedrich, 1871.
Trt'6«% ^rw5/ Heinrich, 1878.
]^7'6cr, Wilhelm, 1891.
Tl^ä'(?e>»fm», Gustav, 1899.
IFm/i'/tr, Clemens, 1904.
TF/,sZ/cf^Mf5, Johannes, 1902.
Zcuncr, Gustav Anton, 1907.
Zirkel, Ferdinand, 19 12,
Zöllner, Johann Carl Friedrich,
1882.
Leipzig, am 31. Dezember 1919.
VII
Verzeiclmis
der bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
'im Jahre 19 19 eingegangenen Schriften.
I. Von gelehrten Gesellschaften, Universitäten und öffentlichen
Behörden herausgegebene und periodische Schriften.
Deutschland,
Bericht über die Tätigkeit der Naturwissenschaftl. Gesellsch. Isis,
Bautzen i. d. J. 1916 — 18. Bautzen o. J.
Abhandlungen der Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
Philos.-bistor. Klasse. 1918, Nr. 15 — 18. 19 19, Nr. i — 10. Haber-
landt, (?., Gedächtnisrede auf Simon Schwendener. Berlin.
Sitzungsberichte der Preuß. Akad. der Wissensch. zu Berlin. 19 19,
Stück I — 39. ebd.
Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin. Jahrg. 51,
No. 17. 18. — 52, No. I — 5. 7 — II. ebd. 1919.
Jahrbuch der K. Preuß. Geolog. Landesanstalt. Bd. 36, T. 2, H. 3. Bd. 37,
T. I, H. 3. T. 2, H. I. 2. Bd. 38, T. i, H. i. 2. ebd. 1917— 18.
Beiträge zur kommunalen Kriegswirtschaft. Bd. 3. Nr. 7 — 18. ebd. 0. J.
Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft i. Jahre 1918.
Jahrg. 20, Nr. 21 — 24. 1919. Jahrg. 21, Nr. 1—24. Braunschweig
1918. 19.
Die Fortschritte der Physik im Jahre 1917. Jahrg. y^. Dargestellt
von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Abt. i — 3. ebd.
1918. 19.
Bericht des Westpreußischen Botanisch-Zoologischen Vereins. 41. Dau-
zig 1919.
Schriften der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig. N. F. Bd. 15,
H. 1/2. ebd. 1919.
Jahresbericht der Sachs. Landesbibliothek zu Dresden auf das Jahr
1918. Dresden 1919.
Jahresbericht der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Dresden
1917/18. München 1919.
Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesell-
schaft Isis in Dresden. Jahrg. 1918. Dresden 1919.
\ III Vi;uzi;iciiMs i>ku kingkuanuknkn Sciiim tkn.
Vcrzeithiiis der Vculesuni^'en uiul Cbunf^ou an «1er K. Silclis. Toclini-
scheu llücliscluiK' f. 1I.2. VViiitersoiu. 1918/19 (ZwischpiiHtMii). Soiuiuer-
seni. 1019. Wintersom. 1919/20. — Persoiialveri'.L'iilniis. Nr. 58.
Wintersem. 191«) 20. ebd. 1019.
Zeitschrift des K. Siubs. Statist. Liiiulcsauitos. Jahr;,' 64. 1918. — 65,
1919. ebd. 0. J.
])ekadcn-Mouatsbcrichtt' (vorläuli^'e Mitteilung) der K. Silchs. Landes-
wettorwarte. loK-- Jahrg. 19. l)re.sdcn 1918. — Sclircibcr, J'ditl,
Kinriihtuiig n. Aufgaben der . . . 19 IS erbauten Wetlerwaitcu auf
der Wahnsdorfer Kuppe . . . u. auf dem Fichtelberge, ebd. 1918.
Deutsehes nieteorolog. .fuhrhucJi. Kngreli. SachseM (von Jahrg. 34 (1916)
an: Jahihuch der Sachs. Lamlcs-Wi-tterwaitc) für 1913 (.lalirg. 31),
Abt, 3. 1914 (32), Abt. 1. 1915 (33), Abt. I.' 1916 (34), Abt. 1/2.
ebd. 1917. 18.
Mitteilungen des Verein.s f. d. Geschichte u. Altertumskde. v. Erfurt.
H. 39. Erfurt 191 9.
Bericht der Senckenbergischeu Naturforschenden Gesellsch. in Frank-
furt a M. 47 (1918). 48 (Jahrhundertfeier 1917). M. i Beil.: Die
Vülksbilduugsbestrebuugcn der Seuckeuberg. Maturforsch. Gesellsch.
u. die Presse. Frankf. a. M. 1918.
•Jahresbericht des Physikal. Vereins zu Frankfurt a. M. f. d. Kechnungs-
jahr 1917 — 1918. ebd. 1918.
Jahrbuch f. d. Berg- u. Hüttenwesen in Sachsen. Jahrg. 1918. 92. Jahrg.
Freiberg i. S. o. J.
Programm der Sachs. Bergakademie zu Freiberg f. d. 153. Studienjahr
1919/20. ebd. 1919.
Verzeichnis der Vorlesungen auf der Großherzogl. Hessischen Ludwigs-
Univers. zu Gießen. Kriegsnot-S. 1919. S.-S. 1919. W.-S. 1919/20.
Personeubestand. W.-S. 1918/19. — Giscvius, Der Boden als Be-
triebsmittel . . . Akad. Rede zur Jahresfeier ... i. 7. 191 8. — Be-
grüßung.sfeier f. d. aus dem Felde heimgek. Studierenden . . . am
9. 3. 19. — Der Allgem. Studentenausscliuß der Univ. Gießen an
die Studentenschaft. — 82 (3 Jurist», 13 philos., 40 mediz., 26 veter.-
mediz.) Dissertationen a. d. J. 1918/19.
Abhandlungen der Gießeuer Hochschulgesellschaft, i. Gießen 1919.
Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft, i. ebd. 19 18.
Bericht der Oberhess. Gesellsch. f. Natur- u. Heilkunde zu Gießen. N. F.
Mediz. Abt. Bd. 11 (19 18). Naturw. Abt. Bd. 7 (1916—19). ebd.
1918. 19.
Neues Lausitzisches Magazin. Zeitschr. der Oberlausitz. Gesellsch. der
Wissensch. Bd. 94. 95. Görlitz 1918. 19.
Nachrichten von der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.
Math.-phys. Kl. 1918, H. i. 2. 3. Beiheft. 1919, H. 1. — Philol.-hist.
Kl. 1918, H. 3. 4. — Geschäftl. Mitteilgn. 1918. 19. Berlin d. J.
Abhandlungen der Naturforschenden Gesellsch. zu Halle a. S. Neue
Folge. No. 7. Halle a. S. 19 19.
Leopoldina. Amtl. Organ d. Kais. Leopoldinisch-Carolinisch Deutschen
Akad. der Naturforscher. H. 55. ebd. 1919.
Meteorologische Beobachtungen auf der Hamburger Sterawarte in Berge-
dorf t. J. 1917. Hamburg 1918.
Vekzüichnis der eingegangenen Schriften. IX
Jahresbericht dei* Hamburger Sternwarte in ßergedorf f. d. J. 1918.
ebd. 1919.
Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg. H. 7. ebd.
1919.
Mouatl. 3Iitteiluvgen der Hauptstation f. Erdbebenforschung am Phy-
sikal. Staats'aboratorium. 1919. Nr. 8. 9. ebd. 1919.
Abhandlungen der Heidelberger Akad. der Wissensch. Mathem.-natur-
wisg. Kl. Abb. 4 ;Text. Atlas). 5. 6. Heidelberg 1918.
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Ma-
them.-naturw. Kl. A. Bd. 9. Jahrg. 1918. Abh. i — 17. B. Bd. 9.
Jahrg. 1918. Abh. I — 3. — Philos.-histor. Kl. Bd. 9. Jahrg. 1918,
Abh. I — 14. — Jahresheft 1918. ebd. 1918. 19.
Neue Heidelberger Jahrbücher. Bd. 21, H. i. ebd. 19 19.
Verhandlungen des Naturhistorisch- Medizinischen Vereins zu Heidelberg.
N. F. Bd. 14. H. I. ebd. 1919.
Veröffentlichungen der (Großherzogl.) Badischen Sternwarte zu Heidel-
berg (Königstuhl). Bd. 7. No. 7 — 10. ebd. 0. J.
Fridericiana. Technische Hochschule zu Karlsruhe. Vorlesungsver-
zeichnis f. d. S.-S. 1919. Karlsruhe 1919.
Verzeichnis d. Vorlesungen a. d. Universität zu Kiel. S.-S. 19 18. W.-S.
1918/ig. — 64 Dissertationen a. d, J. 1918.
Wissenschaft!. Meeresunkrsuchungen, hersg. v. d. Kommission zur wis-
sensch. Untersuchung der deutsch. Meere in Kiel u. der Biolog. An-
stalt auf Helgoland. N. F. Abt. Helgoland. Bd. 14, H. i. Kiel u.
Leipzig 19 18.
Jahresbericht der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft. Leipzig, im
Mai 19 19.
Encyclopädie der Mathematischen Wissenschaften. Bd. 2, 3. Heft 3.
ebd. 1919.
Die Arbeiten des (K.) Preuß. Aeronaut. Observatoriums bei Linden-
berg. Bd. 12 (1916). Bd. 13 (1919). Braunschweig 1918. 19.
Mitteilungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertums-
kunde. Heft 13. Nr. 11 — 12. 14. Nr. i. Lübeck 1919.
Mainzer Zeitschrift. Zeitschrift des Römisch -Germ. Central-Museums.
Jahrg. 14, 1919. Mainz 1919.
Abhandlungen der Bayer. Akad. d. Wiss. Mathem.-phys. Kl. Bd. 28,
Abh. II. Bd. 29, Abh. i. 2. München 1919.
Abhandlungen der Bayer. Akademie der Wissenschaften. Philos.-philolog.
u. histor. Klasse. Bd. 30, Abh. 2 — 7. ebd. 1919.
Jahrbuch der K. Bayer. Akademie der Wissenschaften. 1918. ebd. 1918.
Sitzungsberichte der mathem.-phys. Kl. der K. Bayer. Akad. der Wiss. zu
München. 1918. H. i — 3. 19 19. H. i. 2. ebd.
Sitzungsberichte der philos.-pliilol. u. der histor. Kl. der K. Bayer. Akad.
d. Wiss. zu München. 1918, Abh. 2— 11. Schlußh. 1919, Abh. I — 9.
ebd.
Preisaufgahe der Samsonstiftung bei der Bayer. Akad. der Wiss. f. d.
J. 1919.
Verwaltungsbericht über das 15. Geschäftsjahr 1917 — 1918 . . . des . . .
Deutschen Museums. München 19 18.
X VkRZKICIIMS DKIt KINOKG AXOKNT.N ScillIlK TKN.
Neue Annnlen der K. Stornwailc in Miinclicn. Auf Kosten der K. lUycr.
Akad. der Wissoiisoli. horsi.'^. lid. 5, Heft 2, ebd. 19 iS.
Anzeiger des Germanischen Kationalniiisoums. Jalirrj. hm.S. H. 1—4.
Nürnberg 1019.
Mitteilunfitn aus di>m rionuanischen Nationalniuseum. .Talirg. 1918/19.
= Featschr. f. Gust. v. lie/.old zu s. 70. (leburlHt. ebd. 1918.
Jahresbcricbt der naturbistori.scben GesellscliaCt zu Nürnberg fibcr dns
Jahr 1918. ebd. 0. .1.
Mitteilungen des Vereins für Vogtland. Geschichte u. Altertumskunde
zu riaucu i. V. 29. Jaliresschrift auf d. J. 1919. Plauen d. .T.
Publikotioncn des Astropbysikalischcn ÜbucrvatoriumB zu Potsdam.
Bd. 23. Stück 5 (Nr. 73). 24. Stück i (Nr. 74). Potsdam 1919.
Veröffentlichung des Preuß. Geodiitischcn Institutes. (Potsdam.) N. V.
No. 76. 77. 78. 80. Berlin 19 19.
Württembergische Vierteljahrsschrift für Landesgeschichte. Herausg.
von der Württembergischen Kommission f. Landesgeschicbte. N. F.
Jahrg. 27. (1918). Stuttgart 1919.
Tharander forstliches Jahrbuch. Bd. 70. Berlin 1919.
Jahrbücher des Nassauischen Vereins für Naturkunde. Jahrg. 71.
Wiesbaden 1919.
Sitzungs-Berichte der phv.sik.-medic. Gesellsch. zu Würzburg. Jahrg.
1917, No. 7—9. 1918, No. 1—6. Würzburg u. Leipzig 1918.
VerJiancUu>irfen der physik.-medic. Gesellsch. zu Würzburg. N. F. Bd. 45.
ebd. 1918.
Österreich-Ungarn.
Vjesnik Hrvatskoga Arheoloskoga Drustva. Noye serije. Sveska 14.
1915 — 1919. Zagreb (Agram) 1919.
Vjesnik hrvatsko-slavonsko-dalmatinskog zemaljskog arkiva. • God. 20.
Sveska 1/2. ebd. 191 8.
Personalstand der Deutschen Karl-Ferdinands Universität. Studienjahr
1918/19. Prag 0. J.
Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen.
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Lotos. Naturwiss. Zeitschrift. Hrg. vom Deutschen naturw.-mediz. Verein
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Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit der Gesellsch. zur Förderung
deutscher Wissensch., Kunst u. Literatur in Böhmen i. J. 1918.
ebd. 1919.
BuVettino di archeologia e storia Dalmata. Anno 38. 39. Spalato
1915. 16.
Almanach der Akademie der Wissenschaften. Jahrg. 68. Wien 1918.
Anzeiger der Akademie d. Wissensch. Math.-phys. Kl. Jahrg. 55. ebd.
1918.
Denkschriften der Kais. Akademie d. Wissensch. Math.-naturw. Kl.
Bd. 94. — Philos.-histor. Kl. Bd. 55, Abh. 3. 61, Abb. i. 2. 62,
Abh. 2. ebd. 1917 — 19.
Veuzeichnis der eingegangenen Schriften. XI
Sitzungsberichte der Kais. Akad. d. Wis?en.sch. Math. -iiaturw. Kl.
Bd. 126 (1917) I, Heft 10. II», Heft 10. — IJd. 127 (1918) I, Heft 1—9.
II», Heft I — 10. Ili>, Heft 3 — 10. — Bd. 128 (1919) II^ Heft i. 2. —
Philos.-histor. Kl. Bd. 177, Abh. i. 186, Abb. a. 187, Abh. 3. 4.
188, Abh. 2. 3. 189, Abh. i. 3. 4. 5. 190, Abh. i. 2. 4. 5. 191,
Abh. I. 2. 192, Abh. I. 2. ebd.
Protest der Akad. der Wiss. in Wien wider das Vorgehen der kgl.
Italien. Walfenstillstauds-Kommission gegenüber den Wiener Museen,
Bibliotheken u. Archiven, ebd. 19 19.
Tietze, Hans, Die Entführung von Wiener Kunstwerken nach Italien,
ebd. 19 19.
Archiv für Österreich. Geschichte. (Akad. der Wiss. in Wien. Philol.-
histor. Kl. Historische Kommission.) Bd. 105, 2. 106, 2. 108, i.
ebd. 1917 — 19.
Mitteilungen der Erdbeben-Kommission (Ak. der Wiss. Math.-naturw.
Kl.). N. F. Nr. 51. 52. ebd. 1917. 18.
Abhandlungen der K. K. Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien.
Bd. IG. H. I. ebd. 1918.
Verhandlungen der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien.
Bd. 68, H. 6—10. ebd. 1918.
Aunalen des K. K. Naturhistorischen Hofmuseums. Bd. 32. ebd. 1918.
Belgien.
Analecta Bollandiana. T. ^^, Fase. 3. 4. Bruxelles 1914.
Dänemark.
Det K. Danske Videnskabernes Selskabs Skrifter. Naturv. og math. Afd.
8. Rjekke. Bd. 3, No. 2. 3. Bd. 5, No. i. Kj0benhavn 1919.
Oversigt over det K. Danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger.
Juni 1918 — Maj 1919. ebd. 1919.
Det K. Danske Videnskabernes Selskab. Biologiske Med deleiser, i, 5 — 12.
14. — Historisk-filologiske Meddelelser. 2, 3 — 6. — Mathemat.-
fysiske Meddelelser. i, 9 — 12. ebd. 1918. 19.
Conseil permanent international pour Texploration de la mer. Bulletin
statistique des peches maritimes des pays du nord de l'Europe.
Vol. 8 pour les annees 191 1. 12. 9 pour l'annee 1913. ebd. 1917. 19.
— Bulletin hydrographique. Vnriations de la temperature ... de
l'Atlantique pendant les annees 1900 — 1913. ebd. 1919.
England.
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Tranmctioiis of the Cambridge Philosophical Society. Vol. 22. No. 5 — 14.
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Fiiiiihm tl.
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Meclu'liii. — 46, No. i— 8, Minucätal üfver IJjelt u. iicden auf
Hällsk'n, Muttsson, Reuter, Schultün, Slotte. — 47. — 48, No. 1 — 4.
Helsingfors 19 14 — lo.
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EjtiGTriiioviy.ij ETterrjQig. {'Ed'viyiuv ^al KaTCoSi6TQiuy.ov TcavtTtiari^^iov.)
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Programma ceitamiuis poetici ab Acad. Reg. discipl. Nederlandica ex
legato Hoeufftiauo indicti in aunum 1920. Amstelodami 19 19.
Revue semestriello des publicaticns mathematiques. T. 26. (Deux. partie:
1917, Oct. — 1918, AvriL). 27 (Avril 1918 — Avril 1919). — Table
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Nieuw Archief vor wiskunde. 2. Reeks. Deel 12, St. 4. Deel 13, St. i. —
Wiskundige opgaven met de oplossingen. Deel 12, St. 6. Deel 13,
St. I. ebd. 191S. 19.
Nederlandsch kruidkuudig Archief. Verslagen en Mededeelingen der
Nederlandsche Botanische Vereeniging over het jaar 1918. Gronin-
gen 1919.
Bulletin de i'Institut intermediaire international. Publication trimestri-
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Communications from the Physical Laboratory of the University of
Leiden. Vol. 14. No. 153. — Suppl. No. 41 to Nos 145 — 156.
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Enzyklopaedie des Islam. Geograph., ethnograph. u. biograph. Wörter-
buch der muhammedan. Völker. Lief. 25. Leiden u. Leipzig 1919.
Mnemosyne. Bibliotheca philologica Batava. N. S. Vol. 47. P. i — 3.
Lugd. Batav. 1919.
Museum. Maandblad voor Philologie en Geschiedeni?. Jaarg. 26,
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Verzkichnis der hingegangenen Schriften. XIII
Recueit des Travaux Botaniques Neerlandais p. p. la Societe Botanique
Neerlandaise. Vol. i6, livr. i. 2. Groningue 19 19.
Onderzoekiiigen gedaan iu het Physiologisch Laboratorium der Utrecht-
sche Hoogeschool. 5. Reeks. Register van 1897 tot 19 18. Utrecht
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Provinciaal Utrechtsche Genootschap van Künsten en Wetenschappen:
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Bloys rnn Treslonrj Prins, P. C, Genealogische en heraldische
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Eendiconti del Circolo Matematico di Palermo. Pubblicazione biüie-
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Mitteilungen des Kais. Deutsch. Archaeol. Instituts. Römische Abtei-
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Arkiv för Botanik, ütgifvet af K. Svenska Vetenskap.»akademien. Bd.
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Arkiv för Kemi, Mineralogi och Geologi. Utg. af K. Sv. Vetenskapaak.
Bd. 7. Hafte i. 2/3. ebd. 1917 — 19.
Arkiv för Matematik, Astronomi och Fysik. Utg. af K. Sv. Vetenskapsak.
Bd. 13. 14. Hafte 1/2. ebd. 191S— 19.
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Arkiv för Zoologi. Utg. af K. Sv. Vetcnnkapsak. Ud. ii. II. 3/4. ebJ.
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K. Svenska VctenskapBakadomicns Arshok für ar 1918. ebd. (UuDsala')
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K. Svenska Veteuskapsakadcmieiis Jlaitdlingdr. Ny J'öljd. Ud. 52. 57.
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— 5 (Fcstskrift tili Arrhenius' 60. ilrsdag). ebd. 1915 — 18. 19.
Samuel Klinf,'cnstiernaH Leviiad og verk. 13iü<;raliHk ekildriiig iiig. av
K. Svenska Vetenskapsakad. i. Levnadsteckniiif,' av II" Hildebr.
Hihhbrandsson. ebd. Uppsala mi').
Tac. Berzclius, Bref. III, i. Utg. . . . gouom H. G. Söderbauni. 6. Brcf-
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Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens. N. F.
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Compte rendu des seances de la Societe de physique et d'histoire nae
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Verzeichnis der eingegangenen Scukiften. XY
Memoires de la Societe de phjBique et d'hist. naturelle de Geneve.
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KeujahrsbJatt, hersg. v. d. Naturforschenden Gesellsch. in Zürich. Stück
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Viei'teljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Jahrg. 63.
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Zahlen . . . Dresden-N. 19 19.
SITZUNG AM I. FEBRUAR 1919.
Der Sekretär legt eine Abhandlung von Herrn Delbrück über
Germanische Konjunktionssätze vor. Sie ist in den Abhandlungen
Bd. 36, Nr, 4 erschienen.
SITZUNG AM 3. MAI 1919.
Hen- Partsch spricht über die Stromgabelungen der Argo-
nautensage (erschienen in den Berichten Bd. 71, Heft 2), Herr
Förster über die Beowulf handschrift (erschienen in den Berichten
Bd, 71, Heft 4), HeiT Schmausow über das Franciscusfenster in
Königsfelden und den Freskenzyklus in Assisi (erschienen in den
Berichten Bd. 71, Heft 3).
Klassensitzungen sollen künftig im Januar, Februar, Mai, Juni,
Juli, November, Dezember stattfinden. Als Leibniztag wird der
I . Juli begangen werden, die zweite öffentliche Gesamtsitzung dem
Wintersemester vorbehalten.
GESAMTSITZUNG AM 17. MAI 1919.
Nach einer Ansprache des Sekretärs redete Herr Wiener über
den Wettstreit der Newtonschen und Huygensschen Gedanken in
der Optik. Der Vortrag ist Bd. 71, Heft 2 der Berichte der mathe-
matisch-physischen Klasse erschienen.
NICHTÖFFENTLICHE GESAMTSITZUNG
AM 5. JULI 1919.
Verhandelt wurde Geschäftliches. Das Ministerium ist damit
einverstanden, daß die Gesellschaft der Wissenschaften vom i. Juli
1919 an den Namen „Sächsische Akademie der Wissenschaften zu
Leipzig" führt, und hat den vorgelegten Entwurf einer neuen Satzung
genehmigt.
l>lUl.-hist. Klasse 1919 Bd. LXXI. I
2* SlT/irNdSHKUICHTK.
SITZUNG AM 3 ^l'iA loig.
Herr Kürtk tru^' üher iioiuto KoiiuHliciii'uiHle vor (s. Beriehto
lid. 71, Nr. ö), HoiT Kko.maykk über die Nioderlag«^ von Ciuidiuin
(wird zusiunmen mit doin Vortra«,' über die Schlacht an der Allia
in den Abhandlungen erscheinen). Eine durch den stellvertretenden
Sekretär Herrn Hkinze vorgelegte Arbeit von Herrn Kcscheu über
die hippokratische Schrift von der Siebenzahl luid ihr Verhältnis
zum Altpytliagoroismus ist inzwischen in den Herichteii Bd. 71,
Heft 5 gedruckt.
GESAMT.SITZUNG AM 14. NOVEMBER 191 9.
Nach einer Ansprache des Sekretärs sprach Herr Voi.kklt
über das i'ortleben der Hegeischen Ideen auch nach der Zersetzung
der Schule Hegels und ihren Eintluß auf die deutsche Philosophie
der Gegenwart.
Die Gedächtnisreden über die im laufenden Jahre verstorbenen
Mitglieder der mathematisch-physischen Klasse, die Heiren Beck
und Bruns, werden von den Herren Kossmat und Hergi-otz ge-
halten.
Herr Pn. A. Becker wii-d zum ordentlichen Mitglied der philo-
logisch-historischen Klasse gewählt.
In der anschließenden Klassensitzung wird Herrn Dr. W. Dkost-
Marburg eine Rate des Springerstipendiums im Betrag von 1000 M.
verliehen und eine durch den stellvertretenden Sekretär Herrn
Heinze vorgelegte Arbeit von Herrn Keil für die Berichte (Bd. 71,
Heft 8) angenommen.
SITZUNG AM 6. DEZEMBER 1919.
Herr Körte legt eine Untersuchung von Herrn LiPSius vor:
„Lysias' Rede gegen Hippotherses und das attische Metoikenrecht".
Sie ist in den Berichten (Bd. 7 1 , Heft 9) veröffentlicht worden.
,->
CIECOTATE AS HONOCmtB
AS Sachsische Akademie der
182 Wissenschaften, Leipzig.
S21^ Philologisch-Historische
Bd. 70-71 Klasse
Berichte über die Ver-
handlungen
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