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Bener Stadien mr PhilosopMe nnd ibrer Geschichte.
Band T.
Heraufgegeben von
Dr. Ludwig Stein,
Professor an der Universität Bern.
HERDER und KANT.
von
Dr. Anna TnmarUn.
Beim.
Verlag von A. Siebert.
1896.
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90883
DEC 6 1905
T-5
Die Frage und ihre Litteratur.
r Im Herbst 1762 immatrikulierte sich Herder an der Königs-
I berger Universität und am 21. August betrat er zum ersten Mal
das Auditorium des Magisters Kant. Der Inhalt dieser ersten
l Vorlesung, wie wir ihn aus Herders Kollegienhefte ^) kennen,
J5 betraf die damals vielbesprochene Geisterfrage. '^) Nachdem Kant
p eine natürliche Lösung derselben empfohlen hatte, stellte er
k dieselbe Forderung der natürlichen Erklärung auch an die
p Theologie. Diese freigeistige Ansicht mag wohl dem jungen
" liberalen Theologen gefallen haben, und von dieser Stunde an
S wurde derselbe ein eifriger Schüler und Bewunderer Kants. Dass
; dieses Verhältnis sich nachmals änderte, dass Herder später zu
den gehässigsten Gegnern und Bekämpfern des Kritizismus ge-
hörte, ist leider allzu sehr bekannt. Allzu sehr verbreitet ist
aber auch die Zurückführung dieses veränderten Verhältnisses
auf persönliche Gründe. Auch Hettner leitet den Bruch zwischen
Herder und seinem ehemaligen Lehrer aus der Rezension ab,
die der letztere über die ,Ideen' geschrieben hat. ^) Anders zwar
lautet das Urteil derer, die sich mit der Frage speziell beschäftigt
*) Haym, „Herders Leben und Werke**, L, 80,
*) Sollte schon diese Vorlesung durch die Swedenborgfrage ver-
anlasst worden sein, so könnte dieselbe als ein eigentlicher Markstein in
den Beziehungen der beiden Denker gelten ; ihr begegnen wir im Anfang
dieser Beziehungen, an ihrem Wendepunkte („Träume" und ihre Rezension)
und endlich an ihrem Ende (Herders letztes Urteil über Kant in „ Adrastea").
■) Hettner, „Litteraturgeschiohte des 18. Jahrhunderts,** III., 8, 8. 99.
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haben ; so weist schon Pfleiderer ^) einen tiefer liegenden Grund
der Polemik der beiden Philosophen nach; ihre tiefe Geistes-
verschiedenbeit und nicht bloss persönliche Umstände zwangen sie
zu einer Auseinandersetzung, und es liegt in der Natur der Sache
selbst, dass der innere Widerspruch ihrer philosophischen An-
sichten zum Ausdruck kam. Nur räumt Pfleiderer dieser Geistes-
verschiedenheit eine zu grosse Bedeutung ein und verneint auch
jede Beeinflussung Herders durch Kant, sogar in den Universitäts-
jahren des ersteren. Seitdem aber Suphan-) die philosophische
Abhängigkeit des jungen Herder von seinem Lehrer nachgewiesen
hat, ist dieselbe eine unbestreitbare Thatsache. Als eine solche
gilt sie auch Haijm/) der, alles vorhandene Material berück-
sichtigend, das ganze Verhältnis am besten beleuchtet; für
ihn ist die Ursache des Bruches weder die persönliche Ent-
fremdung Herders von Kant, noch das System des letzteren an
sich, sondern die Folgen dieses Systems; Herder kämpft,
nach seiner Meinung, weniger gegen Kant, als gegen den
Kantianismus. Endlich beschäftigt sich mit dieser Frage auch
Kühfiemann/) welcher den Bruch der beiden Philosophen durch
die Erlahmung des Herderschen Gedankens erklärt.
Um die Frage nach der Ursache dieses Bruches zu lösen,
scheint es mir am wichtigsten, immer die Zeit der geäusserten
Ansichten zu berücksichtigen und die jeweiligen Standpunkte
der beiden Denker gegenüber zu stellen. Diese Methode des
zeitlichen Verfolgens der beider Denker scheint mir, in Rücksicht
auf die allmähliche Entwickelung der Kantischen Weltanschau-
ung einerseits und die Abhängigkeit der Ansichten Herders
von seinem jeweiUgen Gemütszustand andererseits, doppelt be-
rechtigt.
Die zweite Frage, welche sich uns bei. der Betrachtung
der beiden Philosophen von selbst autdrängt, ist die nach dem
*) Pfleiderer, „Herder und Kant* (Jahrbücher lür protestantische
Theologie, Bd. I, Heft 4, 1875).
^) Suphan, „Herder als Schüler Kants" (Zeitschrift für deutsche
Philologie. 1872. Bd. IV).
^) Robert Haym, „Herder nach seinem Leben und seinen Werken"
(1880-1885).
*) „Herders letzter Kampf gegen Kant" (Studien zur Litteratur-
geschichte, Bernays gewidmet. 1893).
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Verhältnis ihrer Weltanschauungen. Was die Litteratur dieser
Frage betrifft, so ruft anfangs die Polemik Herders eine ganze
Reihe ihn tief herabsetzender Schriften hervor.^) In diesen
Schriften — meistens von Kantianern verfasst — erscheint
Herder als verschrobener Metaphysiker, der das Neue in der
Wissenschaft zu würdigen weder verstehe, noch wünsche. Fast
die ganze erste Hälfte unseres Jahrhunderts blieb dieser Vorwurf
auf Herder lasten, und erst in den letzten Jahrzehnten ver-
suchten einzelne Forscher ihm Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Schon 1858 erklärt Zimmermann^) die Polemik Herders
für die Stimme des gesunden Menschenverstandes und Herder
selbst für das edelste Publikum, welches sich gegen die Schul-
philosophie auflehnt. Böhmer^) sieht in beiden Denkern die
Vertreter der zwei verschiedenen Weltanschauungen : der ideali-
stischen in Kant und der realistischen — naturwissenschaftlichen
in Herder; während Kants „idealistische, aber nebelhafte Welt-
anschauung'^ ihm als „ein eigentümlicher Durchgangspunkt der
deutschen Kultur erscheint^, siebter in Herder den „glücklichsten
Philosophen Deutschlands'^ und den wahren Vorläufer und Ver-
treter der naturwissenschaftlichen Richtung. Aehnlich gestaltet
sich auch das Verhältnis unserer Philosophen bei Pfleiderer,
welcher die Herdersche Weltanschauung als eine monistische
dem Kantischen Dualismus gegenüberstellt. Bärenbach^) sieht
sogar in Herder einen direkten Vorläufer Darwins, welcher dem
„seit Kant verpönten Empirismus" Anhänger gewinnt. Massiger
in seinem Lob ist Michalskj/,^) der die einzelnen wahren Ge-
danken der „Metakritik" hervorhebt und den Einfluss Herders
auf Schelling und Lotze zu beweisen sucht. Die letzte Herder-
arbeit ist wohl die von Kühnemann, ^) welcher in Herders Welt-
anschauung zwar einen gesunden Kern findet, in seiner Polemik
') „Mancherlei zur Geschichte der metakritischen Invasion** von
Rink; dann die Schriften Kiesewetters, Krugs, Ratzes, Gramers etc.
') Zimmermann, „Geschichte der Aesthetik*. S. 425 ff. 1858
^) Böhmer, „Geschichte der Entwicklung der naturwissenschaftlichen
Weltanschauung.** S. 33. 1872.
^) BSrenbach, „Herder als Vorläufer Darwins**. 1877.
*) Michalsky, „Kants Kritik der reinen Vernunft und Herders Meta-
kritik** (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. 1884-1885).
") Kühnemann, „Herders Persönlichkeit in s. Weltanschauung*. 1893.
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gegen Kant aber ein Zeichen „der Stockung der Gedanken in
seiner Persönlichkeit*^ erblickt.^)
Bevor wir an die Lösung dieser unserer zweiten Frage —
nach dem Verhältnis der Weltanschauungen unserer Philosophen
— herantreten, müssen wir noch die frühere Frage — nach den
persönlichen Beziehungen derselben — beantworten.
') Denselben Standpunkt nimmt auch die jüngste Arbeit Kühne-
manns, „Herders Leben^ ein (S. 262 flF.). 1895.
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Erster Teil.
1. Herder als Schüler Kants.
lieber die Universitätsjahre Herders, wie auch über seine
erste Begegnung mit Kant berichten uns teils die „Erinnerungen"
(I, S. 59—61), teils Herders Briefwechsel.^) Alle Vorlesungen,
welche Kant in den Jahren 1762 — 64 hielt — über physische
Geographie^ Mathematik, Logik, Moral, Philosophie und Meta-
physik — , soll Herder gehört und ihren Inhalt auch selbständig
verarbeitet haben. Manche Stellen aus seinen Briefen und Jugend-
gedichten zeugen von seiner Begeisterung für den Lehrer, welcher
auch seinerseits die frühen Produkte des Herderschen Geistes
mit Wohlwollen begrüsst hat. So schreibt Herder an Eichhorn :
„Durch Kant ist die Philosophie das Lieblingsfeld meiner Jugend
geworden," und in einem seiner Gedichte sagt er : „Mein Erden-
blick ward hoch — er gab mir Kant." Ein ganz anderes Licht
wirft auf die Beziehungen des jungen Herder zu seinem Lehrer
die Vorrede zur „Kalligone" : „Der Jüngling," sagt da Herder
von sich selbst, „bewunderte des Lehrers dialektischen Witz,
seinen Scharfsinn, seine Beredsamkeit ; bald aber merkte er, dass
wenn er sich diesen Grazien des Vortrages überliesse, er von
einem feinen dialektischen Wortnetz umschlungen würde, inner-
halb welchem er selbst nicht mehr dächte. Strenge legte er
sich also auf, nach jeder Stunde das sorgsam gehörte in seine
eigene Sprache zu verwandeln . ..." (S. 12). Auch Caroline
Herder will uns glauben machen, dass ihr Mann „Kant am
liebsten über die grossen Gesetze der Natur habe reden gehört ;
an seiner Metaphysik hingegen habe er weniger Geschmack
•) Näheres darüber bei Suphan und Haym, I, S. 29—50.
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gefunden; Kants blinder Schüler und Nachbeter konnte und
wollte er niemals werden, und eine Sympathie der Gemüter fand
niemals statt" (Erinnerungen, I, S. 62). P]s fragt sich nun, inwie-
fern diese beiden angeführten Stellen der Wahrheit entsprechen ;
gegen ihre Glaubwürdigkeit spricht am meisten die bekannte
Stelle aus den „Humanitätsbriefen'^, welche Kant als philo-
sophischen Lehrer preist (XVIII, S. 324): ^ Ich* habe das Glück
genossen," heisst es dort, j^ einen Philosophen zu kennen, der
mein Lehrer war . . ., er kam immer zurück auf unbefangene
Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert der Menschen . . .
Er munterte auf und zwang zum Selbstdenken; Despotismus
war seinem Gemüt fremde. Dieser Mann, den ich mit grossester
Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein
Bild steht angenehm vor mir." Und durch den Vortrag dieses
zum Selbstdenken aufmunternden, dem Despotismus fremden
Lehrers sollte der Jüngling gefürchtet haben, „von einem feinen
dialektischen Wortnetz umschlungen zu werden, innerhalb
welchem er selbst nicht mehr dächte?** Sollte wirklich so
dialektisch bestrickend und den Inhalt verschleiernd der Vortrag
des damaligen Kant gewesen sein, der in seiner „Nachricht von
der Einrichtung der Vorlesungen" — 1765 — 66 — die forschende
induktive Lehrmethode als die beste hinstellt und das Ziel des
Vortrages darin sieht, dass die Schüler „philosophieren, nicht die
Philosophie, denken, nicht die Denker lernen" ? Hat auch Herder
den Verfasser der ^Kritik der reinen Vernunft", die er ja nicht
verstehen konnte, als einen Scholastiker angesehen, so hätte er
doch schwerhch diesen Vorwurf dem Kant der 1760er Jahre
machen können. Herder selbst schreibt an Hamann, ^) von allen
seinen Universitätslehrern sei Kant allein kein Pedant. Und
in Herders Reisejournal vom Jahre 1769 lesen wir: „Philosophie
und Metaphysik sollen als das Resultat aller Naturwissenschaften
gelehrt werden; ein lebendiger Unterricht darüber im Geiste
eines Kant, — was für himmlische Stunden!" („Lebensbild" II,
S. 214 ff.). Alle diese Aeusserungen Herders widersprechen den
zwei oben angeführten Stellen aus der „Kalligone" und den
„Erinnerungen". Trotzdem werden die letzteren noch von
Pfleiderer als glaubwürdig angesehen ; erst Suphan und nach ihm
») Lebensbild I., 2, 178.
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Haym haben sie, wie mir scheint, endgültig widerlegt. Der
Zweck des Herderschen Berichtes* in der „Kalhgone*^ ist nach
Suphan ,,jenes erstere Bekenntnis in den „Humanitätsbriefen**
einzuschränken und abzuschwächen, und dem Misstrauen und
Widersprüche gegen die Lehren Kants, mit dem Herder spät
und unerwartet hervorgetreten war, ein möglichst altes Datum
zuzuschreiben ..."
Haym^) weist einzelne Anklänge an Kants damalige An-
sichten beim jungen Herder nach ; so z. B. das Hervorheben der
Schriften Baumgartens, die Bevorzugung der „analytischen
sokratischen Lehrmethode", die Forderung der „physischen
Analyse" in der Philosophie, die Theorie der unzergliederhchen
Begriffe, endlich direkte, wiederholte Anklänge an Kants „Be-
trachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen".
Aber würden wir auch nicht im Stande sein, diese einzelnen
Anklänge nachzuweisen, so bliebe auch dann der tiefe Einfluss
Kants auf Herder für uns eine unbestreitbare Thatsache, mag
sie nun Herder bewusst oder unbewusst gewesen sein. Erinnern
wir uns an den damahgen Standpunkt Kants. Es war die
Zeit, in welcher Kants „Falsche Spitzfindigkeit der vier
syllogistischen Figuren" (1762), „Der einzig mögliche Be-
weis Gottes" (1763), „Nachrichten über die Einrichtung der
Vorlesungen" (1765) und „Betrachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen" erschienen. Lassen wir auch die
schwierige, streitige Frage von der Entwickelung des Kantischen
Denkens bis 1770 bei Seite, so bleibt doch als eine, so viel ich
weiss, allgemein anerkannte Thatsache zurück, dass in Kants
philosophischem Standpunkt vom Jahre 1762 bereits Leibnizisch-
Wolfische rationalistische, wie auch englische em})irische Ele-
mente aufgelöst waren, -) und völlig ausser Zweifel steht endlich
Kants Hinneigung zur naturwissenschaftlichen Forschung. Diese
drei Elemente finden wir aber sämtlich auch bei Herder wieder:
») I. Band, S. 39-50.
') K. Fischer, „Immanuel Kant", I., 7. Kapitel, S. 116; Paulsen,
jEntwicklungsgeschichto der Kantschen Erkenntnistheorie" ; sogar Hey-
mans, welcher im allgemeinen die Annalime einer empirischen Periode bei
Kant bestreitet, giebt einen wenn auch unbewussten Empirismus (S. 574).
oder wenigstens eine empirische Methode (Archiv für Gesch. der Philos.,
IL, 579,) zu.
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die Naturwissenschaft war seine Lieblingswissenschaft , der
Empirismus seine Methode, und der Rationahsmus endhch der
Standpunkt, von welchem aus er sogar den konsequenten
naturphilosophischen Pantheismus Spinozas mit Leibnizisohen
Elementen durchsetzte.
Diese Verbindung von Empirismus und Rationalismus führte
Kant zur Annahme einer mechanischen CausaUtät, die jedoch
teleologisch gefärbt war, ^) sie bildete seine Lehre „der mecha-
nischen Entstehung und fortschreitenden Elntwicklung" — und
eben diese Lehre ist, wie Kuno Fischer sagt, zum Ausgangs-
punkt der Herderschen „Ideen" geworden. 2)
Von demselben dogmatisch-rationalistischen Standpunkt aus
kommt Kant zu seinem Optimismus und behauptet, dass' unsere
Welt die beste und vollkommenste sei; 3) auch diese Ansicht
hat Herder nie verleugnet; die Zweckmässigkeit des grossen
Ganzen war immer der Standpunkt, von welchem aus er das Ein-
zelne betrachtete. Alle Begriffe, welche aus der damaligen
Kantischen Weltanschauung entsprangen — von den lebendigen
Kräften,^) von der Stufenleiter der Wesen, der freien Ent-
wickelung der Natur nach ihren immanenten Gesetzen,^) der Be-
grilT von Gott als von der höchsten sich in der Natur offenbarenden
Vernunft,^*) die Ineinsbildung der Freiheit und der Natur — das
alles finden wir in den späteren Schriften Herders als deren Grund-
gedanken wieder.
Eine bevorzugte Stellung nahm im damaligen Gesichts-
kreis Kants die Moralphilosophie ein : ihm war die Moral etwas
Feststehendes, dem Denken Vorausgehendes und von ihm Un-
abhängiges ; ') — auch dieses raoraHsche Element ist ein be-
zeichnendes und fast ausschlaggebendes für die ganze litterarische
Thätigkeit Herders — es ist das Princip seiner Humanitätslehre.
So finden wir denn in dem damaligen Standpunkt Kants die
Keime der drei wichtigsten Elemente des Herderschen Geistes:
*) „Naturgeschichte dos Himmels".
^) , Immanuel Kaat„, I, 151.
•') „Betrachtungen über den Optimismus".
*) „Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte*.
^) „Naturgeschichte des Himmels".
**) „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des
Daseins Gottes".
') Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen".
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es ist sein naturwissenschaltlicher Pantheismus, die Durchsetzung
desselben mit rationalistischen, geistigen Elementen und endlich
die Belebung des Ganzen durch die Idee der Humanität. Sollte
Kant auch keinen directen Einfluss auf Herder ausgeübt haben,
so wirkte er auf ihn zweifellos mittelbar, indem er ihn mit
Leibniz, Newton, Locke, Schaftesbury und Rousseau bekannt
machte — Philosophen, deren directer Einfluss auf Herder von
Niemanden geleugnet wird.
Alle diese scheinbar unversöhnlichen Elemente gähren in
Kant in den Jahren 1762—64. Sie treffen wir auch bei Herder
damals, wie später an. Aber während sie bei Herder nie ganz
versöhnt und vermittelt wurden, strebt Kant nach einem ein-
heithchen und konsequenten System ; den Weg zu einem solchen
findet er im Humeschen Skepticismus. Dies ist das einzige
Element des damaligen Kantischen Denkens, welches wir bei
Herder nicht antreffen. Zwar finden sich auch bei ihm einzelne
Bemerkungen, welche, im Vergleich mit dem Wölfischen Dogma-
tismus, skeptisch klingen; zwar ist auch ihm gleich Kant die
Metaphysik „eine sok ratische Weisheit Nichts zu wissen^* (Frag-
mente, Bd. II, S. 17), aber es handelt sich hierbei immer nur
um die „hohe Philosophie", wie Herder die Metaphysik nennt,
nicht um die Philosophie überhaupt. So äussert sich der Her-
dersche seichte Skepticismus nur in seinem Widerspruch gegen
die bisherige dogmatische*) Philosophie. Kant hingegen, dem
es mit seinem Zweifel wirklicher Ernst war, überwand zunächst
durch denselben alle fremden Einflüsse, unter welchen er früher
gestanden hatte, um dann schliesslich ihn selbst zu überwinden
und zu seinem eigenen krititischen System zu kommen. Diese
tiefe Bedeutung konnte Hume für Herder, mit seiner von Hause aus
vertrauensvollen Seele, mit seinem absoluten Glauben an unsere
Erkenntnis, nicht haben. So war denn eben dasjenige Element
im Geiste Kants, welches dessen Kritizismus herbeiführte, für
Herder unzugänghch, und so war ihm das Verständnis des zu-
künftigen Systems seines Lehrers von vorneherein verschlossen. 2)
') Darauf bezügliche Stellen bei Herder, siehe Haym, I, S. 48.
*) Höffding, „Kontinuität im Entwicklungsgange Kants*, Arohiv,
Bd. VIII. „Herders Naturell und Geistesrichtung gemäss war es kein Wun-
der, dass Humes Zweifel ihm übertrieben und willkürlich erscheinen konnte;
Herder fand keine solche Verwendung für diesen wie Kant, dessen Gedanken
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Von dem skeptischen Elemente abgesehen, blieb Herder, wie
Haym (I, S. 41) sagt, „ein Kantianer vom Jahre 1765, um schliess-
lich gegen den Kant vom Jahre 1781 die nur neu gemischten
und gefärbten Gedanken des werdenden Kant zu Felde zu
führen/
Dieses einzige Element, welches den Schüler vom Lehrer
trennte, führte nun zu ihrem ersten Missverständnis; den Anlass
dazu gaben „Die Träume eines Geistersehers". Mit Recht, scheint
mir, nennt Hettner (III, 2, S. 251 ff.) diese „Träume" — das
Programm der ganzen zukünftigen Thätigkeit Kants, den Vor-
läufer seines Kriticismus. Mag der Standpunkt dieser Schrift
ein absolut skeptischer (K. Fischer, I, 2(>9) oder ein noch im
wesentlichen empiristischer (Paulsen, S. 88), oder endlich ein
reahstisch-rationalistischer (Heymans im Archiv, II, 575) sein —
das eine darf wohl als sicher gelten, dass von allen vorkritischen
Schriften Kants diese dem kritischen System inhaltlich am
nächsten steht. Für Kant ist der Geisterseher Swedenborg ein
eben solcher Träumer, wie alle dogmatischen Metaphysiker, von
denen sich jeder seine eigene Welt ausdenkt. In der Frage,
ob es Geister gäbe, wie sie beschaffen seien, ob es eine Gemein-
schaft zwischen ihnen gäbe, entscheidet ersieh weder /)ro^ noch
contra: jede Annahme sei ebenso möglich, aber auch ebenso
unbeweisbar, wie die ihr widersprechende, denn metaphysische
Behauptungen können nicht bewiesen werden, sie sind Traum,
bewusster oder unbewusster Trug. Weder der Hylozoismus,
der Alles belebt^ noch der Materialismus, der Alles tötet, sind
beweisbar; ja noch mehr: „wie etwas könne eine Ursache sein,
oder eine Kraft haben, ist unmöglich durch Vernunft jemals
einzusehen"; die wahre Aufgabe der Philoso})hie besteht daher
nicht in der Behandlung von Fragen , die sie nicht zu lösen
vermag, sondern nur in der Prüfung der „Gi'enzen der mensch-
lichen Vernunft", und die Folge dieser Prüfung ist eine sokrat-
ische Zufriedenheit mit der gegebenen, erkennbaren Welt. Auch
die Behauptung, dass die Metaphysik die Frage nach dem zu-
künftigen Leben lösen soll, weil die letztere unsere Moral be-
dadurch in stärkeren Fluss gesetzt wurden, ja Herder konnte kaum
verstehen, wie Kant ihn zu verwenden vermochte; sein späteres Ver-
hältnis zu Kant lässt dies vermuten."
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gründe, wird von Kant widerlegt; ihm ist ja die Moral etwas
Ursprüngliches, vom Wissen Unabhängiges: „man müsse die
Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohl-
gearteten Seele, nicht umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die
Hoffnung der anderen Welt gründen." So haben wir denn schon
in dieser Schrift die beiden Hauptkeime des Kriticisnms Kants.
Seine offene Erklärung für das vernünftige „Ich weiss nicht"
einerseits und sein Abweichen von Hume in den Fragen der
Moral andererseits kündigen uns im Verfasser des kleinen Bänd-
chens den Urheber der beiden Kritiken an.
Und nun, wie verhält sich Herder zu diesem Vorläufer der
kritischen Schriften Kants? In seiner Rezension der , Träume"^)
lobt er die feine und einnehmende Art des Vortrags, die treu-
herzige Laune zu erzählen und zu philosophieren, die Beobacht-
ungen in der Pathologie der menschlichen Seele, den analytischen
Weg. Nicht zufrieden aber ist er mit dem Inhalt der Schrift
und besonders mit ihrem „dogmatischen", d. h. rein philosophischen
Teil, in welchem Kant von der Möglichkeit der Geister spricht.
Herder wirft dem Verfasser vor, dass er „Hypothesen darbringe,
die, wie eine Synthese betrachtet, mehr Schönheit haben, als
sie haben dürften, wenn sie immer bei Datis blieben". Als ob
Herder nicht bemerkt hätte, dass Kant nur dazu die Frage
scheinbar ernst aufnimmt, um dann überhaupt die Beschäftigung
mit solchen Fragen im komischen Lichte darzustellen, sagt er:
„Der Verfasser trägt die Wahrheiten von beiden Seiten vor und
sagt, wie jener Römer: einer sagt nein! der andere ja! ihr
Römer, wem glaubt ihr?*^ Schon die erste Rezension Herders
beruht so auf einem Miss Verständnis; was er „Wahrheiten"
nennt, ist für Kant nicht einmal wissenschafthche Hypothese,
sondern nur ein Trug, ein Traum der Vernunft ; Kant fragt den
Leser nicht: wofür entscheidest du dich, sondern er behauptet
geradezu: wenn du ein wenig Vernunft hast, wirst du dich für
garnichts entscheiden, wirst du dich um derartige Fragen über-
haupt nicht bekümmern.
Woher kommt denn dieses Missverständnis? Suphan leitet
es von der „Hochachtung ab, die dem Schüler auch proble-
*) Königsberger politische Zeitungen, 1766. 18 Stück (SWS., I.,
Seite 68).
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— 12 ~
matische Behauptungen des Lehrers im Lichte von Beweisen
erscheinen lässt*^ ; Haym (I, S. 48) sieht seine Ursache in der
„Anwendung seitens Herders derselben kritischen Behutsamkeit,
die er von Kant gelernt hatte^. Aber wenn ich mich nicht irre,
liegt der Grund davon viel tiefer; es ist derselbe Grund, der
Herder für immer das Verständnis des Kantischen Systems ver-
schluss ; es ist seine einheitUche, auf Synthese gerichtete Natur,
der die tiefe Verschiedenheit der Erkenntnis und der Wirklich-
keit, der Erscheinung und des Dinges an sich, des Scheins und
des Seins, der ganze Kantische DuaHsmus zuwider war; es ist
sozusagen sein Objektivismus, welcher sich gegen den Kantischen
Subjektivismus immer sträubte. Herder hat die bahnbrechende
Bedeutung der „Träume" eher geahnt, als erkannt: „Die Schrift,"
sagt er, „enthält allgemeine Betrachtungen über die Metaphysik,
und das Schlusshauptstück des dritten Teils insonderheit enthält
einige grosse Züge zu einem Plane, den der Verfasser selbst am
besten ausführen und anwenden könnte." Herder meinte wohl
damit die Säuberung der Philosophie von dogmatischen Be-
hauptungen, eine Reform der Methaphysik ; dass aber Kant auch
eine Reform der ganzen Philosophie unternehmen wolle, dass er
nicht nur die Beweisbarkeit der Geisterlehre, sondern auch die
absolute Erkenntnis der Erfahrungswelt leugnen werde, das hat
Herder kaum vorher geahnt; denn hätte er es, er würde nicht
mit solcher Freude den Plan zu einem System verkündet haben,
dessen Bekämpfung für ihn so verhängnisvoll werden sollte. Dass
dieses erste Auftreten des Schülers gegen seinen Lehrer durchaus
nicht auf persönliche Umstände zurückzuführen ist, unterliegt
keinem Zweifel: die Beziehungen der beiden, so lange Herder
in Königsberg blieb, haben wir bereits kennen gelernt; als Herder
Ende 1764 nach Riga ging, bHeben seine Beziehungen zu Kant
noch immer freundschaftlich; wir wissen aus Herders eigenem
Zeugnis, dass Kant „ihm seine Träume bogenweise zugeschickt
hat" („Aus Herders Nachlass", II, 24), wir wissen ferner, dass
die beiden noch lange mit einander Grüsse wechselten und dass
Herder sogar seine Jugendfreunde von Riga aus aufmunterte,
Kants Vorlesungen zu besuchen („Erinnerungen", II, 220). Endlich
haben wir auch einen Brief Herders an Kant vom Jahre 1767
(„Lebensbild", I, 2, 294) — einen Brief voll Achtung und Ver-
ehrung, der dabei doch von der Selbständigkeit des Schülers
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— 13 —
dem Lehrer gegenüber zeugt; Herder, heisst es da, „habe Zweifel
wider manche philosophische Bedenken und Beweise seines
liebsten, verehrtesten Kant."^)
2. Herders dynamischer Standpunkt.
Mit der Herderschen Rezension der „Träume" beginnt eine
neue Periode in den Beziehungen der beiden Philosophen ; bereits
äussert sich in ihr die Geistesverschiedenheit der zwei Denker,
welche später zu ihrem gänzHchen Bruch führen sollte. Bis dahin
aber, bis dieses erste kleine Missverständnis zu einer unüber-
brückbaren Kluft wird, vergehen fast 20 Jahre, innerhalb
welcher unsere Philosophen sich immer mehr von einander
entfernen, ja sogar entgegengesetzte Wege einschlagen. Auch
äusserlich löst sich ihr Verhältnis: Herder verliert seinen
Lehrer aus den Augen, er kommt unter neue Einflüsse, die
eines Nicolai und eines Hamann, und das Bild seines ersten
Lehrers erblasst allmählich in seiner Erinnerung. Mit der äusser-
lichen Entfremdung geht die innere Hand in Hand. Polgen wir
den beiden PhUosophen auf ihren immer mehr auseinandergehen-
den Wegen, um sie dann bei ihrem ersten Zusammentreffen
einander gegenüberzustellen.
Als Jüngling kam Herder in das Auditorium Kants ; seine
junge empfängliche Seele fasste .mit Freude jedes neue Wort,
jeden neuen Gedanken auf, denn alles Neue zündete einen neuen
Funken in seiner erwachenden Seele ; wäre Kant nicht, so hätte
er vielleicht einen anderen „Apoll** besungen. Als j,ein werden-
der** war er immer dankbar. Und doch war er nicht für Alles
gleich empfanglich; in seiner zarten Seele waren schon klare,
scharfe Züge erkennbar: die Natur mit ihrem stillen, aber stetigen
Wirken war noch in der Kindheit der Lieblingsgegenstand seiner
Betrachtung ; in der lebenden Natur vergass er sich selbst. Der
Knabe, der das Wirken und Weben der Natur im Kleinen mit
Liebe betrachtete, 2) sollte später mit derselben Liebe ihr Wirken
auf dem ganzen Erdenrund, in der Geschichte der Völker, im
ganzen Universum verfolgen. Jetzt bewundert der Knabe die
') Seit 18 U ist uns auch ein Brief von Kant an Herder vom Jahre
1767 bekannt; Altpreussisehe Monatsschrift 1891, Heft 3, 4, S. 194.
») Siehe „Erinnerungen'', I., S. 11 f.
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kleine Blume, die sich so schön aus einer Knospe entfaltet; auf
dein Gipfel seines Denkens angelangt, wird er in der ganzen
Menschheit, in der ganzen Geschichte eine grosse Knospe be-
wundern, die sich zur höchsten Blüte entfalten soll, zur „Blüte
der Humanität '^. Das Gesetz dieses Wachsturas wird er später
„innere Kräfte" nennen; die ganze, alle diese Kräfte in sich zu-
sammenfassende Ordnimg wird ihm als Allnatur, Allgott er-
scheinen, dessen Wille sich in der Erziehung der Menschheit
äussert. All die schönen, erhabenen Gedanken Herders soUen sich
so an denselben Kernbegriff anreihen, der auch die Seele des Knaben
erfüllt : es ist der Gedanke des lebendigen Wirkens und Webens
der Natur, des allmählichen Wachstums und Verwelkens, des
Entstehens und Vergehens — der (ledanke des ewigen Werdens.
Wie ein roter Faden zieht sich dieser Gedanke durch die ganze
litterarische Thätigkeit Herders, er umspannt alle seine einzelnen
Ansichten und Begriffe, er bedingt seine ganze dynamische
Weltanschauung. Es scheint dieser Hauptbegriff Herders in
seinem eigenen energischen, lebhaften, leidenschaftlichen Naturell,
in seiner empfängUchen und leicht beweghchen Seele, in seinem
heftigen, immer thätigen Gemüt begründet zu sein: bei einem
Mann wie Herder, der so sehr mit seinem ganzen Wesen am
wirklichen Leben hängt, der so sehr vom Gemüt beherrscht wird,
kann das Denken wohl Gesetze vom Gemüt empfangen. Und gerade
bei Herder scheint diese Abhängigkeit vom Gemüt zugleich die
Bedingung des Denkens, wie die Klippe zu sein, an dem es scheitert:
denn nichts fehlt dem Herderschen Gedanken des Werdens und der
Entwickelung so sehr als die eigene Entwickelung. Wissbegierig
beobachtet Herder die Natur in ihrem Wirken und Weben, jede
Erscheinung verfolgt er bis zu ihrem Vergehen, um dann auch das
letztere in ein Entstehen übergehen zu sehen; aber sein Gemüt
befriedigt dieses ewige Konnnen und Gehen nicht: der Herbst mit
seiner verheerenden Wirkung auf die Natur erfüllt die Seele des
jungen Herder mit Wehmut, und schon als Knabe stellt er Vergleiche
zwischen den fallenden Blättern und sterbenden Menschen an:
„Ein Geschlecht von Blättern, das so wenig aufersteht als wir
Menschen, wenn wir abfallen ! Für mich hat kein Bild und kein
Bild und kein Gleichnis von Jugend auf mehr Eindruck gemacht
als diess !" ^) Das Gemüt sucht etwas Bleibendes, Unvergängliches —
^) Brief an seine Braut. Bückeburg, Okt. 1771; „Erinnerungen*, I, S. 12.
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es strebt nach einem fassbaren, erreichbaren Ideale. Warum?
fragt die immer weitersuchende Wissbegierde, und wieder —
Warum? sie rastet nie. Wozu? sagt das stille Gemüt — es
will Ruhe, es will Halt, haben. Und fängt der Mensch an, nach
den Zwecken in der Natur zu suchen, so ist es aus mit seinem
unvoreingenommenen Urteil über ihre Gesetze, ihre Ursachen.
So steht denn das Streben nach einem fassbaren Ideale bei
Herder nahe an der wahrheitsgetreuen Erforschung des Wirk-
lichen, und lässt die Erkenntnis nicht zur Wahrheit durchdringen.
Der strenge naturwissenschaftliche Begriff des Werdens, ver-
bunden mit dem ablebenden und morschen Substanzbegriff —
da haben wir die Keime und die Schranken der Herderschen
Entwickelungstheorie : bald mehr, bald weniger vom Gemüt ab-
hängig, bald in Mysticismus verfallend, bald sich scheinbar zur
völlig freien Forschung erhebend, bleibt Herder immer auf halbem
Wege stehen. Zwischen der dogmatischen Philosophie des vorigen
Jahrhunderts und der freien Forschung eines Darwin in einer
bedenklichen Mitte stehend, will er die beiden entgegengesetzten
Begriffe des Seins und des Werdens versöhnen und in eins ver-
schmelzen ; in Wahrheit aber bleiben sie bei ihm ebenso unvermittelt
und entgegengesetzt, wie es ihre Natur mit sich bringt, — nur
verweilt er bald bei dem einen, bald beim anderen und giebt
sich so nur äusserUch den Schein der Konsequenz.
Herders erstes vollendetes philosophisches Werk war die
Preisschrift „Ueber den Ursprung der Sprache" (1770). Offen
und frei tritt darin Herder gegen die orthodoxe Süssmilchische Hypo-
these des göttlichen Ursprungs der Sprache auf: „Schon als
Tier hat der Mensch Sprache" (V, S. 5) ; „die unmittelbaren Laute
der Empfindung haben nicht bloss keinen übermenschlichen,
sondern offenbar einen tierischen Ursprung — das Naturgesetz
einer empfindenden Maschine" (S. 17). Zwar will Herder anderer-
seits auch nicht diese unmittelbaren Laute der Empfindung mit
Condillae für den einzigen Ursprung der Sprache erklären; die
letztere ist für ihn vielmehr eben dasjenige Prärogativ des
Menschen, welches ihn vom Tier unterscheidet, und dieser Unter-
schied zwischen dem Tier und dem Menschen steht für Herder
fest : weder will er mit Condillae „die Tiere zu Menschen", noch
mit Rousseau „die Menschen zu Tieren" machen (S. 21). „Das
erste Merkmal der Besinnung (der menschlichen Vernunft-Reflexion)
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t
l war das Wort der Seele. Mit ihm ist die menschliche Sprache
erfunden" (S. 35). Aber wenn auch Herder dem französischen
Materialismus in seinen letzten Konsequenzen nicht folgen wollte,
so war schon der Bruch mit dem deutschen Dogmatismus für
die damalige Zeit und besonders für einen Theologen ein grosser
Schritt vorwärts. Aber kaum ist das Werk vollendet und im
Druck erschienen, so gerät Herder in Verzweiflung, er klagt, dass
„niemand von der Akademie sich über die fatale Schrift erbarmt
habe,"^) und „möchte sie jetzt weg haben;" 2) er fürchte, heisst
es in seinen Begriffen, „vielen Widerspruch, Fragen und Streit-
schriften".^) Eher fürchtete er schon sein eigenes Ich, welches
selbst vor den Konsequenzen seines Denkens erschrack. Und
als Herder vollends von der Unzufriedenheit seines Freundes
Hamann hörte,*) wurde sein innerer Zwiespalt noch stärkerund
seine Wahrheitsliebe musste diesmal vor dem beleidigten Gemüt
die Waffen strecken. Er sehe jetzt selbst ein, heisst es nun
wieder,^) „dass das ganze Ding nicht wahr ist, und wolle das
beweisen für den Thoren, der Beweis brauche", und schon im
nächsten Werke — „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts"
— widerruft Herder seine Worte : „nur durch -göttlichea Unter-
richt hat der Mensch den Gebrauch der Sprache und der Ver-
nunft gelernt" (S. 299). Dieses letztere Werk aber fallt schon in
eine neue Periode des Herderschen Denkens, ins Jahr 1775, mithin
in seine Bückeburger Zeit. Diö einsame Bückeburger Periode
mit ihrem stillen Leben, die Annäherung an die fromme Gräfin
Maria, der erneuerte Einfluss Hamanns und die gleichzeitige
Entfremdung von Nicolai — alles scheint in diesen Jahren zu-
sammenzuwirken, um Herders Gemüt ein völliges Uebergewicht
über den trockenen Verstand zu geben. Herder sucht sein Ideal^
er findet es in Gott, in seinem Gott, im Gott des Gemütes;
dieser Allgott umfasst ihm jetzt die Seele, das ganze menschliche
Leben, die ganze Natur mit ihren Gesetzen — es ist das Ewige,
') Brief an Nicolai, „Von und an Herder", I., 328.
^) Brief an Caroline. „Aus Herders Nachlass*, HL, 178.
^) Brief an Caroline, „Erinnerungen", I., 206.
*) Hamanns Rezension in der Königsberger Zeitung, 1772, von Hart-
knoeh Herdern zugeschickt.
*) Siehe Hayni, L, 499.
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das Unvergängliche, es ist die höchste Vernunft, i) Wohl ist es
keine blosse philosophische Abstraktion, sondern vielmehr ein
lebendiger, ein denkender und fühlender, ein gerechter Gott; es
ist die Verkörperung des Höchsten, was nur in der menschhchen
Seele sein kann, — aber eben darum ist es auch nur ein Ideal,
welches das Gemüt fordert und aus sich selber schafft, mit
dem freien, forschenden Denken kann und soll dieser Gott nichts
gemein haben. Dieser Seelengott offenbart sich Herder ebenso in
der Geschichte der Menschheit („Auch eine Philosophie der Ge-
schichte^S 1774), wie auch in der ältesten Urkunde — der heiligen
Schrift („Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts", 1774).
Und je mehr sich Herder in die Betrachtung dieses Seelengottes
vertieft, desto befriedigter wird sein Gemüt, aber sein Wissens-
drang bleibt ungestillt. Eine Reaktion gegen diese mystische
Stimmung musste mit innerer Notwendigkeit Platz greifen;
Herders Streben zur Wahrheit musste diesmal die Schranken
des Gemütes durchbrechen. Ein Zeichen dieses neuen Um-
schwungs könnte man schon in den „Ursachen des gesunkenen
Geschmacks" erblicken, in welchen Herder, sich von dem ab-
soluten Ideal abwendend, auf den individuellen, zeitlich bedingten
Geschmack mit seinen natürlichen Ursachen hinweist. -) In noch
freieren Bahnen bewegt sich das Herdersche Denken in der
Preisschrift „Erkennen und Empfinden"; hier gelangt sein dy-
namiscfier Standpunkt zum ersten Mal zum philosophischen Aus-
druck. Vom Sinnesreiz bis zum abstrakten Denken, •^) von den
dunkeln Empfindungen bis zu klaren deutlichen Ideen,*) von der
Physiologie bis zur Psychologie und Erkenntnislehre •'') verfolgt
Herder das Werden seiner wirkenden, lebendigen Kräfte. Beim
Menschen bleibt Herder stehen ; der Mensch zeigt ihm die Brücke
vom Individuellen zum Ideal, und so steht seine Humanitätslehre
in der Mitte zwischen seiner Theologie und seiner Naturwissen-
schaft. Der Mensch in seinem Thun und Leiden, in seiner Ent-
wickelung zur Humanität ist der Anker, an welchem das Denken
^) „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts", S. 311 : „Auch eine
Philosophie", S. 484, 558, 565, 680 ff.
') SWS., Bd. V., S. 59y, tl.-3, 645, 048 ff.
«■•) SWS., Bd. VIII, S. 190.
*) Dasselbe, S. 179.
*) Dasselbe, S. 180.
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Herders sich zu befestigen sucht: raenschUche Theologie, mensch-
hche Kunst, menschhche Geschichte, ja sogar menschliche
Philosophie — das sind die Hauptfragen, mit welchen sich Herder
beschäftigt und welche in seinem geschichts- philosophischen
Werk „Ideen" ihre Lösung finden.
3. Kants Entvrickelung zum Kriticismus.
Das letztgenannte Werk Herders — „Die Ideen*^' — rief
den grossen geschichtsphilosophischen Streit unserer beiden Phi-
losophen hervor, und so treffen ihre bis jetzt getrennten Wege
wieder zusammen. Inzwischen ist aber auch Kant ein anderer
geworden, der entscheidende Umschwung zur kritischen Periode
war in ihm bereits vollzogen. Das grosse kritische System ent-
stand auf den Trümmern der beiden vorangegangenen Richtungen,
der rationalistischen und der empirischen; im Grunde haben
sich beide am Schluss bankerott erklärt: der Rationalismus
musste selbst im Leibniz- Wolfischen Dogmatismus Concessionen
machen und dem Empirismus blieb nichts übrig, als im Hume-
schen Skepticismus auf jede notwendige und allgemeine Erkenntnis
zu verzichten. Beide Stadien der Entwickelung der Philosophie
hatte Kant bereits durchgemacht, als er beim Hume'schen Skep-
ticismus anlangte. Hat aber Hume eine Kluft zwischen Erfahrung
und Vernunft, Wirklichkeit und Ideal gerissen, so war es die
That Kants, diese Kluft zu überbrücken; dass sie über-
brückt sein sollj sagte Kant sein moralisches Gefühl, welches
für ihn etwas Feststehendes, Primäres war; dass sie es sein
kann und wirklich ist^ zeigte ihm die Mathematik mit ihren
allgemein gültigen Formeln und die Naturwissenschaft mit ihren
festen Gesetzen.
So löste Kant den bisherigen Widerspruch des Denkens
und djBS Empfindens, indem er behauptete, in jeder unserer
Erkenntnis seien die beiden Elemente gleich vertreten — das
empfangende und das denkende Vermögen wirken immer zugleich.
So strebt das Kantische System, welches scheinbar eine Kluft
zwischen Subjekt und Objekt bedeutet, im Grunde nur danach,
eine Kluft zwischen dem Denken und Empfangen aufzuheben
und eine höhere, transcendentale Einheit herzustellen. Wenn
Kant dabei auf eine völlige Erkenntnis dieser Einheit und ihres
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Wesens verzichtet, so ist doch dieses, wenn auch nicht ganz
fassbare Ideal seiner Theorie zugleich das Ideal der Wissenschaft
schlechthin — nämlich diejenige Monade zu finden, welche der
Materie, dem Geiste, wie den Vorstellungen von beiden zu Grunde
läge. Wollten die beiden vorkritischen Richtungen der Philosophie
das Welträtsel auf einmal, sei es durch den Begriff des Denkens,
sei es durch den der Ausdehnung lösen, wollten sie den Schlüssel
zu den Vorgängen der geistigen und der materiellen Welt zugleich
fassen, so ging Kant über die beiden entgegengesetzten Hypo-
thesen der bisherigen Philosophie hinaus, um die MögUchkeit
ihrer Versöhnung in einer transcendentaleh^ unfassbaren Ein-
heit zu finden: er verzichtete zwar auf das vollständige Er-
reichen seines Ideals, steckte es aber dafür auch höher, als es
die vorkritischen Denker gethan hatten. So erscheint uns sein
ganzes System als ein Streben nach der höchsten, wenn auch
nur in der Idee erreichbaren Einheit; während eine jede der
vorkritischen Richtungen uns eine verwirklichte, dafür aber
beschränkte Einheit, ein realisierbares, aber zu diesem Behuf auch
herabgesetztes Ideal zeigt. In demselben Verhältnis wie zur
ganzen vorkritischen Philosophie steht Kant auch zu ihrem viel-
seitigsten Vertreter — Herder ; daher auch das besondere Interesse,
welches ihre Polemik für uns hat.
Wir sahen schon, wie beide Elemente, beide Richtungen
des vorkritischen Denkens, von deren Widerspruch Kant ausging
und mit deren endgültiger Scheidung und Begrenzimg er be-
gann, wie sie beide in Herders Philosophie, ja sogar in seiner
ganzen Persönlichkeit eng verbunden waren ; wir sahen, wie ihn
sein Denken zum Empirismus, zur forschenden Erfahrungswissen-
schaft führt, während sein Gemüt sich im rationalistischen
Idealismus Luft macht. Seine ganze Philosophie war daher
nichts als ein Versuch, die beiden entgegengesetzten Richtungen
zu vers{)hnen. Hat Kant, sich in freier, unerschrockener Ge-
dankenforschung über beide Parteien erhebend, ihren Streit
unparteisch geschlichtet, so empfand Herder diesen Streit in
seiner eigenen Persönlichkeit zu tief, um ein unparteischer Richter
sein zu können. Kant und Herder nahmen beide ihren Weg
durch die breite Heerstrasse des seichten, durch den gesunden
Menschenverstand gemilderten Dogmatismus ; Herder wagt nicht
diese Strasse zu verlassen, er scheut den steilen Weg des ex-
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tremen Empirismus in der Form des Hume's^chen Skepticismus ;
Kants unerschrockener Gedanke aber bebt vor keiner noch so
gewagten Consequenz zurück. Wie ein geschickter Arzt oft ein
starkes Mittel braucht, um nur die Krankheit zu erkennen und
sie dann desto leichter heilen zu können, so folgt auch Kant
gern der Philosophie in ihren abschreckendsten Consequenzen,
in ihren ausgeprägtesten Einseitigkeiten, um an diesen ihre
Wundstellen leichter herauszufinden; eben darum, weil Kant in
allen diesen extremen Richtungen nicht aufgeht, sondern sie
nur prüfend verfolgt, vermag er die Philosophie zugleich
von ihren beiden Enden anzufassen, den Idealismus Rousseaus
und den Skepticismus Humes zu gleicher Zeit zu würdigen.
Nicht so mutig und unerschrocken ist Herder: je tiefer die
Krankheit der vorkritischen Philosophie in seiner eigenen Per-
sönlichkeit steckt, je enger sie mit seinem befangenen Gemüt
verbunden ist, desto nachsichtiger zeigt er sich gegen diese
Krankheit, desto zaghafter und milder ist er in seinen Mitteln.
In seinem Streben nach einer fassbaren Einheit der Welt
und der Erkenntnis, der Wirklichkeit und des Ideals, stimmt
Herder mit der ganzen vorkritischen Philosophie überein, aber
dieses Streben macht sich bei ihm um so leidenschaftlicher
geltend^ als jene beiden entgegengesetzten Elemente in den zwei
verschiedenen Seiten des Herderschen Naturells ihre Verkörpe-
rung fanden. Nicht nur als vorkritischer Philosoph steht daher
Herder im Widerspruch zu Kant, sondern auch als ein Mensch,
welcher in seinem eigenen Charakter die Keime zu demjenigen
Zwiespalt birgt, welchen Kant aus der Philosophie zu schaffen
gesucht hat. Und so ist denn der Satz, den wir früher auf
die gesamte vorkritische Philosophie angewandt haben, in Bezug
auf Herder doppelt wahr : er verhält sich zu Kant wie die fass-
bare, aber unvollkommene zu der, als blosse Idee hingestellten,
aber vollkommeneren und höheren Einheit, wie die sich mit
wenigem begnügende Wirklichkeit zum ewigen Streben nach
dem Ideal, wie die bedingte Erfahrung zur ewig strebenden, nie
rastenden Wissenschaft. Solange Kant, als Herders Lehrer, noch
selbst in der Zeitphilosophie befangen war, solange er mit der
ganzen Leibniz- Wolfischen Schule nach einer Vermittelung der
philosophischen Gegensätze strebte, ging ihm Herder willig nach;
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als er aber zum erstenmal den Vermittelungspunkt überschritt,
Hess er Herder hinter sich zurück : mit den „Träumen" war das
Verständnis Kants für Herder verschlossen. Lassen wir auch
die Streitfrage nach dem Standpunkt Kants in dieser Schrift
bei Seite, so bleibt doch eins sicher : mit der vorkritischen Philo-
sophie steht Kant nicht mehr auf gleichem Wege, und mit der
seichten Versöhnung der beiden vorkritischen Methoden, deren
jede eine vollständige Erkenntnis der Welt für sich beanspruchte,
hat er nichts mehr zu thnn. „Die Gemeinschaft zwischen einem
Geist und einem Körper ist unbegreiflich' (S. 25), sagt Kant;
damit aber ist der empiristischen Erklärung der ganzen Welt
aus der Erfahrung, wie auch der rationalistischen Unterordnung
der Welt unter die Gesetze des Geistes jeder Weg abgeschnitten
— der entscheidende Schritt der endgültigen Scheidung der
beiden Erkenntnisquellen, der Sinnlichkeit und des Verstandes,
ist gethan. Weder genügt die naturwissenschaftliche Beweis-
führung a posteriori dem Verstände, noch entspricht die meta-
physische Beweisführung a priori immer der Erfahrung (S. 93
bis 97), — wieder die entsc^heidende Trennung der beiden Me-
thoden, die Sonderung des rationalistischen und des empirischen
Elements. Mit diesem einen entscheidenden Schritt bricht Kant
die Brücke zwischen ihm und der vorkritischen Philosophie ab.
Während Herder mit der ganzen vorkritischen Philosophie nach
dem letzten Wort des menschlichen Wissens frug, genügte es
Kant, der Forschung ein Ideal aufzustellen, eine Richtung zu
zeigen, ohne ihr von vorne herein ein Ziel, eine Grenze zu
stecken.
4. Der durch die „Ideen" veranlasste Streit.
Die kritische Erstlingsschrift Kants, „Die Kritik der reinen
Vernunft", erschien schon 1781, drei Jahre früher als die
„Ideen"; seit Anfang 1782 besass Herder die „Kritik"; aber nach
Hayras Ansicht hat er sie erst aus Hamanns „Metakritik über
den Purismum der reinen Vernunft" kennen gelernt.^) Mag nun
diese Behauptung zutreffend sein oder nicht, für uns bleibt dies
*) li, S. 244; die Thatsache, dass Herder Hamann zu dieser seiner
Metakritik aufgemuntert hat, seheint mir auf seine genauere Kenntnis
des Kantiachen Werkes hinzuweisen.
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gleichgültig, denn verstanden hatte Herder die ^Kritik** gewiss
nicht; wenn man den „Erinnerungen" glauben darf, soll Herder
die „Kritik*^ schon 1783 „ungeniessbar und seiner Vorstellungsart
zuwider" gefunden haben. ^) Dass aber Herders Weltanschauung
von der „Kritik*^ gar nicht beeinflusst wurde, zeigt am besten
der erste Teil der „Ideen". Zu den beiden Korypheen der neueren
Philosophie, Spinoza und Leibniz, nimmt hier Herder eine aus-
gesprochene Stehurig ein, er lernt von den Systemen beider, aber
den Begründer der neuesten Philosophie lässt er ohne jegliche
Berücksichtigung; er citiert zwar lobend seine „Theorie des
Himmels" (S. 14), aber was das eigentliche kritische System
Kants betrifft, so laufen ihm alle Voraussetzungen des Buches
schnurstracks entgegen: überall wo Kant eine unüberbrückbare
Kluft sieht, wo er seinen DuaUsmus aufstellt, findet Herder eine
grosse, allumfassende Einheit, unter welche der Geist ebensowohl
wie die Materie, die Vernunft wie die Sinnlichkeit, die Freiheit
wie die Causalität passen, eine grosse Einheit, die nur allmählige
Abstufungen, aber keinen jähen Sprung kennt (V. Buch, S. 167).
Ein personificierter Pantheismus, ein mit geistigen Elemenen
durchsetzter Materialismus — das war die Philosophie des eben
erschienenen Buches. Wie gross der Abstand zwischen ihr und
der Philosophie der reinen Vernunft ist, fällt schon beim ersten
BHck in die Augen; beide Systeme hatten keinen Platz neben
einander. Und wenn Herder das System seines Lehrers gar nicht
berücksichtigte, so war es anders mit dem letzteren. Dieser war
einer der ersten, welchen Hamann den Anfangsband der „Ideen"
zugeschickt hat ; ^) er musste sich von dem neuen Werk, als von
einem Versuch der Geschichtsphilosophie, die Lösung einer der
wichtigsten Fragen seines eigenen Systems versprechen, der
Frage nämlich über das Verhältnis der Willensfreiheit zu der
Causalität der empirischen Welt. Aber nicht einmal die Wich-
tigkeit der Frage, deren Lösung Kant suchte, wurde von Herder
anerkannt; nicht nur machte dieser keinen ernsten Versuch, den
Widerspruch der Willensfreiheit und der mechanischen Causalität
aufzuheben, — er sah diesen Widerspruch gar nicht ein, er
betrachtete die Freiheit als ein Gesetz der causal bedingten
') „Eriunorungen*', IJ, S. 221.
») Haym, II, S. 245.
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Natur. Hat nun die Herder'sche Lösung der geschichtsphiloso-
phischen Frage Kant nicht befriedigen können, so war es ganz
natürlich, wenn nun Kant sich fragte, ob nicht f<ein System eine
bessere Lösung dieser Frage geben könnte. Und als ob Kant
sich selbst darüber Rechenschaft geben, als ob er die Anwend-
barkeit seines Systems auf verschiedene Gebiete der Wissenschaft
prüfen wollte, Hess er noch im November desselben Jahres in
der Berliner Monatschrift seine ^Tdee einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht" erscheinen.
Auf diesen Aufsatz und auf die Aeusserung Hartknochs, —
Kant schreibe den Misserfolg seiner „Kritik" Herdern zu, — sich
berufend, wirft Pfleiderer Kant vor, es sei ungerecht von ihm
gewesen, mit diesem Aufsatz die „Ideen" bekämpfen zu wollen,
ohne ihren Schluss abzuwarten. Dieser Vorwurf scheint mir
nicht ganz begründet zu sein, , denn einerseits verdienen die
„Erinnerungen", welche die Aeusserung Hartknochs bringen
(II, S. 221), wie wir schon gesehen haben, kein unbedingtes
Vertrauen; was andererseits den obigen Aufsatz betrifft, so
konnten die „Ideen" höchstens der letzte äussere Anlass zur
Abfassung desselben sein, da doch sein Hauptgedanke noch vor
den „Ideen" entstanden war: in der Vorbemerkung weist Kant
auf eine Notiz in der Gothaischen Gelehrtenzeitung vom 11. Fe-
bruar 1784 hin, als auf den Anlass zu seinem Aufsatz: „Eine
Lieblingsidee des Herrn Professor Kant ist, dass der Endzweck
des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten
Staatsverfassung sei . . . ."; so stand der Grundgedanke der
Abhandlung Kants im Februar 1784 bereits fest, während er die
„Ideen" erst im Sommer dieses Jahres las.
Als ob Kant sich gegen die indirecte Bekämpfung seines
Systems im ersten Teil der Ideen verteidigen wollte, geht er in
seiner Abhandlung von derselben Grundanschauung aus, welcher
dort am meisten widersprochen wird, — von dem Conflict beider
Wesen im Menschen, des tierischen, aus der Natur entspringenden,
und des vernünftigen, der intelligiblen Freiheit entsprechenden;
gemäss dem ersten ist der Mensch ein egoistisches Tier, das
einer Zügelung seiner Triebe bedarf und im steten Antagonismus
mit Seinesgleichen begriffen ist; als ein Vernunftwesen aber
kann der Mensch einen Ausweg aus diesem Conflict finden,
indem er, die Besserung, die Erziehung und die Vervollkommnung
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der die Vernunft und die Freiheit allein vertretenden Gattung
anstrebt und so, den Conflict selbst zur Ursache einer gesetz-
mässigen Ordnung machend, zum ewigen Frieden, zu einem
Weltbürgertum gelangt. Durfte auch diese indirecte Polemik
Kants von Herder nicht übelgenommen werden, so hatte der
letztere in einer andern Schrift Kants, der „Recension der Ideen", ^)
Grund genug, um mit seinem ehemaligen Lehrer unzufrieden zu
sein; wenn nämhch die Einwände, welche Kant gegen Herders
Geschichtsphilosophie erhebt, auch richtig sind, so können sie
alle nur von einem Standpunkt gemacht werden, den Herder
nicht verstehen konnte. Es ist, wie Metzler '^) sich ausdrückt,
der Pantheismus Herders, der die Substantialität des menschlichen
Geistes ausschliesst, — was bei Kant am meisten Ansioss erregen
musste und von ihm bekämpft wurde. Lassen wir Kant selbst
reden, so ist der wichtigste Angriffspunkt der „Ideen" — „die
Idee und Endabsicht des Buches**, welche Kant folgendermassen
ausdrückt : „es soll, mit Vermeidung aller metaphysischen Unter-
suchungen, die geistige Natur der menschlichen Seele, ihre
Beharrlichkeit und Fortschritte in der Vollkommenheit aus der
Analogie mit den Naturbildungen der Materie, vornehmlich in
ihrer Organisation bewiesen werden." Die Herder'sche Hypothese
der unsichtbaren Kräfte, welche eigentlich seinem ganzen System
zu Grunde liegt, nennt Kant einen „Kunstgriff, welcher das,
was wir nicht verstehen, durch etwas anderes erklären soll, was
wir noch weniger verstehen." Die ganze Theorie der organischen
Kräfte ist für Kant „eine Metaphysik, ja sogar sehr dogmatische,
so sehr sie auch Herder, weil es die Mode so will, von sich
ablehnt." Von seinem späteren kritischen Standpunkt aus nannte
Kant die ganze frühere Philosophie dogmatisch, aber er vergass
dabei, dass das von ihm zur dogmatischen Metaphysik gestempelte
System nichts anderes war, als eine weitere Entwickelung der-
selben Ideen, welche er selbst vor 20 Jahren dem Verfasser
eingeprägt hatte. Nichts würde vielleicht Herder so beleidigt
haben, wie dieser Vorwurf eines metaphysischen Dogmatismus ;
am wenigsten erwartete er diesen Vorwurf von Kant, dessen
System er selbst mit Hamann für „pure Metaphysik" hielt. Dazu
') Januarheft der Jenaer Zeitung, 1785.
") „Herders Gesehichtsphilosophie".
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kam noch der ironische, vernichtende Ton der Recension; das
ganze geschichtsphilosophische System Herders wird als blosses
Werk der Einbildungskraft, des lebhaften Genies des Verfassers
betrachtet, und als sein höchstes Verdienst wird der Mut gepriesen,
mit welchem er die Bedenklichkeiten seines Standes überwunden
hatte.
Dass Herder durch diese Recension gegen ihren Verfasser
verstimmt und erbittert wurde, ist ja ganz begreiflich: um das
Sachliche und Wahre der Recension einzusehen, müsste er aus
einem dogmatischen zum kritischen Philosophen werden — ein
Sprung, den zu machen er nicht im Stande war, und so erschien
ihm diese Recension als blosse Ungerechtigkeit und böswilliger
Angriff, i)
Einen fast noch schlechteren Eindruck, als die Recension,
scheint der geschichtsphilosophische Aufsatz Kants auf Herder
gemacht zu haben : der Vernunftkritiker sagte dem Naturforscher,
der Rigorist Kant — dem Gründer der Humanitätslehre wenig
zu. „Ich w^oUte,'* schreibt er darüber an Jakobi,'-) „dass dich der
Himmel begeisterte, über den selig-metaphysischen Sklavensinn
ein Blatt zu schreiben, . . . Wenn das, was in der Recension
\md dem Aufsatz steht, nicht Schwärmerei ist, aber bündelnde,
eiskalte Knechtsschwärmerei, so weiss ich kein Wort mehr."
Im zweiten Teil der Ideen •*) nimmt Herder den Menschen, als
Naturwesen, in Schutz, und bekämpft den Kantischen Satz, dass
der Mensch ein Tier sei, welches einen Herrn nötig habe
(S. 383) ; er hebt die Bedeutung des Individuums im Gegensatz
zur Kantischen Gattung hervor (S. 345) und will einerseits
als Bestimmung des Menschen die Glückseligkeit (S. 338, 350),
andererseits die Glückseligkeit als individuelles Gut betrachtet
wissen (S. 333, 341). Herder bekämpft ferner Kants Meinung,
dass das einzige Mittel des Portschritts der Staat sei (S. 340) ;
er weist auf den Einfluss der unvollkommenen menschlichen
Sprache auf den Verstand hin, welcher deswegen weder der
„reinen Anschauung", noch der „blossen Spekulation'^ — dieser
„Undinge der metaphysischen Schwärmerei" — fähig sei (S. 360);
') Ueber die Stimmung Herders und seines Kreises und die Anti-
recension von Reinhold — siehe Haym IL, S. 248—251.
') 25. Februar 1785 - „Aus Herders Nachlass«, H., S. 2G0.
■') Erschienen August 1785.
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— 26 —
endlich polemisiert er gegen den Selbstwahn, seine Vernunft
für frei von Erfahrung und von Tradition zu halten (S. 343),
und gegen den Metaphysiker, welcher die Philosophie der Ge-
schichte konstruiert, indem er „einen Begriff der Seele festsetzt
und aus ihm entwickelt, was sich entwickeln lässt, w^o und in
welchen Zuständen es sich auch finde" (S. 290).
Wenn auch alle diese Ausfälle gegen Kant Herder selbst
unbewusst gebheben sein sollten, wie Haym dies vermutet, i)
so waren sie doch für Kant ein Grund mehr, den 2. Teil der
„Ideen" zu recensieren. Eine Verständigung auf dem speciell
geschichtsphilosophischen Boden war jetzt zwischen Kant und
Herder ebenso wenig möglich, wie früher auf dem rein philo-
sophischen ; von ganz entgegengesetzten Gnmdanschauungen
ausgehend, giengen sie auch in den Konsequenzen ihrer Systeme
immer mehr auseinander: dem abstracten Denker war die
Menschheit, dem Naturforscher der Mensch das Massgebende;
der Vernunftkritiker richtete sich nach der Gattung, der Phi-
losoph des personificierten Pantheismus nach dem Individuum;
für Kant lag das Kriterium der Beurteilung eines Volkes oder
einer Zeit in der Wirkung, die sie ausübte, für Herder in ihrem
eigenen Zustand; der erstere sah den Zweck des Menschen in
der Thätigkeit, der letztere in der Glücksehgkeit. Die Kluft
zwischen beiden vertiefte sich immer mehr, und beim besten
Willen konnten sie kein Verständnis für einander haben.
Wieder verteidigt Kant in seiner Recension ^) seine von
Herder angefochtenen geschichtsphilosophischen Ansichten : nicht
die Glückseligkeit, sondern die Thätigkeit ist die Bestimmung
des Menschen, nicht das Individuum, sondern die Gattung ist
das Kriterium des Fortschritts. Es ist wieder nur der Ton der
Recension — noch ironischer und vernichtender, als in der ersten
— den wir auf die Rechnung der persönlichen Verstimmung
stellen dürfen: Die Vorwürfe selbst sind so natürlich, dass man
sie, ohne die Recension gelesen zu haben, erraten könnte. Ich
glaube nicht, dass, wie Haym annimmt, bei ruhiger Behandlung
') IL, 253. — „Herder hatte seine Empfindliclikeit nicht zügeln
können, und hätte doch nun so gern mit Kant Frieden gehabt* ; Haym
stützt sich dabei auf die Stelle in Herders Brief an Jakobi: ^Eigentlich
habe ich keine Zeile gogen Kant geschrieben" — 16. September 1785.
-) Jenaer Zeitung, Januar 1785.
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der Frage und ohne hinzugekommene Erbitterung, eine Einigung
der beiden Philosophen auf dem geschichtsphilosophischen Felde
möglich gewesen wäre: dazu scheinen mir ihre Qrundansichten
zu verschieden und zu sehr in ihren Persönlichkeiten selbst be-
gründet zu sein. Am schwersten wäre es wahrscheinlich für
Herder gewesen, seinem Gegner gerecht zu werden, denn dazu
hätte er seinen dogmatischen Standpunkt ganz verleugnen
müssen, was für ihn unmöglich gewesen wäre; eher könnte schon
Kant Herders Ansichten, wenn nicht billigen, so doch begreifen,
denn dazu brauchte er sich nur seinen eigenen vorkritischen
Standpunkt zu vergegenwärtigen.
Wenn auch Herder noch immer gegen Kant verstimmt
bleibt, 1) so wiederholt er seine Angriffe doch nicht mehr und
die geschichtsphilosophische Polemik wird von Herder auf-
gegeben.^) Eine Fortführung der Polemik seitens Kant sieht
Haym in seinem Aufsatz „Mutmasslicher Anfang der Menschen-
geschichte" (1786), welcher sich gegen das X. Buch der „Ideen"
wendet. Aber auch seitens Herder war jetzt ein inneres Ein-
verständnis mit Kant unmöglich: zu tief fühlte er jetzt den
Abstand, der nun zwischen ihm und seinem ehemaligen Lehrer
lag. In seinem bald darauf (1787) erschienenen „Gott*^ kommt
dieser Widerspruch zum Ausdruck: bald spricht Herder gegen
„die menschliche Erkenntnis ohne und vor aller Erfahrung*^,
gegen „die sinnliche Anschauung ohne und vor aller sinnlicher
Empfindung eines Gegenstandes'^ g^g^ii die eingepflanzten For-
men der Denkkraft, die ihr von niemanden eingepflanzt wurden"
(S. 513), bald gegen die „Hyperkritik, welche ohne Existenz sein
und ohne Erfahrung wissen will" (S. 521), bald endlich gegen
die Undemonstrierbarkeit Gottes (S. 419, 516, 588); ebenfalls im
Widerspruch zum Kritizismus behauptet er, dass das wahre
Dasein mehr sei, als blosse „Erscheinungen im Raum und in der
Zeit" (S. 540). Aber im ganzen Werke in seiner ersten Ausgabe
ist der Name Kants nicht einmal genannt, und der ernste würdige
Ton dieser Aeusserungen scheint mir ein Beweis zu sein, dass
sie weniger boshafte Ausfälle gegen Kant selbst, als der Versuch
') Haym, II, S. 258.
*) Ausser den von Haym angeführten versteckten Angriffen im
III. Teil der Ideen.
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einer ernsten Widerlegung seines Systems sind, welches Herder
zu wichtig erschien, um von ihm ganz abzusehen.
In der zweiten Ausgabe vom Jahre 1800 sind manche
Stellen *) hinzugekommen, welche sich direct gegen Kant richten
und in einem ziemlich gehässigen Ton geschrieben sind; vor-
läufig aber sprach Herder nicht gegen Kant, sondern nur gegen
seine Lehre; er scheint sogar, wie wir gleich sehen werden,
auf dem Wege zu sein, sieh mit seinem Gegner auszusöhnen.
5. . Nochmalige Annäherung. Herders an Kant.
Man kennt die Begeisterung, welche die französische Re-
volution in Kant hervorgerufen hat; ähnlich verhielt sich zu
ihr auch Herder. Im ersten ungedruckten Entwürfe zu den
^Humanitätsbriefen" giebt er dieser seiner Begeisterung einen
klaren Ausdruck: er preist den Geist seiner Zeit und kommt
bald darauf auf Kant zu reden. -) ,, Durch Kant,'^ sagt er, „ist
ein neuer Reiz in die Gemüter gekommen, nicht nur das Alte
2u sichten, sondern auch, wohin insonderheit der Zweck der
Philosophie geht, die eigenthch menschlichen Wissenschaften —
Moral, Natur und Völkerrecht nach strengen BegriflFen zu ordnen.
Sehr heilsam sind die Versuche ; sie werden in Thathandlungen
greifen, und einst, so Gott will, selbst zu angenommenen Maximen
werden." In so hellem Licht erscheint Herder sein früherer
Gegner, da er ihn in Zusammenhang mit den ihm sympatischen
Zeiterscheinungen bringen kann; jetzt wie früher beurteilt er
ihn nur nach den einzelneu Wirkungen und Resultaten seines
Systems : die geschichts-philosophischen empörten Herder, die
socialen stimmten mit seinen eigenen Ansichten überein, sie
versöhnten ihn wieder mit Kant. Aber man denke nur nicht,
dass Herder jetzt seine frühere Meinung verleugnete, dass er mit
den Konsequenzen des Systems auch das System selbst annahm
und billigte; auch jetzt kann er das Geschichts-philosophische
nicht ganz umgehen ; mit einem versteckten Hinweis auf Kants
geschichts-philosophischen Aufsatz (Brief 1 10), nimmt er die alte
Frage nach dem Krieg und Frieden wieder auf. Hat Kant im
') Vorrede, S. 400: I., S. 419, Note 2; IV., S. 519, Note 1 : V., S. 538,
Note 6.
-) Bd. XVIII, S. 327.
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Krieg die Wirkung einer Naturgewalt gesehen, welche nur durch
eine andere ebenfalls unserem Erhaltungstrieb entsprungene
Naturgewalt im Schach gehalten werden kann; fand er daher
das einzige Mittel dieses Hebel aufzuheben in einer besseren
Staatsverfassung, so will Herder in dem Krieg bloss eine grosse
Verirrung der Menschheit sehen, welcher durch allgemein ver-
breitete ,,BiUigkeit und Gerechtigkeit", durch Aufklärung des
einzelnen, wohl abzuhelfen sei (Bd. XVIII, S. 267). Dicht neben
dem Lob, welches Herder Kant spendet, spricht er gegen die
„arme neue Philosophie, die über reine Vernunftbegriffe ausser
aller Erfahrung, über Anschauungen vor aller Empfindung
spinnt", gegen „extramundane Freiheit", gegen den wieder auf-
tretenden Scholasticismus, gegen die „transcendentale Barbarei"
(S. 323), — mit einem Worte wir finden schon hier alle Angriffe
der Metakritik, nur in milderer gemässigter Form. Nicht das
System und seine Formen, sondern nur manche seiner heilsamen
praktischen Wirkungen und Kants eigenen forschenden Geist
preist Herder: „Kants Werke werden bleiben, ihr Geist, wenn
auch in andere Formen gegossen, wenn auch mit anderen Worten
umkleidet, wird wesentlich weiter wirken und leben." ^) Nicht
aus Diplomatie, sondern aus innerer Ueberzeugung , nicht um
der Bewunderung einen Dämpfer aufzulegen,-) sondern im Gegen-
teil um sie in ihrer Reinheit zu bewahren, wälzt er die Schuld
an den böwsen Wirkungen des Kriticismus von seinem Begründer
auf die Schüler und spricht gegen den intoleranten Despotisnms
und gegen die schädlichen Ueberschätzungen und Missverständ-
nisse der Kantischen Lehre (S. 325). Wenn Herder ferner die
Kritik der Urteilskraft ein „ideenreiches Werk" nennt, so ist
auch das weder Schmeichelei, noch Verleugnung seiner inneren
Meinung, denn er will ja nur „im einzebien dabei lernen, ehe
er untersucht, ob systematisch betrachtet auch alles haltbar
sein möchte, oder sich manches nicht auch anders sagen Hesse".
Dass die ganze Stelle vom Herzen diktiert ist, dass in diesem
Augenblick Herder die Sache Kants wirklich mit der ange-
fochtenen Philosophie nicht verwechselt hat, beweist am besten
die schon früher angeführte Stelle, in welcher Herder sich der
Bd. XVIII, S. 327.
') Haym, IL, S. 651.
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Erinnerung an seine Jugendzeit und an den Unterricht seines
Liebiingslehrers hingiebt (Bd. XVII, S. 404, oder Bd. XVIII, S. 324);
über solche Gegenstände und mit solchem Gefühl spricht keine
Diplomatie und am wenigsten bei einem Gefühlsmenschen, wie
Herder einer war. Wenn überhaupt eine Einigung der beiden
Philosophen jemals möglich gewesen wäre, so war es jezt; wie
Herder es mit allen Philosophen gethan hat, so versucht er jetzt
sich auch Kant anzunähern; aber wie immer, vermag er auch
jetzt nicht seine eigene Weltanschauung zu verleugnen und
kann sich Kant nur dadurch annähern, dass er sein System den
eigenen Ansichten gemäss auslegt und interpretiert. Der Geist
der früheren Schriften Kants, heisst es, bürge dafür, dass seine
Philosophie nicht von der Erfahrung abziehe, sondern im Gegen-
teil auf sie hinweise; falsch sei die Meinung, dass man sich in
Kants Schriften hineinlesen solle, falsch sei es, von der Schwierig-
keit des Verständnisses des in Wahrheit „hellen, lichten, sogar
oft wortreichen" Kant zu reden (Bd. XVIII, S. 325). „Nachdem
durch Kant,** heisst es weiter, „der Schutt des angemassten
Wissens vom Herzen geräumt ward, konnte dasselbe für das
sittHch gute freischlagen; durch den inneren Sinn erfahren wir
die Forderung recht zu ffitin^, in uns erkennen wir die Freiheit
nach dieser Forderung zu handeln; wir können denken — und
schliessen, dass wir moralischen Ursprungs sind; unsere Bestimmung
ist selbstverdiente GlückseUgkeit' \ — so verändert Herder die
Kantischen moralischen Postulate in einen theoretischen Beweis
und seine intelligible in eine empirische Freiheit, ebenso wie
seinen kategorischen Imperativ in eine Glückseligkeitslehre.
Wenn Herder ferner den Hauptinhalt der Kantischen Lehre
folgendermassen zusammenfasst : Vorbilder unserer Denkkraft
in und ausser sich, Zusammenhang der inneren und äusseren
Welt, Verhältnis der Vernunft und der Sprache, — so interpretiert
er in den Kantischen Transcendentalismus sein eigenes empirisches
System des ^Einen in Vielen" hinein (Bd. XVIII, S. 327). Wenn
endlich Herder die absolute Originalität dem Kantischen System
abspricht, so ist es wieder ein Zeichen dafür, das ihm das wahre
Verständnis dieses Systems verschlossen war. Man wundert sich
über die Verbindung der Systeme Spinozas und Leibnizens in
„Gott*^ ; ist aber diese Verschmelzung der Lehren Kants und
Herders in den „Humanitätsbriefen"* nicht noch wunderbarer?
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Den Grund, warum Herder jetzt Kant besser als je geniessen
kann, spricht er selbst aus: „Kants Kritik der praktischen Ver-
nunft und die darauf gebaute Moralphilosophie legt den Grund
zu einem Natur- und Völker?^echt !^ (Bd. XVIII, S. 329).
In manchen Stelion der später im Druck erschienenen
^Humanitätsbriefe'S so z. B. im Brief 33 (Bd. XVII, S. 158), finden
wir eine directe Anlehnung an Kant: „Schaftesbury," heisst es
hier, „hat, um seine Moral liebenswürdig zu machen, mit der
menschlichen Natur zu sehr getändelt. Hier muss man zum
alten Wort Gottes zurückgehen: „Du sollst, du sollst nicht!"
Wenn andererseits in einigen Briefen ein Widerspruch gegen den
Rigorismus der Kantischen Moral auftritt (Brief 51, S. 250), wenn
Herder dem kategorischen Imperativ das uns innewohnende Prinoip
des höchst Schönen, oder wie die Griechen sagten, das Ideal des
morahschen Anstandes gegenüberstellt (Brief 73, S. 377), so
dürfen wir nicht vergessen, dass dieser Rigorismus der Kanti-
schen Moral auch Kants treuesten Anhänger — Schiller nicht
immer befriedigt hat ; war es bei Schiller das Gefühl des Dichters,
sein ästhetischer Sinn, was sich gegen das abstrakte „Soll"
empörte, so war es der Dichter, ebenso wie der Naturforscher
Herder, dem die streng durchgeführte Unabhängigkeit der mensch-
lichen Moral von der Natur zuwider war: „Eine Sinnlichkeit,"
sagt er im 73. Briefe (Bd. XVII, S. 376), „die dem Verstände
entgegengesetzt wäre, sollten wir nicht kennen, so wenig uns
ein Verstand ohne Sinnlichkeit und eine Moral völlig reiner
Geister bekannt ist. Nach meiner Philosophie erweisen sich alle
Naturkräfte in Organen ; körperlose Geister sind mir unbekannt."
Diese wenigen Stellen, in welchen man auch einen Wider-
spruch gegen Kants Ansichten erblicken könnte, sind doch nicht
direct gegen ihn selbst gerichtet, und es ist immer nicht Kant,
sondern der Kantianismus, nicht der Meister, sondern die Schüler,
gegen w^elche Herder polemisiert.
6. Die neu atiftauchenden Feindseligkeiten.
Das leidliche Einvernehmen, welches sich zwischen Herder
irad Kant bis in die Mitte der neunziger Jahre eingestellt hatte,
konnte nicht von Dauer sein ; es war eine Slille, die vor dem
Sturm eintritt. Schon in den 1798 erschienenen ^Christlichen
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Schriften" wird der Widerspruch gegen Kant immer lauter; mit
Eifer stellt sich Herder auf die Seite der Humanität, welche er
in der Lehre Kants vermisst, er spricht gegen den „Egoismus,
der sich selbst gebietet", gegen diese „leere Form der Gesetz-
gebung, die weder Macht noch Seligkeit, weder Geist noch
Leben hat" (Bd. XX, S. 181); er stellt dem übernatürlichen
Despotismus der Vernunft die greifbare und unumstössliche
Macht der Natur, der Triebe, des Lebens, der Organisation ent-
gegen (S. 182 u. f.). Aber nun gesellen sich dazu neue Angriffs-
punkte; aus einem sich Verteidigenden wird Herder zum An-
greifenden. Fast die ganze fünfte Sammlung ist eine directe, wenn
auch immer noch nicht offene Polemik gegen Kants „Religion
innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" und sein „Radikales
Böse". Beide Werke befriedigten nicht den humanen Naturforscher
Herder; ihm war das Wesen der menschlichen Seele gut und
nicht böse (Bd. XX, S. 219); nicht die Moral der starren Pflicht,
sondern die des Herzens, die Liebe war seine Religion (Bd. XX,
S.91, 141, 184, 185 ff.). Die religionsphilosophischen Ansichten ent-
fremdeten wieder die beiden Denker, wie ihre ähnlichen liberalen
Ansichten bei Anlass der französischen Revolution sie einander
näher gebracht hatten. Schon die ganze Kantische Auffassung
der Religion, als der blossen Folge eines Bedürfnisses unserer
Vernunft, als eines Postulates derselben, befriedigten den gemüt-
vollen Herder nicht (Bd. XX, S. 163); als etwas Absolutes,
wirkHch Reales will er die Wahrheiten der Religion aufgefasst
wissen (Bd. XX, S. 162), und nicht als blosse Antinomien des
Verstandes, die ebensoviel pro wie contra sich, haben.
Auch gegen das radikale Böse, gegen diese „philosophische
Diaboliade** zieht Herder, der Bewunderer der Natur, der humane
Optimist, los (Bd. XX, S. 218). Alle diese Einwände sind vom
Standpunkt Herders ebenso begreiflich, wie früher seine Einwände
auf dem geschichtsphilosophischen Felde; nur ist der Ton jetzt
polemischer und gehässiger. Bald ironisierend, bald angreifend,
stellt Herder das ganze System Kants im komischen Lichte dar,
indem er es durch falsche Ausdeutung ganz verunstaltet; so
giebt er das folgende Beispiel des kategorischen Imperativs :
„Du sollst essen, damit du allen vernünftigen Essern ein
Vorbild der befolgten Esspflicht ohne gehabte Esslust werdest*'
(S. 182).
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Fragen wir uns nach der Ursache dieser Wandlung in dem
Verhältnis Herders und Kants, so finden wir die Antwort
darauf in der Korrespondenz Herders ; wiederholt beklagt er sich
darin über die bösen Wirkungen des Kantischen Glaubens auf
die studierende Jugend und vor allem auf die jungen Theologen.^)
Die Begeisterung für die neue Lehre ^iirde immer grösser; aber
„von wenigen verstanden und auch von diesen missverstanden",
brachte sie keine guten Früchte; das Positive in dieser Lehre
war den jungen Studierenden unzugänglich, und das Negative
hatte das einzige Resultat, dass es vom Studium anderer Philo-
sophen abwandte. Als Lehrer und Geistlicher hat Herder Ge-
legenheit gehabt, diese negativen Resultate des Kantischen
Systems kennen zu lernen. In ihm redete jetzt der Groll des
Lehrers, dessen Schüler unwissender geworden sind, und diesen
Groll hat er auch direkt in den „Christlichen Schriften" ausge-
sprochen : „Religionsphilosophen, Lehrer und Führer werden auf
Universitäten gebildet . . . ausrotten muss man daher den Wahn
der jungen Spekulanten, als ob es vor ihnen weder Philosophie,
noch Religion gegeben habe und sie sich solche erst ausklügeln
und einen Gott ausphantasieren müssten ! . . ." (Bd. XX, S. 249.)
Entsprechend diesem Ziel Herders, dem schädlichen Einfluss der
Kantischen Lehre entgegenzuwirken, wenden sich auch die Vor-
reden der beiden polemischen Werke Herders an „uneingenommene
Jünglinge". Auf dasselbe Ziel läuft auch das zur selben Zeit
von Herder abgefasste „Gutachten über Errichtung einer Selecta
am Gymnasium" hinaus — einer oberen Klasse, in welcher die
Philosophie durchgenommen werden sollte, um so die Studenten
von dem schädlichen Einfluss der philosophischen Studien auf
der Universität zu schützen.
Aber noch immer wendet sich Herder nicht direkt gegen
Kant und noch immer erwähnt er nicht seinen Namen; um
Herder zu einer direkten Polemik zu bewegen, bedurfte es eines
neuen treibenden Motivs, und ein solches sieht Haym (Bd. II,
S. 661)2) in (Je|. y^m Kantianer Stäudlin verfassten Recension
seiner „Christlichen Schriften". Man darf Herder wohl glauben,
dass er die Bekämpfung des Kantianismus jetzt als seine heilige
*) Siehe auch ^Erinnerungen**, II., S. 226.
n Siehe auch Suphan, Bd. XXI, S. XI.
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Pflicht betrachtete; die Kantische Philosophie konnte ihm um
so leichter als blosse Wortgrübelei erscheinen, je weniger er
ihren tieferen Sinn verstehen konnte; nichts veranlasst uns
daher, die Aufrichtigkeit der Schlussworte der Vorrede zur
„Metakritik" anzuzweifeln: „Dem Verfasser, heisst es da, war
seine Schrift eine Pflicht, und er wird in ihr fortfahren. Gerüstet
gegen Pfeile und Bolzen, die ihn treffen mögen, manchem an-
genehmen Geschäft des Lebens freiwillig entsagend . . /' Man
kann den Gedanken nicht unterdrücken : die Rolle eines Märtyrers
der Pflicht schmeichelte Herder. Schon im Juli 1798 machte er
sich an die Arbeit, und im April 1799 war die „Metakritik"
fertig.
Kaum ein philosophisches System bedarf eines so eingehen-
den Studiums, wie dasjenige Kants; revolutionär, wie es war,
konnte es nur von dem recht verstanden werden, der sich zu-
nächst den Sinn seiner Reform klar gemacht hatte und nun von
dem dadurch gewonnenen Standpunkt das ganze grosse Gebäude
in seinen Einzelnheiten betrachtete. Nicht so war es mit Herder.
Noch ehe er das System selbst recht kannte, stiess er mit seinen
bösen Wirkungen zusammen ; mit einem Vorurteil trat er daher
an das Werk heran, mit der voreingenommenen Absicht, es zu
bekämpfen, zu widerlegen; vom Lernen, von vorurteilsloser
Benutzung und Auslegung der Gedanken war jetzt nicht die
Rede. Sein eigenes System war schon längst fertig; wir haben
gesehen, wie wenig es sich mit dem Kriticismus vertragen konnte.
Wollte nun Herder dem letzteren gerecht werden, so hätte er
es zunächst ganz objektiv betrachten, seinen eigenen Standpunkt
für den Augenblick verlassen müssen, und das war für ihn eine
absolute Unmöglichkeit. Herder bleibt so bei seinem alten Stand-
punkt, widerspricht von demselben aus Kant und stellt gleich
darauf sein eigenes System auf; dem negativen Teil folgt un-
mittelbar der positive; nur haben diese beiden leider nichts als
die äussere Form gemein ; das Positive steht mit den widerlegten
Partien aus der Kantischen Lehre in keinem Zusammenhang
und hat mit ihnen nur äusserliche Anknüpfungspunkte. Auch
die Sprache Kants will Herder nicht anerkennen ; bald gebraucht
er Kants Ausdrücke im älteren, gewöhnlichen Sinne (a priori,
synthetisch etc.), bald setzt er an ihre Stelle seine eigenen Aus-
drücke (Innewerden, Organik, Denkbilder des menschlichen
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— 35 —
Verstandes etc.) und widerspricht dann den dadurch verunstal-
teten Ausführungen Kants; eine jede Widerlegung beruht so
auf einem Missverständnis. Was uns am meisten an der „Meta-
kritik." abstösst, ist ihr bitter polemischer, ungerechter, gehässiger
Ton, der bald in feuilletonistisches Gezänk, bald in cynische
Witzelei ausartet. „Von einem Buche, sagt Herder in der Vor-
rede (S. 8), ist die Rede, von keinem Verfasser." Wohl mag das
Herders gut gemeinte Absicht gewesen sein; aber nicht lange
bleibt er ihr treu, seine Ausfälle gegen das System werden immer
gehässiger und treffen immer mehr auch seinen Gründer.^) Der
boshaften Allegorie in der Vorrede, — die kritische Philosophie
als Unholdin Hägsa dem gesunden Menschenverstand Hugo
entgegentretend — entspricht vollkommen auch die Allegorie
am Schlüsse des Buches — die kritische Philosophie als Spinnen-
gewebe in dem Bienenkorb.
Mit einem Worte, das ganze Buch, von Anfang bis zum
Ende, ist, als Kritik, dem Inhalte wie der Form nach, ganz
verfehlt. Aber giebt es denn nichts, was Herder in unseren Augen
verteidigen, was uns eine verzeihliche Ursache seiner ungerechten
Polemik zeigen könnte? Sehen wir nur einen Augenblick von
der äusseren Form der „Metakritik", von ihrem gehässigen Tone
ab; auch abgesehen davon, dass manche ihrer Vorwürfe auch
von anderer Seite mehrmals gegen Kant erhoben wurden, auch
abgesehen davon, dass der positive Teil der „Metakritik" an sich
viel Wahres und Schönes enthält — kann auch der negative
Teil in Herders Geiste seine Erklärung finden. Diesem einheit-
Hchen, synthetischen Geiste war der Kantische schroffe Dualis-
mus von Welt und Erkenntnis, Sein und Denken, Sinnlichkeit
und Vernunft, Materie und Geist unzugänglich;' Herders Er-
kenntnislehre war im scharfen Gegensalz zu Kant eine Sinnes-
lehre, seine Logik eine Seinslehre, seine Ethik eine Glückselig-
keitslehre. In der transcendentalen Aesthetik fragt Kant nach
dem Ursprung, der Gültigkeit der Erfahrung ; aber dem Schüler
Bacons und Lockes, Herder, ist diese Gültigkeit eine ausgemachte
Sache, er versteht gar nicht den Sinn der Kantischen Frage und
behandelt seine transcendeniale Aesthetik vom Standpunkt der
Erfahrung selbst; so verwandeln sich bei ihm die Anschauungs-
•) S. 338, Note tKant, als ^seiner Majestät getreuester Unterthan«.
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formen in „Erfahrungsbegriffe" (S. 48), die Anschauung selbst
in ein „Innewerden des Daseienden" (S. 43), die Erscheinung in
„sinnliche Gegenstände" (S. 45), das abstrakte apriori in ein
„energisches apriori" (S. 67), die ganze transcendentale Aesthetik
endlich in eine „Organik" (S. 67), oder in eine „Gefühlslehre" (S. 45).
In der transcendentalen Analytik sucht ferner Kant die Möglich-
keit der Gesetze in der Natur zu beweisen; aber auch diese
Möghchkeit ist vom empirischen Standpunkt Herders selbstver-
ständlich; denn die Vernunft, als Teil des grossen Alls, muss
auch diese Gesetze dieses Alls anerkennen, sich aneignen (S. 86, 207).
Die Kategorien sind für Herder nur von der Erfahrung abgeleitete
Verstandesbegriffe (S. 82), dem Schematismus der Vernunft ent-
spricht in seiner Lehre die, Sinnlichkeit und Vernunft verbin-
dende, Sprache (S. 119), der Kantischen Spontaneität des Ver-
standes das Anerkennen des Gleichartigen durch unseren inneren
Sinn (S. 88), der Kantischen formalen Logik seine inhaltsvolle
(S. 82) Logik. Noch weniger versteht Herder den Sinn der
transcendentalen Dialektik; die Vernunft ist für ihn nur der
höhere, zusammenfassende, an die Erfahrung anknüpfende Ver-
stand (S. 207), und die Kantische, von Erfahrung und SinnHchkeit
unabhängige, reine Vernunft, geradezu ein Unsinn (S. 18). Der
Transcendentalismus der Vernunftideen Seele, Welt, Gott
widerspricht seiner Anschauung von diesen höchsten, von der
Erfahrung abgeleiteten BegriflFen, die eine wirkliche Realität
haben (S. 209, 210, 212, 235); daher bleiben auch die Kantische
rationale Psychologie, Theologie und Kosmologie für ihn unver-
ständUch, denn in seinem System haben alle diese Zweige der
Metaphysik eine empirische Basis in der Wirklichkeit; er, der
gemütvolle, humane Deist will nichts von einem Gott wissen,
den er sich selbst ausklügeln soll (S. 235), nichts von einer
Moral, die despotisch gebietet und doch einer Gottheit bedarf
(S. 289). Und konnte es anders sein, konnte denn wirklich
„dieser zweckhafte Glaube, bei welchem ich zwar nicht weiss,
weshalb, aber wozu und wofür ich glaube," jemals Herder
befriedigen, dessen Religion und Ethik mehr in seinem vielseitigen
Gemüth, als in seinem Verstand begründet waren? Und wenn
Kant die Ideen von Seele, Freiheit und Gott aus der Kritik der
reinen Vernunft verweist und sie nur als Postulate der praktischen
Vernunft anerkennt, so sträubt sich Herders einheitliche Natur
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gegen diö „Scheidung der zwei Vernünfte, von denen eine das
wieder aufnimmt, was die andere zermalmt hat" (S. 235, 289,
315). Weil Herder eine Einigung des Denkens und des Handelns
in seiner praktischen Thätigkeit, als Prediger, nicht erreichen
konnte, verlor er seine Gemütsruhe; und am Streben, die ver-
lorene Einigung in der Philosophie seines Zeitalters wieder her-
zustellen, scheiterte seine philosophische Ruhe.
Diese Gegenüberstellung der beiden Teile der „Metakritik",
des positiven und des negativen, steigert zwar nicht den Wert
des letzteren, aber sie erklärt uns seinen Ursprung; mit dem
besten Willen, ohne jede Voreingenommenheit, hätte Herder
Kant doch nicht verstehen, höchstens hätte er ihn auslegen,
nach seiner Weise interpretieren können, wie er es z. B. in den
„Humanitätsbriefen" gethan hat; und noch bleibt es zweifelhaft,
ob dieser Vermittelungsversuch bei systematischer Beurteilung
des kritischen Systems doch nicht an seiner Härte gescheitert
wäre. Die Folge persönlicher Umstände war nicht, dass Herder
Kant missverstanden hat, sondern nur, dass er dieses Missver-
ständnis zu einer direkten Polemik brachte, und zwar zu einer
ungerechten, bitteren Polemik; und auch diese persönlichen
Umstände waren eher die schädlichen Wirkungen des Kantianis-
mus auf die studierende Jugend, i) als die Erinnerung an die
ungerechte Recension der „Ideen" von Kant. Diese Erinnerung
und der dabei wieder erwachte alte Groll mögen wohl auch
mitgewirkt und vielleicht, für Herder selbst unbewusst die Form
seiner Polemik beeinflusst haben; eine grössere, entscheidende
Wirkung aber dieser Recension zuzuschreiben verbieten uns die
zwei Urteile Herders über Kant, das ungünstige, über die
„Träume", 18 Jahre vor der Recension, und das günstige, in
den „Humanitätsbriefen", 10 Jahre nach ihr.
Trotz der vielen Gegenschriften seitens der Kantianer^)
giebt Herder seine Polemik nicht auf. Schon in der Vorrede
zur „Metakritik" (S. 8) spricht er von einer „Metakritik zur
Kritik der Urteilskraft", im Herbst 1799 fing er an an dem Werk
zu arbeiten, und Frühling 1800 war es fertig und erschien unter
dem Namen „Kalligone".
*) Siehe Suphan, Bd. XX, S. XI; Haym, Bd. 11, S. 656.
*) Rink, , Mancherlei zur Geschichte der metakritischen Invasion**;
dann die Schriften von Kiesewetter, Krug, Ratze, Gramer etc.
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Als Kritik ist das Buch nicht weniger verfehlt als die
„Metakritik". Durch alle Gegenschriften nur gereizt, ist jetzt
Herder noch ungerechter als früher ; noch absprechender verhält
er sich gegen alle Aeusserungen des kritischen Philosophen,
noch gehässiger ist sein Ton, noch boshafter seine Ausfälle
gegen Kant selbst. Wie einer, der seiner Sache vollständig
sicher ist, betrachtet er die ganze „Kritik der Urteilskraft" von
oben herab und belehrt dabei Kant mit solchem Bewusstsein
seiner Ueberlegenheit, mit solcher Selbstüberschätzung und kind-
licher Naivität, dass das unangenehm Abstossende seiner Polemik
einfach zum Lächerlichen wird. Und andererseits wird es für
uns jetzt noch augenscheinlicher, als bei der „Metahritik", dass
Herder nur darum gegen Kant ungerecht war, weil er ihn nicht
zu verstehen vermochte, weil sein Naturell dem Kantischen zu
sehr entgegengesetzt war, als dass er sich mit ihm hätte einigen
können. Der Kantische Subjektivismus, der die Gesetze des
Schönen in uns und nicht in die Natur der Dinge selbst verlegt,
war lür den Empiristen Herder ebenso unverständlich, wie der
Kantische Rationalismus, der die Gesetze der Natur nur als
Denknotwendigkeiten, nicht als Seinsnotwendigkeiten anerkannte.
Dem Kantischen Begriff des subjektiv Schönen stellt daher
Herder sein „an sich Schönes", seine „Naturschönheit" entgegen
(S. 47, 51, 70, 77 etc.); wie früher das „apriori" der Erkenntnis,
so versteht er jetzt das apriori des Geschmackes nicht; das
formal Schöne, oder wie Kant sich ausdrückt, das „reine Schöne",
ist für Herder ebenso metaphysisch leer, wie früher die „reine
Vernunft" (S. 109, 110 etc.); das interesselose Wohlgefallen,
welches Kant für sein absolut Schönes in Anspruch nimmt,
scheint Herder wieder von seinem historischen und naturwissen-
schaftlichen Standpunkt unmöglich, denn tür ihn ist jedes Wohl-
gefallen mit der Sinnlichkeit der menschlichen Natur, folglich
mit Interesse verbunden (S. 27, 34, 48 etc.). Dem Kantischen
Begriff des Schönen mengt sich bei Herder der Begriff des An-
genehmen, des Vollkommenen und Zweckmässigen, dem Begriff
der Kunst der des Nützlichen bei (S. 27, 30, 49, 76, 130, 142)
Mit einem Worte, der Kantischen Lehre vom absoluten Schönen
stellt sich das an den Zeitgeschmack gebundene, individuell
bedingte Schöne (S. 207) gegenüber.
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Es ist wiederum der Geist der Synthese, der genetischen
Betrachtung der Dinge, welcher sich dem Geiste der den Dingen
auf den Grund gehenden, zum absolut Wahren strebenden Ana-
lyse gegenüberstellt ; es ist derselbe Grundunterschied der Welt-
anschauungen beider Denker, welcher auch auf dem ästhetischen
Gebiete eine Einigung für sie unmöglich machte. Aber auch in
der Aesthetik, wie in der Erkenntnistheorie, würde dieser Wider-
spruch sich vielleicht nicht kund gethan haben, wenn auch hier
nich t wieder treibende Motive hinzugekommen wären ; und diese
Motive waren wiederum die Wirkungen des Kantianisraus in der
Aesthetik; mit Recht, scheint mir, bringt Haym (Bd. II, S. 699)
die klassische, formenfrohe Litteraturepoche mit der Lehre des
„reinen Schönen" in Zusammenhang: „Herder, sagt er, lagerte
in der Misshandlung des Kantischen Buches allen den Verdrass
ab, welchen ihm die Grundsätze und die dichterische Praxis der
Xeniendichter, der Bund Goethes mit dem kantisierenden Aesthe-
tiker Schiller und die Zuwendung des öflTentlichen Urteils und
der Journalistik zu den Werken dieser beiden verursachte."
Nicht nur gegen Kant, sondern auch gegen die Weimarische
Schule, gegen die neueste Dichtung richtet sich die „Kalligone"
(S. 102, 192). Auch die Kalligone fand keine gute Aufnahme;
zwar schwiegen im allgemeinen die Angegriffenen, aber dieses
Schweigen drückte vielleicht Herder mehr als die früheren Gegen-
schriften.
Hatte Herder früher eine dritte antikantische Schrift über
die schädliche Einwirkung der kritischen Philosophie auf die
Moralität und die innere Glückseligkeit des Menschen ^) geplant,
so Hess er jetzt — vielleicht infolge des Misserfolges der beiden
ersten polemischen Werke — diesen Plan fallen.
Noch einmal vernehmen wir Herders Urteil über Kant und
zwar über das gleiche Werk, welches auch seine erste Recension
hervergerufen hat, über „Die Träume eines Geistersehers". Bei
seiner ersten Beurteilung dieser Schrift, im Jahre 1767, hat
Herder Kant den Vorwurf gemacht, „er bringe Hypothesen dar**
(s. oben S. 11), jetzt, nach fast 35 Jahren, wiederholt Herder in
der „Adrastea" denselben Vorwurf, wendet aber dabei die Wafl'en,
*) Erinnerungen, IL, S. 226; nach den ^Erinnerungen" hat Falk
Herder beredet, die Polemik aufzugeben.
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welche Kant gegen die dogmatische Philosophie gebraucht hat,
gegen ihn selbst um: „Warnend ist für die Metaphysik dieses
Beispiel; denn treibt unser neuerer Idealismus (Kriticismus)
nicht auch dergleichen, sogar auch blosse Buchstabenspiele?
Hat das verwichene Jahrhundert nicht eine Reihe Geisterseher
hervorgebracht, die Swedenborg bei weitem nicht an die Seite
zu setzen wären?'* Das erste Urteil gegen Kant sprach Herder
bei Gelegenheit eines Werkes aus, in welchem er den Plan eines
Systems zu erblicken glaubte; gegen dasselbe System und bei
derselben Gelegenheit ist auch sein letztes litterarisch ausge-
sprochenes Urteil gerichtet, gegen das System selbst, nicht gegen
seinen Begründer. Und als ob dieses letztere Urteil nur darauf
hinzielte, uns mit der Polemik Herders zu versöhnen, von ihr
jeden Verdacht eines persönlichen Streites abzuweisen, schliesst
sie mit folgenden Worten: „Ernst und bedeutend winkt uns
Adrastea durch Swedenborg zu, auch fromme Gedanken, auch
die reinen Ideen des Wahren und Schönen nicht über Mass und
Ziel zu führen, als ob sie die Wahrheit selbst wären; bei der
redlichsten Gesinnung wird durch sie der Selbstbetrogene ein
Wahnsinniger, ein Verführer." — Klarer kann es nicht gesagt
werden ; die Verführten will Herder auf den richtigen Weg führen,
der Verführer selbst ist für ihn nur ein Selbstbetrogener,
7. Motive, Charakter und positiver Inhalt der Polemik.
Ueberblicken wir zum Schluss die ganze Polemik Herders
gegen Kant, von der Recension der „Träume" an bis zum letzten
Ausspruch in der „Adrastea", so finden wir überall als ihre
Ursache ein wirkliches Missverständnis, und als Grund des letzteren
die innere Geistesverschiedenheit der beiden Denker einerseits
und den Abstand Kants von Herder, als von einem vorkritischen
Philosophen, andererseits. Mit diesem Missverständnis steht Herder
nicht vereinzelt da; Kant selbst behauptete, ihn habe niemand —
ausser etwa Maimon — richtig verstanden. Und dieses war ja in der
Natur der Sache begründet ; um das Positive des Kantischen Systenaä
erfassen, um die vielseitige Bedeutung seiner reformatorischen Lehre
überbhcken zu können, hätten die vorkritischen Philosophen sich
auf ihre eigenen Schultern stellen, den Weg, den sie bisher
gegangen waren, auf einmal verlassen und alle Ansichten, in
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fjpfvwr"'-
— 41 —
welchen sie geschult waren, ablegen müssen ; dazu aber bedurfte
es einer Energie der Gedanken, die weder dem alternden Herder,
noch einem Hamann, Garve oder Schultze und wie die Kritiker
Kants sonst hiessen, eigen war. Nicht umsonst fand Kant seine
begeistertsten Anhänger im Kreis der akademischen Jugend; es
ist immer die jüngere und nicht die alternde Generation, welche
sich für neue Ideen empfönglich zeigt. Und so war es auch vor-
nehmlich die Jugend, die sich um die Fahne des Kriticismus
scharte, während die ältere, absterbende Generation sich gegen
das ungewohnte Neue ablehnend verhielt und, am Alten haftend,
ihren eigenen philosophischen Besitz zu verteidigen suchte. In
der Mitte dieser vorkritischen Geister steht auch Herder, der
seinen Gedankenbesitz schon darum mit doppelter Energie ver-
teidigte, weil er ihn sölbst errungen hatte. Er sah selbst das
Unzureichende der bisherigen Philosophie ein, er fühlte tief in
sich selbst den Widerspruch, an welchem diese Philosophie krankte,
und suchte sein ganzes Leben lang diesen Widerspruch zu lösen
oder doch zu müdem; der Gedanke des ewigen Werdens, der
wirkenden Kräite sollte für ihn diesen Widerspruch des Geistes
und der Materie, der Erkenntnis und der Welt aufheben. Aber
nun sieht er die Arbeit, der er sein ganzes Leben gewidmet hat,
durch die neue Philosophie zu nichte gemacht. Man will von seinem
Ausweg aus dem philosophischen Dilemma nichts wissen, man
braucht ihn ja nicht mehr, seitdem eine transcendentale Einheit
den alten Widerspruch aufgehoben hat. Herders grösste Abnei-
gung war die Schulmetaphysik, und nun sieht er sich mit allen
Metaphysikern unter dem gemeinsamen Namen „dogmatischer"
Philosophen auf einen Haufen geworfen.
Mit dem herannahenden Alter erlahmte die innere Lebens-
kraft Herders, sein Gemüt sehnte sich immer mehr nach Ruhe,
nach einem fassbaren Ideal, immer grösser wurde das Bedürfnis, das
bereits Errungene zu geniessen ; das Neue fasste er nicht mehr frei
auf, sondern musterte es an dem aus dem Kampf des Gedankenlebens
Geretteten; seine Gedanken vermochten nicht den neuen Strö-
mungen zu folgen, und unmutig wandte er sich von allem Neuen ab.
Mit Missmut sah Herder, wie andere in ihrer Gedankenarbeit vor-
wärts kamen, während er seine Kräfte umsonst verbraucht hatte
und sein Denken zerfloss, ohne sich zu vertiefen und sich
in direkter Richtung zu entwickeln. Er sieht andere um sich
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herum — einen Kant, einen Schiller, einen Gcethe — die im
Vollbesitz des Errungenen dastehen, er aber, der so tief empfand,
der so leidenschaftlich nach dem Ideal strebte, er steht unbe-
friedigt da, in innerem Zwiespalt mit sich selbst, viele Fragen
ungelöst, und die gelösten von den Zeitgenossen nicht anerkannt,
von der neuen Generation vergessen und verpönt ; wer wird da
dem vereinsamten alternden Greis seinen Unwillen gegen die
neuen Errungenschaften der Wissenschaft und der Kunst streng
anrechnen?
Und nun suche man Herder im Kreise seiner Familie auf,
unter seinen Kindern, für deren Erziehung er keine Mittel hat
und von denen der geUebteste und begabteste Sohn August sich
vom Vater abwendet und in das feindliche Lager übergeht ;
Herder selbst von einem schweren Leiden heimgesucht, unter
dem Druck schwerer Consistorialthätigkeit, die ihm keine Freude
macht, physisch und moraHsch gebrochen, die Ideale seiner Jugend
mit alternder Stimme verteidigend, in krankhafter Furcht, dass
nicht etwas von dem alten gewonnenen Gedankenbesitz im Kampf
gegen das Neue verloren gehe; est ist etwas Pathologisches in
der Thätigkeit imd dem ganzen Fühlen und Denken Herders in
seinen letzten Jahren. Wer kann an diesem Zeitabschnitt in
seinem Leben vorübergehen, ohne Mitleid mit dem armen Greis
zu haben ; wer versteht nicht seine „Trauer über die Zeit, über
Weimar, über sich, über alles" (J. Pauls Brief an Jacobi, „Briet-
wechsel" S. 70). Wenn er jetzt sich oft zum Hass erniedrigt,
so hat er dafür früher auch zu lieben verstanden; Hass und
Liebe waren in seiner Weltanschauung die beiden Pole der
Weltaxe; Hass und Liebe waren auch die beiden Grundtriebe
seiner tief empfindenden Natur.
Es ist nicht zu läugnen, dass Herders Polemik gegen Kant
viel Ungereimtes enthält; aber andererseits muss man auch zu-
geben, dass er in manchen seiner Einwände vieles zuerst aus-
gesprochen hat, was später von kompetenteren Kritikern gegen
Kant geltend gemacht wurde. Das erste, was Herder gegen eine
Kritik der reinen Vernunft eingewendet hat, ist, dass dabei diö
Vernunft zugleich „Partei und Richter, Gesetz und Zeuge sein
müsse" (S. 18). Wenn nun Herder so die Frage aufwirft, ob wir
denn im stände seien, über unsere Vernunft zu urteilen, ja noch
mehr, von unserer Sinnlichkeit absehend, unsere reine Vernunft
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zu beurteilen (S. 17), die Vernunft zu transcendentieren (S. 40),
so unterscheidet sich diese Frage nicht wesentlich von der
Hegeischen: ob wir schwimmen können, ohne ins Wasser zu
steigen. Trifft auch dieser Vorwurf Kant nicht, weil eine Kritik
der reinen Vernunft in transcendentaler Hinsicht eine empirisch
fassbare reine Vernunft nicht voraussetzt, so hat doch dieser
Vorwurf seine relative Berechtigung, insofern er die Bedeutung
der sinnHchen Erfahrung gegenüber der wissenschaftlichen Ab-
straktion verteigt. Schon an diesem Beispiel sehen wir das Ver-
hältnis Herders zu Kant; es ist das reale Leben mit seinem
natürlichen Bewusstsein, welches sich dem wissenschaftlichen
System eines abstrakten Denkers gegenüberstellt. Man könnte
sagen, alle Einwände Herders gegen Kant haben einen ge-
sunden empirischen Hintergrund, aber sie alle beruhen auf
einem Missverständis des tieferen Sinnes der Kantischen Lehre;
daher hat auch die ganze Polemik keinen positiven Wert;
dafür aber hat. sie für uns ein grosses historisches Interesse,
als Vorbild aller anderen Kritiken Kants vom Standpunkt des
natürlichen Bewusstseins einerseits und vom vorkritischen Stand-
punkt andererseits.
Wenn Herder z. B. gegen die scharfe Scheidung von Ver-
stand und Sinnlichkeit protestiert (S. 73), so stimmt er darin
mit Reinhold vollständig überein; nur vergisst dabei Herder,
dass Kant mit diesem scheinbaren Widerspruch, welcher in der
„gemeinsamen Wurzel der beiden Stämme", in Kants transcen-
dentaler Einheit aufgelöst wird, den ewigen Widerspruch der
Materie imd des Geistes aufhebt, indem er sie in die Reciptivität
der Eindrücke und die Spontaneität der Begriffe verwandelt.
Wenn ferner Herder gegen die Apriorität des Raumes und der
Zeit (S. 47), oder der Kategorien (S. 73), oder endlich gegen
die „priorisierte Idealität" der Kantischen Lehre (S. 148 u. f.)
überhaupt auftritt, so macht er sich desselben Miss Verständnisses
schuldig, welchem wir seit Garve so oft begegnen und welches
auf der Verwechslung des Kantischen transcendentalen mit einem
schafifenden Idealismus beruht; nicht nur Herder, sondern auch
manche Kanntkenner suchen seine Anschauungsformen und Denk-
gesetze nicht im Menschen, als im erkennenden Subjekt, sondern als
im Objekt, welches selbst durch diese Gesetze begründet ist ; mit
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vielen andern Kritikern verwechselt auch Herder die Kantische
„Erscheinung" mit dem Schein und setzt daher an ihre Stelle
„sinnliche Gegenstände" (S. 45); aber er übersieht dabei, dass
diese Erscheinung die sinnlichen Gegenstände ebensowohl wie
die sie auffassenden Denkfunktionen, sofern sie Objekte unserer
Erkenntnis sind, mit einschliesst. Tritt femer Herder gegen den
Widerspruch der Phänomena und Noumena auf, so thut er nur
dasselbe, was schon so manche Kantkenner seit Jacoby gethan
haben; nicht Herder allein fasst das Kantische Noumenon als
etwas ausser und unabhängig von dem Phänomenen Bestehendes
auf, nicht er allein begreift nicht den wahren Sinn des Noumenons,
als einer höheren trän scen dentalen Einheit, welches auch das,
was wir in die Welt hineinlegen und das, was wir von ihr er-
fahren — auch das Phänomenen — mit einschhesst (S. 171).
Ebenso oft ist auch die Verwechslung der Kantischen intelligibeln
mit einer Intellektualwelt (S. 188); eine Verwechslung, welche
den Kantischen negativen Begriff in einen positiven verwandelt
und aus welchem das Missverständnis entsteht, als ob der Kriti-
cismus nichts anderes sei, als veränderter Rationalismus. Wenn
Herder ferner gegen die Kantische „Scheidung der zwei Vernünfte
protestiert, von denen die eine das wieder aufnimmt, was die
andere verworfen hat" (S. 235, 289, 315), so übersieht er dabei,
dass nur die reine Vernunft erkennend, während die praktische
bloss postulierend ist und dass sie beide, wenn auch von ver-
schiedenen Seiten, sich der letzten Wahrheit nähern.
Die Einwände Herders gegen Kants einzelne Ausdrücke
beruhen ebenfalls fast immer auf einem Missverständnis; wenn
Herder z. B. gegen die Einteilung der Urteile in synthetische
und analytische polemisierend den oft wiederholten Einwand
erhebt, ausser den identischen und verschiedenen Begriffen können
auch gleiche Begriffe sein (S. 36), so vergisst er, dass die Gleich-
heit schon an sich ein Gedankenelement ist, welches in der
gegebenen Vorstellung nicht mit eingeschlossen ist und sie
folglich, wenn auch nicht empirisch, so doch transcendental
erweitere; das gleiche Miss Verständnis liegt auch seiner zweiten
Behauptung zu Grunde, dass die Grenze zwischen den analytischen
uno den synthetischen Urteilen keine feste, sondern nur eine
relative sei (S. 35); wiederum verwechselt er dabei die trans-
cendentale, rein logische Natur des Urteils mit seinem empischen
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Werden. Tadelt Herder ferner den Missbrauch der Aristotelischen
Ausdrücke „apriori*^ und „aposteriori" (S. 309), so macht er Kant
damit denselben Vorwurf, welchen auch andere Logiker bis auf
Ueberweg gegen ihn erhoben haben, während man doch, wie mir
scheint, nicht berechtigt ist, dem Philosophen zu verbieten, den
Sinn der Wörter zu ändern. Wenn Herder weiter gegen Kants
„apriorische Erkenntnis" polemisiert, so teilt er nur das allzu
verbreitete Miss Verständnis, als ob Kant eine ganze Erkenntnis
und nicht vielmehr einen Teil, eine Form der Erkenntnis a priori
zulässt (S. 23, 32 etc.).
Aehnlich wie die angeführten, sind auch die anderen Ein-
wände Herders; immer liegt ihnen das Missverständnis der re-
formatorischen kritischen Lehre zu Grund; sie geben uns einen
schlagenden Beleg für den Kantischen Satz : „Nur wenige haben
mich verstanden und auch diese haben mich miss verstanden.*^
Die Bedeutung dieser Polemik ist daher nur eine negative, eine
historische; sie zeigt uns die Schwierigkeit des Verständnisses
Kants und seinen ungeheuren Abstand von der vorkritischen
Philosophie.
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Zweiter Teil.
Das Verhältnis der Systeme.
1. Der allgemeine Charakter dieses Verhältnisses*
Wenn die Beziehungen Herders zu Kant gezeigt haben,
wie sich die Entartungen des dynamischen Standpunkts bei
Herder und des Kritischen bei den Pseudokantianern gegenseitig
widersprechen, so kommen wir, bei genauerer Verfolgung der
Grundgedanken ihrer Weltanschauungen, zu der Ueberzeugung,
dass ihre wahren Gedanken einander gegenseitig ergänzen ; beide
betrachten denselben Gegenstand von zwei verschiedenen Stand-
punkten, beleuchten ihn von zwei verschiedenen Seiten. Das-
jenige, was Herders Beziehungen zu Kant bestimmte, war sein
unbeständiges^ vom Gemüt abhängiges Denken, und daher war
auch bei der Betrachtung dieser Beziehungen die beste Methode
die des zeitlichen Entwickeins; will man aber den Kern der
Herder'schen Gedanken rein herausfinden, so muss man vom
jeweiligen Augenblick mit seinen vorübergehenden Einflüssen
absehen. Thut man's nicht, so verbietet die Menge sich ganz
widersprechender und nur durch die Augenblicksstimmung er-
klärbarer Aeusserungen Herders vollständig, etwas Bestimmteres
über ihn zu sagen. ^j Mir scheint daher, dass das einzige Mittel,
Herder ganz gerecht zu werden, wäre, ihn aus seiner Zeit und
ihren Einflüssen zu begreifen, wie wir es im ersten Teil gethan
haben, um dann wiederum das abzusondern, was Herder individuell
angehört, und was sein geistiges Eigentum ausmacht. Sehen wir
nun von diesen augenbhcklichen Einflüssen ab, so finden wir
') Daher auch die verschiedenen Auffassungsweisen von Herder.
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als den in seinem Naturell bedingten Kern aller seiner Gedanken
den Begriff des ewigen Werdens. Diesen Grundbegriff möglichst
rein hervorzuheben, wie er, selbst von keinen Nebenumständen
abhängig, das ganze Denken Herders formte und bedingte, würde
demnach die Aufgabe des folgenden Teils sein. Wie in Herders
Beziehungen zu andern Denkern alles von der Zeit abhing und
durch sie bestimmt wurde, so wurde sein eigenes Denken durch
die Zeiteinflüsse nur unterdrückt und vergewaltigt.
Nicht so bei Kant, dessen Denken eine gerade, strenge
Entwickelung darbietet ; im bewussten Streben nach der reinen
Erkenntnis begriffen, lässt er sich durch keine Nebenumstände,
durch keine Gemütsneigungen von seinem geraden Wege ab-
bringen ; unermüdlich schreitet er seinem bewussten Ziele zu ; sein
Gedanke erhebt sich immer höher und höher, bis er im kritischen
System seine vollkommenste Entwickelung erreicht. Oekonomisch
schaltet Kant mit seiner Zeit und seiner Arbeit, er sieht die
Grösse seines Unternehmens, und hält seine Kräfte in strenger
Disziplin. Herder weiss hingegen seinen Gedanken keinen Zwang
aufzulegen, er zerfliesst, er geht mehr in die Breite als in die
Tiefe. Wollen wir beiden Denkern gleich gerecht werden, so
müssen wir auch bei jedem das Beste hervorsuchen, wir
müssen das Ende der Entwickelung Kants, seinen kritischen
Standpunkt, dem Ausgangspunkt Herders, seinem dynamischen
Grundgedanken, entgegenstellen. Wir müssen, so sonderbar
es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, den ersten Ge-
danken Herders an dem letzten Gedanken Kants messen ; sonderbar
ist es, weil wir dabei die Entwickelung nur beim letzteren be-
rücksichtigen und beim ersteren davon vollständig absehen; es
scheint mir aber zugleich gerecht zu sein, weil Kants kritischer
Standpunkt mit seinem abstrakten Charakter seine vollständige
Entwickelung in seinem Begründer selbst fand, und auch nur
in eitlem Geiste sich so vollkommen und einheitlich ausbilden
konnte, während die empirische Natur des dynamischen oder
biologischen Standpunkts Herders es mit sich bringt, dass weder
ein einzelnes Menschenleben, noch eine einzelne Generation mit
ihren beschränkten Erfahrungen ihn zu wissenschaftlicher Ge-
wissheit und apodiktischer Gesetzmässigkeit bringen kann.
Ein Vorwurf ist Herder wegen dieser seiner Zerflossenheit
und zu grosser Vielseitigkeit seines Denkens sehr oft gemacht
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worden, der Vorwurf des Eklekticismus ; und in der That möchte
man diesem Vorwurf beistimmen, wenn man sieht, wie Herder
sich den widersprechendsten Systemen anbequemt, oder sie unter
einander zu versöhnen sucht und dabei ihre Grenzen verwischt.
Wer im „Empfinden und Erkennen" Leibniz aus dem Geiste
Spinozas korrigiert und verbessert (S. 178), um dann in „Gott"
wiederum Spinoza im Leibniz'schen Sinne zu interpretieren
(S. 450, 463, 459); wer in den „Spinozagesprächen" zugleich
Mendelssohn und Jacoby Recht geben will (IV. Gespr.) ; wer zu
gleicher Zeit unter dem Einfluss eines Nicolai und eines Hamann
stehen kann, der ist schwerlich ein systematischer Philosoph zu
nennen. Und andererseits kann man denjenigen nicht Eklektiker
nennen, der so fest an seiner dynamischen Grundanschauung
hängt, und dessen ganzes Denken so sehr in seinem eigenen
Naturell begründet ist. Wohl suchte Herder sich in den Gedanken-
gang aller seiner philosophischen Vorgänger und Zeitgenossen
hineinzudenken und hineinzufühlen, w^ohl suchte er von jedem
etwas zu lernen, aber es gelang ihm nur da, wo der Geist des
betrachteten Philosophen mit dem seinigen eine innere Verwandt-
schaft hatte; er lernte nur dasjenige von anderen, Was auch in
ihm selbst vorhanden war; nur ein gleichartiger Geist konnte
ihn daher beeinflussen, und auch dieser nicht vollständig, denn
jeder fremde Einfluss beschränkte sich bei Herder auf Erwecken
schlummernder Kräfte; sobald aber der fremde Geist sich von
dem Herder'schen entfernte, verlor sich auch jede Beeinflussung;
entweder blieb dieser für Herder ganz verschlossen, oder Herder
modelte ihn unbewusst in seine eigene Denkungsart um. Eben
weil er seinen eigenen Geist nie verleugnen konnte, identifizierte
er ihn nur allzu oft mit dem Geiste der betrachteten Denker;
daher kam er auch fast nie zur klaren, unvoreingenommenen Ein-
sicht in die Gedanken anderer, aber eben daher auch liess er
sich von niemandem ganz beeinflussen ; der Spinoza, dem er folgt,
dessen Schüler er sich nennt, ist nicht der wirkhche Spinoza,
nicht der streng abstrakte Denker, sondern ein grosser denkender
Gemütsmensch, wie Herder selbst einer ist; Herders Leibniz ist
wiederum nicht der rationalistische Schöpfer der prästabiHerten
Harmonie, sondern ein freier Bewunderer der Natur; Herders
Rousseau ist kein politischer und socialer Reformator, sondern
bloss ein gefühlvoller Anbeter alles Urwüchsigen und Natürlichen ;
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Herders Kant endlich — sein Lehrer — ist ihm ein vorsichtiger
Gelehrter und anspornender Erzieher, und Kant — sein Gegner
— ein spitzfindiger Metaphysiker. Der wahre eigentliche Geist
fremder Denk^er verschwindet bei Herder, er sieht nur seine
eigenen Geistesformen, die er in andere hineininterpretiert. Ist
Herder ein Eklektiker, so ist er's nur als ein Urteilender und
Nachempfindender; aber eben darin äussert sich seine völlige
Eingenommenheit von eigener Denkungsart ; als schaffender imd
selbstthätiger Denker ist er durchaus originell. Die Schuld am
Eklekticismus Herders trägt wiederum sein Gemüt, welches das
originelle Denken nicht zur Einsicht in die fremde Originalität kom-
men lässt ; ich möchte über den Herder'schen Eklekticismus dasselbe
sagen, was Lessing über den Leibniz'schen gesagt hat: „Leibniz
hat nicht gesucht, sich den herrschenden Lehrsätzen aller Par-
teien anzupassen, im Gegenteil, er suchte alle Lehrsätze der
herrschenden Parteien seinem System anzupassen.^
Ganz anders aber verhält es sich mit Kant; den Geist des
jeweiligen Denkers tief durchschauend und ihn von seinem eigenen
absondernd, bleibt Kant eben dadurch immer originell, im Be-
urteilen wie auch im Selbstschaffen. Dass Kant seinen Stand-
punkt gewechselt hat, zeugt nicht von Mangel an Originalität,
sondern im Gegenteil von einer inneren Entwickelung, die manche
Stadien zu durchlaufen hat, bis sie ihren Höhepunkt erreicht.
Daher denn auch die Ironie, dass Herder Kant immer den Vor-
wurf macht, er lege anderen Philosophen Zwang auf, er übe
despotisch seine Macht, er wolle mit seinem alleingültigen System
die Freiheit des Denkens aufheben (Metakritik S. 166, 186,273);
während es in Wirklichkeit Herder ist, der allen betrachteten
Systemen unbewusst die Fesseln seines eigenen Geistes auferlegt.
Der radikale Gegensatz beider Denker liegt schon in ihren
Persönlichkeiten begründet ; während bei Herder das Denken von
dem Gemüt ganz beherrscht wird, trennen sich bei Kant beide
Momente des Geistes, das Denk- und das Gefühlselement, und
keines von ihnen beansprucht eine Herrschaft über das andere.
Aber nicht allein das befangene Gemüt Herders widerspricht
dem strengen Denken Kants, nicht allein der mystische Gefühls-
und Glaubensphilosoph, sondern auch der Naturforscher, der
ernste Historiker, der Künstler Herder empört sich oft, wenn
auch nicht immer mit Grund, gegen Kant. Der Widerspruch der
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— 50 —
beiden Geister umfasst die ganze Richtung ihres Denkens,
dessen Inhalt und Methode; es ist der alte Widerspruch des
abstrakten Gedankens und der sinnlichen Anschauung, oder noch
besser der systematischen Spekulation und des wirkenden realen
Lebens. Weil die Philosophie Herders im vollsten Sinne eine
Philosophie des Lebens war, stand auch in ihrem Mittelpimkt
der Begriff der wirkenden, der thätigen Kraft; den Gedanken
in seiner abstrakten Reinheit, ausser seinem Existenz- und Wu--
kungskreis zu fassen, ihn so von seiner empirischen Anwendung
abzusondern, wie Kant es in seiner transcen dentalen Philosophie
gethan hat, vermochte Herder nicht (Metakritik S. 18, 24, 63 etc.);
ein Gedanke, der nicht zugleich etwas Wirkliches, etwas Reales
darstellt, ist für ihn ein Unsinn („Gott '^ S. 522, ^Met.*^ S. 62, 96);
ein absolutes Nichts kennt und versteht er nicht („Gott" S. 586,
„Metakritik" S. 63). Herder steckt selbst tief im Loben, er hat
dessen Eigenschaften, aber auch dessen Mängel ; selbst im Leben
begriffen, vermag er nicht mit einem Blicke das Ganze zu über-
schauen, sein Auge bleibt an Einzelnheiten haften; wohl kennt
er diese Einzelnheiten genau, aber er verliert ihren Zusammen-
hang, er hat keinen UeberbHck. Wie ganz anders bei Kant, der,
fern vom Leben und seinen Leidenschaften und Irrungen,
von der Höhe seines abstrakten, konsequenten Gedankens, das
ganze Leben auf einmal überblickt, und alle seine Vorgänge
gerecht und unvoreingenommen beurteilt. Innere Neigung und
warme Liebe durchglüht jeden Gedanken Herders; strenge Ge-
rechtigkeit hält sie alle bei Kant im Zusammenhang. Herder
hasst und liebt mit seinem ganzen Herzen ; Kant lässt sich weder
von Hass, noch von Liebe hinreissen ; er urteilt frei imd unpar-
teiisch. Beide Denker streben nach Freiheit: Herder sucht sie
vergebens im Leben, Kant erreicht sie im Gedankenreich.
Aus diesem Grundunterschied können wir uns auch den
Widerspruch der philosophischen Standpunkte erklären ; das reine,
abstrakte Denken Kants ringt sich zur Theorie der reinen Er-
kenntnis durch; das vibrierende Leben Herders formt sich die
Theorie des ewigen, inneren Werdens; der transcendentale und
der dynamische Standpunkt stehen sich ergänzend gegenüber,
der erste in seiner vollkommenen systematischen Einheit, der
zweite in der Form eines wissenschaftlichen Tastens, eines naiven
Realismus.
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Fast auf allen Gebieten des menschlichen Denkens begegnen
sich die Ansichten beider Philosophen, bald sich widersprechend,
bald sich durchkreuzend und gegenseitig ergänzend. Um eine
Uebersicht zu gewinnen, können wir alle diese Berührungspunkte
in vier Hauptgebiete zusammenfassen: 1. Die ^Kritik der reinen
Vernunft*' entspricht der Herder'schen Metaphysik, zugleich aber,
als Elrkenntnislehre, seiner Psychophysiologie ; 2. die „Kritik der
praktischen Vernunft*^ und die „Religion innerhalb den Grenzen
der blossen Vernunft^ entsprechen der Herder'schen Religions-
und Moralphilosophie; 3. die „Kritik der Urteilskraft" Herders
Aesthetik, und endlich 4. Kants geschichtsphilosophische Auf-
sätze der Herder'schen Geschichtsphilosophie und Entwickelungs-
lehre. Auf keinem dieser Gebiete finden Herders Gedanken
einen definitiven, systematischen Abschluss — zerstreut und
weit auseinandergelegen begegnen wir ihnen in allen seinen
Werken.
2. Metaphysik und Erkenntnislehre.
Metaphysik und Erkenntnislehre sind die zwei Probleme,
welche bei Herder wie bei Kant zusammenfliessen ; für Kant ist
<lie Metaphysik nichts anderes, als die Wissenschaft von den
Grenzen der Vernunft, sie ist, mit anderen Worten, der negative
Teil seiner Erkenntnislehre. Bei Herder ist umgekehrt die Er-
kenntnislehre ein Teil der Psychologie, wie diese ein Stück der
Physiologie,^) und so ist die Erkenntnislehre für ihn nichts mehr,
als ein Teil der Weltkenntnis, der Metaphysik. Beide Wissen-
schaften stehen bei jedem der zwei Denker im inneren Zusammen-
hang, aber im entgegengesetzten Verhältnis. Noch im völligen
Vertrauen auf die Macht des menschlichen Wissens, fragt Herder
geradeaus nach der Welt und ihren Gesetzen; Kant trennt das
menschliche Wissen von der realen Wahrheit und stellt vorerst
die Frage nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnis selbst auf.
Erst mit dieser Frage dringt die Wissenschaft, deren historischer
Weg im allmählichen Fortschritt vom Objekt zu dem sie auffassen-
den Subjekt besteht, zur wahren Erkenntnis durch. So treffen
wir in Herder und in Kant, an einem, historischen Punkt, beide
') „Erkennen und Empfinden'*, S. 180; Reisejournal, „Lebensbild'',
H., S.2l5f.
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— 52 —
Enden des Weges der Erkenntnis einander gegenübergestellt.
In dieser verschiedenen Problemstellung unserer Denker können
wir auch die verschiedenen Tendenzen des menschUchen Denkens
überhaupt betrachten, die idealistische^ auf den Gesetzen des
Geistes begründete, und die realistische ^ auf die Beobachtung
der Natur hinweisende; nur müssen wir dabei nicht vergessen^
dass Herders Realismus ziemlich verworren und einseitig ist, da
er die Welt der Erfahrung mit dem sie auffassenden Geiste auf
einen Haufen wirft, ohne sogar die Schwierigkeit des Problems
klar einzusehen; während Kants IdeaUsmus die Welt der Er-
fahrung ebenso wenig, wie die Gesetze des menschlichen Geistes
läugnet, und nur die vollständige Erkenntnis der ersteren für
uns Menschen im RückbUck auf die letzteren verneint; sein
Standpunkt ist nur subjektiv gültig, er ist nicht schaffend, son-
dern nur transcendental idealistisch. Es ist ja sehr wohl möglich
und scheint auch wahrscheinlich zu sein^ dass Herder nur daher
bei seinem naiv-realistischen Standpunkt stehen geblieben ist,
weil es ihm nicht so sehr um die reine Erkenntnis zu thun war,
als um eine Weltanschauung, welche sein Denken ebenso wie
sein Gemüt befriedigen könnte;^) mag aber immerhin Herders
Standpunkt seine Persönlichkeit rein ausdrücken, systematischer
und philosophisch haltbarer wird er dadurch doch nicht.
Um den Grundunterschied beider Systeme in eine kurze
Formel zu bringen, könnten wir sagen, dass dem Einen die Frage
nach der Erkenntnis im Centrum steht und alles andere bewegt
und bedingt, während für den Anderen diese Frage eine Neben-
frage ausmacht und aus dem System selbst entspringt. Wir
haben schon gesehen, wie Herder von seinem dynamischen Stand-
punkt die erkenntnistheoretische Frage dadurch löst, dass er die
Kluft zwischen der Materie und dem Geist, dem Sein und dem
Denken mittelst des Begriffs des ewigen, lebendigen Werdens,
der wirkenden Kraft überbrückt;*^) als einp aufsteigende Stufen-
leiter der lebendigen inneren Kräfte erscheint ihm die ganze
Welt, auf ihrer unteren Hälfte die unbewegliche Natur, auf der
oberen die geistigen Wesen, ungeföhr in der Mitte der die beiden
vermittelnde Reiz, mit dem das Reich der Materie abschhesst
^) Kühneraann, „Herders Persönlichkeil in seiner WMtansohauung"^
S. 199 ff.
*) Gott, S. 451, 460, 546, 564; Metakritik, S. 67.
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~ 53 -
und das lebendige Reich des Geistes anfängt.^) Unter vielen
geistigen Kräften, nicht einmal von den übrigen streng abge-
sondert, steht das menschUche Denken; Reiz, Empfindung,
Denken, Fühlen, Wollen, das alles sind gleiche geistige Kräfte,
und sie alle stehen in einer aufsteigenden Linie, die mit dem
Vermögen der Krystalisation im Steine beginnt und, so weit wir
sie verfolgen können, mit dem menschHchen Denken abschliesst.^)
Sogar der Unterschied zwischen der Kraft des Denkens und der
der Krystalisation ist bloss ein gradueller, nicht die Kräfte selbst,
sondern nur ihre Richtungen sind in beiden Fällen verschieden/';
Damit aber ist die Ansicht auf die Vernunft, als auf eine Natur-
anlage gegeben. ') Gelingt es nun Herder, diese Ansicht durch-
zuführen, sie zur Grundlage einer philosophischen Weltanschauung
zu machen, so ist eben dadi^rch eine einheitliche Lösung des
Welträtsels gegeben; das Ziel der menschhchen Erkenntnis, alles
Gefundene in eine letzte Formel zu bringen, ist erreicht.
Manche Aeusserungen Herders über das geistige Leben des
Menschen sind so entfernt von den damaligen metaphysischen
Ansichten darüber, dass sie uns geradezu durch ihre Aehnlichkeit
mit den Ergebnissen der modernen. Wissenschaft überraschen.
„Meines Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem
Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich," sagt er in „Er-
kennen und Empfinden" (S. 180); und gleich darauf: „Wir
empfinden nur, was unsere Nerven uns geben, darnach und
daraus können wir auch nur denken" (S. 190). Anderes wiederum
erinnert in seinem konsequenten Materialismus an die iPoren-
theorie eines Empedokles „Es ist zwischen unseren Sinnen imd
den Gegenständen ein Medium (Licht, Schall), das so viel von
d^n Gegenständen abreisst, als diese Pforte empfangen kann,
alles übrige aber ihnen lasset" (Erkennen und Empfinden S. 187).
Und doch ist Herder nichts weniger als konsequenter Ma-
terialist oder Sensualist ; das Geistige ist bei ihm vom Materiellen
im Grunde scharf gesondert, wie sehr er auch beides vermitteln
Ideen, S. 47-49, 66-67, 84, 91, 167, 177 ff.; Gott, S. 568; Erkennen
und Empfinden, S. 192 ff.
») Erkennen und Empfinden, S. 192; Ideen, S. 86-91, 103—108, 167.
«) Gott, S. 453; Ideen, S. 97, 102; Humanitätsbriefe, Nr. 116, S. 248;
Erkennen und Empfinden, S, 193.
*) Ideen, S. 115, 122, 129.
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möchte. „Uniäugbar, sagt er z. B. in den „Ideen** (S. 182), dass
der Gedanke, ja die erste Wahrnehmung ganz ein ander Ding
sei, als was ihr der Sinn zuführet.** Kann Herder so schon bei
der Sinnes Wahrnehmung nicht einer gewissen Doppelseitigkeit
des Problems entgehen, so wird die Doppelseitigkeit beim ab-
strakten Denken zu einem förmlichen Cirkelschluss, in welchem
Herder erfolglos hin und her schwankt; einerseits strömt die
Weltkenntnis dem Menschen von aussen zu, andererseits aber
müssen die Gesetze der menschlichen Vernunft, als für die Welt
gültig, in sie hineingelegt werden: „Wir können die Natur nur
nach der Analogie unserer selbst beurteilen" und „unser Erkennen
haben wir nur aus dem Weltall durch Empfinden und Assimi-
lieren,*' so lautet es schon in „Erkennen und Empfinden" ; und
wieder weiter: „der empfindende Mensch fühlt sich in alles,
fühlt alles aus sich heraus" (S. 170). Denselben Kreislauf bedeutet
auch die Stelle der „Ideen" (S. 273 bis 274), welche unsere Er-
kenntnis« und unser ganzes geistiges Leben für von der Tradition
imd den klimatischen Bedingungen und wiederum von einer
genetischen, sich selbst schaffenden Kraft abhängig erklärt; den-
selben Cirkelschluss zeigen .wieder die „Ideen", indem sie in der
Vernunft zugleich etwas Vernommenes, Gelerntes (S. 144) und
andererseits etwas mit der Organisation des Menschen Gegebenes
(S, 116) sehen. Desselben Cirkelschhisses machen sich auch die
„Spinozagespräche" schuldig, indem sie die Existenz der höchsten
Vernunft aus der raenschHchen und zugleich das Wesen der
menschlichen aus dem der höchsten erklären (S. 476, 516), oder
das Denken zum Beweis des Denkbaren, das Denkbare zum
Grunde des Denkens machen. Denselben Cirkelschluss finden wir
endlich auch in der Metakritik ; das 8. Kapitel sieht den Ursprung
unserer allgemeinen Begriffe in den Gesetzen des Weltalls und
zugleich in der Analogie unserer selbst (S. 207), und das 14.
Kapitel betrachtet die Vernunft zugleich als Erkenntnisquello
und als empirisch gegebenen Gegenstand, als wirkende Kraft
(S. 291, 296). Mit einem Worte, die ganze Herder'sche Theorie
des Einen im Vielen oder des Besondern im Allgemeinen*) ist
nichts anderes als ein in sich selbst zurückkehrender Beweis,
als eine verworrene Einheit von Subjekt und Objekt. Nicht um-
') Metakritik, S. 83, 250.
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— 56 —
sonst bildet auf Herders Denkmal eine Schlange, die den Schwanz
im Munde hat, das von ihm selbst gewählte Symbol seiner ganzen
Denkungs weise. ')
Auf zwei Wegen versucht Herder in diesem Cirkelschluss,
dessen er sich wohl bewusst war,^) einen festen Anhaltspunkt
zu erlangen; einmal indem er, sich zum gesunden Menschen-
verstand flüchtend, auf die Kraft hinweist, deren Wirken als
Denken wir in uns, und deren Wirkungen wir zugleich in der
äusseren Welt beobachten;^) und dann, indem er auf eine
Harmonie hinweist, ^) welche zwischen unserer inneren und der
äusseren Welt stattfindet. Aber keine von diesen beiden Theorien
scheint mir philosophisch stichhaltig zu sein: 1. indem Herder
unsere Vernunft den Naturkräften gleichstellt, betrachtet er sie
als Vermögen und nicht als Erkenntnisquelle, als Objekt und
nicht als Subjekt; die erkenntnistheoretische Frage bleibt so
immer ungelöst; 2. was die Harmonie betrifft, so kann sie nur
dann zum Weltprinzip erhoben werden, wenn sie bewiesen wird
und zwar entweder auf dem naturwissenschaftlichen, oder auf
dem subjektiven Wege; im ersten Fall aber ist es eine, wenn
man so sagen kann, physische Harmonie, eine natürliche und
nicht eine sittliche, ethisch freie, wie Herder sie fordert; im
zweiten Fall ist es diejenige subjektive Teleologie, welche Kant
begründet hat ; keine von beiden will aber Herder, und so kommt
es denn, dass Herder in der Harmonie „ein vom Schöpfer ge-
schaffenes Band der Wesen" sieht. •'^) Denselben Kreislauf der
Gedanken, dessen eine Strömung vom Subjekt, die andere vom
Objekt, die eine vom Geist, die andere von der Materie, ausgeht,
werden wir später auch auf anderen Gebieten der Philosophie
Herders finden können ; es ist sein Streben nach einer monistischen
Weltanschauung, welches ihn zu dieser seiner Theorie der
geistigen Kräfte und mit ilir in diesen Kreislauf treibt. Dieser
Fehler seines Denkens kommt vielleicht dort am klarsten zum Vor-
schein, wo er andere Systeme, in welchen er diese Einheitlichkeit
*j Eriunerungen, IL, S. 361.
'^) Erkennea und Empfinden, S. 170.
'') IV. Spinozagespräch, S. 522; Erkennen und Empfinden, S. 171
Metakritik, S. 297.
*) Erkennen und Empfinden, S. 174, 178; Metakritik, S. 297.
^) Erkennen und Empfinden, S. 174.
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- 56 -
vermisst, bekämpft, ohne ihnen selbst ein eigenes konsequenteres
System gegenüberstellen zu können; der Leibniz'schen „Prä-
stabilierten Harmonie" tritt er schon in „Erkennen und Empfinden*^
entgegen (S. 176), dann in „Gott" (S. 461); der Spinozistischeu
Unterscheidung von Ausdehnung und Denken in den „Spinoza-
gesprächen" (S. 451, 467); der Kantischen Transcendentalphilo-
sophie endlich in der „Metakritik"; und überall versucht Herder an
die Stelle des Widerlegten sein System der Kräfte autzustellen. ^)
Es scheint mir das grösste Verdienst Herders zu sein, dass
er gegen die absolute Scheidung des Geistes von der Materie
aufgetreten ist, dass er der einheitlichen Weltanschauung das
Wort geredet und so der modernen Naturwissenschaft den Weg
geebnet hat — fast hundert Jahre bevor sie zu ihrem jetzigen
Ansehen gekommen ist; dass er aber dieser Weltanschauung
keine wissenschaftliche Form zu geben vermochte, kommt, wie
ich es schon früher zu erklären suchte, eben daher, dass seine
dynamische Theorie, als eine Erfahrungswissenschaft, am meisten
dem Gesetz der allmählichen Entwickelung unterworfen ist, und
daher nur nach langer Ausbildung ihre vollständige Form er-
langen kann.
Wenn hervorgehoben wird, -) dass derselbe Fehler des
Denkens, die in sich zurückkehrende Beweisführung, in der
Fichte'schen Ichlehre, in der HegeFschen Entwickelungslehre
imd in der Schelling'schen Naturlehre angetroffen wird, so ist
damit der Widerspruch des Herder'schen Systems keineswegs
l)eseitigt; sondern es wird im Gegenteil dadurch bewiesen, dass
ein dogmatischer Monismus, der nicht mit dem Kriticismus
gewisse Grenzen unserer Erkenntnis zugeben will, unvermeidHch
in eine Doppelströmung gerät, deren beide Ausgangspunkte,
Subjekt und Objekt, bis jetzt keine Philosophie vollständig zu
verbinden vermochte.
Es ist zwar richtig von Pfleiderer bemerkt worden, dass
Herder sich zu Kant so verhält, wie Monismus zu Dualismus;
es ist ebenso richtig, was Pfleiderer weiter bemerkt, Monismus
und nicht Dualismus sei der letzte Zweck der Wissenschaft, zu
welchem unser Jahrhundert uns drängt. Ebenso wahr scheint
') Gott. S. 450, 461; Metakritik, S. 67: Erkennen und Empfinden,
S. 192.
') Hayni, L, S. 675 ff.
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— 57 —
<is mir aber zu sein, dass der Monismus Herders nur ein ver-
worrener und äusserlicher ist, während der scheinbare Dualismus
des vorstellenden Subjekts und des vorstellbaren Objekts bei
Kant in Wirklichkeit auf einen unbedingten, transcendentalen
Monismus hinausläuft. Die Unlösbarkeit des Problems Kants, die
letzte Wurzel unserer Erkenntnis zu finden, von welcher wir
nur die Stämme sehen, ist in dem Wesen des Wissens selbst
begründet; die Grösse Kants besteht eben darin, dass er als
das ewige Los der Wissenschaft das Streben nach der Wahrheit
hinstellte, anstatt, wie die vorkritische Philosophie, ihr ein fass-
bares Ziel zu stellen, dessen Geltung aber nur bedingt bliebe.
Dieses Verhältnis Kants zu seinen Vorgängern drückt er in
seiner Schrift ^Von einem neuerdings erhobenen vornehmen
Ton in der Philosophie*^ am besten selbst aus, indem er die
^Kritische Forschung als herkulische Arbeit der Selbsterkenntnis
der Genialbetrachtung der Neuplatoniker" entgegenstellt.
Während Herder zur klaren Absonderung des Subjekts und
des Objekts noch nicht fortdringt und bei dem unklaren Begriff
der Harmonie stehen bleibt, sondert Kant ein für allemal beide
Enden der erkenntnistheoretischen Frage, und — der späteren Natur-
forschung die Betrachtung des Objekts überlassend — sucht er selbst
das festzustellen, was allein vom Subjekt bestimmt wird. Ob
diese beiden Wege sich jemals treffen werden, ob unser Wissen
jemals zu dem Punkt gelangen wird, in welchem Subjekt und
Objekt ineinsfliessen, diese Frage hat die Zukunft zu beantworten.
Für Kant ist dieses Zusammentreffen, diese Einheit, eine trans-
cendentale Idee, welche unserem Forschen die Richtung, aber
nicht den Endpunkt zeigt. *)
Scheint Herders System vor demjenigen Kants den Vorzug
einer Einheit zu haben, so ist diese Einheit eine bloss künstliche,
erdichtete und, wie wir später sehen werden, eine sogar bloss
äusserliche und scjheinbare. So äussert sich auch ihre Schwäche
') Es ist derselbe Gedanke , den vor Kant schon Lessing ausge-
sprochen hat: »Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen, dass wir aus
dem Gedanken alles herleiten wollen, da doch alles mit samt den Vor-
stellungen von höheren Prinzipien abhängt. Dass wir uns davon nichts
denken können, hebt die Möglichkeit nicht auf." Es ist ganz begreiflich,
wenn Herder diese unerkennbaren Prinzipien in den reellsten BegrifiF des
Daseins umwandelt („Gott^ S. 501—503).
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— 58 —
schon darin, dass das Problem immer in sich selbst zurückkehrt
und einen ewigen Kreis bildet, anstatt, wie bei Kant, im ewigen
Fortschritt zweier parallelen, sich in der Unendlichkeit treffenden
Linien die einheitliche Lösung zu erlangen.
Bei Kant bewegen sich Subjekt und Objekt ohne einander
in ihren unabhängigen Ent Wickelungen zu stören; dass ein Zu-
sammenhang zwischen beiden existiert, ist eine Thatsache, welche
Kant in der zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft"
(S. XXXIX und 275) ausdrückUch bestätigt hat; nur das Wesen
dieser Einheit kennen wir nicht, eben weil sie einelranscendentale
ist. Die Wand, welche Subjekt und Objekt scheidet, ist die Auf-
fassungsweise des ersteren, seine Anschauungsformen, seine Ver-
standesbegriffe und endlich seine Ideen ; so ist die ganze Kantische
Theorie der Erscheinung und des Dinges an sich, so sind seine
transcendentale Aesthetik, Analytik und Dialektik, durch seine
Sonderung des Subjektes und Objektes gegeben ; Kants Antwort
auf die alte erkenntnistheoretische Frage war — empirische Schei-
dung von Subjekt und Objekt, ja sogar ein gewisser Verzicht auf
vollständige Erkenntnis des fetzteren ; aber diese Sonderung zum Be-
huf einer höheren, transcendentalen Einheit. Vor dieser empirischen
Sonderung aber erschrack Herder und er übersah die höhere Einheit.
Oft sehen wir Herder in der Kreisbewegung zwischen Sub-
jekt und Objekt dem Kantischen Subjektivismus ganz nahe kom-
men, die entgegengesetzte Strömung reisst ihn aber bald wieder fort;
da erkennt Herder Zeit und Raum für blosse Grenzen der be-
schränkten menschlichen Erkenntnis( „Spinozagespräche", S. 444,
457, 489, 508) ; da gesteht er, dass die absolute Wahrheit nicht
in der Erfahrung, sondern nur in unserer Vernunft anzutreffen
sei („Gott", S. 518), da lässt er zu, dass der einzige Beweis Gottes
unser Bedürfnis, die höchste Vernunft vorzustellen, sei („Christliche
Schriften", S. 156); da endlich spricht er von dem ^mir Schönen"
(^Kalligone^, S. 104, 207); nur noch ein Schritt, und die Schranken
unserer Vernunft sind festgestellt, die Grundlage des Kriticismus
ist da; vor diesem letzten Schritt aber schrickt Herder zurück.
Vielleicht würde ein reines, unbefangenes Streben nach der Er-
kenntnis von diesen Resultaten nicht wieder zur Theorie der
objektiven Zeit- und Raumvorstellungen, der absoluten Erkenntnis
des Seienden, des höchst realen Gottes, des Naturschönen zurück-
kehren. Dass der grösste vorkritische Gegner Kants zugleich
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— 59 —
selbst nur einen Schritt vom Kritizismus entfernt war, ist der
schlagendste Beweis, wie sehr die Zeit und die Wissenschaft für
denselben reif waren.
Macht nun Herder diesen erlösenden Schritt nicht mit, so
verliert die ganze kritische Theorie für ihn jeden Sinn ; denn
was sind die Kantische Aesthetik, seine Analytik und seine
Dialektik anderes, als eben die verschiedenen Abstufungen dieser
Grenze zwischen Subjekt und Objekt? Was bleibt von ihnen allen
übrig, wenn man ihre Petitio principii verwirft, dass es etwas
geben könne, was die Erfahrung uns nicht sagt und was doch
für uns gültig ist? Für Herder ist ja die Erfahrung der alleinige
Ausgangspunkt; dass er daher keine transcendentale Logik kennt
und ihr nur eine „Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte"
(„Metakritik'^, S. 41) entgegenstellen kann ist, leicht verständlich;
keiner von den bahnbrechenden Teilen der Kritik hat daher für
Herder diejenige Bedeutung, welche er für ihn haben würde,
wenn er sich seines vorkritischen Standpunktes entledigen könnte.
In seiner ganzen Lehre finden wir nichts, was den Kantischen
Raum- und Zeitanschauungen, seinen Kategorien, seinen Ideen,
dem Wesen nach und nicht nur der äusseren Form gemäss (wie es
in der „Metakritik'^ geschieht), gegenübergestellt werden könnte ;
mit anderen Worten : für die Erkenntnislehre in dem Sinne, wie
sie seit Kant existiert, hat Herder nichts gethan ; und was seine
Metaphysik betrifft, so bleibt sie trotz ihres scheinbaren Monis-
mus, den Herder nicht müde wird, dem Kantischen Dualismus ent-
gegenzustellen (so „Metakritik", S. 314), stark dogmatisch gefärbt;
sogar seine Behauptung, dass alle Seelenvermögen eine Einheit
bilden, dass „man mit Namen keine Fächer in unserer Seele
zimmert,^ bedeutet nur scheinbar einen Fortschritt Kant gegen-
über; schon abgesehen davon, dass es Herder selbst bei weitem
nicht gelingt, diese Einheit konsequent durchzuführen, so will
ja auch Kant die letzte Einheit der aus „einer gemeinsamen
Wurzel" entspringenden Seelenvermögeii nicht läugnen und ver-
neint nur ihre Erkennbarkeit.
Kant gegenübergestellt, bedeutet Herder das zurückgebliebene
naiv-realistische Denken, während Kant bereits auf einem fort-
geschrittenen Standpunkt steht. Aber giebt es denn wirklicjh
keinen Herder'schen Gedanken, welcher durch Kants Fortschritt
nicht zur Vergangenheit gemacht worden wäre, dessen Bedeu-
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— 60 —
tung auch in unserem Jahrhundert fortbestehen könnte? Wolil
giebt es einen und diesem einen hat Herder es zu danken, dass
sein Name an der Seite des Kaniischen dankbar wiederholt wird;
es ist sein Grundgedanke des Werdens, der Entwickelung. Wo
dieser rein ausgeprägt wurde — in seiner Metaphysik oder
seiner Erkenntnislehre — dort erhielt das System eine Festig-
keit und Dauerhaftigkeit, welche den übrigen Teilen fehlen:
die Idee der ewig wirkenden Kräfte, des Vergehens und Ent-
stehens, der klimatischen Bedingtheit aller Wesen, der natur-
gemässen Entwickelung, des Einflusses der Tradition und der
Sprache auf den Menschen, sie alle, die schönen Gedanken der
^Ideen" wirken immer fort und sie sind es auch, welche die
„Ideen" zum verbreitetsten Werke Herders gemacht haben. Nur
noch ein Schritt von seiner Entwickelungslehre zu grösseren
Konsequenzen, nur noch eine letzte Läuterung seines Werde-
begriffs von dem hergebrachten metaphysischen Begriff des Seins,
und wir haben die Elemente der neueren Naturlehre, der Biologie,
wie sie Darwin geschaffen hat; da kommt aber bei Herder die
Zweckmässigkeitsidee hinein, da kommt der Begriff des Ideals,
als einer äusseren Ursache, eine teleologische Betrachtung der
Welt mit dem Gottesbegriff in ihrer Grundlage; die freie For-
schung wird von den ihr angelegten Fesseln des von aussen
hineingreifenden Ideals gehemmt : der Vorläufer Darwins verspeni
sich selbst den Weg zur Erkenntnis. So in der Naturwissenschaft,
der Herder'schen Metaphysik, so auch in der Psychophysiologie,
der Herder'schen Erkenntnislehre. Mit sicheren Schritten durch-
misst er in der Schrift „Vom Erkennen und Empfinden*^ das
Feld der Anfänge der menschlichen Erkenntnis ; aber nun findet
er in allen diesen Erscheinungen ein inneres Band zwischen der
äusseren und inneren Welt, „ein geistiges Band, welches der
Schöpfer geknüpft haben muss, dass gewisse Dinge dem empfin-
denden Teil unseres Organismus ähnlich, andere widrig sind". ^)
Mag auch dabei das gefundene Band, Harmonie^ eher teleologisch
als theologisch khngen, der freie Gang der Gedanken ist dennoch
abgeschnitten ; das alte Streben nach dem Absoluten zerschneidet
wiederum den Faden der Entwickelung.
Wir sehen, je reiner der Werdensgedanke sich bei Herder
ausprägt, desto folgerichtiger ist er. Widerspricht er dabei
*) Erkennen und Empfinden, S. 174; ühnlich auch Ideen, S. 367.
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— 61 -
Kant, oder beweist er damit dessen Inkonsequenz? Nein:
denn seine Naturwissenschaft, wie auch seine Physiologie
betreffen nur die Welt, wie wir sie kennen und sie erforschen
können, oder, mit Kants Worten zu reden, die Erscheinungs-
welt; dass diese aber in gewissen Grenzen erforscht werden
kann und muss, hat auch Kant ausdrücklich behauptet. Forscht
Herder nach den Gesetzen des Denkens, findet er sie m der
physiologischen Thätigkeit unserer Seelen vermögen, so thut er
ja damit nur dasjenige, was Kant unter dem Namen der an-
gewandten Logik forderte; die letztere wird ja von Kant gar
nicht geläugnet, nur stellt er ihr seine reine Logik an die Seite.
Will ferner Herder die Gesetze der Natur beqbachten, so er-
weitert er nur unsere Erkenntnis a posteriori^ welche wiederum
dem Kantischen a priori gar nicht widerspricht, sondern das-
selbe nur ergänzt. Will aber Herder die physiologisch nach-
gewiesenen Gesetze unseres Denkens zu Gesetzen des Weltalls
machen, oder die Gesetze des Alls durch die beschränkten Be-
griffe unseres menschlich fehlbaren Verstandes bedingen, ^) so
verfehlt er die Wahrheit, und genügt weder den Forderungen
Kants, noch denjenigen der strengen modernen Naturwissenschaft.
So sehen wir, dass derjenige Teil des Herderschen Systems,
welcher an sich berechtigt ist, Kant im Grund ergänzt und ver-
vollständigt ; der Kantische Transcendentalismus, als Methode
der Forschung, und der Herdersche Begriff des Werdens, als ihr
Inhalt, — nur reiner, wissenschaftlicher ausgedrückt — sind die
beiden Wegweiser, an welche sich das XIX. Jahrhundert zu
halten hat und welche sich gegenseitig nicht widersprechen,
sondern im Gegenteil ergänzen. Derjenige Teil des Herderschen
Systems aber, der den Kern zum Verfall in sich selbst trägt,
der in sich selbst morsch ist, stellt sich dem Kantianismus ent-
gegen, um in dieser Gegenüberstellung sich als völlig unstich-
haltig zu erweisen : es ist das Element der Ruhe in seiner Ent-
wickelungslehre, es ist die Herbeiziehung und Hypostasierung
des Ideals dort, wo es sich nur um die vergängliche Wirklich-
keit handeln sollte — es ist der Gottesbegriff und der Gedanke
der äusseren Zwecke und Ursachen in seiner Metaphysik, der
Begriff eines bestimmten, vom Schöpfer geschaffenen Bandes
zwischen Materie und Geist in seiner Erkenntnislehre.
*) Herders ganze Theorie des Eines in Vielem.
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— 62 -
Fragen wir uns nach den Verdiensten beider Philosophen
um die Erkenntnislehre, so ist es klar, dass dieselbe, als die
Wissenschaft von der Beschaifenheit, dem Umfang und den Grenzen
der menschlichen Erkenntnis eigentlich nur von Kant begründet
wird; was Herder einzig gebührt, ist der Ruhm, ihre physiologischen
Grundlagen ins Auge gefasst zu haben; das was er sucht und
in seiner Logik als „Physiologie der Erkenntniskräfte" zu finden
glaubt, sind nicht Gesetze der Erkenntnis, sondern Gesetze des
Denkens. Eben deswegen aber hört seine Logik auf, reine Er-
kenntnislehre zu sein ; sie ist vielmehr bloss eine auf Erfahrungs-
thatsachen gebaute Wissenschaft; sie ist nicht mehr eine phi-
losophische Begründung der Wissenschaften überhaupt, sondern
nur eine unter mehreren anderen. Was aber das Verdienst Herders
noch mehr herabsetzt, ist die Thatsache, dass bei ihm auch diese
Erfahrungswissenschaft völlig der philosophischen Schärfe und
Konsequenz entbehrt, die eine solche haben müsste, um sich
mit Recht an die Seite des Kritizismus stellen zu können. Mag
dieses die moderne inhaltliche Logik und Erkenntnislehre ver-
suchen, — Herdern konnte dieser Versuch nimmermehr gelingen,
schon weil er nicht, wie die letztere, sich auf die Fortschritte
Kants stützen wollte, noch konnte. Bedingt die Herdersche
naiv-realistische Erkenntnistheorie eine metaphysische Logik, so
wie sie in Hegel ihren Höhepunkt hat, so ist Kant der Begründer
der subjektivistisch'formalen Logik. Wenn die Ansichten beider
in der modernen Wissenschaft vertreten sind (die ganze ob-
jektivistische Richtung der Logik bei Scheiermacher, Trendlen-
burg, Beneke, Ueberweg etc. könnte Herder zu ihren Vor-
läufern zählen), so bleibt doch zu bedenken, dass Kant allein der
systematische Begründer und Vertreter seiner Theorie war,
während Herder nur als ein sehr unsystematischer und in-
konsequenter Vorläufer späterer Philosophen dasteht.
Stellen wir Herders und Kants Gedanken, so wie sie sich zeit-
lich gegenüberstanden, entgegen, so tritt Herders Bedeutung vor
derjenigen Kants vollständig zurück; sehen wir aber von der zeit-
lichen Bedingtheit und dem individuell-unsystematischen Charakter
des Herder'schen Philosophierens ab, so finden wir in seinen
wahren Aeusserungen die Keime eines Systems, welches sich
gegenwärtig in seiner vollständigen Ausarbeitung an die Seite
des Kantischen stellt; freiUch brauchte es zu dieser vollständigen
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- 63 —
Ausarbeitung eines grossen Zeitraums, und, was für unsere
Frage noch wichtiger ist, die Nachfolger Herders raussten, ehe
sie sich mit seinem Gegner messen konnten, sich an der Phi*
losophie des letzteren stärken. Keiner von den neuem Logikern,
die Kants philosophische Grundlagen der Logik zu ergänzen
oder zu widerlegen beanspruchen, läugnet zugleich eine gewisse
Abhängigkeit von Kant, keiner seiner Gegner spricht dieser
philosophischen Reform ihre bahnbrechende Bedeutung ab,
mag er nun im Einzelnen mit Kant übereinstimmen oder
nicht.
Aehnlich wie mit der Logik verhält es sich auch mit der
Herderschen Metaphysik : weist sie mit ihrer monistischen Grund-
anschauung, mit ihrer bloss quantitativen Verschiedenheit des
Geistes und der Materie, mit ihrer Annahme einer Stufenleiter
der Wesen, direkt auf die späteren Systeme eines Schelling
(Naturphilosophie), eines Hegel (Dialektik), eines Trendlenburg
und eines Ueberweg hin, so muss man nicht vergessen, dass
diese alle zu ihrem Vorläufer Kant hatten, auf dessen philo-
sophischer Reform sie alle fussen. Man könnte auch Herders
Theorie der Stufenleiter der Wesen und die durch dieselbe be-
gründete Ansicht von der inneren Verwandtschaft des Erkenn-
baren und Erkennenden, als diejenige Theorie bezeichnen, welche
sich in der neueren Zeit der Kantischen prinzipiellen Scheidung
von Sein und Denken entgegenstellt; es ist ja der Standpunkt,
von welchem Ueberweg Kant zu widerlegen sucht, es ist zu-
gleich der Punkt, in welchem der Kantianer Herbart sich von
Kant trennt; aber wiederum muss man dabei bedenken,
dass Ueberweg sowohl wie Herbart auf den Schultern Kants
stehen, und dass andererseits eine innere Harmonie der Welt
auch von Kant nicht geläugnet wurde, nur dass er, auf einen
fheoretischen Beweis derselben verzichtend, sich mit einer sub-
jektivistischen Teleologie begnügte, deren Ursprung nicht die
objektive Zweckmässigkeit der Natur, sondern nur das praktische
Bedürfnis des Menschen nach ihr bildet.
Mit dieser Frage werden wir uns noch später (IV. Kapitel)
beschäftigen müssen; jetzt aber noch einige Worte über die
Methode unserer Philosophen. Beim ersten Anblick scheint es,
als wende Kant ausschliesslich die Deduktion und Herder die
Induktion an; sehen wir uns aber das Verhältnis näher an, so
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— 64 —
bemerken wir, dass Kant mit seiner Begründung der synthetisch-
apriorischen Schlussart die empirische, sei es nun analytische
oder synthetisch-induktive, gar nicht verneint; wenn Herder da-
her seine empirische Beweisführung der Kantischen apriorischen
entgegenstellt, so übersieht er gänzlich, dass er damit Kant
nicht widerspricht, sondern im Gegenteil ihn nur ergänzt; der
ganze Unterschied besteht hier, wie auch auf anderen Gebieten
darin, dass beide Methoden bei Herder ziemlich verworren bei
einander stehen, während Kant sie beide auseinanderhält,,
imd den Weg der einen — der Deduktion durch seine „Kritik
der reinen Vernunft" begründend, die Entwickelung der anderen
— der späteren Erfahrungswissenschaft überlässt.
III. Religions- und Moralphilosophie.
Wie Metaphysik und Erkenntnislehre, so haben auch Re-
ligions- und Moralphilosophie bei beiden Philosophen eine ent-
gegengesetzte, wenn auch eng miteinander verbundene Stellung ;
Kants Glaube ist ein Vernunftglaube, er erkennt einen Gott an,
weil söine praktische Vernunft es fordert, — seine Religions-
philosophie ist auf einem praktischen Bedürfnis begründet, si^
existiert um der Moral willen. Ganz entgegengesetzt verhalten
sich beide Fragen bei Herder : ihm ist Gott die höchste Realität,
die Gotteslehre daher die Lehre vom höchst realen Wesen, der
höchsten Vernunft Güte und Allmacht;^) im Vergleich mit ihr
ist die Moral nur die Lehre von den Gesetzen der endüchen,
beschränkten Güte, von der menschlichen Tugend. Nach Kant
sollen wir an Gott glauben, weil wir in uns die Idee der voll-
kommenen Menschheit und ihres Endzwecks, den Gedanken des
höchsten Gutes tragen. Nach Herder sollen wir sittlich sein,
weil wir Abbilder der höchsten Sittlichkeit sind. Auch hier wie
überall ein ganz verschiedener Ausgangspunkt. 2)
Noch mehr Verschiedenheit, wenn wir die Stellung der
lieligionsphilosophie in dem Ganzen beider Systeme betrachten :
bei Herder kommt alles aus Gott, und alles kehrt zu ihm zurück;
ebenso unvermittelt, wie die Welt und der freie menschliche
^) Gott, VI. Gesprüch: Metakritik, S. 232 ff. ; Erkennen und Empfinden,
S. 202 ff
') Ideen, Bd. XIII, S. 154.
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— 65 —
Geist, steht bei ihm neben jenen auch Gott — objektive Wahr-
heit, wie sie beide, eine dreiteilige Einheit, deren inneren
Widerspruch Herder entweder nicht einsieht, oder nicht einsehen
möchte; so bildet auch die Gotteslehre bei ihm einen Teil der
Metaphysik; er scheidet sie noch nicht aus, um ihr eiiie ge-
sonderte Stellung anzuweisen. Auch darin macht Kant den ent-
scheidenden Schritt ; wie er Subjekt und Objekt geschieden hat,
so scheidet er jetzt innerhalb des ersteren die theoretische Er-
kenntnis vom praktischen Bedürfnis und erlangt so auf dem
Wege der praktischen Postulate seinen notwendigen, aber zu-
gleich von der Naturlehre wie auch von der menschUchen
Preiheitslehre unabhängigen Gott. Bei Herder ist so die Gottes-
lehre die erste, bei Kant die letzte Frage.
In der Metaphysik und der Erkenntnislehre war es der
Streit zweier Standpunkte, des Rationalismus und des Empirismus,
an welchen unsere Philosophen angeknüpft haben. Ein Zufall
giebt uns Gelegenheit, auch ihre religionsphilosophischen Ansichten
mit einer ähnlichen Streitfrage in Zusammenhang zu bringen ; es
ist der berühmte Mendelssohn-Jacobische Spinozastreit, welcher
Kant und Herder zur endgültigen Läuterung und klaren Aus-
einanderlegung ihrer Ueberzeugungen Anlass giebt. Während der
Aufklärungsphilosoph Mendelssohn, vom rationalistischen Stand-
punkt ausgehend, Spinoza gegenüber Beweise eines theistischen
Gattes zu geben sucht, stimmt sein Gegner mit Spinoza in der Un-
demonstrierbarkeit Gottes überein, um sich dann ganz dem Ge-
fühlsglauben hinzugeben; so treten in diesem Streit Glauben
imd Verstand gegenüber, wie sich im erkenntnistheoretischen
Streit der menschliche Geist und die Welt der Erfahrung
entgegengetreten sind.
Wir sahen, wie unbestimmt und verworren Herders Ansichten
in der erkenntnistheoretischen Frage waren und wie sie zwischen
dem Rationalismus und dem Empirismus schwankten. Seine
Spinozagespräche (IV.) von 1787 zeigen uns, dass er sich mit der
religiösen Frage nicht besser abfand; beide Prinzipien des Glaubens
und der theoretischen Erkenntnis sind in der Religion verbunden
und nach seiner Meinung gleich berechtigt; recht schwer fallt
eö ihm, sich für eine der streitenden Parteien zu entschliessen ;
anstatt *sich zu einer ausgesprochenen Ansicht zu bekennen,
modelt er die Begriffe beider nach seiner Weise um; Jacobis
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Glaubensprinzip wird für ihn zur „Enthüllung des wahren Daseins
Gottes durch Offenbarung" und zur „unmittelbaren Erkenntnis
dessen, was da ist und wie es da ist*' (Gott, S. 611); andererseits
aber sieht er in den Mendelssohnschen physiko-teleologischen Be-
weisen nichts mehr, als den blossen Wunsch, die Undemonstrier-
barkeit eines realen Gt)ttes zu bekämpfen; es ist eine ziemlich
ungeschickte Ausflucht, wenn Herder, anstatt sich offen auf eine
bestimmte Sjite zu schlagen und die andere abzuweisen, sich
zugleich beiden gesellt, und die Waffen beider gegen „die
Vemünftelei, die leeren Phantome einer müssig spekulierenden
Einbildungskraft" kehrt (S. 613). Dieser neue Gegner in der
religionsphilosophischen Frage war offenbar Kant ; er soll an der
Verwirrung Herderscher Gedanken die Schuld tragen; hier wie
immer tritt Herders Widerspruch gegen Kant dort am stärksten
hervor, wo seine eigenen Gedanken nicht stichhaltig sind.
Aber noch früher als Herder nahm Kant selbst eine bestimmte
Stellung zu diesem Streite ein und zwar in den zwei 1786 erschie-
nenen Schriften „Bemerkungen zu Ludwig Jacobs Prüfung der
Mendelssohnschen Morgenstunden" und „Was heisst sich im Den-
ken orientieren*^. Wie früher den Streit zwischen Sinnlichkeit und
Verstand, so schlichtet Kant jetzt den Streit zwischen Glauben
und Erkenntnis, indem er ihre Grenzen scharf bezeichnet: der
erste ist praktisch, die zweite theoretisch; der erste ist daher
nur subjektiv gültig, und darf nicht den Anspruch auf objektive
Wahrheit, wie die zweite, erheben ; was speziell die Gottesfrage
betrifft, so muss sich hier die theoretische Vernunft jedes Urteils
enthalten; entscheiden kann darin nur das praktische Bedürfnis.
So bildet Kants Vemunfbglaube die Lösung der religiösen Frage,
wie Kants subjektiver Idealismus die Lösung der erkenntnis-
theoretischen bildete. Wiederum besteht hier die Reform Kants
in der Scheidung der bisherigen Standpunkte, in der Anerkennung
beider, wenn auch nur in gewissen Grenzen, in der Hinstellung
der Einheit beider zum Endzweck der Menschheit. Denn als
eine solche Einheit der sinnlichen Glückseligkeit, von welcher
der Popularphilosoph ausgeht, und der höchsten Pflichterfüllung,
die Jacobi zum Prinzip nimmt, erscheint Kant sein Gott, der
Verheisser des moralischen und zugleich eudämonistischen
höchsten Gutes. Bezeichnend ist es für Kant, dass er sich mehr
auf die Seite der Vernunftbeweise Mendelssohns, als auf die des
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— 67 —
Gefühlsglaubens Jacobis neigte, dass er auch darin die Gefühle
den Gedanken untergeordnet wissen wollte, ebenso wie es für
Herder höchst charakteristisch ist, dass er in diesem Streit des
Gedankens und des Gefühls sich gar nicht entscheiden konnte,
dass er dort am meisten Eklektiker war, wo es sich um die ge-
nauere Bestimmung beider in ihm streitenden Elemente handelte.
Eine noch bedenklichere Stellung, als zwischen Jacobi
und Mendelssohn, nimmt Herder zwischen Spinoza und Leibniz
ein ; Jacobi und Mendelssohn kamen doch darin überein, dass sie
beide den Glauben an einen persönlichen Gott billigten; ganz
entgegengesetzt waren in diesem Punkt die Ansichten Spinozas
und Leibnizens: während der letztere Gott als die höchste In-
dividualität anerkennt, kennt Spinoza nur einen pantheistischen
Gott, als „natura naturans" gefasst ; aber wie gross auch dieser
Abstand sein mag, so verhindert er Herder doch nicht, beide
Ansichten zu versöhnen und seinem eigenen Standpunkt zu
assimilieren. Er denkt den Sinn der spinozistischen Gottes-
auffassung ganz auszuschöpfen, wenn er gegen „Gott, als das
müssige Wesen, das ausserhalb der Welt sitzt und sich selbst
beschaut, so wie es sich Ewigkeiten hindurch beschaute, ehe
es mit dem Plan der Welt fertig ward", protestiert; einen
solchen Gott aber findet er höchstens im indischen Jagrenat,
und keineswegs im kirchUch-christlichen Gott („Gott", S. 495
bis 496); er nimmt keinen Anstand, diesen christlichen
Gott mit dem spinozistischen übereinstimmend zu finden,
oder seine „Religion der Liebe, der höchsten Vernunft, des
reinsten götthchsten WoUens" zugleich und im gleichen Grade
bei dem heiligen Johannes und bei Spinoza zu finden (Erkennen
und Empfinden, S. 202). Der Gott, welchem Herder huldigt,
und welchen er in der „Ethik" zu finden glaubt, ist das aller-
reellste Wesen („Gott", S. 462, 536), „die Urkraft aller Kräfte, die
Seele aller Seelen (S. 463), die „höchste Intelligenz, innere Voll-
kommenheit, Güte und Allmacht" (S. 457, 469, 471), die „weiseste
Notwendigkeil" (S. 472, 479, 480, 481, 536) und die „höhere
Adrastea*^ (S. 473). Dass von dieser Auffassung nur noch ein
Schritt zum persönlichen Gott Leibnizens ist, dass die innere
Notwendigkeit des so interpretierten Spinoza eng an die mora-
lische Notwendigkeit seines Antipoden grenzt („Gott", S.485), dass
die höchste Intelligenz in keinem grossen Abstand von der
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J
— 68 —
höchsten Monade sich befindet, ist klar; man sieht auch gleich,
dass es Herder nur dadurch gelingt, diesen Komproniiss zu finden,
dass er die abstrakte Substanz mit Leben erfüllt, und eine sitt-
liche Zweckrnässigkeit in den streng mathematischen F^antheismus
hineininterpretiert. So wird dieser zu einer Art von Theodicee,
aber eben dadurch wird seine strenge Wissenschaftlichkeit auf-
gehoben. Die HerJersche Adrastea soll die zwei grundverschie-
denen Grundlagen der Religionsphilosophie zu einer Einheit
machen; es gelingt ihr aber weder den strengen Pantheismus
Spinozas mit der prästabilierten Harmonie Leibnizens zu ver*
söhnen, noch sie beide zu verdrängen und sich an ihren Platz
zu stellen; in einer zweideutigen Lage zwischen beiden schwan-
kend, bleibt sie ein misslungener Versuch, die mathematisch
strenge Religion des Verstandes mit dem optimistischen Glauben
des Gemüts zu versöhnen. Die Frage bleibt bei Herder un-
gelöst; bei Spinoza ist der Glaube an Gott ein pantheistischer,
bei Leibniz ist es ein Gefühlsglaube, bei Herder beides zugleich.
Wie geht nun Kant dabei zu Werke? Weder die Natur-
wissenschaft noch die Moral können Gott beweisen ; er ist über-
haupt undemonstrierbar ; und doch sollen wir an ihn glauben^
weil es unser praktisches Bedürfnis fordert; die theoretische
Vernunft kennt dieses Bedürfnis nicht und sie hat auch nichts
mit der Rehgion zu thun. So scheidet Kant auch hier die Frage
aus; er giebt der Religionsphilosophie eine gesonderte Stellung ;
er sondert sie von der Metaphysik ebenso wie von der Naturlehre;
dadurch aber wird für die Religionslehre eine Theodicee ebenso
entbehrlich, wie auch eine pantheistische Naturbetrachtung; die
Versöhnung beider im Herderschen System der weisesten Not-
wendigkeit wird umgangen. Wir sehen, dass imsere Philosophen
sich auf diesem Gebiet ähnlich verhalten, wie in der Erkenntnis-
lehre und Metaphysik : an die Stelle der Herderschen- seichten
Vermittelung bisheriger widersprechender Ansichten, tritt bei
Kant die erlösende Sonderung zum Behuf einer höheren Einheit.
Nur dass hier das Herdersche Gemütselement mehr in Anspruch
genommen wird, und dass daher dessen Druck fühlbarer ist:
an seinem Gotte hängt Herder mit seinem ganzen Wesen (und
nicht wie an seiner Psychophysiologie bloss mit dem forschenden
Verstände), in Gott findet er die Lösung aller seiner Fragen, in
(rott gelingt es ihm, mit Spinozas Hülfe, die beiden Tendenzen
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— 69 —
seines Wesens, die naturforschende und die sittliche, zu ver-
einigen, in Gott findet er sein lange angestrebtes Ideal, in ihm
sieht er den Anfang und das Ende jeder Entwickelung, in ihm
äussert sich die ganze Persönlichkeit Herders. In keiner Frage
finden wir bei Herder soviel äussere ITebereinstimraung, aber
zugleich inneren Widerspruch mit Kant, wie hier. Auf beiden
Enden seiner Religionsphilosophie nähert er sich dem Vernunft-
kritiker: wenn Herder behauptet, dass die Gesetze der geregelten
Notwendigkeit die höchsten und die einfachsten sind („Gott" 561),
dass der Naturforscher mehr zur Ehre Gottes thut, als die Ver-
fasser der vielen Theodiceen („Gott" 490); so sagt er ja fast das-
selbe was Kant: „wir haben kein Bedürfnis geheime Kräfte,
geistige Naturwesen, anzunehmen, denn wir liaben mit der Er-
forschung der empirischen Ursachen genug zu thun.''^)
Noch grösser ist die Uebereinstimmung auf der andern
Seite: denn wenn Herder sich auf das Gemüt beruft, welches
ihn zum Glauben zwingt, 2) so gründet sich Kant auf das Po-
stulat der praktischen Vernunft ; bei beiden sind es praktische
und nicht theoretische Motive. Aber indem Herder beide Mo-
tive nicht nur in sich vereint, sondern auch das eine durch
das andere beeinflussen lässt, gerät er in eine Inkonsequenz,
die Kant vermeidet: unerwartet wird ihm der Gott des Ge-
mütes zum Gott des Universums, die Schöpfung des mensch-
lichen Bedürfnisses zur höchsten ReaUtät; das Ideal der Sitt-
lichkeit, welches er in sich fühlt, wird ihm zum Allgott der
Natur. Auf einmal durchbricht so dieser letzte Schritt das an
sich konsequente System der Herderschen Religionsphilosophie;
aber dieser Schritt ist kein zufälliger; er macht das Wesen der
Herderschen Theorie aus; er ist nicht willkürlich, sondern in
seiner ganzen Persönlichkeit bedingt. „Der wissenschaftliche
Forscher, sagt Herder in den „Christlichen Schriften** (XX, S. 15G),
thut wohl, wenn er allenthalben nur Natur, d. i. Kräfte, Ord-
nung, den Lauf und die Regel der Dinge aufsucht, ohne ihnen
dort und da willkürlich kleinfügige Absichten unterzu-
J schieben. . .'^ „Dem Gemüt des Menschen indes genügt das
; Wort Natur nicht, weil es ihm zu viel und zu wenig sagt. . .**
# „Verstand war der Bildner der Dinge — spricht das menschliche
*) Kritik der praktischen Vernunft.
') Christliche Schriften. Bd. XX, 163 ff., 162 ff.
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— 70 —
Gemüt, das Gemüt anerkennet in der Schöpfung. . , Es nennt
das die Schöpfung durchdringende Wesen — den Urwirker, den
allmächtigen Schöpfer.' Dass Herder selbst diese doppelte
Tendenz der menschlichen Seele so gut einsah, zeigt seine
Vielseitigkeit; dass er aber in sich selbst dieselbe nicht zu
scheiden vermochte und keine Macht über sie hatte, erklärt
die unsysteniatische Methode seines Denkens und den unphilo-
söphischen Charakter seiner Theorie.
Dadurch dass Herder durch seinen Gott beiden Bedürfnissen
der menschlichen Seele, dem praktischen und dem theoretischen,
genügen wollte, geriet er in einen ähnlichen Gedanken-
cirkel, wie wir ihn in seiner Erkenntnislehre gefunden haben:
aus der Betrachtung der menschHchen Güte und Vernunft
schliesst er auf einen Gott (auch Kant kommt zu seinem Gott
auf subjektivem Wege, auch er gründet sich dabei auf das
menschliche Ich, auf die praktische Vernunft); nun will aber
Herder durch diesen subjektiv-gültigen Gott zugleich seinen Er-
kenntnisdrang befriedigen, und so verwandelt sich dieses Ideal
in ein reales Wesen, ^) welches die ganze Natur und mit ihr auch
das menschliche Ich in sich einschliesst ; aus der Natur und dem
menschlichen Geist steigt Herder zu Gott empor, und von diesem
wiederum zur Natur und zum Menschen zurück. Hier ist wohl
die Inkonsequenz Herders grösser als auf allen andern Gebieten ;
das Gemüt stellt hier die grössten Forderungen auf; ihm genügt
nicht mehr das ihm angewiesene Gebiet des Glaubens; es will
auch das Wissen regulieren und beherrschen. Es bedurfte des
ganzen Ernstes und der Strenge der Kantischen praktischen
Vernunft, um unparteiisch die Rechte und Grenzen des Gemütes
zu bestimmen und dem Gedanken das Recht der freien Forschung
unbeschädigt zu lassen. Derjenige, welcher, wie Kant, diesen
Ernst des sittlichen Bewusstseins besitzt, welcher keine Härte
der Meinung fürchtet, wenn sie nur der Wahrheit entspricht;
welcher sich vollständig beherrscht und seinem Gedanken nicht
zuerst den Weg im Gemüt zu bahnen braucht; welcher vor
keiner noch so strengen Consequenz zurückschrickt; welcher
frei und unbefangen nach der ewigen Wahrheit strebt — der wird
') Erkennen und Empfinden, S. 202; Gott, S. 440, 442; Metakritik,
S. 210, 233, 259 ff ; Ideen, Vorrede, S. 7, 9.
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— 71 —
die Herdersche Religion zu unklar und zu sehr den Schwächen
des gebrechlichen Menschen angepasst finden. Wer aber selbst
diese Schwächen kennt, wer selbst gebrechlich ist, wer sich zu
sehr vom Gemüt beherrschen lässt und seine Fesseln trägt, den
wird dafür die sanfte, anschauliche Religion Herders mehr an-
sprechen, als die harte, rigoristische Vernunftreligion Kants;
dazu wird auch ihr ästhetischer Charakter beitragen, ein Zug,
den Pfleiderer mit besonderem Nachdruck hervorhebt.
Am reinsten und vollkommensten scheint mir die Religion
Herders dort zu sein, wo sie sich zum BegrifiF der höchsten Hu-
manität aufläutert ; und hier stimmt sie auch mit dem Kantischen
Moralglauben am meisten überein; wo sie aber mit der Meta-
physik und der Naturlehre verbunden wird, da verliert sie ihre
Lauterkeit, da widerspricht sie auch der Lehre Kants. Wenn aber im
theoretischen Sinne die Religionsphilosophie die grösste Schulung
des Gedankens fordert, so braucht sie in praktischer Hinsicht
vor allem ein fühlendes, warmes Herz, und das finden wir bei
Herder entschieden eher, als bei Kant ; seine Religion der Liebe,
der Humanität, des Gemütes, spricht auch das Gemüt warm
an; mag sie auch dem wissenschaftlich prüfenden Blicke zu
unklar und zu inkonsequent erscheinen, ihre Wirkung auf den
Durchschnittsmenschen bleibt dessenungeachtet gross ; es ist das
Herz, das in ihr zum Herzen spricht, der sich sympathisch auf-
dringende Glaube, die begeisterte Liebe zu Gott, die manchen
Gefühlsmenschen mehr überzeugt, als alle theoretischen Be-
weise. Wird die Religionsphilosophie als Wissenschaft auch
von Kant mehr beeinflusst als von Herder, so bleibt dem grossen
Kreis des Publikums die Herdersche Herzensreligion doch zu-
gänglicher und näher, als der strenge Kantische Vemunftglaube.
Dem allgemeinen Verhältnis der beiden Philosophen in
der Religionsphilosophie entsprechend, gestaltet sich auch ihre
Stellung zur Kirchenlehro. Auch darin schwankt Herder zwischen
einer freieren historischen Forschung und einer eingenommenen
Gefühlsinterpretation der Bibel; in der letzteren hat er einen
Lavater und einen Jacobi, und in der ersteren einen Lessing
zu Vorläufern. Bald versucht Herder sich auf dem historisch
forschenden Standpunkt zu erhalten und betrachtet kritisch die
Ereignisse der heiligen Geschichte ; bald aber schwindet der
wissenschaftliche Boden unter seien Füssen, das Gefühl zwingt
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— 12 —
ihn, die überlieferten Erzählungen als wahre Begebenheiten zu
betrachten, und von diesem Standpunkt aus schreibt er ihnen
einen sittlichen Einfluss zu, den sie nur haben könnten, wenn
sie wirklich historisch wären. Der verhängnisvolle Cirkel-
schluss wird auch hier nicht vermieden. „Ist die Geschichte Jesu
von den Fischern von Kapernaum erfunden, so danke ich den
Fischern, dass sie eine solche Geschichte erdichtet haben. Meinem
Geist ist sie wahr!' ^)
Das ist ungefähr der allgemeine Inhalt der Herderschen
Kirchenlehre; sich selbst unbewusst verwechselt er das eigene
Fühlen und Wollen mit der beurteilten Frage, und so wird ihm
das Fragliche zur Thatsache; seine Lage ist eine zweideutige
Stellung zwischen der historischen Prüfung und dem leicht-
gläubigen Gemüt. Auch hier, wie überall, löst Kant die Auf-
gabe, indem er beide Elemente trennt und scheidet: auch hier
hat das historische, theoretische Forschen mit dem praktischen
Bedürfnis nichts zu thun ; noch weniger darf das letztere An-
spruch auf die Beherrschung der ersteren erheben. Nur das
praktische Bedürfnis darf daher in der Schriftauslegung Gültig-
keit haben, und innerhalb desselben nicht das Gefühl, denn
dieses ist zu individuell und daher nicht allgemeingültig, son-
dern das Bedürfnis der praktischen Vernunft, der moralische
Glaube ; dieser stellt sich in die Mitte zwischen einer historischen
Betrachtung und einer auf Gefühl begründeten Exegese der
Bibel; eben dadurch aber, dass Kant es für möglich hält, die
gegebenen Thatsachen der christlichen Kirchenlehre seinem
System anzupassen, dass er die ersteren an seiner praktischen
Vernunft misst, lässt er dem positiven Christen den einzig
möglichen Ausweg offen, das positive Christentum mit der
Vernunftwissenschaft zu versöhnen. Herder übersieht diese
günstige Möglichkeit, er sucht in seiner völligen Abhängig-
keit vom Gemüt eine alleinige Herrschaft für das letztere, und
da er doch nicht mit der Wissenschaft brechen will, si>errt
er sich selbst jeden Ausweg ab. So geschieht es denn, dass
alle Lehren des Christentums nicht vom Theologen, sondern
vom Philosophen gebilligt und anerkannt werden. Was die
historische Seite der Bibel anbetrifft, so will Kant die Fakten
') Christliche Schriften, Bd. XX, S. 179.
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— 73 —
nicht als geschichtliche Thatsachen, sondern bloss als Symbole
betrachten ; als wahrhafte Ereignisse haben sie nach ihm mit der
Religion nichts zu thun. Herder hingegen sucht in diesen Fakten
geschichtliche Thatsachen und interpretiert doch zugleich in sie
seinen eigenen Geist hinein; unbewusst verwandelt er sie so nach
seinen eigenen Begriffen.
Haym vergleicht Herder mit Lessing; Kuno Fischer Kant
mit Lessing; dass Herder und Kant trotz ihrer Verschiedenheit
eine Aehnlichkeit mit dem Schöpfer des ^Nathan" haben, ist
wahr; allein diese Aehnhchkeit beschränkt sich nur auf den ihnen
allen gemeinsamen Charakter des Liberalismus und der Duldsam-
keit, nicht aber den individuellen Kern ihrer Lehren. Sie alle stim-
men darin überein, dass das Wesen der ReUgion in ihrer sitthchen
Wirkung und nicht in Kultushandlungen, nicht in äusserem
Gottesdienst besteht. Gleich aber fängt auch der Unterschied
an: der Gemütsmensch Herder unterwirft das theoretische
Bedürfnis völlig dem praktischen, er opfert die wissenschaftliche
Konsequenz seiner Religionslel>re um ihrer Gefühlsseite willen;
Lessing, der Mann des gesunden klaren Menschenverstandes,
will keine Konsequenz opfern, kein einziges Recht des Ver-
standes aufgeben; er giebt alles Dogmatische der Religion auf,
und setzt an dessen Stelle eine reine Sittlichkeitslehre; ich
möchte sagen, Lessing hat gar keine Religionsphilosophie,
80 sehr tritt sie hinter der Sittlichkeitslehre zurück; Lessings
Verhältnis zur Religionsphilosophie ist ein durchaus negatives.
Kant endlich rettet die Rehgionsphilosophie, indem er durch die
prinzipielle Scheidung des theoretischen und praktischen Be-
dürfnisses, die Grenzen beider zwar bestimmt, aber sie zugleich
innerhalb ihrer selbst erweitert; so kommt er dazu, auch die-
jenigen Grundsätze des Christentums zu billigen, welclie Lessing
und Herder verwerfen. Es scheint, als ob der Charakter jedes
Denkers die Entscheidung darin gebe: bei Herder entscheidet
das Gemüt, bei Lessing der Verstand, bei Kant die praktische
Vernunft; demgemäss sind auch die praktischen Ziele ver-
schieden: eine warme Liebe ist das Wesen der Rehgion und
speziell des Christentums i) bei Herder; das Wohlthun, die Nütz-
lichkeit, das Vermögen, die Liebe Anderer zu (»rringen, bei
Christliche Schriften, Bd. XX, S. 162, 168, 184.
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— 74 —
Lessing; und die Pflicht, dis Gute zu thun, nur weil es ein
Qesetz in unserem Inneren fordert, bei Kant. Wenn es darauf
ankäme, sich für Einen zu entscheiden, so dürfte «ich, wie mir
scheint, die gebildete Welt in drei verschiedene Gruppen teilen: die
Verstandesmenschen würden zu ihrem Muster den duldsamsten ^)
und seinen Blick vor Allem aufs Leben richtenden Schöpfer des
„Nathan" wählen; die Vernunftmenschen würden sich auf die Seite
des entschieden höheren und ideelleren Religionsbegriffs des Ver-
nunftkritikers stellen; die Gemütsmenschen würde endlich die
liebevolle und innige Herzensreligion des Humanitätsphilosophen
am meisten ansprechen.
Bei Herder ebenso, wie bei Kant, wird die Religion von
der praktischen Seite betrachtet, und das verbindet sie mit der
Moralphilosophie der beiden Denker. Wir haben schon gesehen,
wie bei Kant die Religion sogar in der Moral begründet war,
und wie sie bei Herder einen sittlichen Charakter trug. Schon
als Schüler Kants lernt von ihm Herder die Moral dem Wissen
voranzustellen; wie das moralische Gefühl Kant mit Rousseau
verband, so wurde es ebenfalls das Verbindungsglied zwischen
Herder und Rousseau.
Was war die Moral Herders? Güte, Gerechtigkeit, Bil-
ligkeit nennt er sie; in dem höchsten Punkt ihrer Entwickelung
erscheint sie ihm als die Blüte der Humanität, als die Bestimmung
des Menschen („Ideen", S. 164). Aber umsonst suchen wir bei
ihm nach einer bestimmten, festen Definition dieser Humanität,
welche als Grundlage der Moral betrachtet werden könnte. Fast
überall, wo Herder den Begriff der Humanität näher bestimmen
will, fliesst sie mit der Glückseligkeit zusammen,*) seine Sitt-
lichkeitslehre ist ganz eudämonistisch. Es ist ja der ausgespro-
chenste Eudämonismus, wenn er die „echte und einzige Be-
stimmung des Menschen, glücklich zu sein*', als den wahren
Zweck der Erdschöpfung betrachtet. Eine Moral aber, welche
die Bestimmung des Menschen von seiner Glückseligkeit nicht
') Nur Lessing macht bewuust keinen Unterschied der Konfessionen:
für Kant ist die protestantische die einzig gute; Herder ist wohl darin
vielseitiger, aber diese seine Vielseitigkeit ist nicht die eines konsequenten,
toleranten Denkers, sondern erscheint eben als Ausdruck seines breit
angelegten, für jeden fremden Einfluss gleich empianglichen Gemütes.
') Ideen, S. 338, 341, 345, 350; Humanitätsbriefe, S. 113, 115,
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— 75 —
unterscheidet, läuft eher auf eine Lebensweisheit hinaus, als
auf eine Moral im strengen Sinne. Wenn daher Kant dieser
doppelsinnigen seichten Moral seinen kategorischen Imperativ
entgegenstellt, so drückt er, und nicht Herder, das Wesen der
Ethik vollkommen aus. Dieser Vorzug Kants entspringt wiederum
aus den Grundlagen seines Systems. Der Grundgedanke der
Ethik ist der PreiheitsbegrifiF, und dieser ist bei Herder ver-
worrener und unbestimmter als bei Kant. Als Naturforscher
kennt Herder „in der Natur keine Aussematur, ausser der (em-
pirischen) Kausalität keine (intelligible) Kausalität", ^) er kennt
nur nach bestimmten Gesetzen wirkende Kräfte. 2) Als Geniüts-
raensch aber ist Herder ganz vom Gedanken der Güte, Gerech-
tigkeit und Liebe erfüllt; beide Seiten seines Charakters ver-
binden sich, um die strenge Notwendigkeit der Natur mit der
freien Güte des Geistes im Begriff der höchsten, weisesten Not-
wendigkeit zusammenzufassen.^) Auf diesem Wege der Ver-
söhnung und Vermittelung gelangt Herder zu seiner Auffassung
der Freiheit als innerer Notwendigkeit, als „Selbstbestimmung
der Kräfte."*)
Aber der doppelsinnige Ursprung der Herder'schen Freiheit
verrät sich immer durch ihre schwankenden Bestimmungen;
bald sieht Herder auch in der Natur eine Freiheit, denn auch
sie entwickelt sich nach inneren Gesetzen;^) bald aber spricht
er die Freiheit nur dem Menschen zu: „der Mensch ist der erste
Freigelassene der Schöpfung, er geht aufrecht, er kann wählen*;®)
eben hat er die Freiheit auf die ganze Natur ausgedehnt, sie mit
der Kausalität identifiziert, mit anderen Worten, sie geläugnet,
jetzt erkennt er sie im grössten Umfang als Wahlfreiheit an.
Und dann wieder erklärt Herder mit Luther, die wahre
Freiheit bestehe darin, dass man erkenne, dass man nicht frei
ist,^ um später das Entgegengesetzte zu behaupten: „der Mensch
hat eine Wage in seiner Hand, er hat in seiner Macht, nicht
') Metakritik, S. 229.
*) Erkennen und Empfinden, S. 201.
') HI. Spinozagespräch.
*) Gott, S.635; Ideen, S. 149; Metakritik, S. 228.
^) Metakritik, S. 228.
«) Ideen, S. 146 ff.
^ Erkennen und Empfinden, S. 202.
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— 76 -
nur das Gewicht zu stellen, sondern auch selbst Gewicht zu sein
auf der Wage.**) -Sagen die letzten Worte nicht dasselbe, was
Kant mit seinem sittUchen autonomen Gesetz sagt, und anderer-
seits sind nicht seine vorher angeführten Worte von der wahren
Freiheit, als Gefühl der Unfreiheit, ein klarer Anklang an Spinozas
strenge Kausalität ? Dass es keine Kompromisse zwischen Freiheit
imd Kausalität geben kann, dass auf eudämonistischer Grundlage
kein strenges Moralsystem aufzubauen ist, hat Kant eingesehen,
und diese Einsicht zwang ihn abseits von der strengen Kausalität
der Natur und abseits von der seichten Vermittelung der Kau-
salität mit der menschlichen Freiheit, seine ideale unbedingte
Freiheit, als intelligibles Ding an sich, aufzustellen, um auf die-
selbe seine rigoristische Moral zu gründen. Er hat seine Moral
von dem strengen Kausalitätsbegriff unabhängig gemacht, und
doch hielt er diese strenge Kausalität, wenn sie nur konsequent
durchgeführt wurde, für besser, als den seichten „synkretistischen*
Vermittelungsstandpunkt ; der erste widersprach wenigstens nicht
seinen theoretischen Ansichten, während der letztere weder dem
praktischen, noch dem theoretischen Bedürfnis Genüge leistete.
Wenn wir die Frage historisch betrachten, so finden wir im
MiHeu unserer Philosophen einen Freiheitsbegriff auf dogma-
tischer Grundlage und ihm gegenüber eine, auf empirische That-
sachen gebaute, Kausalitätslehre, wie sie sich auch in Spinozas
System ausprägt. Wenn Herder sich durch seine morahsche
Tendenz von der letzteren abgestossen fühlte, so fühlte er
sich andererseits durch seine empirische Tendenz zu ihr hin-
gezogen; daher seine Vermittlung beider in seiner Freiheits-
auffassung als innerer Selbstbestimmung. Und wie immer, ver-
wischt auch hier Herder die Grenzen der entgegengesetzten
Ansichten; Spinoza eifert nach seiner Meinung nicht gegen
die wahre moralische Freiheit, er stellt vielmehr die mensch-
liche Freiheit mit der göttlichen auf die gleiche Linie, son-
dern nur gegen die blinde Willkür (,,Gott«, S. 500). Und
andererseits befriedigt Herder nicht der hergebrachte dogma-
tische Freiheitsbegriff, imd so verwandelt er ihn in eine nach
Gesetzen wirkende Kraft der Natur, in eine „Energie der
Seele". 2) Dieselbe Freiheitsauffassung findet sich, wie schon
') Ideen, S. 146.
') Metakritik, S. 228; Erkennen und Empfinden, S. 199.
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— n —
Pfleiderer bemerkt, bei Hegel und Schelling; wenn aber
I^eiderer weiter bemerkt, dass diese Freiheitsaiiffassung diejenige
sei, über welche eine gesunde Philosophie nie hinausgehen
sollte, so glaube ich, dass diese Auffassung der Freiheit im
wissenschaftlichen Sinne gleichbedeutend mit deren absoluten,
wenn auch versteckten Verneinung ist. Giebt es überhaupt eine
Freiheit, so kann sie nie in den Grenzen der kausal bedingten
Natur gesucht werden ;. nur als eine Idee, als ein völlig subjek-
tives Aggregat des menschlichen Geistes, kann ich mir sie vor-
stellen; daher scheint mir auch Kuno Fischer Recht zu haben,
wenn er sagt, dass es ausser der Kantischen keine andere Frei-
heitslehre geben kann. Kant kennt auch nur zwei wissenschaftlich
begründete Standpunkte : den seinigen der ideal-subjektiven Frei-
heit, und den Spinozas der strengen Kausalität. War der letzte für
Herder zu schroff und rücksichtslos, so konnte er auch den ersteren
nicht annehmen, weil er seine kritische Grundlage nicht begriff.
Die Lösung dieses Problems gelingt Kant nur darum, weil
er, den Widerspruch beider bisherigen Ansichten erkennend, ohne
sie zu vermitteln, einer jeden ihr bedingtes Recht zu bewahren
sucht; wiederum ein entscheidender Schritt der Trennung der
Herder'schen Vermittlung gegenüber. Steht nun die Kantische
absolute Freiheit in ihrer idealen Form höher als die bedingte
Naturfreiheit Herders, so fragt es sich, ob sie nicht in ihrem
Missbrauch mehr Gefahr bietet als die letztere ; wenn gegen Kant
hervorgehoben wird, sein autonomes Gesetz könne in ebenso
autonome Gesetzlosigkeit, seine absolute Freiheit in absolute
Willkür umschlagen, so könnte man andererseits hervorheben,
dass Herders Naturfreiheit sich nicht nur in den höheren und
edleren, sondern auch in den niedrigsten und rohesten Trieben
offenbaren kann. Wenn es sich fragen würde, welches von beiden
Uebeln das kleinere sei, so würde ich mit den Worten Schillert
antworten: „Die Natur muss uns in Rücksicht auf jeden be-
stimmten Zustand unserer Menschheit notwendig demütigen,
aber sie verschafft uns doch den süssesten Genuss unserer Mensch-
heit als Idee^ denn nur wir sind der Freiheit teilhaftig, die allein
den Fortschritt zum Ideal, zum Göttlichen ermöglicht; die Natur
kann diesen Vorzug der Freiheit nur dann mit uns teilen, wenn
sie unseren Weg, den Weg der Willkür geht."^ ^)
^) „Naivo und sentimentalisehe Dichtung*.
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— 78 -
Dass auf diesen zwei verschiedenen Grundlagen sich auch
ganz verschiedene Systeme der Moral entwickelt haben, ist be-
greiflich. Weil Herder keine absolute Freiheit kennt, so kennt
er auch keine absolute, sondern nur eine eudämonistische Ethik;
bei ihrer schwankenden, unsicheren Grundlage ist auch seine
ganze Moral seicht und müde ; an die Bedingungen des Lebens,
an die Gewohnheiten, Triebe und Schwächen der menschlichen
Natur gebunden, ist sie nachsichtig und vergiebt leicht; sie kann
sich nicht zu den hohen Forderungen und der rücksichtslosen
Strenge des Kantischen Imperativs erheben, denn dieser ist
nur bei Annahme einer unbedingten Freiheit mÖgUch. Selbst
aus dem Leben und seinen Thatsachen hervorgegangen, nimmt
sie das Leben so wie es ist; sie begnügt sich mit deijenigen
relativen Vollkommenheit, die dem Menschen zugänglich ist.
Dem Prinzip der Herder'schen Erkenntnislehre : „Wir kennen
keine andere, als die menschliche Vernunft, und nur sie können
wir richten," entspricht auch das Prinzip seiner Moral: wir kennen
nur eine menschliche Moral imd nur von ihr sollen wir reden *).
Es ist wieder derselbe Trennungspunkt von Kant, welcher, aus den
Grenzen des Lebens heraustretend, das Unbedingte durch die
Kraft seiner Abstraktion aufsucht, um aus diesem das Bedingte
besser zu beurteilen. Auch darin ist der Standpunkt Härders ein
naiv-realistischer, während derjenige Kants ein höherer, idealisti-
scher ist. Das Ideal der Sittlichkeit bei dem ersteren ist im Leben
selbst, bei dem letzteren ausser dem Leben, es ist unerreichbar
und sinnlich unfassbar, aber eben dadurch bewährt es seine
Eigenschaft als ewiges, unvergängUches Ideal; hier tritt Kants
Standpunkt klarer, als auf jedem anderen Gebiete als ewiges
Streben hervor, während Herders menschliche, mithin erreichbar«
und bestimmbare Vollkommenheit seinem Streben Grenzen auf-
stellt, und einen Ruhepunkt im steten Werden des moralischen
-GhÄrakters ausfindet. Durch dieses hohe Ideal ist auch die rigo-
ristische Moral Kants bedingt; der Name des Sittlichen ist ihm
zu heilig, als dass er ihn bei jeder nur nicht verachtenswerten
Handlung gebrauche; die menschlichen Thaten des Alltags
sind ihm zu kleinlich und zu bedingt, als dass er auch sie vom
') Metakritik, S. 18, 82; Ideen, S. 145; Humanitätsbriefe, S. 876; Er-
kennen und Empfinden, S. 199.
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— 79 —
Standpunkt der Sittlichkeit betrachten könnte ; sie können mehr
oder weniger legal sein, aber um etwas sittlich zu nennen, muss
man eine Handlung haben, die diesem hohen Massstab entspräche;
und wenn Herder, den kategorischen Imperativ parodierend, ihn
auf die Esspflicht anwendet,^) so übersieht er dabei gänzlich,
dass auch Kant einen Massstab für das gewöhnUche Leben hatte,
den der Legalität, dass er aber zugleich die Notwendigkeit eines
höheren Kriteriums einsah und dafür seinen Imperativ auf-
stellte. Hätte Herder die Kantische für höhere, sittlich geschulte
Menschen gültige Moral durch seine mildere, dem Durchschnitts-
menschen angepasste, Sittlichkeitslehre ergänzt, wie erfolgreich
hätte er seine Thätigkeit an der Entwickelung des Kantischen
Gedankens der Legalität ausüben können. So aber wirkte er in
dieser Kant ergänzenden Richtung, ohne dieses sein Verhältnis
zu verstehen, ja sogar gegen denjenigen polemisierend, den er
unbewusst ergänzte. Sehen wir uns Herders Moral in diesen
Grenzen seiner wahren Aufgabe an, wie schön hat er sie erfüllt !
Wie fein verstand er die Strenge der Notwendigkeit durch die Bei-
mischung des Schönen zu mildern und die Fesseln der rücksichts-
losen Natur durch diese ästhetische Färbung anziehend zu machen ! -)
Wie rührend preist Theano die „süsse Anmut der Notwendigkeit,*'
in welcher sie, die „durch Ordnungen der Natur und Einrich-
tungen der Menschen gebundene Frau," ihren Trost sucht. Wie
schön ist wiederum der Zug der Herder^schen Moral, der
ihr Leben und Wirken giebt, die thätige, warme mitfühlende
Liebe,*) ein Zug, der in der Kantischen Ethik fast ganz vor der
Pfficht zurücktritt. Dass die höchste Tugend, dass die völlig
effÖUte Pflicht, als Ideal Kants, auch die Liebe mit einschliesst,
^ftbersah wohl Herder in seiner Polemik; aber wer wird es ihm
Vfelrafgen, dass er auch auf dem Wege zu diesem Ideal die Liebe
irfid ihre Wirkungen offenbart wissen wollte, und sie für einen
stärkeren Impuls als alle Pflichtgefühle hielt ; ist doch die Liebe
te der That das am meisten bestimmende und ausschlaggebende
-Mbtfv für den Menschen, so lange er fehlerhaft und schwach, so
^fssi^ er Mensch ist.
•) Christliche Schriften, Bd. XX., S. 182.
') Gott, S. 684; Ideen, S. 147; 73. Humanitätsbriei, Bd. XVII, S. 376.
») Christliclie Schriften, S. 91, 166, 182, 184; Erkennen und Em-
pfinden, S. 200.
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— 80 —
Am besten drückt dieses Verhältnis der beiden Moralprin-
zipien, der Liebe und des Pflichtgefühls, das in den „Erinnerungen*^
abgedruckte Gedicht : „Der philosophische Egoist** aus. Die zweite
Hälfte desselben lautet:
„ . . . Du lästert, die grosse Natur, die bald Kind und bald Mutter,
Jetzt empfängt, jetzt giebt, nur durch Bedürfnis besteh'?
Selbstgenügsam willst du dem schönen Ring dich entziehn,
Der Geschöpf an Geschöpf reiht im vertraulichen Bund,
Willst du. Armer, stehen allein, und allein durch dich selber,
Wenn durch der Kiäfte Tausch selbst das Unendliche steht?'*')
Dabei scheint mir Herder insofern Recht zu haben, als er
zum Grunde seiner Moral nicht den einzelnen Menschen mit
seinem isolierten Gewissen stellt, sondern nur den Menschen,^
insoweit derselbe ein Glied einer socialen Einheit^ der Gesell-
schaft, ausmacht; auch scheint mir Kant sich mit seinem auto-
nomen Gesetz zu sehr auf das menschliche Selbstbewusstsein
und zu wenig auf das sociale Bewusstsein zu gründen; ma»
könnte vielleicht diese zwei Standpunkte unserer Philosophen
auf zwei Grundkräfte der Natur zurückführen, von denen die
eine ihre Thätigkeit nach aussen ausbreitet, während die andere
alles auf sich zu beziehen strebt (centrifugal und centripetal) ;
während Kant in allem sich nach seinem Ich richtet, nach seinen
subjektiven Erkenntnisformen und seinem autonomen Moralgesetz,
sucht Herder seine Stellung in der ihn umgebenden Welt ; seine
Erkenntnis kommt von aussen und seine Moral strebt hinaus in
das Universum; dementsprechend ist auch das Ziel der Moral
bei Kant das Gute um des Guten willen, während es bei Herder
das Wohlthun, die Erreichung bestimmter Zwecke ist. Daher
denn innerhalb des Kantischen Standpunkts die Gefahr eines
ethischen Formalismus, und innerhalb der Herder'schen die
Gefahr ,der Verwechslung des Moralischen mit dem Nützlichen.
Wenn aber Herder dem Kantischen Standpunkt einen
philosophischen Egoismus vorwirft,'^) so scheint er mir wieder
im Unrecht zu sein; auch bei Kant fehlt es nicht an einem
Band zwischen den einzelnen mit Selbstbewusstsein versehenen
Subjekten; es ist die streng bestimmte, zum Gesetz erhobene
') Die „lOrinnerungen** schreiben das Gedicht Herder zu, während
OS sonst Schiller zugeschrieben wird (IL, S. 245).
') Auch Metakritik, S. 289: Christliche Schriften, Bd. XX, S. 187.
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— 81 —
Form dieses Bewusstseins, sei es nun im theoretisch-erkennenden
(als subjektive Erkenntnisformen) , oder praktisch-moralischen
Sinne {als autonomes sittliches Gesetz). Dass jeder Einzelne das
Sittengesetz in sich trägt, macht ihn zum sittlichen Subjekt ;
dass aber dieses Gesetz bei allen dasselbe ist, macht die einzelnen
Wesen zu einer moralischen Einheit ^ der Menschheit. Die Schuld
der allzu grossen Isolierung des Menschen, welche Kant von
Herder zugeschrieben wird, scheint mir viel eher an Herder
selbst zu haften; ist die Kantische Moral subjektiv, so ist die
seinige individuell. Beide stehen vor dem alten Problem: wie
verhält sich der einzelne zur Allheit? Während Herder sie un-
mittelbar verbinden will und, seinem System des „Einen in
Vielem** gemäss, dogmatisch behauptet, beide seien analoger
Natur,*) sucht Kant das Problem dadurch zu lösen, dass er im
Menschen zugleich ein Individuum, einen Einzelnen, und ein
Subjekt, einen Teil der Allheit oder der Menschheit sieht. Nur
dadurch gelingt es ihm, im Menschen sein individuelles Bewusst-
sein anzuerkennen, zugleich aber ein absolutes Gesetz, ein all-
gemeines Ideal aufzustellen.
Herders Formel „anerkenne dich selbst und drücke die in dir
liegende Form aus," ^) macht das absolute Gute unmöglich; nur bei
Kants ausser dem Individuum liegender Bestimmung des Men-
schen, nur bei seiner Menschheitsidee, die im einzelnen nie
erreicht werden kann, und dennoch im menschlichen Subjekt
gegeben ist, im Subjekt, als vollkommenem Repräsentanten der
Gattung, nur bei diesem, zwar schwierigen Standpunkt, der im
Menschen zugleich Individuum und Gattungssubjekt, zugleich
Erscheinung und Ding an sich sieht, nur bei diesem ist ein
absolut Gutes trotz der fehlerhaften Natur jedes gegebenen
Menschen möglich. Wenn Kant nur mit dem grössten Aufwand
seiner Abstraktion diesen Standpunkt durchführt, so verfällt
Herder in den Fehler, der für seine Ethik verhängnisvoll wird:
ist nämlich die Moral ihrer Natur nach individualistisch, so ist
Jeder in seiner Art gut, das Böse existiert nicht, wie Herder
selbst in „Gott*' (S. 544, 570) zugiebt ; zugleich aber, können wir
ihn ergänzen, giebt es auch kein Gutes, denn dieses kann nur
') Ideen, S. 345.
') Metakritik, S. 154.
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— 82 -
als Gegensatz des Bösen existieren. Zum zweiten Mal bricht
so die Herder'sche Moral zusammen: giebt es keine absolute
Freiheit, so giebt es überhaupt keine Freiheit; giebt es ausser
dem Individuum kein absolut Gutes, so giebt es überhaupt kein
Gutes.
Hat die subjektive Moral Kants vor der individualistischen
Herders den Vorzug der wissenschaftlichen Konsequenz, so hat
die letztere in der praktischen Anwendung den Vorzug, dass
sie die jeweiligen, individuellen, sinnlichen Formen, den relativen
Wert jeder Handlung besser berücksichtigt. Diese Betrachtung
des relativen Wertes bei Herder und der Kantische Hinweis auf
den absoluten Wert der Handlungen ergänzen einander so, wie
das Leben und die Wissenschaft, oder wie die absolute Lehre
und ihre empirische Anwendung.
4. Geschichtsphilosophie.
Die verschiedene Lösung, welche beide Denker dem Pro-
blem vom Verhältnis des Individuums und der Gatttmg geben,
bedingt auch die Verschiedenheit ihrer geschichtsphilosophi-
sehen Ansichten; sehen wir uns daher diese verschiedenen
Lösungen näher an. Herders Sinn für das Wirkliche, Lebendige
zieht seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Wesen mit seinem
individuellen Charakter; zugleich aber treibt ihn seine Begei-
sterung für das Ideal, in diesem Einzelnen dem Allgemeinen,
dem Idealen nachzuspüren — aus dem Individuellen wird auf
das Allgemeine geschlossen, und wiederum dient dieses auf
zweitem Wege erlangte Allgemeine zum Massstab des Indivi-
duellen ; der personifizierte Pantheismus Herders kehrt in sich
selbst zurück. ^) Und dieses ewige Zurückkehren in sich selbst,
dieser unendliche Kreislauf des Denkens ist vielleicht das ewige
Schicksal derjenigen Methode, welche, zum Behuf leichterer
Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besondern, sie auf einer
gemeinsamen Grundlage aufbaut — sei es auf der der einzelnen
Erfahrung, oder auf der des verallgemeinernden Denkens.
Beide Entwicklungen dieser scheinbar einheitlichen Methode,
nur ins Extreme getrieben, giengen der Kantischen Reform
voraus ; er schied das Allgemeine vom Besondern und führte sie
») Metakritik, S. 24, 202, 207 : Ideen, S. 344.
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— 83 —
auf einen prinzipiellen Unterschied der menschlichen Vermögen
zurück: die Rrkenntnis a priori nahm das Allgemeine für sich
in Anspruch, die Erkenntnis a posteriori musste sich mit dem
Einzelnen, dem Individuellen^ begnügen ; dadurch aber gewann
auch das Kantische Apriori eine lebendigere Gtestalt, der ab-
strakte Unterschied der Erscheinung und des Dinges an sich
wurde zum konkreteren des Individuums und des Subjekts, und
dieser noch immer metaphysische Unterschied wurde wiederum
zum rein naturwissenschaftlichen von Individuum und Gattung.
Auch diesmal löst Kant das Problem durch einen entscheidenden
Schritt, während Herder seine Schwierigkeit in einer naiv-reali-
stischen Weise wegzudisputieren sucht.
Um beide Problemstellungen besser beurteilen zu können,
sehen wir sie ims näher an, so wie sie sich in den geschichts-
philosophischen Ansichten Kants und Herders zu einem System
entwickelt haben.
Für Herder ist der Mensch nur Individuum, das einzelne
Wesen mit seinem jeweiligen Charakter nur ein Tier unter anderen
Tieren; demgemäss ist der Mensch ein Stück Natur, ein ein-
zelnes Glied des Universums. ^) Kant hingegen scheidet, wie
wir gesehen haben, den menschlichen Geist von der Natur:
durch seinen sinnlichen Charakter gehört der Mensch als Indivi-
duum noch zur Natur, aber durch seinen Geist, als Subjekt, ist er ein
Vemunftswesen. Bei Herder ist daher die Geschichte der Mensch-
heit ein Stück der Naturgeschichte, ^) bei Kant ist sie eine Prei-
heitsgeschichte. Scheinbar hat darin Herder vor Kant den Vor-
zug der konkreteren Gestalt und der grösseren Passbarkeit seiner
Ansichten ; noch mehr scheint Herder diesen Vorzug zu besitzen,
indem er, die Menschheitsgeschichte natürlich erklärend, auch ein
natürliches Band derselben nachweist; sein menschliches Indi-
viduum siösst im Leben auf andere Individuen — die sociale
Einheit steht vor uns; ihre Gesetze sind nach Analogie der
Natur nachweisbar.») Kants Preiheitsgeschichte entbehrt dieses
Vorzugs, ihre Gesetze sind nicht den Naturgesetzen analog, und
können nicht aus den Erfahrung« Wissenschaften geschöpft werden ;
') Ideen, S. 31, 68; Humanitätsbriefe, Bd. XXVII, S. IIB, IIB.
') Ideen, S. 37, 62, 347; Humanitätsbriefe, Bd. XXVII, S. Ü5, 122;
Bd. XXVIII, S. H6, 246.
') Ideen, S. 159, 346; Humanitätsbriefe, S. 116.
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— 84 —
das einzige Band seiner Geschichte ist nicht das äussere Zu-
sammentreffen vereinzelter Individuen, sondern die innere Ge-
meinschaft der menschlichen Subjekte; die Geschichte bildet bei
ihm eine moralische Einheit und erweitert sich zum Begriff
der Menschheit, während Herder bei der Auffassung der mensch-
lichen Gattung als socialer Gruppe einzelner Individuen stehen
bleibt.
Was in der auf natürlicher Grundlage gebauten Geschichts-
Philosophie Herders voltetättdig feHt^ ist eW ethischer Ereiheits-
begriff; die Gesetze, welche sie feststellen kann, sind daher tierisch
und nicht rein ethisch. Kant sah ein, dass diese rein ethischen
oder — sagen wir besser — menschlichen Gesetze nur in einer
Freiheitsgeschichte möglich sind, und daher ist seine Geschichts-
philosophie auf den Begriff der Freiheit gebaut; er sah aber
zugleich, dass die Gesetze der Freiheit, trotzdem sie för unser
praktisches Bedürfnis unentbehrlich sind, auf dem Erkenntnis-
wege nicht bestimmt werden können, eben weil sie Freiheüs-
gesetze sind. Daher ist auch das Prinzip seiner Geschichts-
philosophie kein erkennendes oder naturwissenschaftliches, son-
dern ein bloss regulatives oder bestimmendes. In seiner Ge-
schichtsphilosophie will er nicht den wirklichen ethischen Fort-
schritt der Menschheit nachweisen und feststellen, sondern den-
selben nur als „Richtschnur für den betrachtenden Denker*^
hinstellen. Mir scheint diese seine Ansicht auf das bedingte
Recht der Geschichtsphilosophie eine entscheidende zu sein.
Dass dieselbe im Vergleich mit Herder das Recht behält, wie
wir es bald sehen werden, ist zwar noch kein gültiger Beweis
ihrer Richtigkeit; man könnte ja einwenden, dass es einem
andern, konsequenteren Denker, Darwin, gelungen ist, den
Fortschritt der Entwicklung im Menschen wie auch im Natur-
leben nachzuweisen, ohne den Menschen aus dem Reiche der
Natur ganz auszuscheiden. Man muss aber dabei nicht ver-
gessen, dass während es Darwin nur um die technische, nur
um die positive Vollkommenheit zu thun ist, Herder und Kant
die sittliche Volkommenheit der Menschheit behandeln, eine
Vollkommenheit, die ims selbst als Verdienst angerechnet werden
kann, und auf die wir mit gerechter Genugthuung eines Erwerbers
») Huinanitätsbriefe, Bd. XVIll, S. 118, 122.
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.-So-
und nicht mit sinnlosem Stolz eines reichen Erben zurückschauen
dürfen., Der Unterschied zwischen Herder und Darwin ist da-
rum nicht mir ein quantitativer der grösseren oder kleineren
Konsequenz des Denkens, sondern auch ein qualitativer der
ganzen Problemstellung. Darwin sucht und findet einen bio-
logischen Fortschritt; Herder hingegen möchte einen ethischen
Fortschritt nachweisen, und es gelingt ihm nicht. Zwar sucht
auch Kant einen ethischen Fortschritt nachzuweisen, aber dieser
erscheint ihm nicht als eine auf natürlichem Wege bewiesene
Erfahnmgsthatsache, sondern nur als ein a priori in unserem
praktischen Bedürfnis (Glaube an das höchste Gut und Hoffnung
auf seine Erfüllung) gegebenes teleologisches Prinzip, welches
nur regulativ und nicht constituitiv wirken soll. „Damit. soll
die Bearbeitung der eigentlich bloss empiriHch abgefassten Hi-
storie^, steht es im Kantischen geschichtsphilosophischen Auf-
satz, „gar nicht verdrängt werden, das ganze soll vielmehr ein
Gedanke sein von dem, was ein philosophischer Kopf zur Recht-
fertigung der Natur versuchen könnte." Der Unterschied zwischen
Herder und Kant besteht darin, dass der erstere einen wirkhch
otjektiven Fortschritt der Moral nachweisen will, während der
letztere diesen Fortschritt nur als ein subjektiv gültiges Prinzip
hinstellt.
Sehen wir uns die speziell geschichtsphilophischen An-
sichten Herders an, wie sie durch diesen seinen personifizierten
Pantheismus bedingt sind: zunächst das Endziel seiner Ge-
schichte, die Bestimmung des Menschen oder die Humanität.
Wir haben schon bei der Betrachtung seiner Moral gesehen, dass
seine auf natürlichem Wege abgeleitete Humanität kein abso-
luter, kein rein ethischer Begriff sein könne, und dass sie bei
ihrer individualistischen Grundlage eines allgemeinen Kriteriums
entbehre. Dass bei Herders eudämoii istischer Moralauffassung
die Bestimmung der Menschheit mit ihrer Gliick^eligkeü zu-
«ammenfloss, soll, scheint mir, el)en so wenig Wunder nehmen, als
dass bei seinem Individualismus die individfielle V^oUkommenheit
zum Kriterium und die individuelle Glückseligkeit zum Zweck
der Geschichte wurde, ^j Und nun der dritte Fehler seiner Ge-
Ideen, S. aS8, 84!, 342, 350.
*) Ideen, S. 333, 341, 345; Humanitätsbriefe, Bd. XVII, S. 113, 115.
Auoh eine Philosophie, S. 5()o, 509.
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— 86 —
Schichtsphilosophie, ein Fehler, den Herder, wie mir scheint,
mit jeder auf natürlichem Wege construierten Geschichtsphilo-
söphie teilen muss : ist nämlich die Geschichte in den Gesetzen
der Natur streng bedingt, so hat auch jede ihrer Entwicklungs-
phasen ihre Berechtigimg in sich selbst, eine jede ist in ihrer
Art vollkommen, denn die Natur, abgesehen von den mensch-
lichen in sie hineininterpretierten Begriffen, kennt kein besser und
kein schlechter y sie kennt keinen Fortschritt, sondern nur einen
Fortgang, ein Wachstum. Der wahre Fortschritt besteht darin,
schreibt Herder im Widerspruch gegen Iselins Fortschrittsge-
schicTite, dass das eine Zeitalter auf einem andern fusst, und
ein anderes vorbereitet, dabei aber einen Zweck in sich selbst
hat. Wie der Baum in allen seinen Wachstumsperioden, so ist
auch der Mensch in allen seinen Lebensstufen, so ist auch die
Menschheit in allen ihren Zeitaltern Selbstzweck. ^)
So scheitert die natürliche Geschichtsphiloöophie Herders
an drei Klippen: ihr fehlt ein Kriterium (das Individuum kann
kein Kriterium der allgemeinen Geschichte abgeben); ihr fehlt
ein festes, absolutes Ziel (die Glückseligkeit hat in einer rein
sittlichen Wissenschaft keinen Platz); ihr fehlt endlich ein
Fortschritt, denn ein Fortschritt setzt schon ein Absolutes, als
sein Ziel, voraus.
Sehen wir uns jetzt die Geschichtsphilosophie bei Kant
an. Mit seiner unbedingten Freiheit, mit seiner strengen Moral
ist auch seiner Geschichtsphilosophie ein Ziel gesteckt : es ist die
VerwirkUchung des Ideals, die Erhebung des Individuums zum
Subjekt, der Natur zur Freiheit. Diese letztere ist nur in der
ganzen menschlichen Gattung möglich, die allein die Vernunft
repräsentiert ; das Kriterium der Kantischen Geschichtsphilo-
sophie ist die Menschheit und das Mass, in welchem sie ihre
Bestimmung erfüllt, und nicht das Individuum mit seiner Glück-
seligkeit. Bleiben wir einen Augenblick bei dem eudämoni-
stischen Element der Geschichtsphilosophie stehen. Bei Herder
ist dasselbe dun.^h seine Humanitätstendenz bedingt, die ihn
dazu zwingt, das Einzelne nicht nur als Mittel, sondern als
Selbstzweck zu betrachten ; in dieser Fordenmg stimmt er ja
') Auch eino Philosophie, S. 489, 511, 554; auch Ideen, S. 342;
Humanitätsbriefe, S. 113.
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— 87 —
auch mit Kant überein, nur da^s sie für Kant ein blosses Po-
stulat der praktischen Vernunft* für Herder ein Naturgesetz ist.
Ni(!ht nur soll der Mensch seine Mitmenschen human behandeln,
sondern er wird auch von der Natur hurnan behandelt; seine
Glückseligkeit ist der Zweck der Natur, der gütigen Vorsehung
(^Ideen" S.'341); man kann nicht läugnen, dass diese naive Ueber-
tragüng der menschlichen Humanität auf die ganze Natur und
die darauf gebaute Gluckseligkeitstheorie ziemlich unphilosophisch
sind; zugleich aber darf man nicht vergessen, dass auch Kants
Geschichtsphilosophie die Glückseligkeit nicht ausschliesst : das
Gefühl, dass wir unsere Bestimmung erfüllen, indem wir für das
Wohl der später kommenden Generationen arbeiten, ist für einen
sittlich geschulten Menschen eine vollständige Genugthuung für
seine physischen Mühen. „Wenn nicht * das Schattenbild der
Glückseligkeit, das sich ein jeder selbst macht**, sagt Kant in
der Recension der „Ideen", „sondern die dadurch ins Spiel gesetzte
Thätigkeit und Kultur, deren grösstmöglicher Grad nur ein
Werk der Menschen selbst sein kann, der eigenthche Zweck
der Vorsehung wäre, so würde jeder einzelne Mensch das Mass
semer Glückseligkeit in sich haben, ohne im Genuss derselben
irgend einem der nachfolgenden Glieder nachzustehen ; was aber
den Wert nicht ihres Zustandes, sondern ihrer Existenz selber
betrifft, so würde sie nur hier allein eine weise Absicht im
ganzen offenbaren **.
Besteht der Fortschritt der Kantischen Geschichtsphilosophie
in der ewigen Verwandlung der Naturgesetze in Freiheitsgesetze,
so erwächst daraus eine Schwierigkeit, die die Herder'sche
natürliche Geschichte vermeidet: wie kann man für eine Frei-
heitsgeschichte Gesetze aufstellen, wo kann man ein Band zwischen
der bedingten Natur und der unbedingten Freiheit tinden ? Herder
ist viel besser dran ; ihm sind die Gesetze der Geschichte in der
Natur selbst gegeben („Ideen", IV. Buch), das Band der Geschichte
findet er in der Tradition („Ideen" S. 347); es scheint, als ob
Herder hier die Oberhand gewinnen sollte; mit seiner Auffassung
der Menschheitsgeschichte als Freiheitsgeschichte, scheint Kant
einen Abstand zwischen seinem idealistischen und jedem realisti-
schen System zu legen, sei es nun dem naiven Systeme Herders
oder dem wissenschaftlichen Darwins. Betrachten wir aber beide
Lehren genauer, und dieser Abstand verschwindet; nicht der Kan-
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— 88 —
tische, sondern eher schon der Herder'sche Standpunkt wider-
spricht dem modernen biologischen: indem Kant als Repräsen-
tanten seiner intelligiblen Freiheitsidee die Gattung hinstellt,
trifft er in diesem für ihn wie auch für den Naturfoi-scher aus-
schlaggebenden Begriff mit dem letztern zusammen ; noch näher
kommt er dem englischen Forscher, indem er die Kultur als das
einzige Mittel des Fortschritts betrachtet, und wiedenun indem
er das Fördernde in der Kultur im Antagonismus der Kräfte
sieht. Herder hingegen, welcher in seinen Einzelausführungen
die Ergebnisse der modernen Biologie vorauszuahnen scheint,
entfernt sich wiederum von ihr immer mehr und mehr; zwar
erinnert seine genetische Kraft an die Erblichkeit (Ideen S. 273,
278, 303, 308, 329), seine Tradition an die Gesetze der Anpassung
(S. 304, 306, 319), seine klimatische Bedingtheit an die natur-
gemässe Entwicklung (S. 30, 66, 63, 253, 261, 296 ff.), sein
Instinkt an die sich im Kampf ums Dasein entwickelnden Eigen-
schaften (S. 60, 142), — aber nirgends ringt sich Herder zum reinen
unabhängigen Gedanken durch; seine Tradition trägt den Cha-
rakter von göttlichem Unterricht und Erziehung des Menschen-
geschlechts (S. 346, 347, 349, 262), seine genetischen Kräfte sind
prästabilierte Keime (S. 173, 174, 276, 281), seine klimatische
Bedingtheit eine Art Naturabsicht (S. 268, 293, 298, 320, 338),
sein Instinkt eine Güte der weisen Schöpferin Natur ; *) an dem
sich ausbildenden Werdegedanken bleibt immer etwas vom her-
gebrachten metaphysischen Substanzbegriff haften.
Was uns endlich auf diesem Gebiete und gerade bei der Her-
anziehung Darwins besonders klar wird, ist ein neuer Fehler des
Herderschen Systems: als einen, wenn auch verworrenen, Mo-
nismus haben wir früher seinen Standpunkt bezeichnet; nicht
einmal einen solchen finden wir in seiner Geschichtsphilosophie ;
denn ist seine Gegenüberstellung von Kräften und Organen^)
nicht wiederum ein Dualismus der Natur selbst, ein neuer Dualis-
mus, der den alten von Geist und Materie beseitigen soll ? Und hat
denn Kant nicht vollkommen recht, wenn er von diesem Stand-
punkt aus die Herder'sche Hypothese der unsichtbaren Kräfte einen
Kunstgriff nennt, welcher das, was wir nicht verstehen, durch
') S. 128, 130, 140, 841, 356.
*) IdeeD, S. 172.
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^twas anderes erklären soll, was wir noch weniger verstehen?
In welche Irrtümer und Inkonsequenzen Herder durch diesen
unbewussten Dualismus verwickelt wird, zeigen am besten seine
Beweise der Unsterblichkeit ; ^) denn ihr ganzer Fehler besteht
eben darin, dass sie von der Stufenleiter der sichtbaren Organe
auf eine aufsteigende Reihe unsichtbarer Kräfte schliessen ; und
hat wiederum dabei Kant nicht recht, wenn er behauptet, dieser
Beweis sei ein vollkommen metaphysischer? Wenn Pfleiderer
hervorhebt, dass im Grunde beide in dem Unsterblichkeitsglauben
übereinkommen, so übersieht er dabei, dass Kants Glaube an
die persönliche Unsterblichkeit ein bloss religiöser ist, während
derjenige Herders ein naturwissenschaftlicher zu sein beansprucht;*)
wiederum hat daher Kant recht, wenn er bemerkt, dieser Glaube
könne sich wohl auf moralische und metaphysische Beweise
gründen, aber niemals könne er auf dem naturwissenschaftlichen
Wege einleuchtend gemacht werden. So fallt denn der einzige
Ausweg, welchen sich Herder für seine Geschichtsphilosophie
vorbehielt, hin ; der einzige Fortgang, den er als Fortschritt der
Geschichte bezeichnet, ist der Uebergang zum höheren Stadium
auf der Stufenleiter der organischen Kräfte durch die Unsterb-
üchkeit; Kant war der erste, der das Unwissenschaftliche und
Unphilosophische dieser Hypothese nachgewiesen hat.
Sollte es, den beiden Ausgangspunkten unserer Philosophen
gemäss, den Anschein haben, dass es für Herder viel leichter
sein würde, die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung auf
der natürlichen Gmndlage nachzuweisen, als für Kant auf seinen
metaphysischen Voraussetzungen, so finden wir nun, dass beide
ihre Rollen wechseln, indem der Naturforscher die Sittlichkeit
innerhalb der Natur selbst suchend, in die Metaphysik umschlägt,
und indem der Vernunftkritiker seine Freiheitsideale nicht der
Natur selbst, sondern seiner Betrachtung der Natur voranstellt.
Indem Kant die HoflFnung auf die Erfüllung des höchsten
Gutes für den Menschen für bindend erklärt-, bekommt für ihn
diese Erfüllung, als Postulat der praktischen Vernunft, auch eine
praktische Realität; als teleologisches Prinzip verbindet sie so
die Welt der Erkenntnis mit der Welt des praktischen Handelns,
') Ideen, S. 169.
») Ideen, S. 165, 177.
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die theoretische mit der praktischen Venuuift, die Erscheinungs-
welt mit dem Ding an sich, die Naturgeschichte mit der Frei-
heitsgeschichte. Dieses teleologische Prinzip bekommt seine fasfö-
bare, konkrete Form, indem die Menschengattung zu s^fhem
Träger wird ; die letztere verbindet die bfeiden Seiten des Mensiihen,
die vernünftige in ihrer Gesamtheit und die sinnliche in ihren ein-
zelnen Gliedern; sie wird auch in zeithcher Hinsicht dieses
Bihdeglied, indem der Mensch als Tier in ihre Vergangenheit,
in den vorkulturellen Zustand verlegt wird, und der Mensch als
vollkommenes geläutertes Wesen, als Ideal jeder Kultur, in ihrer
Zukunft dasteht.
Die Kulturgeschichte wird so bei Kant ein Bindeglied
zwischen Natur und Freiheitsgeschichte ; dadurch aber bekommt
die Kantische zur Kulturgeschichte gewordene Geschichtsphilo-
sophie einen realistischen Zug, welcher sie der modernen Socio-
logie näher bringt. Zu gleicher Zeit entfernt sich Herder von
derselben, indem er, von seinem Individualitätsstandpunkt zu
sehr eingenommen, dem ewigen Werden und Vergehen einen
Endpunkt innerhalb jedes einzelnen Wesens aufstellt, indem er
in seinem Gleichmass der Kräfte^) eine berechtigte Schranke
für die Entwicklung findet. So gelingt es Kant, trotzdem er
von der abstrahierten Freiheitsidee ausgeht, eine richtigere Auf-
fassung zu bekommen, als Herder, welchem dies ja bei seinem
sinnUch fassbaren, natürlichen Ausgangspunkt leichter sein sollte.
Während für Herder die Geschichte nichts mehr als blosse , Kette
der Geselligkeit und der bildenden Tradition' (Ideen, S. 35, 345,
349), und ihr einziger Fortgang der „in immer verjüngten Ge-
stalten aufblühende Genius der Humanität*^ (S. 353) ist^ findet
sie Kant im ewigen Fortgang zu grösserer Vollkommenheit, zu
vollständigerer Freiheit. „Die Philosophie," sagt Kant in seinem
geschichtsphilosophischen Aufsatz, „kann auch ihren Ohilliasmus
haben, aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee,
obgleich nur sehr von Weitem, selbst beförderlich werden kann,
*) Ideen, S. 336, 339; Auch eine Philosophie, S. 500. Auch bei
Schiller finden wir diese Forderung der ungeteilten Einheit des Indivi-
duums und des Gleichgewichts der Gemütskräfte (^Aesthetisohe Briefe*)^
da aber dieses Gleichgewicht den Fortschritt ausschliesst, stellt er es an
den Anfang und an das Ende der Kultur, und schliosst es aus ihr selbst
aus („Naive und sentimentalische Dichtung*).
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der also nichts weniger als schwärmerisch ist." Von diesem
Standpunkt aus zerfällt ihm die Geschichte in drei Perioden : der
Naturzustand; die Kultur oder die auftretende und mit der Natur
streitende Willkür; und endhch die vom Druck der Sinnlichkeit
befreite Sittlichkeit und Vernunft als das Ideal der Kultur. Wir
erkennen in diesen drei Perioden die Keime der poetischen Be-
trachtung der Geschichte bei Schiller und seiner drei Begriffe
des Naiven, des Sentimentalischen und des Idealischen.
Darin, dass Kant im Naturzustand bloss die erste, vorbe-
reitende Stufe der Geschichte sieht, besteht sein Gegensatz zu
Rousseau, welcher den Naturzustand mit dem Ideal verwechselt.
Dieselbe Verwechslung finden wir auch bei Herder ; aus ihr ent-
springt sein gleiches Interesse für alle Zeitalter und Nationen,
abgesehen vom Grade ihrer Kultur;^) aus demselben Grunde
fehlt auch bei Herder eine gerechte Würdigung der Kultur selbst,'-*)
wie sie uns bei Kant entgegentritt. Was wir aber bei Herder
am meisten vermissen, ist die Aussicht auf eine vollkommenere
Zeit, auf das Ideal, welches bei Kant als ein Wegweiser der
Geschichte, als das nie erreichbare, wenn auch immer anzu-
strebende Ziel der Kultur da steht. Es ist wahr, dass Kant
gerade in dieser Beziehung, w^e Hettner es hervorhebt, gewisse
Vorzüge vor Herder hatte; ein solcher war z. B, sein unvorein-
genommes Verhältnis zum Staatsleben, welches Herder wirklich
in zu schwarzem Licht erschien (, Ideen" S. 340, 383); ein solcher
war auch seine imbefangene Ansicht von der Aufklärung, welche
nicht, wie bei Herder (S. 348, 371), durch die Fehler der da-
maligen deutschen Aufklärung bedingt war ; aber der bedeutendste
und grösste Vorzug Kants war sein klares, systematisches und
folgerichtiges Schliessen, war sein reiner, in sich selbst be-
dingter Gedanke ; nur dieser sein Vorzug kann es erklären, wie
er trotz seinen apriorischen geschichtsphilosophischen Ansichten
den Ergebnissen der modernen Sociologie näher kommen konnte,
als derjenige Begründer der Geschichtsphilosophie, welcher in
einzelnen seiner Ausführungen eine überraschende Aehnlichkelt
mit dieser jüngsten Wissenschaft aufweist. Während Kant gerade
in seinen Ansichten von der Kultur und ihrer Bedeutung ein
Ideen, S. S4ß; Humanitätsbriefe, Bd. XVI IL, S. 237, 248.
») Ideen, S.371, 372.
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direkter Vorläufer Bucklös zu sein scheint, schauen die ethisch-
metaphysischen Betrachtungea Herders eher in die Vergangenheit
als in die Zukunft, eher auf einen St. Pierre und J. J. Rousseau
zurück, als auf die Sociologie unseres Jahrhunderts hinaus.
Wenn wir uns fragen, wie konnte Kant, trotzdem er einen
ethischen Portschritt suchte, auf realem, festen Boden bleiben,
scheint mir darauf nur eine Antwort möglich zu sein: dieser
Portschritt ist für Kant ein blosses teleologisch-regulatives Prinzip,
und nicht eine metaphysische Hypothese oder eine Erfahrungs-
thatsache; sein Glaube an diesen Portschritt ist weder ein em-
pirischer, noch ein metaphysischer (wie in der Geschichtsphilo-
sophie Herders), sondern bloss ein moralische7\
5. Entwicklungslehre.
Dieser Gedanke des Portschritts und die mit ihm verbun-
dene teleologische Weltanschauung führen uns auf ein neues
Gebiet — auf die Entwlckluhgslehre beider Phifosophen. Her-
dern selbst erschien der transcendentale Idealismus Kants als
direkter Gegensatz der Entwicklungsgeschichte ; daher stellt er
auch den kantischen „lehren Kategorien und Anschauungs-
formen" seine lebendigen und wirkenden Kräfte entgegen; da-
her bekämpft er auch Kants Begriffe von Raum, Zeit und
Kausalität, als erst vom Menschen in die Welt hineingebrachte
metaphysische Pormen, die ohne ihn keine Existenz hätten, um
an ihre Stelle seine der Welt immanenten, wirkenden, aus sich
selbst und ohne jedes menschliche Zuthun sich entwickelnden
Naturkräfte zu setzen. Dasselbe Verhältnis zwischen Herder und
Kant erblicken auch einige neuere Verteidiger des ersteren, *)
und andererseits wird derselbe Einwurf von Neuem gegen Kant
erhoben. Und in der That scheint beim ersten Anblick die
Kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich
jede Möglichkeit der Erforschung der Natur und mithin auch
ihrer naturgemässen Entwicklung auszuschliessen. Wenn wir
uns andererseits daran erinnern, dass der Entwicklungsgedanke
der grösste und tiefste Gedanke Herders war, wenn wif be-
denken, dass dieser einzige Gedanke, in Herders Naturell be-
gründet, auf alle seine Geistosprodukte einen unvergänglichen
') So Pfleiderer, Böhmer, Bärenbacli.
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- 93 —
Stempel legte, so entsteht in uns die Hoffnung, in diesem Punkt
wenigstens könne und werde unser Denker den Sieg davon
tragen. Lesen wir femer solche Auszüge rein naturwissenschaft-
lichen Charakters, wie Pfleiderer, Böhmer oder Bärenbach aus
seinen Schriften gemacht haben, so werden wir in dieser un-
serer Hoffnung noch mehr bestärkt. Nehmen wir aber Herders
Werke in ihrem ganzen Umtange, so werden sich auch ganz
entgegengesetzte Aeusserungen Herders nicht wegreden lassen.
Und wenn sogar Bärenbach, der Herder zu einem direkten Vor-
läufer Darwins und Häckels stempelt, in den ,Ideen* „Stellen
begegnet, in denen der Dichter den Denker und Forscher über-
wältigt hat**, und sie dadurch wegzudisputieren sucht, dass er auf
andere hinweist, , welche die reinste Krystallisation der Darwin-
schen Lehre zeigen", so könnten wir ja den Satz umkehren,
und die letzten Sätze durch die ersteren wegräumen. In Wirk-
lichkeit aber lassen sich weder die einen, noch die anderen
läugnen; man muss den Denker nehmen, so wie er war und
nicht so, wie er nach unserer Meinung sein sollte; mit einer
Hineininterpretierung modemer Standpunkte der Wissenschaft
erweist man auch unserem Philosophen keinen guten Dienst,
denn dann tritt das Widersprechende seiner Aeussemngen nur
mit doppelter Stärke hervor, und dasjenige, was bei unvoreinge-
nommener Betrachtung als relative Wahrheit erschien, erscheint
jetzt als unverzeihliche und unerklärUche Inkonsequenz. Kehren
wir daher zur Persönlichkeit Herders selbst zurück, so finden
wir für diesen, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht
zu beseitigenden, Widerspmch eine Erklämng, welche ihn von
der rein menschlichen Seite aufhebt; wir finden diese Erklämng
in Herders Naturell, in welchem delr Wissensdrang, das uner-
müdliche Forschen auf so wunderbare Weise mit der hemmenden
Sucht der Befriedigung des Gemütes zusammentraf, in welchem
das Denken und das Fühlen, diese beiden Pole der menschlichen
Natur, die liberale und die konservative Seite derselben, so eng
mit einander verbunden waren, und so beständig ein Jedes die
Herrschaft über das Andere führen wollte.
Wie dieser sonderbare Zusammenhang. auf Herders geistige
Thätigkeit gewirkt und die Ausarbeitung seines Entwicklungs-
gedankens bedingt und zugleich gehemmt hat, haben wir schon
gesehen. Eine reine Entwicklungstheorie, die das ewige Werden
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— 94 —
in der. Natur, betrachtet, und weder vom betrachtenden Geiste,
noch von äusseren in sie willkürlich hineingebrachten Gesetzen
abhängt, kennt weder von vorneherein aufgestellte Zwecke, noch
bestimmte Schranken, noch gewisse menschUchen Absichten;
sie ist ewig, wie die Natur selbst ; ihre Gesetze und ihre Zwecke
sind nicht ausser, sondern in ihr selbst. Je unabhängiger von
jedem teleologischen Ausdeuten, je freier von jedem mensch-
lichen Bedürfnis, desto gesicherter ist sie vor jedem Wandel
der Zeit, desto grösser ist ihr Anteil an der Wahrheit. Eine
solche Entwicklungstheorie fordert von ihrem Träger absolute
Freiheit des Gedankens; sie fordert, dass der Forscher alle Be-
dürfhisse seiner Natur im Zaume halte, ohne seinem Denken
irgend welchen Zwang aufzuerlegen. Der tief empfindende Gemüts-
mensch Herder war nicht dör gegebene Mann dazu; wohl be-
trachtete er mitfühlend jedes Entstehen und Vergehen, aber
eben daher konnte er dabei, zu sehr von seinem Gefühl be-
herrscht, nicht unparteiisch verbleiben ; wohl war er ein liberaler
Forscher, insofern er keine Vorurteile bewusst besass, aber
desto grösser war seine Abhängigkeit von solchen fast allgemein
menschlichen Vorurteilen, von welchen er sich keine Rechen-
schaft gab. Der Fehler seines Liberalismus besteht darin, dass
er nur in seinem Gemüt imd nicht in der Kraft seines Denkens
begründet war.
Wie ernst auch Herders Streben, das ewige Werden unvor-
eingenommen zu beobachten, sein mag, so kann er doch nie
von Zwecken absehen, und zieht sie, vielleicht auch unbewusst,
hei jedem Entstehen und Vergehen herbei. In der Gestalt der
Erde („Ideen", S. 42, 45), in den Formen der Erdorganisation
(„Ideen", S. 49), in den Gesetzen des Pflanzenreichs („Ideen*, S.52,
98), wie auch des Tierreichs („Ideen", S. 60, 83, 132, 140, 168), ja
sogar im allgemeinen Kampf ums Dasein („Ideen ^, S. 61, 1,78;
Bd. XVIII, S. 118), und endlich am meisten in der Organisation
des menschlichen Körpers („Ideen", S. 69, 114, 119, 127), sieht
Herder nichts anderes als Zwecke der gütigen Vorsehung. Die
ganze Naturgeschichte ist ihm eine grosse Erziehungsanstalt,
deren Leiterin dieK ünstlerin Natur ist („Ideen", S. 86, 104, 333;
auch Bd. XVII, S. 120, Bd. XVIII, S. 246, Bd. V, S. 513). Mit
prophetischem Blick stellt Herder die erhabene Synthese der
ganzen Natur in seiner Stufenleiter der Wesen auf; der Mensch
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ist nach ihm nicht.s weiter als das letzte Glied in der grossen
Reihe der Wesen, welche ihm vorangegangen sein raussten
(„Ideen", S. 70, 401); nun kommt er zur näheren Bestimmung des
Menschen und trennt ihn von der übrigen Natur nicht nur
ethisch, sondern auch physisch („Ideen", S. 109, 112, 127, 141,
257, 405, 435 etc.) und ernennt ihn sogar zum Herrn der Erde
(„Ideen", S, 272, 425). Der Mensch ist Produkt der Erde, heisst
es in den ersten Büchern der „Ideen" (S. tSl), „ein Bruder aller
Erdorganisationen "^j aber plötzlich erwacht Avieder das alte Vor-
urteil, als ob der Mensch der Zweck der Schöpfung sei, und nun
erklärt Herder, die Erde sei um des Menschen willen so und
nicht anders von der Vorsehung geschaffen („Ideen", S. 42, 45).
Der Zweck der Herderschen Geschichtsphilosophie ist, nachzu-
weisen, dass wir eigentlich nicht Menschen sind, sondern Men-
schen werdefi („Ideen", S. 351) ; nun aber kommt Herder zu seiner
Humanität und erklärt sie für eine „Uranlage des Menschen"
(„Ideen", S. 395). Diese am meisten in die Augen springenden
Inkonsequenzen der Herderschen Entwicklungslehre zeigen
so recht ihren Doppelcharakter.
Weil Herder selbst der vielseitigste Vertreter des Lebens
war, liebte er dasselbe so innig und verfolgte es so aufmerksam ;
weil er aber zugleich mit der Vielseitigkeit des Lebens auch
seine individuelle Beschränktheit in sich trug, vermochte er nicht,
es in seinem ganzen Umfang unvoreingenommen und unpar-
t.eiisch zu beurteilen. Als ein grosser Vorkämpfer für die ent-
wicklungsgeschichtliche Forschung, sie mehr instinktiv ahnend
und prophetisch voraussehend, als bewusst durchdenkend und
konsequent durchführend, steht er an der Grenze der beiden
Epochen der Wissenschaft, der alten metaphysischen imd der
modernen naturwissenschaftlichen; zu beiden zieht ihn sein
Naturell und von beiden fühlt er sich zugleich in ihrer kon-
sequenten Durchführung abgestossen ; wie ein neuer Prometheus
sucht er die Unmündigkeit der Menscheit aufzuheben und ihr
das Feuer der Denkfreiheit vom Himmel herunterzuholen; aber
bei ihm gesellen sich zu den Qualen des griechischen Helden
noch die des inneren Zweifels, des tiefen Zwiespalts; er ist
zugleich von den Göttern, von der Menschheit und von sich
selbst zu dem „schHmmsten Selbstmord verurteilt, dem Selbst-
mord des ewigen Zweifels'*.
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— 96 —
Sehen wir uns jetzt die Entwicklungslehre an, wie sie
sich bei Herders Gegner ausdrückte. Herder hatte Unrecht, in-
dem er das System Kants als Hemmung für die freie Forschung
und für den Fortschrftt der Naturgeschichte betrachtete ; er hatte
Unrecht, indem er einen Widerspruch zwischen der transcen-
dentalen Philosophie und dem Entwicklungsgedanken fand^
denn der transcendentale Idealismus führt nicht von der Er-
fahmng ab, sondern weist im Gegenteil auf sie hin. Die Ent-
wicklungstheorie, sofern sie das empirische Werden einschliesst,.
sofern sie sich mit den blossen Erfahrungsthatsachen begnügt^
ist von dem transcendentalen Idealismus el)en so wenig aus-
geschlossen, wie jede wissenschaftliche Betrachtung über-
haupt. Sind auch die Gesetze, nach welchen wir die Natur be-
urteilen, transcendental-ideal, so sind sie zugleich auch empirisch
real, mit anderen Worten, sie sind für uns eine Denknotwen-
digkeit, und als solche haben sie für uns Menschen einen ebenso-
bindenden Zwang, als ob sie Seinsnotwendigkeit wären. In
diesem Sinne scheint mir Kant mit der Entwicklungslehre nicht
nur in keinem Widerspruch zu sein, sondern im Gegenteil sie gegen
alle Angriffe von der skeptischen Seite zu schützen. Nun könnte
aber dagegen geltend gemacht werden, dass die Entwicklungs-
lehre auf blosse Thatsachen nicht angewiesen werden kann, da
ja dasjenige was sich entwickelt, sich zu Etwas entwickeln
muss, und dass sie daher das empirische Element mit dem teleo-
logischen Verbinden soll; da aber die theoretische Teleologie im
eigentliciien Sinne aus dem Kantischen System ausgeschlossen
ist, so könnte es den Anschein haben, als ob mit ihr auch die
Entwicklungsgeschichte ausgeschlossen wäre. Mir scheint aber
diese Forderung des teleologischen Elements nur eine bedingte
Berechtigung zu haben; tritt sie nämlich mit dem Anspruch auf
absolute Gewalt auch in der Naturwissenschaft auf, so fördert
sie nicht mehr ihren Fortschritt, sondern hemmt ihn nur.
Wir haben bei Herder gesehen, wie das Streben, aus der Be-
obachtung des uns Zugänglichen, Beschränkten, auf Weltgesetze zu
schliessen, seine Entwicklungslehre zu einer bloss willkürlichen In-
terpretierung der Natur gemacht hat. Vorsichtiger geht Kant mit
dem Problem um, und ihm gelingt es, dieser grössten Schwie-
rigkeit der Naturwissenschaft, des richtigen Gebrauchs des teleo-
logischen Prinzips, Herr zu werden: das letztere ist für ihn
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— 97 —
nämlich kein konstituitives, sondern bloss ein regulatives^ heu-
ristisches Prinzip; es giebt uns keine wirklichen Weltgesetze,
sondern nur Gesetze, an welche wir, durch unsere menschliche
Natur dazu gezwungen, uns halten müssen.
Es ist wahr, dass Kant auch eine Teleologie im eigentlichen
Sinne, als Theorie der Endzivecke zulässt, aber diese gehört nach
ihm nicht mehr in unsere Erkenntnis weit, sondern nur „in die
reflektierende Urteilskraft,** sie dient „zur blossen Beurteilung
der Erscheinungen, denen die Natur nach ihren besonderen Ge-
setzen als unterworfen gedacht werden könnte und nicht zur
Ableitung ihrer Produkte von ihren Ursachen^. Das Motiv der
wahren Teleologie ist nach Kant bloss praktisch, wie es ja auch
ihre Zwecke sind; eben daher aber darf und kann sie nichts
mit der Erkenntnis zu thun haben ; auch ist die Entwicklungs-
theorie in dem Sinne, in welchem sie bei Kant die Natur- und
Preiheitsgeschichte verbindet, nämlich als allmählicher Fortschritt
der ersteren zur letzteren, nichts mehr als ein blosses Postulat
der praktischen Vernunft, und wenn sie auch als solche nie aus
den Augen verloren werden soll, so darf sie doch nicht
unsere freie Forschung beeinträchtigen und beeinflussen. Diese
Scheidung des theoretischen und des praktischen Elements in
der Entwicklungslehre scheint mir von so fundamentaler Be-
deutung zu sein, dass sie allein im stände wäre, alle Ueber-
treibungen der letzteren zu verhindern und dieselbe auf das
wahre Feld ihrer Thätigkeit anzuweisen.
Diese Kantische Scheidung des Wissens und des Handelns,
des Wahren und des Guten, war derjenige Punkt, welcher bei
Herder am meisten Anstoss erregte; und auch jetzt gehört sie
zu denjenigen Seiten des Kriticismus, welche noch immer Be-
denken hervorrufen. Diese Scheidung wird in der Theorie des
Schönen bei Kant aufgehoben, an die Stelle der Kluft zwischen
dem Praktischen und dem Theoretischen tritt ihre Einheit.
Und so führt uns die Betrachtung der philosophischen Systeme
unserer Denker auf das letzte Gebiet, auf welchem sie zusammen-
treffen, auf ihre Aesthetik.
6. Aesthetik.
Auf keinem Gebiet scheint mir ein entscheidendes und
gerechtes Urteil über das Verhältnis beider Denker so schwer
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— 98 —
zu sein, wie gerade in der Aesthetik ; der Wert der Herder'schen
Aesthetik wird im Verhältnis zu der Kantischen so verschieden
angeschlagen, dass man schon durch diese Thatsache geneigt
sein möchte, die Verschiedenheit der beiden Philosophen gerade
auf diesem Qebiete mehr als auf allen anderen auf zwei radikal
entgegengesetzte Auffassungen der Aesthetik zurückzuführen.
In der theoretischen Philosophie war es der Unterschied
der sinnlichen Wahrnehmung und der philosophischen Abstrak-
tion, des wirklichen Lebens und des sich über dasselbe erhebenden
Gedankens, welcher uns die Uneinigkeit der beiden Denker
erklärte ; in der praktischen war es der Unterschied der gewöhn-
lichen Lebensweisheit und der hohen philosophischen Ethik,
der alltäglichen Sittlichkeit und der erhabenen, kaum erreichbaren
Moral. Jetzt, auf dem Gebiet des Schönen, ist es ein ähnlicher
Unterschied; Herder, selbst Dichter und feiner Kunstkritiker,
ein seltener Kenner der Musik und der Bildhauerei, Herder
spricht von der Poesie als Dichter, von der Plastik als Bildhauer,
von der Musik als Musiker, er urteilt über die Kunst wie ein
Künstler; wir finden bei ihm ein feines Verständnis und ein
empfängliches Gefühl für ihre Schönheiten, eine nähere Bekannt-
schaft mit ihren Arten und ihren Theorien, aber zugleich auch
eine Voreingenommenheit für dasjenige, wofür er von der Natur
mehr Sinn hat ; zugleich ein Befangensein von seinem jeweiligen
Standpunkt, zugleich eine allzu grosse Abhängigkeit vom empi-
rischen Bindruck der einzelnen Werke ; das Urteil über die Kunst
überhaupt wird oft durch das gegebene Kunstwerk und seinen
Eindruck beeinträchtigt: das Absolute wird zu sehr durch das
Individuelle verdunkelt.
Anders verhält es sich mit Kant. Ob auch er von der Natur
besonderen Sinn für die schönen Künste hatte, ob die einzelnen
Kunstwerke, vor allem musikalischer Art, ihm einen besonderen
Genuss darboten, und ob man seinem Urteil über einzelne Er-
scheinungen der Kunst und über die empirische Anwendung der
Kunsttheorien vertrauen konnte, das scheint mir mehr als zweifel-
haft zu sein ; aber vielleicht eben darum, weil er für keine Kunst
besonders eingenommen war, konnte er sie alle unparteiisch
beurteilen. Ohne von einem besonderen individuellen Schönheits-
sinn geleitet zu werden, war er in seinem Urteil über das Schöne
auf das allgemein Menschliche angewiesen; frei von allen künst-
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— 99 —
lerischen Sympathien und Antipathien, konnte er von der Höhe
seiner Abstraktion das Qesamtfeld der Schönheit gerechter be-
urteilen und, was noch wichtiger ist, sein Gedanke, frei von
jedem Einfluss eines zersplitterten Gefühls, konnte seine Kunst-
theorie zu einer Einheitlichkeit erheben, welche bei einem prak-
tischen Künstler durch seine individuelle Stellung beeinträchtigt
wäre. Dass Kant trotz dem Mangel an empirischem Material eine
Kunsttheorie aufgestellt, welche bis jetzt ihre Gültigkeit nicht
verloren hat, scheint mir desto mehr ein Beweis seines Genies
zu sein, da eine solche abstrakte Betrachtungsweise, wie die
seinige, der Gefahr des leeren Spekulierens ausgesetzt ist.
Das Problem, vor welches beide Denker mit diesen Vorzügen
nnd Nachteilen treten, ist die Definition der Schönheit ; die grosse
Schwierigkeit dieses Problems besteht darin, dass eine feste, von
Zeit und Land unabhängige Definition des Schönen im Wider-
spruch mit dem wandelbaren und immer wechselnden Geschmack
steht. In der ganzen Kunstgeschichte bemerken wir ein ewiges
Schwanken zwischen beiden Seiten der Kunst; bald ist es die
absolute Schönheit und, als ihr empirischer Ausdruck, die festen
Kunstregeln, bald die freie Schönheit mit der ihr entsprechenden
grdsseren Entwickelung der Individualität des Künstlers, welche
die Oberhand gewinnt. In der Zeit, in welche die Thätigkeit
Herders und Kants fSUt, ist es eher die erste, als die zweite
Elrscheinimg, welche wir in der Kunst antreffen. Die metaphysische
Schönheitslehre Baumgartens einerseits und der Druck des fran-
zösischen Pseudoklassicismus mit seinen strengen Regeln anderer-
seits waren diejenigen Kunstrichtungen, wel ehe Herder vorfand,
und im Widerspruch zu welchen er seine Fordenmg der freien
Kunst, der naturwüchsigen Schönheit, des indivi duellen Geschmacks
aufstellte. Freilich verliert er auch das Ideal, das Absolute nicht
ganz aus den Augen; schon im „Vierten kritischen Wäldchen"
spricht er von dem „Ideal der Schönheit für jede Kunst, für jede
Wissenschalt, für den guten Geschmack überhaupt*, das unab-
hängig ist von jedem „National-, Zeit- und Persona Igeschmack"
(S. 41). Aber umsonst suchen wir nach einem systematisch be-
wiesenen Zusammenhang dieses Allgemeinen und des Besonderen ;
dieser Zusanunenhang wird mit der Herder'schen Theorie des Einen
in Vielem stillschweigend vorausgesetzt. Aber nehmen wir au ch
dieses dogmatische Grundprinzip an, es bleibt doch eine Schwierigkeit
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— 100 —
dabei: wo liegt in jedem besonderen Fall das eigentliche und
bestimmende Schönheitselement? Ist es eine feste Eigenschaft
des betrachteten Gegenstandes oder ein Zug des Betrachtenden ?
Es ergiebt sich schon aus der panth eistischen Weltanschau-
ung Herders, dass seine Schönheit eine objektive sein muss, dass
er sie in der Natur selbst, als ihr Gesetz, ihr Phänomen, und
nicht als blosses Substrat des menschlichen Geistes betrachten
muss; es ergiebt sich ebenso von selbst, dass er in der Schönheit
einen Ausdruck der Naturvollkommenheit, des individuellen
Wohlseins sehen wird; es ist ferner eine strenge Konsequenz
seines ganzen naturalistisch angelegten Systems, wenn er von
einem „Naturschönen", oder „An sich Schönen" spricht, i)
Unerwartet erscheint schon eher seine andere, beim ersten
Anblick der ersteren widersprechende Ansicht von dem „mir
Schönen^; es ist klar, dass damit ein individuell bedingtes
Schöne an die Seite des bereits besprochenen objektiven Schönen
i^estellt wird. „Herders Schönheitsurteil," sagt Lotze, „ist mehr
als subjektiv, es ist individuell.** Sind diese beiden Gedanken
wirklich nur verschiedene Abstufungen desselben Begriffs, so-
liegt freihch zwischen beiden Schönheitsdefinitionen Herders
ein ganz unüberbrückbarer Widerspruch, der uns auf eine
ausserordentliche Inkonsequenz unseres Denkers schliessen liesse.
Aber mir scheinen die Begriffe „individuell" und „objektiv",
wenigstens in dem Sinne, in welchem sie bei Herder zu fassen
sind, nicht so widersprechend zu sein: in der Herderschen Welt--
anschauung bildet das Individuum ein dem ganzen Universum
vollständig ähnliches Element; der das Schöne betrachtende
Mensch ist ebenso ein Stück Natur, wie auch der von ihm be-
trachtete Gegenstand, sie beide folgen denselben Gesetzen der
Schönheit und Vollkommenheit, sie beide wirken und streben
nach der einen vollkommenen Vernunft, welche in der ganzen
Welt herrscht; das „mir Schöne" richtet sich nach denselben
Kegeln der ewigen und einzigen Harmonie, die auch das „an
sich Schöne" bestimmt; das individuelle Schöne bei Herder
ist in keinem Fall mit dem subjektiven Schönen, wie es seit
) „Kalligone", S. 47, 51, 62, 67, 70, 77, 103.
') S.34, 76, 96, 103, 104, 115, 207.
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— 101 —
Kant als aussernatürliches, nur dem menschlichen Geiste eigenes
Element betrachtet wird, gleichbedeutend; im Gegenteil, es ist
streng objektiv in dem Sinne, dass es innerhalb der Natur und
ihren objektiven Gesetzen seine Wirkimgssphäre hat, sei es nun
in der äusseren Welt oder in dem sie sinnlich anschauenden
Menschen. Aber ein anderer Vorwurt scheint sich mir von selbst
gegen Herder zu erheben : diese Theorie, nach welcher das
unseren Sinnen Verwandte sich ihnen assimiliert, setzt schon
eine innere Harmonie des Empfindenden und des Empfindbaren
voraus, einen Begriff, der von Herder dogmatisch behauptet wird.
Zum zweitenmal soll so dieser BegriflT die Aesthetik Herders dort
zusammenhalten, wo sie in Widerspruch gerät; das allgemein-
menschliche und das sinnlich-besondere Schöne, und innerhalb
des letzteren das eigentlich objektive und das individuelle Ele-
ment, sollen in der Harmonientheorie diejenige Einheit finden,
welche durch ihre widersprechende Natur ausgeschlossen ist.
Aber lassen wir auch diese dogmatische Behauptung als
Thatsache gelten — eine innere, feste Einheitlichkeit und strenge
Konsequenz fehlt dennoch der Herderschen Aesthetik. Ist die
Schönheit ein Ausdruck des individuellen Wohlseins, kann nur
das „sich Vollkommene'^ „mir schön*^ sein (S. 103 — 104), ist die
Schönheit „ausdrückend" in dem naturalistischen Sinne, in wel-
chem Herder das Wort gebraucht, 2) so wird ihre Bedeutung so
sehr erweitert, dass es am Ende schwer fällt, ihr eine bestimmte
Grenze zu ziehen; „sich vollkommen" ist ja die ganze Natur;
die Natur selbst, ohne Beziehung auf den menschlichen Geist,
ist folglich immer schön; ^) das H^ssliche existiert nicht. Wenn
Herder auf der anderen Seite erklärt, schön sei nur dasjenige,
was mir angenehm ist, was mir geföUt,^) so rettet er damit die
Möglichkeit des Hässlichen, aber weil das letztere nur eine indi--
viduelle Grundlage, nur ein individuelles Kriterium hat, ist es
auch so schwankend und unsicher, wie es uns in der Herder'-
schen Theorie des Hässlichen erscheint. Das Kriterium der
Schönheit, als Ausdruck des Wohlseins, ist zu allgemein, so
allgemein, dass es die ganze Natur umfasst, und das Kriterium
') S. 80, 34, 40, 100.
') S.77, 115.
») S. 79, 81, 86.
*) S. 78.
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— 102 —
der Schönheit als individuelle Sympathie ist zu wenig allgemein,
so dass es keine feste Formen mehr hat; es ist überhaupt kein
zureichendes Kriterium.
So bricht die Herdersche Theorie der Schönheit auf beiden
Enden in sich selbst zusammen; sie ist zu individuell, um eine
allgemeine Theorie zu bilden, und sie ist zu verschwommen, um
den besonderen Fall zu bestimmen. Auch die Harmonie kann
diesem Fehler nicht abhelfen, denn sie kann im besten Fall
erklären, wie diese beiden, scheinbar widersprechenden Erklärungen
bei Herder neben einander ungestört stehen können, aber sie
giebt ihnen nicht diejenige Wahrheit, welche ihnen fehlt. Beide
Bestimmungen fassen das Schöne als Ausdruck der Vollkommen-
heit und des Wohlseins auf, sei es des Betrachtenden oder des
Betrachteten; in beiden Fällen ist das Schöne teleologisch; die
teleologische Betrachtung aber ist nur subjektiv zu gebrauchen,
und kann eben daher dem Herderschen objektiven Schönen
keine genügende Grundlage geben; andererseits aber ist das
teleologische Prinzip überhaupt so sehr von dem rein ästhe-
tischen entfernt, dass es, in die Aesthetik eingeführt, die-
selbe als besondere Wissenschaft eher vernichten als be-
gründen kann. Mit einem Worte : lassen wir auch die Herdersche
Theorie der inneren Harmonie, des festen Zusammenhangs und
der Einheitlichkeit der ganzen Natur zu (eine Bedingung, auf
welcher seine ganze Aesthetik beruht), so fehlt es auch dann
dem Herderschen Schönen an einer festen Definition, an einem
allgemeinen, bleibenden Element und endlich an einem gültigen
Kriterium.
Wenn aber seine Aesthetik im Vergleich mit ihrem jetzigen
Zustand nicht mehr stichhaltig erscheint, so muss man doch
nicht vergessen, dass im Verhältnis zu seiner Zeit diese seine
Ansichten einen entschiedenen Fortschritt bedeuten. Im Wider-
spruch zur halb-metaphysischen trockenen Aesthetik eines Baum-
garten und zum Formalismus der pseudoklassischen Richtung
mit ihrer Vorherrschaft in der Litterat ur erscheint der begeisterte
Ruf Herders: „kehrt zur Natur und zu ihren natürlichen Aeusse-
rungen zurück!" wie eine erlösende Parole des heranbrechenden
freien Zeitalters. Herders Fehler ist es freilich, dass er in
diesem seinen Freiheitsdrang nicht Mass zu halten wusste,
und in seiner Flucht vor trockenen Schulregeln in das andere
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— 103 —
Extrem, der unbestimmten und verschwommenen Naturverherr-
lichung, geriet.
Wie hat aber Kant dieses Problem der Aesthetik gelöst?
Die erste Schwierigkeit desselben, die Versöhnung der allgemeinen,
absoluten und der besonderen, veränderlichen Schönheit, besei-
tigt er dadurch, dass er bloss die erste für das „reine Schöne'^
erklärt, während er die letztere als bloss sinnliche Erscheinung
der ersteren betrachtet ; indem ferner Kant das reine Schöne für
apriorisch erklärt, und bloss das sinnliche an der Schönheit
beteiligte Element für empirisch hält (entsprechend der Form
und der Materie der Erkenntnis), löst er auch die zweite
Schwierigkeit ; dem eigentlich objektiven Element tritt jetzt nicht
mehr das individuelle (wie bei Herder), sondern das rein sub-
jektive entgegen; obgleich beide in jedem einzelnen Phänomen
der Schönheit vertreten sind, so widersprechen sie doch nicht
einander, weil einem jeden von ihnen eine gesonderte Stellung
angewiesen ist; das absolute, unvergängliche, allgemein gültige
Element des Schönen ist vollständig subjektiv, das individuell-
verschiedene, das vorübergehende und dem Zeit- und Volks-
geschmack angepasste ist objektiv. So verbindet eigentlich Kant
beide Seiten der Aesthetik, die absolut wissenschaftliche und die
sinnlich künstlerische, nur dass er, um der Verwirrung beider
zu entgehen, sie zunächst scharf absondert; sich selbst auf die
Erörterung der ersten beschränkend, überlässt er die Behandlung
der zweiten Künstlern vom Fach. Die ^anhängende Schönheit"
scheint mir nicht, wie Haym sich ausdrückt (Bd. II S. 701), „nur
hinterher eine Beziehung des Schönheitsurteils zu der eigenen
Bedeutung der Dinge herzustellen," sondern sie ist vielmehr für
Kant eine von vorneherein feststehende Thatsache, welche eben
daher seines Beweises weniger bedarf, als die „reine Schönheit".
Wenn Zimmermann, den Kantischen ästhetischen Subjekti-
vismus bekämpfend, an die Stelle der Harmonie unserer Seelen-
kräfte, als Bedingung des Schönen, die Harmonie überhaupt
stellt, wenn er überhaupt die inneren Verhältnisse unseres Geistes,
auf welche Kant das Wesen der Schönheit zurückführt, durch
objektive Urverhältnisse der Natur ersetzen will, so scheint mir
dadurch die ganze Aesthetik in ihren dogmatischen, vorkritischen
Zustand zurückgeführt zu werden, geschweige denn, dass durch
diese Verwechslung der Kantischen Begriffe, subjektiv und
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— KU —
objektiv, die ganze Reform Kants rückgängig gemacht würde.
Lässt man aber dem Kantischen ästhetischen Subjektivismus
seine Geltung, wie es z. B. Lotze thut, so gelangt man mit ihm
zu einem Schönen, welches seine Berechtigung weder in seiner
Nützlichkeit, noch in seiner Annehmlichkeit, sondern nur in
seiner von jedem äusserlichen Zwang unabhängigen Form hat,
welches nicht an unsere individuell-egoistische, sondern nur an
unsere subjektiv-ideale Bedürfnisse angepasst werden muss ; da-
her ist auch das Kantische Schöne frei von jedem sinnlichen
Interesse, aber auch von jedem begrifflichen Beurteilen; es ist
vollständig unabhängig und in sich allein bedingt, aber zugleich
steht es auch in höchster Uebereinstimmung mit unserem Sub-
jekt, in ihm fliesst das Objektive und Subjektive zusammen, in
ihm trifft unser Geist mit der Natur zusammen, das Schöne
stellt diejenige Einheit wieder her, welche das ganze System
auf dem Wege der Scheidung vorbereitet hat : „Die Urteilskraft
giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohl-
gefallens ihr selbst das Gesetz, und sieht sich sowohl wegen
dieser inneren Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äusseren
Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, auf etwas
im Subjekte selbst und ausser ihm, was nicht Natur, auch nicht
Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem
Uebersinnlichen verknüpft ist, bezogen, in welchem das theo-
retische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche
und unbekannte Art zur Einheit verbunden ist**. (Urteilskraft,
S. 255.)
So kommen die überall scharf gesonderten Begriffe des
Wahren und Guten im Schönen wieder zusammen, und bilden
mm eine Einheit, die nicht dogmatisch behauptet wird, sondern
als bewiesene Thatsache dasteht.
Den entgegengesetzten Weg nimmt Herder; nachdem er
in seinem ganzen System den Widerspruch unserer theo-
retischen Erkenntnisse und unserer praktischen Ideale geläugnet,
nachdem er in seiner ganzen geistigen Thätigkeit nach der
Einheit des Wissens und des Wollens gestrebt hat, will er nun
jetzt zu der dogmatisch behaupteten Einheit des Wahren und
Guten noch ein drittes Element hinzufügen — das Schöne ; aber
weil diese Einheit nur dogmatisch behauptet wird, ist sie auch
so künstlich, so äusserlich imd unzusammenhängend; Herders
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— 105 —
auf das Wahre und Gute zurückgehende „ausdrückende Schöne**
(S. 322) ist viel weniger rein ästhetisch, als die von ihm ange-
fochtene (S. 318) Kantische „Schönheit, als Symbol der Sitt-
lichkeit betrachtet*': denn in letzterer ist das Symbol nur sub-
jektiv zu nehmen, während bei Herder der Zusammenhang ein
wirklicher, ein objektiver sein soll — mithin ein solcher,
welcher nicht bewiesen, sondern nur dogmatisch behauptet
werden kann.
Bei seiner unklaren Auffassung des Schönen gelangt Herder
auch nicht zu einer in sich gerundeten Kunsttheorie ; es ist der
Philosoph und nicht der Künstler, welcher der Kunst eine un-
abhängige, von der Wissenschaft imd dem Handwerk gesonderte
Stellimg anweist. ^) Und wenn Kant diese Unabhängigkeit der
Kunst in seinem Begriff des freien, „künstlerischen Spiels" aus-^
drückt, so entgeht er dadurch gleichzeitig den beiden Gefahren,
welchen die Kunst so oft erliegt : der Trivialität der nüchternen
realistischen Nachahmung der Wirklichkeit und der Geflissentlich-
keit der ideen vollen Reflexion: zwei Extreme, welche beide in der
Herderschen Kunsttheorie einander gegenüberstehen. In der
Polemik gegen das Kantische, von ihm missverstandene „Spiel*', ^)
fordert er einen emstön, sittlich bessernden, Ideengehalt; zu-
gleich aber fühlt er das Unpoetische dieser Forderung, und
sucht sie zu mildem, indem er andererseits eine leichte ange-
nehme Darstellung der Begebenheiten fordert, indem er dem
Künstler vorschreibt, „mit unseren Gedanken und Leiden-
schaften zu spieletij sie zu erregen, festzuhalten, zu verwandeln
und verschwinden zu lassen** — mit anderen Worten, er ge-
stattet der Kunst ein absichtliches Spielen zu egoistischen
Zwecken — er verfällt selbst in die Trivialität, welche er
Kant zuschreibt.^)
Uebersetzt man beide Kunsttheorien ins Praktische, so
findet man in Kant den Theoretiker der klassischen Zeit, in
Herder denjenigen der Sturm- und Drangperiode: während
das Kantische „reine Schöne** seinen Ausdruck in den form-
') S. 126, 801.
*) S. 141, 144, 158.
•) S. 158.
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— 106 —
vollendeten Kunstwerken der Klassiker fand, gelangte weder die
Theorie Herders, noch die dichterische Praxis der Stürmer und
Dränger zur künstlerischen Verschmelzung von Form und In-
halt : die erstere blieb derb realistisch, während der letztere sich
in weichliche Sentimentalität und übertriebene Phantasterei
verlor. Man könnte Herders Theorie mit jeder naturalistischen
Richtung überhaupt in Beziehung bringen, auch mit dem
modernen Naturalismus, welcher alle seine, an sich ideale, Pro-
bleme auf so nüchterne, unpoetische und derb-realistische Art
löst. Noch in einem anderen Punkt nähert sich der Kunst-
Naturalismus der Herderschen Theorie: beide streben danach,
die menschliche Persönlichkeit zum vollen Ausdruck zu bringen,
der Individualität zu ihren Rechten zu verhelfen, wenn es auch
auf Kosten der ganzen Menschheit und der allgemeinen Ord-
nung geschehen sollte.
So ist es auch in der Aesthetik nicht der Fachmann
Herder, sondern der Philosoph Kant, welcher unverrückbare,
feste und absolute Regeln aufstellt, und so für die theore-
tische Entwicklung der Kunst von Bedeutung ist. Herders
Verdienst hingegen ist sein unmittelbarer Einfluss auf den
praktischen Fortschritt der Kunst, die tiefgeheiide Wirkung,
welche seine genetische Methode in der Kunst hervorgebracht
hat; wie auf allen Gebieten, so ist auch in der Aesthetik der
beste Gedanke Herders der des naturgemässen Werdens. Die
vergleichende Litteraturgeschichte, die germanische Philologie,
die Forschung auf dem Gebiet der Volkspoesie — alle diese
Zweige der Wissenschaft gehen im wesentlichen auf Herder
zurück; man braucht sich nur an die Bedeutung der von ihm
angeregten Shakespeare-, Ossian- und Homerstudien, an seine
Wirkung auf den jungen Goethe, an den Einfluss der Volks-
liedersammlungen, zu erinnern, um Herders Bedeutung für die
historische Entwicklung der Kunst und vor allem der Litteratur
zu begreifen. Brachte Kant eine Reform auf dem theoretischen
Gebiet, so wirkte Herder auf die angewandte Kunst ; stellte der
erstere absolute Regeln auf, so wies der letztere auf das His-
torisch-Individuelle hin. Unwillkürlich erinnert uns diese Pa-
rallele an den anderen, rein litterarischen Gegner, Herders
an Lessing: auch dieser hatte seine Stellung mehr auf dem
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— 107 —
theoretischen Gebiete, und auch er verhielt sich zu Herder, wie
sich die absoluten Kunstformen und Regeln zu den wandelbaren,
individuell bedingten Kunstrichtungen verhalten ; und wie Herder
und Lessing einander nicht ausschliessen, sondern im Gegen-
teil ergänzen und vervollkommnen, so ergänzen sich auch
Herder und Kant, wenigstens in ihren wahren Behauptungen,
und bilden zusammen eine vollkommene Einheit, die nur klarer
hervortritt, nachdem wir sie beide gesondert und geschieden
haben.
7. Schluss.
Für die Beziehungen Herders zu Kant war die Ansicht des
ersteien massgebend, dass er ein Philosoph der Wirklichkeit, der
Natur, sein Gegner aber ein Philosoph des grübelnden Witzes,
der Schxümetaphysik sei ; wie sehr aber auch Herder selbst davon
überzeugt war, für uns verhält sich die Sache, nachdem wir die
beiden Weltanschauungen einander gegenübergestellt haben, ganz
umgekehrt. Kant und nicht Herder sieht die Wirklichkeit mit
unvoreingenommenem, freiem Blick; Herder hingegen idealisiert sie
und interpretiert in sie sein eigenes Ich; es gelingt ihm dadurch,
seine ganze PersönUchkeit in seiner Weltanschauung zum vollen
Ausdruck zu bringen, aber dafür gelangt er nicht, wie Kant,
zum klaren Einblick in die thatsächUche Welt. Dass das wirk-
liche Verhältnis der beiden Denker demjenigen entgegengesetzt
ist, welches sich Herder vorstellte, dass die Schuld, welche er
seinem Gegner zuschrieb, in Wirklichkeit auf ihm selbst lastet,
bringt eine tragische Ironie mit sich, welche um so mehr unser
Mitleid mit Herder hervorruft, als er selbst seiner Sache voll-
ständig sicher war.
Der Kriticismus war ein harter Prüfstein für Herder; wo
sein eigenes System nicht fest genug war, wo es in sich
selbst die Keime des Verfalls trug, da erlag es dem stren-
gen, klaren Gedanken Kants. Dieser hat selbst mit seiner
Recension der ,,Ideen" den ersten Schritt zu diesem Prüfen ge-
than, und Herder hat dasselbe vollendet, indem er in seiner
Polemik gegen Kant die schwachen Seiten seiner eigenen Theorie
blossgelegt hat. Die nähere Betrachtung beider Denker hat uns
gezeigt, wie nur die falschen Aeusserungen Herders Kant wider-
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— 108 —
sprechen, während der gesunde Kern seiner Gedanken den letzteren
nur erg,ä^zt; seine dynamische Weltanschauung, sein ästhetisch
ausgebildetes Gefühl, nur in reinere Formen gegossen, von jeder
Stockung, die seine Persönlichkeit mit sich brachte, befreit,
stehen dem Kriticismus ergänzend zur Seite. Auch für Kant
scheint diese Polemik ein Prüfstein zu sein, aber an diesem
bricht nicht der Kriticismus selbst zusammen, sondern nur klarer
wird es, zu welchen Missverständnissen und Missbräuchen derselbe
führen kann; die gleichen Vorwürfe erhoben sich auch später,
entweder gegen Kant selbst von solchen, die wegen ihrer Geistes-
verschiedenheit Kant nicht verstehen konnten, oder aber gegen
solche, die sein System weiterzuführen dachten und es nur ver-
schlimmbesserten. Aul allen Gebieten hat der Kantische Kriti-
cismus unstreitig einen theoretischen Vorzug vor dem naiven
ReaUsmus Herders. Das systematische, konsequente Denken war
überhaupt nicht der Vorzug Herders. Vielleicht weil er nicht so
sehr nach der reinen Erkenntnis, als nach geistiger Befriedigung
und innerer Ruhe strebte, störte ihn der Widerspruch des Ideals
imd der Wirklichkeit nicht ; er erhob in seiner poetisch-religiösen
Phantasie die Wirklichkeit eigenmächtig zum Ideal; sie beide
versöhnten sich in seinem naiven Realismus; Welt und Bewusst-
sein erscheinen bei ihm als eine unklare imd verschwommene
Einheit.
Kant hingegen sonderte beide; er durchschnitt die verworrene
Einheit wie einen gordischen Knoten, und stellte als höchstes
Ziel der Wissenschaft das ewige Streben nach einer inneren und
harmonischen Einheit der beiden Teile auf. Inzwischen entwarf
Herder eine prophetische Zeichnung dieser Einheit; er streute
fruchtbare Samen in den Boden, welchen sein Gegner vorbereitet
hatte. Ohne ein geschlossenes System aufzustellen, warf Herder
nur einzelne Gedanken hin und bahnte ihnen durch öftere
Wiederholung den Weg, so dass sie später, in unserem Jahr-
hundert, bereichert wieder auftreten konnten. Während Kant
selbst mit schöpferischer Hand sein grosses Werk zu Ende brachte
und die Wissenschaft in neue Bahnen führte, war es die Auf-
gabe Herders, erzieherisch aut seine Mitwelt zu wirken, allen
Bestrebungen seines Zeitalters den Stempel der Humanität auf-
zudrücken und in seinen Zeitgenossen, einem Goethe und einem
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— 109 —
Alexander von Humboldt, die Begeisterung für die Forschung
Bu wecken.
Während Kants grosses philosophisches System in theo-
retischer Hinsicht kaum verbessert werden kann, werden Herders
Gedanken immer weitergeführt werden, ohne dass das Ganze
darunter litte. Herder selbst hat seine Arbeit zu keinem Ab-
schluss gebracht, aber sein Beispiel des rastlosen Suchens und
Porschens, seine für das Ideal und für die Wahrheit begeisterte
Rede spornte andere zur Vollendung seiner Arbeit an. Wenn
auch Herder weder ein direkter Vorläufer Darwins und Hseckels^
noch ein Begründer der modernen Entwicklungslehre genannt
werden kann, so ist er doch der Erzieher einer realistischen^
naturforschenden Generation. Zu Herders Zeiten waren die Ge-
danken vom ewigen Werden, von der allmählichen Entwicklung
sogar in der naiven Form, in welcher er sie ausgesprochen hat,
etwas ganz Neues, Unerhörtes, etwas, wofür viele Lanzen ge-
brochen werden mussten, bevor es Eingang fand. Die erste
Lanze brach Herder; zwar war sein Erfolg nicht vollständig,
aber seinen Nachfolgern war es schon leichter, den von ihm
gebahnten Weg zu gehen. Herder that den ersten Schritt zum
Anbau der neuen Wissenschaft, aber in den alten hergebrachten
Traditionen befangen, stand er noch nicht fest auf dem un-
bebauten Boden. Dem ersten Schritt aber folgten andere; man
eroberte am Ende das Gebiet, welches der naive Realist des
vorigen Jahrhunderts ahnend vorausgesehen , aber zu früh sich
im Besitz desselben geglaubt hatte.
Wurde Kants grosses theoretisches Gebäude in seinem
eigenen Geiste ausgeführt, so konnte Herder die von ihm
angebahnte Richtung nicht selbst abschliessen, denn in einer
Theorie, die so sehr viel Erfahrung und Kenntnisse, wie die
Entwicklungslehre, fordert, kann unmöglich das Wissen und
Können eines Menschen ausreichen; da müssen sich viele Men-
schenkräfte erproben, viele Hände müssen angelegt werden, viele
Generationen müssen die Wahrheit der neuen Lehre, die Stand-
hafligkeit des neuen Baues erproben, bis endlich das Ganze in
seiner abgeschlossenen Vollkommenheit und Dauerhaftigkeit da-
steht. Dafür aber hat auch die empirische Richtung, welcher
Herder angehört, den Vorzug, dass sie in ihrer nunmehrigen
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— 110 —
Ausbildung allgemeine Anerkennung geniesst, so dass sogar der
Wert und die Richtigkeit der rein spekulativen Theorie Kants
daran gemessen wird, inwiefern dieselbe mit dem Entwickelungs-
gedanken im Einklang steht. Im Laufe der Zeit wurden die Rollen
gewechselt: unterlag erst der Vorläufer der Entwickelungslehre
Herder dem freien abstrakten Gedanken des Begründers des
Kriticismus, so wird jetzt umgekehrt Kant vom Standpunkt der
ausgebildeten Entwicklungslehre beurteilt.
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^' ♦
Berner Stadien znr PMlosophie nnd ihrer Geschichte.
aaad II.
Herauflgegeben yon
Dr. Ludwig Stein,
Professor an der UniyersiU&t Bern.
Der Zusammenhang
von
Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung
und Strafe.
Von
Dr. J. I. Nlemlrower.
k
Bern.
Ve r 1 a g von A. Sichert.
1896.
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Druck von Steiger & Uie,, Tliunstrasse 6, Born.
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Einleitung.
§ 1. Der indirekte Beweis für die Willensfreiheit.
Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung und Strafe werden
allgemein in Verbindung mit einander behandelt. Wei:, die Natur
des Willens betrachtend, sich die Frage vorlegt, ob der mensch-
liche Wille frei sei, untersucht oft auch die Verantwortlichkeit
des Menschen für seine Willensäusserungen. Wer andererseits
das Wesen des Gewissens, der Belohnung und Strafe einer
kritischen Betrachtung unterwirft, dehnt zumeist seine Unter-
suchungen auch auf die Beschaffenheit seines Willens aus, dessen
Kundgebungen den Gegenstand der Verantwortlichkeit bilden.
Wie die Würdigung eines Gegenstandes dessen genaue Kenntnis
voraussetzt, setzt natürlich jede Wertschätzung menschlicher
Willenshandlungen die Kenntnis und Erkenntnis der Natur des
WoUens, also auch die Entscheidung für oder gegen die Lehre
der Willensfreiheit voraus. Willensfreiheit und Verantwortlichkeit
werden daher in Beziehung zu einander gebracht und zwar wird
Willensfreiheit als die Voraussetzung der Verantwortlichkeit, des
Rechts und der Pflicht dem Menschen für sein uns gelallendes
Thun und Lassen, Lust und für sein uns missfallendes Unlust zu-
zufügen allgemein angesehen und als die Grundbedingung jeder
wahren Erkenntnis des Gewissensphänomens, der inneren Beloh-
nung und Strafe, betrachtet. Ohne Willensfreiheit keine Verant-
wortlichkeit, wird von vielen Denkern mit kategorischer Sicherheit
behauptet. Vermag der Mensch nach freiem Entschluss zu wollen
Nimierower, . Willen sfreiheit*. 1
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— 2 —
und zu handeln, d. h. zwischen contradiktorischen Gegensätzen
aus eigener Machtvollkommenheit zu wählen, dann mag er die
Polgen seiner Wahl tragen ; wird €f aber durch gegebene Causal-
reihen zu einem bestimmten Wollen und Handeln genötigt, dann
fehlt jedes Recht zur Bestrafung für böse Handlungen und jeder
Grund zur Belohnung für gute, wie auch jeder Anlass zur Selbst-
belohnung und Selbstbestrafung durch das Gewissen. Nun ist
aber Belohnung und Strafe seit Alters her üblich, fast bei allen
Völkern in irgend welcher Form üblich, so dass man sie nicht
ganz hinwegdenken kann, ihre Berechtigung nicht zu leugnen
vermag — Argumentum e consensu gentium — folglich gilt
auch ihre Voraussetzung — die Willensfreiheit. Will man der
Sanktion der üblichen Belohnung und Strafe seitens der Jahr-
tausende keine Bedeutung beilegen, ist man gegen das Autori-
tätsprinzip, auf dem allein eine solche Sanktion beruht, dann kann
man noch immer niclit den Begriff der Verantwortlichkeit und
seine Voraussetzung, die Willensfreiheit, fallen lassen, denn es
giebt eine Sanktion der Belohnung und Strafe, die jedem gelten
muss, — die Sanktion des Gewissens. Selbstzufriedenheit und
Reue, diese Thatsachen der innern, unmittelbaren Erfaliruög,
bezeugen die Berechtigung der Strafe und die Verpflichtung zur
Belohnung bezeugen indirekt die Freiheit des menschlichen
Willens. Der Mensch ist frei, denn er fühlt sich verantworte
lieh für seine Handlungen. Der Ausgangspunkt des Beweises
für die Willensfreiheit ist nun — das Bewusstsein ^) der Ver-
antwortlichkeit.
Direkt an das Bewusstsein der Freiheit anzuknüpfen, wie
Hegel 2) empfiehlt, ist wohl bequemer und einfacher, aber nicht
richtiger; denn nach dem gegenwärtigen Stande des Problems
wird im Bewusstsein der Freiheit ein Zeugnis und Erzeugnis der
physischen Freiheit, der Freiheit des Thuns, aber nicht der
metaphysischen Freiheit, der Freiheit des Wollens gesehen.*)
Die Freiheit des Willens wird — zumeist indirekt — aus der
Thatsache der Verantwortlichkeit zu ermitteln gesucht. Dieser
') Siehe Eduard v. Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Be-
wusstaeins, S. 458. «Dasjenige Phänomen, welches am meisten zur Stütze
des Indeterminismus herangezogen wird, ist die Verantwortlichkeit.
') Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4.
•) S. Kap. 1, § 3..
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— 3 —
indirekte Beweis spielt in der Geschichte des Freiheitsproblems
— von der griechischeti Philosophie an bis auf die neueste —
eine grosse Rolle. ^)
§ 2. Willensfreiheit als Voraussetzung der Verantwortlichkeit
in der Philosophie Griechenlands.
Schon Aristoteles 2) machte die "Möglichkeit der Gesetz-
gebimg, der Belohnung und Strafe von der Annahme abhängig,
dass wir selbst die Urheber unserer Ueberzeugung sind. Dieses
Abhängigkeitsverhältnis der Verantwortlichkeit leugneten auch
die Stoiker '"*) nicht ganz, weshalb sie sich ersichtlich grosse
Mühe gaben, den Begriff der sittlichen Zurechnung mit ihrem
Determinismus, der aus ihrem Pantheismus unbedingt folgt,*) in
Einklang zu bringen. Besonders Chrysippus^) war bestrebt^ die
Möglichkeit der moralischen Verantwortlichkeit auch nach dem
Determinismus zu wahren ; anscheinend hielt er die Beseitigung
des indirekten Beweises der Freiheit für ein wesentliches Moment
des Problems. Dieser indirekte Beweis, die Rücksicht auf die
nach dem Determinismus bedrohte Verantwortlichkeit, fiel auch
für den Gegner der Stoa, fib* Epikur^) schwer ins Gewicht zu
Qiuisten der Willensfreiheit. — Im allgemeinen drangen jedoch
die alten Griechen kaum in die Tiefen des Problems der Willens-
freiheit ein. Wie sie sich an die Erklärung der Natur heranwagten,
ohne vorher die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, die
Natur der Erkenntnis genauer zu untersuchen, so gingen sie
auch an die Lösung ethischer Fragen, an die Peststellung prak-
tischer Weisheitsregeln, sittlicher Lebensprinzipien, ohne die
*) Die Untersuchung, die ich anstelle, erheischt keine Darstellung
der Geschichte des indirekten Beweises für die Willensfreiheit, so dass ich
mich auf eine Darlegung der Bedeutung dieses Beweises bei tonangebenden
Philosophen der alten, neuen und neuesten Epoche beschränken darf.
*) Siehe Zeller, Eduard, Philosophie der Griechen. 3. Aufl. Bd. 2, 2.
S. 587-591.
* •) Siehe Zeller a. a. 0., Bd. 3, 1, S. 160-168.
*) Ebendas. S. 162. „Der Determinismus des stoischen Systems ist
die unmittelbare Folge seines Pantheismus.*
») Ebendas., Bd. 3, 1, S. 167.
•) Ebendas., S. 424.
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— 4 -
Natur des Willens gründlich zu analysieren. Erst in den letzten
Perioden der griechischen Philosophie begann man — wie in
erkenntnistheoretischer Hinsicht, so auch in psychologisch-ethischer
— nateh dem Warum des Warum zu fragen, das Vermögen des
Willens zu zergliedern. Ich hebe die Oberflächlichkeit der Griechen
in diesem Punkte hervor, um Hartmann zu begegnen, nach
welchem i) die Griechen den klassischen Beweis für xiie Verein-
barkeit von Determinismus und Verantwortlic'hkeit geliefert haben.
Der Umstand, dass sich bei den Hellenen ein intensives Gefühl
innerer Verantwortlichkeit vereint mit dem ßewusstsein einer
imerbittHchen Notwendigkeit und Prädetermination des eigenen
Handelns vorfindet, widerlegt nach Hartmann den indirekten
Beweis für die Willensfreiheit, würde aber, wie ich glaube, den-
selben erst dann widerlegen können, wenn sich die Griechen
der ganzen Tragweite des Problems der Freiheit bewusst worden
wären und dennoch die Annahme der Unfreiheit des Willens in
Einklang mit dem Bewusstsein der Verantwortlichkeit gezeigt
hätten — was jedoch nicht der Fall ist, da sie bloss die Ober-
fläche des Problems gestreift und sich noch dazu oder gerade
deswegen in Widersprüchen verstrickt haben. Selbst bei Plato
finden sich offenbare Widersprüche 2) und selbst Aristoteles be-
rührte bloss die Frage der morahschen Freiheit. ^) In der Zeit
der Stoa aber, in der die Tiefe und Tragweite des Problems
erkannt wurde, fühlte man thatsächlich den Gegensatz von De-
terminismus und Verantwortlichkeit, so dass man sich alle Mühe
gab, auf künstliche Weise die Kluft, die die fraglichen Begriff'e
trennt, zu überbrücken. Kurz, man darf die Griechen nicht als
Zeugen in der Frage der Willensfreiheit anrufen, weil bei ihnen
viel zu wenig Klarheit in Bezug auf diese Frage herrschte, weil
die Tiefe des Problems der Willensfreiheit imd die Weite seiner
Konsequenzen erst in der letzten Periode der eigentlich grie-
chischen Philosophie und in der Neuzeit voll und ganz erkannt
wurde.
') A. a. 0. S. 407.
') Siehe Ludwig Stein, Arohiv für die Geschichte der Philosophie.
Bd. 2, S. 200.
') Siehe Schopenhauer, Die beiden Grundprohleme der Ethik, S. 64^
in der Gesamtausgabe. Leipzig 189L
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§ 3. Willensfreiheit als Voraussetzung der Verantwortlichkeit
in der neuen und neuesten Philosophie. ■
Die Neuzeit machte ernst — wie mit den Grundfragen der
Erkenntnis, mit der Wissenschaft des Wissens, so auch mit der
Grundfrage der Ethik — mit dem Problem der Willensfreiheit
und wieder nimmt der indirekte Beweis eine hohe Stellung ein
im Reiche der Beweise für die Freiheit des menschlichen Wollens.
Es gentigt bloss einen Ausspruch des Descartes anzuführen, des
Vaters der neuen Philosophie, unter dessen Zeichen die Philo-
sophen der Neuzeit mehr oder weniger standen. Descartes sagt^)
— ^damit** — mit der Willensfreiheit — ^ist er" — der Mensch
nämlich — „gewissermassen der Urheber seiner Handlungen wnd
kann deshalb gelobt werden. Denn die Automaten lobt man
nicht wegen der genauen Ausführung aller Bewegungen, auf die
sie eingerichtet sind, aber man lobt ihren Werkmeister wegen
der genauen Verfertigung derselben, weil er dies nicht not-
wendig^ sondern freiwillig vollführt hat.' Diese Annahme, dass
Lob, Zurechnung, Verantwortlichkeit nur auf Wesen, die „durch^)
ihren Willen, d. h. frei handeln,** bezogen werden können, diese
Annahme, die für die Lehre der Willensfreiheit geltend gemacht
wurde und wird, durchzieht die ganze Geschichte des Problems
der menschlichen Freiheit in der Neuzeit, wird bekanntlich von
Kant betont, wirkte auch bei Schopenhauer und veranlasste 3)
ihn zur Konstruierung eines mehr künstlichen Begriffs der Frei-
heit, nachdem er seine Untersuchung mit den Worten schliesst:^)
„Alles was geschieht vom Grössten bis zum Kleinsten geschieht
notwendig." Quid quid fit, necessario fit. Bei Kant^) kommt
allerdings seine kategorisch-absolute Auffassung der Vergeltung
und bei Schopenhauer seine verhimmelnde Ueberschätzung des
Willens, der ihm das Eins und Alles ist, in Betracht, aber auch
Denker, die von Schopenhauer völlig und von Kant zum grossen
Teil unabhängig sind, sehen eine Gefahr für den Begriff der
Verantwortlichkeit in der Leugnung der Willensfreiheit. So meint
*) Die Prinzipien der Philosopliie, I. Teil, § 37.
*) Ebendae.
*) Die beiden Grundpr. a. a. 0. S. 93.
*) Ebendas., S. 60.
») Siehe Kap. 1, §§ 11, 12.
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— 6 —
Zeller, ^) das Haupt der historischen Schule, dass die gleiche
Schwierigkeit jede deterministische Ansicht gedrückt hat: den
sittlichen Anforderungen gerecht zu werden und die Möglichkeit
der sittlichen Zurechnung zu wahren. Aehnlich diesem Ausspruche
des Klassikers der Philosophiegeschichte Griechenlands äussert
sich Kuno Fischer, ^j der Klassiker der neuen Philosophiegeschichte :
„Entweder man verneint alles Recht zu einer moralischen Wert-
bestimmung, alle Verschuldung des moralischen Unwertes, die
Thatsache desjenigen Bewusstseins, welches Gewissen heisst oder
man muss die aufgeworfene Frage bejahen.*^ In demselben Fahr-
wasser bewegt sich der ideale Realist v. Kirchmann, indem er
sagt : ^) „Im Leben wird diese Freiheit des Willens nicht bezweifelt
und das bürgerliche wie das Strafrecht ist auf Voraussetzung
derselben errichtet. Nur freie Handlungen begründen Verbind-
lichkeiten, nur freie Handlungen werden bestraft. Auch die Reue,
die Gewissensbisse, die Busse im Moralischen ruhen auf diesem
Begriffe der Freiheit." Noch deutlicher äussert sich Herrmann
Ulrici, ein Vertreter des Idealismus, des Neufichteanismus. In
aller Entschiedenheit meint er:*) „dass mit der Freiheit des
Willens, mit der Möglichkeit sich anders zu entschliessen, zu-
gleich alle Verantwortlichkeit des Menschen für sein Thun und
Lassen, wie überhaupt alles ethische Verhalten, aller Unterschied
zwischen Recht imd Unrecht, Gut und Böse, Tugend und Laster,
hinwegfällt." Als Repräsentant der Juristen mag hier noch Rüm-
melin^) genannt werdfen, nacli welchem^) alle Strafgesetze —
indeterministisch sind. Wie er glaubt, kann ') man sich nicht
nach dem Determinismus die bürgerliche Strafe erklären, denn®)
wie kann man strafen für ein unvermeidliches Thun?^) Der
Determinismus muss sich wenden und drehen, darauf eine Antwort
') Philosophie der Griechen. Bd. 3, 1. S. 164.
*) üeber das Problem der menschliehen Freiheit. Festrede. Heidel-
berg 1875. S. 20.
') Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral. 2. Aufl. Berlin 1873.
S.8I, 82.
*) Gott und der Mensch, I. Leipzig 1874. S. 7, 8.
^) Reden und Aufsätze. Neue Folge. Freiburg und Tübingen 1881.
«) S. 44.
') Siehe S. 58-60.
«) S. 46.
") Ebendas., siehe auch S. 49,
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zu geben und eine andere als eine gesuchte und künstliche
Deutung ist auch kaum denkbar." — Diese Aeusserungen her-
vorragender Denker, die leicht vermehrt werden können, zeigen
zur Genüge, mit welcher Bestimmtheit die Willensfreiheit als die
Voraussetzung der innern und äussern Verantwortlichkeit be-
trachtet wird.
§ 4, Die Betrachtung der Willensfreiheit für dieVoraussetzung
der Verantwortlich keif als Hindernis einer wirklichen Lösung
des Freiheitsproblems,
Die Gleichsetzung von Unfreiheit des Willens mit Freiheit
von jeder Verantwortlichkeit, diese Gleichsetzung, deren Berech-
tigimg untersucht werden wird, ist, wie mir scheint, ein Hemm-
schuh der Entwicklung des Preiheitsproblems gewesen, ein
Hindernis einer wahren Lösung, gleichsam einer Auflösung des
Problems. Denn der Umstand, dass man Verneinung der Willens-
freiheit mit Abschaffung der allgemein üblichen und seitens des
Gewissens sanktionierten Belohnung und Strafe identifizierte und
dann natürlich einen Schritt weiter gehend, der Aufhebung der
Sittlichkeit gleich stellte, machte und macht zum Teil eine
objektive, völlig unparteiische Behandlung der Frage unmöglich.
Die tiefsittliche Befürchtung, durch diese Frage die Grundlagen
der Sittlichkeit zu erschüttern, muss zu allen Zeiten auf den
Denker, der sie behandelt, beengend und beklemmend wirken
und seinen Gedankenstrom hemmen und dämmen. Das die Unter-
suchung der Frage begleitende Gefühl mit geistigem Dynamit
zu spielen, sich auf einem geistigen Vulkan zu bewegen, eine
Frage zu behandeln, deren Lösung gefährliche, Umstürzler ische
Folgen für die SittUchkeit haben kann, eine Umwertung oder
richtiger Unv/ertxxng aller sittlichen Werte, eine Vernichtung
aller moralisch-rechtlichen Begriffe herbeizuführen vermag —
dieses Gefühl beeinflusst das Denken, bestimmt die Stellungnahme
zum Problem und die Interessen der Sittlichkeit bestechen zu
Gimsten der Willensfreiheit. In Bezug auf Sokrates sagt Ludwig
Stein,^) das^ bei ihm das religiös-sittliche Interesse zuweilen so
entschieden vorwog, dass darunter die rein philosophische Seite
der behandelten Probleme leiden musste. Bezüglich des Problems
Arohiv a. a. 0., Bd. 2, S. 199.
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— 8 —
der Willensfreiheit lässt sich dasselbe von vielen Philosophen be-
haupten. Wie der Theologe es zumeist bloss zu einer Philosophie
zweiten Ranges bringt, weil er nicht voraussetzungs- und rück-
sichtslos an die Frage herantritt, sondern vielmehr mit einer
gewissen Bangigkeit irgendwie mit der Bibel in Konflikt zu
geraten und einen Streit zwischen seinem Bekenntnis und seiner
Erkenntnis, zwischen seinem Verstände imd seinem Herzen heraut
zu beschwören, so lange an seinem Denkstoffe herumarbeitet —
unbedingt nach bestem Wissen und Gewissen — bis sein Geist
das zu bestätigen scheint, was sein Gefühl längst geahnt hat,
kurz, wie der Theologe seiner religiösen Interessen wegen mit
Voreingenommenheit philosophiert, so philosophiert oft auch der
Philosoph in Bezug auf das Problem der Willensfreiheit — unter
dem Einflüsse seiner sittlichen Interessen und voreingenonunen
für die Willensfreiheit, die ihm als die Grundlage jeder ethischen
Verantwortlichkeit, der Begriffe Gut und Böse u. s. w. gilt.
Denn gewöhnlich steht der Mensch nicht jenseits von Gut und
Böse und ist nicht in der Lage, mit der genialen Kälte eines
Nietzsche i) die brennendsten Probleme der Ethik zu behandeln,
sondern ist bemüht, mehr unbewusst — durch die Wärme der
Begeisterung für die in Frage stehenden Ideen und Ideale der
Sittlichkeit betäubt — die ihm teuem Beg^riffe irgendwie, sei es
durch Kunstmittel, zu retten. Es erscheint mir daher nicht als
„seltsam", wie es Herbart 2) erscheint, dass Jakobi und andere
sich anstrengen, „die Lehre von der Freiheit zu behaupten und
sich selbst, trotz aller Gegengründe, die sie kennen, davon zu
überreden"; denn diese Thatsache erklärt sich aus der herrschen-
den Besorgnis, durch die Leugnung der Willensfreiheit der Sittr-
hchkeit einen Stoss zu versetzen.
§ 5. Die Willensfreiheit als Privilegium des Menschen.
Die ausgeführte Auffassung der Willensfreiheit als die Basis
der Verantwortlichkeit und der Sittlichkeit überhaupt bestärkt
die Annahme, dass die menschliche Freiheit ein Privilegium des
*) Uebrigens herrscht auch bei Nietzsche keine Kälte der Objektivität
vor, sondern vielmehr — um der Wahrheit die Ehre zu geben - die Glut
und Wut, aber auch ein gewisse Poesie der Immoralität.
') Briefe an Karl Griepenkerl in der Gesamtausgabe. Leipzig 1851.
Bd. 9. Seite 119.
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- 9 —
Menschen sei, weshalb man die Freiheit mit der Energie ver-
teidigt, mit der man angefochtene Vorrechte zu verteidigen
pflegt. Dass die Freiheit als Adelsbrief der Menschheit angesehen
wird, dass Gefühlsmomente bei der Behandlung der Freiheit
mitspielen, kann durch Anhäufung diesbezüglicher Aussprüche
leicht erhärtet werden; ich begnüge mich jedoch mit der An-
führung dreier Beispiele aus dem Altertum, der Neuzeit und der
neuesten Zeit. Am Ausgange des Altertums preisen der Neu-
platoniker Plotinus und der Cyniker Oenomaus^) die Willens-
freiheit als das Steuer und die Grundlage des menschUchen
Lebens. Ohne dieselbe, heisst es bei Plotinus,-) wären wir keine
Menschen, sondern von aussen bewegte Teile des Weltganzen.
— In der Neuzeit singt Jakobi das Hohelied der Willensfreiheit.
,jOhne Freiheit,*^ erklärt er,^) „wäre keine wahre Achtung, Be-
wimderung, Dankbarkeit und Liebe möglich, wäre alles, was den
Menschen adelt und erhebt, das Wahre, Schöne und Gute nur
Täuschung, Lug und Betrug;" und er schHesst^) seine Betrach-
tung über die Willensfreiheit — höchst bezeichnend — mit dem
Worte: ^Ziehe die Schuhe aus, denn hier ist ein heiliges Land."
Nicht weniger pathetisch ist in der Gegenwart Hugo Sommer,
der in dem Geiste Lotzes das Problem zu lösen sucht. Folgende
Sätze aus seiner Abhandlung mögen hier beigefügt werden als
Beweis, dass auch in der Jetztzeit Gemütsausbrüche bei der
Behandlung des Freiheitsproblems sich geltend machen.^) „Gross
und bewundernswert ist in der That diese im Prinzip unüber-
windliche Kraft des freien Willens. Nichts in der Welt kann
den freien Willen des Menschen brechen, der fest und treu auf
seinen Entschlüssen beharrt, keine Drohungen, keine Verlockungen,
keine Marter, selbst nicht die Schrecken des Todes. ^ Ja, Sommer
meint sogar,**) ,,dass die Thatsachen, die für die Willensfreiheit
sprechen, nicht durch theoretische Gründe begreiflich gemacht
werden können; denn ihr Gewicht beruht allein auf gefühls-
') Zeller, Philosophie der Griechen. Bd. 8, 1, S. 770.
') Ebendas., Bd. 3, 2., S. 585-537.
■) Siehe Jakobis sämtliche Werke, Bd. 2, S. 320 -323; Bd. 4, S.29,30.
*) Ebendas., Bd. 2, S. 323.
^) lieber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit.
2. Aufl. Berlin 1888. S. 18.
") Ebendas., S. 19.
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— 10 —
massiger Wertschätzung. ** Dieser Umstand nmi, dass viele sich
auf einem teils heiligen, teils gefährlichen Boden zu bewegen
glaubten bei der Betrachtung der Freiheitsfrage, trägt zur Er-
klärung der Inkonsequenzen^) bei, die sich hervorragende Denker
der Annahme der Willensfreiheit zu Liebe zu Schulden kommen
') So lassen sicli die Neuplatoniker (s. Zeller, Philosophie der Griechen ;
Ploün, Bd. 8, 2., S. 385-387: Porphyr, ebendas. S. (>34; Jamblioh, ebendas.
S. 710; Hierokles, ebendas. S. 766; Syzian, ebendas. S. 773; Proklus, ebendas.
S. 813; Boethius, obend. S. 862) eine Inkonsequenz zu Schulden kommen
durch ihre Anerkennung zur Willensfreiheit, denn aus ihrem Praedetermi-
nismus, aus ihrer Leiire, dass das ganze irdische Dasein ein Nachspiel
oder eine Wiederholung eines überirdischen Seins ist und so durch diese
Präexist^nz bestimmt wird, lässt sich nicht« anderes als ein strenger
Determinismus folgern. Du Bois Reymond in seiner berühmten Schrift
„Die sieben Welträtsel", S 89, sagt: »Der blosse Name der prästabilierten|
Harmonie, den Leibniz seinem System giebt, schliesst Freiheit aus.* Mit!
demselben Rechte kann man auch sagen : Der blosse Name „Präexistenz-
lehre'* schliesst jede Freiheit aus. Jodl in seiuer Geschichte der Ethik
(Bd. I, Stuttgart 1882, S. 23) zieht thatsiiohlich aus der Präexistenzlehre
die Konsequenz, dass das Streben nach dem Guten gewissermassen mit-
gebracht, angeboren sei, was sich natürlich auf das Streben nach dem
Bösen übertragen lässt und sich so eine unerbittliche Determination
des Willens ergiebt. Dessenungeachtet nehmen die Neuplatoniker die
Freiheit des Willens an, weil sie ihnen als die Voraussetzung der Ver-
antwortlichkeit und als das kostbarste (rut und Recht des Menschen er-
scheint. Es darf jedoch nicht ausser Acht gelassen werden, dass die
Neuplatoniker diese Inkonsequenz von Plato gleichsam geerbt haben, der
sich auf dem Gebiete der Freiheitslehre in Widersprüchen bewegt, der
ebenfalls keine Prädetermination des Willens annimmt. Siehe Zeller,
Bd. 2, 1.. S. 718-720. Plato selbst wird wohl kaum durch die Rück-
sicht auf die nach dem Determinismus bedrohte Verantwortlichkeit
zur Freiheitslehre bestimmt worden sein, da er der Vertreter — und
zwar der erste -— der sogenannten relativen Straftheorie, der Er-
ziehungstheorie ist, einer Theorie, die den Begriff der Freiheit entbehren
kann, aber von fatalistischem Prädeterminismus hält ihn wohl die
fragliche Rücksicht ab, denn nach dem Prädeterminismus giebt es über-
haupt keine Verantwortlichkeit. Die angeführten Momente sind auch
bezüglich der Inkonsequenzen mit zu berücksichtigen, die sich bei Augustin
und Sotus Erigena finden. Siehe Jodl a. a. 0., Bd. I, S. 61 und Ritter,
Christliche Philosophie, 1. Bd., S. 466, 467. — Mit diesem Hinweis auf die
Inkonsequenzen der Neuplatoniker und der Scholastiker muss ich mich
begnügen, da ich hier nicht die zahlreichen Inkonsequenzen registrieren
darf, die die Annahme der Willensfreiheit nach den verschiedensten Seiten
hin zur Folge hat. ,
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— 11 —
lassen. Denn dieser Umstand trübte das Denken und störte die
Unparteilichkeit des Denkens. Diesem Umstände hat man auch
die babylonische Verwirrung der Terminologie des Freiheitspro-
blems^), die vielfach vorkommende Vergewaltigung des technischen
Ausdrucks zu verdanken ; denn die gef ühlsmässige Wertschätzung
des Freiheitsbegriffs erschwert die Verzichtleistung auf den Aus-
druck Freiheit und bestimmt deshalb zu Umwegen in der Be-
zeichnung der Notwendigkeit des menschlichen Handelns. Die
Vorliebe für's Wort Freiheit auch seitens deterministischer Denker
lässt sich folgendermassen psychologisch erklären. Ein Wort
nämlich, das seines Inhaltes wegen, der Vorstellung wegen, die
es ausdrückt, in uns Gefühle erzeugt, behält seine Wirkung auch
dann noch, wenn sich sein Inhalt als unreal erweist, wenn es
als inhaltsleer erkannt wird ; denn nach dem Gesetze der Asso-
ciation ketten sich Wort, Vorstellung und das sie begleitende
Gefühl so eng an einander, dass beim Auftritt des einen Gliedes *
auch die andern erscheinen, dass z. B. dieses allgemeine Gesetz
aufs Wort Freiheit angewandt — das Wort Freiheit, auch wenn
man es deterministisch fasst, seine Wirkung aufs Gefühl, seine
Wirkung als allgemeiner Ausdruck der Grundlage des Sittlichen,
des Menschwerdens ausübt. Freilich wirkt die Erkenntnis der
Unrealität eines fragUchen Wortes manchmal so mächtig, dass
die Associationskette gebrochen wird und dieses Wort wie für
unsern Verstand, so auch für unsere Gefühle ein leerer Schall
') Was in der Spraclie des einen Systems Indetermiaismus ist, ist
in der Sprache des andern Determinismus. Was der Eine mit Notwendig-
keit bezeichnet, bezeichnet der Zweite mit Freiheit. Zwar sind die ter-
minologischen Ausdrücke fast immer, in der Philosophie mindestens,
mehrdeutig, was sich leicht aus der Thatsache erklärt, dass kein System
eine Schöpfung aus dem Nichts ist, sondern die Fortsetzung oiner vor-
angegangenen Philosophie, deren Terminologie es natu/rgemäsa übernimmt
und seinen Zwecken entsprechend umarbeitet^ jedoch ist diese Vieldeutig-
keit nur selten der Vieldeutigkeit der Terminologie des Freiheitsproblems
ähnlieh, nur selten zu so vielen Wenn und Abers führend, die Vorliebe
für ein bestimmtes Wort verratend, ja einen gewissen innern Zwang zur
Anwendung dieses Wortes klar zeigend, wie es bezüglich des Freiheits-
problems der Fall ist. Ich habe das Wort im Auge, das fast kein System
gerne entbehrt, das Wort Freiheit. So bezeichnet beispielsweise Leibniz»
die Notwendigkeit, mit der unser Wollen aus imserer Individualität folgtJ
noch immer als Freiheit. Siehe Zoller, Geschichte der deutschen Philo-I
Sophie seit Leibniz. 2. Aufl. S. 118, HO. ^
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— 12 --
Avird, jedoch kann dies in Bezug auf das Wort Freiheit kaum
der Fall sein, denn es bleibt auch für den konsequentesten De-
terminist der Ausdruck politischer, religiöser und socialer Ideale.
Allenfalls lässt sich behaupten, dass die Gefühlsmomente, die
das Problem der Willensfreiheit begleiten und zwar infolge der
Ueberschätzung der Willensfreiheit als das bedeutendste Vorrecht
des Menschen und der Betrachtung derselben als das Fundament
der Sittlichkeit begleiten, nicht nur als Hindernis einer objektiven
Betrachtung des Problems, sondern auch einer klaren und un^
zweideutigen Darstellung derselben anzusehen ist. Zur ßeseiti-
gu7ig dieses Hemmnisses beizutragen^ die Stichhaltigkeit des
indirekteti Beweises für die Willensfreiheit zu prüfen ^ ist die
Aufgabe vorliege?ider Abhandlung.
§ ß. Die beiden Fragen vorliegender Abhandlu?ig,
Zwei Fragen bilden den Gegenstand der Untersuchung:
1. Kann der Begriff der Verantworthchkeit den der Willens-
freiheit entbehren oder fällt er zugleich mit der Verneinung des
letztern? Weiter und allgemeiner gefasst lautet die Frage:
Welcher Zusammenhang besteht thatsächlich zwischen den Be-
griffen Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung und Strafe?
2. Wie kommt es, dass der sogenannte gesunde Menschen-
verstand gewöhnlich ein unlösbares Verhältnis zwischen Willens-
freiheit und Verantwortlichkeit annimmt? Mit andern Worten:
Wie erklärt sich das Fortbestehen des indirekten Beweises für
die Willensfreiheit trotz der vielfachen Ablehnung desselben?
Die zweite Frage tritt freilich erst auf nach Erledigung der
ersten zu Ungunsten des indirekten Beweises ; sie tritt aber dann
mit Notwendigkeit auf; denn es genügt nicht, eine weit ver-
breitete Annahme abzulehnen, sondern es gilt auch die Momente
ausfindig zu machen, die die irrige Annahme entstehen und
bestehen lassen. So begnügt sich z. B. Spinoza nicht mit der
Verbannung des Zweckgedankens aus der Naturerklärung, sondern
sucht die Momente aufzuweisen, die den Menschen für die teleo-
logische Naturbetrachtung stimmen. So befasst sich auch Spinoza
mit der hier gestellten zweiten Frage. ^)
') Sii^he Kap. 1. § 18.
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- 13 -
ß 7. Der Unterschied zicischen dem E nt stehen und dem
Bestehen des Verantworlichkeitsbegriffs als erster leitender
Gedanke dieser Untersuchung,
Die gelieferte Untersuchung der ersten Frage, der Frage
nach den Beziehungen der Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit^
wird von dem Gedanken beherrscht, dass die traghchen Be-
ziehungen nicht auf allen Stufen der Entwicklung des Verant-
wortlichkeitsbegriffes dieselben sind, dass man in dieser Hinsicht
vornehmlich zwischen der Genesis, dem Entstehenkönnen und
dem Fortbestehenkönnen der VerantwortUchkeit ohne Willens-
freiheit unterscheiden darf und wie. es sich zeigen wird, unter-
scheiden muss. Wenn man nur die Verantwortlichkeit als ein
Produkt der Entwicklung betrachtet und in der Gegenwart
stehen die meisten Denker auf dem Hegelisch-Darwinistischen
Standpunkte der Entwicklungslehre,^) so leuchtet die gemachte
Unterscheidung ein ; denn es ist doch klar, dass Begriffe auf dem
Höhepunkt ihrer Entwicklung, gleichsam in ihrem Mannesalter
auf so manchen Faktor verzichten können, der ihnen in ihrer
Jugend auf den ersten Stufen ihres Werdens unentbehrlich war.
Also ich unterscheide zwischen dem Werden des Verantwort-
Uchkeitsbegriffes und dem Sein desselben, nachdem er bereits
geworden ist und frage daher: Lässt sich der ^Begriff der Ver-
antwortlichkeit auch ohne Annahme der Willensfreiheit aufrecht
erhalten und wenn, ja, lässt sich auch die Entstehung des Ve?^-
antworlichkeitsbegriffs denken ohne Zugrundlegung des Frei-
heüsbegriffs ?
§ 8. Die Verbindung der Untersuchung des Zusammenhanges
vonWillensfreiheit undVerantwortlichkeit mit der Feststellung
des Zusammenhanges von Gewissen^ Belohnung und Strafe als
zweiter leitender Gedanke vorliegender Abhandlung.
Die Beantwortung der gestellten Fragen wird wohl erheblich
erleichtert durch die Darstellung des Verhältnisses zwischen der
*) Auch abgesehen von den AnhäQgern Darwins und Spencers be-
trachten viele die Sittlichkeit Überhaupt als ein Produkt der Entwicklung.
So Jodl in seiner Geschichte der Ethik an mehreren Stellen, und Karl
Kösfclin, Geschichte der Ethik, I. Tübingen 1887. S. 3. Vgl. Jehring, Der
Zweck im Recht. Bd. 1. S. 118 f.
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— 14 —
Innern und der äussern Verantwortlichkeit, zwischen Gewissen
auf der einen, Belohnung und Strafe auf der andern Seite, wie
auch zwischen der Zurechnung des Guten und der des Bösen. Die
eigentliche Rechtfertigung dieses Unternehmens bietet erst der
Erfolg desselben, die Erkenntnis, dass das Verhältnis der Ver-
antwortlichkeit und Willensfreiheit zu einander dem gegenseitigen
Verhältnis von Gewissen, Belohnung und Strafe ähnlich sei. Ich
glaube jedoch schon hier darauf hinweisen zu können, dass so-
wohl die Peststellung der Beziehungen zwischen innerer und
äusserer Verantwortlichkeit als auch die Darlegung der Be-
ziehungen zwischen belohnender und strafender Zurechnung
nicht nur an sich, sondern auch bezügUch der Beurteilung des
indirekten Beweises für die Willensfreiheit von Bedeutung sind.
Die Peststellung des thatsächlichen Zusammenlianges zwischen
Gewissen einerseits, Belohnung und Strafe andererseits ist des-
halb für das Problem der Willensfreiheit von Wichtigkeit, weil
die Säulen der letzteren, die Belohnung und die Strafe, ihre
Hauptstärke, ihre Tragkraft erst durch die Sanktion des Gewissens*)
erlangen, so dass es viel auf ihr wirkliches Verhältnis zum Ge-
wissen ankommt. Die Schilderung dieses Verhältnisses ist in der
Jetztzeit um so wichtiger, als gegenwärtig von mehreren Seiten
der Zusammenhang von Gewissen und Strafe, nach einer be-
stimmten Seite hin, jede Einwirkung der Strafe aufs Gewissen
des Verbre(;hers bestritten wird. So meint Nietzsche,^) dass die
Strafe im Schuldigen kein Gefühl der Schuld erzeugt, denn wenn
er auch seine That bereut, so ist dies kein Ausfluss des Gewissens,
sondern vielmehr ein Akt der Erniedrigung, der noch schlimmer
sei als die verbrecherische That selbst. Diese Behauptung
Nietzsches entspringt allerdings seiner Weltanschauung, seiner
Anbetung des unbeugsamen, hartnäckigen Kraftmenschen, für
welchen Reue eine zu missbilligende Schwäche ist, und ist daher
nicht ernstlich aufzufassen; aber von einer andern Seite, der
mehr Bedeutung zuzumessen ist, seitens der Kriminalanthropo-
logie ItaUens, wird ebenfalls die Schärfung und die Stärkung des
Gewissens durch die Strafe in Abrede gestellt und zwar gestützt
') Siehe § 1.
*) Siehe Hugo Kaatz, Die Weltanschauung Fried r. Nietzsches. I. Teil.
Dresden und Leipzig 1892. Seite 48-50.
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^^rrr
— 15 —
auf die Statistik der Rückfälle. ^) Durch diese Leugnung einer
bedeutendem Rückwirkung der Strafe aufs Gewissen erleidet
auch die Sanktion der Strafe durchs Gewissen einen Schlag,
weshalb es als dringend erscheint, den gegenseitigen Einfluss
von Gewissen und Strafe zu bestimmen. Ebenso erheischt es das
Interesse des Preiheitsproblems das Verhältnis der Zurechnung
des Guten zur Zurechnung des Bösen zu bestimmen, damit sich
die Thatsache kläre, dass man als Beweis für die Realität der
Willensfreiheit stets die Zurechnung des Bösen und fast niemals
die des Guten anführt, eine Thatsache, die Paulsen-) als auf-
fallend findet, die er im Dienste des Determinismus verwertet.
Kurz, eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Willens-
freiheit und Verantworthchkeit kann nur gewinnen, wenn sie
mit der Darstellung der gegenseitigen Beziehungen zwischen
Gewissen, Belohnung und Strafe verbunden wird.
§ 9, Die wahrscheinlicJien Gründe der Abhängigkeitserklärung
desVerantwortlichk&itsbegriffes von der Freiheitslehre,
Wie ich in Bezug auf die Frage nach der Berechtigung
der Auffassung, die die Willensfreiheit als Voraussetzung der
Verantwortlichkeit betrachtet, die Gesichtspunkte andeutete, von
welchen aus ich die Frage betrachte, werde ich auch in Bezug
auf die zweite Frage, auf die Frage nach den Gründen, die es
dem Menschen erscheinen lassen, als ob der Satz: „Der Mensch
ist für sein Thun und Lassen sich selbst und andern verant-
wortlich," nur als Nachsatz des Urteils: „Der Mensch ist in seinem
Wollen und Handeln frei" ; seine Gültigkeit hat, kurz andeuten,
welchen Weg ich einschlage. — Die meisten Irrtümer entstehen
entweder durch Verwechslung ähnlicher, verwandter Begriffe
mit einander oder durch unberechtigte Verallgemeinemngen der
Beziehungen eines Begriffs. Diese allgemeine und allgemein an-
erkannte Erkenntnis auf die vorliegende Frage angewandt, lässt
von vornherein vermuten, dass sowohl Verwechslungen der
Willensfreiheit oder der Willensunfreiheit mit ähnlichen Begriffen,
*) Cesare Lombroso, Der Verbrecher in antliropologisoher, ärztlicher
imd juristischer Beziehung. Deutsch von Fränkel. Hamburg 1887. Bd. 1.,
Teil 3, Kap. 6. Dril, Der verbrecherische Mensch im Juriditechesky Djestnik
1882. Heft 11, 12, zieht die Konsequenzen der Aneicht Lombrosos.
») System der Ethik. 3. Aufl. Berlin 1894. Bd. 1. S.421.
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— IG —
als auch die Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses ge-
wisser Verantwortlichkeitstheorien von der Freiheitslehre auf die
Verantwortlichkeit schlechthin die Annahme erzeugten und be-
festigten, dass Verantwortlichkeit nur als Konsequenz der Willens-
freiheit denkbar sei. Ich sage sowohl Verwechslung ähnlicher
Begriffe, als auch die Uebertragung gewisser Beziehungen eines
Teiles aufs Ganze, trotzdem entweder dieses oder jenes ausreichen
würde, weil weitverbreitete und lanr/ anhaltende Annahmen
auf einen komplizierten Hintergrund, auf mehrere und manig'
fache GrÜ7ide hinweisen.
§ 10. Entwurf.
Eine Lösung der gestellten Fragen im Sinne der vorigen
Paragraphen erfordert nun : a) eine Zusammenstellung der Theorien
der Freiheit oder Unfreiheit des Willens, b) eine Darstellung der
Straftheorien, c) eine Darstellung der Gewissenstheorien, d) eine
Darstellung der Genealogie des Gewissens und der Strafe, e) eine
Feststellung der Beziehungen zwischen Gewissen imd Belohnung
oder Strafe, f) eine Bestimmung der Beziehungen zwischen
Belohnung und Strafe unter besonderer Berücksichtigung des
Umstandes, dass die Belohnung stets in den Hintergrund der
Betrachtung geschoben wird, g) die Lösung der ersten F'rage,
h) eine Begründung der Thatsache, weshalb der sogenannte
gesunde Menschenverstand indeterministisch gesinnt ist, i) eine
Feststellung derjenigen Gebilde, mit denen die Begriffe der
Willensfreiheit und der Willensunfreiheit verwechselt werden,
j) eine Begründung, weshalb sie verwechselt werden, k) eine
Angabe derjenigen Straftheorien, die von der Freiheitslehre ab-
hängig sind, l) eine Begründung, weshalb ein Verallgemeinenmgs-
})rozess in Bezug, auf das Verhältnis zwischen Willensfreiheit
und Verantwortlichkeit statt hat, und endlich ni) eine zusammen-
fassende Beantwortung der zweiten Frage. Ich werde jedoch,
damit ich nicht zu häufigen \yiederholungen gezwungen bin,,
mehrere der bezeichneten Untersuchungen mit eina?ider ver-
knüpf en^ in einer Weise, die sich von selbst rechtfertigen wird.
Ich teile die Abhandlung in drei Kapitel. Im ersten Kapitel
fornmliere ich das Problem der Willensfreiheit, stelle die bedeu-
tenderen Standpunkte in Bezug auf dasselbe dar, kritisiere die-
selben kurz und suche endlich die Neigung zur Bejahung der
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&- r>
— 1'^ —
Freiheitsfrage zu begründen. ^) Im zweiten Kapitel sind alle
übrigen Untersuchungen und Schilderungen, die die Beantwortung
der ersten Frage dieser Abhandlung erfordert, in zusammen-
hängender Weise enthalten und im dritten Kapitel die Betrach-
tungen, die der Beantwortung der zweiten Frage dienen.
') Ich darf freilich nicht alle Feinheiten der einzelnen Freiheits-
und Gewissenstheorien berücksichtigen, sondern muss mich auf allgemeine
Charakteristiken beschränken.
Niemiruwür, »Willonsfroihüit*,
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Erstes Kapitel.
Das Problem der Willensfreiheit.
ß 1. Die Vielseitigkeit des Problems,
Das Problem der Willensfreiheit gehört zu denjeDigen
Grundproblemen, die dem Denker auf verschiedenen Gebieten
der Wissenschaft begegnen.^) Theologie, Metaphysik, Moral-
philosophie, Psychologie und Rechtsphilosophie haben mehr oder
weniger Interesse an demselben. Jedoch lenkt jede beteiligte
Disziplin einer andern Seite des Problems ihre Aufmerksamkeit
zu, formuliert es nach der ihr eigenen Art, sucht es mit ihren
Erkenntnissen in Einklang zu bringen, kurz jede einzelne Wissen-
schaft sieht das Problem mit ihrer vergrössernden oder verklei-
nernden Fachbrille. Wie ein und derselbe Gegenstand der
Wahrnehmung in verschieden gearteten lidividualitäten ver-
schiedenartige Gedanken und Erinnerungen weckt — weil jede
wahrnehmende Person das Objekt der Wahrnehmung in ihrer
besonderen Weise, gewissermassen mit anders gestalteten Werk-
zeugen verarbeitet — so zeigt sich die Freiheitsfrage in einer
andern Gestalt, je nachdem ein Theologe, ein Philosoph oder
ein Jurist an ihre Lösung von dem ihm historisch gegebenen
Standpunkt aus herantritt.
Diese Vielgestaltigkeit des Problems und die Einseitigkeit
seiner Auffassung in den Einzelwissenschaften erschwert seine
Lösung. Man kann allerdings die mannigfachen Gesichtspunkte
mit einander vergleichen und ausgleichen; die theologischen,
') ö. Herbart, Briefe, a. a. 0. Seite 2.
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- 19 —
philosophischen und juristischen Auslassungen sichtend sammeln,
um eine die engen Grenzen der Pachwissenschafterl überschrei-
tende Lösung der Frage zu ermöglichen ; aber jede noch so
gelungene Zusammenstellung einseitiger Ansichten ergiebt noch
immer keine Vielseitigkeit der Auffassung und ersetzt nicht eine
rein sachliche, von jeder Pachgebundenheit losgelöste Erörterung
eines Themas. Denn die übermässige Hervorhebung einzelner
Momente des Problems auf Kosten der Gesamtbetrachtung, die
Verknüpfung des Problems mit ihm wenig analogen und nur
entfernt verwandten Gedanken, die Aufhebung des Gleichgewichts
im Für und Gegen der Frage — alles Polgen der Einseitigkeit
in der Behandlung des Problems seitens der durch Fachinteressen
gebundenen Einzelwissenschaften — wirken störend auch dann,
wenn man das Problem aus den Banden der einseitigen Betrach-
tung zu befreien, von den mit ihm verknüpften Problemen los-
zulösen sucht. Was die Geschichte der Wissenschaft zusammen-
gekittet, Jässt sich sehr schtver auseinander nehmen. VVas tausend-
jährige Gedankenprozesse verschmolzen liaben, lässt sich schwer
auflösen. Es gilt daher im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten
eine Ächtung der Gesichtspunkte vorzunehmen und der Dar-
stellung der Freiheitslehren eine Uebersicht der verschiedenen
Fassungen der Freiheitsfragen vorangehen zu lassen.
§ 2. Die theologische Fassung des Problems.
Die astrologische Fassung des Problems, die im Mittelalter
die Hauptrolle spielte, die Frage ob und inwieweit ^) der Mensch
von der Konstellation abhängig sei, hat in der Gegenwart, in
der die Wissenschaft mindestens mit jedem astrologischen Wahn
aufgeräumt hat, 2) nur für die Geschichte des Problems eine
Bedeutung, kann daher an dieser Stelle übergangen werden.
Die der astrologischen Form verwandte theologische Fassung
*) Gersonides z. B. ineinte, Schicksale, Neigungen, Gedanken und
Tliateü der Menschen seien zwar von der Konstellation al>hängig, aber
die Vernunft und die Willensfreiheit des Mensehen vermögen doch das
von denTiimmeTskorpern Bewirkte zu durchkreuzen und aufzuhehen.
S.Joel, Levi ben Gerson als Religionsphilosoph. Breslau 1862. Seite 48.
*) Gegen diesen astrologischen Determinismus trat sehr scharf der
Religionsphilosoph Maimonides auf. S. David Rosin, Die Ethik des Mai-
monides. Breslau, 1876. Seite 62-75.
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— 20 -
des Problems, die noch gegenwärtig in der Theologie eine Rolle
spielt, soll hier im Unterschiede von der philosophischen Form
des Problems gezeigt werden. In der Theologie nimmt das Pro-
blem der Willensfreiheit die Form eines Dilemas an, denn sowohl
die Bejahung als auch die Verneinung der Freiheitsfrage stimmt
nicht mit den theologischen Lehren überein. ^) Ist der Mensch in
seinem Wollen und Handeln vom Einflüsse überirdischer MäcfUe
frei, so dass er aus eigenem Antriebe und aus eigener Macht
das Böse will und wählt, das Prinzip 2) des Bösen schafft, dann
ist die Annahme einer göttlichen Vorsehung, die bestimmend
ins Menschenleben eingreift, vmd der Glaube an die 3) Möglichkeit
der Prophetie, der Voraussage künftiger Ereignisse unhaltbar,
da doch der Mensch jede Einmischung himmlischer Mächte
energisch abzulehnen, alle Vorherbestimrnungen zu vereiteln und
alle Prophezeiungen inspirierter Gottesmänner mittelst eines ein-
fachen „ich will nicht" Lügen zu strafen vermag — eine An-
nahme, die dem Menschen mehr Macht einräumt, als es sich mit
dem Begrifl'e der Allmacht Gottes verträgt.^) Ist der Mensch
andererseits dem Einflüsse übersinnlicher Mächte unterworfen,
dann ist das Böse in der Welt nicht seiii Werk und die Schuld
des Bösen triffst die ihn beeinflussende oder gar beherrschende
Gottheit, was mit dem Begriffne der Gottheit unvereinbar ist. ^)
') S. Siebeck. Lehrbuch der Religionsphilosophie. Leipzig, 1893.
Seite 389, 390. Vgl. Du Bois Reymond, Die sieben Welträt^el, Seite 86.
'') S. Ritter, Chr. Philos., L Bd., a. a. 0. Irenäus, Seite 288, 289.
Tertullian, Seite 297, leiten die MögUchkeit der Sünde aus der Freiheit ab.
lieber Augustin s. ebendas. Seite 427 fF. und in Kuno Fischers Geschichte
der neueren Philosophie, 8. Aufl., Bd. 1, Seite 46— 5L
^) Jq'I in seiner Schrift über Levi bon Gerson, a. a. 0. Seite 48,
führt aus, dass Gersonides durch das Problem der Prophetie zur Annahme
eines gewissen Determinisinus veranlasst wurde.
••) S. Schelling, Pbilos. Untersuchungen über das Wesen der mensch-
lichen Freiheit, Seite 403 in der Landshuter Ausgabe seiner philos.
Schriften, 1809. Bd. L
^) Zur Charakteristik der theologischen Schwierigkeiten des Deter-
minismus s. Schopenhauer Parerga u. Paralipomena in der Gesamtausgabe,
a. a. 0. Bd. 1, Seite 65—69. Vgl. Luthers sämtliche Werke, Erlangen.
Bd. 24, S. 143 ~ 146. Bd. 25, S. 74, Bd. 58, S. 214 ff. In Bezug auf die jü-
dischen Scholastiker s. Stein, Die Willensfreiheit bei den jüd. Philosophen
des Mittelalters, vgl. ferner L. Knoller, Das Problem der Willensfreiheit
in der älteren jüdischen Religionsphilosophie. Berlin 1884. S, 13.
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-- 21 —
Die Theologie bringt also das Problem der Willensfreiheit
mit den Problemen der Vorsehung und Prophetie in Verbindung
und fragt: Fatalismus^) oder Willensfreiheit? Sie hat allerdings
einen milden, sanften, inkonsequenten Fatalismus im Auge, im-
merhin die Annahme, dass der Mensch nicht seines Schicksals
Meister sei, dass er vielmehr einem fremden übermenschlichen
Willen unterthan sei. 2)
§ 3, Die philosophische Fassung des Problems,
Im Gegensatze zur Theologie lautet das Stichwort des
Preiheitsproblems in der Philosophie: Freiheit oder Kausalität.
Die Freiheitsfrage wird folgendermassen formuliert: 1. Ist der
Wille des Menschen dem in der Natur herrschenden Gesetze von
Ursache und Wirkung unterworfen oder bildet er eine Ausnahme
und ist kausallos? Wenn der menschliche Wille dem Kausal-
gesetze unterliegt, auf welche Weise äussert sich die Kausalität
im Reiche des menschUchen WoUens?
Im Interesse der Klarheit betone ich in der Fragestellung
drei Momente : a) dass es sich nicht direkt um die Freiheit des
Menschen schlechthin handelt, sondern um die Freiheit des
menschlichen Willens^ b) dass zur Frage, ob es eine Kausalität
des Willens giebt, sich die Frage hinzugesellt, wie wohl die
Kausalität des Willens beschaffen sein mag, und c) dass eine
Kausalitätslosigkeit des Willens eine Ausnahme von der allge-
meinen Naturregel bilden würde.
a) Die Frage ist nicht, ob der Mensch schlechthin frei sei,
denn die menschliche Freiheit im Gegensatze zu äusserem Zwang
') Ueber Fatalisraus und Determinismus, Kap. 3. § 3.
') Den Gegensatz zwischen der theologischen und der philosophischen
Fassung der Frage bringt in der knappsten Form L. Stein in seinem
Archiv a. a. 0. Bd. 2, Seite 195, zum Ausdruck : , Heute lautet die Formel
nicht mehr: Wie verträgt sich die göttliche Vorsehung mit der mensch-
lichen Willensfreiheit? — die Grundfrage lautet: Wie ist mit der jetzt
fast allgemein zugestand**nen physischen Notwendigkeit die sittliche Zu-
rcchnungsrähigkeit und Verantwortlichkeit vereinbar? Da ich in diesem
Kapitel die Freiheitslehren gesondert von ihren Konsequenzen in Bezug
auf die Verantwortlichkeit zu schildern habe, muss ich hier selbstver-
ständlich die Freiheitsfrage mehr nach ihrer theoretischen Seite hin fassen,
im Gegensatz zu Stein, der die praktische Seite — mit vollem Recht —
in den Vordergrund rückt.
mf.
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— 22 —
steht fest, die physische Freiheit wird vom menschlichen Be-
wusstsein bezeugt, i) Die Frage ist, ob auch der Wille des Men-
schen frei sei, ob der Wille frei will, das will sagen — nicht
tautologisch gesprochen — ob auch das Ich frei zu wollen, *) sich
im Wollen auszuprägen vermag, ohne Widerstand zu finden,
ohne dass es durch anderweitige nicht aus dem Ich selbst
(juellende Kräfte bestimmt und beschränkt werde, b) Die Ver-
neinung dieser Frage, die Unterwerfung des WoUens unter das
Gesetz der KausaHtät würde nicht — dessen rauss man sich von
vornherein bewusst sein — das Problem gelöst haben, sondern
würde vielmehr zu einer neuen Frage Anlass geben, zur Frage,
wie die Kausalität des Willens geartet sei. Denn die Kausalität
hat nicht in der ganzen Natur dieselbe Form, wirkt im Unorga-
nischen anders als im Organischen, im Tierleben anders als beim
Menschen. Ich wiederhole es: Zur Frage, ob das menschUche
Wollen vom Gesetze der Kausalität beherrscht wird, muss die
Frage nach der Natur der Willenskausalität hinzukommen; denn
mit Schopenhauer gesprochen, der Satz vom Grunde hat eine
vierfache Wurzel und die Kausalität eine dreifache Gestalt.^)
c) Wie man leichter und objektiver die Freiheitsfrage zu lösen
vermag, wenn man sich bewusst wird, dass die in Frage stehende
Kausalität wohl nicht oder vielleicht nicht Kausalität im mecha-
nischen Sinne sei,*) so giebt sich die Freiheitsfrage viel klarer,
wenn man sie mit dem vollen Bewusstsein stellt, dass im Falle
^) Schon Ilobbes unterscheidet zwischen dem Wollen des Thuns,
das man Freiheit nennt, und dem Wollen des Willens, dessen Vorhanden-
sein er bestreitet. Diese Unterscheidung bezeichnet Paulsen in seinem
Syst. d. Eth. Bd. 1, Seite 414, als das letzte Wort in dieser Sache.
') Vgl. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Berlin
1893, Bd. 2, Seite V6b f. S. auch L. Kym in der Zeitachrift für Philo-
losophie, Fichtezeitsohrift, Neue Folge Bd. 29, Seiter 252. Kym fasst auch
nach einer gewissen Seite hin die Frage der Willensfreiheit in Beziehung
zum Ich.
«) S. I. d. Kap. § 16.
') Wilhelm Wundt in seiner Ethik, 2. Aufl. Seite 463, 464, führt aus,
dass es für die neueren Gestaltungen der Willenslehre verhängnisvoll
geworden ist, dass Kant, der in dieser Frage noch immer den grössten
Einfluss ausübt, den fundamentalen Unterschied des geistigen und natu-
ralistischen Kausalbegriffs völlig verkannte, da er Kausalität überhaupt
und mechanische Kausalität in einem Sinne gebraucht.
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- 23 -
ihrer Bejahung der menschliche Wille eine Ausnahme in der
Natur bilden wird, eine merkwürdige Ausnahme, da doch der
Mensch als Glied der Natur in vielen Beziehungen sicherlich
einer kausalen Notwendigkeit unterliegt.
Der Indeterrainist Jacobi war sich auch dessen bewusst,
indem er sagt:^) „Die Vereinigung von Naturnotwendigkeit und
Freiheit in demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreif-
liches Faktum, ein der Schöpfung gleiches Wunder und Geheimnis.*'
Dieses Bewusstsein stört nun nicht die Denker aller Zeiten zu
fragen, ob und in welcher Form der menschliche Wille vom
Kausalgesetze beherrscht wird.
^^5^ 4. Die bedevienderen Standpunkte in der Freiheitsfrage,
Aus der Masse der Ansichten über die Freiheitsfrage lassen
sich sechs bedeutendere Standpunkte herausheben. Es sind : 2)
aj Die Willkürlehre oder der konsequente Indeterminismus, b) die
Wahllehre oder der inkonsequente Indeterminismus, c) die An-
nahme der Willensfreiheit als Kraft der Ueberwindung des eigenen
Charakters oder der inkonsequente Determinismus, d) die An-
nahme einer transcen deuten Freiheit oder der transcendentale
Indeterminismus, e) die Lehre einer absoluten Unfreiheit des
Willens oder der mechanische Determinismus, fj die Annahme
einer relativen Freiheit oder der psychologische Determinismus.*^)
§ 5, Die Willkürlehre oder der konsequente Indeterminis?nus,
Die Willkürlehre vertritt den Begriff liberum arbitrium in-
difFerentiap, der nach Schopenhauer ^) den einzig bestimmten und
klaren Begriff der Willensfreiheit ausmacht. Der Wille des
Menschen ist nach der fraglichen Lehre kausallos. Der Wille
>) Bd. 2, Seite 317.
*) Die Berechtigung zur im Texte gegebenen Zusammenstellung
wird die Darstellung der Freiheits- oder Unfreiheitstheorien erweisen.
") Mit Ausnahme der Willkührlehre, die eine absolute Freiheit an-
nimmt und der Lehre der absoluten Unfreiheit haben sich alle übrigen
mit beiden Fragen des Problems abzufinden. loh werde dennoch — der
Kürze wegen — auf die zweite Frage erst bei der Kritisierung des psy-
chologischen Determinismus zurückkommen, der auf den Unterschied
zwischen mechanischer und geistiger Kausalität grosses Gewicht legt.
*) Die beiden Grundprobleme a. a. 0. Seite 9.
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— 24 —
oder richtiger das menschliche Ich vermag alles, i) vermag unter
denselben zeitlichen und räumlichen Bedingungen ein und das-
selbe zu wollen oder nicht zu wollen. Freiheit des Willens ist
ein Vermögen-) „von zwei kontradiktorisch Entgegengesetzten,
ohne bestimmende Gründe das eine oder das andere zu wollen,
schlechthin bloss, weil es gewollt wird." Jeder Willensakt ist
demnach das alleinige Erzeugnis des Menschen, ein ganz unab-
hängiges Ganzes, das einen absoluten Anfang bildet. Die Genesis
eines Willensaktes ist daher sehr einfach. Der Mensch spricht
gewissermassen ein mächtiges: „Es sei**^ und es ist, denn der
Wille ist der Inbegriff alles Könnens und seine Freiheit ist ab-
solut, ist Willkür. Während alle anderen Freiheitsbegriffe — die
Begriffe der politischen oder religiösen Freiheit — bloss relative
Freiheiten, Teilfreiheiten ausdrücken, drückt der Begriff der
Willensfreiheit die Freiheit in ihrer Ganzheit und Absolutheit,
die Freiht^it aus, eine Freiheit, die geradezu als eine unnatür-
liehe Macht des Menschen anzusehen ist.*) „Die Freiheit ist ein
Vermögen, das auf keine begrifflich möghche, sondern auf eine
begrifflich d. h. natürlich unmögliche Weise wirke." Dessen-
ungeachtet kann die Realität dieses Freiheitsbegriffes nicht
bezweifelt werden. Denn^) „wir sind uns dieser Freiheit so be-
wusst, dass es nichts giebt, was klarer und vollkommener erkannt
wird." Bedürfte die Freiheitslehre noch irgendwie des Beweises,
so könnte man auf ^ine Unzahl von Menschen hinweisen, die
trotz aller Folterqualen bei ihren Entschlüssen beharrten, wie
auch auf die Thatsache,^) dass der Mensch im Gegensatze zum
Tiere ^) sich auch zur Selbsttötung entschliessen kann.
') Freilich nur alles das, was in den Grenzen der menschlichen
Natiu- liegt.
') Bei Schelling, a. a. 0. Seite 463.
*) Jakobi zitiert bei Zeller. Gesch. d. deutsch. Philos., a. a. 0. Seite 448.
*) Descartes, Prinzipien a. a. 0., I, § 41. Die berühmte Beweis-
führung Descartes für die Realität der Aussenwelt kann auch in Bezug
auf die Realität der Willensfreiheit angewandt werden. Wir sind frei,
denn wir sind uns der Freiheit bewusst und der Schöpfer unseres Be-
wusstseins, Oott, wird uns doch sicherlich nicht täuschen. Das Bewusst-
sein der Freiheit betont auch Jakobi. S. Ritter a. a. 0. Bd. 2. S. 546, 547.
^) Jakobi a. a. 0., Bd 1, Seite 175 u. ülrici a. a. 0. T.2, Seite 39.
i ") In neuester Zeit tauchte dagegen die Behauptung auf, dass auch
Ibei Tieren Selbstmordfälle vorkommen.
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— 25 —
§ 6. Kritik des konsequenten Indeterminismus.
Die Willkürlehre stösst auf heftigen Widerspruch seitens
der Erfahrung. Denn nach dieser Lehre ^) ist jedes grössere
Unternehmen, das eine Reihe von Handlungen in verschiedenen
Zeitmoinenten erfordert, jedes Unternehmen, dessen Ziel ein
wenig hinausgeschoben ist, ein leichtsinniges Wagnis, denn wer
sichert uns, dass sich unser freier Wille zu all den nötigen Vor-
stellungen bequemen wird ; nach dieser Lehre hat ^) Erziehung
keinen Sinn, denn der Wille nimmt in seiner Selbstherrlichkeit
keine Lehren an und lässt sich durch nichts bestimmen, nach
dieser Lehre hat ferner jede dramatische Kunst keinen Wert,
denn einen konkreten Fall nehmend, — welclien Sinn hat das
Kunstwerk des grossen Dritten „Der Mohr von Venedig,** wenn
der Mohr seine Desdemona auch ohne die Intriguen des Jago,
ohne jede Eifersucht ermordet hätte, so er es nur „gewollt*^
hätte, nach dieser Lehre endlich kann auch das Sittengesetz
nicht auf den anarchischen Willen bezogen werden, denn wenn
das Sittengesetz dem Willen Achtung abgewinnt, so ist seine
Freiheit im Sinne der Willkür aufgehoben. Diesen Indeterminis-
mus kann man nicht zu Ende denken.^) Dies«« Indeterminismus
gleicht in seinen Schwierigkeiten, seinem kontradiktorialen Gegen-
satz, dem Fatalismus.'*) Nach beiden Begriffen, d. h. ob der Wille
nichts oder ob er alles aus sich heraus zu vollbringen vermag,
ist e'me Unzahl von Erscheinungen im Menschenleben unver-
ständlich. Der konsequente Fatalismus und der konsequente Indeter-
minismus haben daher auch nur wenige Anhänger finden können,^)
») S. Simrael a. a. 0., Bd. 2, Seite 232. Georg v. Gizyoki, Moral-
philosophie. Leipzig, 1888. Seite 234, 235.
') S. Herbart Briefe a. a. 0. Seite 62-64. v. Hartmann a. a. 0. S.467.
V, Gizycki a. a. 0. S. 240, 241.
*) S. Schelling a. a. 0. Seite 464. Ihering a. a. 0. Bd. 1, Seite 4. .
*) Gizycki a. a. 0., Seite 241, bezeichnet auch die Willkür- oder Zu-
fallslehre als eine gfataliBtische* Meinung.
') In der Philosophie giebt es mehrere solcher konsequent zuge-
spitzten Lehren, die nicht ernst zu nehmen sind. So z. B. ein übertrieben
konsequenter Phänomenalismus. S. Paulsen, Einleitung in die Philosophie,
3. Aufl. Berlin 1895. Seite b62.
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— 26 —
aber ihre abgeschwächtem Formen, so der inkonsequente In-
determinismus haben viel Anhang gefunden.*)
§ 7. Die Wahl! ehre oder der inkonsequente Indeterminismus.
Nach dem inkonsequenten Indeterminismus ist der Wille
den Motiven zugänglich, aber er wird von denselben nicht be-
herrscht, sondern er beherrscht sie vielmehr, indem er in ihrem
steten Kampfe mit einander die Entscheidung hat. Der Mensch
will, indeyn er wählt. Zwar entspringen die menschlichen
Willenshandlungen einer Reihe ihnen vorangegangener Begeben-
heiten, aber ohne den Wahlakt, ohne die Zuthat des Willens
oder des Ichs, ohne diese eigentliche Thnt entstehen keine
Willenshandlungen. Zwar giebt es eine Kausaütät des Willens,
aber der Wille selbst ist eine Quelle der Kausalität, denn er
ist 2) eine Kraft der Wahl und beruht auf dem innersten Ich des
Menschen, der in der TotaHtät seiner Persönlichkeit frei ist. Die
Freiheit des Willens besteht nun darin, dass der Wille -^j oder das
*) Leibniz in der Vorrede zur Theodicee führt aus, dass die meisten
Menschen etwas von türkischem Verhängnis in ihr Leben mit einmischen.
Vgl. forner Th. Visohers, „Auch Einer*'. Kine Reisebekanntschaft.
*) S. Friedrich Julius Stahl, Rechts- und Staatslehre. I.Abt. Heidel-
berg, 1854. I.B. § 41. .
■) Ebendas., Seite 114, 1. Buch. Im grossen unl ganzen darf
man wohl Stahl diesem inkonsequenten Indeterminismus zuzählen. Der
Wille ist nach ihm zwar nicht grundlos und nicht unbegrenzt, aber doch
frei. Stahl spricht auch von einer notwendigen Wahl und sucht Kausalität
und Freiheit zu vereinigen. Vgl. §§ 39, 40, 41 des ersten Buches. Auf
ähnlichem Standpunkte steht auch Kym am a. a. 0. Seite 95. Vgl. auch
ülrici a. a. O , 2. Teil, Seite 37, 56 und 66. Auch Hugo Sommer, a. a. O.,
der Licht in den Wirrwar der widerstreitenden Ansichten gebracht zu
haben glaubt, durch die Trennung der negativen und positiven Bedeutung
des Freiheitsbegriffs, s. Seite 4 9, scheint die sogenannte Wahllehre zu
vertreten. P> definiert nämlich die Freiheitsbegriffe folgendermassen :
„Freiheit im ursprünglichen positiven Sinne bedeutet die Fähigkeit, unter
mehreren, sich dem Bewusstsein gleichzeitig darbietenden Motiven zu
wählen, d. h. überhaupt etwas Bestimmtes zu wollen. Freiheit im nega-
tiven Sinne bedeutet die Fähigkeit, sich in seinem Wollen von Motiven
freizuhalten, welche unserm wahren Wesen, d. h. unserer sittlichen Be-
stimmung widerstreiten " Die Begriffe sind so gefasst, dass es auch dem
Determinismus nicht schwer fällt, sie zu acoeptieren. Soll diese Fassung
des Freiheitsbegriffes irgend welchen bestimmten Sinn haben, muss man
die Wahlfähigkeit, von der Sommer spricht, im Sinne der Wahllehre ver-
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- 27 —
menschliche Ich zwischen den Motiven entscheidet und wählt.
Dessen ist sich der Mensch bewusst und muss sich bewusst sein,
da er es doch ist, der den Motiven Macht und Kraft zur Ein-
wirkung verleiht.^) Dieselben Motive näralich, die auf den einen
Willen wirken, bleiben dem andern gegenüber ganz wirkungslos.
Ihre Wirkung ist also von der Empfänglichkeit des Menschen
abhängig. Sie tragen ihren Wert nicht in sich, sondern erhalten
denselben vom Menschen.
§ (9. Kritik des inkonsequenten Indeterminismus.
Die Schwäche dieser Preiheitslehre besteht eben in ihrer
Inkonsequenz, in dem Zugeständnis einerseits, dass der Wille
motiviert wird und in der Behauptung andererseits, dass sich
derselbe grundlos für die eine Reihe der Motive zu Ungunsten
der andern entscheiden kann.
Es drängt sich wie von selbst die Frage auf, woher der
sonst motivierte Wille mit einem Male bei einer Entschlussfassung
die Macht nimmt, sich der ihm unangenehmen Motive zu ent-
ledigen. Was treibt ihn auch dazu, für die schwächere Motiv-
gruppe gegen die stärkere' Partei zu ergreifen, vielleicht die
Achtung vor dem Sittengesetz, eventuell der Hang zum
Bösen? Das wäre ja ein motivierter und kein grundloser Willens-
entschluss, was sich mit dem Indeterminismus nicht verträgt.
Trägt etwa der Wille die Kraft, den Motiven zu trotzen in sich,
so macht sich eine andere Schwierigkeit geltend, die Schwierig-
keit nämlich, dass der Wille so selten von seinem Vermögen
Gebrauch macht. In einem Bilde, wenn der Wille als Herrscher
im Reiche des menschlichen Lebens mit unbeschränkter Gewalt
das Parlament der Motive nach Laune zu bändigen vermag, so
ist es unbegreiflich, weshalb er dieses Parlament überhaupt nicht
aufhebt. Nun kann man wohl einwenden, dass der Wille das
stehen, als eine Fähigkeit, den Stärkegrad der Motive zu ignorieren, sich
für eine schwächere Motivgruppe zu Ungunsten einer stärkeren zu ent-
scheiden, die unserer Bestimmung widerstreitenden Motive . zurückzu
drängen, auch wenn sie stärker wirken als die Motive des Sittlich-Guten.
Die Fassung des Frei hei ts begriff es bringt jedenfalls keine Klarheit ins
Problem.
') S. Rümmeli, a. a. 0. Seite 52-54.
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Parlament der Motive beaiehen lässt, damit es ihm von der
Au<:senwelt berichtet, ihm gewissermassen Handlangerdienste
leistet, ohne dass er sich von demselben wesentlich bestimmen
lässt. Wenn dem aber so ist, so müssen sich doch mehr Beweise
der selbständigen Machtentfaliung des Willens geltend machen,
als es thatsächlich der Fall ist. In Wirklichkeit scheint diese
Macht des Willens nur in einem Falle zur Geltung zu kommen,
in dem Falle nämlich, wenn sich kontradiktorisch entgegenge-
setzte Motive das Gleichgewicht halten. Ein solches Zusammen-
treffen gleich starker Einwirkungen findet jedoch nach Leibniz^)
niemals, allenfalls sehr selten'^) statt, so dass die Annahme, dass
die eigentliche Wiilensthätigkeit auf diesen einen Fall sich be-
schränke, geradezu komisch wirken muss. Wenn es gestattet ist,
das vorhin gebrauchte Bild vom konstitutionellen Monarchen zu
Ende zu führen, so ist nach dem inkonsequenten Indeterminis-
mus der Wille ein Monarch, der nur dann auf die Schaubühne
tritt, wenn die widerstreitenden Parteien des Parlamentes sich
das Gleichgewicht halten und ihren Kampf ohne Dazwischen-
traten eines dritten Faktors nicht beenden können. Kurz, es
giebt nur ein Entweder-oder. P^ntweder der Wille wirkt voll-
ständig motivlos oder nur aus Motiven. Entweder Freiheit im
Sinne der Willkür oder Determinismus. Wahlfreiheit ist übrigens
genau genommen, der sprachlichen Bedeutung des Wortes nach,
Determinismus.
Was versteht man denn unter Wahl?-^) Die Abschätzung
der wahrscheinlichen guten und bösen Folgen eines zu fassenden
') S. Theodicee, 1. Teil, § 49.
*) S. Kuno Fischer, a. a. 0. Seite 16, in Bezug auf den sogenannten
Buridans Esel. Nach Fischer trägt dm Intelligenz des Esels die Schuld
an der Verhungerung, denn zu der Wahl zwischen den heiden Mitteln
zur Stillung des Hungers, kommt die zweite Wahl hinzu, ob man ver-
hungern will oder nicht. Der Mensch aber findet fast immer einen Aus-
weg aus ähnlichen Engen des Lebens, weiss sich stets zu helfen, was .
bei der Fülle menschlicher Beziehun>ien, bei dem Reichtum der mensch-
lichen Ursächlichkeit, beim raschen Wechsel des menschlichen Gefühls-
lebens fast selbstverständlich ist.
") S. Swereff in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philo-
sophie. 17. Jahrg. 1893, Seite 4S5, wo ebenfalls auf die deterministische
Bedeutung des Wortes Wahlfreiheit hingewiesen wird. Vgl. Gizycki, a a. O.
Seite 217.
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;t»^
- 29 -
Beschlusses, das Abmessen und Abwägen der verschiedenartigen
Bedingungen, Umstände und Konsequenzen des fraglichen Be-
schlusses. Eine solche Wahlth&tigkeit setzt bloss die physische
Freiheit, die Ungezwungenheit des Urteilens und Wollens voraus,
aber keineswegs die Losgelöstheit von jedem kausalen Zusam-
menhang, von allen früheren Gedankenverbänden, von allen
vollzogenen Willensakten, vom Grundstock der Individualität.
Man wählt z. B. einen Beruf, einen Freund u, s. w./ungezwungen,
aber nicht ohne ausreichenden Grund luid der Massstab der
Beurteilung und Wertschätzung bei einer Wahl wird nicht aus
dem reinen Nichts hervorgezaubert , sondern wächst vielmehr
hervor aus unserem Wesen, aus unserer Vergangenheit, aus der
Masse unserer Gedanken, Gefühle und Wollungen. Der Begriff
der Wahl deutet also auf den Determinismus hin; denn wenn
man sagt, dass der Mensch wählt, so sagt man. zugleich, dass
er nicht schlechtweg will^ im Öinne des Indeterminismus.
§9. Der inkonseqtietite Determinismus.
Aus den im vorigen Paragraphen ausgeführten Bedenken
heraus bildet sich der inkonsequente Determinismus. Nach dem-
selben bewegen und bestimmen äussere Reize und innere Motive
den Willen. Alle Willensakte sind Produkte höchst komplizierter
Prozesse, wurzeln in der Vergangenheit und tragen zugleich die
Keime der Zukunft in sich, sie sind Ursache und Wirkung zu-
gleich. In den gegenseitigen Kämpfen der Motive siegt die
Stärke, die Stärke, die aus der Tiefe des menschlichen Charakters
quillt. Alle Entschlüsse folgen demnach aus dem innersten Innern
des menschlichen Wesens, aus seiner Persönlichkeit, aus seinem
Charakter und sind mehr oder weniger Konsequenzen des Indi-
vidualcharakters. Diese Notwendigkeit schliesst jedoch die Frei-
heit nicht aus^ deren sich der Mensch bewusst ist ; denn frei ist
der Mensch, indem er seinen natürlichen Charakter zu über-
winden vermag.
Der Mensch ist frei zur Ueberwindungy vermag seinen
Charakter von Grund aus zu ändern und dadurch eine Umwand-
lung in seinem Gefühls- und Willensleben herbeizuführen. Diese
Freiheit ist das, was man in der Theologie „geistige Wieder-
geburt" nennt, das Vermögen, die eiserne Starre des Charakters
zu durchbrechen, die revolutionäre Macht, die ganze Verfassung
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— 30 —
des eigenen Wesens zu ändern, die schöpferische Kraft, sich
gleichsam umzubilden, sich zu häuten. Eine derartige Ueber-
windung wird durch Selbsterkenntnis herbeigeführt. Einige
mindestens einmal, erlebt der Mensch eine solche ReaUsierung
der Freiheit, bricht er mit seiner Vergangenheit und wendet sich
neuen Zielen zu. Solche Momente der Selbstkritik und Selbst-
erkemitnis weist auch die Geschichte der Menschheit, die Ge-
schichte der Wissenschaften, besonders die der Philosophie auf.
Von solchen Momenten datiert man die neuen Epochen in der
Menschheitsentwicklung. ^)
§ 10. Kritik des inkonsequenten Detenninismus.
Wie erhebend diese Ueberwindungslehre auch wirken mag,
sie löst das Freiheitsproblem nicht, weil sie, wenn auch nicht
gleich der W^ihllehre auf halbem Wege stehen bleibt, so doch
immerhin den Weg nicht zu Ende geht, weil sie inkonsequent
und unbestimmt ist.. Sie ist inkonsequent, denn wenn aus
dem Charakter des Menschen das Kleinste wie das Grösste
folgt, muss doch auch die Aufhebung dieses bestimmten
Charakters aus ihm selbst resultieren. Wenn der Mensch nicht
das Geringste vermag, was sich nicht mit seinem Charakter ver-
trägt, so kann er doch sicherlich nicht so Grosses und Bedeu-
tendes wie die Umformung eben dieses Charakters ohne Zustim-
mung gleichsam des umzuwandelnden Charakters vollziehen.
Freilich scheint es ganz absurd, aus der Aktivität des Charakters
seine Negation folgen zu lassen, den Charakter gewissermassen
einen Selbstmord begehen zu lassen. Dies scheint aber nur so
absurd, wenn man nicht das Wesen des Charakters in Betracht
zieht oder wenn man es ganz falsch auffasst, wenn man den
Charakter als etwas Starres, Unabänderliches, als ein Objekt des
reinen Seins im metaphysischen Sinne nimmt, wozu die Redens-
arten von der Geschlossenheit, Festigkeit, Unbezwingbarkeit des
Charakters verleiten.
In Wirklichkeit ist aber der Charakter kein „ehernes Etwas,"
sondern die verhärtete, jedoch leicht auflösbare, ja zu jeder Zeit^)
sich auflösende Einheit der Gefühle und Gedanken eines Sub-
*) Kuno Fischer, a. a. 0., vertritt diesen Standpunkt.
») S. Gizyoki, a. a. 0. Seite 242.
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— 31 —
jekts. Der Charakter ist ein Objekt des wechselvollen Werdens,
ist entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig, so dass man
nur von einer relativen ^) Geschlossenheit, Festigkeit und Voll-
endung des Charakters sprechen darf. Wenn nun ein gewaltiges
Ereignis, eine gewichtige Erfahrung, eine hervorragende Er-
kenntnis, also ein mächtiges Motiv die Intelligenz oder das
Gemüt eines Menschen in Aufruhr bringt, sich durch ein stets
irgendwie offenbleibendes Hinterpförtchen des Charakters in das
Innere des Menschen einschleicht oder gar durch die Wucht
der Wirkung die Kette, die den Charakter bildet, durchbricht,
das verhärtete Wesen des Menschen wieder flüssig macht und
so der fraglichen Person ein ganz neues Gepräge aufdrückt,
dann vollzieht sich das, was man Wiedergeburt oder Ueberwin-
dung nennt und es beginnt eine neue Aera im Leben des be-
treifenden Menschen. Man vergegenwärtige sich als Beispiel
folgenden historischen Fall. Martin Luther, der anfänglich Rechte
studierte und keine grosse Lust zu ernstem Bibelstudium ver-
spürte, umwandelte sich infolge der Einwirkung eines fürchter-
lichen Gewitters auf sein Gemüt und zwar, wie hinzugefügt
wird, infolge einer Gemütserschütterung, die dadurch herbei-
geführt wurde, dass einer seiner Freunde an seiner Seite vom
Blitz getroffen wurde; er gieng in sich und das Resultat dieser
Selbstkritik und Selbsterkenntnis war seine Abwendung vom
Weltlichen und Zuneigung zum Geistlichen. Nun liegt ofl^enbar
ein grosser Teil dieser Natureinwirkung in Luthers früherem,
jetzt umgeformten Charakter. Die Empfänglichkeit Luthers
für solche Eindrücke beruht auf seiner Jugendlichkeit; denn
im gereiften Alter, wo das Gepräge eines Menschen natur-
gemäss gefestigter als in der Jugend ist, muss freilich ein
Charakter umwälzender Faktor stärker sein als in der Jugend-
zeit. Auch die Art der Wirkung resultiert aus dem Wesen
Luthers. Ein Anderer würde vielleicht in dem schrecklichen Tode
seines Freundes eine Ungerechtigkeit der Vorsehung erblicken
und sich infolge dessen vielleicht ganz von Gott abwenden.
Dieses Beispiel zeigt, dass thatsächüch der Charakter selbst zu
^) S. Wundts Ethik, Seite 478, 479, wo ausgeführt wird, dass ein
vollkommen entwickelter Charakter, der erheblichem Aenderungen nicht
mehr unterworfen ist, eia blosses Ideal sei, welchem die Wirklichkeit
niemalB entsprechen kann.
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seiner Vernichtung beiträgt, dass von einer Freiheit zur Um-
schaffung des Innenlebens keine Rede sein kann; denn nicht
Jievolution, sondern Evolution *) ist die richtige Bezeichnung für
die Aenderung der Charakterform. Die Wahrheit dieser Annahme
bezeugen gerade die Umwandlungen, die sich im Charakter der
Menschheit vollziehen. Die Perioden der Selbsterkenntnis in der
Philosophie, in der Wissenschaft überhaupt, sind offenbar nicht
Erzeugnisse der Geisteshelden dieser Perioden, sondern resultieren
aus den geschichtlichen Verhältnissen jener Zeitläufte. Diese
Auffassung des Charakters und seiner Umwandkmgen ist die
einzig haltbare; denn, wenn man den Charakter als etwas an
sich Unabänderliches fasst, das nur durch das Machtgebot des
Willens aufgehoben wird, dann drängt sich wieder die alte
Frage auf: Weshalb tritt der Wille nur in Zeiten der inneren
Gefahr nach der ähnlichen bekannten Einrichtung im römischen
Reiche als Diktator auf? Charakter und Willen sind daher nicht
von einander loszulösen, sondern einheitHch zu fassen ; der Cha-
rakter ist die feste Form des Willens und unterliegt dem Kau-
salgesetze. -)
§ IL Der transcendentale Indeterminismus.
In Hinsicht der Erfahrung lässt sich, meint der transcen-
dentale Indeterminismus, aus den angegebenen Gründen kein
Freiheitsbegriff bilden. Der Mensch als empirisches Wesen, als
Sinnenwesen, als Naturding ist sicherlich unfrei und determiniert,
*) E. T^aas im 6. Jahrgang der Vierteljabresschrift für wissenschaftl.
Philosophie, Seite 324, versucht nun auf Grund dieser allmählicken Aen-
derung des Charakters einen Freiheitsbegriff zu bilden, indem er BSigt,
dass wir so blieben oder so wurden und dass wir nicht allmählich anders
wurden, dass wir zu unserm jetzigen Zustand ivillentlich heigetragen
haben, bildet den Hintergrund unserer Verantwortlichkeit. Diese An-
nahme des willentlichen Beitrages zur allmählichen Aenderung hat keinen
Sinn ; denn, wenn der Wille kausal gebunden ist, vermag er nichts, auch
das Geringste nicht ohne Ursache, auch eine allmähliche Veränderung
seines Charakters nicht. Mit einem Worte, ist der konsequente Indeter-
minismus falsch, so ist aueh jede indeterministisoh angehauchte Lehre,
mag sie auch nur 1 Prozent Indeterminismus einschmuggeln, falsch; ist
der Indeterminismus als Regel unbegründet, so ist er es auch als Aus-
nahme : vgl. V. Hartmann, a. a. O., S. 448, 449.
-') Vgl. Herbart, Allg. Piedagogik, Seite 297, 299, 302.
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— 83 —
aber der Mensch als geistiges Wesen, der intelligible Mensch • j
ist frei; denn im Reiche des Intelligiblen giebt es keine Kau-
salität. *) Wie unbegreiflich die transcendentale Freiheit auch sein
mag, sie inuss als Postulat gesetzt werden.
Die Natur des Sittengesetzes, -) die allgemeine Form des-
selben und seine rnbedingtheit setzt voraws, dass der Mensch
in allen Gestaltungen seines Wesens das Gute wollen kann.
Der kategorische Imperativ kann sich nur an einen freien
') Mit dieser Theorie der traDSceiidentalen Freiheit darf nioht die-
jenige Lehre verwechselt werden, die die Freiheit in ein Leben vor diesem
irdischen Dasein verlegt, die da behauptet: »Wie der Mensch hier hand^-lt,
so hat er von Flwigkeit und schon im Anfange der Schöpfung der Men-
schen gehandelt/ Schelling, a. a. 0., Seite 471. Diese Lehre mag der
Theologie als Erklärung des bösen Prinzips in der Welt dienen, aber für
die Philosophie, die die Frage stellt, ob jeder einzelne Willensakt d-s
Menschen frei sei, ist eine Verlegung der Wahl des Guten oder des Bösen
in die Urzeit der Schöpfung, in ein rein geistiges Leben, mag man es sich
auch mit Schelling (Seite 470) unzeitlieh, ausser aller Zeit denken, eine
Anerkennung des Determinismus in empirischer und transcendentaler Be-
ziehung, also das gerade Gegenteil der Freiheitslehre Kants. Vgl. Zeller,
Geschichte der deutschen Philosophie, a. a. , Seite 360, 370. lieber die
transcendentale Freiheitslehre vgl. Kant u. a. Kritik der reinen Vernunft.
2. Aufl. Elementarl. 2. Teil, 2. Abteifuncr. 2. Buch, 2. HauptstUck. S.
Jodl, Bd. 2, Seite 27 38. — Schopenhauer spitzt den transcendentalen
Indeterminismus auf folgende Weise zu: Unsere Thaten sind allerdings
Produkte der Notwendigkeit, folgen aus unserem Charakter, aus dem »was
wir sind*. Was wir aber sind, transcendental gesprochen, sind wir frei.
Die Freiheit liegt im esne und" die Notwendigkeit im operare, vgl. Die
beiden Grundprobleme a. a. O., Seite 90, 98, 174—178. YgL über Schopen-
hauers Freiheitslehre, Jodl a. a. O., Bd. 2, Seite 243 247. Auch Nietzsche
•lenseit« von Gut und Böse, 2. Aufl., Leipzig 1890, Seite 26, deutet auf die
transcendentale Freiheit, auf die Freiheit des Au-sich hin, freilich im
Widerspruche mit seinem Sensualismus, worauf Ludwig Stein, ^Friedr.
Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren", Berlin 1893, Seite 48— 49,
hinweist. Auch die wissenschaftlichen Vertreter des Spiritualismus hul-
digen dieser Theorie. So Karl du Prel in seinem Büchlein ,Das Rätsel
fies Menschen*, Reklam.
*) Vgl. Jodl, Band 2, a. a. 0., Seite 29, 80. „Jenes Gesetz ist nur
in Beziehung auf die Freiheit des Willens möglich, unter Voraussetzung
desselben al)er notwendig; und umgekehrt, diese ist notwendig, weil jene
Gesetze als praktische Postulate notwendig sind*. — Kant selbst, in der
Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, Seite 5, bezeichnet die Freiheit
als die Bedingung des moralischen Gesetzes. S. ferner I.Teil, 1. Bu^h,
I. Hauptst. Anmerkung zu 55 6. Vgl. auch ebendas.. ^ 5, Aufgabe 1.
Nlemlrower, ,WiIlensfreih«Mt'. 3
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- 34 -
Willen richten. Die Anerkennung der Autonomie des Willens
setzt die Annahme der Freiheit voraus.
Da nun der Mensch als Wesen der Erfahrung unfrei ist,
so rauss er als übersinnUches Vernunft wesen frei sein.
§ 12. Kritik de^ iranscendentalen Indeterminismus.
Diese Theorie steht und fällt mit dem Kantianismus. Die
Kantische Ethik kann sie nicht entbehren und nur die Kantische
Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich kann
sie erklären. Wer aber nicht Anhänger der Kantischen Moral
ist, der sieht sich nicht veranlasst zur Annahme einer transcen-
dentalen Freiheit; wer femer zwischen Phänomenen und Nou-
menon nicht unterscheidet, der kann sich eine intelligible Freiheit
gar nicht denken, was Kant selbst betont.^) Die transcendentale
Freiheitslehre wird daher vom Materialismus, für den es über-
haupt keine Transcendenz giebt, keine von der Materie unab-
hängige Gebilde, am schärfsten und schroffsten abgelehnt.
§ 13. Der mechanische Determinismus.
Der Materialismus hält es für selbstverständlich, dass der
Mensch, der auch zur Natur und nur zur Natur gehört, dem
allgemeinen Naturgesetze der Kausalität unterliegt, dass der
Mensch, der nur ein Pünktchen in dem grossen All ausmacht,
keine besondere Privilegien besitzt und nicht durch seine Gesetz-
losigkeit und ungehemmte Willkür den Kosmos in ein Chaos zu
verwandeln vermag.
Unsere Vorstellungen und Strebungen, unsere Willensakte,
sind nach dem Materialismus notwendige Begleiterscheinungen
unserer Bewegungen. Mit einem Worte, die Welt zu der der Mensch
gehört ist ein Mechanismus *) und in einem Mechanismus ist kein
Platz für eine Willensfreiheit. Das Gesetz von der Erhaltung der
Energie,^) von dem Nichtsverlorengehen und nicht Nichthinzu-
kommen in der Summe der Kraft, spricht entschieden gegen
S. Vorrede zur 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft, Seite 28 ;
ferner Kritik der praktischen Vernunft, I.Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück.
Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft. Eiementarl., 2. Teil, 2. Abt., 2. Buch,
2. Hauptstück.
*) S. Dubois-Reymond, Die sieben Welträtsei, Seite 87, 88.
') S. Simrael, a. a. 0., Bd. 2, Seite 286.
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— 35 —
jede Willkür, gegen jede Freiheit. Auch die Erfahrung, wie sie
sich in der Statistik i) giebt, spricht gegen jede Freiheit des
Willens, zeigt, dass der Mensch einfach als eine Maschine zu
betrachten sei, die unter Umständen die von ihr erwarteten
Dienste leistet und unter andern Umständen den verlangten
Dienst versagt. Das Gleichnis mit der Maschine wird noch weiter
geführt. Wie man die Maschine im Falle ihrer Dienstleistung
als gut und vollkommen, und im Falle ihrer Dienstverweigerung
als schlecht und unvollkommen bezeichnet, so ist es ähnlich in
Bezug auf den Menschen. Die Maschine an sich, also auch die
menschliche Maschine, ist weder gut noch schlecht, sondern ist
was sie ist, was sie sein muss ; ihre Wertschätzung beginnt erst
dann, wenn man das, was sie sein soll^ das, wozu man sie be-
stimmt, in Betracht zieht. Die Maschine ist frei, insofern sie in
ihrer Thätigkeit nicht absichtlich von aussen her gestört wird,
*) lieber statistische Thatsacben im Dienste des Freibeitsproblems
handeln u. a. Adolf Wagner, Die Gesetzmässigkeit der scheinbar will-
kürlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik, Hamburg 1864.
Drobisoh, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit,
Leipzig 1861. A. v. Oettingen, Die Moralstatistik, in mehreren Auflagen
erschienen. S. Wilhelm Wundts Grundzüge der physiologischen Psycho-
logie. 4. Auflage, 1894, 2. Band, Seite 400, wo ausgeführt wird, dass in
den statistischen Daten kein zwingender Beweis für die ausachlieas-
Uche Determination gegeben ist. Es ist auch bekannt, dass Quetelet die
statistischen Thatsacben im Sinne und zu Gunsten des Indeterminismus
zu deuten sucht, indem er behauptet, die Stetigkeit und Gleichmässigkeit
des menschlichen Handelns deute auf die Freiheit des Willens hin, auf
eine vernunftgemässe Selbstbeherrschung des Menschen, denn die natür-
lichen Impulse und Leidenschaften würden bei ihrer Buntheit und Wild-
heit, bei ihrem wirren Durcheinander den menschlichen Zuständen den
uoregelmässigsten und zufälligsten Charakter aufdrücken. Gegen diese
Behauptung kann natürlich mit Leichtigkeit a\if die Thatsache hingewiesen
werden, dass nicht, wie man nach dieser Ansicht erwarten sollte, Pro-
dukte der Vernunft und des moralischen Wertes, sondern gerade im Ge-
genteil Produkte der Unvernunft \md des moralischen Unwertes durch
die Statistik festgestellt werden. — Die statistischen Thatsacben spielen
in der italienischen Kriminalanthropologie eine bedeutende Rolle, in der
sogenannten positiven Schule des Strafrechts, nach welcher die Hand-
lungen des Menschen, gute wie schlechte, stets das unvermeidliche Pro-
dukt seines Organismus und der natürlichen und socialen Atmosphäre
sind, in welcher er geboren ist und lebt. Vgl. Gretener, Die positive
Schule des Strafrechts, in der Zeitschrift des bemisohen Juristenvereins,
1884, Seite 167.
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— 36 —
sie ist unfrei, insofern sie unter Umständen ihre Thätigkeit
ändern oder gar einstellen muss. Ebenso ist der Mensch frei im
Sinne der Abwesenheit des Zwanges und unfrei insofern seine
Willensakte aus seinem Wesen, wie aus seinem Milieu folgen.^)
§ 14, Kritik des mechanischen Determinismus,
Die Lehre von der Mechanik des Willens, diese absolute
Anerkennung der materialistischen Kausalität im Willensleben,
stösst auf Widerspruch, sowohl beim Idealismus, Parallelismus
als auch bei einem feinern Materialismus. Der Idealismus, der
nur dem Geistigen, Substantialität zuerkennt , kann natürlich
diese rein mechanische Auffassung des Willenslebens, die Unter-
werfung des Psychischen unter das Naturgesetz des Materiellen
nicht gelten lassen. Der Parallelismus, der zwar nur eine Substanz
anerkennt, aber zwei Formen derselben kennt, kann sich mit
einer Lehre nicht befreunden, die sowohl im Reiche des Denkens,
des Bewusstseins als auch in dem der Ausdehnung nur eine
Form der Kausalität annhnmt.
Auch der mehr philosophische Materialismus, der zwar als
das Wesentliche in der Erscheinungswelt das Materielle betrachtet,
die Materie als die Substanz ansieht, aber sich dennoch der
Thatsache stets bewusst ist, dass im Laufe der Entwicklung
eine gewisse Differenzierung zwischen höhern und niederem
Formen des Daseins, zwischen geistigen und körperlichen sich
ausbildet. Auch dieser Materialismus kann nicht annehmen,
dass die Psyche nach demselben Schema , in derselben Form
regiert wird, in der die Körperwelt regiert wird. Die eigentlichen
Haupteinwürfe gegen den mechanischen Determinismus shid
aber gegen seine Konsequenzen bezüglich der menschlichen
Verantwortlichkeit zu richten, worauf ich an dieser Stelle nicht
eingehen kann.^)
<$>' 13. Der psychologische Determinismus.
Der psychologische Determinismus, der von Locke begründet
ist,^) erkennt die Kausalität in Bezug auf das Wollen voll und
) So bezeichneten Hobbe-«, Gassendi, Holbach u. A. den Menschen
als Maschine. S. Ritter a. a. 0. Seite 229, 230, 238, 414.
») S. Kap. 2, § 16.
*) S. Wuridt, Phys. Psychol., Bd. 2, Seite 399.
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- 37 ~
ganz an, aber er nimmt für das Willensleben, wie für das Psy-
chische überhaupt eine besondere Form der Kausalität in Anspruch.
Das Reich der Gedanken ^) und Empfindungen ist allerdings um
nichts weniger gesetzmässig als das der übrigen Natur, für die
Betrachtung der inneren Natur des Menschen ist die Notwendig-
keit ebenso wie für die der äusseren Natur das Letzte und
Höchste, wozu wir gelangen können, aber diese Notwendigkeit
äussert sich in der Form der Freiheit.^) ^Wille heisst demnach
das Vermögen der eigenen Kausalität gegenüber der Aussen-
welt," so dass man, wenn man will, was allerdings die Klarheit
des Freiheitsproblems beeinträchtigt, noch immer von .einer
Freiheit des Willens reden darf in dem Sinne der Unabhängig-
keit der AuHsenwelt gegenüber, eine Freiheit, die durch Er-
ziehung, durch Selbsterziehung, durch Bildung des Intellekts und
Veredlung des Gemüts reahsiert werden kann. Freiheit und
Notwendigkeit lassen sich auf diese Weise vereinigen, wie es
Herder^) und andere versuchten.
§ 16. Kritik des psychologischen Determinisnms,
Dieser psychologische Determinismus ist es, man darf es
wohl sagen, den alle Philosophen eigentlich im Auge haben,
der auch etwas Erhebendes an sich hat. Dieser Determinismus
erhebt Lessing*) zum Ausspruch : Ich danke dem Schöpfer, dass
ich muss, dass ich das beste muss. Von diesem Determinismus
kann Schopenhauer ^) sagen, dass er eine Quelle des Trostes und
der Beruhigung sei. Abgesehen von diesem Gefühlsmoment, das
für die Wissenschaft nicht von Belang ist, hat die psychologische
Freiheits- oder, was dasselbe ist, Unfreiheitslehre das Bewusst-
sein des Menschen für sich, das auf eine Freiheit, mindestens
auf eine Form der Freiheit des Willens hinweist, hat sie die
historische Thatsache für sich, dass der sogenannte gesunde
Menschenverstand zu allen Zeiten irgendwie eine Freiheitlichkeit
») S. E. DühriDg, Kursus der Philosophie. Leipzig, 1875. Seite 33, 218.
*) S. Ihering, a. a. 0., Seite 24.
*) S. Ritter, a. a. 0., Seite 495.
') S. Ritter, a. a. 0., Seite 487.
*) Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 60.
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— 38 —
des Willens anzunehmen geneigt ist. ^ pie Hauptlehre dieses
Determinismus von der Verschiedenheit der naturalistischen und
geistigen Notwendigkeit kann auf doppelte Weise gewonnen
werden. Von zwei verschiedenen Ausgangspunkten kann man
zu dieser Lehre gelangen. Der eine Ausgangspunkt spielt bei
Schopenhauer, der andere bei Iheriug eine Rolle. Den ersten
Ausgangspunkt bildet der sich aufdrängende Unterschied der
Kausalarten.2) Ursache und Wirkung geben sich nicht in allen
Zweigen der Natur auf dieselbe Weise.
A. Im Unorganischen äussert sich dieses Gesetz anders als
in der Pflanzen- und Tierwelt, in dieser wieder anders als im
Menschenleben. In drei Formen zeigt sich die Kausalität und
zwar als Ursache schlechthin, als Reiz und als Motiv, a) Im
Unorganischen ist sie einfach, daher leicht wahrnehmbar. Ursache
und Wirkung berühren einander, b) Im Organischen ist sie ver~
wickelter, jedoch immerhin bemerkbar, denn ein Teil der Ursache
scheint in die Wirkung überzugehen, c) Beim Menschen ist sie
immateriell, höchst kompliziert und darum zumeist unbemerkbar.
Je höher die Stufe der Kausalität, desto entfernter sind Ursache
und Wirkung von einander. Je entwickelter das Objekt der
Kausalität ist, desto verwickelter die Kausalität selbst. Je
feiner die Kausalität, desto weniger wird man sich ihrer be-
wusst, desto mehr wird si6 geleugnet.
B. a) Die Ursache als Ursache schlechthin im Unorgani-
schen drängt sich jedem als materieller Zwang auf, b) die
Ursache als Reiz, als Notwendigkeit, und c) die Ursache als
Motiv äussert sich in der Form der Freiheit.
C. a) Wenn die Wirkung sich auf materielle Weise an die
Ursache kettet, wenn sie sich als Erzeugnis der Ursache giebt,
dann giebt sich die Kausalität in der Form der Gewissheit "*)
*) Zwar habe ich in der Einleitung, § 4, diese Vorliebe des gesunden
Mensohenverstandes für die Annahme der Willensfreiheit zu begründen
gesucht, dennoch glaube ich, dass die angeführten Gründe, allein kaum
zur Erklärung der fraglichen Thatsaohe ausreichen.
*) S. Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme, a. a. 0., Seite 26 ff.
Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 2. Aufl. S. 45-47.
■) Ich schliesse mich in dieser Darstellung selbstverständlich Schopen-
hauer an. Ich glaube doch durch Zuhilfenahme der logischen Formen
Gewissheit, Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit, wie der Gegensätze
Zwang, Notwendigkeit und Freiheit, die Darstellung erleichtern zu können.
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— 39 —
und kein Zweifel taucht gegen ihre Realität auf. b) Wenn aber
Ursache und Wirkung nur teilweise, nur indirekt, nur durch ein
Medium, durch den Reiz, der vom Objekt A aufs Objekt B
tibergeht, mit einander in Berührung kommen, dann ist für die
wissenschaftliche Konstruierung der Dinge das Kausalverhältnis
zwischen den Objekten A und B zweifellos, aber für das Be-
wusstsein giebt sich diese Kausalität gewisserraassen in der Form
der Wahrscheinlichkeit. Es waltet Wahrscheinlichkeit, aber nicht
Sicherheit ob, weil der kausale Prozess uns nicht ganz verständ-
lich und bekannt ist. c) Wenn endlich eine Handlung B auf
eine ihr völlig entrückte Handlung A zurückgeführt wird, wenn
ein ps^ychischer Kaüsalprozess sich abspielt, so ist die Annahme
der Kausalität für die Psychologie als Wissenschaft etwas
Sicheres, fürs menschliche Bewusstsein aber stellt sich diese
Kausalität in der Form der Möglichkeit dar. Als frei, oder
logisch gesprochen, als möglich erscheint die psychische Kau-
salität, weil man die Beziehungen zwischen den Ursachen und
Wirkungen nur spärlich kennt.
Den Ausgangspunkt einer zweiten Ueberlegung, die aber
zu demselben Resultate führt, bildet die Thatsache, dass der
Mensch zumeist mit bestimmten Absichten handelt, durch sein
Thim oder Lassen Zwecke erreichen will. Diese Thatsache wird
von keiner Seite bestritten, worüber gestritten wird, ist die Frage,^)
') S. Ihering, a. a. 0., Buch 1, Seite 11, 14, 78, 93. Ihering nimmt
die AusRohliesslichkeit des Zweckgesetzes im Willen des Menschen an.
In der Natur herrscht das „Weil**, für den Willen das »Um** (Seite 4),
und wo isein Zweck, sondern bloss ein Grund vorliegt, dort haben wir es
nicht mit einer Handlung, sondern bloss mit einem Ereignis zu thun
(Seite 15), denn bei einer Handlung dreht sich es immer um einen Zweck,
mag man ihn auch in der Form des Grundes ausdrücken (Seite 15—21).
Ihering giebt jedoch selbst zu, dass die äussern Einwirkungen Gelegen-
heitsursaohen abgeben, dass ferner die Möglichkeit der ersten Regung
zur That durch die gegebene Individualität de% Subjekts bedingt und be-
gründet ist (Seite II, 12), dass endlich das äussere Stadium des Wollens,
die Verwirklichung des Willens, unter das mechanische Kausalitätsgesetz
fällt (Seite 11). Nun glaube ich, dass, wenn man die Zugeständnisse
Iherings zusammenfasst, den ersten Anfang einer Handlung, die äussere
Anregung, auf ein „Weil** zurückführt, das eigentliche Interesse fürs frag-
liche Objekt anfangs wenigstens aus der Individualität des Betreffen-
den ableitet und dann das letzte Moment des Wollens, das „Zur-That-
werden* des Willens wieder der mechanischen Kausalität ausliefert und
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— 40 —
ob es im Psychischen überhaupt ein Wollen ohne Zweck gebfe
oder ob im Reiche des Willens Handeln und um eines Zweckes
tmllen handeln^ identisch sei, Dass der Mensch zumeist wiD,
;^um^ dieses oder jenes zu erlangen, nicht einfach ,,weih er dies
oder jenes früher gewollt oder gethan hat, dass beim Menschen
zur Ursache schlechthin die Z weck Ursache , allerdings wohl
mittelbar wirkend, hinzukommt, bedarf keiner längeren Beweis-
führung; denn der Mensch wurzelt zwar in der Vergangenheit,
aber lebt doch zumeist in der Zukunft, erinnert sich zwar
manchmal des Vergangenen, denkt jedoch oft an das Zu-
künftige, so dass die Zukunft stets seine Gegenwart beein-
flusst, und infolge dessen der Zweckgedanken, der der Zukunft
gehört, und nicht die Ursache schlechthin, die in der Ver-
gangenheit fusst, im menschlichen Leben entscheidend ist.
Auch verhält sich der Mensch den l^rsachen, den äussern
Reizen gegenüber, nicht rein leidend^ sondern er tritt auch
handelnd auf, durch den Zweckgedanken angespornt, die Gegen-
wart im Geiste der Zukunft gestaltend und die Zukunft durch
die Gegenwart schafiFend.
Der Mensch als denkendes Wesen wird naturgemäss durch Ge-
danken, die aufkommende Zeiten Bezug haben, also durch Zwecke
geleitet, daher bergen die Motive menschlichen Wollens zumeist
einen Gedankenstoff, ^) sind irgendwie mit Gedanken verbunden.
Die zwingende Kraft der Motive hat Aehnlichkeit mit der Nöti-
gung logischer Wahrheit, so dass Motiv und Handlung mehr
Berührungspunkte mit Grund und Folge als mit Ursache und
Wirkung zu haben scheint. Kurz, die Form der Innern Kausalität
unterscheidet sich von der der äussern,^) was den Glauben her-
vorruft, dass sie eine Art Freiheit bildet.
noch dazu eine Reihe von Willensphänomenen als Ereignisse abfertigt,
wenn man dies bedenkt^o leuchtet es ein, dass man zwar den Zweck-
begriff mit dem psychischen ^ausalbegriff zu verknüpfen hat, dass man
sie aber nicht einfach, wie Ihering es macht, identißzieren darf.
') S. Rousseau Emil, deutsch von Kramer, Berlin 1790, 3. Teil,
Seite 56. „Welches ist denn die Ursache, die seinen Willen bestimmt?
Es ist seine Verstand^skraft. es ist sein Vermögen, zu urteilen".
') S. Paulsen, System der Ethik, a. a. 0. Bd. 1, Seite 425. Einleitung
in die Philosophie, a. a. 0. Seite 224.
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41
,<y 17, Gründe der Vorliebe des gesiutden McNschmversfandes
für die Freiheitslehre,
Nachdem die Darstellung der Theorien der Freiheit oder
Unfreiheit des Willens jedenfalls ergeben hat, dass die Freiheits-
lehre mit Schwierigkeiten verbunden ist, ist es wohl recht am
Platze der Frage näher zu treten, wie es kommt, dass der Mensch
zur Bejahung der Freiheitsfrage geneigt ist. Die theologischen
Interessen *) der Menschheit, wie auch die gefühlsmässige Wert-
schätzung -) der Freiheit einerseits und die freiheitliche Form der
psychischen Thätigkeit andererseits machen es wohl begreiflich,
dass die Freiheitslehre so viele Anhänger findet. Indessen muss
^ine Thatsache, die sich zu allen Zeiten geltend macht, die für
das ganze Problem von Wichtigkeit ist, die besonders in Bezug
auf die Hauptfrage dieser Abhandlung, in Bezug auf die Frage
nämlich nach dem Verhältnis der Verantwortlichkeit zi^r Willens-
freiheit von grosser Tragweite ist, muss also eine .>solche That-
sache ausführlicher und näher erklärt und begründet werden. Fünf
MametUe sind es nach meiner Ansicht vornehmlich, die zur Er-
klärung der fraglichen Thatsachen in Betracht gezogen werden
müssen. Zwei dieser Momente tragen mehr indirekt zur Annahme
und Verbreitung der Freiheitslehre bei und drei derselben direkt.
A. Die indirekten Momente sind : a) Die S<;hwierigkeit der
Aufstellung allgemeiner Gesetze im Psychischen, b) Das Ver-
hältnis des Kausalgesetzes zu den Vorstellungen der Zeitlichkeit
imd Räumlichkeit; von denen der gewöhnliche Mensch im Psy-
chischen absieht. B. Die direkten Momente sind : a) Die Freiheit
des menschlichen Thuns, die leicht mit der des menschlichen
Wollens verwechselt wird, b) Das öftere Zusammenfallen von
Wahlakt und Willensakt. r) Der monistische Trieb des Menschen.
Diese Momente hängen zum Teil zusammen, lassen sich jedoch
auch unabhängig von einander darlegen, w^s im folgenden ver-
sucht werden soll.^)
') S. in diesem Kapitel, § 2. Vgl. Spencer, Thatsachen der Ethik,
deutsch von R. Vetter, Stuttgart 1879, Seite 55.
*) Vgl. Einleitung, § 4 und 5.
') Das indirekte Moment a findet sich zum geringsten Teil angedeutet
bei Spinoza, das direkte Moment a wird vertreten von Schopenhauer,
V. Hartmann und Simmel und das direkte Moment b ist Wundt entnommen,
die übrigen Momente hingegen glaube ich selbst hinzufügen zu dürfen.
_d^
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— 42 -
(^' 18, Die Schwierigkeit der Aufstellung allgemeiner
Gesetze im Psychischen. ^)
Die Aufstellung allgemeiner Gesetze im Seelischen , die
Erkenntnis der psychischen Kausalität ist mit vielen Schwierig-
keiten verbunden und will kaum gelingen. A. Beweis: Diese
Behauptung kann leicht bewiesen werden 1. durch die Neuheit
derjenigen Wissenschaft, die auch die Zahlen psychischer Objekte
reden lässt, die seelische Thatsachen statistisch zu Gesetzen
verknüpft, ich meine die Moralstatistik ; 2. durch die Thatsache,
dass eine Anwendung der naturwissenschaftüchen Methoden in
der Geschichtswissenschaft erst in der neuesten Zeit versucht
wird (Buckle) und zwar mit nicht sehr grossem Erfolg.
B, Diese Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Fassung
der psychischen Begebenheiten erklärt sich aus der Natur der
Psyche, liegt 1. in der Kompliziertheit seeHscher Prozesse, 2. in
der teils scharf zugespitzten, teils verschwommenen Individuali-
siertheit der verschiedenen Willensträger. 1. Die Kompliziertheit,
das bunte Auseinander und Ineinander der einzelnen Elemente,
der stetige Formwechsel ein und desselben Stoffes, das ewige
Werden auf der einen und die Konstanz auf der andern Seite
erklären die Erfolglosigkeit der Unterordnung seelischer Zustände
unter allgemeine Gesetze. 2. Die allgemeine Fassung psychischer
Gesetze wird auch durch die grosse Manigfaltigkeit psychischer
Subjekte erschwert. So manche Denker 2) erklären es auch für
unmöglich, irgendwie auf das Wollen und Handeln der Menschen
bezugnehmende Gesetze von allgemeiner Gültigkeit aufzustellen,
da es doch kaum zwei einander vollständig gleichende Individuen
\md bei ein und demselben Individuum kaum zwei einander
völlig gleichende Seelenzustände giebt.
Diese Behauptung geht nun allerdings zu weit, denn wenn
auch keine vollständige, keine absolute Gleichheit der Subjekte
und der Phänomene denkbar ist, so ist doch eine relaiife
•} Vgl. Wundts Kihik, Seite 465. S. auch Sluart Mill, System der
di?dukiiven und induktiven Logik^ -xleutsch von Gomperz, Bd. 6, Käp. t$,
§ 1. Allgemeine Betrachtung über die Gesellschaftswissenschaft. S.L.Stein.
Das Prinzip der Entwiokelung in der Geistesgeschichte, in der Deutschen
ivundsohau, 1895, Juni. Besonders S. 398, wo auf die engen Grenzen der
experimentellen physiologischen Psychologie hingewiesen wird.
') So z. B. Adolf Lasson.
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— 43 —
Gleichheit, eine wesentliche Aehnlichksit der Erscheinungen
und ihrer Subjekte annehmbar, so dass man allgemein bestimmen
kann, ähnliche Ursachen bringen unter ähnlichen Umständen
bei einander ähnlichen Personen ähnliche Wirkungen hervor —
ist nun also auch diese Behauptung unberechtigt, so zeigt sie
jedenfalls, dass die strenge Geschiedenheit der Individuen, wozu
noch eine gewisse Aehnliohkeit der Individuen in manchen
Stücken hinzukommt, ein Hindernis und Hemmnis der Erkenntnis
des Psychischen, des Zusammenhanges zwischen den psychischen
Einzelerscheinungen bildet.
C, Diese Eigenart des Psychischen macht sich besonders
im Willens\eb^n des Menschen geltend und führt zur falschen
Schlussfolgerung aus dem Umstand, dass man die Kausalität der
Willensphänomene nicht zu erkennen vermag, auf das ünvor-
handensein jeder Kausalität im Reiche des Willens. Mit einem
Worte, der Mensch kennt nicht und kann in den meisten Fällen
nicht kennen die Ursachen seines WoUens, deshalb ist er geneigt,
das Wirken jeder Ursächlichkeit in Bezug auf sein Wollen zu
leugnen. Würde der Mensch die Willensprozesse voll und ganz
verstehen können, so würde er sicherlich an eine Kausallosigkeit
des Willens nicht denken. Was ist denn ein Willensprozess nach
dem Determinismus? ein Kampf kontradiktorischer Motivreihen.
Was ist ein Entschluss nach dem Determinismus ? der Sieg einer
starkem Motivgruppe über ihre schwächere Gegnerin. Dies zu
erkennen, das wahre Wesen der Willensprozesse und der Willens-
entschlüsse zu erfassen, ist der Mensch nicht so leicht im stände,
denn die Voraussetzungen einer leichten Einsicht in das Innere des
Willens fehlen zumeist. Die Voraussetzungen sind: 1. Die Kenntnis
aller Motive, die an einem Willensprozess, an einem Willenskampf
beteiligt sind. 2. Die Möglichkeit, ihren Stärkegrad zu messen.
Nun ist die Kenntnis aller Motive wii^ die Abschätzung
ihres Einflusses fast unmöglich. Die Ursachenkette ist eine so
raanigfaltig gegliederte, die einzelnen Glieder de/selben sind durch
') Auch Spinoza in seiner Ethik, Anhang zum 1. Teil meint, dass
die Menschen sich für frei halten, weil sie die Ursachen der Dinge, der
Zustände, die Triebfedern ihres Wollens nicht kennen. S. 3. Teil, Erläute-
rung zu Lehrs. 2, wo Spinoza sagt: ^So glaubt das Kind, dass es die Milch
freiwillig begehrt und ebenso hält der Knabe das Wollen der Rache und
der Furchtsame das Wollen zu fliehen für ein freiwilliges*.
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— 44 —
tausendfache Fäden mit einander verbunden, dass man die ein-
zelnen Motive kaum betrachten kann, dass man diese Ursachen-
kette nicht als Ghederung, sondern als Einheit nimmt; als
Einheit kann sie aber nur in Beziehung zu ihrem Substrat
gefasst werden, weshalb sie als freies Produkt desselben, des
wollenden Ich erscheint. Auch der Umstand, dass die Träger
der Willensakte individuell von einander verschieden sind und
nach ihrer Verschiedenheit mannigfachen Einwirkungen zugäng-
hch sind, so dass dieselben Motive das eine Subjekt bestimmen
können, auf das andere aber gar keinen Einfluss haben, auch
dieser Umstand erschwert die Erkenntnis des Willensprozesses,
weil er jede objektive Wertschätzung der Motive unmöglich
macht. Auch noch manch andere Eigentümlichkeit des Psychi-
schen wirkt in derselben Richtung, erschwert das Bekanntwerden
aller in einem bestimmten Falle in Betracht kommender Motive.
So bewirkt das Gesetz der Gedankenverdichtung , welches Lazarus
in seinen Schriften ausgebaut hat, dass auch Gedanken, Motive,
die ausserhalb der Schwelle des Bewusstseins sich befinden, beim
Zustandekommen eines Entschlusses mithelfen.. Ein Glied einer
grossen Gedankenreihe vermag nämlich oft kraft des ganzen
Verbandes, dem es angehört, zu wirken, ohne dass man sich
aller übrigen Verbandglieder recht bewusst wird.*)
Zur Verdeutlichung möge folgendes Beispiel dienen. Ein
Journalist entschliesst sich nach langem Schwanken und Wanken
aul Befehl seines Chefs einen falschen Bericht in Umlauf zu
setzen. Wie kommt dieser Entschluss zu stände? Zwei Gruppen
von Bestimmungsgründen kämpfen eine Zeit lang mit einander,
auf der einen Seite : Ehrgefühl, Wahrheitsliebe, ideale Auffassung
des Joumalistenberufs, Furcht vor Entdeckung des Betruges
u. s. w.; auf der andern Seite: Rücksichten auf seine Familie,
auf seine Kinder, seine Zukunft, die Furcht vor Brotlosigkeit in
jeder Gestalt. Den Ausschlag fürs Begehen des Verbrechens
giebt jedoch — wollen wir annehmen — eine anscheinend un-
bedeutende Erinnerung, eine Erinnerung an unliebsame Haus-
streitigkeiten in Zeiten der Stellenlosigkeit des Betreffenden.
Diese Erinnerung, die auf eine andere Person oder auf dieselbe
') Ks wundert mich, dass noch keiner — meines Wissens wenigstens —
das Gesetz der Gedankenverdichtung zum fraglichen Zwecke verwertet hat.
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— 45 —
in einem anderci Zusammenhang keine Wirkulig ausüben oder
gar einen komischen Eindruck hervorrufen würde, ist bei dieser
IndividuaHtät, unter diesen bestimmten Verhältnissen das Gute
in derselben zu verdrängen im stände. Denn die blosse Er-
innerung an häusliche Streitigkeiten Infolge materieller Be-
drängnis wirkt so mächtig, als wenn sich der Betreffende all
der traurigen Ursachen, all der unangenehmen Begleiterschei-
nungen und all der bösen Folgen jener Zwisiigkeiten bewusst
worden wäre. Thatsächlich denkt er nur daran, dass der be-
vorstehende Verlust seiner Stellung wieder zu Pamilienstreitig-
keiten führen wird, aber in diesem Gedanken verdichten sic^h
all die Begebenheiten, die jenen Streitigkeiten, an welche er
denkt, vorausgingen und folgten, so dass man diesen Gedanken
als Abkürzung, als Abbreviatur einer ganzen Gedankenreihe,
als den Auszug eines wesentlichen Abschnittes aus der Lebens-
geschichte der in Frage stehenden Person betrachten kann. Der
Betreffende wird sich jedoch dessen nicht bewusst und kann daher
nicht glauben, dass diese unbedeutende Erinnerung in ihm eine
solche Wirkung erzielen kann, sondern ist geneigt, die Wirkung
und Entscheidung der Freiheit seines Willens zuzuschreiben.
Die Kompliziertheit *) wie die Eigenart der Willensprozesse
überhaupt erzeugen also indirekt eine Vorliebe für die Annahme
der Willensfreiheit.
i^l9. Das Kausalf/esefz in Verbindunfj mit Zeit und Baum,
Wie die Natur des Psychischen, so veranlasst die Natur
des Kausalgesetzes die Leugnung der Kausalität des Willens.
Das Kausalgesetz wird mit den Begriffen Zeit und Raum in
Verbindung gebracht. Im Unorganischen, wo Ursache und Wir-
kung einander berühren, merkt man das räumliche Verhältnis
und man merkt es in der Zeit; im Organischen, wo die Ursache
') An dieser Stelle mag noch eine Hypothese Simmeis beigefügt
werden. Von der Voraussetzung ausgehend, das« keine Vorstellung ohne
einen Bewegungsprozess im Gehirn zu stände kommt, hält es Simmel doch
andererseits für möglich, dass zu einer zureichenden Ursache eine physio-
logische Bedingung gehört, welche keine BetvusatHeinsaeite hat, so dass
man ganz vergeblich mit den Mitteln der Psychologie des Bewusstseins
nach der eigentlichen Ursache sucht. Vgl. Simmcls Einleitung in die
xMoral, Bd. 2. Seite 294
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— 46 —
als Reiz auftritt, handelt es sich noch immer um ein Uebergehen
eines Teiles der Ursache in die Wirkung, also wieder ein räum-
lich und zeitlicher Prozesa. Im Psychischen aber kann sich ge-
wöhnlich der Mensch Zeitlichkeit undRäumhchkeit nicht denken;
er leugnet deshalb jede Kausalität. Wie diejenigen Philosophen,^)
welche den Begriffen Raum und Zeit die Realität absprechen,
entweder zur Leugnung, oder zur Apriorisierung der Kausalität
gezwungen sind, so leugnet der sogenannte gesunde Menschen-
verstand, der die Realität der Zeit und des Raumes im Psychischen
nicht annehmen kann, die Kausalität des Innenlebens, da er sich
doch zur Apriorisierung der Kausalität nicht emporschwingen
kann und auch feinere Unterscheidungen zwischen der Unzeit-
lichkeit des Psychischen an sich und der Zeitlichkeit des Psy-
chischen als Prozess nicht macht.
§ 20. Die Verwechslung der Freiheit des Wollens mit der
des Thuns.
Die Freiheit des Thuns von jedem äussern Zwang, die
sogenannte physische Freiheit, welche allein vom ßewusstsein
bezeugt wird, 2) wird leicht mit der Freiheit des Wollens verwech-
selt, ^) so man nicht das ßewusstsein des Andersgekonnthabens
zerlegt und von dem ähnlichen AndersgewoUt-haben-können
scharf scheidet. Man verwechselt das: „Ich kann thun was ich
will" mit dem: „Ich kann wollen, was ich will" um so leichter,
als die Erkenntnis der Willenskausalität sich dem menschlichen
ßewusstsein nur schwer erschliesst. Man verwechselt die Freiheit
vom äussern mechanischen Zwang um so eher mit der von jeder
Gebundenheit, als doch eine Freiheit im letztem Sinne dem
Menschen schmeichelt*) und sehr erwünscht wäre.
*) Ich begnüge mich, hier Hume und Kant zu nennen, da ich doch
nicht auf dieses Thema des Nähern eingehen darf.
') Vgl« § 3. Hugo Sommer, a. a. 0., ignoriert diese Unterscheidung
fast ganz und macht sich die Untersuchung sehr bequem, indem er es
Seite 9 als eine zweifellos evidente Offenbarung der unmittelbaren Lebens-
erfahrung hinstellt, dass wir frei sind in unseren Willensentschlüssen.
•) S. Ed. V. Hartmann, a. a. 0., Seite 450.
*) Schopenhauer in seinen Grundproblemen der Ethik, a. a. 0., S. 6,
deutet auf diesen Grund der Annahme der Willensfreiheit hin. Vgl. eben-
daselbst, Seite 14—24. Siehe auch Simmel, a. a. 0., Seite 433, 434, wo auf
den Zusammenhang der sekundären Freiheit, der Freiheit des Handelns,
gemäss dem Willen, mit der Freiheit des Willens selbst hingewiesen wird.
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— 47 -
t? ^i. Z>as BewuHstwerden eines Willensaktes als Wahlakt,
Die Thatsache, dass der Mensch sich seines Willens erst
clann recht und deutHch bewusst wird, wenn es sich um einen
Wahlakt, um eine Entscheidung zwischen kontradiktorischen
Motiven handelt, führt zur Identifizierung von Willensakt und
Wahlakt, denn man glaubt dem Willen oder dem menschlichen
Ich ein besonderes Wahlvermögen zuschreiben zu müssen, da
sich der Wille oder das Ich als treibende Macht zumeist in den- ,
jenigen inneren Gestaltungen zeigt, die eine Wahlform. haben,
d. h. in denen mehrere MögUchkeiten sich bekämpfen. *)
,<5^ 22. Die Rolle des monistischen Triebes bei der Entstehung
und Ve?'breitung der Freiheit slehre.
In den angeführten Momenten, die der Preiheitslehre teils
die Bahn ebneten, teils direkt günstig waren, kommt der Um-
stand hinzu, dass der Mensch von dem Triebe zur Vereinheit-
lichung der Erscheinungen, der Prozesse, der Ursachenkomplexe
beherrscht wird. Dieser Trieb nämlich, der in der Menschheits-
geschichte eine so grosse Bedeutung hat, dem man all die
genialen, wenn auch einseitigen Vereinheitlichungen der Existenz-
und der Erkenntnisformen, der Entwicklungsprinzipien, all das
systematische Streben der Menschen zu verdanken hat, macht
sich überall geltend, wo er nicht auf mächtigen Widerspruch
stösst und vereinfacht die Phänomene im menschlichen Bewusst-
sein. Dieser monistische Trieb bewirkt es nun, dass man keine
KausaUtät des Willens annimmt, um nicht zur Setzung mehrerer
Ursachen der menschlichen Willenshandlungen gezwungen zu
«ein; denn, erkennt man das Kausalitätsgesetz im Wollen an
und sucht es in den einzelnen Fällen voluntaristischer Prozesse
nachzuweisen, so muss man. stets mehrere Ursachen ausfindig
machen, da nur selten eine Ursache'^) eine Wirkung hervorbringt,
') Wundt in seiner physiol. Psycho!., a. a. 0., Seite 395, führt diesen
Grund an.
•) Vgl. Stuart Mill, Logik, a. a. 0., Buch 3, Kap. 5, § 3, wo es heisst:
, Selten jedoch, wenn jemals besteht diese unabänderliche Verbindung
zwischen einem Konsequens und einem einzigen Antecedens. Gewöhnlich
besteht sie zwischen einem Konsequens und der Summe mehrerer Ante-
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— 48 —
nimmt man hingegen die Freiheit des Willens an und fasst den
Willen als causa sui, so ist dem Vereinheitlichungstrieb Genüge
geschehen.
Freilich würde der monistische Trieb allein die Freiheits-
lehre nicht erzeugen können, wenn nicht die angegebenen Gründe
vorhanden wären. Allenfalls nimmt es nicht Wunder, so man
all ■ die dargelegten Momente betrachtet, dass der Mensch zur
Annahme der Willensfreiheit, zur Leugnung der Kausalität
geneigt ist; man muss siöh vielmehr wundern, dass sich noch
Denker^) finden, die sich darüber wundernd äussern, dass der
Mensch die Ursachen des Geschehens in seinem Innern nicht
bemerkt, während er doch für die Kausalität der äussern Dinge
volles Verständnis hat.
§23, De^r Trieb zur ^Bindunfi'^ und der Trieb zur FreiheiL
Wie der Mensch zur Freiheit geneigt ist, so ist er auch
andererseits zur Annahme der Einmischung eines gewissen fata-
listischen Elementes in sein Thun und Wollen geneigt, was schon
Leibniz^j hervorhebt. Die Vorsehungslehre ist ein Erzeugnis
dieser Neigung, die sich sehr leicht erklärt und zwar auf das-
selbe Moment sich zurückführen lässt, das bei der Erklärung der
Vorliebe für die Freiheitslehre verwendet wurde ; ich meine auf
den Trieb zur Vereinheitlichung. Die Stabilität psychischer
Verhältnisse, der Rhythmus in den Willenserscheinungen drängt
die Menschen von jeher, trotz, ihrer Neigung zur Leugnung jeder
Kausalität im Willensleben, irgendwie doch ein zusammenfügendes
Prinzip aufzustellen, eine leitende Macht, die Einheit in die
Mannigfaltigkeit der Willenserscheinungen bringt, anzuerkenmm
und diese ordnende Macht, dieses leitende Prinzip ist nun die
göttliche Vorsehung.
Wie die Harmonie der Natur, das Füreinander, Miteinander
und Durcheinander der Dinge den Glauben an einen Weltschöpfer
befestigt, so bestärkt die sich offenbarende Harmonie im Reiche
(?edoQtien, die alle zusammentreffen müssen, um das Konsequens hervor-
zurufen, d. h. um es zur gewissen Folge zu haben," S. auch Buch 5^
Kap. 3, § 7.
M So V. Kirehmann, Grundbegriffe, a. a. 0.. Seite 89.
^ S. § fi, I. d. K.
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— 49 —
des Willens den erhabenen Glauben an die Vorsehung Gottes
und führt zu einem abgeschwächten Fatalismus. ^) Dieser Wider-
spruch, dass der Mensch auf der einen Seite eine Neigung »ur
Annahme der Willensfreiheit, auf der andern Seite zur Annahme
fatalistischer Determiniertheit zeigt, wird verständlich, wenn
man sich mit Siramel*) bewusst wird, dass neben dem Trieb
zur Freiheit sich beim Menschen ein „ganz positiver Trieb zu
ihrem Gegenteil, zur Bindung, zum Aufgeben der Selbständig-
keit*^ findet. Dieser Trieb zur BifMlung zeigt sich bei den
„raffinierten Kontrastnaturen, die den Zwang, die Vergewal-
tigung gewissermassen wollustig empfinden, sei es in der reli-
giösen Askese, der Verklärung des Gesamtich durch eine
einzige Phantasievorstellung, sei es in der passivistischen Liebe,
die ihre Lust in dem Misshandeltwerden durch eine andere
Person findet und sich bis zum pathologischen Masochismus
steigert;*' dieser Trieb zeigt sich femer bei „schwachen Seelen,
die sich ihres Teilchens von Willenskraft erst an der Reibung
mit unterdrückten Gegen strebungen bewusst werden." Dieser
Trieb nun, mag man ihn erklären wie man will, befördert, wie
ich glaube, die fatalistische Annahme, dass der Mensch durch
und an den Willen äusserer Mächte gebunden sei und bestärkt
den Glauben an eine göttliche Vorsehung. Diese Erklärung der
fatalistischen Neigungen der Menschheit im Gegensatze zu ihren
gleichzeitigen indeterministischen Neigungen macht es auch
begreiflich, dass die Wahllehre ^ der inkonsequente Indeter-
miniamuHy der noch immer für fatalistische Stimmungen eins
Ausflucht gewährt^ am meisten beliebt ist, dass die inkonse-
quenten Freiheitslehren als die eigentlichen Freiheitslehven zu
betrachten sind.
Kurz gefasst kann man sagen, der Indeterminismus, der
gewissermassen ein Produkt des Triebes zur Freiheit ist, findet
seinen Gegensatz in einem mehr oder weniger konsequenten
Fatalismus, der im Triebe zur Bindung wurzelt, so dass wir in
der Terminologie Fichtes und Hegels eine Thesis und Antithesis
hätten, die nach dem sogenannten gesunden Menschenverstände
in der Synthesis inkonsequenter Freiheitslehren ihre Vereinigung
») S. § 2, I. d. K.
*) A. a. 0., Bd. 2, Seite 172—176.
Niemirower, .Willensfreiheit'. 4
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— 50 —
finden, die aber ihren wissenschaftlichen Vereinigungspunkt im
psychologischen Determinismus erhalten. ^)
^) Am Schlüsse dieses ersten Kapitels wie in der DarsteHung des
Freiheitsproblems überhaupt, habe ioh das Recht des psychologischen
Determinismus zu verfechten gesucht, worin ich mir freilich, der Natur
dieses Kapitels gemäss, das nur im beschränkten Sinne selbständig,
mehr jedoch Vorarbeit ist, Schranken auferlegen musste, da ich doch
allen bedeutendem Standpunkten in Bezug auf die Freiheitsfrage adä-
quaten Ausdruck verleihen musste. Auf die subtilen Untersohiedä der
mannigfachen Standpunkte, wie auf einzelne ganz unbefriedigende
Lösungsversuche des Problems, durfte ich immerhin nicht eingehen, so
z. B. auf die Ansichten, die die Freiheit in dem Umstände suchen, dass
der Mensch seinen notwendigen Handlungen freudige Zustimmung er-
teilen, wie auch versagen kann. (Der occasionalistisohe Versuch. S. L.
Stein, Archiv, a. a. 0., 2. Bd., Seite 193 ff.) Denn all diese Versuche kommen
für die Frage nach dem Verhältnis dei Verantwortlichkeit zum Freiheite-
problem wenig in Betracht und sind dem inkonsequenten Determinismus
zuzuzählen. Der ocoasionalistische Versuch, der, wie mein verehrter
Lehrer L. Stein den Nachweis geführt hat, einerseits mit den stoischen
Versuchen, andererseits mit Kants Lehren von der Gesinnung und vom
guten Willen zusammenhängt, ist für die' Geschichte des Problems be-
deutsam, ist aber bereits erledigt durch die Kritik der inkonsequenten
Theorien,
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Zweites Kapitel.
Die Formen, Theorien und Beziehungen derVerant-
-vvortlichkeit des Menschen fUr sein Thun und Lassen.
§ 1. Die Formen der Verantwortlichkeit.
Nachdem im vorigen Kapitel das Freiheitsproblem unab-
hängig von seinen Konsequenzen in Bezug auf die menschliche
Zurechnung dargestellt wurde, kann sich die Untersuchung ihrem
Ziele nähern, zur Peststellung der Beziehungen zwischen WiUens-
freiheit und Verantwortlichkeit schreiten. Es gilt jedoch vorerst
die Formen der Verantwortlichkeit imd ihr Wesen allgemein
darzustellen, um dann die ausführliche Darstellung ihrer Theorien
mit der Untersuchung ihrer Beziehungen zum Freiheitsprobleme
verbinden zu können.^) Es giebt drei Formen der Verantwort-
lichkeit: Die moralische, sociale und juristische.^) Die moralische
Verantwortlichkeit äussert sich in der Selbstzufriedenheit und
Selbstanklage des Menschen, in einem stolzen Selbstbewusstsein
und in der Reue, die sociale im Beifall oder Tadel seitens der Ge-
sellschaft und die juristische in der Auszeichnung und Bestrafung
seitens des Staates. Die organisierte Belohnung imd Strafe, die
staatUche hat die äussere That im Auge, ist bestinunt und
') S. Einleitung, § 10.
') Vgl- Gyzioki, a. a. 0., Seite 279.
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— 52 —
mechanisch zwingend. *) Die innere Belohnung und Strafe, die
ethische ist auf die Gesinnung *) gerichtet, ist geistig zwingend, •^)
aber unbestimmt.*) Die sociale Anerkennung und Verurteilung
ist sowohl auf die That'*) als auf die Gesinnung gerichtet, ist
aber unbestimmt und mehr oder weniger unzwingend.
§ 2. IXe Straftheorien im nllge^neinen. '^)
Die Straftheorien werden gewöhnlich in einfache und ge-
mischte geteilt; die einfachen sind auf einem Prinzip aufgebaut
*) V. Harimann, a. a. 0., Seite 499 503, ineiot, dass die Erzwing-
barkeit kein Merkmai des Rechts sei, denn Recht bleibt Recht, auch wo
es nicht Macht genug besitzt, sich zu realisieren. Es giebt nach ihm
keine Grenzbestimmung a priori für dio Gel)iete der Rechtsordnung und
der freien Sittlichkeit. Ich glaube jedoch, dass man selbst nach Hartmann
das zwingende Moment als Unterscheidungszeichen der Verantwortlichkeits-
formen gebrauchen kann, da doch allenfalls die staatliche Zurechnung sich
ehiör zwihgende Creltung zu verschaffen vermag, als die andern Formen.
*) übber Reoht und Moral s. Diihring, Kursus der Philosophie, a. a. O.,
Seite 220, 221. Steinthal, Allg. Ethik. Berlin 1885. Seite 34 138. v. Kirch-
mann, Grundbegriffe, a.a.O., Seite 104-117. Adolf Lassen, System der
Rechtsphilosophie. Berlin und Leipzig, 1882, Seite 2 - 10.
■) loh halte es nicht fllr richtig, da^s man die staatliche Verant-
wbrtlilobkeit als zwingend schlechthin und die moralische als zwanglos
schlechthin bezeichnet, da doch die moralische Verantwortlichkeit durch
ihr Organ, durchs Gewissen einen Zwang auszuüben vermag, sich Aner-
kennung verschafft, daher bestimme ich die rechtliche Verantwortlichkeit
als Mechanisch und die ethische als geistig-hioralisch zwingend.
") Zwäi* ist das Gewissen, naöh Rousseau im Emil, a. a. 0., Bd. 8,
Seite?, der beste aller Casuisten, dennoch liefert dasselbe für die Einzelfälle
keine bestimmten Vorschriften, denn es ist der Ausdruck der Allgemeinen
ethischen Prinzipien, deren Anwendung für den Einzelfall oft unbestimmt ist.
^) Die öffentliche Meinung legt bei ihrer Wertschätzung eines
Mfehschen mehr (Jewicht auf dessen Gesinnung, als das Recht es bei seinem
Formalismus thun kann. Sie kennt jedoch die Gesinnung eines Indivi-
düums aus seinen Thaten, also nicht wie das Gewissen, das die Gesinnung
seines Subjekts unmittelbar kennt.
^) Eine Uebersioht der Straftheorieen findet man in jedem Lt-hrbtich
des Sfcrafrechts. S. Ansei m Feuerbachs Lehrbuch. Herausgeber Mitt^^r-
n^er. Giessen 1874. 1. Buch. Einleitung, § 7 des Herausgebers. Berner,
Lehrbuch, 16. Aufl., § 4, 5. Reinhold Köstiin, System des deutschen
Strafrechts. Tübingen 1855, Seite 890-412. Hugo Meyer, Lehrbuch. Er-
langen 1888. 1. Abschnitt, §3. Ulrici, a.a.O., 2. Teil, Seite 391—413.
Wundt, Ethik, Seite 630-534. Paulsen, System der Ethik, Bd. 2, Seite
121—125, u. a. m.
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— 53 —
und die geinischten auf mehreren. Die einfachen werden in A.
absolute ^) und B, relative -) geteilt. ^) Die Absoluten haben 4^
gemeinsame Moment, dass sie hauptsächlich nach d^m Grtmd
der Strafe fragen. Diese Theorien haben auch hinsichtlich des
Zweckes der Strafe einen gemeinsamen Punkt, an dem sie sich
berühren, nämlich den der Genugthnung^ gleichviel wem durch
die Strafe genug gethan werden soll, ob dem Verletzten o46r
dem bessern Teil des Verletzers selbst, ob der verletzten gött-
lichen oder der gestörten gesellschaftlichen Ordnimg, ob dem
verletzten jR^chtshev/usstsein oder dem gekränkten Bewusstsein der
Verwandten des durch's Verbrechen Geschädigten, ob der Idee des
Rechts oder der der Gleichheit, ob der Menschheit oder der Gottheit.
Die Relativen haben das gemeinsame Moment, dass sie 4t^
Zipeckfrage des Strafrechts in den Vordergrund rücken. Diese
Theorien werden geteilt in aj Erziehungstheorien, b) in Ab-
schreckungs- und Unschädlichkeitsmachungslehren. *) Die Blr-
ziehungstheorien sehen in der Strafe ein Mittel zur sittlichen
Bessexung des Verbrechers, die Abschreckungs- und Unschädlich-
keitsmachungslehren ein Mittel zur Verhinderung weiterer Uebel.
^^^ 3. Die Gewisf^enstheorien. ^)
Die Gewissenstheorien lassen sich in a) absolute, b) volun-
taristische,^') c) intellektuelle, d) voluntaristisch-intellektualistische
*) lieber absolute Straftheorien vgl. u. a. Welcker, Die letzten Gründe
von Recht, Staat und Strafe. Giessen 1813. Seite 197-214.
') lieber relative Straftheorien u. a. Welcker, ebendas. Seite 214—249.
Adolf LasBon, a. a. 0., Seite 530 ff.
*) Nach Paulsen in seinem Syst. d. Ethik, 2. Teil, Seite 121, könnte man
sie vielleicht auch als A intuitiv-formalistisch, B als teleologisch bezeichnen.
*) Zu dieser Gruppe von Straflehren ist auch die Straftheorie der
sog. positiven Schule des Strafrechts zuzuzäblen, bei der es sich um eine
Abwehr der Gesellschaft gegen schädigende Handlungen und gefährlich
krankhafte Individuen handelt. Vgl. über diese Straftheorie Lombroso,
a. a. 0., besonders E. Ferri. La scuola positiva di diritto criminale, Siena
1883, wie auch Gretener, a. a. 0.
*) Die Gewissenstheorien werden hier mehr in ihren gemeinsamen
Momenten als in ihren Differenzen gezeigt, denn es kommt für die Unter-
suchung der Beziehungen des Gewissens weniger auf die einzelnen Mo-
mente in der Auffassung des Gewissens und mehr auf den Gesamtcharakter
derselben an.
°) Diese Terminologie ist Hartmann entnommen, a. a. 0. Seite 184 ff.
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-Tjm,^ i
~ 54 -
scheiden, a) Die absoluten Theorien fassen das Gewissen meta-
physisch, richtiger mythologisch auf, als ein unbestimmbares,
unerkennbares himmlisches Etwas im Menschen oder in religiöser
Sprache als die Stimme Gottes im Menschen, b) Die volunta-
ristischen Auffassungen des Gewissens betrachten dasselbe als
ein Phänomen des. Gefühls- und Willenslebens, bestimmen es
als einen mächtigen Mitleidsausdruck des Verbrechers mit seinem
Opfer oder als Ausdruck der Furcht vor der Strafe oder endlich
als Ausdruck beider, c) Die intellektualistischen Gewissenstheo-
rien führen das Gewissen auf die menschliche Reflexion zurück,
auf die gewonnene Ueberzeugung, dass das vollbrachte Ver-
brechen im Interesse des Verbrechers selbst hätte unterbleiben
müssen, d) Die voluntaristisch-intellektualistischen Gewissens-
lehren betrachten das Gewissen als ein Produkt der Erziehung,
als eine Reaktion der angeeigneten Lebensgrundsätze und der
eingeübten Willensrichtungen gegen eine böse Aktion.
a) Die absolute Auffassimg des Gewissens sieht in dem-
selben ein Privilegium des Menschengeschlechtes, ein kostbares
Gut, das der Mensch von jeher ^) und das jeder Mensch gleich^)
besitzt, b) Die voluntaristischen Theorien leugnen nicht nur die
Absolutheit des Gewissens, sondern auch seine Idealität, sehen
in demselben entweder einen Ausdruck der krassen Furcht vor
der in Staat und Gesellschaft üblichen Bestrafung des Verbrechers
oder ein zu spät kommendes Mitleid^) mit dem Verletzten, das
sich, nachdem die Leidenschaft des Verbrechers verraucht ist,
einstellt, c) Die intellektualistischen Theorien glauben das Ge-
wissensphänomen zu heben, indem sie es der Geistessphäre zu-
weisen, glauben die Notwendigkeit^ in der es sich giebt, da-
durch erklären zu können, dass sie es als eine mit logischer
Notwendigkeit sich geltend machende Konsequenz gewisser
*) Paul Ree, die Entstehung des Gewissens, Berlin 1885. § 8 führt
auB, dass fast sämtliche Moralphilosophen der Meinung waren, das Be-
wuBstsein, welches wohlwollende Handlungen lobt, egoistische tadelt,
nicht entstanden, sondern jeder Zeit in allen Mensehen vorhanden ge-
wesen sei. Er führt folgende Denker an: Fergusson, Hutcheson, Hume,
Lecky, Adam Smith, Stewart Mackintosh, Cicero, Schopenhauer u. a.
») S. Rümmelin, a. a. 0., Seite 68.
*) Darwin vertritt diesen Standpunkt. Siehe Paul Roe, a. a. O.^
Seite 213.
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— 55 —
Thaten nehmen, indem sie es auf die Einsicht zurückführen,
dass die übereilte Handlung hätte unterbleiben sollen aus rein
egoistischen Motiven, aus Klugheitsgründen. ^) d) Die volunta-
ristisch-intellektualistische Betrachtungsweise des Gewissens sucht
durch die Verknüpfung von Verstandes- und Willenselementen
dem Gewissensphänomen einen adäquatem Ausdruck als die
andern Theorien zu geben. Nach dieser Theoriengruppe wird der
Mensch ohne Gewissen geboren, aber im Laufe des Lebens
gewinnen'^) gewisse Regeln einen bestimmten Einfluss auf den
Menschen, gewisse Persönlichkeiten die Macht der Autorität, ')
die sowohl den Intellekt als auch den Willen beherrscht. Die
voluntaristisch-intellektualistische Gewissenstheorie findet einen
andern, tiefern Ausdruck im Geiste der Darwinistischen Lehre
bei Paulsen.
Nach Paulsen ist das Gewissensphänomen auf folgende
Weise zu erklären.^) „Wie im tierischen Leben dem Individuum
das Ausdenken und Berechnen des für die Erhaltung und Port-
pflanzung des Lebens Nützlichen und Notwendigen — durch die
Instinkte erspart wird, so dem Menschen durch die Sitten/
Der Instinkt, den man treffend als organisch gewordene Gattungs-
intelUgenz bezeichnet hat, ist ein bezeichnendes Bild für die das
Menschenleben ordnenden Sitten, ist für's Tier dasselbe, was für
den Menschen die Sitten sind, oder in anderer Wendung,'')
„Sitten sind das homologe Organ zu den Instinkten des Tier-
lebens." Jedoch zeichnet sich der Mensch vom Tiere dadurch
aus, dass während der Instinkt ganz blind waltet und vom Tiere
nicht gewusst wird, der Mensch „um die Sitte weiss," so dass
man Sitten erklären kann**) „als zum Bewusstsein gekommene
Instinkte." Diese zum Bewusstsein gekommenen Instinkte bilden
das Gewissen. Gewissen ist also in seinem Ursprünge wenigstens
') Vgl. Hartmann, a. a. 0., Seite 187 fF.
*) S. Theodor Waitz, Allg. Pädagogik, Braunschweig 1883, Seite 188.
Vgl. auch die Einleitung „über Waitz praktische Philosophie" von Will-
mann, Seite ?9.
*) S. V. Kirohmann, a.a.O., Seite 74: ,Da8 Gewissen ist dasselbe
wie die Achtung vor dem Gebote der Autorität; es ist nur ein anderes
Wort.«
'') Einleitung i. d. Philos., a. a. 0., Seite 439, 440.
*) System d. Ethik, Bd. 1, Seite 313.
") Ebendas.
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— 56 —
nichts anderes als ein Wissen um die Sitte, i) Auf höherer Ent-
wicklungsstufe nimmt' das Gewissen allerdings eine neue Form
an, es wird hier entsprechend der Individualisierung des geistigen
Lebens zu einem individuellen Lebensideal, das sich sogar geg»n
die Sitte erheben kann, ursprünglich aber ist es allenfalls mne
Art menschlicher Instinkte, die sich im Menschen vor und noch
stärker nach Begehung einer unsittlichen Handlung geltend
machen. Kürzer könnte man das Gewissen fassen als „die Re-
aktion^) eines permanent wirkenden socialen oder künstlichen
Instinktes gegen die lieber wältigung. durch einen seiner Natur
nach nicht permanenten, aber im Augenblicke sehr kräftig
wirkenden ursprüngUchen Trieb. "* =0
»
§ 4. Kritik der Gewisse?istheoriefi,
Die absoluten Gewissenstheorien werden durch die Erfahrung
am einfachsten widerlegt. Die Thatsache, dass es enge und
weite, scharfe und stumpfe, freie und unfreie^) Gewissen giebt,
dass Kinder kaum ein Gewissen haben,'») dass ganze Völker-
schaften^) der Vergangenheit und Gegenwart nicht im Besitze
eines Gewissens waren oder sind, diese Thatsache ist die ge-
eignetste Widerlegung aller Gewissenslehren, die das Gewissen
absolut fassen, allen Menschen ohne graduellen Unterschied zu-
erkennen. Auch die Erscheinung des sogenannten irrenden Ge-
wissens'^) ist ein Zeugnis gegen die absolute Gewissenstheorie.
') Einleitung i. d. Philos. Seite 440.
') S. System der Ethik. Bd. 1, Seite 310 335.
^) Schon Rousseau im Emil, 8. Teil, Seite 72, sagt: ,Das Gewissen
ist in der Seele das, was der Instinkt dem Körper ist.** Freilich fasste
Rousseau das Gewissen im Geiste seiner Zeit.
') Vgl. V. Hartmann, a. a. 0., Seite 100, 101.
") S. Rousseau, Emil, 1. Teil, Seite 93.
*■) S. Paul Ree, a. a. 0., §§ 9 u. 10. Lombroso, a. a. 0., 1. Teil, 2. Kap.
„Das Verbrechen und die Prostitution bei Wilden u. ürvölkern."
') Dieses Moment des irrenden Gewissens wird deshalb auch seitens
der absoluten Theorien berücksichtigt und das Vorhandensein eioes
solchen scharf bestritten. Ich will hier als Beispiel einen Ausspruch,
Fichtes, Sittenlehre, Seite 226, anführen, der zwar mit dem Fichte'ßchen
System zusammenhängt, jedoch für alle absolute Gewissenstheorien —
freilich mit den nötigen terminologischen Aenderungen — gültig ist.
„Das Gewissen irrt nie und kann nicht irren, denn es ist das unmittelbare
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Diese Theorie ist also absolut falsch, ilie andern hingegen kommen
der Wahrheit mehr oder weniger nahe, da sie Elemente des
Gewissensgebildes hervorheben, die mehr oder weniger sein
Wesen bezeichnen. Der Fehler dieser verschiedenartigen Theorien
besteht eben darin, dass sie das Gewissensphänomen gerne ver-
einfachen, es aus einefn Elemente bestehen lassen, wogegen
schon die Thatsache spricht, dass man mit einigem Recht
so viele mannigfache Elemente gefunden hat, aus denen sich .
dieses Phänomen bilden kann. Ich glaube daher, dass eine so
kompHzierte Erscheinung, die sich in den verschiedenartigsten
Fomlen ^) zeigt, in alle Lebenssphären eingreift, auf mehrere
Momente zurückzuführen ist. Die Notwendigkeit einer solchen
Fassung des Gewissens ergiebt sich auch leicht, wenn man die
Einseitigkeit der angeführten Theorien betrachtet.
Diejenigen Lehren, die Gewissen mit Furcht vor Strafe
identifizieren, können das Auftauchen desselben Phänomens in
den Fällen, in denen jede Furcht vor Strafe ausgeschlossen ist,
nicht erklären und müssen zum Associationsgesetz Zuflucht
nehmen, um aus der Angewöhnung Strafe und Verbrechen in
Verbindung zu bringen, Strafe aus dem Verbrechen und auf das
Verbrechen schlechthin folgen zu lassen, das Auftreten der Reue,
— wenn man überhaupt die Furcht vor der Strafe mit Reue
bezeichnen will — auch in den Fällen, in denen der Verbrecher
vor jeder Strafe gesichert sei, erklären zu können. Diejenigen,
BewuBstsein unseres reinen ursprünglichen lob, über welches kein Be-
wussteein hinausgeht, das nach keinem andern geprüft und berichtigt
werden kann, das selbst Richter aller Ueberzeugungen ist, aber keinen
Richter über sich anerkennt. Es entscheidet in der letzten Instanz und
ißt inappelabel, lieber dasselbe hinausgehen wollen, heisst über sich selbst
hinausgehen, sich von sich selbst trennen wollen.* Fichte bringt hier die
absolute Theorie zum konsequentesten Ausdruck. Fällt nun diese Kon-
sequenz, zeigt es sich, dass es ein Irren uod Wirren des Gewissens giebt,
und es giebt ein solches bei gewissen Individuen und vielleicht bei allen
Individuen in bestimmten Lagen des Lebens, dann fällt diese Theorie.
*) Man spricht doch auch von einem politischen, künstlerischen
Gewissen u. s. w. Der Begriff Gewissen ist überhaupt so unbestimmt, dass
Richard Rothe, s. Theolog. Ethik, Wittenberg, 2. Bd., 1867, Seite 20-29,
sich des Terminus Gewissen seiner Unbestimmtheit wegen nicht bedienen
will. Jedoch ist das Phänomen, das man Gewissen im eigentlichen engern
Sinne nennt, das sich als Selbstzufriedenheit und Reue äussert, ziemlich
genau begrenzt.
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— 58 —
die Gewissen als spätkommendes Mitleid betrachten, können
ebenfalls ' Reue und Gewissensbisse in den vielen Fällen nicht
erklären, in denen es sich überhaupt nicht um ein Leid handelt,
also von einem Mitleid nicht gesprochen werden kann, in denen
es sich um Laster individueller Natur handelt. Nicht weniger
unzureichend sind die einseitig intellektualistischen Standpunkte,
denn die Form, in der das Gewissen sein Urteil spricht, die
Strenge, die es zeigt, die Macht, die es entfaltet, lassen leicht
den Unterschied zwischen einer matten, kalten, berechnenden
Einsicht und Uebersicht vergangener Verhältnisse und dem-
jenigen Phänomen, das wir Gewissen nennen, erkennen.
Die voluntaristisch-intellektualistischen Theorien hingegen
entsprechen mehr der Wahrheit, weil sie eben ein kompliziertes
Phänomen auf komplizierte Prozesse, auf eine Fülle von Eh*-
menten zurückführen. Was den meisten dieser Theorien abgeht,
das ist die Unter.^cheidung zwischen Gewi^f^en auf niedern
Stufen der KiiltHrentwicklung und Gewissen auf den höhern in
Bezug auf seine Bestandteile und dann auch aufsein Wesen. Was
das Gewissen heute ist, ist es nicht immer gewesen ^ woraus es auf
einem höhern Entwickliingspunkte besteht, hat es nicht imm^r
bestanden. In andern Worten^ die Entwicklungslehre muss auch
auf das Gewissen angewandt werden, was Paulsen und in noch
bestimmterer Form Spencer^) versucht. Auch ich werde die
verschiedenen Stadien der Entwicklung des Gewissens in grossen
Zügen in Verbindung mit den verschiedenen Entwicklungsstadien
der Strafe darzustellen suchen ') und zwar zu zeigen versuchen,
dass das Gewissen eine Einheit fast all der Momente ist, welche
seitens der versc^hiedenen Gewissenstheorien einzeln als das
Grundwesen des Gewissens angesehen werden, eine Einheit, die
nicht immer dieselbe Form hat und nicht auf allen Stufen der
Entwicklung aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt ist.
,<»' 5. Weshalb wird die Zurechnung des Guten in Theorie
und Praxis vernachlässigt ?
Die allgemeine Uebersicht der Straf- und Gevvissenstheorien
zeigt, dass man hauptsächlich sich mit der Zurechnung des
') Thatsaohen der Ethik, a. a. O.
') S. Einleitung, Jn. 10.
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— 59 ^
Bösen befasst und die des Guten im Hintergrunde stehen lässtJ)
Diese Erscheinung macht sich auch in der Praxis bemerkbar,
in der äussern wie in der innern. Wie es kaum Belohnungs-
theorien giebt, macht sich auch die Belohnung des Guten in
Staat und Gesellschaft im Vergleiche zur. Bestrafung des Bösen
kaum geltend. Auch die innere Belohnung, Selbstzufriedenheit,
Selbstbelohnung tritt seltener und in einem geringeren Grade
als die Selbstbestrafung, als die Gewissensbisse auf. In der
Litteratur zeigen sich Spuren dieser Erscheinung, die Polgen
des Bösen werden mehr beleuchtet als die des Guten, die Höllen-
strafen der Sünder werden auch* bei Dante mannigfaltiger aus-
gemalt als das Glück der Seeligen im Paradies; auch in der
griechischen Litteratur 2) und Sage nimmt das, was die Frevler
zu erleiden haben, einen weitaus grössern Raum ein als der
Lohn der Tugend, was doch auf die Vernachlässigung, auf die
Minderschätzung der Zurechnung des Guten hinweist.
Wie erklärt siich diese Thatsache? Mehrere Gründe lassen
sich zur Erklänmg dieser Thatsache anführen; diese Gründe
eridären teils das Zurücktreten der Belohnungsformen im Innern
des Menschen, teils die Zurücksetzung, die die Belohnung in
Staat und Gesellschaft erfährt. Diese Gründe lassen sich wie
folgt kurz fassen:
a) Die grossen Opfer, mit welchen Belohnungen verbunden
sind, erschweren die praktische Durchführung des Belohnungs-
gedankens im Staate. Die gesellschaftliche Belohnung, sofern sie
nicht mit Opfern verbunden ist, macht sich daher auch mehr
bemerklich als die staatliche. ^)
b) Der Umstand, dass die Aufgabe des Staates, nach der
Lassalle'schen Wendung, die eines Nachtwächters ist, und in
erster Linie in der Beseitigung des Bösen aus der Gesellschaft
und nicht in der Belohnung des Guten besteht, erklärt das
Zurücktreten der Zurechnung des Guten.
c) Die Stellungnahme der Gesellschaft zum Thun und
Lassen eines ihrer Mitglieder äussert sich mehr widersprechend
') S. Einleitung, § 8.
^) S. Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen. Berlin, Bd. 1,
1882. Seite 62, m.
*) S. Laaa in der Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philos.,
a. a. 0., Seite 329.
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— 60 —
als zustimmend, weil niedere Triebe, boshafter Neid u. s. w, das
Tadeln befördern und das Loben hemmen. Ich dichte hiermit der
Menschheit keine besonxijBren Schlechtigkeiten an, sondern weise
einfach auf eine bekannte Erfahrungsthatsache hin, die auch
darin ihren Ausdruck findet, dass man von Mitleid, aber nicht
von Mitfreude spricht. Diese Thatsache wird von Hartmann ^)
mid Paulsen ^) betont, ist aber auch bereits von Rousseau^) her-
vorgehoben worden, indem er sagt: „Es ist dem menschlichen
Herzen nicht gegeben, sich an die Stelle derer zu setzen, die-
glü( klicher sind als wir, sondern an die Stelle derer, die mehr
zu beklagen sind als wir.^ •
d) Das Gewissen macht sich deshalb zumeist als Opposition
gegen das Böse geltend und nur selten als den Guten Beifall
spendend, weil dem sittlich entwickelten Menschen das Gute
selbstverständlich und normal ist, so dass es keine besondere An-
erkennung beansprucht. Die Beobachung des Sittengesetzes wird
auch seitens des Staates und der Gesellschaft auf einer hohem
Kulturstufe als Durchschnittszustand angesehen, weshalb nur
ganz besonders hervorragende Verdienste belohnt werden.
e) Die Belohnung guter Thaten als System darf .überhaupt
nicht gelten, weil dadurch eine von niedern Bestinmumgs-
gründen, von der Aussicht auf Belohnung beherrschte Sittlich-
keit entstehen würde. Wer Belohnung wirklich verdient, für
den hat sie als Erzieliungsmittel zur Sittlichkeit keinen Wert
und für wen hingegen sie einen Wert hat, der verdient sie
nicht; denn belohnungswert ist die reine Sittlichkeit, für welche
Belohmmg nicht in Betracht kommt und von Aussicht auf Be-
lohnung geleitete Sittlichkeit ist der Belohnung unwert.*) Aus
allen diesen Gründen erklärt sich das Zurückgesetztwerden der
belohnenden Verantwortlichkeit in der Praxis und darum auch
in der Theorie.
') Hartmann, a. a. 0., Seite 220-226.
-) Syst. d. p:thik, Bd. 2, Seite 110-112.
^') Emil, a. a. 0., 2. Teil, Seite 154, 155.
^) Damit ißt nicht gesagt, dass die Belohnung edler Thaten keine
Berechtigung hat — sie hat ihre relative Berechtigung, es soll nur dar-
getban werden, weshalb sich die Einrichtung der Belohnung in so engen
Grenzen bewegt und bewegen soll.
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— 61 —
§ 6. Der Zitsammenhang von Gewissen und Strafe.
Wie die übersichtliche, allgemeine Darstellung der Straf-
und Gewissenstheorien , die Vernachlässigung der Belohnung
bemerkbar macht, so auch das Auseinanderhalten von Gewissen
und Strafe. Ich glaube doch von dem allgemeinen Usus, Ge-
wissen und Strafe in der Betrachtung und Darstellung zu trennen,
abweichen zu sollen, weil doch die Strafe ihre ethische Sanktion
durchs Gewisse?! erhält,^) weil femer eine Wirkung der Strafe
auf die Gewissensbildung im Menschen von verschiedenen Ge-
wissenstheorien angenommen wird. -) Ich gehe deshalb im
folgenden stets von der Strafe aus, knüpfe an dieselbe die ihr
parallelen Gewissensformen unter gleichzeitiger Berücksichtigung
der gesellschaftlichen Strafe wie der Belohnung überhaupt.
§ 7. Absolute Theorien.
Die absoluten oder Genugthuungstheorien lassen sich nach
rerschiedenen Prinzipien teilen; ich will sie aber als Einheit
fassen, als Gesamtausdruck des Vergeltungsgedankens in den
verschiedensten Phasen seiner Entwicklung und sie in ihre
Bestandteile zerlegen, um zeigen zu können, ob und inwiefern
jeder einzelne Bestandteil und jedes Entwicklungsmoment des
Vergellungsgedankens von dem Ausgangspunkte seiner Ent-
wicklung an bis zum Höhepunkt derselben von der Annahme
der Willensfreiheit abhängig ist. Dem Zwecke dieser Abhandlung
entsprechend, wie auch an sich begründet, ist die Teilung des
Vergeltungsgedankens in drei Momente oder in drei Stadien
seiner Entwicklung: Ursprung. Verstaatlichung und Höhepunkt
der Enttiricklung sind die drei fraglichen Momente.
§ 8. Der Ursprung der Strafe und sein Verhältnis zur
Willensfreiheit.
Der Ursprung der Strafe ist die Rache, d. h. die Reaktion
des Verletzten gegen die Aktion des Verletzers, das brennende
Bedürfnis des Beleidigten und Beschädigten, die Beleidigung
oder Beschädigung an dem Uebelthäter zu vergelten. Die Rache
wird von vielen Denkern als Ursprung der Strafe betrachtet, so
*) S. Einleitung, § 1,
») I. d. K. S. § 3, Theorie b. und d.
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• — 62 ~
ipjagt E. Dühring:!) „Die Privatrache ist für die Altertümer der
Völker überall als ursprüngliche Keimgestalt des Kriminalrechts
anzutreflFen. An die wildere Blutrache schliesst sich das soge-
nannte Kompositionensystem an. Auch in der vollkommensten*)
Gestalt kann das Kriminalrecht nichts anderes sein als die öffent-
liche Organisation der Rache." Pfenninger ^) sagt: „Darin — in
der Rache nämlich — liegt der letzte Gnmd und die letzte
Ursache." Laas*) ist derselben Ansicht: „Strafe ist ethisierte
Rache." In ähnlichem Sinne äussern sich noch viele andere
Denker, so Abegg:^) ,Die Privatrache ist die ursprüngliche,
roheste Gestalt der Gerechtigkeit," so Wilda : „Die Rache ist die
erste und roheste Offenbarung des Rechlsgefühls," ähnlich Köstlin :
„Die unmittelbare Reaktion des Beleidigten gegen den Beleidiger
ist die erste und unmittelbarste Evolution des Strafrechts," auch
Du Bois bezeichnet die Blutrache als primitive und grobe Mani-
festation des Rechts.
Die Setzung der Rache als den Ursprung der Strafe ist
natürlich nicht geeignet, die Bedeutung und die Grösse des
Vergeltungsgedankens zu mindern, wenn sich auch die Haupt-
vertreter der absoluten Straftheorien zum grossen Teil gegen
die Ableitung der Strafe aus der Rache wehren; denn die ab-
straktesten und höchsten Vorstellungen verdanken ihre Entstehung
den niedersten empirischsten Vorstellungen, die sittlich bedeu-
tendsten den niedrig tierischen und die höchsten Höhen der
Sittlichkeit können sich durch einen merkwürdigen, langwierigen
Prozess aus den Niederungen des Trieblebens emporgehoben
haben.^) Wenn nun Paul R^e ^) gegen die Auffassung der Rache
als Ur- und Grundform der Strafe einwendet, dass Rache und
Strafe nur äusserlich dasselbe fordern, innerlich aber sich von
einander scharf unterscheiden lassen, da doch die Rache im
Gegensatze zur Strafe etwas Egoistisches, Persönliches ist, so
trifft er nur die Auffassung, dass Rache bereits rechtliche Strafe
S. Cursus. a a. 0., Seite 219—243.
^) Ebendas., vgl. Seite 220, 225, 226.
«) Pfenninger, Der Begriff der Strafe, Seite 18 ff.
*) Laas, Vierteljahresschrift, a. a. 0., Seite 52.
^) Die folgenden sind bei Paul R6e, a. a. 0., Seite 38.
«) S. Simmel, a. a. 0., Bd. 2, Seite 132.
-') A. a. 0., §§ 13, 14, 15, 16.
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— 63 -
ist, aber er trifft nicht die Ableitung der Strafe aus der Rache.
Der Umstand, den er . aniühi-t, ^) dass im Stadium der Rache
nicht allein ein Schlag einen Gegenschlag, sondern auch der
Gegenschlag, wie er sich ausdrückt, einen Gegen-Gegenschlag
herausfordert, so dass sich der Hass und Zwist von Geschlecht
auf Geschlecht vererbt, dieser Umstand sagt nur, dass die Rache
noch nicht moralische Strafe ist, sagt aber nicht, dass sich aus
ihr keine sittliche Vergeltung bilden kann. Die Vererbung des
Hasses und Zwistes von Geschlecht auf Geschlecht wird übrigens
von Röe^) falsch aufgefasst. Nach ihm hat es den Anschein, als wenn
es sich bei den ewigen Kämpfen zwischen zwei Geschlechtem
noch immer um die Verletzung handelt, die der Ahn des einen
Geschlecktes dem Ahnen des andern zugefügt hat, was doch nicht
den thatsächlichen Verhältnissen entspricht, denn wenn auch
der Streit beider Parteien seine erste Ursache im Konflikte ihrer
Vorfahren hat, so erhält doch die Feindschaft immer neue
Nnhruny durch die immerwährenden Reibereien der Parteien,
durch die Beteiligung einzelner Glieder derselben an Rache-
akten, die sie nur in geringem Masse angehen^ die daher eine
Vergeltung herausfordern, bei der sich wiederum weniger An-
gegriffene hervorthun, was zu neuen Racheakten Anlass giebt
u. s. w. bis ins Unendliche. '^) Die Rache ist also auch nach meiner
Ansicht zwar nicht als Manifestation des Rechts anzusehen,
enthält jedoch einen gewissen Keim des Rechts und ist gewisser-
massen ein Vorstadium der Strafe.*)
Macht sich hier am Ausgangspunkte der Vergeltungsstrafe
die Willensfreiheit irgendwie geltend? Offenbar nicht. Das Raohe-
bedürfnis entsteht bei jeder Unlustempfindung durch andere,
gleichviel, ob die andern frei oder unfrei, mit Absicht oder aus
Zufall die Unlustzufügung bewirken. Die Rache fragt nach dem
') S. a. a. 0., § 15.
*) Ebendas.
■) Wundt in seiner Ethik, a. a. 0., Seite 535, 536, betont ebenfalls den
Unterschied zwischen Strafe und Rache — und zwar dieselben Momente
hervorhebend, die Paul R6e betont, aber er giebt zu, dass sich Rache in
Strafe umwandelte durch das Medium der Züchtigung.
*) Auch die Zwecktheorien sehen zumeist in der Rache den Ur-
sprung der Strafe, können ihn in ihr sehen, denn Ursprung und Zweck
der Strafe sind verschiedene Probleme, was auch Nietzche betont. S. Hugo
Kaaibz, a. a. 0., 1. Teil, Seite 45.
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— 64 ~
Was der Verletzung, aber nicht nach denn Wie, nach der Tfi(ft
des Feindes, aber nicht nach der Absicht desselben.
Die Rache bezieht sich nicht nur auf freie, nicht nur auf ver-
nünftige, nicht nur auf empfindende Wesen, sondern auch auf ge-
bundene, vernunftlose, ja empfindungslose Gegenstände. Xerxes,
der das Wasser peitschen lässt, weil es seine Schiffe vernichtet,
ist der wahre Repräsentant der Rache. Gewiss stillt sich in
diesem Falle der Vergeltungstrieb leicht, weil er einerseits nicht
ganz befriedigt ^Verden kafin und andererseits schnell, ohne
auf Widersprtich zu stossen, befriedigt wird, aber die Rache an
sich unterscheidet nicht zwischen den Willensquahtäten des sie
hervorbringenden Subjektes, steigert sich nicht, wie Laas*)
meint, je mehr das betreffende Subjekt schuldig zu sein scheint.
Freilich die Rache des gesitteten Menschen unterscheidet zwischen
Schuld und Schuldlosigkeit und ringt sich nicht durch gegen
Schuldlose, die aus irgend einem Zufall uns ein Uebel zugefügt
haben, aber diese Rache des gesitteten Menschen ist eine ab-
geschwächte, ethisierte und nicht die eigentliche Rache, von
der die Strafe abgeleitet wird, welche gar keine Unterschiede
in Bezug auf die Willensqualität des Angreifers und dessen
Freiheit oder Unfreiheit macht.
§ 9, Ursprung des Gewissens und sein Verhältnis zum
FVeiheitsproblem .
Die Frage, die sich bei der Betrachtung des ersten Sta-
diums in der Entwicklung des Vergeltungsgedankens aufdrängt,
lautet : Wie hat man sich das Gewissen auf dieser primitiven
Stufe zu denken ? Für die absoluten Gewissenstheorien, die keine
Entwicklung des Gewissens annehmen, gilt natürlich diese Frage
nicht.'-) Für alle andern Auffassungen des Gewissens aber muss
diese Frage beantwortet werden. Die Antwort kann, wie ich
glaube, nur die sein, dass auf einer »o niedrigen Etappe der Ent-
wicklung das Gewissen aus spät kommendem Mitleid des Ver-
brechers und aus Furcht vor der Hache besteht.
Das Mitleid mit dem Verletzten, das sich bei Verbrechern
einstellt, nachdem die Leidenschaft sich ausgetobt hat, ist ein hocli-
') A. a. 0., Seite 161.
') S. I. d. K. §§ .% 4.
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— 65 —
gradiges, denn das Mitleid ist stärker 1. je mehr Konnex zwischen
dem Bemitleidenden und dem Bemitleideten besteht, 2. je lebendiger
der Akt des Leidens, das den Gegenstand der Bemitleidmig bildet,
in seiner ganzen Grellheit dem Bemitleidenden vor Augen steht,
zwei Momente, die beim Verletzer in hohem Masse vorhanden
sind. 1. Die verbrecherische That verbindet den Verbrecher mit
seinem Opfer, erweckt im Verbrecher ein gewisses Interesse für
sein Opfer, ein Interesse, das den Grad seines Mitleids steigert.
2. Das Leid des Bemitleideten schwebt eine Zeit lang in der
grösstmöglichen Deutlichkeit vor den Augen des Verbrechers,
weil er doch nicht nur Zeuge, sondern auch Erzeuger desselben
war. Das Leid, das er zugefügt hat, vergrössert sich noch in
seiner Phantasie, weil er früher im Zustande der höchsten Lei-
denschaft seinem Feinde ein noch viel grösseres Leid gerne zu-
gefügt hätte, als er es thatsächlich vermochte, so dass er nicht
nur das reale Leiden seines Opfers beklagt, sondern auch noch
ein bloss in seiner Phantasie vorhandenes. Nun gesellt sich zu
diesem Mitleid di^ Furcht vor der Rache des Verletzten oder
vor der seiner Verwandtschaft. Aus dieser Mischimg von Furcht
und Mitleid entsteht ein Dräle.% das man Gewissen nennt, das
man auf dieser-* Stuf e der Entwicklung mindestens Gewissen
nennen kann, das sich als ein altruistisches Hinausgehen aus
sich selbst und ein gleichzeitiges Bedachtsein auf das eigene
Wohl als ein Umherschwanken zwischen dem lieben Ich und
dem verletzten Er, als eine Zerrissenheit des Gemüts, als Zwie-
spalt der Natur, als ein mehr oder weniger klares Bewusst-
sein, durch die Verletzung sich in diese Lage versetzt zu haben,
darstellt. Kurz, das Gewissen giebt sich in seinem Ursprünge
als Verurteilung der bösen Handlung aw.s* sich selbst und doch
nicht ganz um des eigenen Seihst willen; denn die Stimme des
Gewissens ist auf diesem ersten Punkte der Entwicklung ein
i?cÄo von dem Weh- und Racheruf des Verletzten; richtiger,
das Gewissen ist ein nicht genau zu bestimmendes Etwas, welches
durch das Echo von dem Weh- und Racheruf des Verletzten
entsteht, Spencer i) scheint in diesem Stadium der Entwicklung
das Gewissen auf die Furcht vor Rache zu beschränken, bloss als
Echo des Racherufes zu betrachten, wozu ich mich aber nicht
*) Spenoer, a. a. O., Kap. 7, § 45.
Nieiiilrower, .Willensfreiheit*. 5
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— 66 —
veranlasst sehe, weil ich mir bereits an diesem Punkte der Ent-
wicklung ein eigenartiges Gewissensphänomen erklären kann.
Freilich ist diese Form des Gewissens noch kaum als Ausdruck
des Sittlichen im Menschen zu betrachten und darum nicht mit der
Form des Gewissens zu identifizieren, die wir gegenwärtig kennen,')
jedoch lässt sich immerhin eine eigenartige Mischung von Furcht
und Mitleid als Ausgangspunkt der Entwicklung des Gewissens,
richtiger der Entwicklung des Menschen zum Gewissen betrachten.
Nun fragt es sich, ob der Urspnmg des Gewissens irgendwie
mit der Willensfreiheit zusammenhängt. Direkt — wird man wohl
sagen können — deutet der Ursprung des Gewissens auf eine
Freiheit des Willens kaum hin; denn das Phänomen, das man
als Urform des Gewissens ansehen darf, setzt bloss einerseits die
Sitte der Vergeltung und den Trieb zur Rache voraus, anderer-
seits ein zugefügtes Leid, ein leidendes Wesen, aber nicht die
Willensfreiheit des Verletzers oder des Verletzten ; indirekt aber,
wird man hinzufügen müssen, spielt schon hier — sozusagen an
der Wiege des Gewissens — die Annahme der Willensfreiheit
eine Rolle, da sich doch höchst wahrscheinlich die Mischung
von Furcht und Mitleid zu einem anders gearteten Gebilde
gestaltet hätte, wenn sich der Mensch auf jenen Stufen der
Entwicklung der Determiniertheit seines Willens und Handelns
bewusst worden wäre, als beim Glauben an die Willensfreiheit,
wo er sich allein das ganze Kritische seiner Lage zuschreiben
rausste. Die inkonsequenten indeterministischen Lehren können
sich demnach den Ursprung des Gewissens leichter und be-
(}uemer erklären, als die deterministischen Theorien.
Ich sage die inkonsequenten, weil der konsequente In-
determinismus, der keinen Zusanmienhang zwischen den Er-
scheinungen kennt, ^) sich weder Gewissen noch Strafe erklären
kann ;. Strafe nicht, weil sie doch eine Reaktion auf eine Aktion
ist und so einen Zusammenhang zwischen den Zuständen eines
Menschen in sich schliesst; das Gewissen nicht, weil nach der
Willkürlehre das Gewissen nur nach rückwärts, nicht aber
nach vorwärts gekehrt ist, weil es sich nur mit vergangenen
Dingen ganz zwecklos befasst, ohne auf die zukünftigen Willens-
') S. Paul R^e, a. a. 0,, Seite 213.
') S. Kap. I, §§ 5 u. 6.
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— 67 ~
handlangen des Menschen irgendwie von Einfluss sein zu können.
Ebenso wie der konsequente Indeterminismus sich mit der an-
geführten Ableitung der Strafe aus der Rache, des Gewissens
aus bestimmten Beziehungen nicht einverstanden erklären kann,
so auch nicht der transcendentale Indeterminismus, der die Sittlich-
keit, ihre Organe, ihre Phänomene absolut übersinnlich fasst.
Die inkonsequenten Preiheitslehren, die ein Herauswachsen der
Willenshandlungen, der innern Erscheinungen, aus vergangenen
Willensthat^n, aus verflossenen Phänomenen zugeben, dabei
aber doch eine Freiheit des Willens anerkennen, diese Theorien
erklären am leichtesten das Entstehen des Gewissens als eine
Rache gegen sich selbst, als Reaktion gegen eine frei bewirkte
Aktion. Jedoch auch der Determinismus vermag sich die Erschei-
nungen zu erklären, indem er zwar die Realität der Willensfreiheit
leugnet, aber doch lehrt, dass und weshalb die Menschheit an
eine Willensfreiheit geglaubt, so dass dieser Glaube eines Ver-
brechers ganz frei das Verbrechen begangen zu haben, der
Mischung von Mitleid und Furcht ein gewisses Etwas hinzufügte,
wodurch das Gebilde entstand, das man Gewissen nennen kann.
ji{» 10, Die aus der Natur der Blutrache resultierende Verstaat-
lichung der Vergeltung und ihre ethische Bedeutung,
Als zweites Stadium in der Entwicklung des Vergeltungs-
gedankens gilt die Verstaatlichung der Rache, der Uebergang
der Privatvergeltung auf eine Gesamtheit, auf ein Organ der
Einheit, welcher der Einzelne angehört. Dieser Uebergang erfolgt
mit Naturnotwendigkeit, da sich die Rache immer mehr organi-
siert, eine immer höhere Organisationsform annimmt. Der in
seiner Person oder in der seiner nächsten Verwandten Verletzte
ist nämlich oft nicht im stände ohne Beihiilfe Anderer sein
Rachebedürfnis zu befriedigen, sieht sich daher veranlasst, Bünd-
nisse mit Stammesgenossen u. s. w. zu schliessen, zum Zwecke
gemeinsamer Rachezüge, was den bedrohten Verletzer ebenfalls
zwingt, in Verbindung mit Andern zürn Zwecke der Verteidigung
oder des nötigen Angriffes zu treten. Der Kampf Mehrerer gegen
Mehrere macht nun eine Organisation notwendig, die Organisierung
aller Kräfte und die Einsetzung einer Behörde ^ die die gemeinsamen
Rachezüge leitet und die innern Streitigkeiten schlichtet. Diese
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— 68 -
Behörde oder richtiger der Rottenhäuptling bildet den Anfang
einer staatlich organisierten Vergeltungsbehörde.
Diese Verstaatlichung bedeutet einen gewaltigen Fortschritt
im Entwicklungsprozess der Vergeltung, auch wetui der Staat
keinen Schuldbegriff gebildet hätte. Dies muss denjenigen gegen-
über betont werden, die die Wiedereinführung der Privat Vergeltung
als eine Konsequenz des Determinismus, der den Schuldbegriff fallen
lassen muss, ansehen, da es doch richtiger sei, dass der Verletzte
selbst — und nicht Leute, die zur bösen Handlung, die vergolten
Nvird, gar keine Beziehung haben — den Racheakt, die Ver-
geltung vollzieht. Abgesehen davon, dass der Determinismus zur
Aufhebung des Schuldbegriffes nicht gezwungen ist, wovon noch
weiter unten, ist diese Behauptung falsch, denn auch wenn der
Staat gleich dem rachebedürftigen Individuum bloss nach der
Thatsächlichkeit der Verletzung und nicht nach der Schuldhaf-
tigkeit des Verletzers fragen sollte, ist die Vergeltung durch
den Staat sittlicher als die durch die interessierte Person: 1. in
Ansehung des Verletzers, 2. in Ansehung des Verletzten, 3. hi
Ansehung der Zeugen des Vergeltungsaktes.
1. In Ansehung des Verletzers ist sie sittlicher, weil sie
entschieden humaner ist, denn der Verletzte selbst übt die Ver-
geltung sicherlich viel grausamer aus als der ihn vertretende
Staat. 2. In Ansehung des Verletzten ist sie sittlich höher zu
stellen, weil dadurch, dass er nicht selbst die Vergeltung voll-
zieht, jene Gemütsverwilderung ihm erspart bleibt, die jede
grausame That, mag sie sogar sittlich geboten sein, zur Folge
hat. 3. In Hinsicht der Zeugen der Strafe ist die Handhabung
derselben durch den Staat ethischer als die durch das angegriffene
Individuum, weil sie weniger verrohend auf die Volksseele, auf
das Gemüt derer, die der Vergeltung beiwohnen, wirkt. ^)
*) Auf dieses Moment der Volksverrohung un<l Verwilderung dur(?]i
die Strafe, nehmen auch philosophische Juristen wenig Rücksicht. So
z B. Gretener, Die positive Schule des Strafrechts, a. a. O., Seite 177, in
seiner Polemik gegen Ferri. Ferri nämlich macht g^f^a^i^ die Anwendung
d<M- künstlichen Selektion auf socialem Gebiete das Bedenken geltend,
dass alsdann in Italien allein jährlich 2000 allgemein schädliche, unheilbar
krankhafte Individuen vernichtet werden müssten. Gretener hält diesem
Betienken für unzureichend um der Konsequenz des sogenannten .socialen
Darwinismus* auszuweichen. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt,
welche Abstumpfung den Volksgemütes eine jährliche Massen Vernichtung
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- 69 -
Auch historisch zeigt sich die sittliche Bedeutung des
Ueberganges der Vergeltung vom Einzelnen auf die Gesamtheit,
indem an diesem Punkte der Entwicklung die Beilegung der
Rache durch Geld, wie das Absterben der Rache überhaupt
begann. ^)
§ 11, Die Anfänge der socialen Verantwortlichkeit ^ wie der
Zurechnung des Gwten und ihre Unabhängigkeit vom Begriffe
der Willensfreiheit.
An diesem Punkte der Entwicklung, an welchem sich die
Rache immer mehr organisiert, indem sich Staaten und Völker
immer mehr bilden, taucht die sociale Verantwortlichkeit auf.
Jedes Glied eines Kreises, das von seinen Genossen abhängig
ist, unterliegt dem Beifall oder Tadel desselben. Alle Glieder
«ines Kreises oder einer Rotte beachten und beurteilen die
Handlungen, die Lebensweise ihrer Genossen, weil ^ie Interesse
daran haben, weil sie selbst an den Racheakten eines jeden
ihrer Genossen teilnehmen und durch die Rachezüge gegen einen
ihrer Genossen leiden müssen. An diesem Punkte, wo der Eme
für den Andern streitet, der Eine dem Andern Dienste erweist,
macht sich auch die Vergeltung in belohnendem Sinne bemerkbar.
Die Belohnung wurzelt hier in der stillschweigenden Verpflich-
tung der einzelnen Glieder eines Bundes zu gegenseitiger Dienst-
leistung und zur Auszeichnung hervorragenden Dienstes. Diese
Urformen der socialen Belohnung und Strafe, wie der Belohnimg
überhaupt, sind von der Annahme der Willensfreiheit selbstver-
ständlich unabhängig.
Jlf 12. Das Gewisse!} als Parallele zur staatlich organisierten
Vergeltung,
Das Gewissen, das aus den Beziehungen des Verbrechens
hervorwächst^ ändert sich, so sich die Beziehungen ändern. Ist
herbeiführen würde, welchen grossen psychischen Scheiden sie anrichten
dürfte, einen Schaden, der ihren Nutzen überwiegen könnte, dann muss
man, selbst wenn man den socialen Darwinismus für berechtigt hält, das
Ferrisohe Bedenken gegen eine praktische Durchführung desselben teilen.
Zweifelhaft ist es freilich, ob Ferri mit seinem Bedenken den Gedanken
verknüpft^ den ich ihm unterlegte.
') S. Paul R6e, a. a. 0., § 16.
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auf einer höhern Stufe der Entwicklung die Vergeltung nicht
mehr in Händen eines schwachen Einzelnen, sondern in den
eines mächtigen Qesamtwillens, so ist die Furcht vor der Ver-
geltung vül mächt^er; ist die Vergeltung nicht mehr in Hähden
des Feindes, sondern in denen einer geachteten Obrigkeit, so
verstärkt sich naturgemäss das Mitleid des Verbrechers mit seinem
Opfer, welches persönlich ihm nicht mehr in den Weg tritt,.
so gewinnt das aus Mitleid und Furcht zusammengesetzte Ge-
wissen eine andere Gestalt. Die krasse Furcht vor der Vergeltung
verfeinert sich mittlerweile zu einer Ehrfurcht vor der vergel-
tenden Obrigkeit; die gefiirchtete Macht steht als eine Autorität
da. Jede Autorität, auch wenn sie nicht unermesslich und mi-
endlich ist, vermag sich zu dem zu bilden, das zu erzeugen,
was auf einer niedrigem Stufe Gewissen ist. Hartmann i) hat
Recht, wenn er mit Haller gegen v. Kirchmann -) vom heteronom-
autoritativen Standpunkt aus jeden Orad von Ueber legen heit
als ausreichend zur Begründung eines moralischen Einflusses
erachtet. Der Rottenhauptmann, der Herrscher jeder Art ist auf
einer niedern Stufe der Entwicklung der Erzeuger des Gewissens,
der Massstab aller Dinge; jedoch nicht der Häuptling allein,
nicht der Staat allein, sondern auch die Gesellschaft, die Ka-^
meradschaft des Einzelnen bildet die Autorität, auf die er immer
Rücksicht nimmt. Darin hegt ein sehr wesentliches Moment der
Sittlichkeit ; denn was die Gesellschaft, was eine Vielheit mensch-
lieber Wesen gut oder übel heisst, worin sich mehrere Menschen,
ihre Besonderheiten abstreifend, einen, das entspricht in den
meisten Fällen"^) der Natur des Menschen, ist sittlich.*)
') A. a. 0., Seite 58.
•) Indessen hat Kirohmann mit seiner Behauptung, dass die Mo-
ralität erzeugende Autorität unendlioh und unermesslich sei, indofera
lleoht, als der vollentwickelte Mensch von einer so grossen Anzahl von
Autoritäten beherrscht wird, so verschiedenartigen Einflüssen zugänglic)i
ist, dass sie ihm unendlich und unermesslich erscheinen müssen.
■) Freilich giebt es Zeiten, Gesellschaften, in denen die Menschheit
so verkommt, dass für einzelne sittliche Charaktere nichts übrig bleibt,,
als gerade das Gegenteil von dem zu machen, was die Majorität für gut hält.
Diese Zeiten stellen aber bloss die Ausnahmen der allgemeinen Regel dar.
*) So hat bekanntlich Smith das Prinzip der öffentlichen Meinung
in der Moral mit einem gewissen Recht aufgestellt. ,Gut ist, was den
Beifall der Gesellschaft findet, Böse, was den Tadel derselben erregt.**
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— 71 —
Staat und Gesellschaft sind also die Erzeuger des Gewissens,
ihre Gesetze bilden den' Codex, nach welchem das Gewissen
entscheidet. Diese autoritative Macht des Staates und der Gesell-
schaft, der Obrigkeit und der Kameradschaft dehnt sich immer
mehr aus und verinnerlicht sich im Laufe der Entwicklung.
Die Autoritäten, die auch einen religiösen Charakter^) haben
können — denn dem Wilden ist sein Häuptling ein Fetisch, ein
Gott -^ bemächtigen sich des Menschen, so dass sie gleichsam
zum zweiten^ höhern^ herrschenden Ich desselben werden, so\
dass sie ihre Residenz im Menschen selbst aufschlagen. Gewissen!
ist also kurz gefasst die Stimme des Volkes und seiner MachtA
hoher in jedem Gliede dieses Volkes und zwar kommt die'
Stimme anfangs von aussen, auf höhern Stufen der Entwicklung
scheint sie von innen zu kommen. Diese Form des Gewissens
ist nun allenfalls noch nicht das, was in der Jetztzeit als Ge-
wissen gilt; denn dieses Gewissen ist zwar nicht mehr bloss
Mitleid und Furcht, sondern enthält auch etwas Idealeres, Ethi-
scheres, ist aber immerhin noch zum Teil heteronomischj was
nicht verwundern kann, da doch die Begriffe: Sollen, Gebot,
Pflicht, Gesetz, Strafe, sich ursprünglich auf ein äusserliches
heteronomisches Verhältnis beziehen und erst beim voll ent-
wickelten Menschenwesen eine innerliche autonomische Bedeu-
tung erlangen. 2) Jedoch lassen sich schon in diesem Stadium der
Entwicklung die Anfänge der Pflicht- und Schuldbegriffe denken.
§ 13. Die wahrscheinlichen Anfänge der Pflicht- und Schuld-
begriffe und ihre Unabhängigkeit von der Annahme der
Willensfreiheit.
Pflicht deutet auf ein Gebundensein hin, -^j deutet das
Vorhandensein eines Verpflichtenden an, dem man Rück-
') Vgl. Spencer, a. a. 0., Seite 127, 128.
*) S. Gizyckij a.a.O.. Seite 141. Die grössten Denker habeo auch
mindestens teilweise die Sittlichkeit mit himmlischen Mächten in Bezie-
hung gebracht, also auf äussere Autoritäten begründet. Auch abgesehen
von Warburton. S. Jodl, a. a. 0., Bd. 1, Seite 202-204, von Paley. S. eben-
daselbst, Seite 205, 206, führen Cumberland, Clarke die Sittlichkeit teil-
weise auf Gott zurück. S. ebendas. über den erstem. Seite 143, über den
letztem, Seite 155 168.
') Warburton fasste den PfliohtbegrifT auf folgende Weise: „Jede
Verpflichtung setzt einen Verpflichtenden, einen Oesetzgeber, also Gott
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— 72 —
sichten ' schuldet. Dieser Verpflichtende ist nun in den ersten
Stadien der menschUchen Entwicklung der Rottenhäuptling, die
Rotte und die Götter, denen man Dienste schuldet^ gleichsam
im geschäftlichen Sinne des Wortes, als Dank für ihre Leistungen
schuldet. Wer nun diese Pflicht nicht erfüllt, der trägt die Schuld.
Lässt man auch das Wortspiel, ^) das Hinübertragen des geschäft-
lichen Schuldbegriffes auf den moralisch rechtlichen, so lässt sich
noch immer sagen, dass der Schuldbegriff', anfänglich mit Frei-
heit oder Unfreiheit des Willens, mit der Unterscheidung zwischen
durch zureichende Gründe notwendig gewordenen Handlungen
und freien nichts zu schafften hat, sondern einfach ein Abhängig-
keitsverhältnis des Einzelnen von seiner Gesamtheit, des Be-
herrschten von seinem Herrscher, des Geschöpfes von seinem
Schöpfer, ausdrückt.
Pflicht' und Schuldbegriff, d. h, die Rücksichtnahme auf
die anerkannten Autoritäten'^) var dem Handeln und die
Rechtfertigung vor denselben nach dem Handeln^ sind nicht
als Konsequenzen des Preiheitsgedankens entstanden, sondern
entwickelten sich anfänglich ganz unabhängig von demselben. '^)
ß 14, Die Idealität und Axiomität des Vergeltungsgedankens
auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung,
Das dritte Stadium in der Entwicklung der Vergeltungs-
strafe charakterisiert sich durch die Idealität und Axiomität der
Strafe einerseits und durch die Konstruierung eines bestimmten
Schuldbegrifi^es andererseits. Erst auf diesem Punkte der Ent-
voraus*. S. Jodl. a. a. 0., Bd. 1, Seite 202 204. Paley giebt folgende De-
finition vom Pflichtbegriff: „Verpflichtet sein, heisst nichts, anderes, als
von einem starken, auf dem Befehle eines andern beruhenden Motiv ge-
trieben werden*. S. .Jodl, a. a. 0., Bd. 1, Seite 205.
') Dieses Wortspiel leitet Nietzsche bei seiner Fassung des Schuld-
begriffep. Vgl. Hugo Kaatz, a. a. 0., Seite 38—44. Solche Wortspiele
können, zur Klärung eines Gedankenganges beitragen, dürfen jedoch nicht
mit den Bestandteilen desselben verwechselt werden. Mein hochverehrter
Lehrer, Moritz Lazarus, meint von ähnlichen HüUsmitteln der Unter-
suchung, dass sie gleich dem Gerüst eines Baues, sobald der Gedankenbau
vollendet ist, niedergerissen werden müssen und nicht mit dem Bau
selbst verwechselt werden dürfen.
') Vgl. Paulsen, System der Ethik, 1. Bwch, Seite 314, 315, 381.
*) Vgl. Spencer, a. a. O., Kap. 4, § 19, über Hobbes.
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B^-"7<
- 73 —
Wicklung lassen sich Strafe und Rache von einander scharf
scheiden. Die Rache bezieht sich auf den Verletzer, die strafende
Vergeltung hingegen auf die Verletzung, aufs Verbrechen, aufs
böse Prinzip im Verbreche)-. Von der Person wird ganz abstrahiert
oder die Strafe wird im Auftrage und als Rechtsanspruch des
Verletzers selbst vollzogen, der auch eine Beziehung zur Rechts-
idee und ein Interesse hat an der Wiederaufhebung des Uebels-
und Ausgleichung der Negation, die seine verletzende Handlung
hervorgebracht. Dieser Standpunkt wird hauptsächlich vonHegel^)
vertreten und von Julius Stahl 2) vertieft, indem letzterer die
Beziehung zwischen Verbrechen und Strafe nicht wie HegeP)
in Verletzung und Wiederverletzung sieht, sondern in der Ueber-
•) Hegel drückt sich in seiner Weise folgender raassen aus: „Die
Verletzung, die deb Verbrecher widei-fiihrt, ist nicht nur an sich gerecht,
als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner
Freiheit, sein Recht, sondern sie ist auch ein Recht an dem Verbrecher
selbst, das ist in seinem Dasein den* Willen in seine Handlung gesetzt,
<]enn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, da sie etwas all-
gemeines, das durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich
anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsummiert
werden darf". Grundlinien, a. a. 0., § 100. Vgl. § 99. Aus dieser dunklen
Fassung erhellt so viel, dass Hegel die Strafe ganz abstrakt, rein logisch
und höchst idealistisch fasst. Diese Straftheorie — mag man sie auch
nicht anerkennen — kann nur von einer oberflächlichen und flachen
Kritik als ganz absurd gefunden werden, denn sie bildet den Gipfelpunkt
in der Entwicklung des Vergeltungsgedankäns, ist nicht nur eine gross-
4irtige Abstraktionsleistung des Mensohengeistes, sondern auch geradezu
eine Ehre fürs Menschengeschlecht in sittlicher Beziehung, da sie als
charakteristisches Zeichen für den Höhepunkt der sittlichen Entwicklung
•des Menschen insofern dienen kann, als sie zeigt, dass die ursprüngliche
Rache völlig idealisiert und ethisiert wurde. Vgl. Eine kritische Dar-
stellung der Straf theorien bei Cless. „Die Aufgabe des Staates gegenüber
dem Verbrechertum nach den Grundsätzen des Materialismus.* Zürich
1875. Seite 60 bis zum Schluss, wo über Hegel mehr schimpfend als
]uitisierend der Stab gebrochen wird. S. Zellers Geschichte d. deutschen
Philosophie, a. a., Seite 656, wo Hegels Straftheorie als die gründlichste
und geistvollste Wiedervergeltungslehre bezeichnet wird.
*) Rechts- und Staatslehre, a. a. 0., 1. Abt., 1. Buch. § 54, Seite
167, 168.
^) Die Thatsache, dass Hegel durch Wiederverletzung die Verletzung
aufgehoben denkt, zeigt, wie mir scheint, dass auch beim grössten Rechts-
idealisten die Vergeltung trotz aller Entwicklung teilweise ihren uraprüng-
Hellen Charakter als Rache behält.
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— 74 ~
hebung des Willens, die durch die böse That zum Ausdrucke
gelangt, und der Niederdrückung des Willens, die die Strafe
bewirken soll.*)
Stahl giebt den Unterschied zwischen Strafe und Rache in
folgenden Worten an:-) „Die Rache hat ihren Grund in der
Verletzung einer Persönlichkeit, in ihrer subjektiven Befriedigung^
die Strafe aber in der Verletzung eines höhern sittlichen Willens
als solchen oder einer sittlichen Ordnung, und die Rache sucht
das Leiden des Verletzten um des Leidens willen, dagegen Gott
oder Staat strafen den Verletzer nicht, damit er leide, sondern
lassen ihn leiden, damit er gestraft sei.**
Man sieht nun, zu welchem Idealismus die Wiedervergeltung
sich emporgeschwungen hat, man bemerkt es viel deutlicher an
den idealistischen Ausläufer der Vergeltungslehre, an der Hegelisch-
Stahlischen Straftheorie, welche — während die gewöhnlichen
Vergeltungstheorien der Person Genugthuung verschaffen wollen,
von derselben bei ihrer Betrachtung ausgehen und sie erst im
Laufe der Darstellung des Strafbegriffes gleichsam aus dem Auge
verlieren — von vorneherein von der verletzten Person entweder
ganz oder von ihr als verletzende Person absieht. Ein solcher
Idealismus ist nur möglich, weil die Strafe 1. rein logisch gefasst
wird, 2. eine axiomatische Sicherheit erlangt hat und 3. im Be-
sitze der höchsten Sanktion ist.
1. Die Strafe wird rein logisch gefasst; während die Rache
eine Person B gegen eine Person A reagieren lässt, lässt die
Strafe eine Handlung B aus einer und auf eine Handlung A
folgen. Der „praktische Syllogismus** ein Terminus, dessen sich
die scholastische Rechtsphilosophie bedient, ist ein bezeichnender
Ausdruck — allerdings nur ein Ausdruck — für die Vergeltungs-
strafe, die vollständig abstrakt gefasst wird.
2. Die Strafe ist axiomatisch 1. da ihre Berechtigung nicht
mehr angezweifelt wird, und 2. da man sie rigoristisch handhabt.
Als Beweis dafür, dass die Berechtigung der Strafe gar nicht an-
') Diese Fassung der Theorie hebt das grösste Bedenken gegen
dieselhe auf, das nämlich, dass die böse Handlung durch den Akt der
Strafe nicht vernichtet wird. Die Ueberhehung des Willens aber wird
vorniehtet, die verletzte Herrlichkeit des Gesetzes wird wieder hergestellt
durch die Demütigung und NiederdrUckung des übermütigen Willens.
-j A. a. O., Seite 167, 168.
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— 75 —
gezweifelt wird, mag die Thatsache dienen, dass sich die absoluten
Straflehrer in einem Kreise bewegen, so sie das Verhältnis der
Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit behandeln. Heinze, ein
Vertreter des Preiheitsprinzips sagt selbst^) in Bezug auf die
Verfechter der Freiheit des menschlichen Willens im Interesse
der Vergeltungslehren: „Man glaube gerecht zn strafen, weil
man den freien Willen voraussetze und gehe von der Annahme
eines freien Willens aus, weil sonst weder von der Strafe im ab-
soluten Sinne, noch von der Gerechtigkeit der Strafe die Rede sein
könnte." Mir beweist dieses Nicht hinauskönnen aus der absoluten
Passung der Strafe, wie wenig eigentUch die Berechtigung zur
Strafe angezweifelt und wie axiomatisch die Strafe gefasst wird.
Als Beispiel für die rigoristische, unbedingte Durchführung
des Vergeltungsgedankens mag die Satisfaktionslehre Anselm
V. Canterburys dienen. Nach dieser Lehre nämlich konnte der
Mensch seiner Erbsünde wegen, der verletzten unendlichen
Majestät Gottes keine unendliche Genugthuung darbieten, wes-
halb die unendliche Liebe Gottes, Gott selber Mensch werden
und sich für die Sünde des Menschen als ein hinreichendes
Opfer darbringen Hess. Diese theologische Lehre zeigt, welche
Unbedingtheit dem Vergeltungsgedanken innewohnt, denn Gott
hätte doch — anthropomorphistisch gesprochen — das Mensch-
werden lassen können, wenn er auf die Genugthuung, auf die
Vergeltung in Gnade verzichtet hätte. Die Notwendigkeit der
Vergeltung scheint aber dem Anselm so absolut, dass er über
dieses Bedenken leicht hinweggleiten kann.
3. Die Strafe erhält ihre höchste Sanktion durch das Ge-
wissen, so dass ihr Ursprung völlig verwischt wird. ^) Die Axio-
mität der Strafe, ihr dogmatischer Charakter wird verständlich,
wenn man bedenkt, dass sie zu den ältesten und häufigsten
Induktionen des Menschen gehört, des einzelnen, wie des Menschen-
geschlechtes. Der einzelne begegnet ihr schon früher und sehr
oftj in seinem Innern und in der Aussen weit; an sich erfährt
er oft die Wirkung böser Handlungen, die sich gleichsam als
') Heiiize zitiert bei Kduard Herz, Das Unrecht und die allgeineineu
Lehren des Strafrech' a. 1. Bd., Humburg, 1880, Seite 120. So sagt auch
Pfeiminger, Seite 24. a. a. 0., „Die Frage nach dem Recht der Strafe ist
nichts weiter als eine vom Wirkliehen abgelöste Vorstellung."
»} S. Einleitung, 5§ 1.
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— Tß —
Vergeltung darstellen, *) erfährt auch die Vergeltung in Fot^i
von Gewissensbissen; in der Aussen weit sieht er die Strafe als
Mittel der Erziehung, als einfachen Racheakt, al& staatliche
Funktion, als sociale Verachtung u. s. w. Die Menschheit kennt
sie seit der Urzeit Tagen in den mannigfachsten Formen. Dieser
Urnstand nun, dass sie so oft angewandt wird und dass sie
so ehrwürdigen Alters ist, was sie heilig spricht, prägt ihr den
kategorischen Charakter auf. Das Argumentum e consensu gentium,
das für die bewusste Urteilsbildung keinen hohen Wert hat,
macht sich in der unbewussten Urteilsbildung s^r geltend,
indem sich das von vielen Zeiten und Geschlechtern Geübte,'
das durch die Jahrtausende und durch die Majorität der Mensch-
heit Sanktionierte in der Form des Sollens als kategorischer
Imperativ, als moralisch-rechtliches Axiom giebt. Freilich fasse
ich hier Axiom nach John Stuart MilP) als eine der ersten,
häufigsten und sichersten Erfahrungen des Menschengeschlechtes,
die immerhin noch irgendwie gestürzt werden können.
§ 15. Der Schuldbegriff,
Die höchste Stufe in der Entwicklung des Vergeltungs-
gedankens, die ich charakterisiere, zeichnet sich auch dadurch
aus, dass in ihr der Schuldbegriff und andere ihm verwandten
Begriffe eine hervorragende Bedeutung haben und ganz bestimmt
geartet sind. Gewöhnlich wird der Schuldbegriff mit der Frei-
heitslehre in Verbindung gebracht. Schuldig ist derjenige, der
frei eine böse Handlung begangen, \mschuldig der, der sie unfrei
vollbracht hat. Ich glaube doch, dass man sich die Begriffe
der Verantwortlichkeit, der Schuld, der Zurechnung, in ihren
Anfängen mindestens, ganz unabhängig vom Freiheitsbegriff zu
denken hat und zwar auf folgende Weise. Schon vor der Ver-
staatlichung der Rache auf einer hohem Kulturstufe sah sich
der Verletzte selbst veranlasst zur Unterscheidung von empfin-
denden und empfindungslosen, fühlenden und gefühllosen, ver-
nünftigen und vernunftlosen, persönlichen oder unpersönlichen
Verletzem, d. h. zu unterscheiden zwischen solchen, die sich
verantworten könne?i und solchen, die über sich alles ohne jede
*) Pfenninger, a. a. 0., S. 30. „Ja, bis in die physiologischen Vorgänge
des Körpers reift diese Auffassuogsweise", die der Vergeltung nämhoh.
') Vgl. SyBt^m der Logik, a. a. 0., Buch 2, Kap. 3.
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— 77 —
Abwehr ergehen lassen.^) Diese Unterscheidung nahm er wohl an
Hand der Thatsache vor, dass die Verletzer, gegen die sich seine
Rache richtete, in Bezug auf die Gegenwehr sich von einander
graduell verschieden zeigten. Diese Trennung nun vertieft der
Staat und dehnt sie auch in Bezug auf die Qualität des Verletzers
während der Vollziehung der zu bestrafenden bösen Handlung
aus. Während der Einzelne gewisse Wesen, Subjekte oder Objekte
von seiner Rache ausschloss, wenn sie dieselbe nicht fühlen oder
nicht 80 fühlen konnten, wie er es haben mochte, nämlich als
Reaktion auf ihre Aktion, schliesst der Staat — einen Schritt
weiter gehend — auch diejenigen von der Strafe aus, die bei
der Vollziehung der verbrecherischen That nicht als Menschen,
sondern mehr als Untermenschen, d. h. ohne Bewusstsein wirken.
Mit andern Worten, während der Einzelne mehr oder weniger
eine Unterscheidung in Rücksicht auf die Ausübung der Rache,
i7i Rücksicht auf den Zweck der Vergeltung machte, machte
der Staat diesen Unterschied in Rücksicht auf den Anlass zur
Riiche, auf den Grund derselben. Bei einzelnen handelte es sich
um die Verantwortlichkeitsfähigkeit im Momente der Straf-
vollziehung, d. h. um die Fähigkeit gestraft zu werden, bei dem
Staate handelt es sich um die Verantwortlichkeitsfähigkeit im
Mometäe des strafbaren Handelns, d. h. um die Fähigkeit als
Mensch, als Vemunftwesen die strafbare Handlung zu- vollziehen.
Der Punkt, an dem der staatliche Schuld- und Verantwort-
lichkeitsbegriff mit dem privaten zusammentrifft, an dem der
erstere vom letzteren emporkeimt, ist die Unterscheidung zwischen
denen, die die Vergeltung als Vergeltung, als Konsequenz ihrer
Handlung ansehen können und denen, die es nicht vermögen.
Der Einzelne, der sich rächen will, hat naturgemäss die Person,
an der er sich rächen möchte, und den Racheakt im Auge und
macht deshalb seine Unterscheidungen in Bezug auf die Zurech-
nungsfähigkeit zur Vergeltung, der Staat hingegen, der die
Vergeltung abstrakt und logisch fasst, der an der Unlustzufügung
an sich gar kein Interesse hat, wendet sich dem (Irunde der
Strafe zu und macht seine Unterscheidungen in Bezug auf
den Moment, in welchem die Schuld entsteht, d. h. die dem
Staate und der Gesellschaft angenehme Handlungsweise verletzt
') Vgl. i. d. K. § 8 in Bezug auf die Rache des Xerxes.
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— 78 —
wird. Der Staat überlässt es selbstverständlich nicht dem
Verbrecher zu bestimmen, ob er als Mensch oder als Unter-
mensch verbrochen hat, sondern stellt allgemeine Grundsätze,
allgemeine Regeln nach dieser Richtung hin auf. In solcher
Fassung sind Verantwortlichkeits- und Schuldbegriffe vom Prei-
heitsproblem unabhängig; indessen muss zugegeben werden,
dass im Laufe der Entwicklung der nun einmal vorhandene
Glaube^) an die Freiheit des menschlichen Willens auf die
weitere Ausbildung und praktische Verwertung des Schuld-
und Zurechnungsbegriffes von grossem Einflüsse war.
§ 16. Der aMtonomische und axiomatische Charakter des
Gewissens auf dem Höhepunkt der Entwicklung.
Wie die Strafe sich im Laufe der Entwicklung idealisiert
und axiomatisiert hat, so auch das ihr parallele Phänomen im
Innern. Die Idealisierung des Gewissens bildete sich durch seine
Autonomisierung. Das Gewissen, das die Sprache des Staats und
der Gesellschaft spricht, sozusagen die Interessen derselben im
Individuum vertritt, spricht nicht mehr sein Urteil im Namen
seiner Herrscher, im Namen des Staates und der Gesellschaft aus
und kann es auch nicht im Namen derselben aussprechen, da
die staatlichen und gesellschaftlichen autoritativen Einflüsse so
mannigfaltig sind, dass das' Individuum ihren Namen, sie über-
haupt kaum kennt. Das Gewissen ist zu einer innern Macht ge-
worden. Am Entstehungspunkte war es rein egoistisch, dann
zum Teil auch heteronomisch und an seinem Höhepunkt ist es
subjektiv autonomisch. Wie in Bezug auf die mythologisch-
dramatische Fassung des Gewissens im Hellenismus ^) sich zuerst
eine Objektivierung und Verkörperung und dann eine Entkörpe-
rung und Subjektivierung desselben geltend machte, so auch
bezüglich der Entwicklung des Gewissens überhaupt. Zuerst ist
*) Vgl. i. d. K., § 11. 13. Es darf nicht ausser Aoht gelassen werden,
dass der SchuldbegriflF einen weitern populären und einen engern rein
juristischen Sinn hat. Im allgemeinen bedeutet derselbe nichts mehr
als ein Bewusstsein, dem Staate Rede stehen zu müssen, weshalb die
positive Schule des Strafrechts, die jede Schuld in streng juristischem
Sinne leugnet, noch immer von Schuld und Schuldigen spricht.
*) S. Kap. 1, § 17 - 23.
*) S. Gass, Die Lehre vom Gewissen, Berlin 1869, Seite 10.
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— 79 —
sich der Mensch der äussern Mächte, die er fürchtet und berück-
sichtigt, bewusst, nachher entkörpem und verinnerUchen sich
dieselben in seinem Bewusstsein. Das Gewissen wirkt allerdings
noch immer im Dienste des Staates und der Gesellschaft,^) aber
der Mensch ist sich dessen nicht mehr bewusst. Diese Autonomie
des Gewissens begründet seine Axiomität.
§17, Die Beziehungen zwischen injierer und äusserer
Verantwortlichkeit.
Nach der Darlegung der Straf- unä Gewissensentwicklung
kann die Frage beantwortet werden, in welcher Beziehung innere
und äussere Strafe zu einander stehen. In Bezug auf den Ent-
wicklungsgang des Gewissens ist die Institution der Strafe von
grosser Bedeutung, da doch das Gewissen in seinen Uranfängen
eine Furcht vor Strafe, auf höhern Stufen der Entwicklung eine
Rücksichtnahme auf äussere strafende Autorität ist und auch
auf den höchsten Stufen nur deshalb eine axioraatische Form
erlangt, weil das Phänomen der Vergeltung in Staat und Ge-
sellschaft so häuiSg wiederkehrt.
In Bezug auf das Fortbestehenkönnen des Gewissens aber,
nachdem es bereits entstanden ist, lässt sich eine Unabhängig-
keit von der äussern Vergeltung annehmen. Wenn es z. B. eines
schönen Tages aus Rücksicht ^uf Lombroso und Nietzsche 2) keine
staatliche Strafe mehr gäbe, so würde das Gewissensphähomen
vielleicht mit weniger Energie, so doch allenfalls auftreten.
Aehnliches lässt sich auch in Bezug auf den Einfluss des Ge-
^; Das Medium der Uebertragung staatlich-gesellschaftlicher Welt-
urteile auf das Individuum findet Paul R^e, a. a. O., § 27, in der Wert-
»ohätzung der Dinge und Zustände durch die Sprache, in der Verknüpfung
gefühlsmässiger Bewertung der Dinge mit dem sprachlichen Ausdruck.
Gegen die Abhängigkeitserklärung des Gewissens auch auf den höchsten
Stufen der Kultur von den äussern Mächten des Staates und der Gesell-
schaft spricht die Thatsache nicht, dass das Gewissen manchmal mit dem
Urteile des Staates und der Gesellschaft kollidiert, denn erstens bezieht
sich ein solcher Konflikt des Individualgewissens mit den Gesammtge wissen
zumeist auf einen Einzelfall, auf die Anwendung der Regel oder vielleicht
auch auf die Regel selbst, aber nicht auf das allgemeine Prinzip, zweitens
sind Staat und Gesellschaft so fliessende Einheiten, dass auich, wenn das
Gewissen mit ihnen in Widerspruch zu stehen scheint, es noch immer
sich in ihrem Fahrwasser bewegt.
'0 S. Einleitung, § 8.
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— 80 —
Wissens auf die Strafe bestiraraen. Nimmt man die Strafe^
ohne Rücksicht auf ihre Genesis, so macht sich ein Einfluss
des Gewissens in nur sehr geringem Masse geltend, betrachtet
man aber das Entstehen der Strafe, ihre Entwicklung zur
Axiomität, ihren Axiomatisierungsprozess, so muss dem G^-
wissensphänomen eine bedeutende Wirkung zuerkannt werden;
denn wenn die Strafe kein Echo hn Innern fände, keinen Für-
spriecher im Gewissen hätte, würde wahrscheinlich der Axioma-
tisierungsprozess ein viel langsamierer gewesen sein, würden sich
die Menschen nur schwer zur absoluten, dogmatischen Passung
der Strafgerechtigkeit bequemt haben. Die sociale Strafe hin-
gegen ist völlig abhängig von der staatlichen und moralischen^
Strafe, denn die sociale Wertschätzung der menschlichen Hand-
lungen richtet sich nach der Wertschätzung der staatlichen
Gesetze und der Gewissensbestimmungen.
§ 18, Das Verhältnis der Freiheits- oder Unfreiheitslehren zu
den absoluten Straftheorien und der ihnen parallel laufenden
Gewissensentfaltungen.
Die Beziehungen zwischen Gewissen und Strafe sind nun
festgestellt, was eine Peststellung der Beziehungen zwischen
Willensfreiheit uud Verantwortlichkeit im Sinne der absoluten
V(?rantwortlichkeitstheorien erleichtern kann. Diese Peststellung
soll an der Hand der Beantwortung der Frage, wie sich die ver-
schiedenen Theorien der Freiheit oder Unfreiheit zu den geschil-
derten Straftheorien verhalten, dargelegt werden. Der konsequente
Indeterminismus kann, wie bereits ausgeführt ist, keine Strafe
konstruieren, da nach demselben kein „Weil" im menschhchen
Wollen vorhanden ist. Auch Loben oder Tadeln hat nach dem-
selben keinen Sinn, da man doch etwas Zufälliges nicht aner-^
können oder verurteilen kann. Gewissensbisse sind nach demselben
auf vergangene Zufälligkeiten gerichtete Gefühle, sind überhaupt
unverständHch. ^) Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis in-
Bezug auf den inkonsequenten Indeterminismus, auf den Inde-
terminismus par excellence,^) was vielfach unberücksichtigt wird,,
indem man den Indeterminismus schlechthin als der Erklärung
') S. I. d. K., § 9.
^- Kap. 1, Ja 23.
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— 81 -
des Gewissensphänomeiis und der Begründung der. Strafe unfähig
erachtet.
Diese Ausserachtlassung^) des inkonsequenten Indetermi-
nismus erklärt sich leicht, wenn man sich die Schwächen des-
selben, die völlige Unhaltbarkeit , ^) in gewissem Sinne die
Unwissenschaftlichkeit desselben vergegenwärtigt. Dieser inkon-
sequente Indeterminismus, der die Freiheit des Menschen auf
ein Wahlrecht desselben beschränkt, der seine Wahlfreiheit mit
einer notwendigen Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in Ein-
klang zu bringen vermag, ist aber der von den meisten Juristen
vertretene Standpunkt und bildet die Grundlage aller indeterministi-
schen Schuldbegriffe. Diese Wahllehre hat nun einen bedeutsamen
Faktor in der Entwicklung der Strafgerechtigkeit und des Gewissens
zur Absolutheit abgegeben. Auch der ihr nahestehende inkonse-
quente Determinismus findet sich auf derselben Weise, wenn auch
nicht mit derselben Leichtigkeit, mit den absoluten Straf-theorien
ab. Der transcendentale Indeterminismus hingegen, der im Bereich
des Empirischen keinen Raum für Willensfreiheit findet lind sie
ins UebersinnHche verlegt, kann nur schwer die von ihm absolut
gefasste Strafgerechtigkeit begründen, denn es bleibt doch un-
verständlich, wie man das empirische Wesen, den Sinnenmensch
bestraft für den Missbrauch seiner Freiheit, die er als Gedanken-
wesen besitzt.^) Der mechanistische Determinismus, der den
Menschen als Maschine fasst und einer fatalistischen Notwendigkeit
unterwirft, kann die Schuldbegriffe im absoluten Sinne fatalistisch
noch weniger aufrecht erhalten, denn wenn man auch die Anfänge
des Schuldbegriffs unabhängig vom Freiheitsgedanken erklärt, so
kann man doch eine Bestrafung für notwendige Handlungen nur
hinsichtlich ihres Zweckes, aber nicht hinsichtlich ihres Grundes
') S. Gizycki, a. a. 0., Seite 288—293, der gegen den Indeterminismus
schlechthin polemisiert, ohne die nötige Unterscheidung zwischen den
verschiedenen indeterministisohen Lehren vorzunehmen.
») S. Kap. 1, § 8.
') Jodl, Bd. 2, a. a. 0., Seite 33, meint, dass diese Schwierigkeit
Kant veranlasst hat, zur Annahme der Freiheit als intelligible Wesenheit
(he Wahlfreiheit zuzufügen. S. ebendas., Seite 263—266, über die transcen-
dentale Freiheit und Verantwortlichkeit Schopenhauers. Die Bestrafung
des empirischen Menschen, weil er im esse frei ist, kann nicht als be-
rechtigt gelten.
Xiemirower, ^Willensfreiheit*. 6
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- 82 —
• rechtfertigen. Kann doch nach dem Fatalismus, nach der Be-
hauptung, dass der Mensch einer ausserweltlichen oder wenigstens
ausser ihm liegenden Macht unterworfen ist, die Strafe nur als
Verhängnis, ebenso wie die sie veranlassende That, aber nicht
als Folge derselben angesehen werden und je mehr eine deter-
ministische Lehre sich dem Fatalismus nähert, desto weniger ist
sie ja im stände, die Strafe zu begründen.
Für den Materialismus nun ist das Verbrechen, wie jede
andere Handlung nichts weiter als das notwendige Resultat
der bis zu diesem Augenblicke, wo die betreffende Handlung
ausgeführt wird, unter Naturgesetzen in das Gehirn aufgenom-
menen Eindrücke. *) Der Materialismus wirft Irresein und Ver-
brechen zusammen und äussert sich über beide wie folgt : *)
„Wenn man alle äussern und Innern Verhältnisse genau bemisst
und abwiegt, wird man finden, dass in der Verübung von Ver-
brechen kein Zufall herrscht. In welcher Form das Verbrechen
auch auftreten mag, durch was immer für einen Komplex gleich-
zeitig wirkender Bedingungen es veranlasst, durch eine wie lange
Kette successiver Ursachen es erzeugt sein mag, es wird als die
unvermeidliche Folge der Antecedentien erscheinen, so sicher
als man die Explosion von Schiesspulver auf seine Ursachen
zurückführen kann, ob nun die Reihe der dieselbe veranlassen-
den Ursachen kurz oder lang ist." Der Materialismus in der
italienischen Schule vollends führt alle Verbrechen auf physische
Abnormalitäten zurück. Der Materialismus in diesen Formen
kann die absoluten Straftheorien sicher nicht vertreten; denn
nach demselben giebt es eigentlich nicht nur keine metaphy-
sische oder psychologische Freiheit, sondern in gewissem Sinne
auch keine physische, da es doch einerlei ist, ob ein Fatum, ob
ein Tyrann oder eine tyrannische physisch-psychische Krankheit
einen Unglücklichen zu einem Verbrechen veranlasst.
Das Gewissensphänomen, die innere Strafe hingegen, kann
auch der mechanische Determinismus erklären,^) was man leicht
einsieht, wenn man sich nur die Elemente des Gewissens ver-
') Vgl. ClesB, a. a. O., Seite '22, 23.
*) Maudsley, bei Cless ebenda«.
*) Kuno Fischer u. v. Kirohmano, wie die andern, s. Einleitg., § 3,
sind also im Unrechte, wenn sie auch das Gewissen, gleich der Strafe,
als unverständlich nach dem Determinismus bezeichnen.
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- 83 -
gogenwärtigt. Im Gegensatze zum mechanischen Determinismus
findet sich der psychologische mit den absoluten Straftheorien
ab. Gewiss, wenn man als das Wesentliche in diesen Theorien
einen auf der Annahme der Willensfreiheit beruhenden Schuld-
begriff .bezeichnet, ist auch der psychologische Determinismus
von vornherein als Gegner dieser Theorien gestempelt. Man ist
jedoch nicht gezwungen, den Schuldbegriff indeterministisch zu
fassen, wie bereits ausgeführt wurde,*) wie es auch von Herz*)
betont wird. Gewiss sind die absoluten Straftheorien und der
Determinismus unvereinbar, wenn diese Theorien nach der Be-
rechtigung der Strafe fragen und sie aus der Willkür des Menschen
ableiten, wenn sie die Axiomität der Vergeltungsgerechtigkeit
aufgeben; geben sie aber dieselbe nicht auf, so lassen sie sich
auch nach dem Determinismus aufrecht erhalten. Die Frage, die
die absoluten Strafrechtslehrer an den Determinismus richten,
lautet wie ich glaube nicht : Wie lässt sich nach einer determini-
stischen Weltauffassung die Strafe überhavpt rechtfertigen —
denn die Strafgerechtigkeit bedarf für sie keiner Begründung —
die Frage lautet vielmehr : Wenn auch auf eine böse Handlung
«ine Strafe unbedingt folgen muss, so ist es doch ein Unrecht,
dieselbe an einer Person zu vollziehen, die mit der strafbaren
Handlung eigentlich nichts zu schaffen hat, der dieselbe fremd
ist. Anscheinend laufen beide Fassungen der Frage auf dasselbe
hinaus, bei näherer, tieferer Betrachtung jedoch ergiebt sich ein
wesentlicher Unterschied. Nach der gewöhnüchen Fassung, die
direkt die Berechtigung der Strafe von einer Freiheit des Men-
schen abhängig macht, giebt es nur ein Entweder-oder ; entweder
Willensfreiheit und ihre Konsequenz, Verantwortlichkeit, oder
Determinismus und seine Konsequenz, Straflosigkeit; nach der
von mir gegebenen Fassung hingegen, nach der es sich nur
um die Berechtigung zur Strafvollstreckung an einer gewisser-
massen unbeteiligten Person handelt, lässt sich antworten,
dass gerade nach dem Determinismus , nach welchem jede
Handlung, so auch die verbrecherische, als ^as Resultat der
ganzen Entwicklung eines Menschen, als ein Produkt seines
Charakters und der Motive, für welche er empfänglich ist.
») S. id. K., § 15.
») A. a. 0., Seite 120.
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— 84 —
angesehen werden und zugleich als bestimmend für sein ferneres:
Verhalten betrachtet werden muss, gerade nach dem Deter-
minismus — das Verbrechen als ein Bestandteil des Verbrechers
an ihm und in ihm gestraft werden kann. Allerdings ist das
Verhältnis der bösen Handlung zur Strafe nach dem Determinis-
mus mehr unpersönlich zu nehmen; — denn nicht N. N. wird
bestraft, weil er das Böse, das er hätte lassen können, gewollt
und geübt hat, sondern ein Komplex von Vorstellungen, Ge-
fühlen u. s. w., den man in Ansehung seines metaphysischen
Substrates N. N. nennt, wird bestraft, weil ein Teil desselben
sittlich störend gewirkt hat; — aber die Vergeltung lässt sich auch
unpersönlich fassen, da sie sich nicht auf das metaphysische,
sondern auf das empirische Ich bezieht. Hat etwa Vergeltung
in diesem Sinne keine Bedeutung? Der Determinismus denkt
sich das böse Wollen und Handeln als die Folgen einer Nieder-
lage der edlen Motive im Kampfe gegen die unedlen und die
Strafe als Revanche gegen das siegende Unsittliche. Muss man
sich nun denn, gleich dem Indeterminismus, den Vorgang al&
einen Kampf zweier Parteien denken, bei welchem der Herrscher,,
der Wille, der die Sache der Partei des Guten zu vertreten hat^
durch Verrat oder durch neutrales Verhalten dem bösen Prinzip
zum Siege verhelfen hat, weshalb das Gute in seinem Reiche, die
edleren Motive sich gegen ihn erheben — Gewissen — wofür
die Verbündeten der Partei des Sittlich-Guten, Staat und Ge-
sellschaft, ihn bestrafen ? Lässt sich denn nicht, ohne jede Rück-
sicht auf den Herrscher, auf den Willen oder das Ich, Gewissen,
als Auflehnung der sittlichen Mächte im Menschen gegen die
Herrsc^haft des Unsittlichen und die Strafe als Revanche des
Staates und der Gesellschaft für den Sieg des Bösen, der die
Idee des Guten oder ihre Herrlichkeit verletzt fassen?
Man wird wohl einwenden, dass man doch immerhin den
schuldlosen Herrscher, das Ich, nicht dafür büssen lassen darf,,
dass in seinem Reiche die Partei des Bösen triumphiert, da er
diesem Triumphe gegenüber ohnmächtig war, oder ohne Bild,
dass man eine Person nicht strafen darf, weil in ihr die unsittlichen
Motive über die sittlichen gesiegt haben. Dieser Einwand ist
jedoch nur hinsichtlich des Bildes richtig, aber nicht hinsichthch
des zu verdeutlichenden Willensverhältnisses. Freilich ein Herr-
scher, der getrennt von den streitenden Parteien seines Reiches
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— 85 —
zu denken ist, der ein Sonderdasein führt, darf nicht für dieselben
zur Verantwortung gezogen werden, der Wille des Menschen
aber, das Ich desselben, ist von seinem Inhalt unlösbar, hat bloss
für unser Denken und Sprechen eine Sonderexistenz, ist bloss
im metaphysischen Sinne selbständig und substantiell, empirisch
jedoch fällt Wille und Wollen, das Ich und seine Aeusserungen
zusammen, so dass eine Bestrafung des Ich aus Anlass seiner
Kundgebungen, sicher berechtigt ist. Kurz, auch der Determinis-
mus kann die absoluten Straftheorien acceptieren, so er die Strafe
wirklich absolut im Sinne der Axiomität fasst, so er die Zii-
rechnungs- und VerantwortlichkeitsbegriflFe in der oben versuchten
Weise als der Zurechnung aller als vernünftiges Wesen, als
Mensch vollzogenen Thaten und Unzurechnung aller in Momenten
der Untermenschlichkeit, der Vernunft- und Bewusstlosigkeit
verübten Misset baten, fasst.
^ 19. Rekapitulation der Untersuchungen über die absoluten
Straftheorien vnd ihre Beziehungen,
Da das Verhältnis der Vergeltungstheorien zum Freiheits-
problem einen wesentlichen Bestandteil dieser Abhandlung bildet,
sollen die Resultate der vorliegenden Untersuchung, bevor ich zu
den relativen Straftheorien übergehe, kurz zusammengefasst werden .
In Bezug auf die Genugthuungstheorien sind drei Momente
hervorzuheben, die man auch als Stadien der Entwicklung des
Vergeltungsgedankens fassen kann. 1. Die Rache als Ursprung
der Strafe, 2. die sittlich bedeutsame Verstaatlichung der Privat-
rache, 3. die Idealität und Axiomität der Vergeltvmgsstrafe auf
dem Höhepunkt ihrer Entwicklung.
E)ie sociale Belohnung und Strafe, wie auch die Belohnung
überhaupt, tritt wahrscheinlich erst im zweiten Stadium der Ent-
wicklung infolge der naturgemässen Organisierung der Rache zu
Tage. Der äussern Verantwortlichkeit parallel läuft die innere. Auf
der ersten Stufe der Entwicklung giebt sie sich als Rache gegen
sich selbst oder richtiger als ein aus der Mischung zu spät ein-
tretenden Mitleids des Verbrechers mit seinem Opfer und der
Furcht vor Rache entstandenes Dritte ; im zweiten Stadium konunt
der Einfluss äusserer Autoritäten hinzu, der im dritten Stadium
immer mehr eine autonome Gestalt annimmt und dem Menschen
als Ideal, als sein Ideal, als seine Idee erscheint. Die Verant-
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- - 86 —
wortlichkeitsforraen stehen in Rücksicht ihrer Genealogie in
Beziehung zu einander, können jedoch — abgesehen von ihrer
Entstehung — unabhängig von einander gefasst werden. Diese
Formen der Verantwortlichkeit stehen nicht im gleichen Ver-
hältnisse zum Preiheitsproblem ; das Gewissen ist mit Ausnahme
der Willkürlehre nach allen Theorien der Freiheit und Unfreiheit
erklärbar, die Strafe hingegen als Vergeltung ist nach dem
konsequenten Indeterminismus als auch nach dem mechanischen
Determinismus unhaltbar, ist eigentlich auf den inkonsequenten
Indeterminismus begründet, lässt sich aber auch mit dem psy-
chologischen Determinismus in Einklang bringen, wenn man
den Anfang des Schuldbegriffes, der im Laufe der Entwicklung
allerdings mit dem Indeterminismus verwachsen wurde, von dem-
selben loslöst und wenn man die Frage nach dem Recht der
Strafe überhaupt nicht aufwirft, sondern die Strafe axiomatisch
fasst.
§ 20, Die Erziehungstheorien und ihr Verhältnis zum
Preiheitsproblem.
Wie der Indeterminismus die Preiheitstheorie der absoluten
Strafauffassungen ist, so ist der Determinismus die Willenstheorie
der relativen Straflehren, deren sittHch bedeutsamste die Er-
ziehungstheorie ist. An sich ist, nach dieser Theorie, die Strafe
nicht berechtigt, berechtigt ist sie nur in Hinsicht auf ihren
Zweck, der sittlichen Besserung des Bestraften.
Die Strafe ist ein Erziehungsmittel oder mit einem andern
Ausdrucke, ein Heilmittel^) für moralisch Kranke; „das Zucht-
haus ist eine strenge Erziehungsanstalt für sittlich verwahrloste
Individuen oder ein Krankenhaus 2) für moralische Irre.^ Diese
Auffassung der Strafe setzt eine Determinierbarkeit des Willens
voraus, ist nach all denjenigen Theorien, die eine Determinier-
barkeit des Willens annehmen, also auch nach dem inkonse-
quenten Indeterminismus haltbar; zumeist jedoch wird sie durch
eine psychologisch deterministische Erkenntnis gefördert, so dass
man sagen kann, wie der Indeterminismus in der Vergangenheit
den Vergeltungsgedanken reinigte und idealisierte, so ist der
') Vgl. Piatos Gesetze, 5. Buch, 7.
') S. Penisen, iu seinem System der Ethik.
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— 87 —
Determinismus im stände, in der Zukunft Milde und Nachsicht^)
gegen und Mitleiden mit Verbrecherseelen zu verbreiten und der
Besserungsstrafe zum Siege zu verhelfen. Die Besserung des
Verbrechers reicht jedoch als Zweck der Strafe nicht aus, um
so weniger in der Gegenwart, in der von verschiedenen Seiten
die Möglichkeit einer sittlichen Besserung der Verbrecher ge-
leugnet wird. Es gesellen sich daher zu dem Zwecke sittlicher
Hebung und Gesundung des moralisch Kranken noch andere
Zwecke: Die Unschädlichmachung und Abschreckung desselben.
§21. Die AbschreclxungS' und Unschädlichkeitstnachvvgi^theorieii.
Der Zweck der Strafe ist nach manchen relativen Theorien
die Vernichtung des v^erbrecherischen Individuums, als die Un-
schädlichmachung der Ursache des Uebels, nach andern die Ab-
schreckung des Verbrechers vom weiteren verderblichen Handeln
oder die Abschreckung und Ablenkung anderer von allgemein
schädlichen Handlungen durch die Bestrafung des Schuldigen.
Diese Theorien, die hier in ihren Einzelheiten nicht verfolgt
werden können, werden bekämpft und mit ihnen der Determi-
nismus, der auf dieselben angewiesen ist, weil sie auf dem ver-
rufenen Lehrsatz — der Zweck heiligt die Mittel — gegründet
seien, der doch, wie Bemerk) sagt, sittlich unzulässig ist. Nun
ist es wahr, dass diese Theorien, die das Recht zur Strafe, zur
Verletzung eines menschlichen Wesens, vom Zwecke desselben
ableiten, die Strafe als ein unheiliges Mittel, das zu einem hei-
ligen Zweck angewandt wird, betrachten und ebenso wahr ist
es, dass sie zum Teil den Verbrecher als Mittel zu Erziehungs-
zwecken der Gesamtheit gebrauchen wollen. Jedoch der Satz:
Der Zweck heiligt die Mittel, ist in einem näher zu bestimmen-
den Sinne eine Konsequenz ^) der teleologischen Moral, der nicht
ausgewichen werden kann. Wenn nämlich alles sittliche Handeln
euie Einheit bildet, die von einem bestimmten Zwecke getragen
wird, so ist es selbstverständlich, dass auch diejenigen Hand-
') S. Paulsen, System der Ethik, a. a. 0. Seite 4.-3, 424, 425. Hartmann,
a. a. 0., Seite 439. Simmel, a. a. 0., Buch 2, Seite 238, 242.
^ Lehrbuch, § 7.
') Vgl. Paulsen, System der Ethik, Bd. 1, Seite 208-213. Ueber diese
Frage, ob der Zweck durchs Mittel geheiligt werden kann. S. auohDosto-
jewsky, Schuld und Sühne, deutsch von W. Henckel, Seite 101 - 103.
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— 88 -
lungen, die losgerissen von ihrem Zusammenhang, getrennt von
ihren Zwecken als unsittlich bezeichnet werden müssten, in
Wirklichkeit jedoch ansehnlich ihres Zweckes, ihrer Zugehörig-
keit zu einem sittlichen Ganzen als sittlich zu betrachten sind.
Freilich *) „nicht ein beliebiger erlaubter Zweck heiligt die
Mittel, sondern der Zweck, es giebt aber nur einen Zweck, von
dem alle Wertbestimmung ausgeht, nämlich das höchste Gut,
die Wohlfahrt oder die vollkommene Lebensgestaltung der Men-
schen." Diese Bestimmung des fraglichen Satzes, nach der nur
der letzte und höchste Zweck die Kraft sittlicher Sanktion be-
sitzt, der Endzweck, der sich aber in der Praxis mehr unbemerkt
geltend macht, nach dieser Fassung des Satzes bei Paulsen, zu
der noch der Umstand hinzukommt, dass die genaue Berechnimg
der wirklichen Folgen einer Handlung mit grossen Schwierig-
keiten verbunden ist, macht diesen Satz unbrauchbar und be-
denklich.2) Man kann sagen, heisst es bei Paulsen,^) „der Satz:
Die Wohlfahrt der Menschen heiligt als Zweck jede Handlung
ohne Ausnahme, ist in thesi ganz unbedenklich, aber er ist in
praxi nicht anwendbar.** Dennoch wird dieser Satz, wie ich
glaube, alltäglich angewendet und die Strafe, die seitens des
Staates ausgeübt wird, beruht nach vielen Theorien auf dem-
selben und auch die Beurteilung geschichtlicher Persönlichkeiten
sind von demselben geleitet. Nehme man einen historischen Fall.
Themistokles verrät seine Landsleuto an die Perser, damit
seinen Landesgenossen kein Ausweg zur Flucht bleibe, so dass
sie sich zum Verteidigungskampfe emporraffen müssen. Diese
That wird noch heute gerühmt — trotzdem Vaterlandsverrat
zu den grössten Verbrechen gehört — weil der Zweck, den er,
der einzelne im Auge hattf*, nämlich die Rettung seines Volkes,
das angewandte unheilige Mittel heiligt. Paulsens Bestimmung
\md Begrenzung des in Frage stehenden Satzes ist also nicht
zureichend, um die That Sachen, die erfahrungsgemässe Anwen-
dung desselben erklären zu können.
Da nun der Determinismus zumeist auf die relativen Theorien
angewiesen ist, werde ich in aller Kürze die Bedingungen, unter
denen nach meinem Dafürhalten dieser Satz au(;h in praxi an-
') Kbondas., Seite 2()S.
-) Ehencias.. Seite 210.
•) HbeiKlas
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- 89 —
Avendbar ist, bestimmen. Georg Brandes ^ äussert sich über die An-
wendung unmoralischer Mittel zur Erreichung morahscher Zwecke
oder im Sinne einer hedonistischen Morallehre — bezüglich einer
Zufügung von Unlust als Mittel zur Herbeifiihrung einer höhern
Lust — folgendermassen. „Damit der Satz gültig sein soll, müssen
folgende Bedingungen erfüllt sein: Dei^ Zweck muss gut sein —
der Zweck darf durch keine andern Mittel zu erreichen sein als
durch schmerzbereitende, auch nicht durch ein im geringeren
Orade schmerzbereitendes Mittel als das angewandte. — Das
Leid, das als Mittel angewandt wird, muss geringer sein als das,
welches ohne Anwendung des Mittels entstehen würde.**
An diese drei Bedingungen ist die Gültigkeit des fraglichen
Satzes gebunden. Diese Bedingungen können im Geiste einer
Moralphilosophie, die nicht in der Lust, sondern in der höchsten
Entwicklung aller menschlichen Lebenskräfte das Ziel ethischen
Strebens sieht, ausgedrückt werden — als die Sicherheit, dass
der in Frage kommende Zweck ein bedeutsames Moment des
letzten Zweckes ist, der harmonischen Entfaltung aller Seiten
des Einzelmenschen wie die des Menschengeschlechtes, dass
ferner dieser Zweck nur durch an sich unsittliche Mittel zu
erzielen ist, dass endlich die Wirkung des betreffenden Zweckes
die störende Wirkung des angewandten Mittels aufwiegt, oder
in negativer Fassung, dass ohne Anwendung dieses Mittels eine
viel grössere Stönmg der Harmonie des Einzelneu wie die der
Oesaratheit eintreten würde, als diejenige Störung, die die An-
wendung dieses Mittels zur Folge hat. Zu diesen Bedingungen
muss, wie mir scheint, noch die Uninteressiertheit der Person,
die das Mittel anwendet, an dem Mittel selbst, hinzukommen;
denn sonst ist eine ungetrübte, unparteiische Untersuchung, ob
die Bedingungen vorhanden sind, unwahrscheinHch, da doch die
Sophistik des persönlichen Interesses fast inmier das Vorhanden-
sein derselben herausklügeln wird. Das Zusammentreffen all dieser
Bedingungen in einem gegebenen Falle ist nicht sehr häufig,
was den Umstand erklärt, dass dem Lehrsatz : Der Zweck heiligt
die Mittel, eine gewisse Unbrauchbarkeit und andererseits Ge-
fährlichkeit zugeschrieben wird. So ganz selten ist jedoch das
Zusammentreffen der Bedingungen nicht.
*) Menschen u. Werke, Kssays, Frankfurt a. M., 1894, Seite 131.
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- 90 ~
Die letzte Instanz über die Anwendbarkeit des Satzes in
jedem Einzelfall ist das Gewissen für den Einzelnen, die allge-
meine Sitte für die Gesamtheit. — Allgemein gesprochen, kann
man also nur sagen: Der Zweck, der eine und letzte heiligt die
Mittel; bezugnehmend auf die Erfahrung aber, auf die Moral in
concreto, die entsprechend den verschiedenartigen Ausprä-
gungen des allgemeinen Menschentypus sich zu einer Vielheit
gestaltet, für jedes Volk, für jede Gruppe desselben, zuletzt für
jedes Individuum eine besondere Form ^) annimmt und dem all-
gemeinen Zweck der vollkommensten Lebensgestaltung der
Menschheit ein besonderes Gepräge verleiht — bezugnehmend
auf die konkrete Moral, kann man behaupten: Jeder für ein
Individuum oder für eine Gesamtheit geltende sittliche Zweck
ethisiert jedes Mittel, insofern die oben ausgeführten Bedingungen
zutreffen. Diese allgemeine Erkenntnis auf einige Beispiele*)
angewandt, würde sie noch mehr einleuchtend machen.
Zuerst das schon angeführte Beispiel aus der Geschichte,
Themistokles, der an dem Verrate seines Vaterlandes kein per-
sönliches Interesse hat, der als Führer seines Volkes die Ver-
hältnisse genau kennt und die Notwendigkeit und Wirksamkeit
seines Mittels erkennt, darf, ja soll sein Vaterland zu dem be-
stimmten Zwecke verraten. Für ein anderes Individuum des
griechischen Lagers, das nicht Führerpflichten hat, das die Lage
der Grie^^-hen nicht genau beurteilen kann, besteht nicht das Recht
zur Anwendung des fraglichen Mittels, denn je grösser die Pflicht ^
je bedeut\samer der ethische Zweck des Einzelnen oder ein$r Ge-
samtheit Vstj desto grösser natürlich das Recht in Bezug auf die
Anwenduf^ig unmoralischer Mittel; darum ist oft das dem Staate
oder eine|r Partei Erlaubte, ja Gebotene, dem Einzelnen
- v^
*) S. A\iri8totele8, Politik, Bd. 1, Kap. 8, wo untersucht wird, ob
Herrschende t md Gehorchende, Mann u. Weib. Freie u. Sklaven morcUiach
verschieden si nd, was in bejahendem Sinne bestimmt wird. S. auch Paulsen,
System d. Et^hik, Bd. 1, Seite 18-24.
) Die J bekannte Frage Sohleiermaohers, wie wir die Kindheit eines
Individuums S seinem reifen Alter durch die strenge Erziehung opfern
«lürfen, und »niie allgemeine Frage der Pädagogik, in wie weit wir es
dürfen, lösen sich nach dem wohlverstandenen Lehrsatze von der An-
wendung an 1*» sich unmoralischer Mittel zu moralischen Zwecken. Auch
die Frage bc^**^züglich der Anwendung der künstlichen Selektion auf so-
cialem Gebie<'^e ist auf diese Weise zu lösen. 8. i. d. K., § 10. Anmerkg. 5X
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— 91 —
verboten. Also darf auch der Staat strafen als Mittel zu einem
sittlich berechtigten und gebotenen Zwecke^ wenn und inso-
iveit die angeführten Bedingunge?i zutreffen^ von welchen die
Ethisi^rung unethischer Mittel von ethischen Zwecken abhängt,
d. h, wenn der ethische Strafzweck erreicht und nur dadurch
erreicht wird, darf die Strafe von uninteressierten Personen
vollzogen werden.
Was ergiebt sich aus dieser Begrenzung des Rechts zur
Zweckstrafe für die Stellung des Freiheitsproblems zur Straf-
gesetzgebung? Es ergiebt sich, dass derjenige Teil der mecha-
nistischen Deterministen, der das Verbrechen auf anthropologische
Beschaffenheiten zurückführt, als ein Produkt einer in den meisten
Fällen unheilbaren Krankheit ansieht, kein Recht hat, den Ver-
brecher ins Zuchthaus zu schicken; denn der hypothetische Erfolg
der Bestrafung eines Verbrechers auf moralisch bloss angekrän-
kelte Naturen vermag nicht die harte Bestrafung der unglück-
lichen moralisch Kranken zu rechtfertigen, da doch die zweite
der Bedingungen, *unter denen allein die Anwendung des Satzes :
der Zweck heiligt die Mittel, gestattet ist, nicht in Erfüllung
geht. Dieser Gesichtspunkt, unter dem allein ethisch die Straf-
berechtigung betrachtet werden darf, liefert auch einen Mass-
stab der Strafe, einen Gewinn, der nicht gering anzuschlagen
ist, da als Haupteinwurf gegen die relativen Theorien die Be-
hauptung auftritt, dass nach denselben jedes Prinzip der StraX-
böinessung fehle. ^ Diese Behauptung ist nun falsch, da die Ethik
einen Massstab der Bestrafung liefert, da sich aus den Bedingungen,
unter denen allein die Abschreckungstrafe berechtigt ist, ein
Prinzip des Strafmasses ergiebt. Gestraft darf nämlich nur insoweit
werden 1. insoweit die Zwecke der Strafe es erheischen, 2. in-
soweit diese Zwecke nicht anders und nicht mit weniger Schmerz-
bereitung erlangt werden können, 3. insoweit die guten Wirkungen
der Zwecke die bösen der Mittel aufzuwiegen im stände sind,
3. insoweit endlich sich keine persönlichen Interessen an der
Unlustzufügung an sich geltend machen. Wenn nun Rümmelin^)
meint, dass nach den deterministischen Straftheorien, dass nach
der Abschreckungstheorie die grausamsten Strafen angewendet
^) Rüminelin, a. a. 0., Seite 48.
*) Ebendas.
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- 92 -
werden müssen, so lässt er die Stellungnahme der Ethik zur
Strafe ausser Acht; denn grausame Strafen dürfen nicht ange-
wandt werden, weil und insoweit sie im Widerspruch stehen mit
den Voraussetzungen der sittUchen Berechtigung der Strafe.^) Auch
andere Einwände ähnlicher Art gegen die Zwecktheorien, die
sich indirekt gegen den Determinismus richten, sind durch die
gemachten Ausführungen widerlegt, so z. B. die absurde Be-
hauptung, dass man nach den Abschreckungstheorien auch völlig
schuldlose Individuen zum Zwecke der Purchteinflössung ge-
brauchen dürfe. Aus demselben Gesichtspunkte lässt sich auch
ein Zurechnungsbegriff konstruieren, worauf ich hier nicht näher
eingehe.
§ 22, Zusammenfassende Antwort auf die Frage yiach den
ihatsächlichen Beziehungen zwischen Willensfreiheit und Ver-
antwortlichkeit. -)
Nach den ausführlichen Auseinandersetzungen lässt sich
das Verhältnis der Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit kurz
bestimmen. Wie bezüglich des Verhältnisses zwischen Gewissen
und Strafe eine Trennung des Entstehens vom Bestehen dieser
Begriffe sich als notwendig erwiesen hat, so auch in Bezug auf
den Zusammenhang von Willensfreiheit und Verantworthchkeit.
P>agt man, ob die menschHche Verantworthchkeit mit dem
Wegfalle des Begriffes der Willensfreiheit zugleich wegfällt, .so
lässt sich mit einem entschiedenen Nein antworten, insoweit es sich
um den psychologischen Determinismus handelt, weniger sicher
in Bezug auf den mechanischen Determinismus. Denn die ab-
sokiten Straftheorien sind zwar auf Grund des inkonsequenten
Indeterminismus entstanden und werden hauptsächlich von
demselben getragen, können, aber auch, so sie die Straf-
gerechtigkeit thatsächlich - absolut und axiomatisch fassen ,
mit dem Determinismus in Einklang gebracht werden und
^) Dühring, Cunsus d. Philos., Seite 203, führt aus, dass die An-
wendung grausamer Abschreckungsmittel neben der sogenannten Achtung,
die die Strafe erzielen soll, eine moralische Verachtung erzeugen wlurde.
-) Dieser Paragraph bezweckt nicht ein Resum^ aller gewonnenen
Erkenntnisse in Bezug auf Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zu
geben, sondern bloss mit Bestimmtheit die erste Frage dieser Abhand-
limg kurz zu beantworten.
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v^r~
- 93 —
die relativen Straftheorien sind nach allen Lehren der Frei--
heit oder Unfreiheit des Willens haltbar mit Ausnahme des
konsequenten Indeterminismus, nach welchem keine Straftheorie
gelten kann. Prägt man, ob die innere Verantwortlichkeit, das
Gewissensphänoraen die Realität der Willensfreiheit bezeugt, so
lässt sich diese Frage mit Gewissheit verneinen ; denn auch der
mechanische Determinismus ist in der Lage, das Gewissensgebilde
zu erklären. Anders gestaltet sich die Antwort, wenn man
den Zusammenhang von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit
in Bezug auf ihre Ge?iesis untersucht. In Bezug auf das Ent-
stehen, auf die Entwicklung des Gewissens und der Strafe zu
den Formen, in denen sie gegenwärtig bestehen, ist der Glaube
an die Freiheit des menschHchen Willens von grosser Tragweite ;
derm die Strafe würde nicht, würde allenfalls viel langsamer den
Prozess der Idealisierung und Axiomatisierung , das Gewissen
würde nicht, würde jedenfalls viel langsamer den Prozess der
Subjektivierung und Axiomatisierung durchgemacht haben, wenn
die Menschheit nicht an die Freiheit des WoUens geglaubt hätte.
Das Entstehen des Glaubens an die Freiheit des menschlichen
Willens erklärt jedoch der psychologische Determinismus am aller«
leichtesten.
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Drittes Kapitel.
Ghründe des Entstehens der irrtümlichen Betrax^htung
der Willensfreiheit als Voraussetzung der Verant-
-wortlichkeit.
§ 1. Allgemeines.
Nach Erledigung der ersten Frage in dem Sinne, dass zwar
in genetischer Beziehung ein enger und inniger Zusammenhang
zwischen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zuzugestehen
ist, dass jedoch die Abhängigkeitserklärung der Verantwort-
lichkeit vom Begriffe der Willensfreiheit auch auf der gegen-
wärtigen Höhe ihrer Entwicklung bestritten wird, macht die
Präge akut, wie es nun zu erklären ist, dass dessenungeachtet
seitens so vieler Denker und allgemein seitens des sogenannten
gesunden Menschenverstandes die Willensfreiheit als Grundvor-
aussetzung der Verantwortlichkeit angesehen wird. Die gewonnene
Erkenntnis von dem Zusammenhange der Willensfreiheit und
Verantwortlichkeit auf den niedern Stufen der Entwicklung,
trägt viel zur Lösung dieser Frage bei, denn nicht jeder —
besonders der sogenannte gesunde Menschenverstand nicht —
macht einen Unterschied zwischen dem Entstehenkönnen und dem
Fortbestehenkönnen der Verantwortlichkeit ohne Annahme der
Willensfreiheit. Ebenso lässt sich die gewonnene Einsicht
in die Natur des Gewissens zur Lösung unserer Frage ver-
werten, da nämlich das Gewissen den herrschenden absoluten
Straftheorien huldigt und sich nach rückwärts kehrt, d. h. die
bereits begangenen Handlungen beurteilt, ohne scheinbar auf die
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— 95 —
Zukunft Rücksicht zu nehmen, entsteht der Irrtum, da:>s das
Gewissen gleich den absoluten Straftheorien einen indeterministi-
schen SchuldbegrifiF konstruiert und nicht nur ein AndersgesoUt-
haben, sondern auch ein Andersgekonnthaben ausdrückt.
Jedoch meine ich, dass sich mehrere Gründe für die Er-
klärung der in Frage stehenden Thatsache, wie fast immer bei
derartigen Thatsachen, bei, wenn man so sagen darf, unsterblichen
Irrtümern der Menschheit anführen lassen. Die Gründe sind vor-
nehmlich folgende: 1. Die Verwechslung der Freiheit des WoUens
mit der des Thuns oder mit ihrer idealen Form, mit der Idee
der Freiheit. 2. Die Verwechslung der deterministischen Unfreiheit
mit der fatalistischen. 3. Die Uebertragung des Abhängigkeits-
verhältnisses der absoluten Straftheorien zu der Freiheitslehre
auf alle übrigen Theorien der Strafe.
§ 2, Die Freiheit des Thu7i8 und die Idee der Freiheit,
Der Unterschied der physischen Freiheit von der metaphy-
sischen, der Freiheit des Thuns von der des Wollefis, der Frei-
heit der äussern Welt gegenüber von der Freiheit im Sinne der
Kausallosigkeit ist klar gefasst worden ; ^) das unbedingt not-
wendige Vorhandensein der physischen Freiheit bei jeder zu
bestrafenden Handlung ist bestimmt worden;^) die Leichtigkeit
der Verwechslung beider Freiheitsformen ist ebenfalls festgestellt
worden,^) so dass ein näheres Eingehen auf den ersten Grund
des Entstehens der irrtümlichen Setzung der Willensfreiheit als
Grundbedingung der Verantwortlichkeit überflüssig erscheint;
dessenungeachtet will ich noch das Medium, das Vermittelnde
zwischen der Freiheit des WoUens und der des Thuns angeben,
das bei der Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses der
Verantwortlichkeit zum Begriffe der physischen Freiheit auf
den der metaphysischen eine Rolle spielt, — ich meine die Idee
der Freiheit.
Die Idee der Freiheit*) ist ganz gesondert von dem Pro-
blem der Willensfreiheit als eine nicht zu bezweifelnde Thatsache
') S. 1. Kap., § 3.
») S. 2. Kap.
') S. Kap. I.
*) Dieser Idee legt Theoder Waitz in seiner Pädagogik, a. a. 0.,
Seite 69 f. und an andern Stellen ein grosses Gewicht bei.
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— 96 —
des ethischen Bewusstseins zu nehmen. Diese Idee kann so ge-
fasst werden, wie Pfenninger i) die Idee des Rechts fasst. Sie
ist ein Streben nach ethischer Entwicklung, ihr Kern liegt in
der Beziehung, in der Richtung. Es ist nicht ein Sein der Frei-
heit, sondern ein Streben nach Freiheit, ^sie ist etwas, das nie
war, nicht ist und nicht sein wird.'* Diese Idee ist einfach eine Ver-
dichtung all der Bewusstseine physischer Freiheit, all des menscli-
lichen Strebens nach Unabhängigkeit den äussern Dingen gegen-
über. Mit andern Worten, die Idee der Freiheit ist der Ausdruck der
Entwicklungsfähigkeit des Menschen zu immer grösserer Freiheit
den äussern Erscheinungen gegenüber. Diese Idee der Freiheit
ist nichts anderes als eine Idealisierung der physischen Freiheit^
der thatsächlichen Voraussetzung der Straf berechtigung und
wird nun ihres idealistischen, absoluten Zuges wegen mit der
absoluten Freiheit des WoUens leicht verwechselt, was die Be-
trachtung der Willensfreiheit als unentbehrliche Grundlage der
VerantwortHchkeitsbegriffe bewirkt.
§ 3. Determinismus und Fatalismus.
Wie die Verwechslung der metaphysischen Freiheit mit
der physischen zu gunsteu des indirekten Beweises für die
Willensfreiheit wirkt, so auch die Verwechslung der deter-
ministischen Unfreiheit mit der fatalistischen. In Wirklichkeit
aber lassen sich Determinismus und Fatalismus von einander
scharf unterscheiden. 2) Nach dem Fatalismus ist der Wille
di's Menschen an den Willen äusserer Mächte ganz^^) oder
zum grossen TeiP) gebunden; nach dem Determinismus hin-
gegen ist der Wille im wesentHchen an und durch sich selbst
gebunden. Nach dem Fatalismus giebt es keine Entwicklung
in den Willensverhältnissen, keinen oder bloss einen sehr
') A. a. 0., Seite 105-125.
*} Man hört oft die Redewendung, dass der Determinismus ein Fa«
talismus der Gebildeten und der Fatalismus ein unwissenschaftlicher De-
terminismus sei. Diese Bezeichnung des Verliältnisees zwischen Fata-
lismus und Determinismus hat einen solchen Wert, vielmehr — einen noch
geringem, als wenn man etwa unsinnigerweise die Religion als den Aber-
glauben der Gebildeten oder — allerdings mit einem gewissen Recht —
den Aberglauben als die Religion der Ungebildeten nennen würde.
•^) Nach dem konsequenten Fatalismus.
*) Nach dem inkonsequenten Fatalismus. S. Kap. I, § 2.
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äusserlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Willens-
handlungen; nach dem Determinismus hingegen unterliegt alles
der Entwicklung und es bestehen innerliche Beziehungen zwischen
den einzelnen Willensakten. Kurz, nach dem Fatalismus sind
alle innern Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte des starren
Seins zu fassen und das für uns Zukünftige ist im Grunde etwas
mehr oder weniger Vergangenes; nach dem Determinismus
aber ist zwar das Zukünftige ein Erzeugnis des Vergangenen,
jedoch eben etwas Zukünftiges und alle innern Phänomene sind
unter dem Gesichtspunkte des fliessenden Werdens zu fassen. ^)
Fatalismus und Determinismus haben aber andererseits auch
Gemeinsames. Das beiden Gemeinsame ist die Anerkennung der
im Leben des Menschen waltenden Notwendigkeit, ist auch —
ihre Genesis betrachtend — das Emporsteigen aus dem Triebe
zur Bindung. 2) Diese ihre Gemeinsamkeit führt zu ihrer Ver-
wechslung und Identifizierung. Dazu kommt noch, dass manche
deterministischen Lehren einen fatalistischen Anstrich haben, 3)
dass der mechanische Determinismus ein Mittelglied zwischen
Determinismus und Fatalismus bildet; denn die mechanische
Kausalität gewährt den äussern Einflüssen einen so grossen Spiel-
raum, entfernt die Ursachen unseres Wollens so weit aus unserm
Innern, legt so viel Gewicht auf das Milieu, dass der Mensch,
der der Aussenwelt gegenüber ohnmächtig dasteht, sich ebenso
wie nach dem Fatalismus als leidendes Objekt des äussern
Zwanges fühlt und sie daher mit Fatalismus verwechselt. Zur
Identifizierung des Determinismus mit dem Fatalismus seitens
vieler Denker trägt auch der Umstand bei, dass der Determinis-
mus historisch aus dem Fatalismus, der philosophische Deter-
minismus aus dem theologischen hervorgegangen ist, dass ein
lieber Fatalismus und Determinismus. S. Hartmann, a. a. 0., S. 737
u. Gizyoki, Seite 313—318 u. a. m.
') S. Kap. 1, § 23. '
») Vgl. Herbarts Briefe a. a. 0., Seite 177, 178, wo ausgeführt wird
in Bezug auf in den Fatalismus übergehenden Lehren, »dass, wenn einer
etwas will, dieses Wollen eigentlioh nicht sein Wollen, sondern etwas
Fremdes, was durch ihn wie durch einen Kanal hindurchgegossen werde,
dass er selbst also nicht der Wollende sei, er es also nicht zu verant-
worten habe, er deshalb nicht zu loben und zu tadeln sei, sondern die
eigentliche Wirksamkeit aiisser ihm liege und vielleicht aus den ent-
ferntesten Enden des Universums her in ihm zusammenfliesse''.
Nierairower, .Willenefreiheif . 7
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■vswf^r:
— 98 -
Teil der ersten Hauptvertreter des Determinismus unter dem
Einflüsse theologischer fatalistisch-deterministischer Lehren stand.
So wurde Spinoza von Chasdai Crescas^) in der Preiheitsfrage
beeinflusst,2) der aus theologischen Motiven, allerdings mit philo-
sophischem Ernst, das Preiheitsproblem deterministisch löste,*)
so fällt für Leibniz in der Theodicee das theologische Problem
der Willensfreiheit mit dem philosophischen zusammen.
§ 4. Grund der Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses
der absoluten Straftheorien auf die Straftheorien überhaupt.
Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Straftheorien
und Preiheitslehren hat ergeben, ^) dass nur die absoluten Straf-
theorien von indeterministischem Gnmd und Boden getragen
werden.^) Wie erklärt sich es nun, dass die Abhängigkeit der
absoluten Straflehren verallgemeinert und auf die Straftheorien
schlechthin ausgedehnt wird? Es rührt einfach daher, dass
die absoluten Straftheorien die herrschenden sind — die
Straftheorien. Weshalb? Dies mag hier in aller Kürze an-
gedeutet werden. 1. Das, was ich zur Erklärung des axioma-
tischen Charakters der Vergeltung anführte,*^) erklärt es auch,
dass die Strafe gerne absolut und darum im Sinne der absoluten
Straftheorien gefasst wird. 2. Das Bedürfnis des sittlich ent-
wickelten Menschen absolute Gerechtigkeitsakte zu vollziehen,
sozusagen sittliche Selbstzwec^L^ zu erzeugen, trägt viel zur
Anerkennung der absoluten Straftheorien bei, nach welchen die
Strafe ein Gerechtigkeitsakt an sich ist. 3. Die minder sittlichen
Elemente der Vergeltungsstrafe, die von dem Ursprünge der-
selben, der Rache, herrühren imd sich mit den ethischen Ele-
menten vermengen, wirken nicht wenig und bei nicht Wenigen
*) Chasdai Crescas lebte in der zweiten Hälfte des 14. und Anfang
des 15. Jahrhunderts.
•) S. M. Joel, Zur Genesis der Lehre Spinozas, Breslau 1871, S. öl f.,
ferner von demselben, Don Chasdai Cresoas, Religionsphilosophisohe Lehren,
Breslau 1866, Seite 46-B3.
■) S. Ludwig Stein, Die Willensfreiheit beiden jüdischen Philosophen
des Mittelalters, Seite 46.
*) S. Kap. 2, §§ 20, 21.
^) S. Kap. 2, §§ 18, 19.
•) S. Kap. 2.
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— 99 —
zu gunsten der Vergeltungstheorieii ; denn gerade die Mischling
des rein Sittlichen mit Egoistischem übt eine Anziehungskraft
aus, gewinnt Anhänger in juristischen Kreisen, da das Recht,
das praktisch von grösserer Tragweite ist als die Moral, theo-
retisch angesehen, im Lichte absoluter Sittlichkeit betrachtet,
überhaupt eine Mischung von Ethischem und Egoistischem dar-
stellt. Diese Gründe erklären die Vorherrschaft der absoluten
Theorien, erklären nun mittelbar die Uebertragung der Beziehungen
dieser Theorien aufs Strafrecht überhaupt.
Zusammenfassend lässt sich das Fortwirken des indirekten
Beweises für die Willensfreiheit, trotz aller Widerlegungen des-
selben, aus den irrtümlichen Auffassungen des Preiheits- und
Unfreiheitsbegriffes und aus der Verallgemeinerung der Abhängig-
keitsverhältnisse einzelner vorherrschender Straftheorien erklären.
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/
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Berner Stadien znr Philosophie und ihrer Geschichte.
Band Ol.
Heraufgegeben von
Dr. Ludwig Stein, \
Professor an der Universität Bern.
Zup ©hapaktöpistik
der
Methode und Hauptrichtungen
der
PMlosopMe der Gescbichte.
Von
Dr. Ob. ICappoport.
^.IB«»
Beim.
Verlag von A. Siebert.
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
I. Die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte,
ihre Bedeutung und Methode 1 — 31
IL Der specifische Charakter der geschichtlichen
Gesetzmässigkeit 31 — 48
III. Die Bedeutung des Individuums in der Ge-
schichte 49 — 59
IV. Die Hauptepochen der Entwicklung der Phi-
losophie der Geschichte 60—79
V. Die drei Hauptrichtungen der wissenschaft-
lichen Philosophie der. Geschichte .... 80 — 106
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"iwl
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1. Die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte,
ihre Bedeutung und Methode.
Die Reihenfolge, in welcher die zu lösenden wissenschaftlichen
Probleme sich dem untersuchenden Geiste aufdrängen, ist eine
der lehrreichsten und beachtenswertesten Ercheinungen der Ent-
wickelungsgeschichte des menschlichen Geistes. Die genauere
Betrachtung dieser Reihenfolge bietet uns sehr viel Ueberraschendes
dar, oft, wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, sogar
Unnatürliches. So dürfte uns die Thatsache befremdend gegen-
übertreten, dass das systematische philosophische Denken sich
zuerst mit der Aussenwelt beschäftigte, erst später mit unserem
eigenen Geiste, am spätesten aber mit unseren eigenen Schick-
salen, mit unserem Wohl und Weh auf Erden. Das wichtigste
für uns und unmittelbar nächste wird also zu allerletzt Objekt
der wissenschaftlichen Untersuchung. Die ersten philosophischen
Systeme der Griechen hatten einen kosmologischen Charakter.
Der Urgrund der Aussenwelt war ihre Losung. Schon nachdem
verschiedene in sich abgeschlossene philosophische Systeme ihre
glänzenden Vertreter in Griecdienland gefunden hatten, entstand,
durch die Sophisten des 5. Jahrhunderts angebahnt, eine neue
Epoche, in welcher der Mensch selbst, sein Denken, Thim imd
Lassen zum Objekt der philosophischen Untersuchung gemacht
wurde. Sokrates beklagte sich, dass man über den physischen
Fragen, wie er die kosmologisch-philosophischen Betrachtungen
seiner Vorgänger und Zeitgenossen nannte , die für uns viel
wichtigeren Fragen vernachlässigt: „t/ ioriv nyaßovy n inri xakov
— was das Gute, das sittlich Schöne sei?" Im 14. Jahrhundert
üh. Rtppoport, Die Hauptrichtungon der Philosophie. , 1
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— 2 —
machte Petrarca sich selbst bittere Vorwürfe über seine
künstlerische Freude an einer der herrlichsten Erscheinungen der
Natur, indem er die folgenden, von ihm übrigens missverstan-
denen Worte 1) des Augustinus citiert:
Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus
maris et latissimos lapstis fluminum et oceani ambitum et gyros
siderum, et relinquant se ipsos.
(Sancti Aug. confessionum libri tredecim. Lib. X, 16.
Herausg. von Karl v. Raumer,)
(„Die Menschen gehen zu bewundern der Berge Höhen und
des Meeres gewaltige Fluten Und den weiten Lauf der Ströme
und den Umkreis des Oceans, und die Bahnen der Gestirne und
sie vergessen sich selber.") Derselbe Vorwurf, wie der des Sokrates,
wird am Ende des 19. Jahrhunderts unserer gesamten Wissen-
schaft von einem bedeutenden Schriftsteller gemacht — von
Tolstqj.
Es war demnach in der Natur des Entwickelungsganges
unseres Denkens überhaupt begründet, dass die Philosophie der
Geschichte, die sich mit den für uns wichtigsten Fragen über
die Lebens- und Entwickelungsbedingungen der Menschheit
beschäftigt, zu allerletzt den Versuch machte, sich zu einer
selbständigen Wissenschaft zu gestalten. Dieser Entwickelungs-
gang ist natürlich kein zufalliger, da der Zufall, wie Spinoza
schon lehrte, als ein Asylum ignorantise betrachtet werden muss.
Dieser Entwickelungsgang wird wie durch die Beschaffenheit
der wissenschaftlichen Probleme selbst, so auch durch die ver-
schiedenen zeitüchen Verhältnisse mitbedingt. Es kann nicht
unsere Aufgabe sein, diese Ursachen und ihre Wirkungsweise
hier näher auszuführen.
In Bezug auf die Philosophie der Geschichte wird uns noch
die Gelegenheit geboten werden, auf diese Ursachen zurückzu-
kommen. Zunächst aber tritt uns die folgende Frage entgegen:
Ist eine Philosophie der Geschichte überhaupt möglich'^ Diese
*) Den rechten Sinn der Worte Augustins enthält die unmittelbar
nach dem hier Angeführten folgende Stelle, die lautet: nee mirantur,
quod haec omnia cum dicerem, non eo videbam oculis . . . neo ipsa sunt
apud mey sed imaginea eorum . . . Man könnte glauben, hier einen Kan-
tianer, der sich ins IV. Jahrhundert nach Christus verirrt hat, sprechen
zu hören.
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sF*r
w •
- 3 -
Frage kann gegenwärtig nicht nur überflüssig, sondern auch
seltsam erscheinen. Eine Philosophie der Geschichte ist möglich,
da eine solche vorhanden ist. Ihre P]xistenz scheint der beste
Beweis ihrer Möglichkeit zu sein. So scheint das Unnütze der
von uns gestellten Frage auf der Hand zu liegen. Dürfen wir
es nicht als seltsam betrachten, die Möglichkeit eines Wissens-
zweiges zu bezweifeln, auf dessen Gebiet solche anerkannt grosse
Geister, wie Vico^ Bosstietj Condorcet, Herder, Hegel, Camte,
Btickle und Marx gearbeitet haben ? Kann die Möglichkeit einer
Philosophie der Geschichte, die gegenwärtig eine imifangreiche
Litteratur in allen europäischen Kultursprachen besitzt — eine
Litteratur, geschaffen durch die Leistungen einer ganzen Reihe
von gelehrten Fachmännern, zu denen die glänzenden Repräsen-
tanten des historischen Wissens, wie die eines Macchiavelli,
Mivhelet, Onizot, Laurent und andere zählen — bestritten werden?
Ihnen schHessen sich unter anderen der französische Philosoph
Cousin, der Physiologe Du Bois-Reymond, der Mathematiker
Covmot, der Kulturhistoriker J, Lippert an, die einzelne Fragen
historisch-philosophischer Natur bearbeitet haben. Die blosse
Aufzählung derjenigen, die sich mit der Philosophie der Ge-
schichte befasst haben, zeigt, dass dieselbe das Lieblingsobject
war für Männer aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen
Charakteren, von verschiedener Denkungsart und Beschäftigung.
Wie verschieden ihrem Charakter nach sind nicht der heilige
Augustinus, Macchiavelli und Kant! Und doch fanden sie vm-
geachtet ihrer vielseitigen Bestrebungen alle noch Zeit und Lust,
mit dem sogenannten Wesen der Geschichte, mit dem Schicksale
der Menschheit im grossen und ganzen und den sie leitenden
Gesetzen sich zu beschäftigen. Auch gegenwärtig giebt es keinen
Mangel an historisch-philosophischen Theorien, die die ganze
Vergangenheit der Menschheit zu umfassen, das Wesen der
Geschichte zu entdecken und den Verlauf derselben für die
nächste Zukunft vorauszusehen bestrebt sind. Als Beispiel weisen
wir auf die materialistische Geschichtsauffassung von Marx und
Engels hin, die zu ignorieren in unserer Zeit kaum möglich ist,
wenn man auch mit dieser Geschichtsauffassung nicht einver-
standen ist.
Der Philosophie der Geschichte die Existenzberechtigung
bestreiten zu wollen , scheint auch aus dem Grunde unge-
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1
— 4 —
recht zu sein, da sie ja schon verschiedene Entwickelungs-
phasen durchgemacht hat. Die Philosophie der Geschichte hat
schon ihre eigene Geschichte. Der Engländer Flint (1873, 1893),
der Franzose Rougemont (1874) und der Deutsche Rocholl (1878),
besonders die zwei Erstgenannten, haben umfangreiche Werke
geliefert, die einen geschichtUchen UeberbUck der geschichts-
philosophischen Ideen und ihrer Litteratur enthalten. Es wurde
sogar von verschiedenen Seiten der Versuch gemacht, Gesetze
der Entwickelung geschichts-philosophischer Ideen und Theo-
rien aufzustellen. So z. B. der Italiener Marselli in seinem Werke
„Scienza della storia". Es giebt kaum einen bedeutenden Denker
oder Schriftsteller der Neuzeit, der keiner mehr oder weniger
bestimmten Geschichtsauffassuug gehuldigt hätte, wenn er auch
keine selbständige hatte.
Ungeachtet einer solchen Menge von Zeugnissen, die für
die Möglichkeit, ja sogar Wirklichkeit einer Philosophie der
Geschichte* sprechen, scheint uns nichtdestoweniger die Frage
über diese Möglichkeit berechtigt zu sein, und dies aus folgen-
den Gründen:
1. Weder ist die Methode, noch ist der Umfang der Philo-
sophie der Geschichte festgestellt worden. Sie bilden vielmehr
den Gegenstand vielfacher und wesentlicher Meinungsverschit»-
denheiten.
2. Die von den Geschichtsphilosophen aufgestellten Grund-
sätze bieten ein so buntes und chaotisches Gemisch von Begriffen
und Ideen, die mit einander um ihr Existenzrecht ringen, dass
der Zweifel an der Möglichkeit genauer und unbestreitbarer
Anschauungen in der Philosophie der Geschichte, oder mit
andern Worten an der Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte
entstehen muss. Die Geschichtsphilosophen selbst und viele un-
parteiische Kritiker sprechen sich in diesem Sinne aus. Paulsen
z. B. vergleicht die Litteratur über die Philosophie der Geschichte
mit zahlreichen angefangenen aber nicht vollendeten, an den
Nagel gehängten Unternehmungen. Diese Meinung wird auch
von Bouülier geteilt (Rov. Phil. S. 33, XXI, 1886): „Pour ma
part, j'ai beau chercher dans les systemes compris sous le nom
de Philosophie de Thistoire, je n'y trouve rien qui soit clair,
plausible ou susceptible de deraonstration."
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— 6 —
So auch HelmhoUz: „Die historischen und philosophischen
Wissenschaften bringen es der Regel nach nicht bis zur Formu-
lierung streng gültiger Gesetze mit Ausnahme der Grammatik."
^Die bisherige sogenannte Philosophie der Geschichte, sagt
DcergenSy war und ist eine Reihe von verfehlten Versuchen
gewesen. Was hierauf erkannt worden ist, das mwss von neuem
versucht werden.**
3. Es giebt Denker, die auf Grund der spezifischen Eigen-
schaften der Geschichte die Unmöglichkeit der Philosophie der
Geschichte, dieses eigentlich neuesten Zweiges des Wissens, zu
beweisen glauben. Wir sagen „des neuesten", denn wollte man
unter der Philosophie der Geschichte nicht ein systematisches
Ganzes, sondern einzelne philosophische Betrachtungen verstehen,
zu welchen die Geschichte Anlass gegeben hat, so sind dieselben
so alt, wie die Geschichte selbst, und ihre Möglichkeit, wie auch
ihre volle Berechtigung wird von Niemandem bezweifelt. Jene
Denker aber behaupten, der Charakter der Geschichte gestatte
ihr nicht, eine eigene Philosophie zu haben*.
Unter deiyenigen, welche die Möglichkeit einer Philoso-
phie der Geschichte aus diesem Grunde bestreiten, nehmen die
Hauptstelle Schelling, Schopenhauer und Dilthey ein. Bevor
wir zur Darstellung und Kritik der Ansichten Schellings und
Schopenhauers übergehen, wollen wir die zwei ersten Einwände
gegen die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte prüien.
Der Mangel an einer festgestellten Methode der Philosophie
der Geschichte und der gegenwärtige chaotische Zustand dieser
Wissenschaft können nicht als prinzipielle und entscheidende
Gründe gegen die Philosophie der Geschichte als Wissenschaft
angeführt werden. Denn kaum giebt es und gab es je eine
Wissenschaft, die nicht gewisse Schwankungen oder einen chao-
tischen Zustand durchgemacht hätte. Um so mehr ist ein solcher
Zustand bei einem komplizierten System des Wissens, wie das
der Philosophie der Geschichte ist, begreiflich. Denn ihrer Komp-
liziertheit nach übertrifft sie auch diejenige Wissenschaft, welche
August Comte als die komplizierteste betrachtete, die Socio-
logie, da die Philosophie der Geschichte, die die allgemeinen
Prinzipien und Bedingungen, bezw, Gesetze der geschichtlichen
Entwickelung zu ihrem Untersuchungsobjekt hat, sich der von
der Sociologie schon gewonnenen Thatsachen und Begriffe be-
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— 6 —
dient, und als vollständiges System erst nach der Sociologie auf-
treten kann. Ausserdem sind auch geschichtliche Ursachen eines
solchen chaotischen Zustandes der Wissenschaft vorhanden.
Die Philosophie der Geschichte berührt unmittelbar die dem
Menschen lieb gewordenen Ansichten und seine wichtigsten
Interessen, indem sie die Stelle derselben in der Geschichte zu
bestimmen, und über ihren vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Zustand ein Urteil zu fällen sucht. Da diese An-
sichten und Interessen nicht nur verschiedener, sondern am
häufigsten geradezu entgegengesetzter Natur sind, so wird das
Gebiet der Philosophie der Geschichte zum Schauplatz der hef-
tigsten Kämpfe der Parteien und der verschiedenen Welt- und
Lebensanschauungen. Jede Partei will die Zukunft für nch haben
und benutzt die Geschichte als Kampfmittel. Da aber ^ mit der
Zeit das objektive Forschen in vielen Richtungen je weiter desto
mehr Terrain gewinnt, so ist kein Grund vorhanden, die Mög-
lichkeit einer wissenschaftlichen Versöhnung auch auf diesem
Gebiete Jzu bestreiten, zumal die pessimistische Hypothese der
Ewigkeit des Kampfes der menschhchen Interessen und Grund-
anschauungen durch das weit verbreitete, in der Geschichte
herrschende Entwickelungsprinzip stark erschüttert worden ist.
Gehen wir also zu denjenigen Gegnern der Philosophie der
Geschichte als Wissenschaft über, die ihre Ansicht durch den
Charakter des Geschichtlichen selbst begründet zu haben meinen.
Schelling wirft geradezu die Frage auf: „Ist eine Philo-
sophie der Geschichte möglich?" und antwortet: „Es ist keine
Philosophie der Geschichte möglich," ^) Seinen Satz sucht er auf
Grund folgender Betrachtungen zu beweisen: Geschichte, wie
schon die Etymologie des Wortes zeigt, ist Kenntnis des Ge-
schehenen, Sie hat also zum Gegenstande nicht das Bleibende,
Beharrliche, sondern das Veränderliche^ m Aev Tif^M Fortschrei-
tende, Naturbegebenheiten können ihre Aufnahme in die Geschichte
überhaupt nur der Unwissenheit der Menschen verdanken. Der
Lauf der Gestirne, ihre periodische Erscheinung u. s. w. ist für
den Menschen Geschichte nur so lange als er das Regelmässige
nicht bemerkt, Begebenheiten, die man periodisch regelmässig
wiederkehren sieht, gehören nicht in die Geschichte. Der Cha-
') Werke H. I, p. 466 ff., Stujtg. 1866.
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-^'rr
- 7 - .
rakter des historischen Prozesses als solchen ist nach Schelling
mit einer Konstruktion eines Systems der Philosophie nicht ver-
einbar. ^Was a priori zu berechnen ist, sagt Schelling^ was
nach notwendigen Gesetzen geschieht, ist nicht Objekt der Ge-
schichte, und umgekehrt, was Objekt der Geschichte ist, muss
nicht a priori zu berechnen sein.'^
Schelling will sein Kriterium des Historischen nicht nur
auf die allgemeine, sondern auch auf die individuelle Geschichte,
und sei es auch eines einzelnen Menschen, angewandt wissen.
Er fragt: „Könnten wir die Geschichte einer Uhr denken, die
immer regelmässig geht? Daher ist auch der Mensch, der selbst
Maschine geworden ist (er ass, trank, nahm ein Weib und starb),
kein Objekt, nicht einmal der Erzählung." Er kommt also zum
Schluss : Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine
Geschichte möglich, und umgekehrt, nur was keine Theorie a
priori hat, hat Geschichte.
Die absolute UnmögUchkeit der Wiederholung, die absolute
Individualität also einer jeden geschichtUchen Thatsache und
Erscheinung sind die Gründe, mittelst welcher Schelling die
Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte klar zu legen
sucht. Zum gleichen Schluss gelangt auch Schopenhauer ^ der von
andern Gründen und Ansichten ausgeht. Die Geschichte, behauptet
Schopenhauer y zeigt auf jeder« Seite nur dasselbe unter verschie-
denen Formen : ^Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde
nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden, der eigentlich
wesenthche Inhalt ist überall derselbe." Diesen Grundcharakter
alles Geschehens kann aber nur der Philosoph erfassen: „Die
Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu
ersetzen: ihr ist jede Gegenwart ein Bruchstück." Der Geschichte
fehlt nach Schopenhauer der Grundcharakter der Wissenschaft,
die Subordination des Gewussten, statt deren sie blosse Coordi-
nation desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System
der Geschichte wie doch jeder anderen Wissenschaft. „Sie ist
demnach zwar ein Wissen^ jedoch keine Wissenschaft,^ (Die
Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, § 38.)
Diese Anschauung stimmt ganz mit seiner pessimistischen
Lebensanschauung überein, da nach derselben der Mensch, als
„Subjekt des WoUens", wie ihn die Geschichte nur betrachten
darf, ein „ewig schmachtender Tantalus" ist, der immer „im Siebe
der Danaiden schöpft". (Die W. a. W. u. V., Bd. III, § 38.)
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— 8 —
Hier haben wir es mit zwei entgegengesetzten Ansichten
zu thun: dqr Schelling'schen, der absoluten Individualität des
Geschichtlichen und der Schopenhauer sehen, der absoluten Iden-
tität derselben. ^)
Was bietet uns aber die Geschichte in der Wirklichkeit?
Ist sie eine Reihe von sich wiederholenden Ereignissen oder ein
Komplex von individuellen Erscheinungen? Wir glauben be-
haupten zu können, dass die Geschichte weder das eine, noch
das andere ist. Die geschichtlichen Erscheinungen enthalten
Elemente, die durch relativ unabänderUche, ursprüngliche Eigen-
schaften der menschli(5hen Natur bedingt sind. Diese Erscheinungen
wiederholen sich regelmässig. Andererseits aber giebt es soge-
nannte zufällige, räumliche und zeitliche Verhältnisse, die einen
individuellen Charakter besitzen, die in zwei geschichtlichen
Momenten keineswegs dieselben sein können. Solche geschehen
nur einmal. Alexander der Grosse und seine Zeit mit allen ihren
individuellen Merkmalen waren nur einmal in der Geschichte da.
Es ist unmöglich anzunehmen, dass ein Mann, mit denselben
sittlichen und intellektuellen Eigenschaften begabt, wie Martin
Luther in unserer Zeit genau dieselbe geschichtliche Rolle spielen
würde und genau denselben Schicksalen unterworfen wäre. Die
Zeit und ihre Aufgaben haben sich geändert und so müssen
auch die 'innerhalb derselben auftretenden Erscheinungen sich
verändern. Dessen ungeachtet behalten die von uns angeführten
individuellen Erscheinungen, wie der grosse Macedonier und der
nicht minder grosse religiöse Reformator, etwas, das auch in
unserer Zeit existiert oder existieren kann, das auch für unsere
Zeit Wert und Bedeutung hat. Wäre das nicht der Fall, so hätten
wir für diese Erscheinungen kein Verständnis und die Namen
Alexanders und Luthers wären unserer Geschichte unbekannt
geblieben. Und so ist es auch mit allen geschichtlichen Erschei-
nungen : wenn die absolute Individualität des Geschichtlichen vor-
ausgesetzt wird, ist die Geschichte, als Wissenschaft, überhaupt
eine Sache der Unmöglichkeit. Zwei verschiedene Epochen wären
dann mit zwei Individuen zu vergleichen, die zwei verschiedene
*) Schopenhauer ist zwar der Meinung, dass die geachriebene Ge-
schichte es nur mit dem absolut Individuellen, mit dem „was nur einmal
und dann nicht mehr ist'' zu thun hat.
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— 9 —
Sprachen reden, von denen jeder nur seine eigene versteht und
die daher einander unmöglich verstehen könnten.
Daher lautet unsere Antwort auf die aufgestellte Frage
über das Wesen des Historischen folgenderraassen : Die geschicht-
lichen Erscheinungen wiederholen sich, insofern sie als Produkte
allgemeiner und beständiger Ursachen hervortreten. Die ge-
schichtlichen Erscheinungen wiederholen sich nichts insofern sie
das ' Resultat zufälliger zeitlicher und räumlicher Verhältnisse
sind, deren Identität mit einander sogar in zwei verschiedenen
Fällen nicht denkbar ist. Da aber die beständigen und die
variablen Elemente der geschichtlichen Ereignisse von einander
nicht zu trennen sind, und jedes geschichtliche Ereignis als
solches ein Ganzes bildet, so ist dadurch für die wissenschaftliche
Untersuchung die Möglichkeit gegeben, in dem Geschichtlichen
als solchen überall Gesetzmässigkeit, beziehungsweise Gesetze
festzustellen. Geschichte und Natur sind nicht entgegengesetzt ^
wie es Schelling an der citierten Stelle will, sondern sind eng
'mit einander verbunden, wenn sie nicht ein und dasselbe sind.
ITebrigens stellt Schelling eme offenbare petitio principii auf, indem
er die Unmöglichkeit der Philosophie der Geschichte durch den
von ihm willkürlich angenommenen absolut verä7ider liehen
Charakter des Geschichtlichen zu beweisen sucht.
Eine jede Teilung des Geschichtlichen in natürliche und
geschichtliche Elemente ist künstlich und kann nur durch ein
spezielles Bedürfnis einer Wissenschaft, für welche in Bezug auf
ihre eigene Ziele die einen oder die anderen Elemente aus dem
geschichtlichen Prozesse herausgegriffen werden müssen, gerecht-
fertigt werden. Der Physiologe würde in eine ganz sonderbare
Stellung geraten, wollte es ihm einfallen, die Aufstellung der
physiologischen Gesetze deshalb aufzugeben, weil die Gesetz-
mässigkeit der Erscheinungen seines Gebietes hauptsächlich durch
die Gesetze der Chemie und Thatsachen der Anatomie vorbe-
dingt sind.
Dass die individuellen Merkmale der geschichtHchen Er-
eignisse nicht im geringsten ein Hindernis ihrer Gesetzmässigkeit
sein können, kann auch auf dem Wege der Erfahrung bewiesen
werden, und zwar mit Hülfe der Moralstatistik. Wir können mit
Gewißsheit sagen, dass es keine zwei Fälle des Selbstmordes
giebt, deren Gründe ganz identisch wären. Dessen ungeachtet
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~ 10 -
haben wir eine Statistik des Selbstmordes, die eine merkwürdige
Regelmässigkeit konstatiert, mit welcher sich die^e — vom Stand-
punkte des gesunden Menschen — pathologische Erscheinung
vollzieht. Dasselbe gilt auch von dem Verbrechen. Diese That-
Sache, die von Th. Buckle in seiner „History of civilisation" zu
geschichtlich -philosophischen Zwecken ausgenützt wurde, gab
dem Begründer der Moralstatistik, Adolf Quetelet^ Anlass zu den
oft citierten Worten, die wir seinem Werke „Physique sociale**
entnehmen (Bd. II, pag. 31, 1869): 11 est un budget qu'on paye
avec une regulär äe effrayante^ c*est celui des prisons, des
bagnes et des echafauds. *)
Ferner: On sent combien notre espi^ce marche avec unitt5,
on voit que toutes ses quaüt^s sont aussi bien d(5termin(5s d'avance
que Celles des individus qui la composent semblent, au contraire,
incohörentes et desordonn^es. S. p. 228.
Mit dem Satze, dass ein jedes geschichthche Ereignis von
einem anderen sich unterscheidet, ist noch wenig gesagt. Die
Unmöglichkeit einer philosophischen Beobachtung der Geschichte,
ist damit durchaus nicht bewiesen. Um sie zu beweisen, müsste
festgestellt werden, dass die unterscheidenden Merkmale ihrer
Wichtigkeit und Zahl nach, diejenigen der Aehnlichkeit und
Gleichförmigkeit übertreffen, was unmöglich ist, da die Einförmig-
keit des organischen Baues des Menschen, seiner Punktionen,
wie auch seiner Hauptbedürfnisse ein unleugbares Zeugnis ab-
legen, dass die Merkmale der Identität die Oberhand behalten.
J, St, Mill ist auch der Meinung, dass es keuie zwei gleich-
artigen Fälle in der Geschichte geben kann, jedoch hindert ihn
dies nicht, in seinem „System der Logik" zu behaupten: „Alle
socialen Erscheinungen sind die der mensclilichen Natur, welche
durch Wirkung äusserer Umstände erzeugt werden, folglich wenn
') Dass diese berühmten Worte keine fatalistische Spitze in Quo-
telets Gedanken hatten, wie es manche später wollten, ztMgen deutlich
Feine eigenen Schlussworte: „C*est celui-lä (»Das Budget der VtTbrcchen*)
qu'il faudrai s'attacher ä röduire", wie folgende Sätze: 11 suffirait, sans
doute, de modifier les causes qui r^gissent notre Systeme social pour mo-
diüer aussi les r^sultats döplorables que nous lisons annuellement dans
les annales des crimes et des suicides (vide p. 368) oder: c'eat la ^oiM,
qui prepare le crime et le ooupable n'est que Vinstrument qui Vexeoute.
(Vide p. 428.)
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— 11 —
die Erscheinungen des menschlichen Denkens, Fühlens und
Wirkens unabänderlichen Gesetzen unterworfen, so sind auch
die Erscheinungen des socialen Lebens unabänderlichen, von d'^r
menschlichen Natur abgeleiteten Gesetzen unterworfen."
Der Begründer der Sociologie, August Comte^ definiert die
von ihm geschaffene Wissenschaft, die es doch mit sich wieder-
holenden Erscheinungen zu thun hat, als Geschichte ohne Namen
der Individuen und sogar Völker („histoire sans noras des homraes
ou meme sans noms des peuples").
Wir haben die Ansichten Schopenhauers und Schellings
über die Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte — und
diese zwei Denker könnten als typische Beispiele für die meisten
Gegner der Philosophie der Geschichte dienen — zu widerlegen
gesucht, ohne vms auf ein Prinzip zu berufen, welches diese
beiden Denker in dieser wichtigen Frage ausser Acht gelassen
haben. Wir meinen das Entwicklungsprinzip, das die moderne
Wissenschaft beherrscht.
Dier^/öf</i?^Individualität der geschichtlichen Erscheinungen,
welche wir nicht verneinen, verhindert nicht, dass eine allge-
meine Tendenz in der Geschichte, sozusagen eine Centralrichtung
existiert, in Bezug auf welche allen anderen Erscheinungen die
Rolle der Faktoren und der Bedingungen zugeschrieben werden
muss. Die Ideen der Entwicklung und des Fortschrittes in der
menschlichen Geschichte drücken diese Centralrichtung aus. Der
russische Professor Karejew nennt die Idee des Fortschrittes
,.die Seele der Philosophie der Geschichte.'^ „Die Weltgeschichte
ist nichts anderes, als die Entwicklung der ewigen Interessen
der Menschheit," sagt K. E. von Bser.
Dadurch aber, dass die Philosophie der Geschichte die allge-
meinen Prinzipien und Bedingungen der geschichtlichen Entwick-
lung überhaupt zu ihrem Objekte hat, unterscheidet sie sich von
der Sociologie, die nur die Statik und Dynamik des sogenannten
socialen Körpers erforscht. Die Gesellschaft ist die unentbehrlichste
Bedingung jeder Entwicklung; ohne Gesellschaft keine menschliche
Entwicklung. Sie ist aber nicht die einzige Bedingung. Die so-
ciale Evolution deckt sich nicht mit &qt geschichtlichen Evolution
überhaupt, da die menschliche Natur keine „tabula rasa" ist, und
jede Gesellschaftsform aus dem Menschen nur das zu machen
vermag, was er gemäss seiner Naturanlagen werden kann. Die
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— 12 —
Gesellschaftsformen sind nicht nur Ursachen der individuellen
Entwicklung, sondern andererseits auch Produkte seiner natür-
lichen Strebungen und Kräfte. So sind die Versuche, die Phi-
losophie der Geschichte durch die Sociologie zu ersetzen, wie es
mit vollem Bewusstsein der talentvolle österreichische Sociologe
Gumplowitz unternommen hat, als unzureichend zu betrachten.
Wenn August Comte sein geschichtlich -philosophisches
System seiner Sociologie einverleibt hat und viele ihm nach-
ahmten, so erklärte sich dies leicht aus dem Misskredit, in
welchem die Philosophie bis in die letzte Zeit bei der gebil-
deten Welt stand. ^) Uebrigens gebraucht Comte öfters die
Bezeichnung Philosophie de Thistoire'^) in seinem interessanten
und für den Entwicklungsgang des Begründers der positiven
Philosophie äusserst wichtigen Essays: „Opuscules de Philo-
sophie sociale^, die vor seinem „Cours" zum erstenmale 1819
bis 1828 erchienen.
Comte betrachtet die Versuche Kants und Herders auf
dem Gebiete der „Philosophie der Geschichte" als Anzeichen
einer allgemeinen Tendenz „unseres Zeitalters zu j^ositiven Ideen
in der Politik." Die Sociologie ist eigentlich für A. Comte das,
was wir jetzt Philosophie der Geschichte nennen. ,La theorie
fondamentale de T^volution humaine est assez (5tablie maintenant
pour pr^sider ä la construction directe de la philosophie de
rhistoire." «)
Die Philosophie als solche wurde mit verschiedenen philo-
sophischen Konstruktionen a priori identifiziert und verworfen.
Die Philosophie der Geschichte teilte das Schicksal der eigent-
lichen Philosophie. Th. Buckle nennt sein berühmtes geschichts-
philosophisches Werk „History of civilisation", ohne genau fest-
zustellen, was wir unter „Civilisation" zu denken haben.
Dieses Misstrauen gegen philosophisches Denken ist ge-
schichtlich schon überwunden, nachdem es sich erwiesen hat,
dass die wissenschaftliche Philosophie nicht als contradictio
in adjecto betrachtet werden darf. Die allgemeinen Prinzipien
') Siehe z. B. ,Die Philosophie der Gegenwart*, M. Brasch, S. X XL
') Er bezeichnet sie oft auch descriptiv: y,VHude philosophique sur
l'ensemble de Thistoire de la civilisation". (S. z. B. Opusoules, p. 147, 1883.)
*) Vergleiche A. Comte, Systeme de politique positive, 1853, III, 70.
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rr^
— 13 —
der Geschichte dürfen also sich nicht den Namen der Philosophie
scheuen, mit der die Namen der genialsten Denker der Mensch-
heit, wie Plato, Aristoteles, Spinoza, Kant, um nur die grössten
zu nennen, so eng verbunden sind.^)
Die Idee der Entwicklung in der Geschichte macht fast
überflüssig die Widerlegung derjenigen Gründe, welche gegen
die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte sich richten, die
aus folgenden Prämissen ausgehen: 1. aus unseren unzureichen-
den geschichtlichen Kenntnissen und 2. aus der ungemeinen
Kompliziertheit der geschichtlichen Erscheinungen. So behauptet
Ernst von Lasaul, ein Vertreter der theologischen Geschichts-
auffassung: „Eine Philosophie der Geschichte zu schreiben wird
iimner ein Wagnis sein, so lange die Bewegung des menschlichen
Lebens auf Erden ihr Endziel noch nicht erreicht hat. Denn
erst wenn die ganze Bewegung vollendet und in sich abge-
schlossen wäre, könnte aus der Fülle des Lebens auch die volle
Erkenntnis desselben geboren werden" (Ph. d. G., 1866, S. 6).
Sich auf die Ergebnisse der positiven Wissenschaften
stützend, sagt JRaoul Eosieres *) (Rev. polit. et litt., 1882, p. 332) :
^Nous sommes Obligos de reconnaitre que Thistoire de la plupart
de societ(5s aujourd'hui existantes nous est presque entiferement
inconnue." Er stellt folgende Rechnung an: Unsere Geschichte
kennt fünf oder sechstausend Jahre menschlicher Existenz, während
Menschen schon vor 13,000 Jahren in Aegypten, vor 50,000 in
Amerika und vor 100,000 Jahren in Bassin Somme gewohnt
haben. So weit RosUres, Wie gross unsere Unkenntnis der
älteren Perioden der Geschichte sein mag, so viel ist gewiss,
dass diese Geschichte, wenn sie nur wirklich ein Produkt der
Entwicklung darstellt, in ihren für uns wichtigsten Momenten
bekannt ist. Und da nach einem elementaren Gesetz der Ent-
wicklung die nachfolgenden Perioden Ergebnisse der vorher-
gehenden sind, von denselben bestimmt werden und dessen
Stempel an sich tragen, so kann aus der Wirkung (vergl. Spinoza,
Eth. I, Alinea 4) auf ihre Ursachen leicht zurückgöschlossen
^) Im III. Band seines Systeme de politique positive 1853 ist auf
dem Titelblatt zu lesen: Tome III, cooteoant la dynamique sociale ou le
trait^ g6n6ral des progrfes humains (Philosophie de Thistoire).
») Id. Rev. pol. et litt., III., 1882, Ulm« s^rie, p. 140.
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— 14 —
werden, wenn wir das Gesetz der Hervorbringung der Wirkung
kennen. Und um das Gesetz, bezw. die Richtung der Entwicklung
zu kennen, ist es nicht notwendig, die ganze Reihe dieser Ent-
wicklung beobachtet zu haben. Ein beträchtlicher Teil dieser
Reihe genügt, um die ganze Reihe zu kennen, wie nur ein Teil
des Kreises notwendig ist, um seinen Radius oder seine analy-
tische Gleichheit zu finden. Und wie es Cuvier genügte, einen
Knochen zu haben, um ein längst verschwundenes Tier wissen-
schaftlich zu rekonstruieren, so bedarf der Evolutionist nur einer
Periode der Entwicklungsreihe, um das Gesetz der Reihe zu
finden. Ist hier eine Lücke vorhanden zwischen Prämisse und
Schluss, so ist es dieselbe, welche bei jedem induktiven Verfahren
sich einstellt, indem aus so und so viel Fällen ein allgemeiner
Schluss gezogen wird, welcher für unser ßewusstsein mit Not-
wendigkeit behaftet ist. Herbert Spencers Verfahren, z. B. bei
der Aufstellung seines Entwicklungsgesetzes, wird, ungeachtet
der unzureichenden Kenntnisse der Vergangenheit und Zukunft,
sogar von den Gegnern dieser bestimmten Evolutionstheorie kann»
als unwissenschaftlich bezeichnet werden können. Schon die Be-
stimmung der Richtung der Entwicklung, ihre^ Bedingungen und
ihre Polgen für das menschliche Wohlsein und Handeln in der
Gegenwart und nächsten Zukunft könnte den Inhalt einer umfang-
reichen Philosophie der Geschichte bilden. Die allgemeine An-
nahme des Entwicklungsprinzipes ist ebenso wenig eine conditio
sine qua non seiner Wissenschaftlichkeit, wie die allgemeine
Anerkennung des Darwinismus oder des kopernikanischen Systems
die notwendige Bedingung der Wissenschaftlichkeit dieser Lehren
ausmacht. Dass sogar die letztere Theorie nicht allgemein an-
erkannt ist, beweisen die jährlich verhältnismässig zahlreich
erscheinenden Schriften gegen dieselbe. Es ist auch folgender
Umstand für die Entwicklung der Philosophie der Gesöhichte
von Wichtigkeit. Wären auch mathematische-exakte Gesetze
geschichtlich-philosophischer Natur nicht möghch, so wäre noch
dadurch die Unmöglichkeit der Philosophie der Geschichte nicht
dargethan, obwohl es Meinungen giebt, dass die Wissenschaft
nur erst mit der mathematischen Formel da ist (so Du Bois-
Reymond in seinem berühmten Aufsatze „Grenzen des Natur-
erkennens," und ein französischer Denker, indem er in Ueberein-
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— IB —
Stimmung mit Descartes, Hobbes und Spinoza sagte : „la science
vit de nombre et du mesure.*^ ^)
Mit Recht aber sagt dagegen Cournot in seinem umfassen-
den Werke: „Considöration sur la marche des idees et des
^venements dans les temps modernes," 1872, Pref. III. Qu'il y
ait ou qu'il n'y ait pas des lois dans Thistoire, il suffit qu'il y
ait des faits et que ces faits soient, täntöt subordonnöes les
uns aux autres, tantöt indöpendants les uns des autres, pour
qu'il y ait lieu ä une eritique dont le but est de d^meler, ici
la Subordination, lä Tindöpendance. Et comme cette eritique
ne peut pas preJtendre ä des dömonstrations irr^sistibles, de la
nature de Celles qiü donnent la certitude scientifique, mais que
son röle se borne ä faire valoir des analogies, des inductions,
de genre de celles dont il faut que la philosophie se contente
(sans quoi ce serait une science, comme tant de gens Tont reve,
mais toiyours vainement et ce ne serait plus la philosophie).
Cournot gesteht also der Philosophie nicht nur das Recht
zu erforschen zu, sondern auch ein gewisses Recht zu erraten.
Dieses Recht wird der Philosophie kaum streitig gemacht werden
können, da auch die exakte Wissenschaft von diesem Rechte
einen reichlichen Gebrauch macht — in der Form der Hypothese,
der die Qualität des Wissenschaftlichen nicht abgesprochen wird. 2)
Zu dieser sozusagen wissenschaftlichen Toleranz berechtigt noch
mehr die Eigentümlichkeit des praktischen Gebietes, auf welchem
die Erscheinungen so kompliziert sind und wo mehr als irgend
anderswärts die Maxime Pascals ihre volle Berechtigung hat:
Besser irren als ewig zweifeln.
Auf dem Gebiete der Praxis, wo nicht das Denken,
welches auch im „ewigen" Zweifel eine gewisse Selbstgenüg-
samkeit finden kann, das Ziel ist, sondern das Handeln, welches
zu oft eine sofortige Kenntnis der Lage fordert, müssen wir
uns fast immer mit mangelhaftem Wissen oder Wahrschein-
lichkeit begnügen. Als Beispiel sei hier nur die Anwen-
dung der Wahrscheinlichkeitstheorie für praktische Zwecke der
Lebensversicherungsgesellschaften angeführt.
*) Tarde, La nature et Thistoire.
') Sein kühnes Wort Hypotheses non fingo hat Newton selbst
zum Glück nioht konsequent aufrechtgehalten.
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— 16 —
Die Philosophie der Geschieht^ ist, wie wir es zu beweisen
versuchen werden, von solcher grossen Bedeutung für den den-
kenden und handelnden Menschen, dass man fast geneigt wäre,
die berühmten Worte Voltaires, die sich auf das Dasein Gottes
beziehen, auf die Philosophie der Geschichte anzuwenden : exi-
stierte keine Philosophie der Geschichte, so müsste man sie er-
finden, vorausgesetzt, dass das „Erfinden*' auf wissenschaftlichem
Wege möglich wäre. >
Die Wichtigkeit der Philosophie der Geschichte ist zwei-
facher Art: theoretischer und praktischer. Theoretisch ist sie
wichtig nicht nur als Selbstzweck, als Mittel zur Befriedigung
unseres wissenschaftlichen Triebes oder — wie ihn Du Bois Rey-
mond genannt hat, unseres Causalitätstriebes, sondern auch als
notwendige Bedingung einer wissenschaftlichen Geschichte über-
haupt. So sagt der französische Geschichtsschreiber H. Taine
(Essai sur Tite Live) : L'historien est donc philosophe, il ne
ressemble des faits que pour trouver des lois . . . Peu lui Importe
desormais de voir passer devant lui Tarm^e des ev^nementis
disperses comme ils le sont en differents lieux, en differents
temps. Ce vain plaisir de curiositö se tourne pour lui en ma-
laise, il essaye ä chaque instant de les arreter au passage, por-
tant les mains en tous sens pour saisir les chaines invisibles •
que les lient, afin de voir partout la necessit(5 maitresse de la
fortune. „C'est un bonheur et un besoin que de trouver ce
plan Cache, non seulement parce que Tordre est beau, mais
parce qu'un fait dont on ne voit pas la cause reste incertainj
flottant dans Vair^ sur le point d'etre empörte par la moindre
difficult^ (lui surviendra. Les causes trouv^es sont des preuves
ajout^es et une explication vaut une temoignage; il faut (jue
le Corps entier de Thistoire revendique le fait et Tattache par
une necessit^ certaine pour qu'il seit acquis a la vt5rite."
Diese Gedanken des Autors der „Origines de la France
contemporaine** sind von um so grösserer Bedeutung, als die Ge-
schichtsschreiber vom Fach grösstenteils die philosophischen
Arbeiten auf demselben Gebiete sehr gering schätzen. *)
*) Die Philosophie der Geschichte als ein mächtige! Mittel der histo-
rischen Kritik ist schon am Ende des XIV. Jahrhunderts von einem ar-
abischen Denker Ibn Khaldun mit einer grossen Klarheit und Entschieden-
heit gewürdigt worden. Vgl. Vorrede und Einleitung zu seinen „Prole-
gomena*.
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— 17 — .
W. V. Humboldt erklärt die richtige Feststellung einer That-
sache für das schwierigste Unternehmen der Geschichtsohreibung.
Dass die Philosophie der Geschichte die Lösung dieser schwie-
rigen Aufgaben erleichtert, ist auch die Meinung Heinrich
Ritters. In seiner ,,Encyklopädie der philosophischen Wissen-
schaften^ sagt er folgendes: „Die Thatsachen der Erfahrung,
welche wir durch eigene Beobachtung und durch kritisch ge-
prüfte Ueberlieferung sammeln können , sind voller Lücken.
Aus solchen lückenhaften Stoffen würden wir kein nur einiger-
massen haltbares Gebäude aufführen können. Dies gilt von
jedem Gebiete der Erfahrung, am meisten von der Geschichte
des morahschen Reiches . . . Nur Trümmer des wirklich Ge-
schehenen sind zu unserer Kenntnis gekommen, sowie auch nur
Bruchstücke der Natur von uns erkundet werden können. Wenn
wir also ein wissenschaftlich zusammenhängendes Gebäude aus
diesen Trünmiern oder Bruchstücken errichten wollen, so werden
wir allerdings einer Konstruktion derselben bedürfen" . . . (S. 60).
Diese philosophische* Arbeit ist selbst dann für die Ge-
schichte von Nutzen, wenn sie von solchen, die nicht berufs-
mässig Geschichte treiben, gepflegt wird. Macaulay meint
sogar, dass auch auf dem Gebiete des geschichtlichen Wissens
eine gewisse Teilung der Arbeit notwendig sei. Während die
Einen das eigentliche Feld der Geschichte bearbeiten, das un-
geheure Material für dieselbe zusammenbringen, beschäftigen sich
die Anderen damit, dieses Material nach allgemeinen Prinzipien
zu prüfen und zu ordnen und dadurch den Wert dieses Materials be-
deutend zu erhöhen. Vielleicht, fügen wir hinzu, ist eine solche
Teilung einstweilen durch die Natur der Sache selbst bedingt.
Indem die gelehrten Geschichtsforscher sich ihr ganzes Leben
hindurch mit den einzelnen Thatsachen beschäftigen, ver-
lieren sie das Verständnis für das Ganze, während der Sinn für
das Allgemeine bei dem überwiegend philosophischen Geiste
durch Gewohnheit und Anlage zur zweiten Natur geworden ist.
Aber wie wichtig aunh die Dienste seien, die die Philosophie
der Geschichte, der eigentlichen Geschichte leistet oder leisten
kann, sie hat ausserdem auch selbständig ihren Wert und Bedeutung.
Eine nähere Bekanntschaft mit den wichtigsten geschichts-
philosophischen Fragen wird uns diesen Wert klar machen.
Werfen wir daher einen allgemeinen Blick auf die Hauptfragen,
Oh. Kappoport, Die Hauptrichtungen der Philosophie. 2
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- 18 —
die auf dem Gebiete der Philosophie der Gteschichte die Geister
in Bewegung setzen, damit wir ims nicht nur die Bedeutung
dieser Fragen vergegenwärtigen, sondern auch eine Einsicht
in die Natur dieses umfangreichen Gebietes gewinnen. Zuerst
heben wir die Frage über das Wesen der Geschichte hervor.
Ist die menschliche Geschichte ein ewiges Zurückkehren ab-
gelebter Formen, wie es die Theorie Vicos der Corsi und Ri-
corsi {Pascal spricht von „itus*' und „reditus^) behaupten zu
können glaubte? Oder ist sie, wie der amerikanische Sociologe
Carey meint, „eine Bewegung ins Unendliche^ und zwar mit
zunehmender Geschwindigkeit? Sollen wir der gemässigten An-
sicht des Kulturhistorikers Tylor, der zwar die Kontinuität des
Fortschrittes bezweifelt, aber dafür behauptet, dass „im ganzen
der Fortschritt bei weitem den Rückschritt übertroflfen hat*' bei-
stimmen, oder der des englischen Oekonomisten Bagehot (,Les lois
scientifiques du d^veloppement des Nations*'), der den Fortschritt
als eine „seltene Ausnahme" bezeichnet? Müssen wir mit Hegel
als Ziel der geschichtlichen Entwicklung die Freiheit annehmen,
oder in Einklang mit der pessimistischen Geschichtsauffassung,
die ihren populären Ausdruck in dem von Hartmann beeinflussten
Kulturhistoriker v. Hellwald^ gefunden hat („Kulturgeschichte
in ihrer natürUchen Entwickelung", Bd. II, S. 723—724, 1877),
die blinde Entwicklung in der Geschichte walten lassen, die
„jede Vorstellung der Teleologie vernichtet** und in der Zu-
kunft die Menschheit zu einer „ewigen Ruhe des Todes \md
des Gleichgewichts" bringen wird? Sollen wir mit Herder die
Geschichte als die allmähHche Realisation der Idee der Huma-
nität oder, mit der Darwin'schen Richtung in der Sociologie, als
einen unerbittlichen Kampf, wo nur „die Stärksten sich erhalten,"
betrachten? Ist die Geschichte ein künstUches Produkt des
menschUchen Willens, wie */. J. Rousseau^ der klassische Ver-
treter der Theorie des „Contrat social", meinte, oder ist sie ein
natürliches Erzeugnis biologischer Kräfte, wie es Comte^ Spencer^
E»pinas und viele andere annehmen zu dürfen glauben? —
Und dann — wer ist der Urheber oder das Hauptagens der
Geschichte? Ist es der freie menschliche Wille? Ist es der blinde
Zufall? Oder die eiserne Notwendigkeit äusserer Verhältnisse?
Oder ist die Geschichte vielleicht ein Produkt der im Innern
des Menschen waltenden Kräfte? Jede dieser inöglichen An-
schauungen hat ihre Vertreter.
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— 19 -
Wie die Welt nach den theologischen Kosmogonien ein
Gedanke Gottes, so ist auch die Geschichte nach der theolo-
gischen Auffassung ein Produkt göttlicher Weisheit. Ausser der
übernatürlichen Macht Gottes, wurde auch die Macht des un-
abwendbaren Schicksales (bei den Griechen rvxv» i"^«^» elfxaQ'
ftevri) als Prinzip des irdischen menschlichen Daseins aufgestellt.
So sagt Dante :
„Egli (Fortuna) provede, giudica, e persegue
Suo regno comme il loro gli altri Dei**'
•7. J. Rousseau vertritt den freien Willen in der Geschichte.
Nach ihm ist die gesellschaftliche Verfassung ein Kunstwerk,
die Gesellschaft ein freiwilliges Produkt des „Contrat social.*' *)
Friedrich der Grosse erklärte den Zufall für den Meister der
Geschichte : „Plus on vieillit, plus on se persuade que sa sacr^e
M^estö le Hasard fait les trois quarts de ce miserable univers".
Themas Buckle ist der gründlichste Vertreter der Herrschaft
der Natur und Laurent nennt mit Recht dessen Lehre „le fata-
lisme de climat**, obwohl dadurch nur eine Seite der Geschichts-
auffassung Buckles gekennzeichnet ist, denn dieser erkennt
andrerseits ani dass die Herrschaft der äusseren Natur durch
diejenige der sich entwickelnden Vernunft begrenzt und bei hoher
Entwickelung auch beseitigt werden kann.
Hippolyte Taine will die inneren menschlichen Kräfte in
der Geschichte gelten lassen. Er nennt die Geschichte „die
Lösung einer psychologischen Aufgabe". Und dazwischen stehen
vermittelnde Ansichten (so H. Ritter^ siehe Rocholl, I, S. 340), so
dass alle möglichen Kombinationen erschöpft zu sein scheinen.
Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, oder
des Einzelnen zum Ganzen und umgekehrt bildet ein nicht
minder interessantes Thema der heftigsten Diskussionen. Ist die
Gesellschaft Produkt des Individuums oder umgekehrt? Ist es
der Einzelne, der das bewegende Prinzip in der Geschichte dar-
stellt oder die Masse? Sind es heroische Persönüchkeiten, die
der Geschichte das Gepräge ihrer mächtigen Individualität auf-
drängen? Oder sind es die Schwachen, oder, wie der moderne
Ausdruck heisst, die „Vielzuvielen", die durch Macht der Asso-
ciation in der Geschichte das entscheidende Wort führen? Ist
*) Vergleiche Espinas: Lee soci^tös des aniraaux. Ch. I.
^V:-
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- 20 —
die Gesellschaft nur eine Summe von Individuen, und ist ihre
Macht nur eine einfache Summe individueller Kräfte, oder ist
sie ein lebendiges Ganzes, ein Organismus sui generis, der neue
Kräfte entwickelt? Existiert der Einzelne der Gemeinschaft
wegen oder umgekehrt? Wird die Freiheit des Einzelnen in der
Gesellschaft unterdrückt, oder findet sie erst nur in derselben
die MögHchkeit ihrer vollen Entwickelung und ihres vollen Ge-
deihens? Alle diese Fragen werden verschieden beantwortet. Wir
werden einige Antworten auf diese wichtigsten Fragen der Phi-
losophie der Geschichte hervorheben, um den jetzigen Zustand
derselben einigermassen zu kennzeichnen.
Der tiefsinnige Lotze sagt im dritten Bande des „Microcos-
mus", der eine Fülle feinster tmd scharfsinnigster geschichts-
philosophischer Betrachtungen enthält, folgendes: „Fast überall ist
die Freiheit des Einzelnen an der Uebermacht des allgemeinen
zu gründe gegangen." Diese Ansicht erinnert an die pessimis-
tische Weltanschauung Schopenhauers, nach welcher das Indi-
viduum stets uni überall im Namen der Erhaltung der Gattung
geopfert wird. Herbart aber: Die Weltgeschichte ist eine Schule,
nicht für die Gattung, sondern für jeden einzelnen Menschen.
Keiner derselben wird einem angenommenen Weltplan ge-
opfert.
Was das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft betrifft,
so gehen die Meinungen nicht minder auseinander. So glaubt der
Kulturhistorikfer Bastian : „Der Einzelmensch ist ein Unding, im
besten Falle ein Idiot, nur in der Gesellschaft kommt der Ge-
danke durch Sprachaustausch zum Bewusstsein, die Menschen-
natur zur Geltung. Als das Primäre ergiebt sich also der Ge-
danke der Gesellschaft, der Gesellschaftsgedanke, und erst aus
ihm, durch spätere Analyse, wird der Gedanke des Einzelnen
zu gewinnen sein". Mit Enthusiasmus begrüsst diesen Gedanken
der von uns schon erwähnte Sociologe Gumplowitz in seinem
Werke „Grundriss der Sociologie", indem er sagt: „das sind
goldne Worte, die wir als Motto der Sociologie acceptieren".
Dagegen H. Lotze : „Nur die eiuzelnen lebendigen Geister
sind die wirksamen Punkte im Laufe der Geschichte ; alles All-
gemeine, das sich verwirklichen und zu einer Macht werdt n
soll, muss sich erst in ihnen zu individueller Lebendigkeit ver-
dichten, und dann durch einen Hergang der Wechselwirkung
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"WH^
— 21 —
zwischen ihnen, sich zu allgemeiner Anerkennung ausbreiten".
(Mikr. III. Bd., S. 65).
Noch weiter in dieser Richtung geht A. Rondellet: „La
civilisation prise dans son ensemble n'est pas autre chose que
Texpression de notre nature morale, et il n'y a rien de plus dans
rhomme social que dans Tindividu (P. 77 „Philos. des sciences
soc", 1883).
Die Einseitigkeit dieser beiden Ansichten, in ihrer Aus-
schliesslichkeit genommen, liegt auf der Hand. Es ist aber nicht
unsere Aufgabe, diese Fragen an dieser Stelle einer kritischen
Untersuchung zu unterziehen.
Der Einfluss heroischer Persönlichkeiten wird am höchsten
von Carlyle^) gepriesen, der die Geschichte als „die Biographie
der grossen Männer" definiert.
Dass der Staat oder die organisierte Gesellschaft ein Grab
der individuellen Freiheit ist, bildet für die extremen Individua-
listen, wie Max Stirner und seine Anhänger, ein sociales Axiom,
welches sie daher gar nicht zu beweisen suchen. „Der Staat*)
hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu
bändigen, zu subordinieren, ihn irgend einem Allgemeinen unter-
than zu machen ; er dauert nur so lange, als der Einzelne nicht
alles in allem ist, und ist nur die deutlich ausgeprägte Beschränkt-
heit Meiner, meine Beschränkung, meine Sklaverei. Niemals zielt
ein Staat dahin, die freie Thätigkeit des Einzelnen herbeizuführen,
sondern stets die an den Staatszweck gebundene. Jede freie
Thätigkeit sucht der Staat durch seine Censur, seine Ueber-
wachung, seine Polizei zu henmien und hält diese Hemmung für
seine Pflicht, weil sie in Wahrheit Pflicht der Selbsterhaltung
ist. Der Staat will aus dem Menschen etwas machen, darum leben
in ihm nur gemachte Menschen, jeder der Er selbst sein will ist
sein Gegner und ist nichts." (S. 263.)
Zu dieser anarchistischen Auffassung des Staates steht die
aristotelische im prinzipiellen Gegensatz. Seine PoUtik fängt mit
folgenden Worten an (aufgenommen von Spencer in „Justice") :
„Da jeder Staat sich als eine Gemeinschaft darstellt, und jede
Gemeinschaft wegen eines Gutes sich gebildet hat (denn alle
handeln in allem nur wegen etwas, was sie für ein Gut halten),
') Ihm folgt Ralph Waldo Emerson in seinen geist- und lichtvollen
Essays ^Representative Men*.
•) Stirner: .Der Einzige und sein Eigentum*.
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— 22 —
«
SO erhellt, dass alle Gemeinschaften nach einem Gute streben
und dass insbesondere die vornehmste und über allen anderen
stehende Geraeinschaft nach dem vornehmsten Gute strebt ; dies
ist aber die Gemeinschaft, welche man den Staat imd die staat-
liche Gemeinschaft nennt."
Wenn wir von den Fragen über das Wesen und den Ur-
heber des geschichtlichen Prozesses und über das Wesen und
die Bedeutung des Individuums und der Gesellschaft zur Frage
nach den Hauptfaktoren der geschichtlichen Entwicklung über-
gehen, so begegnen wir auch hier einem heftigen Kampf
zwischen verschiedenen Prinzipien. Das Prinzip der Rasse zum
Beispiel ist für viele das wichtigste in der Geschichte. „Au
XIX® sifecle, sagt Laurent^ la race a remplacö le climat et la
nature dans les spöcidations philosophiques sur Thistoire."
Renan sucht die Religion .und die Philosophie eines Volkes
durch den Charakter der Rasse, der es angehört, zu erklären.
Aus den Veranlagungen, aus dem Rassencharakter der Semiten
leitet er ihren Monotheismus, Prophetismus und Spinozas Pan-
theismus ab.i)
Auch Fränck sagt: „Si Tlndo-Europ^en est sup^rieur au
Semite, c'est par son Organisation physique" {Laurent Phil,
de l'hist. 139 ff.). %
Eine der Rassentheorie analoge ist die völkerpsychologische
Richtung von Lazarus und Steinthal^ die in der Beschaffenheit
des sogenannten Volksgeistes ein entscheidendes Moment für die
Entwicklung sieht.
Der intellektuelle Faktor wird von Aug, Comte als der
wichtigste betrachtet. „On ne saurait hösiter ä placer en premifere
ligne r^volution intellectuelle, comme principe n^cessairement
pr^pondörant de Tensemble de Fevolution de Thumanit^.*^ (Ph.
pos., IV., s. 459 ff. In der Dynamik noch mehr als in der Statik.)
Der ChemÜL^rJustus Liebig erkennt im Nahrungsbedürfnisse
die Quelle aller individuellen und gesellschaftlichen Erscheinungen.
So meint er:
*) Histoire g^n^rale des langues s^mitiques, pag. 4 ff. So sagt er
u. a. ,La oonscience B^mitique est olaire, mais peu ^tendue; eile oom-
prend merveilleuBement Tunit^, eile ne fait pas atteindre la multiplicii^.
Le monotMisme en r^sume et en explique toui les caract^res. Y. p 5.
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- 23 - '"/'V^
^C'est une v^ritö si triviale qu'on ose k peine T^noncer,
que si Fhomme pouvait vivre d'air et d'eau, les id^es de maitre
et de serviteur, de prince et du peuple, d'ami et d'ennemi,
d'amiti^ ou de haine, de vertu et de vice, de bien et de mal,
etc., n'existaient pas." („Les lois naturelles de ragriculture*'). ^)
Derselbe : La loi (naturelle) est ä son (de Thomme) Service,
et le serviteur sert son maitre. Ib. 109.
Toutes les grandes ömigrations des peuples ont eu Heu de
pays devenus infecondes vers des contr^es plus fertiles. Ib. 110.
L'organisation des Etats, la vie sociale et de famille, les
rapports mutuels des hommes, les m^tiers, Tindustrie, Hart et la
science, bref tout ce qui fait Thomme ce qu'il est, sont dus
uniquement ä cette circonstance qu'il possfede un estomac et qu'il
est soumis ä une loi naturelle qui Toblige ä consommer journelle-
ment une certaine quantitö de nourriture qu'il doit soustirer ä
la terre par son activitö et son habiletö, attendu que la nature
ne la lui offre qu'une quantite tout-ä-fait insuffisante.' ^)
Der Franzose Le Bon fügt diesen Faktoren ^l'amour" zu.
So sagt er: „La faim et Tamour ont ^t^ jusqu'ici les grands
regulateurs de monde."
Liebig sehr nahe steht J. Lippertj der die Lebensfürsorge
für das regulative Prinzip der Kulturentwicklung erklärt.
Die darwinische Lehre hat ihre Prinzipien auch auf ge-
schichtlich-philosophischem Gebiete anzuwenden gesucht. Das
Prinzip der natürlichen Auslese wird von Ward in seiner „Dy-
namic sociology" (1883) als Hauptagens in der Geschichte auf-
gesteUt: „It is natural selection that has created intellect; it is
natural selection that has developed it to its present condition,
and it is intellect as a product of natural selection that has
guided man up to his present position (S. 15).
Der Einfluss des Klimas auf die körperliche und geistige
Beschaffenheit des Menschen und folglich auch auf seine Stellung
in der Geschichte wurde schon von Hippocrates erkannt.
EvQtjoetg . . . rfjg x^Q^^ '^fi (p^^oei äxoXov&iovra xal xd eTdea %(bv äv-
^QWTtcov xal tovg TQÖTwvg, „A la nature du pays correspondent
la forme du corps et les dispositions de Täme," (Hipp. Oeuvres
II, pag. 91, herausg. und übers. Littr^ 1840).
^) Traduction de Soheler, Bruxelles, T. I, pag. 108.
*) Dass Marx Liebigs Ansichten bekannt und nicht unwillkommen
waren, zeigt Note 325 im ersten Band seines .Kapital*.
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— 24 —
Diese Behauptung ist keineswegs als ein zufällig hinge-
worfenes Aphorisma oder als Gelegenheitsgedanken zu betrachten.
Wir entnehmen dieselbe seinem systematischen (zwar kleinen)
Traktat : üeqI äigayv, vdarojv, Tojkov, wo er sich unter anderen rein
medizinischen auch die Aufgabe stellt, den Unterschied zwischen
den Bewohnern Europas und Asiens auf physisch -klimatische
Beschaffenheit der entsprechenden Weltteile zurückzuführen. ^)
Von den neuesten Vertretern des Einflusses der äusseren
Natur auf den Menschen haben wir schon gesprochen.
In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts haben K, Marx
und Fr. Engels eine neue Geschichtstheorie aufgestellt, welche
im Gegensatz zu allen anderen Auffassungen die ökonomische
Struktur der Gesellschaft als Hauptagens der geschichtlichen
Entwicklung erkennt.
Bei einer solchen Fülle von Problemen, Ideen und Prinzi-
pien, die sich auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte
drängen, ist es natüriich, dass das Bewusstsein der Bedeutung
dieser noch zu schaffenden Wissenschaft schon jetzt hie und da
auftaucht. Bona Mayer^ z. B., bezeichnet die Philosophie
der Geschichte als einen „Mittelpunkt der grossen Diskussionen,
welche im Gesamtleben der Wissenschaft die nächste bedeutende
Wendung bezeichnen werden.**
Die praktische Bedeutung der Philosophie der Geschichte
ist nicht minder wichtig.
*) Wer wird zum Beispiel im folgenden nioht den Hauptgedanken
Th. Buokleä fast mit denselben Worten ausgesprochen erkennen? In
dem genannten Buche sagt Hippoorates: h fihv yoQ x<p aei TtaoojiltjoUi»
xat gaütfiiai eveiatVf iv öe rm fieTaßodXofievo) al TcÜMurogiai ro) acofiau xal tfj yvxfj,
xai ojto fihv ^ovyiag xal Qa&vfiir}^ tj Ösdia av^srai, Suto di taXautmQirjg xai reor
:Tsv(oy al drögeiat. (In der Uebersetzung Littr^s: »Une perp^tuelle unifor-
mit6 entretient PindoJence; un climat variable donne de Texeroice au
Corps et k TÄme; or, si le repos et l'indolenoe nourissent la lachet^,
Texercice et le travail nourissent le oourage." Bezeichnend für den poli-
tischen Sinn Hippocrates ist folgende Stelle, in welcher er die Mutlosig-
keit der asiatischen Völker im Vergleich mit den ein-opäischen erklärt:
oxov yo^ ßaadsiforzai, ixet dvdyxjj dedotdzovg elvai AI yoQ yvxai, de-
öovloixat xai ov ßovXovxat TtagoxirÖvrevetv ixövzeg elxf/f vmg dXXoxQirjg dvvdjutog
u. s. w. (In Littr^s Uebersetzung: ,Chez les hommes qui sont soumis ä
la royaut^, le courage .... manque n^cessairement. Leur äme est assez
vile, et ÜB se soucient peu de s'exposer aux p^rils sans n^cessit^ pour
accroitre la puissance d'autrui.^)
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— 25 —
In der modernen Zeit hat sich das gesellschaftliche Leben
rasch entwickelt. Der Anteil aller gesellschaftlichen Klassen an
der politischen Thätigkeit ist grösser geworden, grosse politische
Fragen von historischer Bedeutung sind zur öffentlichen Dis-
kussion gestellt worden und von jedem Bürger wird die Ent-
scheidung über diese Fragen verlangt; je weiter wir fortschreiten,
desto mächtiger wird eine Strömung, die die allgemeinsten Grund-
lagen der herrschenden Ordnung bekämpft. Unter solchen Ver-
hlQtnissen kann das Verständnis der sich vollziehenden geschicht-
lichen Entwicklung für niemanden, sei er Reaktionär oder
Progressist, Revolutionär oder Konservativer, gleichgültig sein.
Beim Mangel dieser Erkenntnis läuft jeder Gefahr, sich in der
unangenehmen Rolle des Don-Quichotes zu befinden, der gegen
das notwendig sich Vollziehende eifrig kämpft. Das Verständnis
der Geschichte hat also jetzt eine allgemeine Bedeutung ge-
wonnen und ist für jeden zu einer aktuellen Frage geworden.
Für diejenigen, die ihrer socialen Stellung nach das Schicksal
Anderer in Händen hatten oder zu haben glaubten, wir meinen
die regierenden Staatsmänner und Parteiführer, gilt das noch
in höherem Grade, als wie für den einflussarmen Privatmenschen.
Um von vielen Beispielen nur eins herauszugreifen, weisen
wir auf den Kampf hin, der gegen die Mitte unseres Jahrhunderts
fast in allen mitteleuropäischen monarchischen Staaten gegen
den politischen Liberalismus geführt wurde. Die Staatsmänner
dieser Staaten kämpften mit kleinen diplomatischen und polizei-
lichen Mitteln gegen eine grosse geschichtliche Wendung — xmd
unterlagen. Unter ihnen war ein Mann wie Mettemich, den viele
als genialen Staatsmann betrachten, der aber jedenfalls ein
schlechter Geschichtsphilosoph war. Es fehlt auch der neuesten
Zeit nicht an solchen genialen Staatsmännern und schlechten
Philosophen, die von der geschichtlichen Bewegung, gegen die
sie mit denselben kleinlichen Mitteln gekämpft haben, aus threm
öflfentlichen Wirkungskreise verdrängt worden sind. Und gewiss
hatte Aug. Comte Recht, als er schon 1825 seine Argumentation
über die grosse Bedeutung der Kenntnis der Entwicklungs-
gesetze menschlicher Gesellschaften mit den einen wichtigea,
wenn nicht den wichtigsten Grundsatz seines Systems kenn-
zeichnenden Worten schloss: dans cet ordre de phönomfenes
conune dans tout autre, la science conduit ä la prevoyance, et la
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— 26 —
prövoyance pennet de rögulariser Taction. (Opuscules, p. 200^
1873.)
Die Bedeutung der Philosophie der Geschichte kann auch
unter einem andern Gesichtspunkt betrachtet werden. Hermann^
Lotze bemerkte: „Es ist sehr fragUch, ob nicht über die Erhaltung
des Lebens die Zwecke desselben aus den Augen verloren
wurden*' (Mikrok III). Die Philosophie der Geschichte, indem sie
unsere Aufmerksamkeit auf die allgemeine Richtung der ge-
schichtlichen Entwicklung lenkt und uns unsere Stelle in derselben
anweist, kann sie unter günstigen Umständen als ein wirksames^
Mittel gegen die Verflachung unserer Bestrebungen dienen.
Ist die Philosophie der Geschichte als Wissenschaft, wie
wir hinlängHch bewiesen zu haben glauben, nicht nur möglich,
sondern auch von theoretischer und praktischer Wichtigkeit, so
entsteht die Frage: wanun existiert eine solche bisher nicht?
Alle von uns bisher erwähnten Theorien sind insgesamt nur
unausgeführte wissenschaftliche Entwürfe. Eine systematische
Begründung und Anwendung für die wichtigsten geschichtlichen
Erscheinungen hat noch keine einzige dieser Theorien aufzu-
weisen, — die sogenannte materialistische Geschichtsauifassung,.
die ein wissenschaftUchös Organ zu ihrer Verbreitung hat, nicht
ausgenommen. — Ein Mangel an wissenschaftlichen Vorarbeiten
erklärt nur teilweise diesen anormalen Zustand der Philosophie
der Geschichte. Als ein Hauptgrund hiefür müssen die falschen
Methoden, die bis in die neueste Zeit auf diesem Gebiet ange-
wandt worden sind, betrachtet werden.
Sehen wir uns diese Methoden näher an.
Alle geschichtsphilosophischen Theorien lassen sich methodo-
logisch und inhaltlich auf drei grosse Richtxmgen zurückführen
und zwar : die providentielle, ideaUstische und positiv-realistische.
Die providentielle Richtung hat in Aurelitis Augustinus (de
^Civitate Dei") und Bossuet („Discours sur Thistoire universelle")
ihre namhaftesten Vertreter. Augustin zeichnet seinen Ausgangs-
punkt in folgenden Worten: „A deo sunt semina formarum,.
formae seminum, motus seminum atque formarum . . . a quo est
omnis modus, omnis species, omnis ordo, a quo est mensura^
numerus, pondus, a quo est qui quid naturaliter est, cujusciimque
generis est, cujuslibet aestimationis est" (de „Civitate Dei", Buch
U, Kap. XI).
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— 27 —
Die providentielle Gteschichtsauifassung geht von einem
absolut optimistischen Standpunkt aus, nämlich, dass Gott die)
Welt nach den vernünftigen, wenn auch uns unbekannten
Gründen regiert. So Augustinus: „Nescimus enim, quo judicio
Dei bonus ille sit, pauper, malus, ille sit dives ; iste gaudeat, quem
pro suis perditis moribus cruciari debuisse m^roribus arbitramur,
contristetur ille quem vita laudabilis gaudere debuisse persuadet ;
exeat . . . damnatus innocens . . . sceleratus . . . impunitus . . . latro-
cinentur sanissimi juvenes, et qui nee verbo quemquem laedere
potuerunt, diversa morborum atrocitate affligantur infantes ; utilis
rebus humanis videtur nee nasci debuisse diutissime insuper vivat;
plenus crirainibus sublimetur honoribus, et hominem sine querella
tenebrae ignobilitates abscondant, et cetera hujus modi quae quis^
coUigit, quis enumerat?^ (Sancti Aurelii Augustini. Lib. XX ^
Cap. II, P. 407.)
Nichtdestoweniger glaubt er behaupten zu können :
„Quamvis ergo nesciamus quo judicio Deus ista vel faciat, vel
ßeri sinat, apud quem summa virtus est, summa sapientia et summa
justitia, nulla infirmitas, nuUa temeritas, nuUa iniquitas*'. (ib.)
Der Mensch sowohl, als die Gesellschaft existieren für diese ♦
Gteschichtsau£fassung nicht als Selbstzweck. Sie sind nur da als
ein Beweis der Herrlichkeit Gottes auf Erden.
Macchiavelli charakterisiert trefflich diese christlich-religiöse
Geschichtsauffassung, indem er sagt: „Die antike Religion hat
niemand heilig gesprochen, als die Männer des weltlichen Ruhms,
wie es die Heerführer und Fürsten waren. Die christliche Religion
dagegen hat mehr die Männer der Selbsterniedrigung und Be- I
schaulichkeit verherrUcht. Sie hat überhaupt das grösste Gut in
die Niedrigkeit, in die Wegwerfung und in die Verachtung der
menschlichen Dinge gesetzt, während die Alten es in die Grösse
des Geistes, in die Stärke des Körpers und in alle diejenigen
Dinge legten, welche geeignet sind, die Menschen stark zu
machen.*' Das Christentum lehrt nur dulden, „diese Art zu leben
scheint die Welt geschwächt und sie zur Beute der Bösewichter
gemacht zu habctn.^
LamennaiSj der dem Christentum mit Enthusiasmus ergeben
war, schildert in folgenden Worten den Gegensatz zwischen dem
Geiste des Christentums und dem der alten Welt bei seiner Erschei-
nung : Aux fetes brillantes du paganisme, aux gracieuses Images
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— 28 >-
d'une mythologie enchantresse, k la comraode licence de la
morale philosophique, ä toutes les döductions des arts et des
plaisirs il oppose les pompes de la douleur, de graves et lugubres
cereraonies, les pleurs de la p^nitence, des menaces terribles, de
redoutables mystferes, le faste effrayant de la pauvrete, le sac,
la cendre, et tous les symboles d'un döpouillement absolu et
d'une consternation profonde. (Ess. sur Tindif. en matifere de
religion.)
Die Methode der providentiellen Philosophie der Geschichte
ist eine absolut aprioristische. Sie konstruiert die Geschichte,
anstatt sie in ihrem wirklichen Verlauf zu untersuchen. Ein
solches unwissenschaftliches Verfahren musste scheitern.
Dis providentielle Geschichtsauffassung verzichtet auf eigenes
Verständnis, indem sie ihr festes Vertrauen in die Allwissenheit
der Vorsehung setzt, und da wir diese Allwissenheit nicht be-
sitzen, so wäre eine verlorene Mühe, dies Rätsel der Geschichte
enträtseln zu wollen.
Die idealistische Geschichtsauffassung ihrerseits macht den-
selben methodologischen Fehler, wie die providentielle. Sie
konstruiert die Geschichte von oben herab, a priori. Statt der
göttlichen Vorsehung stellt sie eine absolute Idee^ oder ein ab-
solutes Ideal auf, dessen Realisierung der Zweck der geschicht-
lichen Entwicklung sein soll (Leibniz' prästab. Harmonie). Hegel
ist der typische Vertreter dieser Richtung. Als Motto zu seinem
Werke „Philosophie der Geschichte" dienön ihm die Worte von
W.V.Humboldt: „Die Weltgeschichte ist nicht ohne eine Welt-
regierung verständlich."
Diese Hineintragung eines Planes in die Geschichte kann
von unserem heutigen Standpunkte kaum noch als wissenschaft-
lich bezeichnet werden. „Gleich dem Seelenführer Merkur, sagt
Hegel, ist die Idee in Wahrheit der Völker- nnd Weltführer,
und der Geist, sein vernünftiger und notwendiger Wille ist es,
der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt" (Hegel „Philos.
der Gesch." 1837).
Die geschichtlichen Thatsachen werden von dem Philosophen
oft der Idee zu Liebe umgeformt ; ^) falls sie aber zu dieser Idee
*) Hegel verwahrt sich zwar sehr energisch gegen geschichtliche
Konstruktionen a priori. („Die Geschichte haben wir zu nehmen wie sie
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— 29 —
in keiner erweisbaren Beziehung stehen oder ihr gar wider-
sprechen, werden sie einfach übergangen.
Die idealistische Geschichtsauffassung hat im Vergleich zur
providentiellen diesen Vorzug, dass sie, statt sich auf die All-
wissenheit eines höheren Wesens zu berufen, sich des mensch-
lichen Verstandes bedient. Dieser vermag, wenn er sich in einer
solchen Grösse wie bei Hegel vorfindet, trotz eines falschen
Gesichtspunktes vieles in der Geschichte zu verstehen.^)
Die positiv-realistische Geschichtsauffassung hingegen, die'
erst mit Aug, Cofrtte^ der sie systematisch begründet hat, unser
Gebiet zu beherrschen anfängt, ist in methodologischer Beziehung
die einzig richtige, die einzig wissenschaftliche. Die ausschliess- '
liehe Richtigkeit dieser Methode scheint uns unabhängig von der
Richtigkeit bezw. Unrichtigkeit der theologischen und metaphysi-
schen Weltanschauung überhaupt zusein. Der Providencialist wie
der Metaphysiker müssen zugeben, dass sie andere Mittel^ um
die Geschichte, den Entwicklungslauf der menschlichen Gesell-
schaften, wie er thatsächlich vor sich gegangen ist, zu begreifen,'
als die Geschichte selbst^ weder besitzen noch besitzen können.
Und wenn auch ' die providentiellen und metaphysischen Ge-
schichtskonstruktionen für ihre Vertreter selbst irgend welche
Ueberzeugungskraft haben mögen, so lässt es sich doch nicht
einsehen, durch welche Ueberzeugungsmittel sie dieselben An-
deren anehmbar machen können. Denn spezielle Geschichts-
auffassungen können ebenso wenig in allgemein annehmbare
Glaubensdogmen verwandelt werden (wenn auch der Versuch
dazu von den Vertretern des Glaubens gemacht worden ist) wie
mathematische oder physische Grundsätze. Die positiv-realistische
Methode hingegen sucht auf Grund der Kenntnis der Geschichte
und ihrer Elemente die Gesetze der Entwicklung festzustellen.
ist: wir haben historisch, empirisch zu verfahren**. Id. p. 13 ff.) Die ,Er-
diohtimgen* überlässt er mit gutem Humor den , Historikern von Fach'.
Dass alles aber in der Weltgeschichte „vernünftig zugegangen sei" (p. 12)
ist ihm der „Gedanke, den die Philosophie mitbringt" (16). Das heisst
eben den Charakter der Geschichte, folglich die Geschichte selbst a priori
zu bestimmen.
*) So überraschen und bei Hegel ein klares Verständnis für die Be-
deutung der materiellen Faktoren, die nur künstlich mit der alles beherr-
schenden Idee in Zusammenhang gebracht wird.
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— 30 —
Mängel können hier nur in der Anwendung der Methode ent-
halten 8ein. Und dieses ist wirklich der Fall gewesen, ^uch die
neuesten Geschichts-Philosophen fahren, von der idesdistischen
Richtung beeinflusst, fort, das unendlich komplizierte Material,
welches uns die Geschichte darbietet, auf ein einziges Prinzip
zurückzuführen. Wir haben gesehen, zu welchen sich wider-
sprechenden Ergebnissen dieses Verfahren führt. Anstatt alle
Seiten des menschlichen Lebens und Wirkens und dessen äussere
Ursachen zu berücksichtigen, wurde bald die eine, bald die an-
dere in den Vordergnmd gerückt, und die übrigem als neben-
sächliche oder abgeleitete betrachtet, ohne dass wenigstens der
Versuch gemacht worden wäre, deren Ableitbarkeit derselben
zu begründen. Die Geschichtsphilosophen suchten bis jetzt nach
dem, was Du Bois-Reymond im Anschluss an Descartes und
Kant „den archimedischen Standpunkt^ ^) nannte, nämlich nach
einem Prinzip, aus dem heraus sie mit einem Male die ganze
Welt der geschichtlichen Erscheinungen erklären wollten.
Bei der ungewöhnlichen Kompliziertheit der geschichtlichen
Phänomene, die von allen bedeutenden Denkern, welche die
allgemeinen Fragen der Sociologie behandelt haben, wie Comte,
Milly Spencer^ besonders betont wird, konnte dieser Versuch
nicht gelingen. Wären auch alle diese Versuche methodologisch
richtig, so fehlte dazu bis jetzt das Material für den vollständigen
Aufbau eines geschichtlich-philosophischen Systems. DiePalaeon-
tologie, vergleichende Etnologie, Moralstatistik und Kultur-
geschichte, die unentbehrlichsten Hilfswissenschaften einer nicht
a priori konstruierten Philosophie der Geschichte, blieben bis
in die neueste Zeit verhältnismässig unentwickelt. Dasselbe gilt
von der Völkerpsychologie und der Entwicklungslehre, welche
unentbehrliche Beiträge zu einer Philosophie der Geschichte zu
liefern berufen sind.
*) Bei Leibniz : „perspektivische Mittelpunkt". Siehe Schelling, B. I,
8. 457. Stuttgart 1856.
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31 —
n. Der speoiflsche Charakter der geschiohtUehen
Gesetzmässigkeit.
Im engsten Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit
^iner Philosophie der Geschichte steht die ebenso fundamentale
und wichtige Frage nach dem specifischen Charakter der ge-
schichtlichen Gesetzmässigkeit, eine Frage, von deren Lösung
gewissermassen das Schicksal der Philosophie der Geschichte
abhängt.
Diese Frage erscheint in ihrer ganzen Schwierigkeit \md
Kompliziertheit erst dann, wenn wir die geschichtliche Gesetz-
mässigkeit nicht mit der auf empirischem Wege erlangten Ge-
neralisation homogener geschichtlicher Thatsachen identifizieren
wollen, die in einer allgemeinen Gesetzesformel zum wissen-
schaftüchen Ausdruck gebracht wird. Solche sogenannte empirische
Gesetze, oder genauer empirische Generalisationen, giebt es in
allen geistigen Wissenschaften, wie in der Geschichte in Hülle
und Fülle und die Frage nach ihrer MögUchkeit, bezw. nach ihrer
Existenz kann unmöglich ein wissenschaftliches Problem aus-
machen.
Gerade aber für die so vielfach komplizierte menschliche
Oeschichte ist es von ungeheurer Wichtigkeit, dass wir unter
^Gesetz" ein allgemeines und notwendiges Verhältnis zu ver-
stehen uns entschliessen, dem eine Reihe von Erscheinungen
unterworfen ist — und dies eigentlich ist der naturgemässe Sinn
«ines wissenschaftlichen Gesetzes. Denn nur unter Voraussetzung
<ier von Kant geforderten Kriterien der Gesetzmässigkeit, Allge-
meinheit und Notwendigkeit, kann die Entdeckung geschichtlicher
Gesetzmässigkeit für das Verständnis des vor unsern Augen sich
abspielenden geschichtlichen Prozesses und das Voraussehen
künftiger Ereignisse, die für unser praktisches Verhalten von so
^grosser Wichtigkeit ist, nutzbar gemacht werden. Nur unter
Voraussetzung der allgemeinen und notwendigen Geltung eines
geschichtlichen Gesetzes ist die Möglichkeit gegeben, in jedem
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— 32 —
einzelnen Falle, in jeder bestimmten Zeitperiode und an jedem
bestimmten Orte, den Gang der geschichtlichen Entwicklung zu
begreifen und vorauszusehen und somit das Comte'sche wissen-
schaftliche Ideal — savoir pour pr^voir — auf einem des für uns
wichtigsten Gebiete zu verwirklichen. Wie viele geschichtliche
Katastrophen wären, wenn nicht vermieden, so doch wenigstens
gernildert worden, wenn die Geschichte sich im Besitze solcher
allgemein anwendbarer Gesetzö befände.
Die Möglichkeit der Herrschaft über unser geschichtliches
Schicksal wäre mit der Wissenschaft der Geschichte ebenso un-
streitig gegeben, wie die mehr oder weniger erreichte Herrschaft
des Menschen über die äussere Natur durch die Naturwissen-
schaften gegeben ist. Und wirklich ist diese Gesetzmässigkeit
von je das Ideal der Geschichtsphilosophen gewesen. Vico will
eine ideale Geschichte entdecken, welche das Urbild der ge-
schichtlichen Entwicklung jedes einzelnen Volkes darstellen soll.
(„Una storia eterna, sulla quäle corrono in tempo tutte le storie
particolare delle nazione."^) Gesetze in der Geschichte entdecken
ist auch die wissenschaftUche Aufgabe TJi. Buckles und die lei-
tende Idee seines berühmten Hauptwerkes.
Aug. Gomte glaubt bekanntlich dieses Gesetz in seinen drei
sich ablösenden geschichtlichen Phasen (der theologischen, der me-
taphysischen und der positiven) gefunden zu haben. Der Parallelis-
mus der menschlichen Geschichte mit dem Lebensschicksal eines
einzelnen Individuums, der wiederholt in der geschichtsphilo-
sophischen Litteratur uns entgegentritt, ist von derselben Tendenz
durchdrungen (Pascal, Krause, Lasaux u. a.) Das beständige
Streben der Geschichtsphilosophen nach einem Plane oder nach
einem Ziele in der Geschichte, entstammt demselben Drange, in
den flüchtigen geschichtlichen Erscheinungen den ruhenden Pol
eines allgemein notwendigen Gesetzes zu finden.
Das Streben nach Gesetzen in der Philosophie der Geschichte
stösst zunächst auf eine philosophische Schwierigkeit, welche um
so bedeutender zu sein scheint, als sie mit einem der schwie-
*) Vico „De uno universi juris principio et fine uno.* Edit. Joseph
Ferrari Medioloni MDCCCXXXV. In der römischen Geschichte glaubte
er dieses Ideal verwirklicht zu finden. Er siebt in ihr : „certam tum ori-
ginem, tum successionem univeram historias profanae.*
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— 33 —
rigsten philosophischen Probleme in Zusammenhang steht, mit
dem Preiheitsproblem.
Die Willensfreiheit, die Freude unseres Selbstbewusstseins,
die die Philosophie in ihren meisten und grössten Vertretern —
Spinoza und die grossen Materialisten ausgenommen — ganz
aufzugeben sich nicht entschliessen kann, scheint das Grab
jeder Philosophie der Geschichte zu sein. Die Willkür des indi-
viduellen Willens scheint jede Regelmässigkeit, jedes Gesetz
in der Geschichte unmöglich zu machen. Der Kulturhistoriker
Otto Henne am Rhyn glaubt durch diese Willkür, die nach ihm j
ein imentbehrliches Element in der Geschichte ist, darauf ver- '
ziehten zu müssen, geschichtliche Gesetze aufzustellen („Kultur-
geschichte im Lichte des Portschrittes").
Nach Gervinus ist die Gesetzmässigkeit nur dann in der
Geschichte zu treffen, wenn dieselbe „im grossen Verlaufe der'
Jahrhunderte überschaut*^ wird. (Einleitung in die Geschichte
des XIX. Jahrhunderts S. 12.) ^) In seiner „Introduction ä
la science de Thistoire" unterscheidet Buchez „Fordre fatal
ou n^cessaire" und „l'ordre libre*^. Noch bestimmter drückt
sich der Krausianer Laurent aus. In seiner „Philosophie de
rhistoire" schreibt er S. 216: „II n'y a qu'un moyen de mettre
la fixit4 de la nature physique dans le monde moral, c'est
de nier la libert^ humaine. C'est en effet ä cela qu'aboutit le
Systeme des lois g(5nerales. Ajoutez-y la negation d'un gouver-
nement providentiel. Les astres qui accomplissent leur course
avec une rögularitö admirable depuis qu'ils existent, ont-ils
besoin d'im guide? Des lors Thuraanit^ peut aussi se" passer
d'un ^ducateur. Les lois generales ^Hminent en definitive Dieu
et la liberte."
Th. Buckle findet für notwendig, in erster Linie sich mit
dem Problem des menschlichen Willens zu befassen. (Siehe das
I. Kapitel seines Hauptwerkes.)
Wie auch die Lösung des Problems der menschlichen Frei-
heit ausfallen möge, schon die Abhängigkeit der Philosophie der
*) Im einzelnen scheint Willkür zu herrschen. Diese Ansicht ent-
spricht der Quetelets und Bueckles, dass die Regelmässigkeit nur wäh-
rend grösseren Perioden statistisch festzustellen möglich sei.
Ch. Rappoport; Die Hauptrichtungen der Philosophie. 3
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— 34 —
Geschichte von diesem jedenfalls äusserst komplizierten philo-
sophischen Probleme, wenn eine solche Abhängigkeit im Laurent-
sehen Sinne wirklich stattfindet, hätte die Möglichkeit der Phi-
losophie der Geschichte problematisch und die Einigung auf
diesem Gebiete unmöglich gemacht. Der unversöhnliche Kampf
der Deterministen und Indeterministen (Steiner, Philosophie der
Freiheit, 1893) wäre von der Philosophie auch in die Geschichts-
philosophie hinübergetragen und das Gebiet der letzteren unsicher
gemacht worden. Zum Glück für die Philosophie der Geschichte
ist es nicht der Fall. Wir können unmöglich den angeführten
Meinungen über die Abhängigkeit der geschichtlichen Gesetz-
mässigkeit vom Willensproblem beipflichten.
Es ist leicht zu beweisen, dass diese Unabhängigkeit aus
der Natur der Sache selbst mit Notwendigkeit folgt.
Dass der menschhche Wille, ob frei oder unfrei, in der
empirischen Welt („in der Erscheinung^ nach Kant) von Motiven
geleitet werde, wird der Indeterminist ebenso wenig leugnen
wollen, wie der konsequenteste Determinist. Nur die Unmöglich-
keit der freien Wahl unter diesen Motiven, wird von dem letzteren
behauptet, von dem ersteren seinem Standpunkte gemäss, in Ab-
rede gestellt werden müssen. Dass es eine Regelmässigkeit, dass
es strenge Gesetze gebe in der — freien oder unfreien — Wahl
dieser Motive, folgt aus der Zweckmässigkeit der menschlichen
Thätigkeit. Nicht Willkür oder Freiheit bestimmen unser Thun
und Lassen, sondern bestimmte Absichten^ die wir mit den durch
das natürliche imd gesellschaftliche Milieu dargebotenen Mitteln
zu realisieren suchen. Jede Handlung eines normalen Menschen
setzt sich ein Ziel, das sie zu erreichen strebt. Die menschlichen
Absichten und Ziele sind aber nicht Objekte unserer Wahl, sie
sind uns gegeben durch unsere physische, psychische und mora-
lische Organisation. Der Mensch wählt seine Bedürfnisse nicht
selbst. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit der Bedürfnisse
aber rufen notwendige und allgemeine Thätigkeüsformen her-
vor. Dadurch sind die konstanten Elemente des menschlichen
Handelns überhaupt gegeben, folglich auch die Elemente der
geschichtlichen Gesetzmässigkeit. Da die elementaren Bedürfnisse
nur relativ konstante Grössen sind, insofern sie ihre minimale
Befriedigung als Existenzbedingung absolut fordern, ihrer Mannig-
faltigkeit, ihrem Umfang und ihrer Form der Befriedigung nach
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— 35 —
dagegen unendlich entwicklungsfähig sind, so ist durch diese
physiologisch-psychische Basis der menschlichen Geschichte, nicht
nur das Konstante, sondern auch das Variable in derselben
gegeben.
Ausser der subjektiven Quelle der Bedürfnisse giebt es
auch eine objektive Quelle der geschichtlichen Gesetzmässigkeit.
Es wäre eine augenscheinUche Einseitigkeit, die physiologisch-
psychische Seite des Menschen als die einzige Quelle der kon-
stanten Elemente, der Gesetzmässigkeit in der Geschichte zu
betrachten. Der subjektiven Welt der Bedürfnisse steht die
objektive Welt der Mittel gegenüber. Hier befinden wir uns auf
dem sicheren Boden der Naturwissenschaft, die die Konstanz der
gemeinsamen Verhältnisse der objektiven Mittel unter einander,
wie ihrer Verhältnisse zu unseren subjektiven Bedürfnissen, zu ihrer
unentbehrlichen Grundlage hat, was von niemanden bezweifelt
wird. Damit ist also die zweite Quelle der konstanten Elemente
des zeitlichen Geschehens gegeben, die Möglichkeit auch das
GeschichtUche sub specie setemi, nach dem Gesichtspunkte der
Gesetzmässigkeit j zu betrachten.
Auf diesem Gebiete der Notwendigkeit in der Geschichte
erhalten ihre volle Bedeutung die Worte Herders : „Der Bau des
Weltgebäudes sichert den Kern meines Daseins, mein inneres
Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde
ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte. *^
{Ideen, Bd. I, S. 8, 1784)
Wenn die natürliche Basis der Geschichte die Grundlage
der notwendig sich vollziehenden geschichtlichen Verhältnisse
liefert, so taucht die Frage über den Ursprung der Verände-
rungen in der Geschichte, der variablen Elemente, der, nach
Auffassung Mancher, eigentlichen Geschichte, auf. Die Antwort
ist aber nach dem Vorhergesagten nicht schwer. Insofern die
Gombination der natürlichen Kräfte, oder der objektiven Mittel
zur Erreichung subjektiver menschlicher Ziele, die praktische
Anwendung und Nutzbarmachung derselben durch das Wachstum
der wissenschaftlichen Einsicht, wie durch den erfahrungsmässigen
Gebrauch sich ändert, ist durch die objektiv-physische Basis
der menschlichen Geschichte auch das variable Element derselben
gegeben. Es existiert hiemit ein vollständiger Parallelismus in
der Wirkungsweise der subjektiven wie der objektiven Paktoren
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— 36 —
der Geschichte in Bezug auf gesetzmässige Form des Geschicht-
lichen. Die subjektive^ wie die objektive Reihe dieser Paktoren
bedingen sowohl die konstanten, als auch die variablen Elemente
derselben. Der Entwicklung unserer subjektiven Bedürfnisse ent-
sprechen Veränderungen in der objektiven Welt der Befriedi-
gungsmittel. ^)
Die Geschichte ist ebenso Produkt der objektiven, wie der
subjektiven Natur, oder populär ausgedrückt : Die äussere Natur
und der menschliche Geist sind die Hauptquellen aller geschicht-
lichen Faktoren. Ihre Gesetze machen sich auch in den geschicht-
lichen Prozessen geltend. Die speziellere Zergliederung dieser
Hauptfaktoren und die Bestimmung ihrer Wirkungsweise, im
realen geschichtlichen Prozesse betrachtet, muss den Inhalt der
Philosophie der Geschichte abgeben.
Die Bezeichnungen „Geist^ und „Natur" als Hauptquellen
aller geschichtlichen Faktoren müssen als zu allgemein betrachtet
werden. In ihrer allgemeinen Form aber gehören diese Begriffs-
bestimmungen in die Philosophie der Geschichte, die, als Philo-
sophie der Natur der Sache nach sich zu allererst mit den allge-
meinen und notwendigen Prinzipien des geschichthchen Werdens
abzufinden hat. Nur nachdem die allgemeinen Grundlagen der
Philosophie der Geschichte uns gegeben sind, können wir zu
deren spezielleren Aufgaben übergehen.
Unsere Darstellung der allgemeinen Prinzipien der Philo-
sophie der Geschichte wäre unvollständig, wenn wir ausser den
') Karl Marx hat in seiner „Misere de la Philosophie* auf eine sehr
interessante Erscheinung, der er seinem Standpunkte gemäss leider eine
allzu grosse Allgemeinheit zuzuschreiben sucht, hingewiesen, nämlich,
dass Aenderungen in der Produktion oder richtiger in der Produktions-
weise neue, früher nicht gekannte Bedürfnisse hervorrufen müssten.
Durch diese Bemerkung will er die subjektiven Faktoren der Geschichte
— wenn nicht beseitigen — so doch ganz in den Hintergrund gerückt
wissen. Unserer Ansicht nach begeht Marx — seinen Satz in dem von
ihm gewollten allgemeinen Sinne auffassend — ein von einem so grossen
Genie kaum erwarteten Irrtum, indem er die Form der Bedürfnisbefrie-
digung mit dem Bedürfnisse selbst vermengt. Die Hauptbedürfnisse, wie
auch manche secundäre Bedürfnisse — wie die des Schmuckes exi-
stierten immer unabhängig von der Produktionsweise, die in der Marx-
iflchen .materialistischen" Geschichtsauffassung die Rolle des leitenden
Faktors in der Geschichte spielt. Gerade das von ihm angeführte Bei-
spiel — Lyoner Seide — beweist dies am klarsten.
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— 37 —
erwähnten zwei Hauptquellen der geschichtlichen Gesetzmässig-
keit — Natur und Geist — nicht eine dritte, die wir als das
^geschichtliche Milieu*^ bezeichnen können, in Betracht gezogen
hätten.
Diesen rein geschichtlichen Faktor, durch den die Geschichte
gewissermassen zur Urheberin ihrer selbst wird, hat in systema-
tischer und bestimmter Weise Hegel in die Philosophie der Ge-
schichte eingeführt. Er übt dadurch auf dieselbe, wie wir später
sehen werden, noch bis auf unsere Tage einen mächtigen Ein-
fluss aus. Mit der Objektivierung des Geschichtlichen, die seiner
universellen geschichtlichen Auffassung eigen ist, nach welcher
der gesamte Weltprozess in eine Geschichte des Absoluten und
eo ipso die Weltphilosophie in Geschichtsphilosophie sich ver-
wandelt, hat Hegel seine Aufmerksamkeit auf das geschichtlich
Gewordene, als auf ein selbständig weiter wirkendes Moment der
Entwicklimg gelenkt. Die objektiv betrachteten einzelnen Haupt-
momente der geschichtlichen Entwicklung . sind bei ihm ebenso
viele Ausgangspunkte neuer Entwicklungsformen, die sich
nach einem bestimmten, von ihm aufgestellten Gesetze voll-
ziehen.
Dadurch wird er zum Begründer der Theorie des geschicht-
lichen Milieus. Dass das geschichtliche Milieu nicht unabhängig
von den oben aufgestellten geschichtlichen Hauptfaktoren ge-
dacht werden kann, leuchtet von selbst ein. Wenn wir die
Geschichte als solche nicht zu einer metaphysischen Substanz,
zu einem selbständigen Subjekt hypostasieren wollen, wie es in
einem gewissen Sinne Hegel selbst gethan hat, so bleibt uns nichts
übrig, als die geistige und physische Natur — im allgemeinsten
Sinne des Wortes — als Urquell des geschichtlichen Werdens.
Der Mensch — individuell oder kollektiv — erscheint als das
einzig mögliche Agens der Geschichte, dem die äussere Natur
als Objekt und Mittel, als locus standi und Werkzeug seiner
geschichtlichen Thätigkeit, passiv dient. Die innerhalb der Ge-
schichte entstandenen Neubildungen, Institutionen (Familie, Staat,
Gesellschaft, Eigentum) sind aus unzähligen Einzelwirkungen
individueller und kollektiver menschlicher Thätigkeit entstandene
kristallisierte Komplexe. Unter vielen andern bezeichnen daher
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— 38 —
Vico und nach ihm Marx^) (Kapital, Bd. I) den Menschen mit
Recht als den Schöpfer seiner Geschichte.
Es hat sich aber erfahrungsgemäss in der Entwicklung der
Philosophie der Geschichte als höchst wichtig erwiesen, den spe-
zifisch geschichtlichen Faktor — das geschichtliche Milieu — im In-
teresse des Verständnisses des konkreten Inhaltes der Geschichte
in seiner Wirkungsweise selbständig zu betrachten. Für diese
Selbständigkeit der Betrachtung scheinen zwei kaum zu be-
seitigende Gründe zu sprechen:
1. Die Natur des in der Geschichte sich bethätigenden
menschlichen Geistes kann am besten nach seinen Wirkungen
erkannt werden. Die geschichtlichen, zu einer bestimmten Vol-
lendung gelangten Lebensformen sind also die geeignetsten
Quellen zur Erkenntnis des einzigen aktiven Hauptfaktors der
Geschichte.
2. Es ist eine der wichtigsten, wie merkwürdigsten Erschei-
nungen des Geschichtslebens, dass der Einzelne wie die Gesamt-
heit von dem geschichtlich Gewordenen, wie von einer NatUr-
macht sich abhängig fühlen, und es auch wirklich sind. Der
Mensch ist nicht nur Herr und Schöpfer, er ist auch Sklave und
Produkt seiner eigenen Geschichte. Vor den gegebenen geschicht-
lichen Verhältnissen beugen sich ohnmächtig die kräftigsten
Individualitäten wie die grössten Völker. Die geschichtlich über-
lieferten Vorstellungen und Denkformen, Gebräuche und Sitten^
Regierungen, Gesellschafts- und Wirtschaftsorganismen wirken
und dauern oft noch dann fort, wenn sie schon lange ihrer Berech-
tigung in den Bedürfnissen, Bestrebungen und Ansichten der
Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder, verlustig gegangen sind.
Gewiss liegt in letzter Instanz die Macht dieser geschichtlich
überlieferten Lebensformen in den Interessen und Sympathien der
sie vertretenden und mit geschichtlich erworbenen Machtmitteln
um ihre Existenz kämpfenden einzelnen Individuen oder Gesell-
schaftsklassen. Die Macht der geschichtlichen Lebensformen
wird also wieder in derjenigen der Menschen aufgelöst. Es ist
aber andererseits dagegen einzuwenden, dass die geschichtliche
Traditimi ein wichtiges Element dieser Macht ausmacht und
') Marx allerdings mit der Beschränkung : unter objektiv gegebenen,
hauptsächlich ökonomischen Verhältnissen, die bisweilen den „Herrn* der
Geschichte zu ihrem „Sklaven* umwandeln sollen.
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— 39 —
den Uebergang von einer geschichtlichen Lebensform zu einer
anderen so ungemein erschwert, dass gesellschaftliche Kata-
strophen, Revolutionen, gesellschaftliche Krisen und Erschütte-
rungen als Uebergangsmomente mit Naturnotwendigkeit über die
Gesellschaft hereinbrechen.
Insofern also wir diese Objektivirung des „ historischen '^
Paktors nur als ein Uebergangsmomeht, als Spezifikation einer
allgemeinen geschichtsphilosophischen Annahme, als Hilfsmittel
der Untersuchung betrachten und es mit vollem Bewusstsein
anwenden, hat dieselbe ihre volle Berechtigung.
Wie steht es aber mit unserer Frage der geschichtlichen
Gesetzmässigkeit vom Standpunkte der Theorie des historischen
Milieus?
Indem diese Theorie eine Reihe von geschichtlichen
Thatsachen, die in einem notwendigen kausalen Zusammenhang
stehen, zur Erklärung des geschichtlichen Gesamtprozesses hin-
zuzieht, schafft sie eo ipso eine neue Instanz der Regelmässigkeit
und Notwendigkeit. Sie stellt der Geschichtswissenschaft die neue
Aufgabe, das jeweilige notwendige Verhältnis der einzelnen
geschichtlichen Erscheinungen und Erscheinungsreihen z\\ den
massgebenden historisch überlieferten Lebensformen, festzustellen
und zu erklären, auf deren Grundlage die zu erklärenden Er-
scheinungen sich abspielen.
Die Lösung dieser Aufgabe dürfte zur Aufstellung neuer
geschichtlicher Gesetze führen. Das Verhältnis verschiedener
geschichtlicher Lebensformen zu einander (wie z. B. geschichtlich
bestimmter politischer Einrichtungen zu bestimmten Wirtschafts-
formen oder grosser geschichtlicher Religionen zu entsprechenden
philosophischen Systemen), die Gesetze ihrer Entwicklung, ihres
Gedeihens und Verfalls, beziehungsweise ihres Ueberganges von
bestimmten geschichtlichen Verhältnissen in andere, der Zeit und
ihren Bestrebungen mehr entsprechende Formen, dies alles er-
öffnet eine unendlich weite Aussicht für die Philosophie der
Geschichte, die bei der Lösung dieser komplizierten Aufgabe der
Hilfe aller Wissenschaften bedarf. Die allgemeinen Prinzipien und
Gesetze der Entstehung und Entwicklung bestimmter Nationali-
täten, des Staates, bestimmter Gesellschafts- und Wirtschafts-
organisationen zu finden, wird somit zur Hauptaufgabe der Phi-
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— 40 —
losophie der Geschichte, deren Lösung ebensosehr von theoreti-
schem Werte, wie von praktischer Bedeutung ist.
Eine besondere Stelle nimmt in der Frage über den spezi-
fischen Charakter des Historischen eine Gruppe russischer Denker
und Schriftsteller ein, die sich in den wissenschaftlich gebil-
deten Kreisen Russlands eines bedeutenden Einflusses erfreuen
und in der Litteratur den Namen „russische sociologische Schule"
führt. Zu dieser Gruppe gehören in erster Reihe Pet«r LawrofF,
Nikolai Michailowsky und Karejeff. Leider blieb wegen Unkennt-
nis der wissenschaftlichen russischen Litteratur diese Strömung
in Westeuropa bis in die letzte Zeit unbekannt. Der Begründer
und bedeutendste Repräsentant dieser Richtung ist Peter Lawroff,
ein Mann von universeller und zugleich gründlicher Gelehrsamkeit
und grossem philosophischen Tiefsinn.O
Das wissenschaftliche Verdienst der russischen sociologischen
Schule besteht in der Hervorhebung und Analyse der subjektiven
Elemente in der Sociologie und der Geschichte, der Betonimg der
geschichtüchen Bedeutung aktiver, fortgeschrittener Persönlich-
keiten, die in ihrer Gesamtheit als besondere Kulturklasse —
„IntelUgenz" genannt — eine führende Rolle in der Geschichte
behaupten sollen.
Nikolai Michailowsky hat im Gegensatze zu Herbert
Spencer^ dessen Theorie des Fortschrittes und des Gesellschafts-
organismus er einer geistreichen und mehrfach zutreffenden Kritik
unterzieht, die subjektiven, für das menschliche Wohl wichtigen
Elemente der geschichtlichen Evolution hervorgehoben. Nicht
die vollkommenste Differenzierung der menschlichen Thätigkeit,
die den Menschen zu einem Bruchstücke, zu einem Teile eines
Teiles eines quasi objektiven gesellschaftlichen Organismus her-
abwürdigt und verstümmelt, dürfe als Hauptmerkmal des Fort-
*) Von P. LawrofiPs Ijeben und seiner Lehre nehmen hauptsäohlioh
folgende Schriften Notiz; wir nennen nm- die in westeuropäischen Spra-
chen verfassten: Eine vorzügliche Skizze von E. Rubanowitsoh: „Les
ld6es philosophiques de Mr. Lawroff." — ,La Grande Enoyolop^die*,
Paris, 1895, t. 21, p. 1069 (Art. von Charnay). — Revue Philosophique.
1888, p. 517 ff. — Angelo de Gubernatis, Dizionario biografico degli Scrit-
tori oontemporanei, p. 619, Florenz, 1879 (enthält ungenaue Angaben).
Neue Zeit, 1893. — Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik,
redigiert von R. Falkenberg. 1894, Bd. 104, p. 88 ff. — Siehe auch „Jus-
tice«. Paris, Nr. 6,743, 1895.
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— 41 —
Schrittes bezeichnet werden, sondern die harmonische Ausbildung
des Individuums, die harmonische Entwicklung aller seiner Kräfte.
Diese Entwicklung aber folgt nicht mit fatalistischer Notwendig-
keit aus dem objektiven Gange der Geschichte. Sie ergiebt sich
nur als Produkt bewusster Thätigkeit menschlicher Persönlich-
keiten, die das jeweilig gegebene historische Milieu nach ihrem
subjektiven Massstabe, nach ihren Bestrebungen und Idealen
beurteilen und demgemäss handeln.
Er versucht daher die Bedeutung und Macht der aktiven
Persönlichkeit wissenschaftlich zu begründen. In seinen brillant
geschriebenen Essays „Die Heroen und die Menge" sucht er die
Bedeutung der aktiven Persönlichkeit auf eine psychologisch-
pathologische Basis zu bauen unter Zuhilfenahme der neuesten
Ergebnisse der Psychologie und Psychiatrie.
Nach dieser Geschichtsauffassung wird der Mensch wirküch
als Schöpfer seiner eigenen Geschichte, wenn auch unter be-
ständigem Drucke und unter Benützung objektiver Verhältnisse
betrachtet. So sagt Professor Karejeff in seinem geschichts-
philosophischen Hauptwerke : „Osnovnyie Voprosy filosofii istorii"
(Grundfragen der Philosophie der Geschichte), Bd. U, S. 250:
^ Alles, was in der Geschichte überhaupt existiert, existiert für,
durch und in dem menschüchen Individuum. Alle Arten socialen
Lebens sind nichts als verschiedene Systeme menschlicher Be-
ziehungen. Alle Erscheinungen des geistigen Lebens sind nichts
weiter als verschiedene Zustände menschlicher Persönlichkeiten ;
jede gesellschaftUche Institution wird in letzter Instanz von
menschüchen Individuen geschaffen, bewahrt und umgestaltet
und übt bestimmte Wirkungen auf ihren Charakter aus
Als Subjekt, das die ganze Kultur schafft, wie als Objekt ihrer
Einwirkungen, ist das Individuum dasjenige reale Wesen, durch
welches, in welchem und für welches der Staat, die ökonomische
Organisation, das gesellschaftliche Leben, das Recht, die Philo-
sophie, die Moral, die Religion, die Wissenschaft, die Litteratur,
Kirnst existieren — es ist auch dasjenige Centrum, durch welches,
in welchem und für welches sie alle sich mit einander verbinden.
Das Individuum ist das einzige reale Wesen, mit dem sich die
Oeschichtswissenschaft befasst: an imd für sich giebt es weder
Nationen, noch Staaten, noch andere ähnliche Institutionen, weder
Recht noch Religion, weder Philosophie noch Moral, weder
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Wissenschaft noch Kunst, noch Civilisation ; dieselben sind weder
im Stande zu denken noch zu fühlen, weder zu wollen noch
einen Entschluss zu fassen, noch die in ihrem Bereiche sich
abspielenden Aenderungen gewahr zu werden — das fühlende,
denkende, wollende Individuum allein entscheidet sich zum
Handeln, handelt und unterliegt den Wirkungen seines Han*
dehis."
Objektive Gesetze in der Geschichte, die durch Eingreifen
der individuell-menschlichen Thätigkeit nicht modifiziert werden
könnten, zu finden, ist nach dieser Auffassung eine Sache der
Unmöglichkeit.
Professor Karejeff geht noch weiter und bestreitet die^
Möglichkeit, geschichtliche Gesetze zu entdecken. Die Geschichte^
wie ihre Philosophie gehören nach Professor Karejeff zu den von
ihm genannten „phänomenologischen Wissenschaften", die sich
[ nur mit den individuellen, nie sich wiederholenden Erscheinungen
befassen. Das Gesetzraässige in der Geschichte fällt der Sociologie
imd Psychologie, den „nomologischen" Wissenschaften zu.
Prof. Karejeff teilt die schon von uns aufgeführte Ansicht
Schopenhauers^ dass die Geschichte wohl ein Wissen, aber keine
Wissenschaft darstelle. Die geschichtlichen Thatsachen wieder-
holen sich flicht^ und daher giebt es keine geschichtlichen Ge-
setze. ^)
Prof. Karejeff will aber nicht leugnen, dass es konstante
Elemente in der Geschichte giebt. Er will sie aber vom ge-
schichtHchen Prozess als solchen abgesondert und der Sociologie
wie der Psychologie einverleibt wissen.
Schon bei der Kritik der Ansichten Schopenhauers und
Schellings haben wir gesehen, wie unhaltbar diese künstliche
Zergliederung der geschichtlichen Erscheinungen sei. Jede ge-
schichtliche Erscheinung ist ein Ganzes, aus konstanten und
variablen Elementen bestehendes^ 'und als solches will sie auf-
gefasst werden. Als Ganzes wirkt sie auf unser Schicksal, als
Ganzes bedingt sie die ihr folgenden Erscheinungen. Gewiss
kann jede Wissenschaft und unter allen Wissenschaften die
Psychologie und die Sociologie mit besonderem Rechte die kon-
stanten Elemente zu ihren speziellen Zwecken vom geschicht-
») Ib , Cap. Ii; S. 17 ff.
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liehen Prozesse ablösen und als solche betrachten. Eni solches
Verhältnis kann auch zwischen anderen Wissenschaften platz-
greifen, kann aber die Philosophie der Geschichte nicht hindern,
ihr wissenschaftliches Objekt selbständig zu behandeln.
Dazu übersieht Professor Karejeff, dass es ausser den Ge-
setzen der Coexistenz und Succession, die er bei der absoluten*
Individualität, durch welche sich das Geschichtliche nach ihm
unterscheidet, konsequenterweise nicht anerkennen kann, auch
Entwicklungsgesetze giebt, die schon allein einen hinreichenden
Stoff lind ein wissenschaftlich gerechtfertigtes Objekt der Philo-
sophie der Geschichte als Wissenschaft bilden können. Dieser
Irrtum ist umso unerklärlicher bei Prof. KarejeflF, als er selbst
auf dem Boden des Entwicklungsprinzips steht und die Idee des
Portschrittes als die Seele der Philosophie der Geschichte be-
zeichnet. 1)
Bedeutend gründlicher und tiefer fasst die Frage über die
Gesetzmässigkeit in der Geschichte der Begründer der russischen
sociologischen Schule, der schon genannte Peter LawrofiF.
Von ihm stammt die Hervorhebung des notwendig subjek-
tiven Elementes in der Geschichte, die wir bei Nicolai Michai-
lowsky kurz zu charakterisieren schon die Gelegenheit hatten;
bei ihm treffen wir auch die Betonung der geschichthchen Be-
deutung des Individuums.
Peter Lawroff hat aber eine weitere und solidere Grundlage
für seine geschichtsphilosophischen Ansichten.
Mit den mathematischen, wie mit den andern exakten
Wissenschaften ebenso gründlich vertraut, wie mit den histo-
rischen und philosophischen, hat er in seinem noch nicht zu
Ende gebrachten encyklopädischen Werke: Essai d'une histoire
de la pensöe dans les temps modernes ^) (Pröparation de l'homme
— La pöriode anthropologique), die Grundlagen seines Systems
dargelegt. In dieser Hinsicht sind auch von Bedeutung seine zahl-
reichen anderen Schriften, von denen die „Historischen Briefe"
allgemein als die gelungensten und populärsten betrachtet werden.
*) Ib., Buch IL — Prof. Karejeff darf neben Flint und Rougemont \
als der gründlichste Kenner der geschichtsphilosophischen Litteratur be- '
trachtet werden.
') Erscheint russisch in Genf.
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Auch P. Lawroff unterscheidet die konstanten Elemente
von den variablen des geschichtlichen Prozesses. Er betrachtet
aber die konstanten Elemente als diejenigen der „Kultur". Zur
Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes gehört nach P. La-
wroff nur das bewusst sich vollziehende, das nach bestimmten
Ideen oder Idealen sich gestaltende und verändernde, das auf
Grund der ^Kritik^ und Negierung des Ueberlieferten und
Ueberlebten mit Hülfe des Gedankens sich aufbauende.
In dem oben genanten Werke sagt er wörtlich :
„Für jede geschichtliche Epoche bilden alle Ueberbleibsel
der Vergangenheit, welche überleben, nicht weil sie nützlich sind,
sondern weil sie in den früheren Perioden der Gesellschaft
existierten, einen unterschiedslosen Komplex der historischen
Hinterlassenschaft.
Dies kann ein nützliches Element des Lebens nur dann
werden, wenn seine Bestandteile einer strengen Kritik, entsprechend
den Forderungen der neuen Epoche, unterzogen werden. Was
die Probe dieser Kritik nicht bestehen kann, kann als Gegensatz
zu der bewussten Thätigkeit, die sich im bewussten Streben nach
bessern Zuständen äussert, betrachtet werden. Erst durch diese
kritische Unterscheidung erhalten wir einerseits das Ueberlieferte,
das noch nicht kritisch durchgearbeitet worden ist: das sociale
Milieu, die gewohnheitsmässige Kultur^ oder kürzer die Kultur;
andererseits erhalten wir das Ergebnis der Ueberwindung des
Milieus durch den Menschen, die er im Namen seiner Entwick-
lungsbestrebungen vollzieht, das Ergebnis der Arbeit des Ge-
dankens als des Vorbereiters neuer historischer Perioden, das Er-
gebnis des geschichtlichen Lebens. Die Wechselwirkung der Ge-
schichte und der Kultur bildet den ganzen Inhalt geschichtlicher
Civilisationen.
In diesem Sinne ist das geschichtliche Leben ein Prozess
bewusster Entwicklung, die in einer Gesellschaft unter bestimmten
Kulturformen platzgreift."
„Nur diejenigen," führt Lawroff weiter aus, „sind als Träger
des geschichtlichen Lebens zu betrachten, die der überlieferten
Kultur sich nicht blindlings anpassen, sondern sie denkend und
kritisierend in Verfolgung eines Ideals entwickeln" — mag dieses
Ideal nun ein progressives oder reaktionäres sein. Somit erhalten
wir die „Intelligenz", die Lawroff als „eine Gesamtheit von in
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der Gesellschaft lebenden Individuen, die des ^geschichtlichen
Lebens" teilhaftig sind," definiert. Diese Intelligenz steht an der
Spitze der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Nur diejenige
Gresellschaft hat nach Lawroff eine Geschichte, welche eine In-
telligenz besitzt und dazu eine Gesellschaftsform, die dieser
Intelligenz die Möglichkeit der Einwirkung auf das gesellschaft-
liche Leben gewährt. In den „Historischen Briefen'' bezeichnet
LawroflF den geschichtlichen Prozess als „Ueberwindung (genauer
Ueberarbeitung) der Kultur durch den Gedanken" und sucht die
praktischen Bedingungen der Möglichkeit desselben festzustellen.
Die „geschichtliche Bedeutung des Individuums", dieser
allgemeine Zug der „russischen sociologischen Schule" findet
also in Lawroff ihren Begründer, einen systematischen und
gründlichen Verteidiger.
Diese Betonung der geschichtlichen Rolle des Individuums
in Russland lässt sich leicht aus dessen geschichtlichen und
politischen Verhältnissen erklären. Der in Russland herrschende
Absolutismus konzentriert in einer einzigen Person eine unge-
heure politische und historische Macht, vor der nicht nur die
mehr als hundert Millionen zählende Bevölkerung Russlands,
sondern sogar die fortgeschrittensten Völker Westeuropas sich
beugen. Die geschichtliche Macht des Individuums ist also in
einem politischen System, das das gesamte Volksleben beherrscht
und auf dasselbe tief einwirkt, verkörpert und steht als leben--
diges Beispiel jederzeit vor jedermanns Augen. Anderseits
setzen die bei der Entwicklung jedes Landes unentbehrlichen
Freiheitsströmungen ihre ganze Hoffnung in die selbständige
Entwicklung des Individuums, in seine Widerstandskraft, in
seine individuelle Initiative, um eine neue Ordnung der Dinge
herbeizuführen. So wird die Theorie der geschichtlichen Bedeu-
tung des Individuums von dem herrschenden politischen System,
wie von seinen entschiedensten Gegnern begünstigt.
Schon Montesquieu nähert sich diesem Gedanken, indem
er in seinen „Lettres Persanes" auf die Unsicherheit der öffent-
lichen Ordnung in einer absoluten Monarchie hinweist, da die
grösste Gewalt im Staate und mit ihr die ganze auf ihr beruhende
Staatsordnung von jedem einzelnen Individuum, das sie mit Erfolg
in der Person des Monarchen angreift, leicht kompromittiert werden
kann. In einer absoluten Monarchie, für welche der blinde und
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ausnahmslose Gehorsam Aller eine Existenzbedmgung ist, erscheint
der einzelne rebellische Wille als eine bedeutende Macht und als
ein erschreckendes Beispiel. Daher die besondere Schonungs-
losigkeit in der Unterdrückungjedes auch entfernten Versuches
zur Rebellion in Monarchieen.
Mögen die letzten Ursachen einer solchen Bedeutung des
Individuums eine weit breitere sociale und geschichtliche Basis
haben, und die Macht des einzelnen nur als eine Folge allge-
meiner Verhältnisse hervortreten lassen — die Bedeutung, die
der einzelne im Strome der Geschichte erlangt hat, bleibt fest
stehen und desto fester, je mehr diese Bedeutung durch Zurück-
führung derselben auf allgemein geschichtliche Verhältnisse mit
grösserer Sicherheit als eine geschichtUche Notwendigkeit, und
nicht nur als ein vorübergehender Zufall, sich erweist. So be-
festigt und begründet die BedetUufig des Individuums jene
Theorie^ welche durch ihre Zurückführung auf sociale und
geschichtliche Ursachen sie zu erschüttern glaubt.
Kehren wir zu Lawroif zurück. Die subjektive Richtung in
der Sociologie, wie übrigens in jeder anderen Wissenschaft, scheint
mit dem Prinzip der Gesetzmässigkeit schwer in Einklang gebracht
werden zu können. Wir haben dies bei Karejeff gesehen, der
die Geschichte zu einer Beschreibung (wenn auch möglicherweise
pragmatischen) einzelner sich nicht wiederholender Thatsachen
herabwürdigt.
Peter Lawroff teilt diesen Irrtum nicht. Im Einklang mit
seiner ganzen Geschichtsauffassung findet er neue Beweise, die
die Möglichkeit der Gesetze in der Geschichte befestigen. So sagt
er in seinem oben genannten Werke: „Die Formen des Zusam-
menlebens, die bei vielen Tierarten zu treflen sind, scheinen dem
oberflächlichen Beobachter ebenso unveränderlich, als der biolo-
gische Bau dieser Tiere. Die moderne Naturwissenschaft aber,
die alle Organe und Punktionen des Tierkörpers als Produkte
der Evolution betrachtet, muss die Formen des socialen Lebens
auch als solche Produkte ansehen. .... Wir sind also wissen-
schaftlich berechtigt, für jedes Kulturgeschöpf die Frage über
die Evolution der ihr angemessenen Gesellschaftsformen aufzu-
werfen, wenn auch bei dem gegenwärtigen Zustande imserer
Kenntnisse eine Lösung dieser Frage für die Mehrzahl der Tier-
arten sehr schwierig oder sogar unmöglich ist. Es kann aber
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keineswegs die Schwierigkeit der Entdeckung eines Entwicklungs-
gesetzes uns hindern, das Vorhandensein dieses uns unbekannten
Oesetzes als notwendig, und die Aufgabe, es zu entdecken, als
wissenschaftlich zu betrachten."
Je weiter die menschliche Gesellschaft sich entwickelt, je
bedeutender der bewusst sich vollziehende Teil der Geschichte
ist, desto näher liegt die Möglichkeit, geschichtliche Gesetze auf-
zustellen.
So sagt Lawroff weiter : „Das Vorhandensein des bewussten
Entwicklungstriebes in einer bestimmten Anzahl von mensch-
lichen Individuen verleiht der Aufgabe, die Gesetze der gesell-
schaftlichen Evolution zu entdecken, einen bestimmten Charakter.
Während das Milieu, in dem die gesellschaftliche Evolution statt-
findet und die auf sie einwirkenden äussern Kräfte im höchsten
Grade verschiedenartig sind, wirkt das wichtigste Element des
historischen Lebens^ der Gedanke, der die Kultur infolge des
Entwicklungstriebes umgestaltet, nach den mehr bestinmiten und
besser bekannten Gesetzen der Psychologie und der Logik. Das
historische Leben (im oben bezeichneten Sinne Lawroffs) ver-
schiedenster Nationen kann daher mehr Aehnlichkeiten aufweisen,
äIs das unhistorische. Die verschiedenen Phasen des ersteren
folgen mit mehr Regelmässigkeit aufeinander, als diejenigen des
letzteren. Und je höher die Entwicklimgsstufe der gesellschaft-
lichen Evolution, desto weniger Abweichungen von dieser Regel-
mässigkeit. Die Verbindung aller geschichtlichen Erscheinungen
des Völkerlebens, besonders ihrer höheren Formen, lässt sich mit
mehr Sicherheit in einem stetigen Prozesse der Entwicklung der
Menschheit verwirkUchen, als die Unterwerfung der mannig-
faltigen Produkte der Kultur, der Gewohnheiten, Sitten, Tradi-
tionen und Gesellschaftsformen unter eine allgemeine Regel. Die
Aufgabe, ein Gesetz aufzustellen, das die Reihenfolge geschicht-
licher Phasen im Leben der Menschheit bestimmt, geht aus der
Auffassung der Geschichte, als eines Prozesses der Entwicklung
von Kulturformen durch die Wirkung der Gedankenarbeit, von
selbst hervor. Ein derartiges Gesetz ist genau ebenso wissen-
schaftlich, wie das von der Embryologie aufgestellte Gesetz der
Entwicklung des Embryos, wie das der organischen Entwicklung
von einer Monere bis zu einer Eiche und zum Menschen, oder
wie die Gesetze der geologischen Formationen. ..."
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Nachdem Lawroff bemerkte, dass verschiedenen Völkern
und Epochen verschiedene geschichtliche Gesetze entsprechen
können, und dass aus diesen verschiedenen Gesetzen der wissen-
schaftliche Forscher ein allgemeines Gesetz der geschichtUchen
Entwicklung gewinnen könne, kommt er zu folgendem Schlüsse :
„Sind diese Gesetze nur Trugbilder, so kann die Geschichte über-
haupt nicht begriflfen werden und existiert als Wissenschaft ein-
fach nicht. In der Wirklichkeit giebt es aber Geschichtsgesetze.
Die Aufstellung derselben ist eine Aufgabe der Wissenschaft und
erst wenn das geschehen ist, kann die Geschichte wissenschaft-
lich begriffen werden."
Kaum ist es möglich die Gesetzmässigkeit in der Geschichte
und somit die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte im
allgemeinen treffender zu begründen, als es in seinem Werke
P. Lawroff thut.
Es bleibt ihm nur das wichtige Problem des Verhältnisses
zwischen „Kultur" und „Geschichte", zwischen den unbewussten
und bewussten Elementen der Greschichte nach den verschie-
densten Beziehungen zu lösen. ^) Gelingt ihm dies, so erhalten wir
ein grossartiges System der Philosophie der Geschichte auf
Grundlage spezieller Forschungen aller hiezu gehörenden Wissen-
schaften, ein System, das zur Zeit die westeuropäische Wissen-
schaft noch nicht besitzt.
*) Durch seine wissenschaftlichen Vorstudien, wie durch seine phi-
losophische Denkart ist P. LawrofT, der ziigleich ein tiefsinniger Philosoph
wie einer der gelehrtesten Männer Europas (vgl. „Neue Zeit", 1892 3, II. Bd.
S. 325) ist, der geeignetste Mann für die Lösung dieser Aufgabe. Es bleibt
nur zu wünschen, dass dem greisen Denker, den das zarische Russland ins
Exil getrieben hat, auch die physische Möglichkeit geboten sei, diese ge-
sohichtsphilosophische Aufgabe einer, wenn nicht endgültigen — die Ge-
schichtsphilosophie kennt keine endgültigen Lösungen — so doch den
wissenschaftlichen Forderungen unserer Zeit entsprechenden Lösung ent-
gegenzubringen.
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in. Die Bedeutung des ludividuums in der Geschichte.
Die Stelle des Individuums in der Geschichte bildet das
Hauptproblem der „russischen sociologischen Schule." Dieses
Problem kann mit einem gewissen Rechte eine dominierende
Stellung in der Philosophie der Geschichte beanspruchen. Bei
der Behandlung der allgemeinsten Prinzipien der Philosophie der
Geschichte ist am Platze, diesem Problem näher zu treten. Drei
Lösungen desselben sind möglich:
Erstens. Das Individuum ist ein relativ selbständiges, haupt-
sächliches Agens in der menschlichen Geschichte. Es ist der
Ausgangspunkt, Ziel und Hebel des geschichtlichen Prozesses.
Die Geschichte existiert für, in und durch dasselbe. Dies ist im
wesentlichen — mit einigen Beschränkungen und Abweichungen
nebensächlicher Natur — die Lösung, welche die oben charak-
terisierte Richtung, die in der russischen geschichtsphilosophischen
Litteratur sich geltend gemacht hat, gibt.^) Das natürUche wie das
socialökonomische Milieu ist der locus ständig das Produkt oder
Mittel, das Werkzeug oder Genussobjekt des sich bethätigenden und
geschichtliche Werte schaffenden Individuums. Die objektiven
Kräfte, die das Indivicjuum umgeben, müssen gewiss in Betracht
gezogen werden und können nie straflos von dem Individuum
ignoriert werden. Sie müssen aber nur in Bezug auf das Wohl
und Wehe des Individuimis betrachtet werden. Das [Individuum
unterordnet mit Notwendigkeit die Beurteilung und Betrachtung
der Geschichte seinen eigenen Absichten, Zwecken und Idealen.
Die zweite Lösung des Problems gehört ihrem Geiste nach
zu der Entgegengesetzten objektiven Richtung in der Geschichts-
philosophie, die in der neueren Zeit hauptsächlich von Hegel
stammt, und die in unseren Tagen eine nicht nur theoretische
Bedeutung erlangt, sondern auch im populären Marxismus einen
praktischen Ausdruck gefunden hat. Wohl sagt Marx selbst mit
*) Die russiBobe sooiologischo Schule ist nicht in allen ihren Ver-
tretern durchaus homogen. So bekämpft, z. B., Michailowsky, ein äusserst
geistreicher und glänzender Publizist und Kritiker, den Marxismus in
Russland, während LawroflTs Stellung zu demselben uns unklar erscheint.
So weichen auch LawrofiTs Ansichten über die Bedeutung des Indivi-
duums von der oben skizzierten Auffassimg ab und nähern sich mehr
der weiter unten zu entwickelnden dritten Anschauung.
Ch. Rappoport, Die Hauptriohtungen der Philosophie. 4
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^■^^,%'H
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Vico, dass die Geschichte sich dadurch von der Natur unter-
scheide, dass sie vom Menschen selbst gemacht werde. Im „18.
Brumaire" ergänzt er diese seine Ansicht durch folgende Worte:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte aber sie machen
sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern
unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen imd überUeferten
Umständen." (2. Aufl. 1869, pag. 1.)
Es scheint aber, dass dieser schöne Gedanke von Karl Marx
von den meisten seiner Nachfolger übersehen oder ignoriert
worden ist. In der marxistischen Litteratur wird das Verhältnis
des Individuums zum objektiven, bezw. ökonomischen Faktor,
den sie als Hauptfaktor in der Geschichte betrachtet, derartig
behandelt, dass man beim besten WUlen, wissenschaftlich objektiv
zu sein, schliessen muss, die „Marxisten" betrachteten das Indi-
viduum nur als den Geschäftsführer des ökonomischen Paktors; als
ob für sie im geschichtlichen Bewegungsprozess die ökonomischen
Verhältnisse alles seien, das Individuum nichts sei. Durch den
möglichen Einwand, dass die Beschaff'enheit und die Wirkung des
Individuums in der Geschichtsphilosophie, als eine selbstverständ-
liche Voraussetzung der MögUchkeit aller Geschichte überhaupt,
keiner näheren wissenschaftUchen Analyse bedürfe, wird die
Verkennimg der Stellung des Individuums in der Geschichte
gerade am klarsten blossgelegt. Es giebt für die Wissenschaft
nichts selbstverständliches. Die Wissenschaft ist gerade dazu da,
um das, was dem gemeinen Verstände als selbstverständlich er-
scheint, als eine Quelle von Problemen und wissenschaftlichen
Schwierigkeiten, als ein inhaltsreiches Untersuchungsobjekt dar-
zustellen. Und das menschliche Individuum, welches als das kompli-
zierteste System von Kräften bezeichnet werden kann, ist nichts
weniger als einfach und selbstvertändlich. Seine Wirkungsweise
in der Geschichte ist auch nicht als etwas ein für allemal Ge-
gebenes zu betrachten, insofern dieselbe von seinen natürlichen
Anlagen bestimmt wird. Das Individuum ist kein System kon-
stanter^ sondern mannigfaltig und stetig sich entwickelnder Kräfte.
Die genaue Untersuchung des Verhältnisses des Individuums zum
ökonomischen Faktor selbst, diesem Dens ex machina der meisten
Marxisten im buchstäblichen Sinne des Wortes, könnte viel
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Ueberraschendes, das mit der Theorie des absoluten Unterge-
ordnetseins des Individuums unter die ökonomischen Verhältnisse
keineswegs vereinbar ist, auch für dennüberzeugteste Marxisten zu
Tage fördern. Er könnte zur Einsicht kommen, dass sich in vielen
Fällen leicht ein Satz aufstellen liesse, etwa in folgender Form, die,
wenn auch nicht, genau wissenschaftlich ist, doch nichtsdestoweniger
der Wahrheit nicht allzufern steht. Verschedenei Zonen — ver-
schiedene Rassen. Verschiedene Rassen — verschiedene Individuen.
Verschiedene Individuen — verschiedene ökonomische Verhält-
nisse. Stellt doch Marx, auf ökonomischem Gebiete unbestreitbar
eine Autorität ersten Ranges, selbst fest, dass der Kapitalismus
nicht in den tropischen, sondern nur in den gemässigten Zonen
sich zur vollen Blüte entwickeln konnte. (Kapital, Bd. I.)
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Geschichts-
philosophie von Marx und Engels zu kritisieren. Vielmehr sei
hier betont, dass die Marxistische Geschichtsphilosophie trotz
ihrer Einseitigkeit für die Philosophie der Geschichte im grossen
und ganzen mehr befruchtend und anregend wirken wird, als
die gesamten zahlreichen ideologischen geschichtsphilosophischen
Systeme, die aus allgemeinen und abstrakten Prinzipien eine
Philosophie der Geschichte konstruieren wollen.^) Uebrigens sind
diese letzteren Geschichtsphilosophen vorsichtig genug, sich vorher
eine eigene, mit der wirkUchen sich kaum berührende Geschichte,
ad majorem gloriam ihres eigenen Systems, zurecht zu machen.
Wenn die Kritik gegen dieselben einerseits nicht streng genug
sein kann, weil sie den Boden der Philosophie der Geschichte
im höchten Grade unsicher gemacht haben und einen berechtigten
Zweifel aufkommen Hessen, ob überhaupt eine Philosophie der
Geschichte mögUch sei, so muss andererseits dieselbe Kritik ob-
jektiv genug sein, um die gesunde Einseitigkeit des Marxismus
*) AU objektive Würdigung des Marxismus von einem Niohtmarx-
isten ißt ein Aufsatz von Professor Sombart zu betrachten. Er sagt da
u. a.: 9... das Eigentümliche der marxistischen WeltaufTassung, dass sie
die deutsche Form, wie sie der Hegelianismus bot, mit dem warmen,
wirklichen Inhalt westeuropäischen Lebens füllte, dass ihre Schöpfer
westeuropäisches Leben als deutsche Philosophen anschauten. In dieser
Synthese von deutschem und westeuropäischem Leben liegt das eigent-
liche Geheimnis des Marxismus.** (»Zukimft", Berlin, Oktober 1895.)
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als eine notwendige Reaktion gegen die abstrakt-idealistische
Strömung zu betrachten.^)
Die dritte mögliche Lösung des Problems der geschicht-
lichen Bedeutung des Individuums ist eine Kombination oder
Versöhnung der subjektiven und objektivan Standpunkte. Das
Individuum kann zugleich als geschichtliches Agens wie als ge-
schichtliches Produkt aufgefasst werden. — Wenn das Individuum
einerseits seine Geschichte selbst macht, so ist es andererseits
unzweifelhaft, dass es von den geschichtlich überlieferten Ver-
hältnissen abhängt. Thomas Buckle in seiner „History of Civili-
sation" behauptet mit Recht, dass die mächtigsten Individualitäten,
mögen sie sie sich in ihrem eigenen Bewusstsein für absolut frei
imd unabhängig halten, von der geschichtlichrn Unjgebung aufs
Entschiedenste abhängen. Diese notwendigerweise vermittelnde
Problemslösung betrachtet also das Individuum als aktives Sub-
jekt und zugleich als passives Objekt, als Herrn und Sklaven
seiner eigenen Geschichte in einer Person vereinigt.
Diese Lösung in ihrer allgemeinen Form scheint der wissen-
schattlichen Wahrheit am nächsten zu stehen. Sie leidet aber an
zwei bedeutenden Mängeln. Erstens ist sie zu allgemein und kann
darum für die konkreten Fälle und für die Mannigfaltigkeit des
geschichtlichen Prozesses nur von methodologischer, wenn auch
') Folgendes Beispiel dürfte zur Rechtfertigung unserei: Behaup-
tung genügen. In seiner neuesten Schrift „Professional Institutions^
(VII. Judge and Lawyer) führt Herbert Spencer ^ der unbestritten bedeu-
tendste der lebenden Vertreter der wissenschaftlichen Sociologie, das
juristische Gesetz — und folglich das gesamte positive Recht — auf zwei
Faktoren zurück: 1. auf die Macht der Gewohnheit („ . . . hardered form
of custom — Law*'), 2. auf die göttliche Sanktion („the ideal of Law and
of divine will were equivalents'^). Für dem mit geschieht sphilosophischen
Fragen Vertrauten liegt ausser Zweifel, dass diese Erklärung, mag sie
auch richtig sein, nur die umoeaentlichen Merkmale dieser socialen Er-
scheinung hervorhebt. Eine Handlung bzw. Ansicht kann nur dann zu
einer Gewohnheit „verhärtet** werden oder die göttliche Sanktion erhalten^
wenn gewisse reale individuelle und sociale Verhältnisse diese schon
später hinzukommenden Merkmale zu einer individuellen und socialen
Notwendigkeit machen. Für einen Anhänger der marxistischen Gre-
Schichtsauffassung ist daher mit .Recht die Erforschung der realen Motive
einer geschichtlichen Erscheinung die erste Aufgabe. Seine Erklärungen
werden nur dann problematisch, wenn er alle realen Motive in letzter
Instanz auf ein einziges, auf das ökonomische zurückführt.
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bei den häufigen einseitigen Verirrungen in der Philosophie der
Geschichte von nicht zu niedrig anzuschlagender Nützlichkeit
sein. Zweitens lässt diese Formel die wichtige Frage über die
Wirkungsweise des Individuums offen. Sie muss, damit sie für
die Philosophie der Geschichte ihre volle Bedeutung erlange,
durch folgende nur auf die hauptsächlichen Momente der Wirkungs-
sphäre des Individuums sich beziehende Sätze ergänzt werden:
i. Das Individuum tritt im geschichtlichen Prozesse als
aktiver^ und in seinen bedeutendsten geschichtlichen Funktionen
als bevmsst aktiver Faktor auf y während das natürliche
wie das socialgeschichliche Milieu passiver Natur ist. Um aktiv
auf die geschichtliche Bewegung einzuwu-ken, muss das Objektive
vom Individuum umgestaltet werden; es muss den Stempel des
lebenden und aktiv wirkenden Individuums erhalten, um auf
das geschichtliche Leben einzuwirken.
2. Als Folge dieses Verhältnisses zwischen Individuum und
Milieu ergiebt sich ein wichtiges unterscheidendes Merkmal der
Wirkungsweise des objektiven Geschichtsfaktors in seinem Ver-
hältnisse zimi subjektiven. Das objektive Milieu dient dem han-
delnden Individuum und somit auch der geschichtlichen Bewegung
und Weiterentwicklung als Material, Objekt, vielfach aber als
Hemmnis und mächtiger Widerstand. Daher keine Beherrschung
der Natur ohne den Kampf mit unzähligen Schwierigkeiten, kein
geschichtlicher Fortschritt ohne socialen Kampf, keine individuelle
Entwicklung ohne Kampf mit sich selbst, ohne Selbstbeherrschung
und Selbstüberwindung. In diesem Sinne hat die russische socio-
logische Schule vollkommen Recht, indem sie das Individuum
zum Hauptagens des geschichtlichen Prozesses macht. Es wäre
noch richtiger zu sagen : als bewusster und aktiver Geschichts-
faktor ist das Individuum der einzig mögliche in der Geschichte.
Die Individualität, die individuelle Initiative, die individuelle
Macht erhöhen heisst daher im Sinne und zu Gunsten des ge-
schichtlichen Fortschrittes, der geschichtlichen handeln ; dieselben
schwächen ist ein Moment geschichtlicher Reaktion, des ge-
schichtlichen Stillstandes, mit andern Worten, es ist der geschicht-
liche Tod. Jede neue gesellschaftliche Ordnung enthält mehr
geschichtlichen Wert nur insofern sie die Individualität aller ^ die
Bewegungskraft der gesamten Gesellschaft relativ selbständiger
Individuen fördert.
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3. Die Gesamtheit der individuellen Wirkungen, die ge-
schichtlichen Resultate individueller Thätigkeiten müssen jedem
Einzelnen gegenüber als eine ausser ihm stehende, als objektive
fremde Macht erscheinen. TTnd so scheint jeder Komplex indivi-
dueller Thätigkeiten auf jedes einzelne Individuum als eine Na-
turnotwendigkeit zu wirken, während er, in seine einfachsten
Bestandteile zerlegt, nur eine Summe individueller Kräfte, Hand-
lungen, Sitten undGredanken darstellt. So entsteht die sogenannte
historische Notwendigkeit, die viele mit der Naturnotwendigkeit
verwechseln, weil sie praktisch für das einzelne Individuum
ebenso zwingend ist, wie eine Naturnotwendigkeit. Das einzelne
Individuum scheint gegenüber der Gesellschaft von verschwin-
dend geringer Kraft zu sein, und als solches fühlt es sich isoliert
ganz ohnmächtig und ist geneigt, das von individueller Hand-
lungsweise Abhängige auf eine Art geschichtlichen Patums auf
„den objektiven Gang der Geschichte", auf den „mächtigen Geist
der Zeit", auf die „geschichtliche Notwendigkeit" zurückzuführen.
Diese geschichtliche „Objektivität" erscheint also nun als ein
notwendiges Produkt des subjektiven Bewusstseins eines einzelnen
Individuums, das seine eigene Ohnmacht, die Ohnmacht des
socialen Atoms, für die Ohnmacht des Individuums überhaupt
hält. Püt eine Philosophie der Geschichte entsteht somit die Auf-
gabe, das scheinbar Objektive in seine subjektiven Bestandteile
zu zerlegen, die Kompliziertheit geschichtlicher Gewebe in ihre
feinsten und einfachsten, kaum sichtbaren Päden aufzulösen. Nur,
nachdem diese schwierigste Analyse des Geschichtlichen voll-
zogen ist, kann die Philosophie der Geschichte das wirklich
Objektive des geschichtlichen Prozesses feststellen.^)
') Die Objektivierung des Subjektiven hängt dazu mit einer ge-
wissen psychologischen Eigenschaft des Menschen — wir möchten fast
psychologischem Gesetze sagen — zusammen. Jede vollendete That, jede
Handlung, die das Stadium des subjektiven Willens, Reflexion, Empfin-
dung schon hinter sich hat, kann und wird als etwas uns Fremdes, von
uns Unabhängiges, an sich, mit einem Worte als Objekt betrachtet werden.
Die individuelle Handlung wird zur Thatsache und kann als solche durch
ihre objektiven Merkmale bezeichnet und beschrieben werden. Nach der
Vollendung hängt die Handlung nicht mehr vom Menschen ab, sondern
umgekehrt, der Mensch hängt dann von seiner Handlung ab. Der sub-
jektive Ursprung wird durch das objektive Resultat verdrängt. Dazu ist
in der Geschichte diese psychologische Täuschung viel bedeutender und
erklärlicher, weil der Urspnmg der geschichtlichen Resultate allzu wenig
ersfchtlioh und zu kompliziert ist.
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4. Das Individuum kann nur dann eine aktive Bedeutung
in der Geschichte beanspruchen^ wenn es in derselben Richtung
handelt j in welcher die meisten individuelleii und socialen Kräfte
sich bethätigenj oder mit der Zeit sich bethätigen müssen. Handelt
es in entgegengesetzter Richtung, so ist seine Bedeutung ver-
schwindend gering und bleibt daher ohne Belang für die
Geschichte, wenn es sich isohert bethätigt, oder es erhebt sich
zu einer vorübergehenden reaktionären Macht, wenn es in Ver-
einigung eines beträchtUchen Teiles mitinteressierter und gleich-
gesinnter Individuen auftritt.
Dieses Gesetz, vielleicht das wichtigste von denen, die die
geschichtliche Bedeutung des Individuums beherrschen, hat auch
die grösste praktische Bedeutung. Daraus folgt auch die grosse
Wichtigkeit der Philosophie der Geschichte, ja ihre absolute
Notwendigkeit für unser praktisches Leben. Und dies zwar für
jeden, der nicht geneigt ist, ein Spielball der Verhältnisse, ein
blindes Werkzeug fremder Willkür und fremden Ehrgeizes zu
werden. Denn aus diesem Gesetz ergiebt sich die praktische
Notwendigkeit einer philosophischen Auffassung der geschicht-
lichen Kräfte, ihres gemeinsamen Verhältnisses, wie ihrer allge-
meinen Richtung. Nur nach Erfüllung dieser Bedingung, nur
nachdem das Individuum mit dem geschichtlichen Prozess und
seiner Tendenz im grossen und ganzen einigerpaassen vertraut
ißt, kann es die wichtige Entscheidung über seine politische
Richtung und die Berechtigung, bezw. Nichtberechtigung seiner,
meist nicht von ihm selbst erwählten, socialen Stellung, mit Be-
wusstsein fallen. Nur auf solche Weise kann das Individuum den
beiden grössten Gefahren, die jeder individuellen Thätigkeit
drohen, der Sterilität (wenn die Thätigkeit bedeutungslos für die
Geschichte ist), und der Schädlichkeit (wenn sie reaktionär
die geschichtliche Bewegung hemmt) glücklich entgehen.
Aus diesem Gesetz folgt aber nicht die absolute Unterwerfung
des Einzelnen unter die erdrückende Macht des oder der geschicht-
lich Stärkeren, wenn ihm das bessere Gewissen und Wissen diese
Unterwerfung verbieten. Nicht das geschichtliche Gesetz, sondern
das moralische Postulat, das Bewusstsein des Rechtes und des Un-
rechtes, des Richtigen und des Unrichtigen, das für uns subjektiv
zwingend ist, müssen die endgültige Sanktion imseres Handelns
geben. Wenn der Einzelne überzeugt ist, dass eine bestimmte
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geschichtliche Strömung, wenn auch von unbesiegbarer Macht,
seinem bessern Wissen und Gewissen entgegengesetzt ist, so hat
er das Rechte wenn er den Willen hat^ grundsätzlich und mit
Bewusstsein dieser Strömung, wiewohl ohne Erfolg, entgegenzu-
arbeiten.
Cato und Brutus kämpfen für ihr Preiheitsideal, auch wenn
sie ihre heilige Sache momentan oder auf immer für verloren
halten. Aber auch in diesem Falle ist es wichtig für den Ein-
zelnen, zu wissen, woran er mit seinem individuellen Eingreifen
in den geschichtlichen Prozess ist. Und eine der Aufgaben der
Philosophie der Geschiebe besteht eben darin, zu entscheiden,
ob die Tendenz des geschichtlichen Prozesses, aus welchen Ele-
menten er auch bestehen mag, mit dem entwickelten individuellen
Bewusstsein, mit den moralischen wie praktischen Postulaten
des Individuums, übereinstimmt oder nicht. Die Entscheidung über
diese Frage bestinmit zugleich die speziellere Richtung der Phi-
losophie der Geschichte. Je nachdem die Antwort auf diese
Frage ausfällt, kann eine Philosophie der Geschichte pessimistisch,
im Falle der Unmöglichkeit der Versöhnung der geschichtlichen
Tendenz mit den individuellen Forderungen, oder optimistisch
im entgegengesetzten Falle, oder skeptisch im Falle derUnent-
schiedenheit, sich gestalten. Dieser geschichtliche Pessimismus,
Optimismus oder Skepticismus kann ein endgilltiger sein, wenn
er auf den ganzen geschichtlichen Prozess sich bezieht, oder ein
partieller, wenn er sich nur auf eine bestimmte geschichtüche
Bewegung oder Epoche beschränkt.
6. Mit der Kulturentwicklung tvächst die Macht des In-
tellekts und die geschichtliche Bedeutung des Individuums,
dessen Träger es ist. Je weiter die Menschheit sich entwickelt,
desto grösser ist die Herrschaft der Vernunft über die vernunft-
lose Natur. Der Gebrauch der blossen Naturprodukte, die keiner
künstlichen und bewussten Arbeit unterliegen, nimmt in dem-
selben Masse^ ab, in dem das bewusste Eingreifen des Indivi-
duums sich entfaltet und verbreitet. Durch neue Erfindungen
besiegt es den Raum, das Entfernteste imd Verborgenste tritt
in den Wirkungskreis des Individuums. Durch bewundernswerte
Kombinationen mechanischer und chemischer Kräfte erhöht es
die Produktivkraft seiner Arbeit ins UnendUche, gewinnt dadurch
Müsse und Zeit, die Hauptbedingungen weiterer Entwicklung.
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— 57 —
Aus einem Sklaven der Natur, in der er nur eine geheimnisvolle
imd unbesiegbare, ihn mit Schauer und Ehrfurcht erfüllende
Macht erblickte, wird der Mensch durch seine entwickelte Ver-
nunft zu deren Herr und Gebieter. Die Natur, die seine Einbil-
dung vorher mit Dämonen und Ungeheuern bevölkerte, ist ihm
jetzt nicht mehr eine Quelle imzähliger unbesiegbarer Gefahren
und Leiden, sondern er sieht in ihr jetzt nur noch eine segens-
reiche Macht, die er durch seine Ueberlegenheit bezwungen und
•sich dienstbar gemacht hat. Auf keinem Gebiete ist die unauf-
hörlich wachsende Macht der sich im Individuum entwickelnden
Vernunft so sichtbar, wie auf dem der ökonomischen Thätigkeit.
Wenn wir die ersten Werkzeuge des Urmenschen wie alle seine
sonstigen Mittel, die ihm im Kampfe ums Dasein zu Gebote
standen, mit unseren vom Dampfe und von der Elektrizität be-
wegten Maschinen vergleichen, so haben wir damit nur ein
einziges Beispiel des Triumphzuges der Vernunft durch die
menschliche Geschichte. Kein Gebiet ist geeigneter j die Bedeu-
tung des subjektiven Faktors^ d, h. des menschlichen Indivi-
duums mit grösserer Sicherheit in konkreter Form darztdhun^
als das ökonomische. Und es muss als eine unbegreifliche Ver-
irrung des menschlichen Verstandes betrachtet werden, wenn in
der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung gerade
das ökonomische Gebiet benützt wurde, um die geschichtliche
Bedeutung der bewussten menschlichen Thätigkeit tief herabzu-
drücken. Wäre der Mensch, wie Benjamin Franklin meinte,
wirklich nur ein „toolmaking animal", so hätte er auch dann
noch als ein glänzender Beweis der ungeheuer grossen Entwick-
lungskraft, die in der Vernunft enthalten ist, angeführt werden
können.
6. Die geschichtliche Macht des Individuums ist eine
Resultante von unzähligen Einzelurirkungen ^ die in jedern
Momente des geschichtlichen Daseins sich geltend machen.
Mit diesem Satz wird der verführerische Einwand gegen die
geschichtliche Bedeutung des Individuums beseitigt, der aus der
Bedeutungslosigkeit jedes einzelnen Momentes individueller
Thätigkeit wie jedes einzelnen Individuums, auf die Unerheblich-
keit der geschichtlichen Bedeutung des Individuiuns überhaupt,
schliessen lassen könnte. Mag der einzelne in jedem einzelnen
Momente auch höphst unbedeutend und machtlos scheinen, die
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- 58 -
Zusammensetzung einer unzähligen Menge von individuellen
Krafteffekten muss nach den elementarsten Gesetzen der Zu-
sammensetzung einer unendlich grossen Zahl verschiedener kleiner
Kräfte einen bedeutenden Maohtfaktor abgeben.
Passen wir die Ergebnisse unserer Beleuchtung des spezi-
fischen Charakters der historischen Gesetzmässigkeit und der
geschichtlichen Bedeutung des Individuums, wie die mit ihnen
zu verbindenden Schlussfolgerungen kurz zusammen, so erhalten
wir die folgenden Thesen:
1. Die Entscheidung über die geschichtliche Gesetzmässig-
keit kann auch unabhängig vom Preiheitsproblem gefällt werden.
Aus wissenschaftlich-praktischen Gründen ist diese Unabhängig-
keit auch wünschbar.
2. Die Gesetzmässigkeit des Historischen ist sowohl durch
seine konstanten, der Betrachtung der Naturwissenschaften
unterliegenden Bestandteile, durch den Charakter der Zweck-
mässigkeit des praktischen Handelns, als auch durch das be-
stimmte Verhältnis zwischen Zweck und Mittel gegeben. Daraus
folgt, dass die geschichtliche Gesetzmässigkeit keine metaphy-
sische, absolute Notwendigkeit in sich einschliesst, sondern eine
solche, die wir mit Leibnitz eine „moralische Notwendigkeit*'
nennen können. Da wir nur empirisch feststellen können, dass
gewisse individuelle und gesellschaftliche Zwecke dem mensch-
lichen Handeln notwendig zukommen, so kann auch diese Not-
wendigkeit eine empirische genannt werden. Innerhalb dieser
Grenzen aber können die geschichtlichen Gesetze eine allgemeine
und notwendige Gültigkeit erhalten.
3. Mit der Kompliziertheit des Historischen ist notwendig
die grösste Schwierigkeit der Peststellung einzelner wie allge-
meiner geschichtlicher Gesetze verbunden.
Mit dieser Schwierigkeit ist auch auf dem Gebiete der
Philosophie der Geschichte wie der Philosophie überhaupt die
Möghchkeit dreier Richtungen gegeben: der dogmatischen^ die
die Gesetze der Geschichte feststellt, ohne ihre Möglichkeits-
bedingungen zu untersuchen, der kritischen^ die eine Kritik der
Möglichkeitsbedingungen der geschichtsphilosophischen Gesetze
vor dem Versuch der PeststeUung derselben postuUert, und
endlich der skeptischen^ die an der Möglichkeit solcher Gesetze
mehr oder weniger zweifelt. Die Schwierigkeit der Lösung eines
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- 59 -
wissensohaftlichen Problems genügt aber nicht, dessen Unlös-
barkeit zu beweisen.
4. Eis giebt drei Hauptquellen der geschichtlichen Gesetz-
mässigkeit: die zwei ursprünglichen, die äussere Natur und der
menschliche Geist, und das historische Milieu, als das gemeinsame
Produkt der Wechselwirkung beider, das aber im Laufe der Ent-
wicklung eine selbstständige Form mit einer ihm eigentümlichen
Wirkimgsweise annimmt. Die Haupteinteilung aller geschicht-
lichen Paktoren ist durch ihre subjektive imd objektive Natur
gegeben. Die Bedeutung des subjektiven- Faktors ist von der
russischen sociologischen Schule, deren Begründer Peter Lawroff
ist, besonders hervorgehoben und wissenschaftlich untersucht
worden. Die Analyse des subjektiven Faktors führt uns zu der
wichtigen Frage über die geschichtliche Bedeutung des Indivi-
duums.
5. Das individuelle Eingreifen in den geschichtlichen Pro-
zess zerstört nicht dessen Gesetzmässigkeit. Vielmehr unterliegt
der individuelle Einfluss bestimmten Gesetzen, von denen wir
die wichtigsten aufzustellen und zu begründen versuchten.
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- 60 -
IV. Die Hauptepochen der Entwicklung der Philosophie
der Geschichte.
Wir haben als solche die providentielle, die metaphysische
und die positiv-wissenschaftliche bezeichnet. Die geschichtliche
und kritische Auseinandersetzung dieser drei Richtungen wird
uns einige wichtige Ergebnisse für die allgemeinen Prinzipien
der* Philosophie der Geschichte liefern. Das klassische Altertum
hatte keine Philosophie der Geschichte als selbständiges wissen-
schaftliches Gebiet. „Neither of them (Plato und Aristoteles) had
any conception of a science or philosophy of history. No thinker
of the Greco-Roman classical world had ; not one regarded history
as the subject of a science as of a distinct department of philo-
45ophy ; not one had a properly scientific or philosophical interest
in history« (Plints Ph. of Hist., t. II, p. 136). In der umfang-
reichen geschichtsphilosophischen Litteratur herrscht darüber nur
«ine Meinung.
Der eigentliche Charakter, der Grundgedanke der platoni-
schen Philosophie ist am wenigsten geeignet, das Geschichtliche
als Objekt der Philosophie zu betrachten. Für den platonischen
Idealismus ist das Wesentliche — und nur das Wesentliche kann
nach ihm Objekt der Wissenschaft sein — nicht im Veränder-
lichen, also nicht in der Geschichte, sondern in der ewigen un-
veränderlichen Idee enthalten. R. Mayr bezeichnet daher mit
Recht den platonischen Idealismus als „im Grunde eine geschieh ts-
feindliche Doktrin." Wenn in der Welt der Dinge nur die Idee
das Ziel des wissenschaftlichen Strebens darstellen kann, so hat
im gesellschaftlichen Leben nur das Ideal einen Wert, i) Nur
der Idealstaat, das Abbild der Staatsidee ist der wissenschaftlichen
Darstellung wert, und nur mit ihm befasst sich Plato. ^) Dass
*) In meiner Schrift: „Die sociale Frage und die Ethik*, Bern 1895,
S. 14 15, habe ich versucht, die unerwartete Beibehaltung der Sklaverei
im Idealstaat auf Grund der antiken ethischen Auffassung zu erklären.
') So der neueste Geschichtsschreiber des antiken Kommunismus
Hob. Pö'hlmann: „Der platonische Idealstaat erhebt zugleich den An-
spruch der Rechtsstaat xar" i^ox^jy, die höchste Verkörperung der Ge-
rechtigkeit zu sein.*' Geschichte des antiken Eommimismus und Socia-
lismus, pag. 270, München 1893.
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■=rr
- 61 -
eine solche Anschauung einer philosophischen Betrachtung des
Geschichtlichen, mit andern Worten, einer wissenschaftlichen
Würdigung jedes geschichtlichen Moments, als integrierenden
Teiles eines Ganzen, im höchsten Grade ungünstig ist und sein
rauss, leuchtet von selbst ein. War bei Aristoteles das geschicht-
liche Element bedeutend mehr wie bei Plato vertreten und hat
es sich sogar als wissenschaftliche Hilfsmethode in der Darstellung
geschichtlich überlieferter Meinimgen über zu behandelnde Pro-
bleme geltend gemacht (vgl. Metaph. I, Kap. 5 ff.), so stimmte
doch der „Riesendenker des Altertums*^ (K. Marx) mit Plata
darin überein^ dass nur das allgemeine, das Ewige, die zur Voll-
«Jdung geliemgte Form Gegenstand der Wissenschaft sein dürfen^
nicht ab'er das Werdende, die zur Vollendung strebende Mög-
lichk;eit. Für ihn wie für Plato konnte daher die Geschichte nicht
Giegeustand der Philosophie sein. Der Mangel einer Philosophie
^er Geschichte bei Plato und Aristoteles war also durch den
Charakter ihrer philosophischen Systeme selbst gegeben.
Und vielleicht war für das klassische Altertum eine solche
auch entbehrUch.
Für den denkenden Griechen fiel das Schicksal der Mensch-
heit mit dem des Kosmos zusammen. Die Menschen mussten nach
Heraklit und einigen andern griechischen Denkern wie die Welt
selbst Opfer der periodischen Weltverbrennung werden. Die
Geschichtsphilosophie wurde bei den Griechen zur Weltphilosophie
und daher durch dieselbe ersetzbar.
Das Zurücktreten des geschichtsphilosophischen Denkens
bei den Alten war auch aus andern Gründen durchaus notwendig.
Es fehlte ihnen an den beiden notwendigen Voraussetzungen
jeder Philosophie der Geschichte, an der Idee der Menschheit'
wieder des kontinuierlichen Fortschrittes. Die nationale oder viel-
mehr lokale Beschränktheit der alten Völker, die bis auf wenige
Ausnahmen (Cyniker und Stoiker), allgemein war, musste mit
Notwendigkeit einer grossartigen wissenschaftlichen Betrachtung
der Schicksale der Völker ungünstig sein.
Sogar für den Römer (vorchristlicher Epoche), den das
Schicksal der Menschheit im grossen und ganzen doch wenigstens
als das seines Eroberungsobjekts interessieren solltp, war seine
„Stadt *^ (Rom) gleichbedeutend mit der ganzen Welt (urbi
et orbi).
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~ 62 -
Erst der urchristliche KosmopoHtismus schuf den Boden
für eine allgemeine Philosophie der Geschichte, indem er die
Idee der Menschheit in den Geistern wachrief.
Die zweite Voraussetzung jeder Geschichtsphilosophie, die
Idee des Fortschrittes als einer allgemein notwendigen, geschicht-
lichen Thatsache wird, wenigstens in der Form, in der sie als
Basis für ein geschichtsphilosophisches System gebraucht werden
kann, als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Errungen-
schaften erst der netten Zeit allgemein betrachtet. Der zurück-
gelegte geschichtliche Weg, der der antik«tp Geschichte als
bekannt galt, war zu kurz, als dass die Idee deNS^ontinuität der
Entwicklung in einer bestimmten Richtung innerhalb der Men-
schengeschichte zur allgemeinen Geltung hätte gebra(OTt<werden
können.
Bei einer solchen Sachlage müssen die Tiefe imd Origir
tat der einzelnen geschichtsphilosophischen Betrachtungen, dii
von antiken Denkern aufgestellt worden sind, um so mehr Be-
wunderung erregen. Hier kommen in erster Linie Plato und
Aristoteles in Betracht. Die Betrachtungen Piatos über die Not-
wendigkeit der Arbeitsteilung und besonders die von Aristoteles
aufgestellten Gesetze der Entwicklung der politischen Formen^)
haben nicht nur einen selbständigen Wert, weil sie viel treffliches
und wahres enthalten, sondern hatten auch einen grossen Ein-
fluss auf die spätem Geschichtsphilosophen bis in unsere Zeit.
Es lässt sich also das charakteristische des geschichtsphilosophi-
schen Denkens im klassischen Altertum unserer Ansicht nach
folgendermassen bezeichnen: Die geschichtsphilosophische Be-
trachtung der Alten war entweder zu allgemein und fiel mit
: der kosmologischen zusammen^ oder zu speziell und bezog sich
\ auf einzelne geschichtliche Erscheinungen^ während ihr der
geschichtliche Prozess als ganzes verschlossen blieb und bleiben
musste.
*) Siehe „Politik", Buch VIII, Kap. I, wo als auf die Ursache der
inneren Revolutionen auf eine Art »Klassenkampf" zurüchgeführt wird.
(„Und deshalb erheben die Bürger Aufruhr, weil sie nicht so an der Re-
gierung Teil haben, wie sie das Gleiche auffassen.") Es ist daher weder
historisoh, noch gerecht, die „Erfindung" des Antagonismus der Klassen
auf Conto des modernen Socialismus zu setzen.
\
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- 63 -
Erst mit der christlichen Aera sind die allgemeinsten Vor-
aussetzungen einer einheitlichen Philosophie der Geschichte
gegeben: Die Idee einer einheitlichen Menschheit und eines
einheitlichen geschichtlichen Prozesses, dessen Centrum das
Christentum bildete.
Max Müller giebt zu, dass erst mit dem Christentum eine
Philosophie der Geschichte möglich wurde. Denn ein Wort tritt
jetzt hervor, welches „nimmer die Lippen des Sokrates, noch
des Plato, noch des Aristoteles überschritten hat, die Menschheit.**
Das christliche Mittelalter ist die Blütezeit der providentiellen
oder theologischen Geschichtsauffassung. Die Geschichtsphilosophie
des Mittelalters blieb ihrem religiösen Ursprung treu und wurde
von demselben Geiste* getragen, der das gesamte Zeitalter kenn-
zeichnete. Es war vor allem das Zeitalter der Theologie auf dem
Gebiete der Geistesthätigkeit, das Zeitalter, das Guizot mit den
folgenden Worten treffend charakterisiert: „Der theologische Geist
ist das Blut in den Adern der europäischen Welt bis auf Baco
imd Descartes."
Schon das Hauptdogma des Christentums schliesst gewisser-
massen ein ganzes geschichtsphilosophisches System in sich. Die
menschgewordene Gottheit, die Erlösung der sündigen Mensch-
heit durch den Sohn Gottes ist schon eine, auf einer religiösen
Grundlage aufgebaute Entwicklungsgeschichte,^) die das Schicksal
der Menschheit beherrscht. Und diese dogmatischen Kiemente
durften natürlich in keiner theologisch-christlichen Philosophie
der Geschichte fehlen. Dass die providentielle Geschichtsphilo-
sophie zu einer willkürlichen, unwissenschaftlichen Konstruktion
der Geschichte ihre Zuflught nehmen musste, um nicht mit den
christlichen Glaubensdogmen in Widerspruch zu geraten, versteht
sich von selbst. Ihre aprioristische Methode ist ihr durch ihren
Ausgangspunkt und Grundcharakter schon sozusagen a priori
vorgezeichnet. Sie wurde daher von den neuesten Schriftstellern
sehr streng beurteilt: So sagt Vacherot (Essais 1864, pag. 412):
^Quant k cette prötendue philosophie de l'histoire dont la theo-
^) Wenn wir die theologisch -dogmatische Geschichtsauffassung
„Entwicklungsgeschichte" nennen, so fassen wir den Begriff der Ent-
wicklung nicht im modernen Sinne des Wortes, sondern in seiner all-
gemeinsten Bedeutung auf.
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- 64 ~
logie chretienne aurait fourni la donnee premiere, que Saint
Augstin, que Sahnen aurait esquissee, que Bossuet, en dernier
lieu, aurait d^velopp(5e dans le discours sur l'histoire, on peut y
trouver im certain plan, ime certaine unitö de vues, mais rien
qui ait rapport ä une theorie quelconque du progrfes. C'est dieu
qui seul mfene le genre huraaine, et qui le mene, oü il veut et
comrae il veut, ä travers un sörie de chutes et par une succes-
sion de coups d'Etat.*' Vacherot scheint hier die positiven Ver-
dienste der theologischen' Richtung um die Philosophie der
Geschichte, auf die wir oben hinwiesen, übersehen zu haben.
Nicht minder streng betont Jauffroy in seiner „R(5flexion&
sur la Philosophie de l'histoire" (pag. 63) diesen Mangel an
Wissenschaf thchkeit : „Ce qui öclate dans, Bossuet, c'est le m^-
pris de Thistoire. Les faits plient comme Therbe sous leurs pieds,
prennent sous' leurs mains toutes les fomies possibles et justifient
avec une ögale coraplaisance les tht^ories les plus oppos^s."
Indem die providentjelle Geschichtsauffassung die prinzipielle
Forderung eines Planes in der Geschichte aufgestellt hat, hat
sie dadurch auf das geschichtsphilosophische Denken mächtig
eingewirkt. Nicht von geringerer geschichtücher Bedeutung für
die Philosophie der Geschichte war die Idee des Fortschrittes^
' die von der providentiellen Geschichtsauffassung in dieselbe ein-
geführt wurde, wenn auch in beschränkter dogmatischer und
religiöser Form.
Die providentielle Geschichtsauffassung hat zunächst den
Fortschritt auf rehgiösem Gebiete nicht nur proklamiert, sondern
scharf und vielfach zutreffend nachgewiesen. Die Kirchenväter
haben mit Scharfsinn und aufrichtiger Ueberzeugung die heid-
nischen Religionen, den Anthropomorphismus der Alten, schonungs-
los blossgelegt. Der heilige Augustinus in seinem berühmten
geschichtsphilosophischen Hauptwerke widmet den grossem Teil
desselben seinen dogmatisch-religiösen Auseinandersetzungen, die
die Vorzüge des Christentums vor andern religiösen Traditionen
kennzeichnen sollen. Gewiss ist es übertrieben, wenn Gratry das
Evangelium als den Codex des Fortschrittes bezeichnet („La
morale et la loi de Thistoire" 1868). Noch unrichtiger aber ist
die Verkennung des Verdienstes der providentiellen Geschichts-
auffassung um die Idee des Fortschrittes, welcher Verkennung
sich einige schuldig machen.
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■vpr •»
— 65 —
Bei der relativen Leichtigkeit, mit der eine bedeutende Idee
die zufällige geschichtliche Hülle, mit der sie ursprünglich auf-
getreten ist, abwirft und eine ihr angemessene Form annimmt,
ist es auch für die Idee des Portschrittes nichts Unnatürliches,
wenn sie anfangs in einer etwas abenteuerlichen Form vor den
menschlichen Geist tritt.
Der bedeutendste theologische Geschichtsphilosoph nach
dem heiligen Augustin ist Bossuet. Dass auch seine Geschichts-
philosophie, etwa dreizehn Jahrhunderte später entstanden, den-
selben unwissenschaftlichen Charakter trägt, und vielmehr eine
Konstruktion, als eine philosophische Untersuchung der Geschichte
istji) beweist, wie gering die Entwicklungsfähigkeit der reUgiös-
dogmatischen GeschichtsauflFassung ist.
Die Providenzialisten des XIX. Jahrhunderts sind daher so
wenig für das Verständnis der geschichtlichen Bewegung vor-
bereitet gewesen, dass sie ihre besten Kräfte der Reaktion
*) Herr F, Brunetibre irrt, wenn er in seiner apologetischen Be-
handlung Bosauets (siehe u. a. seinen Artikel in der Grande Encyclop.
Bd. 7, pag. 476) meint, dass die Kritiker Bossuets denselben nur seines
providentiellen Standpunktes wegen angreifen. Er vergisst dabei, dass
ja bei aller mögliohen objektiven und geschichtlichen Betrachtung dieses
Standpunktes doch weder der Providenz noch ihren Vertretern in Rom
oder irgendwo das Recht zugestanden werden kann, den thatsächlichen
Gang der Geschichte post factum zu alterieren oder zu ignorieren.
Die modernen Providenzialisten und Theologen, durch die steigende
Macht der wissenschaftlichen Methode in eine für sie schwierige Lage
gesetzt, sind allzuoft geneigt, Accommodationen und Kompromisse ins
Gebiet der Wissenschaft hineinzutragen und auch von derselben solclie
zu verlangen. Derart handelnd bleiben sie dem Geiste ihrer Vergangenheit
vollkommen treu. So tritt dieser Accommodationsgeist am grellsten zu
Tage in folgendem von Bossuet gebilligten Artikel eines Versöhnungs-
entwurfes zwischen Katholicismus und Protestantismus:
,Art. XXV. Une partie de l'Eglise oatholique approuve la Con-
ception immacul^e de la Sainte Vierge, et Tautre Timprouve. Toute
TEglise protestante le rejette, 11 faut donc prier TEglise catholique
d^entrer dans ce demier sentiment pour le hien de lapaix^ (wir citiercn
nach F, Bruneti^re).
Wäre die Wissenschaft von einer solchen Bereitwilligkeit, ihre
Grundsätze den Verhältnissen zu opfern, beseelt, so würde allerdings die
von Bruneti^re proklamierte ^Banqueroute de la science", einstweilen
noch dessen pium desiderium, schon längst zur traurigen Wirklichkeit
geworden sein.
Ch. Rappoport, Die Hauptrichtungeu der Philosophie. 5
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— 66 —
widmeten und dem modernen Geiste einen unversöhnlichen Krieg
erklärten.
Die Providenzialisten des XIX. Jahrhunderts bekämpfen
mit vollem Bewusstsein die französische Revolution, die Demo-
kratie, die moderne Wissenschaft, die Philosophie seit Descartes.
Sie betrachten sie als ein grosses historisches Unglück, als ein
Ungeheuer, als einen verderblichen Irrtum. Da sie aber anderer-
seits tiberzeugt sind (weil sie nicht einseitig genug für ihre Sache
waren), dass dieser Gang der Geschichte notwendig sei, so
ist ihre Kampfesweise eine im höchsten Grade erbitterte. Ihre
Polemik ist scharf, ungerecht und übertrieben. Es ist ein Ver-
zweiflungskampf, ohne Hoffnung je zu siegen, ein Kampf um des
Kampfes willen. Joseph de Maistre wollte beweisen, dass der
Mitbegründer der neuen Philosophie, Francis Bacorij nichts mehr
als ein „wissenschaftlicher Charlatan" war, und machte sich zum
Prinzip, dass „die Verachtimg Lackes der Anfang aller Wissen-
schaft*' sein müsse. De Bonald sieht in der Geschichte der
Philosophie nichts als eine Aufforderung zur Verwerfung aller
philosophischen Systeme. Die Verachtung der neuen Philosophie
seit Descartes, wie der Philosophie überhaupt („die Quelle alles
Irrens, aller Unordnung" — ist die Philosophie, Bd. IV, p. 309)
bildet den Inhalt der Schriften von Lammenais : „Essais sur
rindifförence en matifere de la religion" (8. Aufl. 1859)^) und
„Defense". Für Joseph de Maistre ist die französische Revolution
„ein Werk des Satans", die Geschichte der letzten drei Jahr-
hunderte „ eine ununterbrochene Verschwörung gegen die
Wahrheit."
Dass die französischen Providenzialisten in der Bekämpfung
der neuzeitlichen Ideen gerade die rücksichtslosesten und heftigsten
sind, ist durch die geschichtliche Entwicklung Frankreichs zu
erklären. Frankreich ist das Vaterland des radikalsten Zweiflers,
Renö Descartes, der den Zweifel, den Gegenpol und Todfeind
des Glaubens, zu einem notwendigen, methodologischen Prinzip
erhoben hat. Die Kirche hat ihn daher von Anfang an bekämpft,
trotz seiner grossen Verdienste um den Gottesbeweis. Dasselbe
Frankreich hat den englischen Materialismus und Sensualismus
*) Vgl. I, 46-47 ff., 67, 70, 354, II, 20-21, 213 ff., III, 277-278,
besonders B. IV. (, Defense de Tessai*.)
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— 67 —
aus einem verfeinerten Genuss aristokratischer Freidenker in ein
Kampfmittel breiter Volksmassen verwandelt. Die schärfsten und
geistreichsten Angriffe gegen die kirchliche Autorität haben
sich, wie allgemein bekannt, von Frankreich aus über alle
europäischen Staaten verbreitet. Frankreich war das Land, das
der Kirche während der Revolution den grössten materiellen
Schaden zugefügt und durch Konfiskation der kirchUchen Güter
vielleicht eine tiefere und dauerndere Erbitterung hervorgerufen
hat, als Voltaire durch seine schonungslose Verhöhnung des
Pfaffentums und der kirchlichen Dogmen. Auch für diese ma-
teriellen Verluste mussten die Anhänger der kirchlichen Autorität
die gesamte philosophische Entwicklung der Zeit verantwortlich
machen, gemäss ihrer Gewohnheit, alles in der Geschichte auf
bloss geistige Ursachen zurückzuführen. Die Vertreter der reli-
giösen Geschichtsauffassung der ersten Hälfte des XIX. Jahr-
hunderts erklärten daher allen wissenschaftlichen und philoso-
phischen Errungenschaften einen unversöhnHchen Krieg. Der
nicht zu beseitigende prinzipielle Gegensatz zwischen dem bUnden
kirchlichen Glauben an die Tradition imd anerkannte Autorität
und dem grundsätzlich kritischen Geiste des profanen wissen-
schaftlichen Denkens ist in diesem Kampfe zum schärfsten Aus-
druck gekommen.
Dieser Gegensatz zwischen dem starren Glauben und dem
unaufhaltsam sich entwickelnden Wissen konnte im XIX. Jahr-
hundert — besonders in Frankreich — auch klarer und rück-
sichtsloser zum Ausdruck gelangen, da beiden Parteien durch
Press- und Redefreiheit die unbeschränkte Möglichkeit gegeben
war, für ihre Ueberzeugungen einzutreten.
Die Macht, die Philosophie und Wissenschaft im XVIIL
und XIX. Jahrhundert sich erkämpft haben, musste natürlich
die Erbitterung der der Religion ergebenen Denker steigern. Sie
konnten sich schwerlich mit der geschichtlichen Thatsache ver-
söhnen, dass die ehemalige „Magd der Theologie" sich zu einer
Herrin der Kulturwelt emporgeschwungen hatte.
Nach der Wissenschaft ist die individuelle Freiheit der
grösste Feind, den die Providenzialisten energisch bekämpfen.
Die von der französischen Revolution proklamierten Menschen-
rechte werden heftig angegriffen. Der extreme Individualismus
der neuen Ordnung wird einer derben und teilweise gerechten
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— 68 -
Kritik unterzogen. „Nicht die Individuen," sagt de Bonaldy,
„bestimmen die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft ist es, die
die Individuen bestimmt, denn die Einzelnen existieren nur in
und fiir die Gesellschaft." Für de Maistre sind Menschen nur
„Abstraktionen." „Es giebt keinen „Mensöhen" in der Welt. Ich
bin Franzosen, Italienern, Russen begegnet. Was einen Menschen
anbelangt, so erkläre ich, noch nie in meinem Leben einem
solchen begegnet zu sein." Es ist beachtenswert, dass derselbe
Standpunkt in der Philosophie der Geschichte, wie wir weiter
sehen werden, auch von Vertretern einer ganz andern Geschichts-
auffassung aufgestellt wird. Die Unterdrückung der individuellen
Freiheit, der individuellen Rechte zu gunsten der kirchlichen
und socialen Autorität, die bei de Maistre offen und ehrlich filr
unser höheres Wohl als notwendig betrachtet wird, ist das
logische und geschichtlich notwendige Resultat einer An-
schauimgs weise, der zufolge das Individuum nichts, die über
ihm stehende Kirche, die Gesellschaft und der Staat aber alles ist.
Die providentielle Geschichtsauffassung nimmt sich eine
ihrer Natur nach unlösbare Aufgabe zu lösen vor — den gött-
lichen Plan in der menschlichen Geschichte zu finden, die
Absichten eines unendlichen Verstandes durch die endliche
Menschen Vernunft zu erfassen, ohne die Mittel aufweisen zu
können, durch welche dieses, alle unsere Kräfte übersteigende
Problem gelöst werden könnte. Die providentielle Geschichts-
auffassung ist daher notwendigerweise dogmatisch und unter-
scheidet sich von einer kritischen Philosophie der Geschichte
dadurch, dass sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit keiner
Prüfung unterzieht, noch unterziehen kann, weil eine solche
Kritik eine Selbstvernichtung wäre: es ist gegen den religiösen
G^ist selbst, der Vernunft des irdischen Menschen eine solche Un-
möglichkeit zuzumuten. Dieser sozusagen organische Widerspruch
der providentiellen Geschichtsauffassung spiegelt sich, wie es
nicht anders sein kann, in den geschichtsphilosophischen Kon-
struktionen der Schule wieder. Sie muss nicht nur ihre eigene
Geschichte a priori dem von ihr fingierten providentiellen
Plane entsprechend, konstruieren, diesen Zug besitzt sie ge-
meinsam mit der metaphysischen Geschichtsauffassung, — sondern
sie ist auch gezwungen, über eigene „Geschichtsquellen", aus
welchen sie ihrer Geschichte Inhalt und leitenden Gedanken
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schöpfen könnte, zu verfügen. Es existierte daher für die provi-
dentiellen Geschichtsauffassung von jeher ausser der profanen.
■Geschichte eine geofTenbarte, eine göttliche, eine heilige Geschichte,
von der sie die wissenschaftliche Kritik, die mit der Offenbarung
nichts zu thun hat, fern halten musste. Die Bibel als Geschichts-
quelle galt daher allen gläubigen christlichen Geschichtsschreibern
seit Eusebius (264—340), dem Vater der kirchlichen Geschichte,
den seine Bewunderer den „christlichen Herodot" genannt haben,
tür das über alle Kritik erhabene Gotteswerk. Somit ist die pro-
videntielle Geschichtsauffassung antiwissenschaftlich nicht nur
ihren Zwecken, ihrem Wesen und Ursprung nach, wie wir ob«i
gezeigt haben, sondern auch durch ihre geschichtlichen Hilfs-
mittel.
De Bonald glaubte in der Bibel eine Bestätigung seiner
Annahme zu finden, dass Verstand, Sprache und Wissenschaft
Offenbarungen Gottes seien.
De Maistre begründet mit der Bibel seine Theorie von der
ewigen Verdammnis der Menschheit, seine Rechtfertigung der In-
<juisition und der blutigen Kriege, seine Lehre, ^dass die Erde ewig
nach dem Blut der Menschen und Tiere schreie." ^) Das Wunder,
das Uebematürliche, ist für den theologischen Geschichtschreiber
-ein notwendiges Element der Geschichte. Unter den Vertretern
der imgeheuern Masse geschichtlicher Litteratur, die das christ-
liche Mittelalter hinterlassen hat (siehe z. B. die Sammlungen
von Graevius, Muratori, Bouquet, Migne, Guizot, Pertz u. a.),
«ind die gelehrtesten Kardinäle und Bischöfe, wie die unwissen-
<ien Mönche zu treffen. (So gesteht ein Geschichtschreiber der
Kirche — mid zwar ein Bischof — mit der Grammatik nicht
besonders vertraut zu sein: „Veniam precor" — sagt der Autor
der „historia Prancorum", Gregoire de Tours, „aut litteris, aut
in syllabis grammaticam artem excessero, de qua ad plene non
5um imbutus.**)
In einer Zeit, wo die induktive Methode wenig oder gar
nicht bekannt und noch weniger angewandt war, wo die Kunst
der Beobachtung des wirklichen Thatbestandes bei den Geschicht-
schreibern sich noch nicht entwickeln konnte, musste der Zustand
der Geschichtswissenschaft, ohne welche eine wissenschaftliche
Vgl. Flint., Ph. of Hist., B. IL
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Philosophie der Geschichte undenkbar ist^ ein sehr unbefriedi-
gender sein. ^ucklCy ein gründlicher Kenner der kirchlichen
Geschichtslitteratur, fasst sein Urteil über dieselbe in folgenden
Worten zusammen: „Kurz nach der endlichen Auflösung de&
römischen Reiches fiel die Litteratur Europas gänzlich in die
Hände der Geistlichkeit, die lange als die einzigen Lehrer des
Menschengeschlechts verehrt wurden. Mehrere Jahrhunderte war
es sehr selten, dass ein Laie lesen und schreiben konnte, imd
natürlich noch seltener fand sich einer, der ein Buch schreiben
konnte. So wurde die Litteratur das Eigentum einer Klasse
und nahm natürlich deren Eigenheiten an. Nun hat die Geist-
lichkeit im Ganzen es immer mehr für ihre Sache angesehen,,
den Glauben durchzusetzen, als die Untersuchung zu ermuntern ;
daher ist es kein Wunder, wenn sie in ihren Schriften diesen Geist
ihres Standes entfaltet hat. Und so hat, wie schon bemerkt,
die Litteratur Jahrhunderte lang der Gesellschaft nicht genützt,,
sondern geschadet, indem sie die Leichtgläubigkeit vermehrte
und dadurch den Fortschritt der Wissenschaft hemmte. Man
gewöhnte sich in der That so sehr an die Lüge, dass die Menschjeft
bereit waren, alles zu glauben. Nichts verletzte ihre gierigen
und leichtgläubigen Ohren, Geschichten von Vorbedeutungen,.
Wundern, Erscheinungen, seltsamen bösen Zeichen, ungeheuem
Schreckbildern am Himmel, die verrücktesten und abgerissensten
Abgeschmacktheiten wurden von Mund zu Mund wiederholt und
von Buch zu Buch abgeschrieben mit ebensoviel Sorgfalt, al&
wenn sie die ausgesuchtesten Schätze menschlicher Weisheit
wären^. Diese Ansicht Buckles ist durch Lecky's „History of the
rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe**
(4. ed. 1870), Draper's „History of the Intellectual Development
of Europe" (London 1875, revised ed.), und Mazzarella^s „Storia
della critica" auf die glänzendste und gründlichste Weise be-
stätigt worden.
Nach einer Richtung hin ist die providentielle Geschichts-
auffassung jedoch einer Entwicklung fähig. Sie kann alle wissen-^
schaftlichen Elemente der Geschichte in sich aufnehmen und
nur als letzte Ursache des geschichtlichen Seins, wie alles An-
deren, die göttliche Providenz gelten lassen. Die providentielle-
GeschichtsaufFassung musste dann mit der Theologie wie mit
der theologischen traditionellen Geschichte entschieden brechea
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— 71 —
und nur Gott als ^suraraus rector" der Geschichte dürfte beibehalten
werden. Eine solche Entwicklung wäre aber andererseits die gänz-
liche Auflösung des Systems. Die Idee der Gottesregierung könnte
dann die Geschichte ebensowenig mit positivem Material be-
reichem, wie die Naturwissenschaften. Die geschichtliche Rolle
Gottes wäre dann mit einem konstitutionellen Herrscher in einem
absolut demokratischen Staate, mit einem „Roi qui rfegne, mais
ne gouverne pas" zu vergleichen.
Dass die Befreiung von der theologischen Tradition, we-
nigstens in Bezug auf den faktischen Inhalt der Geschichte in
imserer Zeit möglich geworden ist, zeigt das Beispiel des bel-
gischen Gelehrten Laurent^ der der providentialistischen Ge-
schichtsauffassung huldigt.
Sehr nahe in methodologischer Hinsicht steht der provi-
denziellen Geschichtsauffassung die metaphysische, die mit dem
Aufschwung der Metaphysik im XVII. und XVIII. Jahrhundert
im Zusammenhange steht.
Der theologische Geist der christlichen Aera hat nicht so-
fort dem streng naturwissenschaftlichen den Boden geräumt.
Es entstand eine philosophische Bewegung, die sich von der
alten aprioristischen und dogmatischen Methode noch nicht ganz
befreien konnte. Es entwickelte sich auf dem Gebiete der Ge-
schichtsphilosophie eine metaphysische Betrachtungsweise, die
ebensowohl die positiven Elemente der vorhergegangenen Epochen
des geschichtlichen Providentialismus, die Einheit der Menschen-
geschichte wie die Idee des Portschrittes, als die negativen, die
Tendenz zur willkürlichen Geschichtskonstruktion imd den Mangel
an faktischer Grundlage, getreu aufnahm, und in einer anderen,
höheren Form weiter entwickelte.
Die metaphysische Epoche der Geschichtsphilosophie be-
trachtet die Geschichte der Menschheit als Verwirklichimg meta-
physischer Ideen oder eines einzigen metaphysischen Prinzips.
Hegely ihr genialster und konsequentester Vertreter, fasst die
ganze Geschichte als ein stufenweises nach bestimmten Gesetzen
sich entwickelndes Werden, als eine Offenbarung des absoluten
Geistes, auf. Verschiedene Zeiten, wie verschiedene Völker,
sollen die einzelnen notwendigen Momente dieses Prozesses dar-
stellen. Die Einheit der Geschichte, wie ihr Portschritt ergeben
sich von selbst als Folge dieser, jedenfalls grossartigen, geschicht-
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— 72 —
liehen Konzeption. So sagt G. Mehring^): „Die Geschichte soll
eine Einheit, ein Ganzes sein (eine „Begriffseinheit" an einer
andern Stelle). Irgend ein Vieles wird aber, wie uns schon
Plato gelehrt hat, dadurch ein Ganzes, dass ihm eine Idee
(EUog) zu Grund liegt."
Wird die Gescnichte a priori als Ganzes betrachtet, so
müssen natürlicherweise die zum System fehlenden geschicht-
lichen Elemente durch Phantasie imd dialektischen Scharfsinn
des Philosophen ersetzt werden, Nicht die UnvoUkommenheit
seiner geschichtlichen Auffassung wird durch diesen Mangel für
den Philosophen bewiesen, sondern die UnvoUkommenheit der
Geschichte. Dieser Gedanke ist in folgenden Worten des eben
zitierten Autors enthalten: „Wenn irgend etwas, was zum Be-
griff und Ganzen gehört, im Gang der Ereignisse unausgefüUt
bleibt, so beweist dies das Uiw;3llendetsein der Geschichte."
Die Kontinuität der oder einer Idee in der Gesöhichte, ihr
Vorhandensein bei allen Völkern und in allen Zeiten ist eine
notwendige Voraussetzung der metaphysischen Auffassungsweise.
Herder^ der in seinen spezielleren geschichtsphilosophischen
Untersuchungen und Betrachtungen nicht zu der metaphysi-
schen Richtung gezählt werden darf, der aber in seinen all-
gemeinen Prinzipien unter dem Einfluss der Metaphysik steht
und die ganze Geschichte als die Verwirklichung der Humanitäts-
idee a priori auffasst, spricht sich auf folgende Weise über die
Notwendigkeit der Kontinuität dieser seiner Idee aus: „Wie
unter uns niemand leugnen wird, dass auch in der Brust des
Sodomiten, des Unterdrückers, des Meuchelmörders das Gebilde
der Humanität gegraben sei, ob er's gleich durch Leidenschaften
und freche Gewohnheit fast unkenntlich machte, so vergönne
man mir nach allem, was ich über die Nationen der Erde gelesen
und geprüft habe, diese innere Anlage zur Humanität so all-
gemein als die menschliche Natur, ja eigentlich für diese Natur
selbst, anzunehmen'. Wilhelm Humboldt behauptet geradezu,
dass die Zurückführung der Geschichte auf eine ausserhalb der
Geschichte liegende Idee der einzige Weg zu geschichtüchem
Begreifen sei. Er geht von dem allgemeinen Satz aus: „Wie
*) ,Die philosophisch-kritischen Grundsätze der Selbst- Vollendung
als die Geschichtsphilosophie**. Stuttgart 1877.
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— 73 —
man es immer anfangen möge, so kann das Gebiet der Erschein
nimgen nur von einem Punkte ausser demselben begriffen werden,
und das begonnene Hinaustreten ist ebenso gefahrlos, als der
Irrtum bei blindem Verschliessen gewiss ist in demselben^.
Ferner: „Jede menschliche Individualität ist eine in der Er-
scheinung wureelnde Idee". Er kommt daher zu einem Schluss,
der als Grundprinzip der metaphysischen Geschichtsauffassung
betrachtet werden kann. „Das Ziel der Geschichte kann nur
die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellenden
Idee sein". Ebenso entschieden spricht der Hegelianer August
von Cieskowsky seinen Standpunkt aus: „Die Weltgeschichte
ist der Entwicklungsprozess des Geistes der Menschheit in der
Empfindung, im Bewusstsein und in der Bethätigung des Schönen,
Wahren und Guten, ein Entwicklungsprozess, den wir in seiner
Notwendigkeit, Zufälligkeit und Freiheit zu erkennen haben".
Diese Auffassung ist der endgültige Sieg der menschlichen Ver-
nunft in der Geschichte : „Die Menschheit hat endlich die Stufe
ihres Selbstbewusstseins erreicht . . . : sie hat die Manifestation
-der objektiven Vernunft in der Weltgeschichte erkannt". Wenn
Cieskowsky seinen Meister tadelt, so geschieht es nur, weil der
Letztere die Idee schon als etwas Fertiges in die Geschichte legt :
^,Wir verlangen ein systematisches Suchen des Logischen in der
Weltgeschichte, während wir bei Hegel nur ein spekulatives
Finden derselben anerkennen".
Am kürzesten beschreibt diese metaphysische Auffassung
Novalis^ indem er die Natur als einen „Index des Geistes" be-
zeichnet. Von diesem metaphysischen Gedanken wird die ganze
metaphysische Geschichtsphilosophie getragen. Die metaphysische
Geschichtsphilosophie hat das nicht geringe Verdienst, die Tra-
dition des geschichtsphilosophischen Denkens weitergeführt und
<iurch die Verbindung geschichtsphilosophischer Theorien mit
berühmt gewordenen metaphysischen Systemen für die Philo-
sophie der Geschichte ein neues reges Interesse, hie und da
sogar Enthusiasmus, wachgerufen zu haben.
Die metaphysische Geschichtsphilosophie litt aber an dem-
selben Gründfehler, wie die theologisch-providentielle. Sie suchte
die Geschichte a priori zu konstruieren. Die geschichtlichen
Thatsachen mussten sich vor der Majestät der Theorie beugen.
Als erste Opfer aprioristisch-synthetischer Methode musste die
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— 74 —
Chronologie, der zeitliche Zusammenhang der geschichtlichen
Ereignisse, fallen. Die Thaisache tritt beschämt hinter die Idee
zurück. Nicht die gewissenhafte nüchterne Kritik, die die
dunkelsten Winkel des gegebenen geschichtlichen Materials
durchforscht, sondern die schwungvoll begeisterte Synthese war
die Losung der metaphysischen Geschichtsphilosophen. An diesem
Fehler ging sie auch zu Grunde. Sie hatte aber den Vorsprung
vor der providentiellen Geschichtsauffassung durch ihre Unab--
hängigkeit vom religiösen Dogmatismus und von der traditionellen
Geschichtsmythologie. Indem sie die Geschichte rationalistisch zu
erklären und zu konstnuren suchte, konnte sie nicht umhin,,
einige Grundtendenzen und Grundeigenschaften des geschicht-
lichen Prozesses zu entdecken. So verdanken wir der grossartigen
geschichtsphilosophischen Metaphysik Hegels die energische Her-
vorhebung der Idee der Entwicklung, die Theorie vom Kampfe
der Gegensätze, in deren Form der geschichtliche Prozess sich
abspiele. Die Idee der Entwicklung hat, wie allgemein bekannt
ist, eine grosse historische Bedeutung und einen mächtigen
Einfluss auf allen wissenschaftUchen Gebieten erlangt. Die ab-
strakte Theorie der Hegeischen „Gegensätze*^ hat bei Karl Marx^
die konkrete Form des Klassenkampfes angenommen — ein
jedenfalls wichtiges und folgenreiches, wenn nicht, wie seine
Anhänger glauben, ein ausschliesslich massgebendes Moment
der Geschichte — und dies ist von grosser praktisch-geschicht-
licher Bedeutung geworden.
Ferner erlangten bestinmite Thatsachen \md geschichtliche
Strömungen durch ihre Verwandtschaft mit dem ganzen ge-
schichtsphilosophischen System auch für den über die wirkliche
Geschichte erhabenen Metaphysiker, gerade dank seiner Meta-
physik eine besondere Bedeutung und folglich eine gründlichere
Beleuchtung. Denn nicht i\\^ Fähigkeit^ das Geschichtliche richtig
abzuschätzen, sondern der theoretische Wille fehlte dem meta-
physischen Denker. Kann es aber im Interesse seiner Theorie
geschehen, so erhalten wir auch beim letzteren die schönsten
und tiefsten Gedanken über den geschichtlichen Gang der Dinge*
Auch von einem Metaphysiker kann eine „plumpe Thatsache*'
Achtung erzwingen, wenn er in ihr das irdische Kleid eines
hinmilisch-metaphysischen Wesens erblicken will.
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— 75 —
Es sei hier nur auf die völkerpsychologischen und allgemeinen
geographischen Gedanken Hegels in seiner Philosophie der Ge-
schichte hingewiesen.
Die grossen geschichtlichen Ereignisse des letzten Viertels
des 18. Jahrhunderts im Bunde mit dem grossartigen Aufschwung
der Naturwissenschafben haben der Philosophie der Geschichte
einen mächtigen Anstoss gegeben, haben ihr neue Untersuchungs-
methoden, eine neue Richtung aufgedrängt. Es bahnt sich
eine neue Epoche der Philosophie der Geschichte, eine positiv-
wissenschaftliche an. Das skrupulöse Studium der Geschichte,
womöglich mit Hilfe der positiveren, weit reiferen Wissenschaften,
wird zur Vorbedingung einer Philosophie der Geschichte erhoben.
Die Vorläufer der wissenschaftUchen Philosophie der Geschichte,
welche einzelne Bausteine für eine entstehende und noch in un-
serer Zeit bei weitem nicht vollendete umfassende wissenschaftliche
Theorie des geschichtlichen Prozesses liefern, sind zahlreich und
reichen bis in die ältesten Perioden des menschlichen Denkens.
Wir haben schon Plato und Aristoteles erwähnt. Bodin,
Macchiavelli, Vico, Montesquieu, Voltaire, Herder und Kant
sind die berühmtesten. Eine wenig bekannte geschichts-
philosophische Thatsache sei hier besonders hervorgehoben. Wir
meinen die wissenschaftliche Leistung auf dem Gebiete der
Philosophie der Geschichte eines bedeutenden arabischen Ge-
schichtsphilosophen und Staatsmannes, Ibn Khaldun,^) Derselbe
hat mehr als 300 Jahre vor Vico^ der gewöhnlich als der Ur-
heber einer neuen, wissenschaftlichen Richtung in der Philosophie
der Geschichte gilt, weit gründlicher und vollständiger als dieser
die Aufgabe der Geschichte aufgestellt und zu lösen gesucht. (Ibn
Khaldun geboren 1332 in Tunis, gestorben in Cairo 1406.) Ibn
Khaldun suchte in seinem geschichtsphilosophischen Werke
„Prolegomena" (Mocaddemat) die Natur der Völker, hauptsäch-
lich des arabischen Volkes, aus ihren Lebensbedingungen, wiel
von der sie umgebenden Natur zu erklären. In seinen Ausein-
andersetzungen erinnert er an die späteren Geschichtsphilosophen.
') Der arabische Text seines Hauptwerkes: «Prolegom^nes^ ist in
B. XVI der Sammlung: Notioes et extraite des manusorits^ von Quatre-
m^e, Paris 1858 veröffentlicht. Die französische UebersetzuDg von M.'
F. de Glane ist in derselben Sammlung, B. 14, 19 und 20 (Paris 1868) auf-
genommen.
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— 76 —
»
Manchmal glaubt man, Montesquieu oder Buckle oder sogar Karl
Marx zu lesen. Mit vollem Bewusstsein und voller Klarheit tritt
Ibn Khaldun für die Notwendigkeit einer Theorie der Geschichte,
wie einer Geschichte der Civilisation ein. Er hat sich die Aufgabe
gestellt, die Geschichte zu einer Wissenschaft zu erheben. Fol-
gende Stelle zeigt klar, auf welcher Höhe die Geschichtsauffassung
Ibn Khalduns stand:
Der Gegenstand der Geschichte ist die Erklärung des ge-
sellschaftlichen Zustandes des Menschen, d. h. der Civilisation
und der Erscheinungen, die naturgemäss damit zusammen-
hängen, nämlich der Wildheit, der Milderung der Sitten, des
Familien- und Stammgeistes, verschiedener Vorzüge, deren die
-einen Völker im Vergleich mit den andern teilhaftig geworden
sind und die zur Gründung der Dynastien und Reichte geführt
haben; der Rangunterschiedej der Beschäftigungen, denen
sich die Menschen widmen, so z. B. der zur Erhaltung des
Lebens notwendigen und Verdienst einbringenden, wie auch der
der Wissenschaft und Kunst ; endlich sämtlicher Veränderungen,
die die Natur der Dinge im Charakter der Gesellschaft hervor-
bringen könnte. (Proleg. p. 71.)
Ferner : Es ist eine Wissenschalt sui generis, da sie erstens
ihr eigenes spezielles Objekt besitzt, ich meine die Civilisation und
die menschliche Gesellschaft ; zweitens behandelt sie verschiedene
Fragen, die zur Erklärung der Thatsachen dienen, welche mit
dem Wesen selbst der Gesellschaft zusammenhängen "
„Unsere Abhandlungen bilden eine neue Wissenschaft ^ welche
ebensowohl durch ihre Originalität als durch den weiten Umfang
ihrer Nützlichkeit Bedeutung erlangen wird. Wir haben sie
entdeckt,^ Ib. pag. 77.
Hier finden wir sogar die Bezeichnung der „neuen Wissen-
schaft", die Vico auf Grund des Titels seines Hauptwerkes
(^Nuova Scienza") von vielen so sehr nachgerühmt worden ist.
„Ich habe mit grosser Sorgfalt die Fragen behandelt, die
den Gegenstand meines Werkes bilden. Ich habe es ebensowohl
für Gelehrte wie für Weltmänner zugänglich gemacht; bei
dessen Verfassung und. in der Verteilung des Stoffes bin ich
^inem originellen Plane gefolgt, indem ich mir eine neue Methode
der Geschichtschreibung, einen Weg zu einem mir allein eigen-
tümlichen System ausgedacht habe. Bei der Betrachtung dessen,
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— 77 —
4
was sich auf die Civilisation und die Gründung der Städte be-
zieht, habe ich alles entwickelt, was die menschliche Gesell-
schaft an bezeichnenden Thatsachen und Verhältnissen bietet.
Auf diese Weise erkläre ich die Ursachen der Ereignisse, die
Mittel, durch welche die Gründer der Reiche zu ihrer Stellung^
gelangt sind. Der Leser wird nicht mehr gezwungen, sein, den
ihm vorgelegten Erzählungen einen blinden Glauben zu schenken
und wird folglich von der Geschichte der ihm vorausgegangenen
Zeitalter und Völker gut unterrichtet sein. Er wird sogar im
stände seirij die Ereignissej, die in der Zukunft entstehen
können, vorauizusehen. Ib. p, 9,
Dem Einflüsse des Klimas wird die Hautfarbe, der Charakter '
und die Lebensweise der Neger zugeschrieben. Der Einfluss des
Bodens wird hervorgehoben. Den zweiten Teil der „Prolegomena^
fängt Ibn Khaldun mit dem Hinweise darauf an, dass verschiedene^
Sitten und gesellschaftliche Einrichtungen von der Art abhängen,
wie die Menschen für ihre Existenzmittel zu sorgen haben. Der
Unterschied zwischen städtischem und ländUchem Leben wird
ausführlich und zutreffend geschildert. Die Stadt wird als der
Hauptsitz der Civilisation betrachtet, da das städtische Leben
die Energie und die Unabhängigkeit fördere. In unserer Zeit hat
Karl Marx auf die Entwicklung der Städte und ihre bedeuten-
den Folgen für die Geschichte besonders Gewicht gelegt. Sa
weit und tief blickend war der arabische Geschichtsphilosoph
des 14. Jahrhunderts.
In dieser Hinsicht sind folgende Stellen bemerkenswert:
Die Angehörigen der Landbevölkerung beschränken sich
auf das absolut Notwendige und besitzen keine Mittel, dessen
Grenze zu überschreiten, während die Städter mit der Befriedi-
gung der Luxusbedürfnisse und Vervollkommnung alles dessen
beschäftigt sind, was sich auf ihre Gewohnheiten und Lebens-
weise bezieht. (Ib. p. 257.)
Unter den Bewohnern des Landes und der Stadt, sind die-
jenigen eher gottesfürchtig und zur Frömmigkeit geneigt, die
Hunger zu ertragen und Vergnügungen zu entbehren gewohnt
sind, als die im Ueberfluss und Luxus Lebenden. Die Gottes-
fürchtigen sind in den grossen Städten wenig zahlreich, dagegen
herrschen gewöhnlich in denselben Gefühllosigkeit und Indiffo-
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— 78 —
rentismus, die durch einen allzu reichlichen Gebrauch der Pleisch-
nahrung, durch Gewürze und Mehlspeisen bedingt sind. (Ib. p. 180.)
Die Wichtigkeit der Existenzmittel, die eine besondere
Bedeutung in der marxistischen Geschichtsphilosophie erhalten
haben, wird nicht minder entschieden in folgenden Stellen her-
vorgehoben :
Die Unterschiede der Sitten und Einrichtungen verschie-
dener Völker hängen von der Weise abj in welcher Jedes
derselben für seine Existenzmittel zu sorgen hat. Die Menschen
vereinigten sich in Gesellschaften zum Zwecke der Anschaffung
von Lebensmitteln, Auch bei Marx ruft das Bedürfnis der
Produktion die sociale Organisation hervor. (Vergl. seine ^Misfere
de la Philosophie.) Ib. p. 254.
„Gott hat den Menschen mit Vernunft und — einer Hand
beschenkt. Die Hand, der Vernunft untergeordnet ^ ist immer
bereit Kunstwerke hervorzubringen. Die Künste verschaffen
dem Menschen Werkzeuge, die ihm diejenigen Glieder ersetzen,
die andere Tiere zu ihrer Verteidigung besitzen. . . . Ein isolierter
Mensch wäre nicht im stände der Kraft, selbst eines einzigen Tieres,
besonders aus der Klasse der fleischfressenden, zu widerstehen.
Er wäre absolut nicht im stände sich zu verteidigen." Ib. p. 87.
Es darf daher das folgende Urteil Flints über Ibn Khaldun
kaum als übertrieben betrachtet werden:
As regards the science or philpsophy of history, Arabic
literature was adorned by one most brilliant name. Neither the
classical nor the medieval Christian world can schow on of
nearly the same brightness. (Phil, of Hist., B. U, p. 86, 1883.
Vergl. P. Lawroffs citiertes Werk Bd. I, Anm. 16.)
Und doch, trotz aller vereinzelter Versuche, bleibt es dem
19. Jahrhunderte, dem wissenschaftlichen Jahrhunderte par ex-
cellence vorbehalten, der wissenschaftUchen Richtung in der
\ Philosophie der Geschichte zum endgültigen Siege zu verhelfen.
Und dazu ist dieser Sieg mehr ein Sieg der Methode als der
Ausführung. Niemand, der auf dem Gebiete der theoretischen
Geschichtsforschung Bedeutung und Einfluss erlangen will, wird
in unserer Zeit eine geschichtliche Konstruktion a priori, ver-
suchen und noch weniger die Geschichte lediglich als die Be-
stätigung irgend welcher Glaubensdogmen betrachten wollen.
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— 79 —
Die Durchführung aber bUeb weit hinter der Methode zu-
rück. Die Geschichtsaufifassungen des 19. Jahrhunderts geraten
vielfach in solch prinzipielle Widersprüche mit einander — wie
wir teilweise weiter sehen werden — dass schon dieser Umstand
allein die wissenschaftliche Objektivität aller dieser Aufifassungen,
wenn sie auch der Haupttendenz nach insgesamt der positiv-
wissenschaftlichen Richtung angehören, als unmöglich macht
Weiter werden wir versuchen, die Grundursache dieser merk-
würdigen Erscheinung von der Natur des historischen selbst ab-
zuleiten und zu erklären.
Die allgemeinsten Züge imd Merkmale der positiv-wissen-
schaftlichen Philosophie der Geschichte sind nicht so leicht zu
fassen und kurz wiederzugeben, wie diejenigen der ihr vorher-
gegangenen und oben dargestellten beiden anderen Richtungen,
der providentiellen und metaphysischen. Dem Grundcharakter
des Historischen, der äussersten Kompliziertheit, mehr entsprechend
als die beiden andern Richtungen, zerfallt sie selbst in verschie-
dene Strömungen und Verzweigungen. Doch lassen sich zwischen
diesen vielverzweigten geschichtsphilosophischen Richtungen
einige natürliche Scheidelinien ziehen.
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~ 80 -
V. Die drei Hauptrichtungen der -wissenschaftlichen
Philosophie der Geschichte.
Bei der Untersuchung des spezifischen Charakters de&
Geschichtlichen haben wir alle mögHchen Faktoren der Geschichte
auf drei Hauptfaktoren zurückgeführt : Das natürliche (im engeren
Sinne) Milieu, das individuell-menschliche und das geschichtliche
Milieu. Diese drei Arten der geschichtlichen Einwirkungen er-
schöpfen den ganzen Inhalt der Geschichte. Ausser der äussern
Natur, der menschlichen Individualität und dem geschichtlich
Gewordenen kann nichts auf die Geschichte des menschlichen
Geschlechts einwirken. In diesen drei Quellen und nur in diesen
haben wir wissenschaftliche Antworten auf jene uns oft in
Staunen und Schrecken setzenden Rätsel der Geschichte zu
t suchen, und in diesen drei Quellen des geschichtlichen Lebens
können wir sie finden. Diesen drei Hauptquellen des geschicht-
lichen Werdens entsprechen auch drei Hauptrichtungen in der
positiv-wissenschaftlichen Geschichtsphilosophie : die physisch--
klimatische, die physiologisch-psychologische und die kultur-
historische. Die verschiedensten gesohichtsphilosophischen Theo-
rien und Tendenzen lassen sich methodologisch wie inhaltlich
unter eine dieser drei Richtungen bringen. Die physisch-klimatische
Richtung geht in ihrer Erklärung des geschichtlichen Prozesses
von der äussern Natur aus, die physiologisch-psychologische von
der Innern Natur des Menschen, die kulturhistorische sucht durch
die verschiedenen Kultur- und Lebensformen, die sich im ge-
schichtlichen Prozesse herangebildet haben, die geschichtliche
Bewegung zu begründen und zu erklären.
Die physisch-klimatische Geschichtsauffassung geht vom
Grundsatze aus, dass der Mensch ein integrierender Teil der
physischen Natur, ihre höchste Blüte darstelle und als solcher im
Geschichtsprozesse betrachtet werden dürfe. So sagt Herder,,
einer der Bahnbrecher in dieser Richtung: „Was physisch .ver-
einigt ist, wanim sollte es nicht auch geistig und moralisch
vereinigt sein, da Geist und Moralität auch Physik sind und
denselben Gesetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnensystem
abhängen, nur in einer höheren Ordnung, dienen.''
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~ 81 -
Herder kommt daher zu folgendem Schlüsse : „Vom Himmel
rauss unsere Philosophie der Geschichte des menschlichen Ge-
schlechts anfc^ngen, wenn sie einigermassen diesen Namen ver-
dienen soll." Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur ist
eine so allgemeine und notwendige Thatsache, dass sie noch
lange bevor es eine Philosophie der Geschichte, als ein abge-
grenztes wissenschaftliches Gebiet gab, klar vor dem mensch-
lichen Geiste lag. Plato spricht vom Einfluss des Klimas in
seiner Republik. Besonders ist aber Aristoteles auf das Verhältnis
zwischen dem Klima und den menschlichen Einrichtungen ein-
gegangen. Er betrachtet die verschiedenen Völkerstämme im
Zusammenhange mit ihrem Wohnsitze und zwar mit dessen
klimatischen Eigenschaften.
Im IV. Buch, Kap. VII, seiner „Politik" sagt er folgendes :
„Die Völker in den kalten Gegenden und auf dem Festlande
von Europa sind zwar voll Mut^ aber es fehlt ihnen an Einsicht
und Kunstfertigkeit ; deshalb bewahren sie sich mehr ihre Frei-
heit, sind aber ohne staatliche Verbindung und können über
ihre Nachbarn nicht herrschen. Dagegen sind die Völker in Asien
ihren geistigen Anlagen nach zwar einsichtig und kunstfertig,
aber ohne Mut und deshalb befinden sie sich stets in Unter-
werfung und Sklaverei. Der Stamm der Griechen hat, so wie er
schon zwischen jenen die Mitte hält, auch an den Vorzügen
jener beiden teil und ist sowohl mutig, wie einsichtig. Deshalb
hält sich dieser Stamm immer frei, ist am besten staatlich ein-
gerichtet und würde, wenn er in einen Staat zusammengefasst
wäre, über alle andern Völker herrschen."
Ausser Hippokrates ^) betont von den Aeltem Bodinus den
Einfluss des Klimas. So schreibt Bodinus : „II y a presque autant
de variöte au naturel des hommes, quHl y a des pays."
Im 18. Jahrhundert haben Montesquieu und Herder, teil-
weise auch Voltaire, die Theorie des Klimas besonders hervor-
gehoben. Montesquieu schreibt: „Vous trouverez dans les pays
du Nord des peuples qui ont peu de vices, assez de vertus,
beaucoup de sincöritö et de franchise. Approchez les pays du
Midi, vous croirez vous eloigner de la morale mfme; des pas-
sions plus vives multiplieront les crimes; chacun cherchera ä
Vgl. oben S. 24.
Ch. Kappoport, Die Hauptrichtungen der Philosophie. 6
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- 82 -
prendre sur les autres tous les avantages qui peuvent favoriser
ces möraes passions. Dans les pays temp^rös vous verrez les
peuples inconstants dans leurs^maniferes, dans leurs vioes mfemes
et dans leurs vertus; le climat n'y a pas une qualit^ assez d6-
terminöe poiir les fixer eux-memes". Voltaire ssLgt: „Le physique
de rinde difförant en tant d6 choses du nötre, il fallait bien que
le moral differät aussL",
Zu welcher Bedeutung in unserer Zeit Thomas Buckle
diese Theorie erhoben hat, ist allgemein bekannt. Buckle hat
zu den bedeutenden Wirkungen des Klimas die nicht minder
mächtigen Paktoren, wie die Nahrung, den Boden imd „die
Naturerscheinungen im ganzen" gezählt Er hat die Einwirkung
der letzteren auf unsere Phantasie und folglich auf unsere Vor-
stellung von der Gottheit und der Welt untersucht. Das zweite
Kapitel seiner „History of Civilisation" ist ein Muster von klarer
imd überzeugender Beweisführung, mit der er die zwei folgenden
Thatsachen festgestellt wissen will: „Die erste Thatsache ist,
dass in den aussereuropäischen Kulturländern die Naturkräfte
viel grösser waren als in den europäischen. Die zweite Thatsache
ist, dass diese Kräfte ungeheures Unheil angerichtet, tmd dass
ein Teil derselben eine imgleiche Verteilung des Reichtums, ein
anderer eine ungleiche Verwendimg der Geisteskräfte verursacht
hat, dies letztere durch die feste Richtung der Aufmerksamkeit
auf Gegenstände, welche die Phantasie entflammen. So weit die
Erfahrung der Vergangenheit uns leiten kann, müssen wir sagen,
dass in allen aussereuropäischen Kulturländern diese Hindernisse
unübersteiglich waren, wenigstens hat sie bis jetzt noch keine
Nation überwunden. Aber in Europa, das auf einem bescheideneren
Pusse eingerichtet ist, als die andern Weltteile, das kälter gelegen
war, einen weniger üppigen Boden hatte, weniger imposante
Naturerscheinungen und überhaupt eine schwächere Natur ent-
faltete, in Europa wurde es dem Menschen leichter, sich des
Aberglaubens zu entschlagen, welchen die Natur seiner Phan-
tasie entgegenbrachte ; und ebenso wurde es ihm leichter, wenn
auch nicht gerade eine gerechte Verteilung des Reichtimis, doch
einen Zustand zu erreichen, der ihr näher kam, als es in den
altem Kulturländern möglich gewesen war. Daher ist im ganzen
in Europa die Richtung der Weltgeschichte gewesen, die Natur
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- 83 —
dem Menschen, ausser Europa, den Menschen der Natur unter-
zuordnen."
Em neuerer englischer Schriftsteller geht mit Recht in
•dieser Hinsicht noch weiter und weist auf die geologischen
Prozesse hin, welche auf alle andern natürlichen Bedingungen
einwirken. Freeman schreibt in seiner „Method of historical
study": „The geological Process which called into being those
hills by the Tiber, lower in height, nearer to each other, than
the other hills of Latium, fixed the history of the World for
-e^iver." Der Einfluss des physisch-klimatischen Milieus auf die
menschliche Geschichte ist früher vor allen übrigen Paktoren
hervorgehoben und wissenschaftlich begründet worden, da dieser
Einfluss auf uns anschaulicher als irgend ein anderer wirkt.
Ratzel bemerkt daher mit Recht:
„Die äussern Verhältnisse sind hinsichtlich ihrer hemmenden
oder fördernden Einwirkung deutlicher zu erkennen und abzu-
schätzen, und es ist gerechter und logischer, sie zuerst zu nennen.
Wir begreifen, warum die Wohnplätze der Naturvölker haupt-
sächlich in den kalten und heissen Gegenden gefunden worden."
Die physisch-klimatische Richtung vollzieht eine ganze Revolution
in der Philosophie der Geschichte. Als das wichtigste Resultat
dieser Richtung folgt mit Notwendigkeit die Einführung der
Gesetzmässigkeit in die Geschichte. Die Philosophie der Ge-
schichte erhält durch diese Richtimg einen positiven, ja noch
mehr einen exakten Charakter. Da die meisten natürlichen Ein-
flüsse sich auf exakte Naturgesetze zurückführen lassen und der
Beobachtung vielfach zugänglich sind, so wird der Geschichts-
philosoph, der diese Verhältnisse für die menschliche Geschichte
benutzt, zur Aufstellung von Gesetzen in der Geschichte geführt.
Die Gesetze der Natur werden in Verbindimg mit andern ge-
schichtlichen Faktoren zu Gesetzen in der Geschichte. Schon
durch die Voraussetzung naturwissen schal tlicher Kenntnisse bringt
die physisch -klimatische Richtung ihre Anhänger in nähere
Berührung mit den Naturwissenschaften imd ihren Methoden.
Es entsteht ein enges Verhältnis zwischen Naturwissenschaft
und Geschichte, das für die letztere besonders von grosser Trag-
weite ist. Wir sehen daher bei den bedeutendsten Vertretern
der physisch-klimatischen Richtung, Montesquieu, Herder imd
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— 84 —
Buckle, die Ueberzeugung von der Gesetzmässigkeit in der
Geschichte in hohera Grade entwickelt. So sagt Montesquieu :
„II y a des causes gönörales, soit morales, soit physiques,
qui agissent dans chaque monarchie, Tölövent, la maintiennent
ou la pröcipitent; tous les accidents sont soumis ä ses causes;
et si le hasard d'une bataille, c'est-ä-dire une cause particulifere,
a ruin^ un ^tat, il y avait une cause generale qui faisait que
cet itai devait p&rir par une seule bataille, En un mot l'allure
principale entraine avec eile tous les accidents particuliers."
Montesquieu führt also mit dieser feinen und tiefen Bemerkung^
die scheinbare Macht des Zufalls in der Geschichte auf das
allgemeine Gesetz zurück.
Buckle erklärt als eine Hauptaufgabe seines Lebenswerkes^
die Erhebung der Geschichte zum Range einer exakten Wissen-
schaft, als welche er die Naturwissenschaften betrachtet. So sagt
er in der Einleitung zu seinem berühmten Werke: „Ich hoffe
für die Geschichte des Menschen das, oder doch etwas ähnhches,
zu leisten, was andern Forschem in den Naturwissenschaften ge-
lungen ist. In der Natur sind die scheinbar unregelmässigsten und
widersinnigsten Vorgänge erklärt und als im Einklänge mit gewissen
unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen befindlich nachgewiesen
worden. Dies ist gelungen, weil Männer von Talent und vor
allem von geduldigem und unermüdlichem Geiste die Phänomene
der Natur studiert haben mit der Absicht, ihre Gesetze zu ent-
decken; wenn wir nun die Vorgänge der Menschenwelt einer
ähnlichen Behandlung unterwerfen, haben wir sicher alle Aus-
sicht auf einen ähnlichen Erfolg, denn es ist klar, dass diejenigen^
welche die historischen Thatsachen einer Erhebung ins Allgemeine
für unfähig halten, die Frage ohne weiteres für ausgemacht
ansehen. Ja sie thun noch mehr. Nicht nur nehmen sie an, was
sie nicht beweisen können, sie nehmen auch etwas an, was bei
dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens höchst unwahr-
scheinlich ist. Wer überhajipt eine Kenntnis von dem hat, w^as
während der letzten zwei Jahrhunderte geschehen ist, muss
gewahr werden, dass jede Generation einige Begebenheiten als
regelmässig und vorher bestimmbar nachweist, von denen die
vorhergehende Generation behauptet hatte, sie seien unregel-
mässig und nicht vorher zu bestimmen ; darnach ist es die offen-
bare Richtung der fortschreitenden Civilisation, unsern Glauben
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— 85 —
an die Allgemeinheit der Ordnung, der Methode und der Gesetz-
mässigkeit zn stärken. Da dies der Fall ist, so folgt, wenn
Thatsachen oder Reihen von Thatsachen noch nicht auf ihre
Gesetzmässigkeit zurückgeführt sind, dass wir weit entfernt sein
sollten, dies für immöglich zu erklären; vielmehr sollten wir
durch unsere bisherige Erfahrung geleitet, die Wahrscheinlichkeit
zugeben, was wir jetzt unerklärlich nennen, werde sich in Zu-
kunft erklären lassen. Dies Vertrauen auf Entdeckung von
Gesetzmässigkeit mitten in der Verwirrung ist .wissenschaftlichen
Forschem so geläufig, dass es bei den ausgezeichnetsten imter
ihnen ein Glaubensartikel wird; und wenn dasselbe Vertrauen
sich nicht allgemein unter den Geschichtsforschern findet, so
muss man es teils dem Umstände zuschreiben, dass sie den
Naturforschern an Geist nachstehen, teils den reicheren Be-
ziehungen der socialen Phänomene, mit denen ihre Studien zu
thim haben.*'
Eine zweite Folge der physisch-klimatischen Richtimg von
nicht mindei: grossen Tragweite als die schon erwähnte, ist die
sich mit dieser Richtung natürlich verbindende Betonung des
intellektuellen Faktors. Ist die äussere Natur und ihre Kräfte
im Anfange der Geschichte das Massgebende für unser geschicht-
liches Schicksal, so versteht es sich von selbst, dass deijenige
Faktor, der die Herrschaft des Menschen über die Natur bedingt,
als der wichtigste betrachtet werden darf. Der Fortschritt unserer
Naturerkenntnis erlangt die grösste Bedeutung und mit ihr der
Fortschritt der Wissenschaften wie der wissenschaftlichen Methode
überhaupt. Thomas Buckle, der bedeutendste Vertreter der phy-
sisch-klimatischen Richtung in der neuesten Zeit, ist zugleich
ein begeisterter Anhänger des intellektuellen Faktors. Eine Stelle
aus seiner „History of Civilisation" genügt, dies in befriedigender
Weise zu bestätigen: „Die Thaten schlechter Menschen bringen
nur zeitweilige Uebel hervor, die Thaten guter nur zeitweiliges
Gutes und endlich sinkt Gut und Uebel völlig zu Boden, wird
aufgehoben durch nachfolgende Generationen und geht in die
unaufhörliche Bewegung folgender Jahrhunderte auf. Aber die
wissenschaftUchen Entdeckungen grosser Männer verlassen uns
nie, sie sind unsterbUch; sie enthalten jene ewigen Wahrheiten,
die den Sturz von Reichen überleben, die länger dauern als die
Kämpfe streitender ReUgionsparteien, ja eine Religion nach der
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— 86 —
andern in Verfall geraten sehen. Alle Religionen haben ihr
eigenes Mass und ihre eigene Regel ; eine gewisse Meinung gilt
für ein Zeitalter, eine andere für ein anderes. Sie schwinden
dahin wie ein Traum, sie sind Geschöpfe der Phantasie, von
denen selbst die Umrisse nicht stehen bleiben. Nur die Ent-
deckungen der Wissenschaft bleiben^ ihnen allein verdanken
wir alles^ was wir haben; sie sind für alle Zeitalter und für
immer; nie jung und nie alt, tragen sie den Samen ihres eigenen
Lebens; sie fliessen fort in einem ewigen unsterblichen Strome,
sie sind wesentlich vermehrend, gebären die Portsetzungen, die
später gemacht werden und wirken so auf die entfernteste Nach«
kommenschaft, ja nach dem Verlaufe von Jahrhunderten wirken
sie stärker, als sie es im Augenblicke ihres Bekanntwerdens
vermochten.'
Die glänzenden, rasch nach einander folgenden Erfolge der
Naturwissenschaft, mussten diese Ueberzeugung von der geschicht-
lichen Macht der Wissenschaft noch mehr befestigen. Besonders
ist diese Auffassung den Repräsentanten der Naturwissenschaft
eigen. Einer der berühmtesten Vertreter der modernen Wissen-
schaft, Du BdS'Reymond, steht ganz auf dem Boden der Bück-
leschen Geschichtsauffassung imd übertrifft den englischen
G^schichtsphilosophen vielleicht noch in seinem Enthusiasmus
für die historische Rolle der Naturwissenschaften. So sagt er in
der Abhandlung „ Kulturgeschichte und Naturwissenschaft" :
„Das Zurückbleiben der Alten in der Naturwissenschaft war
verhängnisvoll für die Menschheit. In ihnen hegt einer der
vornehmsten Gründe, aus denen die alte Kultur untergieng.
Das grosse Unglück, welches die Menschheit traf, Ueberrennimg
der Mittelmeerländer durch die Barbaren, blieb ihr wahrscheinUch
erspart, hätten die Alten Naturwissenschaft in unserm Sinne
gehabt." Ferner: „Nicht weil der Boden der Mittelmeerländer
an Phosphorsäure und Kali verarmt war ging die alte Kultur
unter, sondern weil sie auf dem Plugsand der Aesthetik imd
Spekulation ruhte, den die Stxirmflut der Barbaren leicht imter
ihr wegwusch." Und an einer weiteren Stelle: „Giebt es aber
ein Merkmal, welches für sich allein den Portschritt der Mensch-
heit anzeigt, so scheint dies vielmehr der erreichte Grad von
Herrschaft über die Natur zu sein." Dass der intellektuelle Paktor
eine der bedeutendsten Rollen in der geschichtlichen Bewegung
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— 87 —
spielt, liegt ausser Zweifel, und insofern ist die Betonung dieses
Paktors als eine positive Seite der physisch-klimatischen Rich-
tung zu bezeichnen. Diese Richtung aber, einseitig konsequent
durchgeführt, kann auch negativ auf die Philosophie der Ge-
schichte wirken, und das war thatsächlich teilweise der Fall. Die
blinden Kräfte der Natur stehen vielfach vor unserm Bewusst-
sein als eine fatale imabwendbare Macht, der man sich fügen
muss. Die Natur erscheint als ein neues Patum, das das Völker-
schicksal mit eherner Notwendigkeit beherrscht. So verurteilte
Buckle die aussereuropäischen Völker zu ewiger Sklaverei unter
der Naturherrschaffc. Laureait nennt mit Recht eine solche Ten-
denz „le fatalisme de la nature." Und die Gegner Buckles, wie
z. B. der Historiker Droysen^ zeigen mit Recht auf Erscheinungen
hin, die die unbeschränkte Herrschaft der Natur zu widerlegen ge-
eignet sind. Es werden ganze Völkerschaften aufgeführt (wie z. B.
die Juden), die unter verschiedenen Erdstrichen ihren nationalen
Charakter bewahrt oder solche Wandlungen durchgemacht
haben, die durch andere als pbysisch-klimatische Ursachen
erklärt werden müssen.
Einer andern grossen Gefahr ist die physich-klimatische
Richtung ausgesetzt; Es liegt ihr sehr nahe, den Unterschied
zwischen natürUchen und geschichtlichen Gesetzen zu verkennen,
und in der Geschichte nicht das sich entwickelnde, sich weiter
bewegende, sondern das regelmässig sich wiederholende, das
periodisch in derselben Form auftretende, zu suchen. Die Ge-
schichte verwandelt sich für sie in eine Art Naturwissenschaft.
So spielt bei Buckle die Quetelet'sche Moralstatistik eine grosse
Rolle, und man könnte meinen, dass Buckle nur geschichtliche
Gesetzmässigkeit da sieht, wo die geschichtlichen Erscheinungen
sich regelmässig wiederholen. Diese Richtung zieht in die Ge-
schichte diejenigen Erscheinimgen hinein, die eigentUch der
Sociologie, Anthropologie oder sogar Psychologie gehören (u. a.
hat P. Lawroff in seinen schon erwähnten „Historischen Briefen"
darauf hingewiesen). Das Entwicklungsprinzip, das die Geschichte
beherrscht, tritt vor den sich wiederholenden Erscheinungen in
den Hintergrund.
Nachdem wir die hauptsächlichen positiven und negativen
Elemente der physisch-klimatischen Richtung in Bezug auf ihre
Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie der Geschichte
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^^^
- 88 —
untersucht haben, bleibt uns noch die Aufgabe, das physisch-
klimatische Milieu selbst auf seinen allgemeinen geschichtsphilo-
sophischen Wert zu prüfen.
Es ist nicht schwer einzusehen, dass das physisch-klimatische
Milieu nur eine Seite, nur eine Reihe in der (Jesamtheit der
geschichtUcben Paktoren darstellt. Wir haben alle geschichtlichen
Einwirkungen auf drei Hauptfaktoren, äussere Natur, Mensch
imd Kulturformen, zurückgeführt. Die physisch-klimatische
Richtimg bezieht sich offenbar nur auf einen dieser drei Haupt-
faktoren, auf die äussere Natiu*. Die anderen Hauptfaktoren
bleiben ausser Betracht oder treten vor dem Einflüsse der Natur
weit zurück. Der intellektuelle Paktor wird von dieser Richtung
nur in bezug auf die durch ihn erlangte Herrschaft des Menschen
über die äussere Natur gewürdigt. Dass eine solche einseitige
Betrachtung den Anforderungen der wissenschaftlichen Philosophie
der Geschichte nicht entspricht, versteht sich von selbst. Ist die
physisch-klimatische Richtung auf einer bestimmten Höhe der
geschichtsphilosophischen Entwicklung imentbehrUch und för-
dernd, so ist und bleibt sie dessenungeachtet eine schreiende
Einseitigkeit und insofern für die weitere Entwicklung der Phi-
losophie der Geschichte schädlich.
Ist das physisch-klimatische Milieu nur eine Quelle der
geschichtlichen Einflüsse, so entsteht für uns die Aufgabe, die
ihr eigentümliche Wirkungsweise im Vergleich mit den übrigen
geschichtUchen Paktoren näher zu bestimmen.
Als objektiver Paktor unterscheidet sich das physisch-
klimatische Milieu von den subjektiven Paktoren durch seine Pas-
sivität. Durch dasselbe werden nur die Bedingungen, der Schau-
platz, und was nicht minder wichtig ist, die Hemmnisse der Ent-
wicklimg gegeben. Diese letzteren müssen überwunden werden^
auf dass die geschichtliche Entwicklimg möglich sei. Die Prin-
zipien der geschichtUchen Bewegung liegen unmittelbar nicht im
physisch-klimatischen Milieu : das physisch-klimatische Milieu
unterhält die Geschichte, bewegt sie aber keineswegs. Der aktiv-
subjektive Paktor, der auf einer bestimmten Höhe der Entwick-
lung stehende Mensch, muss auf der von natürlichen Kräften
geschaffenen Bühne auftreten, und nur dann entsteht die ge-
schichtliche Bewegung. Sehr treffend bezeichnet daher Mtxrx im
ersten Bande seines Kapitals das physisch-klimatische Milieu
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\*lg^i
— 89 —
Bur als „Möglichkeit" des geschichtlichen Portschrittes. Nur mit <
dem Auftreten der aktiven geschichtliehen Paktoren wird die
geschichtliche Bewegung zur Wirklichkeit.
Past ausschliesslich mit den aktiven Paktoren befasst sich
die zweite Hauptrichtung der wissenschaftlichen Philosophie der
Geschichte, die physiologisch -psychologische Richtimg. Die
menschlichen Leidenschaften, die menschlichen Ideen, die mensch-
lichen Kräfte bedingen nach dieser Auflassung die geschichtliche
Bewegung. So erklärt Hippolyte Taine als Objekt der gesamten
Geschichtswissenschaft die Lösung eines psychologischen Pro-'
blems. 1)
Im allgemeinen ist die Erklärung der menschlichen Ge*
schichte durch die menschliche Natur, wenn nur in der Porm
«iner einfachen Behauptung, schon im Altertum vertreten. Wir
finden sie hei Eucydides^) Wir finden sie in derselben allgemeinen
Porm bei einer grossen Zahl späterer Schriftsteller, von denen
wir nur diejenigen anzuführen gedenken, die sich spezieller mit
der Philosophie der Geschichte befassten.
So sagt •/. Ferguson: „Social life is the natural consequence
of the human organism." „Philosophy of civilisation, I.** Weniger
allgemein und mehr zutreffend ist die Betrachtung Kants, nach
der die Geschichte die Elntwicklung aller menschlichen Anlagen
ist („Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht,^ 1784). Angine Gomte findet, dass der gesamte sociale
Bau in letzter Instanz auf Meinimgen beruhe (Gours, I, p. 41).
Bei Mougeolle finden wir die Meinung Leonard de Vincfs
zitiert : L'homme peu tirer de soi tout ce qu'il veut. Jouffroy
ist geneigt, den philosophischen Ideen den entschiedensten Ein-
fluss auf unser Schicksal zuzuschreiben. „Tous les changements
qui s'op^rent dans la condition de l'homme, toutes les transfor-
mations qu'elle a subies d^rivent de Tintelligence et en sont
reffet." So auch Voltaire: „L'Europe ne serait ai\jourd'bui qu'une
vaste cimetiäre, si la philosophie n'avait ^touff^ le fanatisme et
Tenthousiasme."
Dagegen ist die Bedeutung der philosophischen Ideen für
Jouffroy nicht so gross, wie für Voltaire : „L'humanit^ ne serait
*) „L'histoire au fond est un probl^me de psychologie*. De Tin-
telligence.
•) Vgl. RochoU, Philosophie der Gesohichte.
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— 90 —
pas immobile s'il n'y avait point de philosophes. Sans eux, le&
r^volutions se feraient, mais ils se produiraient plus lentement.^
Doch hindert ihn dies nicht, den Ideen im allgemeinen den
gründlichsten Einfluss in der Geschichte zuzuschreiben: „En
definitive, la passion n'agit qu'ä la surface de Thistoire des
peuples, le fond appartient aux id^es.^ Ward sieht m unserem
innersten Streben zur Glückseligkeit den Hauptgrund der ge-
schichtlichen Bewegung : „The whöle philosophy of human pro-
gress, or dynamic sociology may, therefore, be briefly epitomised
in a few words: the desire to be happy ist the fundamental
stimuly which underlies all social movements, and has carried
on all past moral and religions Systems."
Taine beschränkt sich nicht auf die Hervorhebung allge-^
meiner psychologischer Kräfte, erfordert vielmehr das eingehendste
Studium spezieller pathologisch-psychologischer Erscheinungen,
die er als notwendige Vorbedingung für das Verständnis einzelner
geschichtlicher Epochen und Völker betrachteti So sagt er: „Je-
ne crois qu'un historien puisse avoir une id^e nette de linde
brahmanique et boudhistique, s'il n'a pas Studie au prdalable
Textase, la catalepsie, Thallucination et la folie raisonante." Ein
neuester französischer Sociologe, Tarde, deduziert aus einer
einzigen psychologischen Eigenschaft — aus der Nachahmungs-
f&higkeit — die ganze Sociologie, die bei ihm mit der Philosophie
der Geschichte zusammenfilllt : „L'ötre social, en tant qu'il est
social, est imitateur par essence et l'imitation joue dans les so-
ci^t^s un röle analogue ä celui de Thöridite dans les Organismen
ou de Tondulation dans les corps."
Von den Sätzen ausgehend, dass jede Aehnlichkeit eine
Folge der Wiederholung („toutes les similitudes sont dues ä des
r^pötitions") und dass jede Produktion eine Reproduktion dar-
stelle („Chaque fois que produire ne signifie point reproduire^
tout devient tön^bres pour nous, sans nulle clarte"), sieht er im
geschichtlichen Prozesse nichts, als einen Nachahm ungsprozesa
und versucht die Schnelligkeit der Verbreitung — nach seiner
Aujffassimg Nachahmung — geschichtUcher Ideen in einer ma-
thematischen Formel auszudrücken. Diese Theorien sind zur
Kennzeichnung der psychologischen Richtung besonders inter-
essant, als Beweis, dass diese Richtung sich nicht notwendig
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— 91 —
nur auf die allgemeinen und scheinbar gut bekannten psycho-
logischen Eigenschaften stützen kann.
Als ein bedeutender Portschritt in der psychologischen
Richtung; der epochemachend für die Psychologie ist, darf der
üebergang von der Individualpsychologie zur Kollektivpsychologie
betrachtet werden.
Die von Lazariis 1861 begründete und sich seither ver-
hältnismässig rasch über alle Kulturländer verbreitende Völker-
psychologie sieht die Grundlage der Geschichte nicht in der
Psychologie des Einzelnen, sondern in der nationalen und gesell-
schaftlichen Gemeinschaft, In den „Einleitenden Gedanken über
Völkerpsychologie" lesen wir Seite 19 folgendes: „Die Natur-
iorschung hat eine doppelte Reihe von Disziplinen entwickelt,
nämUch erstlich die beschreibende Naturgeschichte, wozu Mine-
ralogie, Botanik und Zoologie, aber auch Astronomie und Geologie
gehören. Neben diesen aber, parallel laufend und sie begründend,
stehen die rationalen Disziplinen der Naturlehre, nämlich die
Physik und Chemie, die Pflanzen- und Tier-Physiologie, und
endlich die Mathematik. Während die erste Reihe ein natür-
liches Leben und Sein, die vorhandenen Dinge, das Reich der
Wirklichkeit nach den in ihm hervortretenden Formen beschreibt ,
entwickelt die andere Reihe die allgemeinen Gesetze, nach wel-
chen diese. Formen der Wirklichkeit entstehen und vergehen,
sucht die abstrakten Urelemente und Elementarkräfte der Natur
auf; jene beobachtet, diese experimentiert. Die Betrachtung des
Geistes muss notwendig eine analoge doppelte Wissenschaft er-
zeugen. Nun entspricht aber die Geschichte der Menschheit nur
der beschreibenden Naturgeschichte; sie ist Darstellung der
gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes. Wird sie nun
nicht auch eine der synthetischen Naturlehre parallel laufende
Disziplin fordern? Wird sie nicht einer Darstellung der in der
Geschichte waltenden Gesetze bedürfen, um synthetisch begründet
und begriffen werden zu können? Wo ist denn aber die Phy-
siologie des geschichtUchen Lebens der Menschheit? Wir ant-
worten: in der Völkerpsychologie. Wie die Biographie der
einzelnen Persönlichkeit auf den Gesetzen der individuellen
Psychologie beruht, so hat die Geschichte, d. h. die Biographie
der Menschheit, in der Völkerpsychologie ihre rationale Begrün-
dimg zu erhalten. Die Psychologie in ihren beiden Zweigen hat
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— 92 —
also für Biographie und Geschichte zu leisten, was die Physio-
logie für die Zoologie."
Eine besondere Abart der physiologisch-psychologischen
Richtung ist die Rassentheorie, auf die Geschichte angewendet,
die in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse den Er-
klänmgsgrund der Geschichte jedes Volkes sieht Diese
Richtung, die für die physiologische Tendenz in der Geschichte
besonders günstig ist, sieht in der letzteren hauptsächlich einen
Rassen- und Nationenkampf (vgl. Gumplowicz in seinem „Rassen-
kampf").
Die physiologisch-psychologische Richtung untersucht die
Ursachen und Motive der menschlichen Handlungen, sie geht
vom Menschen aus. Sie hat also den Vorzug vor den andern
zwei Richtungen, dass sie den einzig aktiven Paktor in der
Geschichte nach seinen Bewegungsgründen zu erklären sucht.
Sie scheint auf das primum movens der Geschichte unsere Auf-
merksamkeit zu richten : kennen wir die Bestrebungen und Ab-
sichten des Menschen, so scheinen wir die geschichtlichen
Handlungen, die die Verwirklichung dieser Bestrebungen dar-
stellen, in ihrem innem kausalen Zusammenhange erkannt zu
haben.
Vor allem kann von zwei Seiten gegen diese Erklärungs-
weise Einspruch erhoben werden : von der theologisch-providen-
tiellen, wie von der metaphysischen Geschichtsauffassung. Der
menschliche Wille, seine Bestrebungen, seine Leidenschaften und
Ideen sind nach dieser Auffassung keine letzten Ursachen. OM
nach der ersteren, die metaphysische Idee nach der letzteren,
sind die Ursachen. Der menschliche Wille darf danach nur als ein
Werkzeug dieser höhern Mächte betrachtet werden.
Metaphysisch der Methode nach ist auch diejenige Rich-
tung, die den gesamten geschichtlichen Prozess unter dem
Namen „des objektiven geschichtlichen Prozesses^ hypostasiert
und den menschlichen Willen nur als eine vollziehende Instanz
der objektiven geschichtlichen Macht betrachtet. Mag der spe-
ziellere Erklärungsgrund des geschichtlichen Prozesses der denk-
bar konkreteste sein (wie zum Beispiel die Produktion imd der
Austausch materieller Güter), eine objektive über dem mensch-
lichen Willen stehende historische Macht, ist ein rein metaphy-
sisches Wesen, wenn sie etwas mehr als einen konventionellen
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— 93 —
Namen für eine Zusammensetzung gegenwärtiger oder vergangener
Willensäusserungen und menschlicher Kräfte darstellen soll. Wenn
wir vom providentiellen* und metaphysischen Standpunkt absehen^
so bleibt uns nichts übrig, ausser dem Menschen, auf das wir in t
letzter Instanz die geschichtUehe Bewegung zurückführen können^
als ihren aktiven Bewegungsgrund.
Dadurch wird keineswegs die Willkür in die Geschichte
hineingeführt imd die Allmacht des einzelnen zufalligen Willens
auf den geschichtlichen Thron erhoben. Die Schranken mensch- »
lieber Thätigkeiten, wie menschlicher Kräfte sind auch diejenigen
der geschichtUchen Wirkimg des Individuums und der Gesell-^
Schaft.
Die individuellen Kräfte des Einzelnen werden vervielfältigt
und wachsen mit staunenerregender Schnelligkeit, durch die
Hineinziehung dieser Kräfte in eine sociale Kombination oder
Cooperation, durch die Anwendung objektiver Naturkräfte. Aber
auch dieses Wachstum hat seine Gesetze, folglich seine Schran-
ken. Diese Kräfte, wie ihre gesetzmässige Entwicklung und
Zusammensetzung im Zusammenhang mit den geschichtlichen
und objektiven Paktoren zu untersuchen, dürfte eine der Haupt-
aufgaben der physiologisch-psychologischen Richtung sein. Durch
die Lösung dieser Aufgabe wird die Philosophie der Geschichte
um die, wie in theoretischer so auch praktischer Beziehung,
wichtigsten Ergebnisse bereichert werden.
Die physiologisch-psychologische Richtung in der Philoso-
phie der Geschichte ist noch von einer andern Seite be-
trachtet, von grossem theoretischem wie praktischem Werte.
Diese Richtung ist mehr als irgend eine andere geeignet, die
Interessen des Individuums nicht ausser Acht zu lassen. Indem
die physiologisch-psychologische Richtung von Menschen aus-
geht, muss sie auch natürlicherweise zum Menschen zurück-
kehren, sich immer und überall die Frage stellen : inwiefern der
gegebene geschichtliche Zusammenhang, die gegebene Kombi-
nation individueller und socialer Kräfte, die Entwicklung der
Menschheit begünstigt und sein irdisches Glück fördert. Der
Geschichtsphilosoph darf nie übersehen, dass nicht der Mensch
für die Geschichte, sondern die Geschichte für den Menschen
da ist. Alles in der Geschichte hat für uns immer so viel
Wert, inwiefern es menschlichen Bedürfnissen und Idealen
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— 94 —
entspricht. Wenn wir auch die Geschichte rein objektiv nach
ihrem kausalen Zusammenhange betrachten, so geschieht es auch
des Menschen wegen : erstens weil die wissenschaftliche Betrach-
tung, seinen Wissensdrang befriedigend, das Glück des Indivi-
duums direkt fördert ; zweitens weil wir die feste, durch Erfah-
rung bestätigte Ueberzeugung haben, dass, je mehr wir in den
geschichtlichen Zusammenhang eindringen und ihn kennen
lernen, desto mehr Möglichkeit vorhanden ist, imsere geschicht-
lichen und socialen Ziele zu erreichen oder ihre Erreichung zu
beschleunigen. Bei dem grossen positiven geschichtsphilosophi-
schen Werte der physiologisch-psychologischen Richtung entbehrt
dieselbe aber nicht, wenn sie einseitig durchgeführt wird, vieler
negativer Momente, gleich der schon von uns betrachteten phy-
sisch-klimatischen Richtung.
Die physiologisch-psychologische Richtung läuft Gefahr der
Atomisieruhg des geschichtlichen Prozesses, der Zurückführung
der grössten geschichtlichen Resultate auf die kleinsten indivi-
duellen Gründe, anheimzufallen. So finden wir Anhänger dieser
Richtung, die mit einer triumphierenden Selbstgefälligkeit den
Gang der Geschichte, z. B., von der Form der Nase Cleopatras
oder von den Magenkrämpfen eines Königs abhängig machen.
Mag diese paradoxe Gegenüberstellung von unbedeutenden „Ur-
sachen" und bedeutenden Polgen einen gewissen Effekt hervor-
rufen, das Verständnis der Geschichte fördert sie keineswegs.
Und die scharfe Kritik W. Humboldts der psychologischen
Richtung trifft vollkommen auf diese Art psychologischer Ge-
schichtserklärungen zu. So sagt derselbe : ,Sie ist am wenigsten
welthistorisch, würdigt die Tragödie der Weltgeschichte zum
Drama des Alltagslebens herab, reisst mit Leichtigkeit die ein-
zelnen Begebenheiten aus ihrem Zusammenhange imd an Stelle
des Weltschicksals setzt sie ein kleinliches Getriebe persönlicher
Beweggründe.*^ Dieser Hervorhebung des Zufalls in der Geschichte
(^Sa Majestö le Hazard" Friedrichs des Grossen) gegenüber muss
immer die schon oben angeführte Entgegnung Montesquieu's,
nach der der Zufall selbst nicht zufällig eine Rolle in der
Geschichte spielen kann, geltend gemacht werden. Wenn die
klimatisch-physiologische Richtung die Bedeutimg des Indivi-
duums oft in den Hintergrund zurückdrängt, so begeht die phy-
siologisch-psychologische Richtung sehr oft den entgegengesetzten
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— 95 —
Fehler: sie überschätzt die gescjiichtliche Bedeutung des ein-
aebien Individuums und zwar bestimmter einflussreicher Indivi-
duen. Wenn auch diese Ueberschätzung, msofern sie die indivi-
duelle Thätigkeit und Initiative fördert, von grossem praktischem
Nutzen sein kann ; wissenschaftlich aber ist sie ebenso unhaltbar,
wie die ihr entgegengesetzte geschichtsphilosophische Tendenz.
Zwei folgende negative Momente der physiologisch-psycho-
logischen Richtung von der grössten Bedeutung sind zwar nickt
mit Notwendigkeit an diese Richtung als solche gebimden,
verdienen aber ihrer allgemeinen Bedeutung wegen die grösste
Aufmerksamkeit. Erstens ist die physiologisch-psychologische
Richtung geneigt, den Menschen als isoliert, selbständig und
unabhängig zu betrachten. Sie sieht im Individuum ihrem Stand-
punkt gemäss eine vollendete Einheit, übersieht [aber vielfach
die unzähUgen, manchmal allzu feinen und der oberflächlichen
Analyse schwer zugänglichen tausendfachen Fäden, die diese
Einheit mit der sie umschUessenden Kollektivität zusammenhält
und verknüpft. Der Staat, die Nation, die Gesellschaft scheinen
den Vertretern dieser Richtung allzu oft blosse Abstraktionen
3^x sein imd nichts mehr als Abstraktionen. Dieses Verkennen
realer geschichtlicher Kräfte, die vorzugsweise von der noch zu
betrachtenden entgegengesetzten kulturhistorischen Richtung
hervorgehoben werden, kann und muss in der Philosophie der
Oeschichte zu denselben Missverständnissen und groben Fehlem
führen, wie die analogen Richtungen und Konstruktionen in der
politischen Oekonomie, die unter dem zutreffenden Namen „Ro-
binsonaden" bekannt sind. ^)
^) Denselben Ursprung hat der Grundirrtura des theoretischen anar-
ohistiscben Kommunismus wie er in den bemerkenswerten Arbeiten der
besten und begabtesten Vertreter dieser Theorie, wie Bakunin, Jean
Grave, Elis^e Reolus und Peter Krapotkin formuliert worden ist. Sie
konnten alle insgesamt dem ihnen eigentümlichen Widerspruche nicht
entgehen: die allseitige von ihnen selbst zugestandene und gewürdigte
Abhängigkeit des Individuums von der Kollektivität einerseits imd die
Fordenmg der allzugrossen Autonomie desselben, wie ihre besondere
Hervorhebung des Freibeitsprincips, als absoluten Gesellsohaftsprincips
beweist, andererseits. Schon die. Notwendigkeit der Beschränkung unserer
Freiheit durch die unserer Mitmenschen, — eine Beschränkung, welche
die anarchistischen Theoretiker doch zugeben, trotz vielfacher absichtlicher
Verdrehung ihrer Gegner — dürfte uns davon abhalten, die individuelle
Freiheit als oberstes Princip einer Gesellschaftslehre aufzustellen.
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— 96 —
Das zweite negative Moment der physiologisch-psycholo-
gischen Richtung scheint uns nicht minder wichtig zu sein.
Indem diese Richtung vom Menschen und seinen Bedürfnissen
und Bestrebungen ausgeht, so sind ihre Vertreter oft geneigt^
nur die allgemeinsten menschlichen Triebe, die sie als allgemein
bekannt voraussetzen, in Betracht zu ziehen. Ihre geschichts-
philosophischen Betrachtungen drohen in Gemeinplätze und all-
gemein abstrakte Auseinandersetzungen auszuarten. Es ist kaum
notwendig, hier spezielle Beispiele anzuführen. Dem nur einiger-
massen mit der umfangreichen geschichtsphilosophischen Litte-
ratur Vertrauten dürfte bekannt sein, in welchem Verhältnisse
die Quantität der geschichtsphilosophischen Schriften zu ihrer
Qualität steht. Hätte man über die Entwicklung unseres Gebietes
nach der qtmntitativen Masse des Geleisteten geurteilt, so würde
die Philosophie der Geschichte als eine der fortgeschrittesten
Disziplinen allgemein anerkannt und betrachtet werden, was, wie
schon hervorgehoben, keineswegs der Fall ist.
Dass diese negativen Eigenschaften nicht notwendig mit
der Natur der physiologisch-psychologischen Richtung zusammen-
hängen, scheint uns auf der Hand zu liegen. Nichts hindert die
physiologisch-psychologische Richtung den Menschen in seiner
allseitigen Abhängigkeit von dem ihn umschliessenden socialen
wie natürlichen Milieu zu betrachten. Die Entwicklung der
modernen Psychologie liefert dieser Richtung eine solide imd
breite wissenschaftüche Basis auch für geschichtsphilosophische
Untersuchungen. Die physiologisch-psychologische Richtung er-
reicht die Höhe dieser Entwicklung, indem sie einerseits die
Kollektivpsychologie in ihr Bereich zieht, andererseits die Re-
sultate der psychologischen Patologie benutzend. In der völker-
psychologischen Richtung von Lazarus und den schon erwähnten
Arbeiten von Nicolai Michailowsky (analoge Untersuchungen
finden wir auch in der westeuropäischen Litteratur) sehen wir
einen glänzenden Beweis dieser Möglichkeit des Fortschrittes der
Philosophie der Geschichte auch nach dieser Richtung.
Nach dem oben ausgeführten fällt von selbst weg die vermemt-
hohe Notwendigkeit für die physiologisch-psychologische Richtung
zu allgemein abstrakten Auseinandersetzungen und allbekannten
Gemeinplätzen ihre Zuflucht zu nehmen. Nichts ist nach der
modernen psychologischen Aufl^assung komplizierter als gerade die
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— 97 —
scheinbar allgemein bekannte physiologisch-psychologische Or-
ganisation des Menschen. Eine Theorie, die diese Organisation
in ihrer Entioicklung und Wechselwirkung mit den objektiven
Verhältnissen, deren Produkt und Produzent sie zugleich ist,
zur Grundlage hat, kann gewiss nichts weniger als einfach und
selbstverständlich sein. ^)
Eine Reihe von Arbeiten auf diesem Gebiete, von denen
wir nur einige erwähnt haben, beweisen es am besten.
Leider können wir unserer allgemeinen Aufgabe gemäss hier
auf diese Arbeiten nicht näher eingehen, wir behalten es uns
für eine bevorstehende geschichtsphilosophische Arbeit vor.
Allgemein betrachtöt, ist die physiologisch-psychologische
Richtung insofern einseitig und beschränkt, als sie von einer
Hauptquelle der geschichtlichen Paktoren, vom Menschen aus-
geht und den andern zwei Hauptquellen der geschichtlichen
Bewegung weniger Beachtung schenkt.
Diese Lücke in der physiologisch-psychologischen Geschichts-
auffassung sucht die dritte Hauptrichtung der wissenschaftlichen
Philosophie der Geschichte, die wir als die kulturhistorische be-
zeichneten, teilweise auszufüllen. Im Gegensatze zu der physio-
logisch-psychologischen Richtung lenkt die kulturhistorische
Richtung ihre ganze Aufmerksamkeit nicht auf das einzelne-
Individuum, sondern auf die sociale Gruppe, auf die Gesamtheit,
auf historisch überlieferte Kulturformen, und betrachtet das Indivi-
duum ledigHch als Produkt derselben. Das Individuum als unab-
hängiges Wesen ist für diese Richtung ein Unding. Der Mensch
wird als Produkt seiner Zeit, als Endergebnis der geschichtlichen
Entwicklung aufgefasst. Schärfer als irgend ein anderer spricht
diese allgemeine Grundlage dieser Richtung der Sociologe Gum-
plowicz aus: „Nicht der einzelne dichtet, es dichtet in ihm die'
poetische Stimmung seiner Zeit und seiner socialen Gruppe, nicht
der einzelne denkt, es denkt in ihm der Geist seiner Zeit und
seiner socialen Gruppe , . . Geschichtliche Ereignisse werden nicht
von Menschen gemacht . . . ebenso wenig, wie Naturereignisse
von Gott. . . Geschichte und Natur sind nur in Massenwirkungen
sichtbar.^
*) Als Beispiel einer Anwendung feiner psychologischer Analyse
auf gesohiohtsphiloBophische Untersuchungen können u. a. SimmeVs
Arbeiten dienen („Sociale Differenzierung** u. a.).
Ch. Rappoport, Die Hauptrlchtungen der Philosophie. 7
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— 98 —
So auch Bastian : »Von allen Seiten, aus allen Kontinenten
tritt uns unter gleichartigen Bedingungen ein gleichartiger
Menschengedanke entgegen, mit eiserner Notwendigkeit, wie die
Pflanze je nach den Phasen des Wachstums Zellgänge oder
Milchgefässe bildet, Blätter hervortreibt etc.^
Auf Grund einer biologisch-organischen Auffassung der
Gesellschaft kommt auch Schäffle zu demselben Ergebnisse. So
sagt er in seinem „Bau und Leben des socialen Körpers": „So
ist von Anfang, bleibt und wird immer mehr der einzelne ein von
Natur und durch dieselbe ein gesellschaftKches Wesen. Die klare
und wirkliche Einsicht in diese aristotelische Wahrheit wird den
Sociologen vor der Gefahr bewahren, welche durch die natur-
wissenschaftliche, atomistische Neigung unserer Zeit so nahe
gelegt ist, das ganze über den einzelnen, den socialen Körper
über der socialen Zelle zu vergessen und hiemit dem einseitig
atomisierenden Individualismus zu huldigen. Nicht einmal das
Individuum für sich lässt sich, losgelöst vom ganzen, vollständig
erklären, geschweige denn das ganze aus dem abgelösten Atom.
In der Gesellschaftswissenschaft so wenig als in der Naturwissen-
schaft kann sich die Erklänmg mit dem Begriff des Individuums
begnügen, vielmehr gerade die kollektivistische Anlage, Punktion
und Erhaltung des Individuums für und durch das Gesellschafts-
ganze stellt sich in den Vordergrund .... Der Volksgeist er-
erscheint als ein durch die ganze geschichtliche Geistesarbeit an-
gehäuftes, fortgesetzt überliefertes, in jeder Generation modifi-
ziertes, vielseitig gegliedertes System geistiger Energien und
Spannkräfte, welche über alle aktiven Elemente des Volkskörpers
verteilt, die einzelnen zu einer geistigen Kollektivkraft vereinigen."
Die Völkerpsychologie von Lazarus hat dieser Auffassimg des
Individuums eine neue psychologische Basis gegeben. So sagt
Lazarus : „Die Psychologie lehrt, dass der Mensch diu^chaus und
seinem Wesen nach gesellschaftlich ist, d. h. dass er zum gesell-
schaftlichen Leben bestimmt, weil er nur im Zusammenhang mit
Seinesgleichen das leisten und werden kann, wie er zu sein und
zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist. Auch ist in
der That kein Mensch das, was er ist, rein aus sich geworden,
sondern nur aus dem bestimmenden Einflüsse der Gesellschaft,
in der er lebt. Jene unglücklichen Beispiele von Menschen,
welche in der Einsamkeit des Waldes wild aufgewachsen waren^
hatten vom Menschen nichts als den Leib, dessen sie sich nicht
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— 99 —
einmal menschlich bedienten ; schrieen wie das Tier und giengen
weniger als sie kletterten und krochen. So lehrt traurige Er-
fahrung, dass wahrhaft menschliches Leben, geistige Thätigkeit
nur möglich ist durch das Zusammen- und Ineinanderwirken der
Menschen. Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugnis der
menschlichen Gesellschaft. Hervorbringung des Geistes aber ist
das wahre Leben und die Bestimmung des Menschen; also ist
dieser zum geraeinsamen Leben bestimmt und der einzelne ist
Mensch nur in der Gemeinsamkeit, durch die Teilnahme an dem
Leben der Gattung."
Diese Auffassung des Individuums bildet auch einen inte-
grierenden Bestandteil der marxistischen Geschichtsauffassung,
die im ganzen Geschichtsprozess das ökonomische Element für
die über das einzelne Individuum herrschende historische Macht
erklärt.
Vielleicht nicht ohne den Einfluss von Marx überträgt auch
in neuerer Zeit diesen Gedanken Fr. A. Lange auf das Gebiet
der Geschichte der Philosophie. So heisst es in seiner „Geschichte
des Materialismus*^ S. 42: ^Es giebt keine aus sich selbst, sei
es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde
Philosophie, sondern es giebt nur philosophierende Männer, welche
mit samt ihren Lehren Kinder der Zeit sind." Von Hegel, dem
bedeutendsten Representanten dieser Richtung, haben wir schon
gesprochen.
Diese Auffassung des Individuums lässt sich auf das klassische
Altertum zurückführen, wo der Staat, die Gesamtheit, über dem
Individuum stand. Schäffle nennt auch diese Auffassung eine
aristotelische.
Und der neueste Aristoteliker Adolf Trendelenburg giebt
diesem Gedanken folgenden Ausdruck : „An dem reichen Inhalte
der Idee gemessen, ist der einzelne nur der potentielle Mensch,
erst der Staat in der Geschichte des Volkes ein aktueller. Dieser
allgemeine Begriff des Staates ist die Seele des einzelnen Volkes.^
Erkenntnistheoretisch kann diese Auffassung des Indivi-
duums einerseits als eine empirisch-sensualistische bezeichnet
werden, da sie das Individuum selbst als tabula rasa betrachtet, als
„unbeschriebenes weisses Papier**, das erst durch die geschicht-
liche Erfahrung mit einem bestimmten Inhalt ausgefüllt wird;
andererseits aber führt diese empirisch-sensualistische Auffassung
des Einzelnen zur abstrakt-idealistischen oder, genauer, zur meta-
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— 100 —
physischen Hypostasierung der Gesamtheit, wie schon oben her-
vorgehoben worden.
Wenn alles auf die Gesamtheit, auf die sociale Gruppe, auf
die geschichtlichen Kulturformen zurückgeführt wird, so liegt die
Frage nahe, wodurch sich der Charakter der Gesamtheit, der
socialen Gruppe, des geschichtlich Ueberlieferten selbst, erklärt
Diese Frage bleibt von der kulturhistorischen Richtung unbe-
antwortet. Ihre Geschichtserklärung ist streng genommen eine
rein formale. Der innere Zusammenhang zwischen der Kollek-
tivität und dem Individuum bleibt in tiefer Dunkelheit. Der schon
citierte Sociologe Gumplowicz hat wenigstens das Verdienst, dieser
Unerklärbarkeit sich bewusst zu sein. In seinem „Grundrisse der
Sociologie" heisst es : „Nun können wir wohl den Zusammenhang
zwischen der Gesamtheit des geistigen Lebens . . . begreifen.
Was uns aber fehlt, das ist die mikroskopische Betrachtung, wie
jeder einzelne mit dieser socialen Entwicklungsstufe zusammen-
hängt und wie diese letztere das individuelle Denken, Fühlen
und Handeln beeinflusst."
Der Grundirrtum der kulturhistorischen Richtung besteht
darin, dass dieselbe einen Komplex von verschiedenen Ursachen
und Wirkungen, der erst durch Analyse seiner einfachsten Be-
standteile und deren Zusammenhang zu erklären ist, als etwas
Gegebenes und Bekanntes voraussetzt, und das, was diesen
Komplex, die Gesellschaft, die Kulturformen, allein erklären kann,
das verschiedenen Einflüssen imterliegende imd ebenso viel ver-
schiedene Wirkungen ausübende Individuum, gleich Null setzt
oder als selbstverständliche Voraussetzung des geschichtlichen
Prozesses betrachtet.
Die kulturhistorische Richtung kehrt also die natürliche
Erklärungsweise um : Sie beginnt mit dem Kompliziertesten, mit
der Kollektivität, um beim verhältnismässig Einfacheren, beim
Individuum, anzulangen. Anstatt das geschichtlich Gewordene
als Produkt einer Anzahl von gemeinsamen und aufeinanderwir-
kenden Faktoren zu betrachten, fasst diese zur Zeit vielleicht die
verbreitetste geschichtsphilosophische Richtung, dasselbe als Aus-
gangspimkt aller ihrer Erklänmgen auf. Sie ist daher nicht im-
stande, das geschichtUch Gewordene selbst zu erklären, ebensowenig
wie die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesamtheit oder von
den ihn umgebenden Kultur- und Lebensformen abzuleiten. Diese
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~ 101 -
Abhängigkeit jeder praktischen und theoretischen Wirkung vom
socialen Milieu, wie von der ganzen geschichtlichen Vergangen-
heit hervorgehoben und nachgewiesen zu haben, ist das nicht
niedrig zu veranschlagende Verdienst der kulturhistorischen
Richtung.
Es ist nicht zu bezweifeln, was selbstverständlich ist und
doch oft übersehen worden, dass die Philosophie, innerhalb eines
gewissen Zeitraumes sich entwickelnd, den Einflüssen der Zeit-
ereignisse, wie der Zeitströmimgen mit Notwendigkeit unterliegen
muss. Dies gilt von der Philosophie wie von jeder andern Art
theoretischer Thätigkeit. Es giebt elementarste und nicht weg-
zuleugnende Bedingungen, die jeder dauernden imd gesicherten
theoretischen Thätigkeit vorhergehen müssen^ dieselbe ja erst
mögUch machen. Der römische Legionär, indem er, ohne es zu
wissen, eines der grössten Verbrechen an der Wissenschaft be-
gangen hat, gab dem genialen Archimedes bei Syracus den
brutalsten Beweis, dass man nicht straflos zu jeder Zeit sich der
Wissenschaft widmen könne. Der Friede, wie ein gewisser Grad
materiellen Reichtums sind unerlässliche Bedingungen der Ent-
wicklung, wie der Portexistenz wissenschaftlicher Thätigkeit.
Schon im Altertum war dieses thatsächliche Verhältnis zwischen
der kulturhistorischen Umgebung und der Wissenschaft klar
begriffen und ausgesprochen worden. Die Rechtfertigung der
Sklaverei und noch mehr der ganzen socialen Gestaltung ihrer
Zeit durch Aristoteles und Plato ging bewusst von diesem
Gedanken aus. In neuerer Zeit legte Th. Buckle in seiner „history
of civilisation^ besonderes Gewicht auf dieses Verhältnis. Nur
so weit hat die kulturhistorische Richtung Recht. Wir würden
aber das volle und objektive Verständnis des geschichtlichen
Prozesses uns ganz unmöglich machen, wenn wir einige elementare
und meist selbstverständUche Bedingungen der geschichtlichen
Entwicklung zu alleinherrschenden Faktoren derselben erhöben.
Die natürlichen Bedingungen müssen ebenso berücksichtigt wer-
•den, wie die kulturhistorischen.
Dieser Satz wäre selbstverständlich und die Erinnerung an
ihn überflüssig, wenn die zur Zeit hie und da herrschenden
kulturhistorischen Richtungen ihn nicht so häufig zu unterschätzen
oder sogar zu ignorieren suchten. Wenn der so tief und weit
blickende F. A. Lange, wie die oben angeführte Stelle es be-
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-TF^
— 102 —
weist, sich dieser Einseitigkeit schuldig machen konnte, so beweist
es eben, wie leicht dieser Irrtum sich dann erst bei mittelmässigen
und weniger objektiv denkenden Geistern fortpflanzen kann imd
sich wirklich fortgepflanzt hat.
Die natürUche Reaktion gegen die vorherigen historisch-
philosophischen Richtungen, die das kulturhistorische Moment
übersahen, kann bis zu einem gewissen Grade diese Einseitigkeit
in der Geschichtsauffassung entschuldigen — sie rechtfertigen
kann sie aber ebenso wenig, wie ein Irrtum durch einen andern
beseitigt werden kann. Die kulturhistorische Umgebung ist alles^
der Mensch nichts — dies ist die Tendenz der kulturhistorischen
Richtung, wenn sie auch selten mit solcher Offenheit und Kon-
Sequenz formuliert wird.
Wenn zur Erklärung des Abhängigkeitsverhältnisses — imd
dies auch nur einer Reihe geschichtlicher Einwirkungen —
des einzelnen in der Gesellschaft diese Richtung die geeignetste
ist, so hat sie für die Erklärung der geschichtlichen Bewegung^
des geschichtlichen WerdenSj mit andern Worten für die eigent-
liche Hauptaufgabe der Philosophie der Geschichte nur einen
negativen Wert. Sie lenkt nämlich die Aufmerksamkeit ab von
den zwei ursprünglichen geschichtsphilosophischen, nicht weiter
zurückzuführenden Hauptfaktoren — die wir allgemein als Natur
und Geist bezeichneten — um es auf das gemeinsame Produkt
beider, auf das Gewordene zu konzentrieren. Dazu nhnmt die
kulturhistorische Richtung bisweilen Formen an, die noch aua
andern Gründen sie für die Erklärung des thatsächlichen Ganges
der Geschichte am wenigsten geeignet machen. Wir meinen die
zur Gewohnheit gewordene Erklärungsform, dass diese oder jene
geschichtliche Erscheinung; „ein Produkt ihrer Zeit" ist. Alles,
was geschieht, geschieht notwendig innerhalb eines Zeitraumes.
Die wirkenden Individuen machen von dieser selbstverständlichen
Regel keine Ausnahme. Wir sind also über einen geschichtlichen
Vorgang nach der Erklärung durch „die Zeit" so wenig ge-
schichtsphilosophisch unterrichtet, wie vor dieser Erklärung*
Wir können diesen Vorgang ebensowohl den wirkenden Indivi-
duen, also den subjektiven Momenten der Geschichte, wie den
objektiven Verhältnissen zuschreiben, da der Zeitgeist als Re-
präsentant beider betrachtet werden kann.
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— 103 —
Ein wichtiges Ergebnis erhalten wir durch unsere kritische
Abschätzung der drei Hauptrichtungen der wissenschaftlichen
Philosophie der Geschichte, die wir nach ihren positiven wie
negativen Seiten objektiv zu würdigen suchten. Dieses Ergebnis
lässt sich folgendermassen kurz zusammenfassen : keine der drei
Hauptrichtungen der wissenschaftlichen Philosophie der Geschichte
erschöpft den geschichtUchen Prozess. Jede von diesen drei
Richtungen ist durch ein notwendiges Element der Gesamtheit
der geschichtlichen Einwirkungen gegeben und insofesn eben-
sowohl wissenschaftlich gerechtfertigt, wie von grosser geschichts-
philosophischer Bedeutung. Nur in ihrer einseitigen Ausschliess-
lichkeit kann jede dieser gekennzeichneten Richtungen eme
negative Bedeutung für das Verständnis des geschichtlichen
Prozesses erhalten, indem sie eine einzige Seite desselben auf
Kosten aller übrigen hervorhebt. Wie diese drei unentbehrlichen
Richtungen nicht eklektisch, sondern systematisch in Einklang
zu bringen sind, ist ein äusserst wichtiges, noch ungelöstes ge-
schichtsphilosophisches Problem. Hier wollen wir nur auf den
Zusammenhang hinweisen, der zwischen dem Charakter des
geschichtlichen Prozesses selbst, und dem Vorhaudensein dieser
<irei verschiedenen Richtungen, existiert.
Wie verschieden auch die wissenschaftlichen Auffassungen
4er Geschichte sein mögen, in einem Punkte stimmen sie alle
überein, nämlich in der Anerkennung der ungemeinen Kompli-
ziertheit gesellschaftlich-geschichtlicher Vorgänge. So erklärt zu-
treflFend Herbert Spencer ^ dass je unwissender jemand ist, desto
einfacher erscheinen ihm gesellschaftlichen Vorgänge. Die Kom-
pliziertheit der gesellschaftlichen Erscheinungen folgt von selbst
bei Auguste Comte aus seiner Klassifikation seiner Wissenschaften.
Auch für St. Mill, wie für alle andern bedeutendsten Denker
der neuen Zeit, ist dieser komplizierte Charakter der socialen
Erscheinungen eine selbstverständliche, des Beweises kaum be-
dürfende wissenschaftliche Thatsache. Wenn wir hinzufügen,
dass die gesellschaftlichen Erscheinungen nur einen Bestandteil
* des ungeheuren von der Philosophie der Geschichte zu beherr-
schenden Materials bildet, so erscheint die Kompliziertheit des
geschichtsphilosophischen Gebiets in ihrer ganzen Grossartigkeit
und scheinbaren Unüberwindlichkeit.
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— 104 —
/
Es ist daher durch die Natur der Sache selbst erklärlich^
dass die Geschichtsphilosophen nicht allen Seiten des geschicht-
lichen Prozesses die gleiche Aufmerksamkeit und Gründlichkeit
widmen konnten. Die ausschliessliche Beschäftigung aber mit dieser
oder jener Seite des vielseitigen geschichtlichen Prozesses musste
mit Notwendigkeit zur Hervorhebung und Bevorzugung eine»
einzigen, dem Forscher näher liegenden und besser bekannten
Bestandteils des ganzen führen. Dazu kommt die individuelle^
Beschränkung des Forschers, die als eine Folge der in neuerer
Zeit unentbehrlichen Spezialisierung wissenschaftlicher Thätigkeit
sich notwendig einstellte. Wir können sogar die empirische Be-
obachtung anstellen^ wie mit dem wissenschaftlichen Spezial-
gebiete eines jeden Forschers sich seine Geschichtsauffassung
ändert. So huldigt der Philosoph Hegel dem Oeist oder objektiven
Gedanken^ als dem Hauptfaktor der Geschichte. iSfcÄiZZer erklärt die
Kunst als einen bedeutenden geschichtlichen Faktor, der Natur-
forscher Dubois-Reymond betrachtet die Naturwissenschaften als
den Hauptfaktor der Geschichte, der geniale Oekonomist Marx
macht, wie Rogers, die ökonomischen Verhältnisse, der Darwinist
die „natural selection", der Jurist Anton Menger die juridischen
Normen zu der treibenden Kraft in der Geschichte. Wir könnten
diese Beispiele noch vermehren, aber die schon angeführten-
beweisen, wie häufig die von uns hervorgehobene Erscheinung
auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte uns entgegentritt.
Der in hohem Grade komplizierte Charakter der Geschichte
bringt es mit sich, dass die grössten philosophischen Probleme,
die die Geister gegen einander in Bewegung setzen, auf diesem
Gebiete in einer veränderten oder oft sogar in derselben Form
auftreten und sozusagen den Kampfplatz der philosophisch ge-
trennten Parteien erweitem. Wir haben gesehen, wie das grosse
Freiheitsproblem für die Philosophie der Geschichte eine zer-
setzende Bedeutung erlangen kann. So wirkt auch der philoso-
phische Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus auf
dem Gebiete . der Philosophie der Geschichte weiter, indem er
den Ausgangspunkt in der Erklärung der Geschichte entsprechend
bedingt. Der konsequente Materialist ist mehr geneigt, von den
konkreten Faktoren der Geschichte auszugehen, während der
Idealist unstreitig den geistigen Eigenschaften des Individuums
den Vorzug geben muss.
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— 105 —
Daher das feindliche Gegenüberstehen der von uns ge-
kennznichneten Hauptrichtungen der Philosophie der Geschichte
auch in Fällen, wo sie einander ergänzen könnten. Wie der
Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus auf dem Ge-
biete der Philosophie neue Nahrung erhält, so steht es auch mit
allen andern philosophischen Hauptrichtungen. Wir haben schon
^angedeutet, wie der Dogmatismus, der Skepticisraus und der
Kriticismus ihre grosse Bedeutung für die Philosophie der Ge-
schichte erlangen. Ebensowohl wird auch der grosse Streit
zwischen Pessimismus und Optimismus mit erneuerter Energie
nochmals auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte aus-
gefochten. Die verschiedensten philosophischen Richtungen, die
mit den Schlagwörtern Rationalismus, Spiritualismus, Empirismus
kurz bezeichnet werden, wie auch diejenigen, die die Namen
Pluralismus, Atomismus, Dualismus imd Monismus tragen, be-
gegnen sich wieder auf dem geschichtsphilosophischen Gebiete
und mehren die schon sonst genug^ zahlreichen Schwierigkeiten
in der wissenschaftUchen Erforschung desselben. Sogar der be-
rühmte Streit zwischen den NominaUsten und Realisten, der im
Mittelalter so heftig die Geister bewegte, wiederholt sich in der
neuesten Zeit auf unserem Gebiete in einer neuen Form des
Problems der Wechselbeziehungen zwischen Individuum und
Gesellschaft (s. Herbert Spencer IL Bd. „Sociologie"). So bedeu-
tend sind die objektiven Hauptschwierigkeiten, um von den sub-
jektiven hier nicht zu sprechen.
Die Kritik der vorhandenen geschichtsphilosophischen Rich-
tungen, wie die allgemeine Theorie der geschichtlichen Faktoren,
die zusammen als eine Einleitung der Theorie des geschichtlichen
Prozesses dienen sollen, müssen sich daher zu ihrer Aufgabe
machen, diese wissenschaftlichen Schwierigkeiten, die uns auf
dem Gebiete der Philosophie der Geschichte entgegenstehen,
womöglich zu vermindern oder zu beseitigen. Dieses kann erreicht
werden durch Eliminierung der schon überlebten Forschungs-
methoden und Ausschüessung derjenigen einseitigen Richtungen,
die, indem sie nur eine Seite des geschichtlichen Prozesses be-
rücksichtigen, den Gang der Geschichte von einem Prinzipe aus
(„Archimedischer Standpunkt*) zu erklären suchen.
Die Möglichkeit einer solchen Eliminierung hoffen wir durch
unsere Arbeit festgestellt zu haben. Von den drei Hauptmethoden,
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— 106 —
auf die wir alle anderen zurückgeführt haben (der providentiellen,
metaphysischen und positiv-wissenschaftUchen), bleibt uns nur
eine^ die positiv- wissenschaftliche, die die Geschichte erforscht,
anstatt sie zu konstruieren, übrig. Sie ist also die einzig berechtigte
Methode. Dem Inhalte nach lassen sich alle bedeutenden Richtimgen
der wissenschaftlichen Philosophie der Geschichte ebenfalls aui
dreiltichtungen zurückführen (physisch-klimatische, physiologisch-
psychologische und kultiu^historische), die einander einseitig
bekämpfen. Aus der Kritik dieser drei Richtungen hat sich als
eine Aufgabe der Philosophie der Geschichte ergeben diese drei
berechtigten Richtungen (insofern sie einander nicht ausschliessen)
in einem einzigen System der Philosophie der Geschichte zu
versöhnen. Ein solches System wird freilich nur dann möglich
sein, 1) wenn die nötigen wissenschaftlichen Spezialarbeiten be-
reits vorhanden sind.
^) Daduroh ist selbstverständlich die einstweilige Benutzung des
schon vorhandenen übrigens sehr ümfangreiohen und wertvollen Materials
zur Erklärung des gesohiohtliohen Entwioklyngsprooesses und Aufstellung
entsprechender, wenn auoh nicht den ganzen Process erschöpfender Ent-
wicklungsgesetze, nicht im mindesten in Abrede gestellt.
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27,
11,
10,
aus
Alinea
ressemble
Gumplowitz
Lasaux
nicht einer.
von,
Axiom.
rasaemble,
Gumplowicz.
Lctaault.
der gesohiohtliohen handeln, zu lesen:
der geschichtlichen Enttoicklung handeln.
Jauffroy, zu lesen: Jouffroy.
for enver „ „ for ever.
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1^
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Bemer Stadien zur PMosophie und ilirer GescUchte.
Band IT.
Hermufgegeben von
Dr. Ludwig Stein,
Profeesor an der UniTerBitHt Bern.
Der Begriff der Entficklmig
bei
Nikolaus von Kues.
Von
I>r. O. K&stnei*.
«yr.tct«
Beim.
Verlag von A. Siebert.
1896.
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^öe^'^
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Disposition.
Seite
Prolegomena: Weltstellung und Charakter der Philosophie
des Nikolaus von Kues, Aufstellung des Themas . 1 — 4
I. Historiseh-kritiseher Teil.
Die Verwendung des Entwicklungsbegriffes auf dem
Gebiete der:
1. Kosmogonie (Gott u. Welt, Können u. Welt) 5—24
2. Kosmologie (Organisation des Universums) . . 24 — 26
3. Erkenntnistheoriö (Geist und Erkenntnis) . . 26 — 36
axif Gnmd chronologischer Betrachtungsweise der
Schriften kritisch dargestellt.
n. Systematischer Teil.
1. Zusammenstellung und Vergleichung der in Teil I
gefundenen Einzelresultate 37 — 38
2. Versuch, die allmählich sich vollziehende Umgestal-
tung des Begriffes innerhalb des Kusanischen Systems
auf Grund von Teil I nachzuweisen 38—39
3. Die Gründe für die vielfach schwankende Verwendung
des Begriffes:
a) Einseitiges Interesse für das Wie der explicatio 39
b) Doppelte Wertschätzung der Wirklichkeit 40—41
4. Verhältnis des Cusanischen zu dem modernen Ent-
wicklungsbegrifte 41 — 43
5. Ergänzungsbedürftigkeit beider 43 — 44
6. Inhaltliche Vereinigung beider erforderlich ... 44
7. Die neuzeitliche Färbung, besonders hervortretend
in der Wertschätzung
a) der Welt 46.
b) des Individuums (Anhang : Erziehung !) . . 45 — 47
c) der Geschichte 47 — 48
8. Das ontolog. Problem im Lichte der Cusan. explic. 48 — 49
9. Zusammenfassendes Urteil 49 — 60
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In seinem Buche „Die Philosophie des Nik. Cusan
Erk^inen*^ regt R. Palckenberg zu dem lohnenden Versuche an,
auf Grund chronologischer Betrachtungsweise der Schriften des
Cusaners nachzuweisen, wie sich in seiner Philosophie Dogma
und freies Denken, Altes und Neues, fortwährend begegnen und
einschränken. Zu einem solchen interessanten, aber aus mehrfachen
Gründen schwierigen Gesamtversuche, möchte die vorliegende
Arbeit einen bescheidenen Beitrag liefern, indem sie das Problem
der explicatio in der Philosophie des Nikolaus von Kues nach
dem ausgesprochenen Gesichtspunkte zu untersuchen sich vor-
nimmt.
Doch bevor wir uns dieser Aufgabe zuwenden, erscheint
es geboten, die Weltstellung der Philosophie des Cusaners vor-
erst im allgemeinen darzuthun. Zu deren Verständnis aber ist
eine kurze Würdigung des Zustandes, in dem sich die mittel-
alterliche Wissenschaft am Anfang des 15. Jahrhunderts befand,
unabweisbar.
Untrennbare Einheit von kirchlicher Theologie und Philo-
sophie, und der letzteren durchaus nur dienendes Verhältnis zu
ersterer, diese beiden Momente zusammen machen den Charakter
derjenigen Geistesrichtung des Mittelalters aus, die man Scholastik
nennt. Aristoteles vornehmlich ist ihr Held. Denn der Formen-
reichtum seines Systems bot willkommene Bausteine zum for-
malöti Aufbau der an sich unfehlbaren Theologie. Und nun erst,
Dr. KUstner, Der Begriff der Entwicklung bei Nikolaus von Kues.
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— 2 —
da das Reich der Natur zu einem blossen Werkzeuge, zu einer
Vorschule der Gnade degradiert war, erschien das Reich der
•Gnade gegen alle Uebergriffe des natürlichen Wissens gesichert.
Das Natürliche wurde somit gewissermassen einer grösseren
Totalität eingefügt. Diesen Grundgedanken bildete in gross-
artigster Weise der gewaltige Denker Thomas von Aquino aus.
Ein hiergegen reagierender Skepticismus aber liess nicht
lange auf sich warten. Schon Duns Scotus befürwortete die
Trennung von Theologie und Philosophie, also gerade derjenigen
Prinzipien, deren Versöhnung die Scholastik anstrebte. Damit
war der die Selbstauflösung der Scholastik bezeichnende Pfad
betreten. Der vollständige Bruch zwischen Theologie und Philo-
sophie tritt aber erst bei dem Erneuerer des Nominalismus,
Wilhelm von Occam, zu tage. Seine streng nominalistische Er-
kenntnistheorie zeigt mit Kantischer Schärfe die Unzulänglichkeit
der scholastischen Glaubensbeweise, freilich nur, um dem Supra-
naturalismus eine vollkommen freie Herrschaft zu vindizieren.
In einen harten Konflikt mit der Scholastik konnte auch leicht
die zuerst mit ihr eng verbundene Mystik geraten. Ein neupla-
tonisches Pfropfreis auf dem Stamme des Christentimis und
somit Vertreterin pantheistischer Lehre und einer über den
Dogmen erhabenen intellektuellen Anschauung des Absoluten,
begann sie gegen die das religiöse Fühlen erstickende formal-
theologische Begriffswissenschaft sich zu erheben und feierte ihre
herrlichste Blütezeit unter Meister Eckhardt,
So ungefähr sieht das Bild aus, das die Wissenschaft zu
Anfang des 15. Jahrhunderts beim Auftreten des Cusaners bietet.
Und wie jeder andere grosse Mann ist auch er ein Kind seiner
Zeit. Mit gründlicher Kenntnis der scholastischen Lehrsysteme
vereinigt er den schärfen Blick Occams für ihre Mängel, und
die Lehren der Mystiker finden in seinen Schriften die tiefste
Resonanz. Zugleich Repräsentant des damals neu erwachten
Studiums der antiken Klassiker blieb Nikolaus auch von dieser
Seite her nicht unberührt. Denn dasselbe Streben nach einer
klaren und wohlthuenden Form, das die von Hellas befruchtete
Kunst und Litteratur der Renaissancezeit beseelt, offenbart sich
bei Nikolaus in einer Wissenschaftlichkeit der Darstellung, durch
die er sich vorteilhaft vor den übrigen, eigentlichen Repräsen-
tanten des Mystizismus mit ihrer ahnungsreichen, aber unklaren
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- 3 —
dunklen Spekulation auszeichnet. Zugleich ist seine Philosophie
auch inhaltlich reich an Verwertung antiker Lehren.
Wir kennen bisher die geistigen Kräfte, unter deren Beein-
flussung das Lehrgebäude des Cusaners erwuchs. Nunmehr ist
dieses selbst mit ein paar Worten zu skizzieren. Zwei Grund-
gedanken beherrschen dasselbe: 1) Verhältnis von Gott und
Welt ; 2) Wesen und Aufgabe der Erkenntnis. In der Schöpfung
giebt sich das Unendliche in das Endliche, hin ; im Erkenntnis-
prozesse kehrt es durchleuchtet wieder zu sich selbst zurück.
Schöpfung und Erkenntnis sind daher die zwei sich ergänzenden
Pole. Das in unserer Seele niedergelegte, unersättliche Dürsten
nach Wissen ist somit ihr eigentliches, charakteristisches Wesen,
ihre Bestimmung, gleichwie das Auge von Natur zur Auinahrae
des Lichtes organisiert ist. Schon das Wissen des Sinnlichen ge-
währt Genuss. Doch in demselben Masse, wie dieses zunimmt,
lehrt es uns begreifen, dass diese durch die Formen des Raumes
und der Zeit begrenzte Wirklichkeit nicht durch und für sich
selbst da ist, sondern für ihr Dasein imd ihren Zusammenhang
eine höhere Realität voraussetzt, deren Erforschung das höchste
Ziel des menschlichen Geistes sein muss ; denn in ihr entspringen
die tiefsten Wurzeln seines Wesens.
Diese Grundgedanken an und für sich vermögen uns nun
allerdings noch keineswegs ein anschauliches Bild von der eigen-
artigen Grösse des Philosophen zu geben. Denn in ähnlicher
Weise hatten ja bereits verschiedene seiner Vorgänger spekuliert,
SQgar mit teilweiser Zeitigung derselben Resultate. Vielmehr ist
es das ungeheuer energische und zähe Streben nach Erfassung
des Absoluten, das unermüdliche Ringen und Tasten nach
präziser Pormulienmg des einen Grundgedankens, was unser
Interesse beständig fesselt. Auch von Nikolaus gilt der Satz,
dass die Arbeit oft wertvoller ist als der Ertrag. Dieser
rastlose Drang ist nun aber selbst nur die Folge eines heissen
Prinzipienkampfes in dem Kopfe eines Mannes, der, zwei Kultur-
welten angehörend und aus der einen in die andere herüber-
ragend, Kardinal und Philosoph zugleich sein will. Von ehr-
furchtsvoller Scheu vor der religiösen Tradition erfüllt, ist er
vermöge seines unverwüstlichen Glaubens an die Kraft des
menschlichen Geistes zugleich ein gutes Stück Rationalist, der
-die kalten, trüben Nebel des Autoritätsglaubens verscheucht
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— 4 —
und im Gegensatz zu dem resigniertön Skepticismus eines Wil-
helm von Occam sogar im Zweifel den Anfang der Weisheit
sieht. So steht er auf der abschliessenden Höhe des Mittelalters
und ist zugleich der „Bahnbrecher neuer Ideen *^ (Eucken), der
die Aussicht über unermessliche Gebiete eröffnet, innerhalb deren
die Philosophie der Neuzeit ihre besten Schätze erobern sollte.
Es wäre interessant, all' die Keime des neuzeitlichen Den-
kens aus dem Gedankengewebe des Cusaners klar herauszustellen.
Indes soll sich die folgende Untersuchung, wie oben angezeigt,,
auf den Entwicklungsbegriff des Nikolaus beschränken.
Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: Der erste^ kritisch^
historische Teil bespricht in drei Abschnitten unter Berücksich-
tigung der Chronologie^) der einzelnen Schriften*) die Verwendung
des Bntwicklungsbegriffes auf den Hauptgebieten seines Umfangs.
Der zweite, kritisch-systematische Teil fällt das abschliessende
Gesamturteil über Bedeutung und Fruchtbarkeit desselben.
Der Entwicklungsbegriff des Nikolaus von Kues, der Begriff^
der Explicatio, wird durch den der Complicatio ergänzt. Zum
Verständnis des ersteren ist eine kurze Erörtemng zunächst dieses
Begriffes geboten.
^) Zur Reihenfolge der Schriften vgl. Scharpff, Falokenberg, Uebinger.
') Der Abhandlung liegt die Pariser Ausgabe der Schriften dea
Nikolaus zu Grunde.
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— 5
L Historisch-kritischer TeiL
1. Verhältnis von Gott und Welt.
Das Verhältnis von Gott und Welt erscheint Nikolaus unter
dem der complicatio und explicatio; denn so lautet die Ueber-
schrift der doct. ign, II, 3 : Quomodo maximum omnia coraplicet
et explicet inintelligibiliter (so und nicht intellectibiliter ist unbe-
dingt zu lesen, cf. II, 2), d. h. wie das Grösste alles in sich
zusammenfaltet und aus sich heraus entfaltet. . . Wie diese Zu-
sanmienfaltung von allem in dem Grössten (= Gott) zu denken
sei, wird sogleich durch zahlreiche Beispiele verdeutlicht, be-
sonders durch solche aus der Mathematik, cf. doct. ign. I, 11 — 15.
Hiervon nur einige Proben : Die unendliche Linie enthält in sich
(complicat) das grösste Dreieck, den grössten Kreis und die
grösste Kugel. Dies nachzuweisen, fragt Nikolaus, was in der
Potenz der endlichen Linie liege. Antwort: Die endliche Linie
a bj um den festen Punkt a herumgeführt, ergiebt das Dreieck
u b Cj weiterhin den Halbkreis und endUch den Kreis. Und
durch Herumführung des Halbkreises um den festen Halbmesser
i d entsteht die Kugel. In ihr gelangt die Potenz der endlichen,
geraden Linie zur letzten und vollkommensten Entfaltung. Da
nun aber die unendliche Linie alles das aktuell ist, was die
endliche potenziell (cf. Kap. 14, 15, 16), so folgt, dass sie wirk-
liches Dreieck, wirklicher Kreis und wirkliche Kugel in der
Einheit zugleich ist. Analog müssen wir nun sagen: wie die
unendliche Linie alles das aktuell ist, was die endliche potenziell,
so ist die absolute, unendliche Einheit alles Mögliche in Wirk-
lichkeit, mit andern Worten, jedes Ding ist in Wirklichkeit Gott
selbst, aber natürlich nur insofern, als er in dem einen zugleich
das andere Ding ist. In diesem Sinne ist das Absolute die com-
plicatio alles Seins, die Form aller Formen (natürlich nicht die
individuelle, selbsteigene, konkrete, sondern die absolute Form,
d. h. das alle besonderen Formen in sich einfaltende und in
sofern sie spendende, absolute Prinzip), die entitas aller Entitäten,
die Quiddität aller Quidditäten, mit einem Worte: der actus
omnium, cf. doct. ign. II, 5.
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Nikolaus verweilt mit sichtbarem Interesse in den meisten
seiner Schriften bei der Aufstellung solcher Analogien, um das
Wesen der göttlichen Complicatio zu verdeutlichen. Uns freilich
scheint dieses Verfahren nicht das zu leisten, was er sich von ihm
verspricht. Denn dass das mathematisch Unendliche und das
metaphysisch Unendliche zwei ganz verschiedene Dinge sind,
da das erstere stets nur ein gedachtes und daher nicht mehr
vermehrbar ist und somit in Wirklichkeit gar nicht vorkommen
kann, dagegen das letztere wegen seiner in actu bestehenden
Vollkommenheitsfülle weder vergrössert noch vermindert werden
kann, darauf hat Stöckl p. 44 mit Recht hingewiesen. Zwei tota
genere verschiedene Dinge dürfen eben nicht in Analogie mit
einander gebracht werden. Und selbst wenn dies Zulässig wäre,
so dürfte wohl trotzderA der Satz von dör complicatio alles Seins
immer noch eine sehr schwer zu vollziehende Vorstellung sein.
Denn wer begreift es, dass alles noch so verschiedenartige Sein
eine absolute, über alle Gegensätze erhabene Einheit bilden
könne ?
Was nun in Gott zur absoluten Einheit kompliziert ist, das
ist in der konkreten Welt zur Vielheit der Dinge expliziert, i)
oder mit andern Worten : die Dinge, die alle zusammen in Gott
imterschiedslos eine Einheit bildeten, haben sich je nach ihren
individuellen Besonderheiten und Wesenheiten zur Vielheit aus-
einander gelegt und von einander abgesondert, und stehen nun
') Ueber die Geschichte der Begriffe complicatio und explicatia
of. R. Euoken „Die Grundbegriffe der Geg.* 2. Aufl. 1893. Er weist hier
bereite bei den lateinischen Klassikern die Verwendung der Termini auf,
zeigt aber, dass sie dort nicht bei dem Weltproblem, sondern nur in lo-
gischer Beziehung wissenschaftliche Verwendung finden, of. Cicero, (üebri-
gens hat auch Nikolaus die beiden Begriffe bisweilen in logischer Ver-
wendung, cf, fil. 77 a, de non aliud Cap. 6 ,in explioatam igitur eins de-
finitionem intueamur . . ." u. a.) Auch im Mittelalter wendet man sie
auf die grossen Weltfragen nur selten an. Bei Thomas von Aquino findet
sieh weder explicatio noch complicatio. Dagegen hat sie die von Pseudo-
Dionysius ausgehende mystische Spekulation, (cf. Scotus Erigena) in fort-
währendem Gebrauch, und zwar für das Verhältnis von Gott und Welt.
An diese Richtung aber knüpft auch, wie wir bereits pag. 3 sahen, der
Cusaner an. Gleichwertig mit explicatio gebraucht er zuweilen den Begriff
evolutio, cf. id III, 9: „evolutionem id est explicationem."
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— 7 —
als selbständige, für sich seiende Realitäten einander gegenüber
(Doct. II, 3).
Aber wie ist der Vorgang der explicatio zu verstehen ?
Nikolaus unterlässt nicht, wie den BegriflF der pomplicatio, so
auch den der explicatio durch eine ganze Reihe konkreter Bei-
spiele zu verdeutlichen (doct. II, 3). Wie z. B. die Einheit die
Zahl aus sich expliziert und in der Zahl nichts als die Einheit
sich findet, so entfaltet Gott aus sich die Dinge, und in jedem
findet sich immer nur die Einheit wieder. Dasselbe lehrt uns
das Verhältnis von Punkt und Linie, Ruhe und Bewegung,
Jetzt und Zeit. Ist der Punkt die complicatio der Linie, so ist
die Linie die explicatio des Punktes. Daher findet sich in der
Linie immer nur der Punkt wieder, denn sie ist nur der aus-
einandergezogene Punkt ; aber auch die Fläche und endlich der
Körper sind nur Explikationen des Punktes. Punkt, Linie,
Fläche, Körper bilden eine auseinander hervorgehende Stufen-
folge von Explikationen. Nicht anders ist es mit dem Verhältnis
von Ruhe und Bewegung. Die Bewegung ist nur die aneinander
gereihte, breitgezogene Ruhe (motus est quies seriatim ordinata).
Desgleichen ist - die Zeit nichts anderes, als die explicatio des
Jetzt, d. h. eine sich inmier weiter fortbewegende Gegenwart.
Jeder Zeitabschnitt ist ein Jetzt. Das Jetzt ist die zusammen-
gezogene Zeit, die Zeit das auseindergezogene Jetzt = expli-
catio des Jetzt.
In gleicher Weise nun ist auch die explicatio alles Seins
aust Gott zu denken: Est omnia explicans in hoc, quia ipse in
Omnibus (doct. II, 3). Wie jeder Zeitabschnitt nichts anderes
ist, als das Jetzt selbst, oder die Linie u. s. w. nichts anderes
als immer nur der eine Punkt, so ist jedes Ding nichts anderes
als Gott selbst. Alles in Allem, Jegliches in Jeglichem.
Die Art und Weise des Entfaltens freilich, sagt Nikolaus,
geht, ebenso wie die des Zusammenfaltens, über unser diskursives
Denken hinaus. Man könnte wohl die Zahl zu Hülfe rufen und
sagen : Wie aus unserm Geiste dadurch, dass wir vieles einzelne
als einem Gemeinsamen zugehörig erkennen, die Zahl entsteht,
so expliziert Gott die Vielheit der Dinge dadurch aus sich, dass
er, weil die Dinge an dem absoluten Sein nicht alle gleichmässig
partizipieren können, das eine so, das andere anders gedacht;
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— s —
doch auch so, wenn wir in Gott Sein und Erkennen identifizieren,
ist noch nichts erklärt. Auch die Zahl kann uns den Vorgang
nur veranschaulichen, aber nicht begreiflich machen, da der
Vergleich mit ihr den Anschein erweckt, als sei Gott in den
Dingen vervielfältigt, was sich mit der Grundvoraussetzung von
der absoluten Einheit nicht verträgt. „Videtur quasi deus . . .
multiplicari.*' Doch Gott ist das „idem immultiplicabile" gen. 70 b,
wie es später heisst.
Wer vermag also die Explikation des näheren zu begreifen ?
Die Dinge ohne ihn betrachtet sind nichts, und betrachtet man
ihn, sofern er in den Dingen ist, so entsteht der falsche Anschein,
als ob die Dinge antecedenter ein Sein besässen, dem sich das
Göttliche nur mitteile; das Sein der Dinge ist ja aber erst das
von Gott empfangene, es stammt ja erst von ihm, doch so, dass
er sich in ihnen nicht erschöpft. Doct. lU, 1. Betrachtet man
aber die Dinge, sofern sie in Gott sind, so erhält man als ur-
sprüngliches Sein nur die absolute Einheit, und unausbleiblich
drängt sich der Schluss auf: Gott expliziert sein Sein in das
Nichts hinein, wodurch die Welt entsteht. Doct. I, 3. Doch, wie
ist solches denkbar, da das Nichts kein Sein ist?
Und führt man schliesslich die Explikation des endlichen
Seins auf den absoluten Willensurgrund zurück, gleich wie ein
Haus auf Befehl des Baumeisters entsteht, so hat man eben
damit nur die Unkenntnis des Wie und nur die Thatsächlichkeit
des Dass eingestanden. Mit Recht weist Nikolaus die Zurück-
iührung der Explicatio auf die lockenden Auswege des Nichts
und des absoluten Willens ausdrücklich zurück; durch beides
hätte er ja das philosophisch begriffliche Denken der dogmatisch
unfruchtbaren Ausflucht geopfert, er hätte den Knoten zerhauen,
statt gelöst.
Es ist interessant zuzusehen, wie hier ein gewaltiger Denker
in ungeheurer Kraftanstrengung und in immer neuen Anläufen
mit der Lösung einer der höchsten Fragen ringt. Daher kommt
es auch, dass er bisweilen solche Ausdrücke benutzt, die er
gewiss selbst nicht wörtlich gemeint wissen wollte (cf. doct. I, 2 :
„opportet . . . adaptari non possunt" etc.), z. B. wenn er die
Explikation durch den BegriflF der „Teilnahme" zu erklären sucht.
Dass ein dem absoluten wie dem endlichen Sein relativ gemein-
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— 9 -
samer Inhalt anzunehmen sei, dieser Satz ist offenbar richtig,
doch für den Vorgang der Explikation ist dieser Ausdruck un-
präzis, da, wie Falckenberg ganz richtig gesehen hat pag. 29,
■die Teilnahme neben einem Spender auch einen bereits vor-
handenen Empfänger voraussetzt, der aber im vorliegenden Falle
nicht vorhanden ist, sondern durch die Teilnahme erst entsteht.
Daher darf die Entfaltung des Seins aus Gott nicht als Teilnahme
bezeichnet werden.
Auch folgender Erklärungsversuch kommt vor (doct. 11, 2):
Non aliud videtur esse creare, quam deum omnia esse.
Sein und Schaffen ist demnach identisch, doch sogleich
entsteht die Antinomie, dass, während Gott ewig ist, die Dinge
zeitlich sind, doct. II, 2 ; wer begreift also, dass Sein und Schaffen
<5oincidieren? Unser Vorstand, sagt Nikolaus, fasst eben das
Wesen der Explikation nicht, obwohl er weiss, dass Gott die
Welt aus sich expliziert habe, II, 2.
Und wenn Nikolaus endlich zu der simplex emanatio seine
Zuflucht nimmt, um das Rätsel der explicatio zu erklären (doct.
II, 4 : per simplicem emanationem . . . prodiit in esse), so ist er
sich der bloss bildlichen Ausdrucksweise bewusst (Falckenberg,
Uebinger). Denn dass Nikolaus dabei an- eine Emanation im
Sinne Plotins keineswegs gedacht, ja eine Wesensausstrahlung
des Absoluten sogar ausdrücklich ablehnt, beweisen die sogleich
folgenden Worte: ex intentione cjei omnia in esse prodierunt,
doct. II, 4. Das stimmt auch ganz zu der anderweitigen Polemik
des Cusaners gegen die Annahme einer mittelbaren oder unmit-
telbaren Emanation, doct. II, 4. Emanatio hatte im Mittelalter
überhaupt nicht den engen Sinn, den \vir wohl damit verbinden.
Darum ist es nicht wundersam, wenn selbst Thomas von Aquino
diesen Ausdruck in seinen Schriften für das Weltproblem ver-
wendet (Uebinger).
Wir kommen, das ist das Resultat, über die Unbegreiflich-
keit nicht hinaus. Eines aber steht fest : explicatio bedeutet die
Herkunft alles Seins aus Gott. Die Dinge sind in Gott, Gott ist
in den Dingen das, was sie absolut, nicht das, was sie konkret
sind, auf unbegreifbare Weise. Die konkrete, endliche Form des
Seins kann schliesslich nur aus einer gewissen „Zufälligkeit"
stammen. Aber auch soviel ist sicher, dass Gott, obwohl er das
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— 10 —
absolute Wesen der Dinge ist, dennoch nicht in dieselben ein-,
geht, II, 2. Denn zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen
besteht keine Proportion, II, 2: „finiti et infiniti nulla fit pro-
portio." In dem Sinne, wie die unendliche Linie der endlichen
die konkrete individuelle Form nicht realiter mitteilt, sondern nur
Prinzip derselben ist, so ist auch Gott nur das absolute Bildungs-
prinzip der Dinge und insofern ist er in ihnen. Gott ist in den
Dingen, wie die Wahrheit im Bilde, das, was sie sind.
Unbegreifbare Herkunft des EndUchen aus dem Unendlichen,
alles in sich komplizierenden Seins, dies als das Wesen der in
der frühesten Hauptschrift niedergelegten Explikationsidee erkannt
zu haben, das ist das bisher gewonnene Resultat. „Necesse igitur
est fateri te penitus et complicationem et explicationem, quo-
raodo fiat, ignorare," doct. II und passim. Je bewanderter in
dieser Ignoranz, desto gelehrter (cf. Die Geschichte dieses Be-
griffes von Uebinger, Archiv für Gesch. der Ph., Bd. 8, Heft
1 und 2).
Indes vermögen wir dabei nicht stehen zu bleiben ; vielmehr
wollen wir versuchen, das zu begreifen, was Nikolaus unbegreif-
lich schien, und somit das ganz bestimmt auszusprechen, was
wohl auch er im tiefsten Grunde gedacht hat, ohne aber den
Mut zu besitzen, den Gedanken der Explikation bis zu Ende
durchzudenken.
Die für die Lösung des Explikationsproblems entscheidende
Frage, auf die hier alles ankommt, ist diese: Ist die bisher be-
schriebene explicatio dualistisch oder pantheistisch zu denken?
Ist die Welt der explicatio von der göttlichen compUcatio quali-
tativ oder nur quantitativ, essentiell oder graduell, absolut oder
nur relativ verschieden ? Antwort : Nikolaus lehrt beides ; er taül
zwar Dualist im Sinne der Kirchenlehre sein, doch ist die „Docta
ign.*^ von Wendungen voll, die nicht nur, wie Uebinger sich
vorsichtig ausdrückt (p. 43), „Anlass zu manigfachen Miss Ver-
ständnissen," d. h. zu pantheistischer Deutung geben (ebenso
Ritter Gesch. d. Ph. IX, p. 165), sondern überhaupt nicht anders
als auf pantheistischem Boden verständlich sind. Nikolaus selbst
protestiert dagegen.
Die 1450 entsandene „ApoL doct. ign.^ legt hiervon Zeugnis
ab. Indem sie die von Joh. Vench erhobenen pantheistischen
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— 11 —
Vorwürfe zurückweist, oder vielmehr zurückzuweisen sucht, wird
sie zur willkommenen Verteidigungsschrift des frühesten Stand-
punktes seitens des Autors selbst. Venchs Einwurf ist im grossen
und ganzea ein dreifacher:
1. Er sieht durch die doct. ign. die Grenzscheide zwischen
Gott imd Welt zerstört, fol. 35 b: „ego sum .... creatura."
Nikolaus leugnet dies, indem er sagt : Gott ist weder dieses noch
jenes, weder Himmel noch Erde, also kein besonderes Sein,
sondern in ganz eigentümlicher Weise (proprie) die absolute
Form jeder Form; in der absoluten und einfachsten Form aber
kann kein Sein etwas anderes sein als er selbst, und weil er
allen Dingen das Sein giebt, kann kein solches in ihm fehlen.
Gleich wie man die mathematischen Figuren, losgelöst von ihren
empirisch konkreten Eigenschaften und hinausgehoben über sie,
sicherlich in einer einfachsten Einheit schaut, so muss man auch
in analoger Weise die Dinge in Gott sehen (um zu erkennen,
dass Gott alles in allem ist), ohne doch die Grenzscheide zwischen
(jott und Welt zu vernichten.
Offenbar meint Nikolaus damit den Unterschied der idealen
und empirischen Welt; jene ist in Gott und mit ihm identisch,
diese von ihm verschieden.
Ist nun aber damit Venchs Einwand wirklich ad absurdum
geführt? SchwerUch. Denn wenn das absolute, allgemeine, wahr-
haft wirkliche Sein Gott selber ist, und nur das empirisch indi-
viduelle, d. h. nur die endliche Form nicht Gott ist, so ist die
Welt damit doch im Grunde genommen nur zu einer Kehrseite
Gottes, zu einem in endlicher Maske eingehüllten Gotte gemacht.
Die Welt ist dann das in konkrete Vielheit auseinandergelegte
absolute Sein selbst. Etwas anderes aber behauptet auch der
Pantheist nicht.
2. Femer sieht Vench durch das Lehrstück von der Coin-
cidenz der Gegensätze den Untersohied von Schöpfer und Ge-
schöpf, von Subjekt und Objekt aufgehoben, cf. fol. 37 b : „non
videt . . . impugnat." Auch dies leugnet Nikolaus ; „wer die
Wahrheit lieb hat," erwidert er, „kann solches in der doct. ign.
nicht antreffen." Nie könne das Abbild mit dem Vorbilde, nie
die Wirkung mit der Ursache identisch sein. Auch hier gelte
n\ir, dass Gott zwar alles in allem, aber kein bestimmtes Sein
sei. Doch was ist Pantheismus, wenn das keiner ist? Die Ueber-
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— 12 —
legenheit ist also wiederum auf Venchs Seite. Nikolaus freilich
würde uns ob dieser Entscheidung gleich Vench von Leiden-
schaft und böser Absicht erfüllte „Fälscher" und „Zerstörer"
seiner Schriften nennen (37 b), Ausdrücke, die übrigens zu den
Worten „gaudeo aut quaestionibus stimulari ant objectionibus
impelli" nicht passen. Und abgesehen davon, dass Nikolaus durch
Hinwegdeutung der Coincidenz der Gegensätze selbst zum Fal-
scher wird; können wir auch bei aller Berücksichtigung der doct.
I, 2, ausgesprochenen Bitte „opportet . . . adaptari non possunt"
mit Stöckl, Eucken, Falckenberg u. a. den Pantheismus nicht
hinwegdeuten.
Uebrigens hätte Venck noch eine ganze Reihe anderer
Sätze anführen können, die offenbar nur pantheistisch verstanden
einen Sinn geben. Freilich auch der Dualismus behauptet an-
dererseits energisch sein Recht ; auch das ist nicht zu verkennen.
Der stärkste hieher gehörige Satz ist der von Falckenberg mit
Recht als Extrem bezeichnete: zwischen dem EndUchen und
Unendlichen giebt es keine Proportion.
3. Auch der dritte Haupteinwurf „Tolh subsistentias rerum
in proprio genere" ist auf Grund von ähnUch lautenden Sätzen
wie der: ^in maximitate absoluta omnia id sunt, quod sunt, quia
est entitas absoluta, sine qua nihil est" apol. fol. 39a, vollkommen
gerechtfertigt. Das Geschöpf ist ohne Gott nichts u. s: w. Wer
möchte auf Grund solcher Stellen die Subsistenz der Dinge
retten? Freilich auch hier wieder finden sich offen dualistische
Stellen, die die Subsistenz der Dinge behaupten, cf. doct. II. 3:
„Esse rei non est aliud, ut est diversa res". Dass denmach der
Cusaner das Fürsichsein der Dinge keineswegs zerstören und zu
blossem Schein herabsetzen wollte, wie Uebinger sagt, ist aller-
dings richtig, aber eben nur relativ. Wir sehen also zwei
Strömungen, eine pantheistische und eine dualistische, bald in
extremster Fassung, bald in gegenseitigem Uebergang in der
Philosophie des Nikolaus sich einander bekämpfen. Das Ver-
hältnis von beiden scheint uns aber keineswegs ein blosses,
gleich starkes Nebeneinander zu sein. Auch ist nicht anzu-
nehmen, dass ein so grosser Denker sich des Contrastes voll-
kommen bewusst gewesen sei ; denn nicht selten besteht ja eben
die Grösse im Gegensatz. Nikolaus will Dualist sein im Sinne
seiner Kirchenlehre, und doch — seltsam genug — drängt sich
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'— 13 —
die pantheistische Weltanschauung der deutschen Mystiker überall
heissblütig hervor und hebt sie bisweilen ganz auf. OfiFenbar
hat der feine Kenner der cusanischen Philosophie R. Palckenberg
das entscheidende Wort auch hier gesprochen: „Der panthei-
stische Grundgedanke tritt im cusanischen System minder be-
wusst, aber stärker, der dualistische minder stark, aber bewusster
auf.** Und gewiss liegt ja gerade in diesem Gegensatz das
Kennzeichen einer Zeit, da zwei Kulturwelten im Kampfe um
das Dasein ringen: das Alte, durch Gewohnheit und religiöse
Tradition Geheiligte, behauptet zäh sein gutes Recht, das Neue
erhebt sich mit jugendlicher Kraft; der seit Jahrhunderten
glimmende patheistische Funke ^) leuchtet heller und heller auf,
gleich wie die aufleuchtende Morgensonne langsam und ganz
allmählich die Nebel zerreisst.
Es ist somit nach unserer Ansicht das Bemühen Uebingers,
Klemens u. a., die beiden Seiten des cusanischen Systems
miteinander in Einklang bringen zu wollen und zu einer ein-
heitlichen Auflassung zusammen zu deuten, nicht nur zwecklos,
sondern ganz verfehlt; wer mit Uebinger behauptet: ,nur im
äussersten Falle darf es gestattet sein, durchgehende Wider-
sprüche zu konstatieren, wie Falckenberg thut" (pag. 67 seiner
„Gotteslehre ..."), der hat nach unserm Dafürhalten kein rechtes
Verständnis der eigentümlichen Bedeutung dieses Mannes, die
eben gerade, wie die des ausgehenden Mittelalters überhaupt, in
dem angedeuteten Principienkampfe liegt.
Dieses Resultat ist aber für die Frage entscheidend, wie
die Explication des Nikolaus zu denken sei?: der Theolog will
sie dualistisch, qualitativ, der Philosoph dagegen pantheistisch,
quantitativ verstanden wissen. Im ersten Falle ist die „Ent-
wickelung" ein rein schöpferischer Akt, ein blosses Hervorrufen
der Dinge zum Sein durch den Urwillen, im zweiten dagegen
ein blosses Herabsteigen der in Gott liegenden idealen Welt zur
Konkretheit des Seins. Das Produkt der expUcatio ist somit
*) la Rücksicht darauf, dass der katholischea Lehre des Mittelalters
ein namentlioh vom Neuplatonismus herübergenommenes Stück Pantheis-
mus nicht fremd ist, darf allerdings der Pantheismus des Nikolaus weder
als etwas specifisch Neues, noch als ein monstrum horrendum im System
des Kardinals gelten. Die paatheistiache Mystik eines Eckhardt und
Gerson u. a. überbietet sogar die des Nikolaus.
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— 14 —
in beiden Fällen eine abgeschwächte Wirklichkeit. Denn durch-
gehends ist Gott, das absolute Princip alles Seins, als das Höchstre
und Vollkommenste, als das Ursprüngliche, kurz als der wirk-
lichere Zustand gedacht im Gegensatz zu allem verendlichten,
mit dem Princip des Widerspruchs behafteten Sein.
Zwischen die gewaltige Geistesarbeit der doct. ign, und
die Apol. derselben fallen mehrere kleinere Abhandlungen:
de quaer d.^ de dat,^ de fiLj de gen. Ihr Zweck ist kein an-
derer als die Einführung in die uns bekannten Grundgedanken,
verbunden mit teilweise näherer, ganz im Geiste der doct. ign.
gehaltenen Ausführung und Fortbildung derselben. Wir können
sie indess für die Intention dieses Kapitels ohne Nachteil über-
gehen und kommen erst in der Besprechung der Erkenntnis-
lehre auf sie zurück. Ebenso übergehen wir die beiden Dia-
löge ^de sap,^ 1450; denn da Nikolaus, in diesem Jahre zum
Kardinal in Rom ernannt, seiner Philosophie in der neuen Um-
gebung nur Eingang verschaffen wollte (ScharpflF), so bieten sie
nichts principiell Neues, sondern nur eine Rekonstruktion des
früher Gelehrten.
Nur das Gespräch j^de gen." aus dem Jahre 1447 ist un-
bedingt wichtig. Gott ist nach ihm „das Selbige" (idem ipsum,
bisweilen idem ipse), der Hervorgang der Welt aus ihm ein
„Assimilieren". Nikolaus will damit keine neue Theorie auf-
stellen, sondern den vielfachen bereits bekannten Erklärimgsver-
suchen des Explikationsproblems oflenbar einen nur noch deut-
licheren zur Seite stellen: das explicare wird durch das assimi-
lare erläutert fol. 69b. Wie kann nun aber das absolute „Das-
selbe", das als solches mit allem gegensatzlos geeint ist,
Princip aller Dinge sein ? denn das absolut Dasselbe kann doch
immer nur wieder ein Selbiges erzeugen 70a. Wie kann es also
Dinge schaffen, die unter sich total verschieden sind? Antwort:
Weil es sich nicht vervielfältigen lässt ; und, da es doch auch mit
den Dingen weder identisch, noch von ihnen verschieden sein kann,
da es sonst nicht mehr das absolute, dasselbe Princip wäre, so
ist sein Schaffen der Dinge ein Identifizieren, näherhin ein
Assimilieren cf. 70b: omnis identificatio reperitur in assimi-
latione". (cf. das Beispiel der Anfertigimg von Gläsern durch
Blasen, das des Lehrens u. a., desgleichen id. III 13). Das Selbige
steigt zu dem nicht Selbigen herab und ruft das nicht Seiende
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■AliJHJ
— 15 —
zum Sein, das non idera steigt zu dem idem ipse herauf, und
weil es dasselbe nicht erreichen kann, so assimiliert es sich ihm
cf. fol, 70b, „Assimitatio autem dicit quamdam coincidentiam . . .
ad idem*^. Das Werden alles Seins, das explicare, wird also hier
ein Assimilieren, ein Participieren an dem absoluten Sein ge-
nannt (ebenso später ber. 15, 16 und bereits doct. I. 17, 18).
Eine andere Frage freilich ist es, ob diese neue Definition
nicht eher eine Verdunkelung als Verdeutlichung des früher Ge-
lehrten bedeute. Denn wer möchte den Sinn der Worte, dass
das Schaffen des Absoluten ein Sichverähnlichen seiner selbst
mit den Dingen sei, wirklich verstehen? Wir unsererseits wenig-
stens sind nicht in der Lage.
Ebensowenig vermag das für verloren gehaltene Gespräch
,de non aliud'^ (cf. Uebingers Abdruck) das Explikationsproblem
plausibel zu machen. Wir greifen mit gutem Grunde in der histo-
rischen Reihenfolge der Schriften ein Stück vor^ weil diese
Schrift den konsequenten Abschluss des in doct. inaugurierten
und de gen. weiter geführten Gedankenganges bildet. Hierin
ist Gott das non aliud, cf. Cap. I, d. h. er kann nur durch sich
selbst definiert werden, er ist das Erste und von allem spätem
absolut freie Sein. Alles Endliche hat sein Princip ausser sich,
nicht so Gott ; er ist Princip seiner selbst (cf. die Definition des-
selben Cap. 6.). Wie der unsichtbare Sonnenglanz in den sicht-
baren Regenbogenfarben, so erscheint das Nichtandere in dem
Anderen-Endlichen. cf. Cap. 8. Wie aber schafft es dasselbe?:
durch seinen Willen (cf. Cap. 9., ebs. später ber c. 22, 23 und
das über doct. U. 3 Gesagte).
Auf diese Erklärung des in Frage stehenden Problems legt
nun Nikolaus seltsamer Weise hohen Wert, denn sie enthalte
das, was er seit langen Jahren suche, Cap. 4. Kein anderer
Deutungsversuch gilt ihm nach ven. 14 für deutlicher; doch
dass sich damit das Denken in pure Wortklügelei verliere, auch
dieses sah er bald ein. Denn absolut zufrieden ist er am Ende
auch mit diesem Erkenntnisfunde nicht, und kehrt daher von
seinen unfruchtbaren Streifzügen wieder zu der Grundlage der
doct. ign. zurück. Je besser . . . desto gelehrter cf. ven. 12.
Die folgende Schrift ,de beryllo' bietet nichts Neues.
In der Lehre von der Koincidenz der Gegensätze begrüsste
Nikolaus früher (cf. gen. 69b) ein fruchtbares Princip, woraus
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— 16 —
sich das Explikationsproblera werde lösen lassen. In dieser
Hoffnung täuschte er sich ; ermattet sinken die Ikarusflügel aus
den überschwenglichen mystischen Regionen auf das dem mensch-
lichen Denken verständHchere Gebiet der doct. ign. herab.
Parallel der die Lehre von der Koincidenz der Gegensätze
weiterbildenden und abschliessenden Richtung läuft eine zweite,
die, den absoluten Weltgrund hinter und über jener Koincidenz
suchend, und, aus bereits in Conj . und Apol. vorhandenen Ansätzen
hervorwachsend, sich in „de visione^ 1453 in extremer Weise
geltend macht.
Die Begriffne KompHkatio und Explikatio, die Nikolaus in
doct. ign. Schritt auf Schritt verwendete, werden nämlich bereits
in Konj. I. 7. 10. ü. s. w. zu bloss verstandesgemässen Annahmen
degradiert, die im Lichte der Vernunft unhaltbar seien. Gott
ist über jeden Begriff erhaben, über Bejahung und Verneinung,,
sowie über beides zugleich. Weder für die Vernunft und noch
weniger für den Verstand ist er präzis erfassbar.
Das Ziel der konsequenten Portbildung dieses Gedankens
bildet die Schrift de visione: Gott ist „jenseits der complikatio
und explikatio" Cap. 11. Er schafft nicht und wird nicht ge-
schaffen. Doch, so fragen wir, wo bleiben da die Geschöpfe?
Ist nicht jede Beziehung zu ihnen gelöst? Nein, antwortet
Nikolaus, Gott als der Unendliche ist auch das Ende alles End-
lichen Cap. 13, die Eine gestaltende Form, das adäquateste Ur-
bild alles Seins Cap. 9, freili(;h superexaltatus über Alles. Doch
wie schuf dann Gott die Geschöpfe?: Durch sein Sehen; Gott
sieht sie und sie sehen Gott; sein Sehen ist also sein Schaffen
(ebenso Augustin). Doch wie ist dann das zeitliche Nach-
einander der Dinge zu erklären?: So wie die Uhr alle Stunden
in sich enthält, aber im zeitlichen Nacheinander anzeigt, so
begreift und entfaltet die Ewigkeit das Nacheinander Cap. 11.
Oder wie das Licht in Aehnlichkeit seiner selbst die Farbe
erzeugt, in welcher alles Sichtbare enthalten ist, so schafft Gott
die Dinge (cf. ven. 6 u. quaer deum). In Cap. 7 endlich sieht
der Mystiker in Gott das unbegreifliche Princip aller Samen-
keime, aus denen die Dinge geworden sind: „Ich erkenne den
Baum als eine Entfaltung seiner Samenkraft, in der er virtua-
liter war, und diese wiederum als die Entfaltung der allmächtig
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— 17 —
geeinten Kraft, ^) ebenso Kap. 14. Doch lenkt der Mystiker hier
gleich wieder zurück und betont sogleich diß blosse Sinnbildlich-
keit des Gesagten, das unfähig ist, die Wahrheit präzis zu er-
fassen. Die Finsternis wird um so dichter, je näher wir dem
unerreichbaren Lichte kommen. Das ist der herrschende Grund-
gedanke der in der mittleren Schriftengruppe herrschenden
Mystik. Die doct. ign. behauptet also auch hier wieder ihr Recht.
Das Explikationsproblem aber ist seiner Lösung nur femer ge-
rückt. Und wie wäre dies auch anders möglich, da das Absolute,
statt es den Dingen näher zu rücken, gerade umgekehrt in uner-
reichbarer Feme gesucht wird I So kommt der Mystiker trotz
allem {lingen nicht über den Begriff der absoluten Ursächlichkeit
und Urbildlichkeit hinaus. Das Produkt der explicatio muss unter
diesen Umständen natürlich erst recht eine verringerte Wirklich-
keit bedeuten. In dem Bewusstsein von der Unflruchtbarkeit der
Mystik \md müde der gekünstelten Begriffsbestimmungen führt
jetzt der Philosoph die „Gotteslehre aus der engen und düsteren
Zelle des intrare in caliginem mitten in die weiten und lichten
Räume des Weltalls hinaus" (Scharpff), und setzt an die Stelle
des inhaltsleeren Begriffes der Unbegreiflichkeit den reellsten
aller Begriffe, den des Könnens.
Bisher suchte der Denker von allem Endlichen zu abstra-
hieren ; ja selbst die symbolische Verwendung desselben erscheint
der mystischen Intuition im verführerischen Lichte (doct. I, 11),
und nur das „divinaliter intentum explicare" bleibt als einziger
Weg übrig.
Die visio bedeutete eben eine Ueberspannimg der mensch-
lichen Erkemjtniskräfte, wobei die reelle Welt verloren gieng.
Ohne diese aber hängt alle Spekulation als betrügendes Phan-
tasma in der Luft. Die Welt darf nicht einfach (Qr die Wirk-
lichkeit verlor^i gehen; sie ist doch einmal fQr uns da, in ihr
lebt der unendliche wie der endliche Geist, darum muss sie für
die Erklärung des Daseinsproblems auch gebührende Berücksich-
tigung finden und mindestens der Ausgangspunkt des Denkens
sein. Bin Ueberbordwerfen ist kein Erklären der Welt. Darum
heisst jetzt der Weg: willst du das Unendliche verstehen^ so
sieh dich nach dem Endlichen um. Das Gespräch : de sap, liefert
*) Diese Stelle klingt bereits an die Periode des posse an.
Dr. KttBtner, Der Begriff der BntwickluDg bei Nikolaus Ton Kuet. 2
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— 18 —
durch den Ausgang des Idioten vom Zählen, Messen und Wägen
auf dem römischen Forum den Beweis hiefür. Die Frage, die wir
aber dabei nicht aus den Augen verlieren dürfen imd auf die es
uns lediglich ankommt, ist wiederum die: Was kommt durch
diesen neuen Denkversuch für das Problem der explicatio
heraus ?
Den Mittelpunkt des neuen Versuches bildet das Gespräch
über das ,pos8e8t^ aus dem Jahre 1454 : Auf Grimd der Römer-
briefstelle I, 20: „das Unsichtbare , . . Gottheit" ist klar, dass
wir das Unsichtbare nur aus dem Sichtbaren erkennen können,
denn die Welt ist Gottes Abbild. Fol. 179 b. Dann aber fragt
es sich, was erkennen wir als das Wesen der Kreaturen?
Dass dieses in einer gewissen, allerdings determinierten
Möglichkeit bestehe, im Gegensatz zu Gott als der absoluten
Möglichkeit, wird schon an Stellen wie ign. II, 7, 8, ausgesagt,
aber noch nicht zum Ausgangspunkt des Denkens überhaupt
gemacht. In den Schriften der mittleren Periode wird, da das
Endliche ,ffanz^ zurücktritt, mit dem Begriff des Könnens nur
ganz gelegentlich operiert, z. B. id. III, 11, vis. 15 etc. Erst in
der Schrift „de possest" tritt der Begriff des Könnens, wie bereits
erwähnt, in exklusiver Weise als beherrschender auf, und wird
in verschiedenen Nüancierungen zum Träger der ganzen folgen-
den Spekulation.
Jedes wirkliche Ding muss auch sein können^ denn ein
unmögliches Sein, d. h. nichtseinkönnendes Sein giebt es nicht ;
cf. fol. 175a: cum igitur actualitas . . . cum impossibile esse
non sit. Analog gilt dasselbe von der absoluten Wirklichkeit
und Möglichkeit; denn das absolute Seinkönnen (Seinsmöglich-
keit) kann nicht vor seiner Wirklichkeit sein, wiewohl in der
Welt die Möglichkeit der Wirklichkeit stets vorausgeht.
Denn nur durch Wirklichkeit kann es zur Wirklichkeit
geworden sein ; andernfalls müsste ja die Möglichkeit sich selbst
in Wirklichkeit umgesetzt haben, was auf die Paradoxie hinaus-
läuft, dass das Können (= Möglichkeit) bereits vor seiner
Verwirklichung wirklich sei. Die absolute Möglichkeit kann also
der absoluten Wirklichkeit nicht vorangehen, ebensowenig auch
ihr nachfolgen; denn Aktualität ohne Potentialität ist ebenfalls
ein Widerspruch. Beides in seiner Verbindung also bildet das
gleichmässig ewige Sein, das einfache Prinzip der Welt (= Gott).
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— 19 —
In ihm sind Wirklichkeit und Möglichkeit notwendig ewig
zusammen, in den Dingen dagegen sind sie unterschieden, d. h.
nach einander. Die Kreatur muss wohl potentiell sein, was sie
aktuell ist, braucht aber nicht aktuell zu sein, was sie potentiell
ist; niir Gott ist notwendig das, was er potentiell ist, immer auch
zugleich aktuell, d. h. das possest.
Was leistet nun aber diese Deduktion für dib Erklärung des
Explikationsproblems? Nach des Nikolaus Ansicht sehr viel;
durch sie glaubt er alle Finsternis verscheucht zu haben ; cf.
fol. 176 a.
Das possest ist nämlich die „complicatio unmium*^. Es
schliesst alles Können, alles Sein, in sich, fol. 176a: „omnia in
illo utique complicantur." So wie die mit der Eigenschaft des
possest ausgestattet gedachte Linie das zureichende Urbild für
alle wirklichen oder möglichen Figuren ist, so kompliziert das
possest alles aktuell wie potentiell Existierende auf wirkliche
Weise und unterschiedslos in sich imd entfaltet es aus sich.
Alles ist in ihm „in sua causa et ratione.*^ Doch auch der Be-
griff des possest reicht zum Verständnis der explicatio nicht aus,
cf. fol. 179b: „intellectus . . , non capit"; zwar nicht alles ist
blosse Vermutung. Denn, dass das absolute Unendliche durch
den Kenner des Endlichen erkannt werde, ist gewiss, cf. fol.
183b: „diximus mente . . . creatum intelligit,^ daher muss Gott
unbedingt das possest samt allem Darinliegenden sein. Wie es
aber das Endliche aus sich entfaltet, bleibt dunkel; hierfür gilt
immer noch die Grundlage der doct, ign.
In der Schrift ,de ven. sap.'^^) baut der imermüdliche
Denker unter Zugrundelegung des zuverlässigen Satzes: „Was
Jiicht werden kann, wird nicht**, das ganze System noch ein-
mal auf.
Der angezogene Grundsatz lehrt, dass alles Geschehen ein
„Werdenkönnen** vpraussetzt ; diesem aber wieder geht als Prinzip
und Ursache ein Nichterschaffenes, Nichtgewordenes, das ewige
Absolute voran, cf. cap. III: „omne autem . . . posse fieri.**
Dagegen das Werdenkönnen hat, da es dem Absoluten nachfolgt,
Weder Soharpff noch Uebinger scheint die Zeitlage der letzten
^obriften richtig zu bestimmen. Wir ordnen aus Innern Gründen so:
de ven., de lüde glob. II, apez tb., oompend.
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— 20 —
einen Anfang, cf. cap. III: ,,sed cum sit post . . . habet initium."^
Nur ist sein Entstehen kein Gewordensein, sondern ein Geschaffen-
sein, da es ausser dem Absoluten nichts voraussetzt, im Gegen-
satz zu den endlichen Dingen, die durch Gott aus ihm produziert
sind. Der Hervorgang des Endlichen aus Gott ist demnach so
zu denken, dass Gott zunächst das Werdenkönnen schuf und in
dieses die Naturen, d. h. die Muster der Dinge, „wie sie nach
der vollkommenen Entfaltung der göttlichen Vorherbestimmung
werden müssen," versenkte („cum in . , . fieri debent"). Jene
Muster nun ahmen die Dinge im zeitUchen Verlaufe ihrer Ent-
faltung aus dem Werdenköunen nach: „intueor . . . imitando.*^
Gleichwie der Gelehrte, der eine Logik schaffen will^ zunächst
durch Aufstellung der Schlussfiguren das Werdenkönnen der
Wissenschaft hervorruft und dann den Schüler aus den Figuren
Schlüsse ziehen lässt, oder wie das Licht (cap. 4), das die Welt
erhellen wollte, zunächst die alles Sichtbare enthaltende Farbe
schaffen müsste, um durch sie das Sichtbare aus der Potenz in
die Wirklichkeit zu überführen (cf. vis. cap. VI), so stellte Gott
gewissermassen dem zuvor geschaffenen Werdenkönnen die Auf-
gabe, die in ihm komplizierten Ideen zu realisieren (cap. IV).
Das Werdenkönnen ist daher gleichsam de( Same^^) aus dem die .
schöne, lichtvolle Welt sich zur Wirklichkeit entwickelte.
Doch Nikolaus ist mit dieser klaren, bündigen Gedanken-
bewegung noch nicht zu Ende, und beginnt mit Hilfe der drei
Begriffe : possefacere, possefieri, possefactum die Erörterung noch
einmal. Das Dritte gieng aus dem Zweiten durch das Erste, das
Zweite durch das Erste hervor.
Wozu diese neue Operation? Offenbar nicht, wieUebinger
pag. 119 meint, aus Mangel an einer einheitlichen Bezeichnung
lür die 3 Seinsarten, sondern, wie uns scheint, zur Abwehr
pantheistischer Folgerungen. Denn wenn Gott der einheitlich
aktuelle, und das Werdenkönnen der potentielle Grund des zu
explizierenden, endlichen Seins ist, so ist der qualitative Unter-^
') Auoh Augustin vergleicht das Hervorgehen der Welt a\is Gott
mit der Entwicklung des Baumes aus dem Samen (de civ. dei XXII, 24).
Natürlich ist bei beiden, bei Auguatin wie bei Nikolaus, schon v6r dem
ETolutioDsprosees Alles ausgebildet voriianden und wird nur im seitliolMn
Nacheinander zur concreten Wirklicfakeit expliciert.
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■schied beider nicht genügend gesichert, denn auch das ,, Schaffen **
des Werdenkönnens, so sehr es auch betont wird, sinkt bei dieser
Auffassungsweise zur Bedeutung einer blossen Wesensemanation
aus Gott herab, wenn auch Nikolaus ausdrücklich den Neupia-
tonismus zurückweist, cf. ven. XXI. Darum betont er noch ein-
mal ausdrücklich den quaUtativen Wesensimterschied zwischen
dem possefacere und dem possefieri, cf, Cap. 39 : „non igitur . . .
xlifferentia,'* Das Evolutionsproblem aber erfährt dadurch keine
Weiterbildung. Der Grundgedanke der Entfaltung des Endlichen
von der Potenz im Werdenkönnen zur Aktualität des Seins bleibt
bestehen.
Uebrigens sind, so sehr auch Nikolaus das Erschaffen des
Werdenkönnens betont, auch so noch nicht alle Unklarheiten
AUS dem Begriff des Werdenkönnens eliminiert. Denn was es
eigentlich sei, bleibt unklar. Dass es nicht mit Stöckl der
sogenannten 2. Materie der Scholastik gleichgesetzt werden
^arf, behauptet Uebinger mit Recht. Ebenso ist die TtQunr] vlrj
des Aristoteles nicht damit identisch, da es „die Naturen der
einzelnen Dinge keimartig enthält,*^ während diese vielmehr das
letzte stofflose, nur die Keimanlage zu bestimmten aktuellen
lormen in sich tragende Prinzip alles dvvd/iuiov wie heqyeUiQv
ist, das, was in letzter Instanz dem Unterschiede der Elemente
zu Grunde liegt, reine Entelechie. Eher möchte man es mit dem
dvvdjLuiov selbst zusammenstellen. Denn auch dieses ist die keim-
artige Anlage zur Wirklichkeit. Doch auch hier gilt: onmis
similitudo Claudicat. Denn das dvvd/Luiov hat das Bestreben zu
bestimmten Gattungstypen in sich : der Kirschkern will Kirsch-
baimi, das Ei Vogel werden. Nicht so das possefieri. Auch an
den plotinischen vovg könnte man denken, denn beide Faktoren
sind weltbildend gedacht; doch während der vovg aus Gottes
Wesen emaniert, wird das Werdenkönnen durch Gottes Willen
aus dem Nichts geschaffen.
Das aber ist klar, dass das Werdenkönnen den potentiellen
Zustand des aktuellen Seins bedeutet.
Da dasselbe also ein unklar gedachtes MittelgUed zwischen
<jott und Welt bedeutet, reden auch die 2 folgenden Bücher
über das ,Globusspiel^ wenig davon und greifen vielfach wieder
zu dem Anschauungskreise der frühesten Schriften zurück : Gott
die alles in sich befassende und aus sich entfaltende complicatio.
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— 22 —
Nur Pol. 167 b heisst es zur Erläuterung des Werdenkönnens
also: das Werdenkönnen ist nicht etwa ein stoffliches Substrat^,
woraus die Welt gemacht worden ist, sowie die Kugel aus Holz,
sondern besagt nur, dass die Welt aus der Seinsweise der Mög-
lichkeit (= Werdenkönnen) in die der Wirklichkeit überge-
gangen ist, gleich wie die Kugel im Holze möglich, durch
Determination der Möglichkeit aber wirklick ist : „intellegisne . . .
transivit." Der göttliche Geist wäre ja nicht allmächtig, wejift
er nur aus Etwas etwas machen könnte, lieber die Herkunft
des Werdenkönnens werden wir auch hier auf eme creatio ex
nihilo verwiesen. Wir sehen, das Werdenkönnen ist auch hier
schwerlich begriffen.
In gewaltigem Ringen seines Geistes lässt es Nikolaus auch
schliesslich wieder fallen und greift, um das Problem der Ent-^
faltung des Seins aus dem Absoluten zu lösen, zu dem einfachsten
aller Begriffe, dem des reinen Könnens.^) Diese innere Fortbil-
dung und definitiven Abschluss des Systems vollzieht das Ge-
spräch über die „Krone der Erkenntnis^ (de apice theoriae).
Unzweifelhaft giebt es ein allen Substanzen gemeinsames
Wesen, das ist die invariabilis subsistentia (fol. 219 : „attendi . . .
subsistentiam"), oder das einfache Können, das posse ipsum. Denn
ohne das Können kann überhaupt Nichts sein, es ist das wahre,^
früheste Wesen der Dinge, fol. 218: „quare . . . quicquam."
Denn wer kennte das Können nicht? Sagt nicht der Knabe: Ich
kann laufen, kann sprechen etc.? Sind nicht alle Nachkommen
Adams dessen Können? Alles Geschehen ist nichts anderes als
das Können der ersten Ursaghe ; ja selbst der Zweifel an etwas
setzt das Können voraus. Alles besondere, spezifische Können,
z. B. Sein — , Erkennenkönnen etc. sind nur verschiedene Mani-
festationen des Einen Grundkönnens. Aufsteigend vom Endlichen
zum Unendlichen müssen wir daher sagen : das absolute Urkönnen
ist Gott selbst (= posse) ; das ist der inhaltsvollste und zugleich
einfachste Begriff, diese Erkenntnis die Krone alles Wissens. In
*) Unwillkürlioh wird man hier an Sohelling erinnert; auch dieses
gewaltige Denkerleben ist reich an tastenden V e rsuohen zur Lösung des
Weltproblems. Und nachdem einer den andern verdrängt, greift der Phi-
losoph nach 60jährigem Ringen schliesslich zu den positiven Religionen,,
um an deren Hand das Daseinsrätpel zu verstehen.
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"■rr^
— 23 -
diesem göttlichen Urkönnen muss alles Seiende enthalten sein
(fol. 219 b: „hinc posse . . . continentur** = complicantur).
Von diesem Gesichtspunkt aus löst sich das Entwicklungs-
problem leicht auf: alle Dinge sind nur Erscheinungsweisen des
Einen Könnens, foL 220 a: „et non videbis modos . . . apparens/
Wie das Bild die Erscheinung und Offenbarung ist, so sind alle
Dinge des Könnens Spiegelbilder, fol. 220 b: „nam in omnibus
. . . posse ipsimi.**
Auch in der letzten Schrift ,compend.^ ist das Grundprinzip
alles Seienden, Gott, das reine absolute posse, cf. z. B. Kap. X :
„ipso posse nihil prius esse potest . . . quaecunque igitur aut
esse aut cognosci possunt, in ipso posse complicantur.*' Und
einige Zeilen später heisst es : „posse omnia uniter complicat et
explicat.** In fast synonymem Sinne mit posse wird im 7. Kap.
das „Wort" eingeführt als das alles in sich befassende, alles Sein
bestimmende Prinzip, wobei unzweifelhaft an Joh. I, 1 — 4, ge-
dacht ist.
So kehrt Nikolaus gleich dem grossen Schelling nach einem
vielbewegten Geisteskampfe aus den Höhen der Spekulation zu
dem positiven Grunde der heiligen Schrift zurück.
Das reine Können ist also einmal an die Stelle des possest,
sodann an die des possefacere und possefieri getreten, wodurch
ganz unvermerkt diese beiden Begriffe (p. facere und p. fieri)
zusammengeschmolzen sind, wiederum ein Beweis dafür, dass
Nikolaus in der Bestimmung des ersteren hart an den Neupla-
tonismus streift und eine prinzipielle Unklarheit verrät. Aber
auch die Aussagen über das posse ipsum scheinen eine Wesens-
gemeinschaft zwischen Gott und Welt zu lehren ; denn dass die
Welt eine Erscheinung Gottes ist, ist nur im Rahmen des Pan-
theismus verständlich. Das hebt auch Stöckl pag. 67 mit
Recht hervor. Wenn sich trotzdem Nikolaus immer wieder da-
gegen wehrt, so gilt auch hier wieder das bereits über den
Lehrgehalt der doct. ign. gefällte Urteil.
Ueberblicken wir noch einmal die ganze Denkreihe, die das
Können in irgend einer der vorgeführten Formen zum Ausgangs-
punkt der Spekulation macht, so schemt uns das Problem der
explicatio trotz der jedesmaligen Nüancierung dennoch im Grunde
genommen gleichmässig imd einheitlich gedacht zu sein: die
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Welt tritt aus der ursprünglichen Potenz in die Aktualität, aus
der UnvoUkommenheit in die Vollkommenheit über.
Aus der chronologisch angestellten Betrachtimg des Verhält-
nisses von Gott und Welt gewinnen wir somit für die Bestimmung
des EntwicklungsbegrifFes zwei Hauptresultate: 1. Die explicatio
ist ein (dualistisch und pantheistisch zugleich gedachter) abschwä-
chender Hervorgang aus der alles Wirkliche enthaltenden imd
imifassenden göttlichen complicatio. 2. Die explicatio ist ein
Aktualisieren^ d. h. ein fördernder Hervorgang aus dem po-
tentiell alles umfassenden posse.
2, Das Universum und seine Gliederung,
Im Anschluss an das Verhältnis von Gott und Welt be-
trachten wir die Verwendung des Entwicklungsbegriffes auf dem
Gebiete der Kosmologie. Diese findet sich hauptsächlich in den
beiden frühesten Hauptschriften: doct, ign. und conj.
Der Stufenbau des Universums wird durch das Prinzip der
Zahlenbildung beherrscht. Die Zahl ist das Prinzip aller Dinge ;
nichts kann früher sein als sie. Denn alles, was aus der absoluten
Einheit heraustritt, ist ein Zusammengesetztes. So ist z. B. den
Ternar eine Kombination von drei aus sich selbst zusammen-
gesetzten Einheiten (conj. I, 4). Die Zahlenprogression erschöpft
sich in Quatemar, d. h. in der Quersumme der vier ersten Zahlen
= Zehnzal. Diese ist somit die natürliche Entfaltung der
einfachen Einheit und als solche die zweite Einheit. Die gleich-
artige Progression (10 -f 20 -|- 30 -f 40) führt zur dritten (100)
imd schliesslich zur vierten und letzten komplikativen Einheit
(1000). Die gesamte Zahlen weit ist somit nichts anderes als die
progressive Explikation der ersten Einheit (coi\j. I, 5).
Mit Vorausblick auf die Zahlentheorie lehrt nun Nikolaus
ign. II, 6 : wie der Denar, die Explikation der Einheit, die Wurzel
des Quadrates und des Kubus bildet, so ist die aus Gott expli-
zierte Einheit des Universums die Wurzel der dritten oder qua-
dratischen, sowie der vierten oder kubischen Einheit, d. h. das
Universum expliziert sich in 3 Einheiten, die je stufenmässig
aus einander hervorgehen xmd schliesslich zum partikularen Sein
herabsteigen: in die 10 höchsten Allgemeinheiten (= Uni-
versalien), Gattungen und Arten. Diese 3 Stufen zusammen bilden
die Reihen der UniversaUen, die allerdings nicht ausser, sondern
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— 25 —
nur in den Dingen konkret existieren. Aus dieser ihrer imma-
nenten Natur folgt zugleich, dass die Stufen des Universums
nicht zeitlich (wie Aviccenna u. a. lehren), sondern nur logisch
nach einander zu denken sind, und mit dem Entstehen des Uni-
versums alle zugleich ins Dasein getreten sind (ign. II, 4). Das
Universum ist somit nur kojitrakte in den Dingen, oder anders
gesagt, jedes wirkliche Ding ist ein zusammengezogenes Uni-
versum. Nim ist aber Gott selbst in dem Universum das, was
es seinem absoluten Wesen nach ist, daher gilt der Satz : Alles
in Allem, Jegliches in Jeglichem, d. h. Gott entfaltet sich (ist)
mittelst des Universums in den Dingen (ign. II, 5).
In conj. I, 6 stellt Nikolaus unter dem gleichen Gesichts-
punkte der Zahlenprogression folgende Stufenleiter des Alls auf:
Gott, VemunIt, Seele, Körper. Jede der folgenden ist die jedes-
malige Explikation der vorhergehenden (conj. I, 6 — 10). Die
göttliche Einheit fasst alle andern in sich, die geistige ist die
einfache imd alles Anderssein indivise atque irresolubiliter in
sich sohliessende, die Seele, die durch den Gegensatz beherrschte
quadratische, weiterer Entfaltung unfähige letzte Einheit. Geist,
Seele, Körper sind somit die 3 Seinsstufen des Universums.
Nach conj. I, 14 endlich expliziert sich das All in eine oberste,
mittlere und untere Welt, mit Gott, Vernunft und Verstand als
Centrum ; die Sinnlichkeit ist gewissermassen nur die grobe Rinde
um die dritte Wfelt. Indem nun jede dieser 3 Welten je nach
dem Vorwiegen eines der drei Faktoren sich wiederum in je drei
andere Welten auseinander legt und sofort, s6 ensteht ein un-
geheurer Reichtum an Explikationen, cf. I, 16.
Eine andere Betrachtung der Stufenfolge im All ergiebt
sich aus dem bereits bekannten Satze: die Einheit des Alls ist
eine dreiheitliche, nämlich zusammengesetzt aus der absoluten
Möglichkeit, Wirklichkeit und dem Bande beider; daher giebt
es ausser Gott 3 Sein weisen: die der eingeschränkten Möglich-
keit (= Universum), der bestimmten (= Welt) und der
reinen Möglichkeit (= wie die Dinge sein können). Diese 3
Weisen bilden eine imiverselle Seinsart (ign. II, 7), und zwar
so, dass immer die niedere aus der höheren hervorgeht. Analog
dem imiversellen Stufenbau, den wir für unsern Zweck nicht
weiter zu verfolgen brauchen, denkt sich nun Nikolaus weiterhin
<iie Bewegung im All, cf. ign. II, 10. Die Alten dachten sich
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die Bewegung als Produkt von Materie und Weltseele; jene
trägt das Verlangen nach Wirklichkeit in sich, ohne durch eigene
Kraft in der Lage zu sein, zu ihr zu gelangen. Diese trägt wie
in einem Knäuel eingewickelt die Ideen, d. h. die Formen der
Dinge, in sich. Indem sie diese in die verlangende Materie hin-
einsenkt, entsteht die beide verbindende und das ganze Univer-
simi durchdringe Bewegung = Natur. Anders Nikolaus. Er
lehrt: Alle zeitliche Bewegung ist nur die Explikation der
Planetenbewegung, wie diese sich wiederum aus Gott = der
ersten Bewegung entfaltet hat. Die Planetenbewegung ist die^
durch das gan^e Universum gehende Gesamtbewegung und heisst
als solche Natur. Die Natur ist also die complicatio von allem,
was durch Bewegung entsteht. Wie diese Bewegung aus Gott
heraus mit Beibehaltung der stufenmässigen Odnung durch das
Allgemeine in das Partikulare herabsteige, wo sie in'zeitlich
konkreter Gestalt erscheint, ist ungefähr so zu denken, wie der
Vorgang der Sprache : Ich spreche zuerst die Buchstaben, dann
die Silben, endlich die Worte und den ganzen Satz aus, wenn
auch selbstverständlich diese Ordnung nicht physiologisch unter-
schieden wird. Der Reichtum der universellen Entfaltungs weisen
selbst aber ist als Ganzes die einheitUche, einmalige und plan-
mässige explicatio des göttlichen ordo, der alles zu unauflöslicher
Einheit und stetiger, lückenloser Kontinuität des Seins ordnet
und einfügt (cf. Augustin — Leibniz), ign. III, 7, ven. Kap. 30
bis 32 u. a.
Die explicatio^ sehen wir, ist in der Kosmologie im allge-
meinen nicht anders gedacht, als in der in den nämlichen Schriften
vertretenen Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt.
Sie bedeutet auch hier durchweg das Herabsteigen aus dem
notwendigen, vollkommenen in den möglichen, unvollkammenen
Zustand. Das zeigt sich besonders klar conj. I, 14.
3. Geist und Erkenntnis.
Einen breiteren Raum als die Kosmologie nimmt die Er-
kenntnislehre in des Nikolaus Schriften ein. Sie bietet für die
Ermittelung der Bedeutung der explicatio reiches Material.
Die Weltstellung des Geistes ist uns aus der Stufenlehre
des Alls bekannt. Jetzt gilt es, sein spezifisches Wesen, sowie
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sein Verhältnis zu den Erkenntnisprodukten zu beleuchten. Da-
bei aber wird sich uns der Explikationsbegriff in teilweise ganz
neuem Lichte zeigen. Als rationelles Wesen gehört der Mensnh
zwei Welten zugleich an : der sinnlichen und der geistigen. Die
höchste Stufe der ersteren föUt mit der untersten Stufe der
letzteren in ihm zusammen. Er ist eine Welt im kleinen, ein
kontrahiertes Universum,^) die Krone der Schöpfung (universa
intra se constringens, ign. III, 3, ebenso später lud. fol. 167a:
„homo perfectus mundus**).
Alles schliesst also der menschliche Geist in sich; daher
kann er aber auch nichts erkennen, was nicht bereits vorher
implicite in ihm läge, cf. ign. II, 6: „nihil potest . . . explicat."
Die schöpferische Thätigkeit der menschlichen ratio kommt also
nicht über sich selbst hinaus, ^) sondern sie produciert, d. h. er-
kennt nur das in ihr potentiell Präexistierende (conj. II, 14).
Wie erkennt nun aber der menschliche Geist ? Wie kommt
sein Erkennen zu stände? Antwort: Wie Gott die Welt schafft,
so entfaltet der menschliche Geist, als das erhabene Ebenbild
Gottes, in Aehnlichkeit der sinnlichen die begriffliche Welt aus
sich, als Abbild der in den Dingen konkret existierenden Uni-
versalien seine eigenen. Erkennt er also die Welt, so bringt er
ein bereits in ihm konkret liegendes Bild der Welt mittelst sinn-
bildlicher Zeichen zum Bewusstsein, d. h. zur Entfaltung (ign.
II, 6 Ende, ebenso später ven. 29 Ende), oder, wie es conj. I, 3
heisst: er expliziert zum Zwecke der Erkenntnis aus sich, als
dem Bilde der allmächtigen Form, in Aehnlichkeit der wirklichen
Dinge Verstandesdinge. Und wie Gott alles um seiner selbst
willen wirkt, um Anfang und Ziel von allem zu sein, so ist
auch die Auswicklung der komplizierten Begriffswelt Selbstzweck
des Geistes. Dean je tiefer er sich in der aus sich entwickelten
Welt erkennt, um so reicher wird er befruchtet (!). Daher sein
natürlicher Durst nach Erkenntnis, d. h. Vervollkommnung,
') Deutlich blickt hier der Grundgedanke der Monadologie hindurch.
Ob freilich zwischen Nikolaus und Leibniz ein historischer Zusammen-
hang bestehe, ist eine andere Frage.
*) So streift hier Nikolaus hart an den Kantischen Apriorismus an,
andererseits spricht er den Grundgedanken des Rationalismus (nur mit
anderen Worten) aus: Die Monade hat keine Fenster, sondern ....
of. Leibniz, nouv. ess., lib. 1.
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— 28 —
Bereicherung (conj. I, 3). Aehnlich heisst es Kap. 13: Je durch-
gebildeter (formior) die Erkenntnis Gottes,' desto näher kommt
ihre Potentialität der höchsten Aktualität, je dunkler aber, desto
entfernter ist sie von ihr.
Diese begrifiFebildende Verstandesthätigkeit beruht nun auf
dem fruchtbaren Prinzipe der Zahlen. Die Zahl ist die erste Ex-
plikation des Verstandes, sie ist gleichsam der entfaltete Grund
der Verstandesentfaltung selbst. Ohne sie wäre nichts erkennbar
für den Verstand. Dass er sich der Zahl bei seinen Mutmassungen
bedient, heisst: er bedient sich seiner selbst und bildet alles in
seiner natürlichen Aehnlichkeit, sowie Gott Alles durch Mitteilung
seines Seins bildete. Der Mensch ist das Mass der Dinge. Nur in
seinem Bilde, der Zahl, erkennt er seine eigne Einheit, und zwar
als eine vierfache : Als einfachste, Wurzel der folgenden, Quadrat
der zweiten, Kubus der zweiten. Er nennt sie der Reihe nach:
Gott, Vernunft, Seele, Körper (cf. Stufenlehre); mit andern
Worten: er erkennt die Dinge entweder göttlich, wie sie not-
wendig sind, oder vernünftig, wie sie zwar nicht notwendig aber
wahr, oder seelisch, wie sie wahrscheinlich, so oder so sind (so-
wie die Zahl grade oder ungrade ist), oder sinnUch, wie sie
selbst ,die Wahrscheinlichkeit verlieren und Verworrenheit an-
nehmen, cf. coiy. I, 6. Den vier allgemeinen Seinsweisen entspricht
also eine vierfache Erkenntnisweise des Geistes. Auf die ver-
schieden aufgestellten Stufenreihen der Verstandeserkenntnis
brauchen wir nicht einzugehen. Jede dieser Stufen ist, darin
liegt für uns der springende Punkt, entsprechend der Stufenleiter
der 4 Seinswesen : 1. Im Verhältnis zu der jedesmal vorangehen-
den die explicatio ; 2. im Verhältnis zu ihren Produkten die
complicatio. So ist der Intellekt die Komplikation der Prinzipien ;
die Seele kompliziert die Begriffe, die Zahleneinheit, den Punkt etc.,
die Sinne komplizieren die Empfindungen aus sich. Die expli-
zierten Produkte aber sind, wie gesagt, z. T. selbst wieder kompli-
kativer Natur. So wie der Same die Explikation des gegenwärtigen
Baumes und die complicatio des zukünftigen ist, so wächst aus
den aus dem Verstände explizierten Begriffen als dem Samen
der Baum der Verstandeserkenntnis hervor, der wiederum stau-
nenswerte Früchte trägt, und so fort in infinitum. Dasselbe gilt
von den aus der Vernunft entfalteten Prinzipien als dem Samen
der Vemunfterkenntnis . Dutch den Senar,^ Septenar und
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— 29 —
Denar wird dies veranschaulicht II, 7. Nur der sensus ist zu
weiterer Entfaltung unfähig; in ihm hat der Geist das Ende
seines Ausströmens erreicht, darum kehrt jetzt die sinnliche Ein-
heit nach oben zurück. Der Sinn steigt zum Verstand, dieser
«um Intellekt, dieser zu Gk)tt, dem Anfang der Explikation, im
Kreislaufe zurück I, 10, 16. Das Göttliche giebt sich dem End-
lichen hin, auf dass dieses zu ihm zurückkehre, vergeistigt werde,
II, 13, 14. Dem Nikolaus schwebt wohl dabei das Bild des Rege^-
tropfens vor, der, aufsteigend aus dem Meere, schliesslich zu ihm
wieder zinrückkerfH. Warum ist dieser Kreislauf aber nötig?
Warum muss, damit das Sinnliche sich vergeistige, das Geistige
erst in die Region des Sinnlichen herabsteigen? Antwort: Der
Geist bedarf des Sinnlichen als Mittel zu seiner eigenen Förde-
rung; denn der Körper muss den schlafenden Verstand durch
ein gewisses „Staunen" erst zur Explikation seiner komplikativen
Fülle anregen ; er ist daher das Schwungbrett, das Schiff des ins
Ewige sich erhebenden Geistes.
Ausgang imd Rückkehr des Geistes sind also zwei sich
notwendig einander ergänzende, jedoch nicht zeitlich getrennte
Akte, sondern fallen in einen zusammen. Ein Schritt des Un-
endlichen nach unten hin bedeutet zugleich für das Endliche
einen Schritt dem Oberen näher (II, 7, 10, 16).
Je tiefer sich die Vernunft in die Sinnesregion versenkt,
je mehr wird diese von ihrem Lichte absorbiert, so dass zuletzt
das Anderssein, in der Vernunfteinheit aufgelöst, seine Ruhe
findet; je mehr sich der Geist aber von dieser Andersheit los-
löst (se abstrahit), desto vollkommener wird er. Schaffen und
Erkennen ist daher identisch. Der Zweck der Schöpfimg ist die
Erkenntnis, die Vervollkomnmung des Geistes, cf. coiy. II, 16, 17.
Das Geistige soll aus seiner im Sinnlichen schlummernden Potenz
geweckt werden und sich vervollkommnen.*)
Soweit die Aussagen der doct. ign. und conj. Der Expli-
kationsbegriff findet hier sehr reichliche Verwertung. Er beherrscht,
'wie wir sehen, die Region der Erkenntnisstufen unter einander^
das Verhältnis der einzelnen Stufen zu ihren Produkten, der
Produkte zu ihren weiteren Entfaltungen und so fort. In wie-
') Die VerwandtBohaft mit dem plotinisohen Gedankenkreise tritt
hier deutlioh hervor.
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— so-
fern freilich die Verwendung auf diesen verschiedenen Gebieten
eine verschiedenartige Bedeutung des BegrifiFes involviert, wird
sich bald zeigen.
Den in coiy. und ign. aufblitzenden Gedanken von dem
Reichtum des mikrokosmischen Individuums führt die Schrift
de qucer! deum weiter aus : der Geist, heisst es gegen Ende, hat
die Natur des Feuers an sich. Seine Bestimmung ist, zu brennen
und zur Flamme anzuwachsen. Er wächst aber, wenn er durch
Staunen angeregt wird. Denn er hat die unmerkliche Kraft des
Senfkorns in sich, das die Potenz zum Baume und durch dessen
Samen zu unendlich vielen Bäumen in sich trägt. Wer staunte
nicht über solchen Reichtum? Daher kann der Geist bis ins
UnendUche wachsen und zu immer reicherem Lebensinhalte
fortschreiten. Doch genug! Das beunruhigt den Dogmatiker.
Denn wo bleibt bei solcher Lehrweise der Wert des Glaubens?
Allerdings hat die vorhergehende Partie der Schrift aus dem
Verhältnis von Licht und Farbe bereits die Notwendigkeit des
Glaubens zur Erkenntnis des Absoluten dargethan, doch ist in
jenem kühnen, freudigen Anlaufe am Schlüsse nichts mehr von
diesem beengenden Vehikel zu spüren. Darum bringt sogleich
die folgende Schrift ,de dat patr/ Kap. I und V, die gleiche
Beschränkung: zwar umfasst der Geist potentiell Alles, doch
bedarf er, um zum wirklichen Erkennen vorzudringen, des Glau-
benslichtes. Unsere geistige Kraft, heisst es, trägt unsägliche
Schätze von Licht in sich, die wir, so lange sie nur potentiell
da sind, nicht kennen, bis sie uns durch ein aktiv einwirkendes
göttliches Licht eröffnet und die Art und Weise, sie hervorzu-
locken, uns gezeigt wird. Von der gleichen Anschauimg ist die
Schrift j,defiL^ durchtränkt: das ewige Wort hat das rationelle
Moment in uns gelegt; lassen wir dieses durch Aufnahme des
göttlichen Lichtes sich zur aktuellen Vernünftigkeit entfalten,
so ensteht in dem Gläubigen die Möglichkeit der Sohnschaft
Gottes (= Gipfel des Erkennens). Wer nun nicht glaubt, erhebt
sich nicht zu dieser Höhe, sondern verlegt sich dazu selbst den
Weg. Denn nichts ist ohne den Glauben erreichbar ; erst durch
seinen Einfiuss wächst unsere vernünftige Natur zur vollkommenen
Reife des Mannes heran.
So wird die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis erst
durch die Intervenienz des Glaubens möglich, ja dieser scheint
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— 31 —
-das erkennende Subjekt selbst zu sein, und nicht der Geist. Er
ist daher der Anfang der Erkenntnis. So lehrt bereits auch ign.
III, 1 1 (dieses wichtige Kap. führen wir am besten hier erst ein).
Wer eine Wissenschaft erforschen will, rauss von einigen letzten
Axiomen ausgehen, um aus ihnen das gesuchte Wissen zu ent-
falten ; diese erfasst aber allein der Glaube. Glaube und Wissen-
schaft verhalten sich zu einander wie complicatio und explicatio;
jener enthält, wie der Keim die Blüte, komplikative das, was
diese explikative: „fides est in se complicans . . . explicatio."
Das Wissen erhält daher durch den Glauben seine Richtung
^dirigitiu-), der Glaube durch das Wissen seine Entfaltimg (ex-
tenditur). Wo daher kein gesunder Glaube, da kein gesundes
Wissen.
Damit aber scheint der menschliche Geist auf einmal aller
Selbständigkeit beraubt. Er, der sonst gepriesen wird als ein
weltimispannender, gleich Gott ebenfalls bildender Schöpfer der
Welt, der wird jetzt zum Diener des Glaubens degradiert, er hat
weiter nichts zu thun, als das im acceptierten Glauben Enthaltene
auseinander zu legen, zu verdeutlichen und dann wieder zur
Einheit des Schauens zusammen zu schliessen, damit sich ihm
die reine Wahrheit entschleiere. Darin stimmt uns auch Stöckl
(pag. 36) bei, wenn er sagt : „Die Tragweite des Glaubens wird
hier weiter ausgedehnt als Recht ist.** Um nun aber ein richtiges
Urteil von dem hier vorliegenden Entwicklungsbegriff zu erhalten,
fragt es sich, wie sich Nikolaus einen solchen komplikativen
Olauben, neben dem die selbständige Erkenntnisthätigkeit des
Geistes keinen Platz mehr findet, wohl denke? Ist nämlich der
Geist ohne den Glauben erkenntnisunfähig und erst im Besitze
dieses ein wirklich thätigkeitskräftiger, so ist der Glaube aller-
dings, wie Stöckl sagt, nur „eine Ergänzung der intellektuellen
Natur des Menschen," wobei sein Charakter als übernatürliches
Glaubenslicht verloren geht. Diesen Gedanken spricht nun Ni-
kolaus später (poss. fol. 178b) auch aus: „lumen fidei natursB
debitum." Dann aber ist der Glaube allerdings nur eine vorläufige
Disposition der Vernunft zur Erkenntnis der Wahrheit (Stöckl
pag. 36), und tritt hinsichtlich seiner komplikativen Fülle mit
den Universalien des Verstandes in eine Reihe: hier wie dort
findet dann die Entwicklung aus der Tiefe in die Höhe statt.
Denn auch der Glaube kann in dieser Fassung die visio intellec-
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— 32 —
tualis nur zum Ziel seiner Thätigkeit haben. Mag auch Nikolaus
selbst hierüber anders denken, mag er auch in der komplikativea
Glaubensfiüle einen Zustand der Vollkommenheit sehen, so liegt
doch unstreitig unsere Auffassungsweise in der Konsequenz seiner
Aussagen. Das gilt auch gegen die Ansicht Falckenbergs, der in
dem (jusanischen Glauben keine ,die Frucht zeitigende Blüte
oder an der visio sterbende Mutter," sondern den unaufhörlich
sprudelnden Quell der Erkenntnis sieht.
Wir konunen zu dem Idioten^ von dessen 4 Büchern nur
das dritte für ims in Betracht kommt. Dem Zweck der Schrift
entsprechend, bildet ihr erkenntnistheoretischer Inhalt teils die
Rekonstruktion, teils die Ergänzung des in den Ko]\jekturen
Gelehrten: So fügt Id. III, 2 zu der aus Conj. uns bekannten
Thätigkeit der BegrifiFsbildung des Geistes als ergänzendes Fun-
dament derselben den Ideenbesitz hinzu. Allerdings sind die
Namen, die der Geist aus der Uebereinstinmaung, resp. Verschie-
denheit der Dinge bildet, blosse Gedankendinge, z. B. die Namen
der Gattungen und Arten. Es ist daher nichts in dem Verstände^
was nicht vorher in den Sinnen war. Aber die Dinge haben
noch ein anderes Sein, als das rein begrifSiohe oder gedachte^
(fol. 82 b), nämlich das urbildliche, das vorher weder in den
Sinnen noch im Verstände war, sondern, wie die Wahrheit dem
Bilde, 80 den Dingen vorangeht und in ihnen wiederleuchtet, im
übrigen aber von ihrer konkreten Existenzweise nicht berührt
wird. Es giebt daher univ^rsalia post und ante res. Die letzteren
allein sind die wahren Wesensformen der Dinge, die reinen
Entelechien, die im Geiste bereits existieren, bevor er sich ihrer
nur bewusst wird* (Leibniz) und in Nachahmung derselben die
Abbilder der Dinge schäm. So hat z. B. der Löffel (fol. 82 a)
sein Urbild (idea) nur in meinem Geiste, und ist hier unabhängig
vom empirischen Löffel, denn es gehört nicht zum Wesen des
Urbildes, Löffel zu sein. Zerlegt man diesen daher in seine Teile^
so hört wohl er auf zu sein, nicht aber das Urbild (forma spe-
cularis fol. 85), ebenso wenig wie die Wahrheit durch Zerstörung
ihres Bildes, oder die Menschheitsidee durch Vernichtung der
konkreten Individuen aufhört zu sein. Fol. 82 b.
Es ist also eine dreifache Seinsweise der Dinge im Geiste
zu unterscheiden: das urbildliche^ das konkrete, das begriffliche
oder abbildliche Sein. Als Inbegriff der letzteren ist der Geist
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— 33 —
das Mass der Dinge (terminus et mensura): fol. 81 bi „mens est
qu3e omnia terminat^" „arbitror, vim illam, quae in nobis est,
omnia rerum exemplaria notionaliter complicantem, quam mentem
appello/ *
Nicht inmier ist für Nikelaus beides, urbildliches und ab-
bildliches Sein, im Geiste bei einander; in der Regel wird nur
das zweite in ihn verlegt, cf. conj., id. fol. 83a/b etc. Pol. 83a/b
heisst es (si mentem divinam ... bis Ende des Kap.): nennt
man den göttUchen Geist die universitas der Wahrheit der Dinge,
so ist der menschliche die universitas der assimilatio derselben;
der Inbegriff des göttlichen Geistes ist die Produktion der Dinge,
der des unsrigen die BegriflFsbildung (notio rerum fol. 86 b), d. h.
in Gott sind die Dinge als absolute Entitäten, in unserm Geiste
als deren Aehnlichkeiten. Enthält sie also der göttliche Geist in
propria et praecisa veritate, so enthält sie der unsrige nur in
imagine et in similitudine proprise veritatis, d. h. begrifSich, und
fol. 81a heisst der Geist geradezu die vis assimilativa (cf. ber.
Kap. 15): „In visu se assimilat visibilibus, in auditu audibilibus,
in gustu gustabilibus . . .^^ Auf diese Weise erreicht der Geist
das Sein der Dinge natürlich nur in possibilitate essendi seu
materia, und die so gewonnenen notiones sind nur conj. iucertse,
weil sie nur „seciindum imagines rerum, non veritatis" gebildet
sind, fol. 87 a. Bisher ist der Geist gegenüber den Dingen, die
er begrifiBich in sich nachkonstruiert, durchaus das abgeschwächte,
minder wahre Sei» ; doch gleich darauf heisst es : Nur gegenüber
dem götthchen Urbild ist der Geist Abbild (und zwar prima
imago, Viva descriptio dei fol. 84b), aber von allen andern ihm
nachstehenden Abbildern Gottes ist er das Urbild. Diese parti-
zipieren nur insofern an der göttlichen Wahrheit, als sie am
menschlichen Geiste partizipieren; also ist das Sein der Dinge
plötzUch auf wahrere Weise im Geisfe, fol. 83 b. Aber selbst
das begriffliche Sein scheint in diesem Zusammenhang wahrer
als das konkrete zu sein, denn fol. 89a heisst es: der mensch-
liche Gtoist umfasst mit seiner Spannkraft (vis) die aller übrigen
Komplikationen und ihr Sein in durchaus notwendig wahrerer
Weise; denn das abstrakte, von der variierenden Konkretheit
der Dinge gewissermassen als Quintessenz abgezogene Sein ist
allein das wahrere („quia, quae vere sunt, abstracta sunt . . .
non sunt materialiter, sed mentaliter ! I). Dass aber eine solche
Dr. KUstoer, Dor Begriff der Bntwicklung bei Nikolftut Ton Kuet. 3
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— 34 —
doppelte Schätzxing der Wirklichkeit, wie sie uns die eben vor-
geführte Ideenlehre zeigt, für die Bedeutung des Explikations-
begriffes nachhaltige Konsequenzen hinterlassen muss, leuchtet
ein (s, Teil 2 das nähere).
Das Fundament aller geistigen Thätigkeit aber liegt noch
tief unter den Begriffen und Ideen. Denn wären diese das erste,
so wären sie angeboren. Nun ist allerdings unser Geist, da er
nur zu seiner Förderung mit dem Körper verbunden ist, un-
zweifelhaft mit allem dem ausgestattet, was einen Mangel an
Vollkommenheit ausschliessen würde; doch angeborene Begriffl^
und Ideen sind undenkbar ; vielmehr gleicht die Seele zunächst
dem gesunden Gesichtssinn, der in der Dxmkelheit des Lichtes
entbehrt. Aber auch Plato^) irrte, wenn er die der Seele ange-;
borenen Begriffe durch die Vereinigung mit dem Körper wieder
verloren gegangen sein Hess. Denn die Seele bedarf ja des Kör-
, pers zu ihrer Vervollkommnung. Ebenso ist der Satz des Aristoteles
von der tabula rasa falsch, da der Geist ohne jeglichen aprio-
rischen Besitz sich ebensowenig entwickeln könnte, als der
Taubgeborene ein Zitherspieler werden kann. Die Wahrheit hegt
nach Nikolaus in der Mitte: der Geist besitzt eine angeborene
Urteilskraft (vis judiciaria), vermöge deren er Beweise billigt
oder verwirft etc., und das alles zu seiner Vervollkommnung.
Diese Kraft ist das Fundament aller Erkenntnis, sie ist die „forma
substantialis sive vis in se omnia suo modo complicans,** fol. 84,
oder : „quoddam divinum semen sua vi complicans omnium rerum
exemplaria notionaliter," fol. 84 b. Diese vis seminaUs senkte GK)tt
in geeigneten fruchtbaren Boden (Körper), damit sie hier durch
begriffliche Entfaltung der Ding Früchte trüge („simul in con-
venienti terra notionaliter explicare ... in actum prorumpendi^)
*) Cf. Plato's Ideenlehre in den Schriften Phäd, Phädr, Menon. Nach
Plato ist alles Erkennen nur ein sioh Wiedererinnern der Seele an die
Ideen, die sie in ihrer Präexistenz deutlich besass, aber durch Verbindung
mit dem Körper verlor. Sie kann aber durch Nachdenken unabhängig
von der Erfahrung alle Yernunfterkenntnisse gewinnen, da sie ja bereits
dunkel in ihr liegen. In dem Gespräch Menon, in welchem Sokrates einen
Sklaven ohne vorangegangene Belehrung fern liegende Wahrheiten durch
blosses Fragen finden lässt, zum Beispiel dass das über der Diagonale
konstruierte Quadrat doppelt so 'j^oss als das ursprüngliche sei, giebt
Plato die Probe.
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— 35 —
^und sich dadurch zur Aktualität ausgestalte.^) Der Begriff der
Entwicklung, das ist das für uns wichtige, aus dem (besagten
hervorgehende Resultat, bedeutet hier deutlich ein Aufsteigen
aus dem unvollkommenen zimi vollkommenen Zustand, aus der
bloss keimartig vorhandenen potentiellen Urteilskraft zimi ak-
tueUen Wissen.
Im übrigen bringt die fesselnde, interessante Darstellung
•des Idioten nur Reminiscenzen und Anklänge aus den früheren
Schriften. Auch ist in ihnen keine Portbildxmg des früheren
Standpunktes bemerkbar.
Auch die in den folgenden Schriften niedergelegten erkenntnis-
theoretischen Erwägimgen sind nur Seitentriebe zu dem in conj.
imd Id. III wurzelnden Grundstöcke. „De ber.^y Kap. 32, 33,
verbreitet sich nochmals ausführlich über die Universalien und
konmit nach Verwerfung der platonischen Ideenlehre zu dem
Resultat, dass alle Erzeugnisse des Verstandes nur Aehnlichkeiten
der realen Welt sind, dass allerdings die Begriffe in unserm Ver-
stände wahrer sind als ausser ihm, nicht aber die Dinge selbst.
Das Bild, der Begriff des Hauses, ist im Geiste des Baumeisters
wahrer und reiner als in dem aus Holz und Stein erbauten, nicht
aber das konkrete Haus selbst. Das hat Plato verkannt. Der
menschliche Geist ist also der Schöpfer der Begriffe, mittelst
deren er in seiner Weise eine Erkenntnis der Dinge zu gewinnen
sucht. Den gleichen Gedanken finden wir ven. 29, fol. 213: Unser
Geist, ein Abbild des göttlichen Geistes, fasst alles notionaliter,
nicht realiter in sich ; er findet daher nicht das Wesen, sondern
nur die Bilder der Dinge in sich, er ist ein locus specierum.
Denn die wahre Wesenheit der Dinge liegt vor den Begriffen,-
welche erst nach den Dingen kommen. Das Globusspiel endlich
giebt eine interessante Beleuchtung des Geistes nach seinem
mikrokosmischen Wesen, seiner vierfachen Erkenntnisweise der
progressiven Zahlenentfaltung als Prinzip aller Erkenntnis etc.,
lauter Gedanken, die uns in gleicher Verwendung bereits be-
') Indem Nikolaus somit eine bloss urteilende Grundkraft des Geistes
als angeborenes Moment statuiert, urteilt er nach unserm Dafürhalten
bAionnener als Leibniz (nouv. essais, lib. 1, 2), dessen Satz für die an-
geborenen Ideen doch wohl nur teilweise, das heisst nur für die theo-
retischen, erweisbar ist.
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— 36 —
kannt sind, und nur hier und da etwas ausführlicher verfolgt
werden. So bringt z. B. fol. 164 b zu der Lehre von der Begrijffs-
bildung und der angeborenen Urteilskraft die notwendige Kon-
sequenz, dass der Geist alle Wissenschaften, ja das ganze
(xedankenreich, virtualiter in sich enthalte. Er ist der Erfinder
der Arithmetik, Geometrie, Musik u. s. w. Der Satz wird dadurch
nicht gefährdet, dass wir manches nur unbewusst besitzen und
erst durch Konzentration der Aufmerksamkeit Kunde davon
erhalten; denn wenn ich auch Kenntnis von Musik habe, so
merke ich doch, so lange ich Geometrie treibe, nicht, dass ich
Musiker bin. Vielmehr muss die zwar latent, aber dennoch real
besessene, Erkenntniskraft erst zu deutlichem Erkenntnisbesitze
erhoben und entwickelt werden (cf. Leibniz).
Der Reichtum des menschlichen Geistes ist unermesslich,
er unterscheidet durch diese seine Kraft alle Werte. Er selbst
ist die Komplikation aller Werte. Sie liegen sämtlich ideal in
ihnen, sowie in der grösstbesten Münze die Werte aller andern
(Schluss lib. 2). So tönt das Gespräch gleich dem über das Gott*
suchen in dem Lobpreis der menschlichen Geisteskraft aus.
Das ,compendtum^ endlich fasst noch einmal den Grund-
gedanken der Erkenntnislehre dahin zusammen: Der Verstand
ist artifex et causa omniura, ist aber in seiner Thätigkeit der
Begriffisbildung an die sensible Welt gebunden. Gleich einem
Kosmographen gehen ihm durch 5 Thore die Botschaften aus
der ganzen Welt zu. Dagegen die Vernunft schöpft ihre Erkennt-
nisse aus sich selbst ohne Abstraktion; sie ist nur bestrebt, die
potentiell in ihr schlummernden Ideen (Prinzipien) zu aktuellen
Erkenntnissen zu erheben (Kap. 11). Ausserdem bringt Kap. &
die Ergänzung, dass die sittlichen Begriffe dem Menschen an-
geboren sind (cf. id.?!I): ^habet cognatas species insensibiles
virtutis, justi et aequi, ut noscat, quid justum, rectum ... et
illorum contraria" (Leibniz!). Und so liegen ausser den theore-
tischen (lud. glob.) auch die moralischen Erkenntnisse bereits
potentiell im Menschen und bedürfen nur der explicatio, um sich
zu aktuellem, vollkommenem Besitztume zu erheben. Der Be-
griff der explicatio behält auch hier, wie wir sehen, den Sinn
der Bewegung von der Tiefe zur Höhe, aus dem Zustand der
Unvollkommenheit zu dem der Vollkommenheit.
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— 37
n, Kritisch-sjstematischer Teil.
Der vorstehende Teil der Untersuchung konnte zwar keines-
wegs den ganzen Umfang des EntwicklungsbegrifiFs bei Nikolaus
in erschöpfender Weise darstellen. Eine passende Auswahl der
geeignetsten Stellen allein war beabsichtigt. Aber auch sie ge-
nügen, um zu zeigen, dass der Begriff der explicatio eine nicht
minder reichlwhe als verschiedenartig gefärbte Verwendung
«rf&hrt.
Gott und Welt, Können (dreifach) und Welt, Welt imd
Einzeldinge, Gott und Geist, Geist und Körper, Geist imd Er-
kenntnismittel, Erkenntnismittel und Wissenschaft, Glaube und
Erkenntnis, alle diese Contrapositionen bedeuten ein Verhältnis
von complicatio und eocpUcaüo^ das aber nickt durchweg ein-
deutig gedacht ist. Die Entfaltung der Welt aus Gott bedeutet,
wie wir sahen, durchweg einen Akt der Abschwächung. Au^
der Höhe geht es zur Tiefe. Der gleiche Begriff beherrscht den
Stufenbau der Welt. Zwar existieren die Gattungen vorerst in
den Arten und durch diese erst in den Dingen real, doch ist
die Gattung vollkommener als die Art, und die Art vollkonmaener
als das Einzelding (cf. die übrigen Stufen). Dagegen geniesst die
Welt als Entfaltung aus dem Können (in jeder seiner Schat-
tierungen) unbedingt eine Bereicherung an Wirklichkeit: Aus
der Potenz steigt sie zur Aktualität, aus der Tiefe zur Höhe
«mpor.
Wieder anders ist es in der Erkenntnislehre: der erken-
nende Geist erfährt als ein aus dem göttlichen entfaltetes Produkt
«ine Abschmächungy die er nun in gleicher Weise auch auf seine
eigenen Produkte überträgt. Denn geringer als der imendliche
ist der endliche Geist, geringer als dieser die Prinzipien, die
Monas, der Punkt etc.; doch indem er, angefacht durch den
Körper, aus den Prinzipien den Punkt u. s. w. . . . die Wissen-
schaften deduziert, erfährt er eine ungeheure Vervollkommnung
und Bereicherung seiner selbst; in senf kornartigem Wachsen
(quaBr. deum) wird er der Herrscher der Welt durch Erkenntnis,
die alles Dunkle erleuchtende Flamme. Somit schliesst die «e?-
plicatio in der Erkenntnislehre beide Bewegungen in sich, die
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— 38 —
zur Tiefe wje zur Höhe. An der gleichen Doppelbewegung aber
nehmen auch die Erkenntnisprodukte ihrerseits teil: Sind die
Prinzipien, der Punkt, die Monas u. s. w. abgeschwächte Ent-
wicklungsprodukte, so beginnt von diesen einer weiteren Ent-
faltung und Verringerung unfähigen Elementen aus auf einmal
eine hoffnungsfreudige Bewegjmg zur Höhe ; aus der Zahl wächst
die Mathematik, aus dem Punkt die geometrische Raumwelt,,
aus den Prinzipien der fruchtbare Baum der Erkenntnis hervor,,
durch dessen Früchte wiederum eine Doppelbewegung ins Leben
gerufen wird. Somit sehen wir den Begriff der cusanischen ex-
plicatio durch zwei entgegengesetzte Grundanschauungen be-
herrscht: Sie bedeutet teils eine Abschwächung , teils eine
Vervollkommnimg; beides ist in ihr zusammen gedacht.
Nun aber fragt es sich, ob die hervorgekehrten Kontro-
versen ganz unbewusst neben einander, oder mit Bewusstsein
nach einander bestehen, ob sie wirkliche, gleichzeitig bestehende
Widersprüche, oder nicht vielmehr sich gegenseitig ablösende
Entwicklungsphasen Eines Prozesses sein, den der Begriff inner-
halb des Systems durchläuft?
Innerhalb der Region der Gotteslehre liesse sich wohl auf
Grund der Erörterungen (Teil I, Abschn. 1) eine solche Ent-
wicklung des Begriffsinhaltes annehmen und man könnte sagen :
neben der in den frühesten Schriften noch durchgängig als Ab-
schwächung gedachten Entfaltung der Welt läuft in der itiittleren,
mystischen Schriftengruppe teilweise der modern gedachte Be-
griff der Vervollkommnung einher, um schliesslich jenen in den
Hintergrund zu drängen und in den letzten Schriften seinerseits
das Feld zu occupieren. Denn in welcher Nüancierung auch
immer das Können als Prinzip der Weltentfaltung gedacht ist,,
überall glauben wir die Bewegung von der Potenz zur Wirklich-
keit als die eigentliche, letzte Grundanschauung des Philosophen
mit Recht hingestellt zu haben. In der Erkenntnislehre freilich
ist, wie oben erwähnt, eine solche Konstruktion schon nicht
nachweisbar, denn hier gehen wirklich überall beide Begriffs-
bestimmimgen in einander über und laufen friedlich neben ein-
ander her. Für beide hat der Philosoph zu gleicher Zeit den
gleichen Ausdruck, oder anders gesagt: Er unterscheidet nicht
zwischen ursprünglichen imd abgeleiteten Explikationen der
Seele; ebensowenig ist es für die Wahl des Ausdruckes von
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— 39 ^
Belang, wenn die Seele durch Entfaltung ihrer Produkte gleich-
zeitig einen Zuwachs an Wirklichkeit erfährt. Im Hinblick auf
das Gesamtsystem aber könnte man auf Grund jener Erwägungen
im grossen imd ganzen also entscheiden: Der werdende Philo-
soph gebraucht den Ausdruck explicatio ganz im Sinne des
Mittelalters, d. h. für die Bewegung von der Höhe zur Tiefe.
(Gott verhält sich zur Welt wie complicatio zu explicatio, wie
Wirklichkeit zu Möglichkeit.) Doch bereits im Gebiete der Er-
kenntnislehre (conjectur.) bricht sich der modern gedachte Begriff
Bahn. Der zwiespältige Begriffsinhalt beherrscht sodann die
ganze mittlere Schriftengruppe, bis im Idiot die neue Anschauung
die alte langsam zurückdrängt und schliesslich in den letzten
Schriften auch auf das Problem der Weltentstehung Anwendung
findet (cf. besonders fol. 157b: mundus de modo, quse possibilitas
seu possefieri aut materia dicitur, ad modum, qui actu esse dici-
tur, transivit): posse und Welt verhalten sich wie complicatio
und explicatio, wie Möglichkeit und Wirklichkeit. Näheres wagen
wir über die allmählich gewordene Umgestaltung des Expit-
kationsbegriffes innerhalb des Systeme nicht auszusagen, denn
das vielfache Schwanken bis zu den letzten Schriften hin hindert
uns an der Erkenntnis einzelner bestimmter Entwicklimgsphasen.
Aber gerade dieses Schwanken hinüber und herüber bedarf
einer Erklärung. Sind einmal Widersprüche vorhanden, so gilt
es auch, sie bis zu ihren letzten Wurzeln zu verfolgen und die
Gründe hiefür aufzudecken : Ueberall, wo Beweg img stattfindet,
ist ein Doppeltes zu unterscheiden, das Wie und Wohin, der
Vorgang und das Ziel. Nikolaus schenkt nur dem ersten Moment,
dem Wie, sein Interesse. Der Vorgang der explicatio alles Seins
aus dem Absoluten ist ja, wie wir sahen, der eine Angelpunkt
seines Systems. Und auch die Erkenntnislehre will nichts anderes,
als den Weg begreifen, auf dem der endliche Geist den unend-
lichen fassen mag. Dabei aber verliert der Philosoph das Ziel
der explicatio, d. h. das daraus hervorgehönde Produkt, zu sehr
aus den Augen. Ob dieses eine Pörderimg oder Abschwächung
an Wirklichkeit, oder keines von beiden erfahre, wird als selbst-
verständliche Folge nicht weiter erwogen. Dass z. B. die Welt
geringer ist als Gott, dagegen wirklicher als das „Können**, wird
daher von Nikolaus nicht als Widerspruch empfunden, eben weil
ihn nur der Vorgang der explicatio interessiert.
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— 40 —
Was der raoderaen, im Zeichen der Entwicklung stehenden
Wissenschaft als die Hauptsache gilt, nämlich die Frage nach
dem schliesslichen Produkte des allmählichen Werdens, das ist
hier nur Nebenerscheinung. Daher hat es für Nikolaus nichts
Befremdendes, zwei entgegengesetzte Entwicklungsreihen unter
einen Begriff zu subsumieren. Dies der eine Grund für die
Doppelseitigkeit des Begriffes. Ein weiterer wichtigerer Grund
indes ist der bereits von Palckenberg mit gutem Recht angeführte :
die doppelte Schätzung desWirklichen. Wie jeder grosse Denker
in seinen Ideengängen durch tiefere metaphysische Grundvoraus*
Setzungen ganz imbewusst beeinfiusst wird, die er unbewiesen
hinnimmt (cf. Kant: Es giebt Erfahrung I), so basiert auch das
Denken des Nikolaus auf solchen Fundamenten, nämlich auf
verschiedenen, ja entgegengesetzten Massstäben für die Wert-
schätzung der Wirklichkeit; Nikolaus wägt sie bald nach dem
Massstab der Vollkommenheit oder Konkretheit, bald nach dem
der Feinheit oder Abstraktheit. So ergebeu sich aber die zwei
einander ausschliessenden Behauptungen; 1. Je konkreter imd
empirisch vollkommener, desto wirklicher. 2. Je abstrakter .und
feiner, desto wirklicher, — zwei Sätze, die einander widersprechen
und, unter den Gesichtspunkt der explicatio gestellt, diesem
Begriffe einen zwiespältig gedachten Inhalt zuführen müssen.
Vom empirischen Standpunkte aus musste unbedingt der erste
Satz gelten, cf . fol. 140 b und andere. Die Harmonie, die Schön-
heit und Vollkommenheit des Universums wie der einzelnen
Dinge war zu gross, als dass Nikolaus darin eine verminderte
WirkUchkeit hätte erbHcken können; cf. ber. Kap. 32 fol. 140b:
Plato non videtur bene considerasse, quando mathematicalia,
quae a sensibilibus abstracta . . . vidit veriora in mente . . .
Karins sunt in sensibilibus quarrt in nostro intellectu, . . Da-
gegen dem Metaphysiker kaim nur das Abstrakte die wahre
Wirklichkeit bedeuten, cf. bes. id. III 9, fol. 139a: „. . . qu»
vere sunt, abstracta sunt a stabilitate materiae et non sunt
materialiteTj sed mentalüery de quo superflue dictum existimo.**
Dieser metaphysische Gegensatz schafft aber Verwirrung und
muss solche schaffen, sobald es sich um das Verhältnis des
Konkreten und Gedachten, des Seins und Denkens, der Materie
und des Geistes handelt (Materialismus oder Idealismus?). Ist
das konkrete das wahrhaftere Sein, dann besteht das geistige
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— 41 . —
Sein der Dinge nur in einer gewissen verringerten Abbildlichkeit
und Begrifflichkeit ; der ganze geistige Ueberbau der Menschheit
ist nur die Blüte der Materie. Ist dagegen das abstrakte, das
geistige Sein der Dinge das wahrhaftere, dann treten an die
Stelle der Abbilder die Urbilder ; der Gteist bildet uud formt als
freier Herr die Materie nach seinem Willen. Das Schwanken in
der Bestimmung des Wirklichen tritt uns auch da recht deutlich
entgegen, wo bald die Vollkommenheit, bald die Feinheit den
Massstab bildet, cf. conj. 11 17: „habet igitur haBC intellectualis
€ognitio (divinum) in perfectione actuali ad alias ut corpus ad
superficiem, lineam et punctum, sed in subtilitate ut punctum
ad lineam . . . punctualiter quidem atque subtiliter et perfecte
simul amplectitur verum. Rationalis vero cognitio cohtractior
atque perfectior ut superficies, subtilis ut linea. Imaginativa vero
<50gnitio contracta magis perfecta ut linea, grossa ut superficies.
Sensitiva . . . grossissima ut corpus." Wir sehen hier, dass der
Auetor teils das Vollkommene, teils das Peine, als wirklich an-
sieht. Von diesem Standpunkt aus ist z. B. die sinnliche Er-
kenntnis hinsichtlich der Vollkommenheit wirklicher als die
rationale, der Körper wirklicher, als der Punkt, hinsichtlich der
Feinheit dagegen tritt umgekehrte Wertung ein. Recht deutlich
tritt uns die doppelte Wertung an dem Beispiel des Punktes
und der Linie entgegen ; der Punkt erscheint auf Grund jener
Masstäbe bald als treibhausartige, zusammengezogene, jugend-
liche Kraftfülle, die die einengenden Fesseln sprengen möchte,
imi sich zur Linie auszuleben, bald als verkrüppelter, zurückge-
bliebener Ansatz zur WirkHchkeit ; und der Körper gleicht bald
der freien, ungehemmten, wahren, bald der breitgeschlagenen,
verwässerten Wirklichkeit. Dort jugendliches Siohregen, hier
ausgelebtes Sein, dort Frühling, hier Herbst. Dies der zweite
Grund dafür, dass sich für Nikolaus mit dem Begriff der Ent-
wicklung bald die Vorstellung der Verringerung, bald die der
Förderung verbindet, dass bald die Komplikation, bald die Ex-
plikation den Rang erhöhter Wirklichkeit einnimmt.
So sehen wir ein stetes, tiefer begründetes Schwanken,
das sich aber schliesslich, wie oben nachgewiesen wurde, zu
Gunsten des modern gedachten Begriffes zu verlieren scheint.
Nun ist allerdings der heutige Denker gern geneigt, die Ver-
gangenheit in modernerem Lichte zu schauen, als Recht ist.
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— 42 —
Leicht auch könnte man den cusanischen Etitwicklungsbegriff
in seiner fortgebildeten Bedeutung dem modernen zu nahe
rücken, oder etwa gar beide identifizieren, während das gegen--
seütge Verhältnis nur das von anbrechender Dämmerung und
hellem Tageslicht ist: die cusanische explicatio in beiderlei Be-
deutung besagt nur ein blosses Sichauseinanderlegen gegebener
Formen. Diese stehen schon vor dem Entfaltungsprozesse (in
Gott, Werdenkönnen, Geist) fest und entfalten sich im Laufe
der Geschichte in geordneter, vorherbestimmter Reihenfolge;
der Weltprozess gleicht der Entfaltung des Baumes aus seinem
Samen, cf. ven. III: „cum in tempore intueor omnia in succes-
sione expUcari/ Wie im Piatonismus geht das Sein der Dinge
ihrem Werden voraus. In einem solchen Weltprozesse aber ist
alles Werden und Entwickeln nichts anderes, als ein immer
erneutes Ergreifen des Stoffes durch die Form, die jenen, so oft
er in formloses Chaos zurücksinken und ihr entweichen will,
doch schliesslich zu bewältigen strebt.
Die Verändermig beschränkt sich dabei nur auf die Indivi-
duen, der Weltkeni bleibt ungeändert und unberührt von dem
Fluss der Dinge und im letzten Grunde doch transcendent.
Dadurch ist zugleich eine uns ganz fremdartig erscheinende
Weltstimmung gesetzt: sie bedeutet den Zug des Lebens nicht
in die Welt hinein, sondern aus ihr zurück (cf. Erkenntnislehre)
zu der lauteren göttlichen Einheit und Wirklichkeit. Zwar scheint
auf den ersten Blick die Welt etwas unendUch Wertvolles zu
bedeuten, da ja ihr eigentlicher Kern das Absolute selber ist,
doch nur vorübergehend darf dieser Satz im System des Nikolaus
gelten ; denn nicht iür die Dauer senkt sich das GöttUche in die
Materie herab, sondern durchleuchtet sucht es dieselbe der ab-
soluten Einheit nahe zu bringen. Also geht doch im letzten
Grunde das Streben des Weltprozesses aus der Welt zurück zu
dem Aboluten. Je näher diesem, je mehr zieht in das Menschen-
herz Glück und Freude ein.
Ganz anders der naturwissenschaftlich moderne Begriff der
Entwicklung. Ihm liegt nicht mit dem Piatonismus das Sein vor
dem Werden, sondern das Werden vor dem Sein. Die feste,
unveränderlich wahre Wirklichkeit soll durch den Entwicklungs-
prozess erst gewonnen werden. Denn das Ziel aller Entwicklung
ist eine durch den Kampf ums Dasein und die natürliche Zucht-
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— 43 —
wähl inaugurierte Bereicherung seil. Neubildung an Formen.
Eine weltfreudige Stimmung liegt über dem Geschehen. Der
Zug des Lebens führt hier in die volle Welt hinein. Nirgends
ein fertiges Sein, das sich bloss zur Wirklichkeit auseinander
legte (Nikolaus), sondern alles Seiende eine Zusammensetzung,
ein Gewordenes, eine Bildung vom Unentwickelten zum Ent-
wickelten. Die Fruchtbarkeit eines solchen Begriffes ist unbe-
streitbar. Nur der Entwicklungsgedanke in solcher kräftigen und
energischen Fassung verbürgt ims die allmählich fortschreitende
Erkenntnis des endlichen (seil, des physischen) Geschehens. Nur
so kommt das Kleine, Unscheinbare zu seinem Rechte und zu
seiner Bedeutung. Alles Sein ein gewordenes und Begreifen des-
selben vom Kleinen her, so lautet mit Recht die Ueberschrift
über dem Portal der neueren Wissenschaft.
Freilich bleibt dabei die Frage offen, ob nicht auch der
moderne Entwicklungsbegriff einer notwendigen Ergänzung,
und zwar von innen h^r, bedürftig sei? Zu allem Veränderlichen
gehört doch notwendig auch ein beharrendes Moment. Entwick-
lung setzt immer etwas voraus, was sich entwickelt, ein Sein,
worin Inhalt imd Gesetz der Entwicklung zum voraus enthalten
ist; dieses apriorische Prinzip der Entwicklung aber muss von
ihrem geschichtlichen Prozesse wohl unterschieden werden. So
ist es doch mindestens auf ethischem Gebiete. Denn wir meinen,
dass alle empirisch vorgefundene Sittlichkeit stets nur eine je-
weilige, zeitUche Erscheinungsform eines absolut Sittlichen sei,
das selbst nicht wieder Produkt einer Entwicklung, sondern
apriorisches, normatives Gesetz derselben ist. Andernfalls fehlte
ja auch das objektive und allgemein gültige Kriterium, d. h.
der Massstab, für die Beurteilung des konkret Sittlichen. Der
subjektive Faktor des persönlichen Werturteils genügt dazu
wahrlich nicht, so lange wenigstens die Metaphysik zu bestehen
noch das Recht hat. Aber auch das geistige Leben der Mensch-
heit überhaupt wäre undenkbar ohne Beharrung im Fluss. Die
Geschichte ist viel zu kompliziert, als dass sie, unter das eherne
Gesetz der Entwicklimg gebeugt, einem blossen „Aufrollen von
bunten Bildern" (Eucken „Grundbeg. d. G.**), einem zufälligen
Verketten von Ernst und Witz gliche. Vielmehr muss hinter der
bunten Fülle der Erscheinungen die bewegende Kraft als Prinzip
der Entwicklung stehen, zu dem vorzudringen des Geschichts-
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— 44 —
forschers letzte Aufgabe i^^t: ^Ein geistiges Selbst, das unsern
eigenen Wesenskern bildet, muss hinter den besonderen, durch
Lage und Umgebung bedingten Thätigkeiten stehen, er muss
aus der Bewegung dieser Thätigkeiten einen bleibenden Kern
herausziehen und dadurch bei sich selbst wachsen und so aller-
erst die Höhe seines eigenen Wesens erreichen* (Eucken „Grundbeg,
d. Geg.**, 2. Aufl. 93). ,Die Methode, ohne Ideen und Geist
den Dingen einen Sinn abzugewinnen, soll erst noch erfunden
werden."
Dieses beharrliche, ursprüngliche Realleben hinter dem
veränderlichen Sein übersieht nun oder leugnet der moderne
EntwicklungsbegriflF, mit anderen Worten : Das Was, die eigent-
liche Realsubstanz der zeitlichen Entwicklung geht ihm über
aller Verwicklung verloren, selbst auf dem Gebiete des rein
physischen Geschehens. .Was entwickelt sich denn eigentlich?
Was ist der sich entwickelnde, die Formen der äusserlich sicht-
baren Erscheinungsphasen bedingende Kern der Dinge? Die
Antwort fehlt bisher noch.
Dieses ursprünglich Beharrliche und aller Entwicklung
immanente Moment in Gestalt des absoluten Seins selber, das
die eigentlich treibende Kraft, das wahre Was der Dinge bildet
(cf. bes. doct. ign.), betont nun in willkommener, freilich ein-
seitiger Weise der cusanische Entwicklungsbegriff. Jenem geht
das Was, diesem das Wohin der Entwicklung verloren. Beide
Begriffe sind also zu eng gefdsst^ aber die inhaltliche Vereini-
gung beider zusammen ergiebt den vollen, das Gesamtgeschehen
der Welt (physisches und sittliches) umfassenden und erklären-
den Entwicklungsbegriff. Denn es gilt weder die einseitige
Hervorhebung und Betonung des beharrlichen, ursprünglichen,
auf Kosten der Erklärung des empirisch vorgefundenen Seins,
wie Nikolaus thut, noch auch eine bloss einseitige Analyse des
letzteren mit bewusster Ablehnung eines ursprünglichen, in der
Erscheinungen Flucht beharrenden Reallebens, wie der moderne
Naturtorscher thut. Denn Entwicklung bedeutet im letzten
Grunde die durch einen fortlaufenden Differenzierungsprozess
hervorwachsende Bereicherung eines ursprünglich bereit liegen-
den realen Seins, d. h. Entwicklung ist überall nur da mögHch,
wo ein inneres treibendes, metaphysisches Agens die jeweiligen
Entwicklungsphasen überragt.
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— 45 -
Dass der Cusaner als Kind seiner Zeit die Hauptleistung
der modernen Entwicklungslehre, die Thatsache, dass alles Sein
erst allmählich geworden, erst im Laufe der Zeit in die heutige
Q-estalt, Lage etc. gebracht worden ist, noch nicht erkennt,
erscheint vollkommen begreiflich. So viel aber steht fest, dass
bereits in der zweiten Gestalt des Explikationsbegriffes der An-
satz zu dem naturwissenschaftlichen Interesse der Neuzeit liegt.
Denn wer den allmählichen Uebergang der Welt von der Potenz
zur Aktualität behauptet, der steht dem Gedanken nicht mehr
allzufem, dass auch alles Einzelsein als Produkt eines allmäh-
lichen Werdens aus dem Kleinen zu fassen sei. Und das ist
auch in der That historisch sehr wohl erweisbar. „Durch die
spekulativ mystische Gedankenrichtung hindurch hat die Ent-
wicklungsidee sich den Weg in das moderne Denken gebahnt"
(Bücken).
Aber auch sonst weist die cusanische explicatio auf den
Oeist der Neuzeit hin: Sie zeigt uns den Wert der Welt, des
Individuums und der Geschickte in ganz anderem Lichte als
das Mittelalter.
Die Welt ist, mag ihre Entfaltung im Systeme gedacht
sein wie sie will, auf alle Fälle vom göttlichen Sein durchtränkt
und darum imendlich wertvoll. Dass allerdings die Welt, so
wertvoll sie auch sei, nicht das letzte ist, sondern das Denken
vielmehr auf ein Streben nach dem Absoluten verweist, wurde
bereits nachgewiesen. Immerhin aber erscheint sie in ganz an-
derem Lichte als noch bei Thomas von Aquino, bei dem sie die
untergeordnete RoUe eines niederen Seins spielt; sie ist
ihm „die untere Welt," deren Berührung befleckt; für Nikolaus
hingegen ist sie ein von göttlichem Leben durchfluteter Organis-
mus, in dem alles singulare Sein dem grossen ordo eingefügt
ist zu vollkommener, dem göttlichen Wesen selbst nachgeahmter
Harmonie.
Indem aber auch der Mensch diesem Organismus eingefügt ist,
erscheint auch er in anderem Lichte. Sein Dasein darf, da es
dem grossen Kausalnexus des Alls eingereiht ist, nicht mehr
ausschliesslich im Dienste der Kirche stehen, sondern auf das
Ganze der Wirklichkeit muss es gerichtet sein. Alles muss ver-
edelt, vergeistigt, dem Absoluten näher gebracht werden. So
nach der formalen Seite hin. Aber auch inhaltlich wächst durch
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— 46 —
den Explikationsbegriff die Wertschätzung des Individuums un-
geheuer. Der einzelne, ein Mikrokosmus, findet in sich eine
schlummernde Fülle von unbewusstem Erkenntnisbesitz, dessen
fortlaufende Hebung die fortschreitende Bereicherung imd Ver-
vollkommnung des menschlichen Geistes und Lebens überhaupt
bedeutet. Der Mensch ist demnach nicht von vornherein fertig!
Ein so recht modern klingender Gedanke. Giordano Bruno,
Kepler und Descartes thun nach dieser Seite hin mehrfach des
Kardinals Nikolaus Erwähnung. Die absolute Wahrheit liegt
nicht positiv fertig da, so dass sie der einzelne sich nur anzu-
eignen brauchte zu dauerndem Besitz (Mittelalter, cf. bes. Au-
gustin !), sondern sie ist erst das, wenn auch nie ganz erreichbare,
«0 doch logisch immer näher und genauer zu bestimmende
Produkt menschlichen Ringens und Strebens.
Die freie wissenschaftliche Prüfung ist von Arroganz,
wie von Skepticismus gleichmässig entfernt. Dass aber hinter
der äussern Welt des Scheines die zeitlose wahre Welt des Seins
liegen müsse und dass diese nur durch konsequent fortschreitende^
ringende Geistesarbeit immer annähernder ermittelt werden könne,
das ist mit Recht der Grundgedanke der heutigen Wissenschaft.
Der Glaube an die stetige Approximation an die Wahrheit kann
allein den Mut zur Forschung immer von neuem aufrecht er-
halten und beleben. Auch ist es nur so allein möglich, in meta-
physischen Fragen vom Bilde zur Sache, von der Hülle zur
Wahrheit, von der Kruste zum Kerne hindurchzudringen, d. h.
die religiöse Bildersprache (seil, für den wissenschaftlich Ge-
schulten) zu vergeistigen und somit die Religion zur Weltan-
schauung zu erheben, wie dies Lipsius in seinem Buch „Religion
und Philosophie" gethan.
Nicht ein blosses Aneignen also, sondern vielmehr die nach
Wahrheit ringende Produktivität bildet den Mittelpimkt mensch-
licher Geistesthätigköit. Diese freischaffende, prüfende Thätigkeit
des Individuums aber, die zum eigentlichen Kerne des Lebens-
prozesses wird, bildet den schroffsten Gegensatz zu der mittel-
alterlichen Wissensvererbung. Das Wort Lessings bestätigt sich
auch hier: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz ein Mensch ist
oder zu sein glaubt, sondern die aufrichtige Mühe, die er ange-
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert
des Menschen aus. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch
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r^^T"
— 47 —
die Nachforschung der Wahrheit erweitem sich die Kräfte ; der
Besitz macht ruhig, träge, stolz. ^ Beide, Nikolaus wie Lessing,
ziehen das Wahrheitssuchen dem Besitzen vor, und mit Recht,
cl ign. III 12.
Mit dieser Selbstentwicklung aber ist zugleich die Freiheit
und Selbständigkeit des Individuums proklamiert, ein ebenfalls
^rst der Neuzeit angehörender Gedanke ; das Altertum sieht im
Einzelnen nur das Glied der Gesellschaft, den nützlichen Staats-
bürger. Als solcher allein hat er Wert. Und im Mittelalter tritt
an die Stelle des antiken Staates die Kirche ; auch sie gewährt der
persönlichen Bedeutung des Individuums keinen Raimi und keine
Berechtigung. Das freie, selbständige Sichregen desselben gehört
«rst der Neuzeit an. Sie erlaubt nicht nur, nein sie fordert von
ihm sogar Selbständigkeit (Luther). Diesem durchbrechenden
Individualismus aber brach somit auch Nikolaus kräftig Bahn.
Auch auf das Gebiet der Erziehung musste von hier aus
ein ^unverkennbarer Einfluss ausgehen. Ist das individuelle Sein
ijin Entwickeln von Anlagen, ein Werden von kleinen, ange-
borenen Anfängen aus, und kann somit der Erzieher nichts in
den Zögling hineintragen, sondern nur Vorhandenes wecken imd
grossziehen, so wird die erzieherische Aufgabe zur Aufforderung
zur Selbstthätigkeit im Fichte'schen Sinne. Seelenleben gleich
Selbstentfaltung, welch ungeheure Konsequenzen liegen hierin
beschlossen ! Die Monadologie und der trangcendentale Idealismus
liegen hier im Keime vor uns.
Analog der individuellen gewinnt durch die cusanische
explicatio auch die geschichtliche Oesamtentwicklung der Mensch-
heit überhaupt eine tiefere Bedeutung als im Mittelalter. Auch
hier heisst die Parole : Vom Unentwickelten zum Entwickelten,
vom Unbewussten zum Bewussten. Die Wertschätzung der Ge-
schichte steigt dann aber ungemein, denn sie wird zum stetigen
Vervollkommnungsprozesse des Erkennens und somit der Mensch-
heit überhaupt. " Der Schüler Plotins wird zum Vorläufer des
HegeFschen Intellectualismus (cf. coiy. II 17, Id. III 13). Zwar
findet auch in der imtergeistigen Welt ein Aufsteigen von der
Möglichkeit zur Wirklichkeit statt, doch fehlt in diesem Prozesse
das geschichtlich Stete ; das aber ist es gerade, was das Wesen
der Geschichte der geistigen Welt ausmacht. Der geschichtliche
Prozess gewinnt durch diese Stetigkeit eine inrnier grössere
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— 48 —
Spannung und Bedeutung; eine weltfreudige Stimmung beherrscht
das Geschehen. Nirgends ein zähes Sichanklammern an geschicht-
lich gewordene, zeitliche Formen ; Stillstand ist Rückgang, Träg-
heit ; das gilt besonders von der Religionsgeschichte. Wahrheits-
kerne enthält jede Religion, doch die absolute Wahrheit schliesst
nur die christliche in sich; freilich ist auch hier kein Stillstand
geboten; ein immer präziseres Erkennen des Absoluten bleibt
das nie ganz erreichbare Ziel jeglichen Strebens : ein unbedingt
wahrer Satz.
Von dem Verhältnis der philosophisch quantitativen zu der
theologisch dogmatischen Geschichtsauflassung war schon oben
die Rede (I, 3); dass aber der Philosoph im Grunde genommen
der ersten Auffassung huldigt, glauben wir unbedingt bejahen
zu müssen. Soviel über die befruchtende Bedeutung des Expli-
kationsbegriffes im Rahmen der Geschichtsauffassung.
Sogar das gewaltige ontologische Problem scheint durch
die cusanische explicatio einer befriedigenden Lösung nahe ge-
bracht zu werden. Denn wenn ein rechtverstandener idealistischer
Monismus das letzte Postulat alles Nachdenkens zu sein scheint,
so iiat Nikolaus auch dazu den richtigen Ansatz versucht. Ab-
solute Vemimft uimd Materie ursprünglich eine Einheit bildend^
aber die Vernunft die Grundpotenz derselben, auf die alles Streben
des Materiellen gerichtet ist, das ist der eigentliche Kemgedanke
seiner Philosophie überhaupt. Aber darin irrte er wohl, dass er,
Plotin folgend, das Werdekönnen als Untergnmd der Welt aus
Gott herausstellte, anstatt es als immanente Potenz Gottes selbst
zu betrachten, aus dem das Endliche hervorgeht, um sich dann
wieder, im Erkenntnisakte durchleuchtet, mit ihm zusammenzu-
schliessen. Denn es giebt, meinen wir, keinen andern Untergrund
der Materie, als das Absolute selbst; ist iieses allmächtig, so
muss es auch die Potenz zur Materie in sich tragen; dann aber
ist die Welt in der That wirklich nur eine Selbstdarstellung des
hinter der sichtbaren Materie wirkenden und bewussten Welt-
geistes. So wie das Leben des Saftes den materiellen Baum aus
sich heraussetzt, so ist das Materielle nichts als das in Erschei-
nungtreten des geistigen Seins. Hätte Nikolaus in gleicher Weise
das Werdenkönnen, d. h. den Untergrund der Materie, in Gott
verlegt, so hätte er den geistigen Kern der Welt noch viel
deutlicher hervortreten lassen, und hätte in Spinozistisch-Sohel-
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— 49 -
lingischer Weise zugleich die Materie zur Zufriedenheit erklärt,
ohne zum Zufall oder zur Schöpfung aus nichts retirieren zu
müssen.
Die Verlegung des Weltgrundes in das posse als absolute
Möglichkeit ^ alles Seins (= Gott selbst) scheint uns daher
die richtige Korrektur imd Portbildung des possefieri in dem
von ims geforderten Sinne zu sein; denn so wird der Sinn der
expUcatio überaus fruchtbar.
Wir sind am Ende. Das Gesamtresultat der Untersuchung
lässt sich ungefähr dahin zusammenfassen: Der cusanische Ex-
plikationsbegriff tritt uns auf den 3, Hauptgebieten seiner Ver-
wendung in zweifacher Gestalt entgegen : Er bedeutet teils eine
Bewegung von oben nach unten, teils von unten nach oben.
Die Portbildung von jener zu dieser Denkrichtung ist zwar durch
die chronologische Betrachtungsweise der Schriften des Nikolaus
nachweisbar, aber hinsichtlich der einzelnen Entwicklungsphasen
nicht näher kontrollierbar. Die Gründe hiefür liegen teils in der
doppelten Wertschätzung des Wirklichen, teils in der einseitigen
Hervorkehrung des Vorganges der Explikation. Das Verhältnis
zum modernen Entwicklungsbegriff ist ein doppeltes: das der
Anbahnung und Ergänzung. Von den auf die Neuzeit hinwei-
senden Zügen des Begriffes sind diese die wichtigsten : die Wert-
schätzung der Welt, des Individuums imd der Geschichte. Selbst
das ontologische Problem scheint durch den Explikationsbegriff
in beiderlei Gestalt einer befriedigenden Lösung nahe gerückt.
Eine Erweiterung des Gesichtskreises wird aber hauptsächlich
durch die zweite Gestalt gewonnen : die starre Wirklichkeit wird
mehr in Pluss gebracht als vorher.
Ob nun allerdings die Explikation durchweg in des Nikolaus
Sinne, oder da und dort etwa zu modern angesehen worden sei,
dies zu entscheiden bleibt dem verehrten Kritiker überlassen,
um dessen gütige Rücksichtnahme dieser philosophische Erstlings-
versuch bittet. Eine Grundüberzeugung wohnt ihm aber unum-
stösslich inne, nämlich die, dass in des Cusaners Person ein hervor-
ragender G^ist in seltenem Wahrheitsemste sich redlich abmüht imd
in gewaltigem Ringen versucht, das Rätsel des Daseins mittelst des
freudig begrüssten Begriffes der explicatio irgendwie zur Zufrie-
denheit zu erklären. Dass es hierbei ohne tiefgreifende Wider-
sprüche nicht abgeht, ist einerseits leicht erklärlich, andererseits
Dr. KKBtner, Der Begriff der EntwiokluDg bei Nikolaus von Kues. 4
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'^'^5
— 50 —
kein Hindenmgsgrund zur Anerkennung wissenschaftlicher Grösse ;
denn wer ein gewaltiges Problem aufwirft, mit Energie imd
Zähigkeit allseitig durchdenkt und vorerst auf die Schwierigkeiten
seiner Lösung aufmerksam macht, der hat dadurch schon sehr
viel erreicht und verdient nicht, dass man ihm die gebührende
Würdigung versage.
Zum Schluss spricht Verfasser Herrn Geh. Hofrat Professor
Dr. Eucken für mehrfache freundliche Anregung während der Ent-
stehimgszeit dieser Arbeit seinen wärmsten Dank aus.
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'■•!j!?äSi',
Bener Stadien znr PMlosopUe und ihrer Gescliiclite.
Band 'V.
Heraufiffegeben von
Dr. Ludwig Stein»
Profeasor an der UniTersitllt Bern.
DIs Weltanschauung Calderons.
-5«-
Von
Dr. Georg Ortiz.
t^frUH^
Beim«
Verlag von Steiger & Cie.
(TormalB A« SSebeii)
1807.
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Einleitung. — Geschichtliche Uebersicht des Milieu's. — Sociale
Atmosphäre. — Cervantes und Calderon.
In dem Augenblick, an welchen unsere Besprechung an-
knöpft, steigt der Weg der Geschichte durch ganz neue Gebiete
eine Höhe hinan. Europa, geschmückt mit den Strahlen einer
neuen Glorie von Errungenschaften, erhob sich wundersam aus
der Stille des Mittelalters und betrat den neuen Pfad in der
Richtung einer neuen Aera. Diese Aera wurde ihm von Spanien
vorgezeichnet und zwar durch dessen Erhebung zur Kulmination
der Macht sowohl, wie auch durch die Ereignisse, die es von
dieser Höhe wieder herunterrrissen und nach und nach ein
anderes nationales Gefüge auf dem Kontinent in's Dasein riefen. —
Ein Jahrhundert voll gewaltiger Anstrengungen und Heldenthaten,
zu denen die Geschichte vielleicht keine Parallele darbietet; eine
ununterbrochene Reihe glorreicher Erfolge hüben die spanische
Nation zur höchsten Stufe der Macht und des Glanzes; in drei
Weltteilen prangten ihre Trophäen; von Neapel und Mailand,
Holland, den afrikanischen Küsten und dem griechischen Archipel,
ja selbst dem Erbfeinde der Christenheit, der durch sie den
ersten bedeutenden Schlag erhalten, ward die Ueberlegenheit
ihrer Waffen erkannt. Jenseits des Meeres endlich waren uner-
messliche Länderstrecken durch Unternehmungen von beispiel-
loser Kühnheit unterworfen worden.^) —
') Vergleiche A. J. von Sobaok, Geschichte der dramatisohen Lit-
teratur und Kunst in Spanien, IL Bd. Berlin 1845.
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- 4 —
Dieses letzte Ereignis vor allem, welches von Spamen
veranlasst wurde, war für die Geschicke der Welt von der
grössten Wichtigkeit. Die Entdeckung Amerikas hat den grössten
Einfluss auf die Menschheit ausgeübt ; eine neue Welt, die plötz-
lich, wie hervorgezaubert, aus dem Schosse der Wellen empor-
taucht; jene neue Welt, die in einer schweigsamen Ferne, der
Phantasie wunderbar sich vormalte, mit ihren Urwäldern und
mit ihren Prairien, mit der mysteriös sich dahin streckenden
Kette der Anden, und durch diese Regionen wandelnd die Er-
oberer und die neuen Gestalten der Wilden; diese Welt, mit
all ihrem Glanz, ergoss einen belebenden Hauch auf die alte
Welt. Es war wie ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens,
das sich der Bevölkerung Europas bemächtigte, als sie vernahm,
dass, jenseits des Oceans, wo die Seele bis dahin nur ein grauen-
volles Geheimnis ahnte, die Erde eine menschliche Familie trug.
Und der Zug der Zeit zeigt uns die selbstbewusste Haltung, mit
der man sich an die Eroberung des Unbekannten macht; kurz
nach Columbus entfaltet Vasco de Gama seine Segel dem Winde ;
Amerigo Vespucci, die Holländer, die Engländer folgen ebenfalls
nach und der flache Ocean ward mit fahrenden Karawanen
besäet.
Unterdessen ging Baco von Verulam, angeregt durch die
That des genuesischen Helden, darauf aus, eine Ars inveniendi,
die Methode des Erfindens, aufzufinden ; die Buchdruckerei leistete
den kühnen Ideen mächtige Hülfe, während das Schiesspulver
den geistigen Typus der Menschheit sublimierte, indem der
Schritt von der rohen Gewalt zur Strategie gemacht wurde.
Das politische und das sociale Leben nahmen einen neuen
Charakter an ; der Merkantilismus entstand an Stelle der Manu-
faktur und das Geld der Kolonien fing an, die Waren zu ver-
treten und sich als eigene Macht aufzurichten.
Spanien kulminierte über alles. — Seit dem Zusammen-
schmelzen der verschiedenen Staaten auf der Halbinsel zu einer
Monarchie hatten die Spanier sich mehr und mehr gewöhnt, sich
als Glieder einer grossen Nation, als durch gemeinsame Inter-
essen imd dieselbe hohe Bestimmung verbunden zu betrachten ;
und die glänzenden Erfolge dieses Gemeingeistes gaben ihrer
Ehrliebe und ihrem Patriotismus den höchsten Schwung. Stolzes
Bewusstsein und kühner Unternehmungsgeist erfüllten das ganze
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Volk. Der unruhige Sinn des Adels, der früher in Parteikämpfen
und inneren Zwisten getobt hatte, wandte seine Kampflust jetzt
dem Dienste des Vaterlandes zu. ^) Nach dem glorreichen Kampfe
um Granada war zwar die Bahn geschlossen, die dem kriege-
rischen Thatendrange im Innern des Landes offen gestanden
hatte ; zur nämlichen Zeit aber hatte sich demselben Triebe ein
ungleich grösseres Feld aufgethan. Die endlosen Zonen der
neuen Welt wurden die Schauplätze von Thaten, die in ihrer
beispiellosen Kühnheit alle Fiktionen der Ritterkühnheit zu über^
bieten schienen ; dorthin strömte die ritterliche Jugend, und die-
selbe Bahn des Ruhmes, die zu königlichem Glanz führen konnte,
«ahen, wie genug Beispiele zeigten, selbst Leute des geringsten
Standes vor sich geöffnet. Wurden nun die edleren Motive zu
den Thaten der unermüdlichen Conquistadores auch manigfach
durch niedere Triebfedern und Leidenschaften verdunkelt, so
führten diese Unternehmungen doch der castilianischen Krone
unermessliche Hülfsquellen zu, während sie den spanischen Namen
in den Augen von ganz Europa mit einer strahlenden Glorie
umgaben.
Schon unter der Regierung Ferdinands und der Isabella
war der Wohlstand und Reichtum des Landes in wunderwürdigem
Masse gestiegen, so dass sich, nach zuverlässigen Angaben, die
Kroneinkünfte am Schlüsse derselben auf eine dreissigmal höhere
Summe beliefen, als bei deren Beginn. *) Durch einen weit aus-
gedehnten Handel wuchs der Reichtum der Nation von Jahr zu
Jahr. Die Manufakturen und Fabriken Spaniens versorgten halb
Europa mit Wollen- und Seidenzeugen, mit kunstreich gefertigten
Waffen und Silberarbeiten ; in Sevilla allein waren um die Mitte
des 16. Jahrhunderts 130,000 Menschen, mehr als jetzt seine
ganze Bevölkenmg beträgt, mit Manufakturarbeiten beschäftigt; «)
') Sehr oharakteristisch ist ein Gesetz Ferdinand's IV., das die
Adeligen zum Lesen von Ritterromanen beim Mahle verpflichtet (Siehe
Partidas, Partida II, Tit. XXI, Ley XX).
*) Memorias de la Aoademia de la Historia, T. VI, Ilustr. 5. —
Presoott, History of the reign of Ferdinand and Isabella^ T. III, pag. 484.
*) Garapomäoes, Discurso sobre la Eduoation populär de los Arte-
•anos, T. II, p. 472. — Bernardo Ward, Proyeoto economioo sobre la
poblacion de Espafia, T. II. o. 3. — L. Marineo, Cosas Memorables, Al-
calä 1589, pag. 11 und 19. — Navagiero, Yiaggio fatto in Spagna et in
Franoia (Vinegia 1668) fol. 26 und 85.
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— 6 —
und über tausend Kauffahrteischiffe führten diese Erzeugnisse
der Industrie nach allen Richtungen der Erde hin aus. Ein
spanischer Agent oder Konsul fehlte auf keinem der bedeu-
tenderen Handelsplätze des mittelländischen und der nordischen
Meere. *)
Infolge einer sorgfältigen Agrikultur war die Natur nicht
minder ergiebig an Produkten, als der menschliche Kunstfleiss;
alle Arten Getreide, Oel, Wein und Südfrüchte gediehen in
solcher Menge, dass sie nicht allein für die Bedürfnisse der
Landesbewohner ausreichten, sondern auch noch das Ausland
versorgen konnten. Und ebenso wie die Felder und Aecker in
ihren zahlreichen Weilern und Gehöften, zeugten der Glanz und
die Pracht der spanischen Städte von der Blüte der Nation^
deren Gemeingeist und Schönheitssinn sich in den grossartigen
öffentlichen Bauten, die hier zu den ehrwürdigen Monumenten
vergangener Zeit hinzukamen, unvergängliche Denkmale setzte.
Toledo, die alte Hauptstadt des Gothenreichs, mit dem Wunder-
bau ihrer Kathedrale und ihren gewaltigen, noch im jetzigen
Zustande des Verfalls Staunen erregenden Palästen ; Burgos, die
Wiege des Cid, mit seinen gothischen Zinnen und Türmen j das
reiche Barcelona, in dem Glanz seiner öffentlichen und Privat-
gebäude keiner der italienischen Städte weichend; das schöne
Valencia, auf seiner reizenden Huerta wie eine Königin auf
Rosen gebettet; Cordova, die alte Stadt der Chalifen, das goldene
Thor, durch das sich die Künste und der Luxus des Orients
über das Abendland ergossen hatten ; Granada, das Zauberschloss
der Romantik, das westliche Bagdad, mit der Glorie seines
Alhambra, Generalife und Albaycin, und seiner herrlichen Vega,
von eisbekrönten Bergen eingefasst wie ein kostbarer Edelstein ;
Sevilla endlich, der Stapelplatz der amerikanischen Reichtümer,
die erste Handelsstadt in Europa, ihre Quais von Fremden aller
Nationen wimmelnd und unter der Wucht des Goldes seufzend,
ihr riesiger Dom, der grossartigste Tempel der Welt, mit dem
schlanken Turme der Giralda stolz über dem Spiegel de*
Quadalquivir emporragend — das waren die herrlichsten unter
den mannigfaltigen Zierden der schönen Halbinsel.
*) Campomänes, II., 140. — Pragmatioos del Regno, fol. 14ß* —
Turner, History of Eogland, Vol.' IV, p. 90.
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— 7 —
Zugleich nahmen die Künste der Architektur, Malerei und
Skulptur einen mächtigen Aufschwung ; zahlreiche junge Spanier,
deren einige auch in dar italienischen Kunstgeschichte genannt
werden, wanderten in die Werkstätten des Michel Angelo,
Leonardo und Raphael, um den dort erlernten neuen Kunststil
in ihre Heimat zu verpflanzen; und die Schulen von Valencia,
Sevilla und Toledo waren schon im 16. Jahrhundert reich an
trefflichen Meistern, welche die hohe und eigentümliche Blüte
der spanischen Kunst im Folgenden vorbereiteten.
Zu noch höherem Flor, der sogar die Blicke des Auslandes
auf sich zog, hatten sich Wissenschaft und Gelehrsamkeit ent-
faltet Vorzüglich war das Studium der klassischen Sprachen
und Litteraturen mit ungemeiner Regsamkeit gefördert und
ausser Italien hatte kein anderes Land mehr verdienstvolle
Gelehrte dieses Fachs aufzuweisen, als Spanien. Es genügt, die
Namen des Anas Barbosa, Nufiez de Guzman Vives, Olivario,
Johann imd Franz Vergara zu nennen. Der Ruf dieser Männer
war ein europäischer und ihre Verdienste um die Altertums-
wissenschaften allein rechtfertigte den Anspruch des Erasmus,
der Zustand der Gelehrsamkeit und der Studien in Spanien sei
ein so blühender, dass es den kultiviertesten Nationen in Europa
Bewunderung einflössen und zum Vorbilde dienen könne. *) Die
Universitäten von Salamanca, Alcald, Sevilla, Toledo und
Granada wimmelten von lernbegierigen Jünglingen, die der
weitverbreitete Ruf dieser Anstalten nicht allein aus allen Pro-
vinzen Spaniens, sondern auch aus Italien, Deutschland und den
Niederlanden herbeizog. Salamanca allein zählte siebentausend
Studenten, Alcald kaum weniger. Die mächtig erwachte wissen-
schaftliche Begeisterung riss sogar das andere Geschlecht mit
sich fort; und an mehreren der genannten Hochschulen waren
wichtige Lehrstellen von Weibern besetzt.*) Dass neben den
') Ad Franoiscum Vergaram (1527): Hispania vestra quam semper
et regionis amoeuitate fertilitateque, semper ingeniorum eminentium ubere
proventu, semper bellioa laude floruerit, quid desiderari poterat ad summam
felicitatem, nisi ut studiorum et cruditionis adjungeret Ornament a,
quibus aspirante Deo pancis annis sie effloruit, ut osBteris regionibut
quamlibet hoo deoorum genere, prsdcellentibus vel invidiae quse esset Tel
exemplo. — Erasmi epistolse, pag. 977; ancl. pag. 755.
') Memorias de la Aoademis de Historia, T. VI, Ilustr. 16. — Lam-
pillas, Litteratura Spagnuola, T. II, p. 882 ff., 192 ff. — Marineo, Coeas
memorables, fol. 11. — Semanario orudito, T. XYIII.
Digitizpd by V'OOQlC
— 8 —
klassischen auch die andern Studien mit Erfolg kultiviert wurden,
kann für die Geschichte der Name des Mendoza, für die Juris-
prudenz der des Mantalos beweisen. Um die grosse Anzahl von
Werken, die in allen Bereichen der Litteratur hervorgebracht
wurden, in*s Publikum zu bringen, war die Buchdruckerkunst
ungemein thätig, und Spanien zählte im XVI. Jahrhundert mehr
Pressen als gegenwärtig ^
Um den Ausgang des XVI. Jahrhunderts — gerade in der
Zbit, in die unsere Besprechung fällt — beginnt nun freilich das
glänzende Bild der spanischen Volkswohlfahrt, welches die Re-
gierungen der Isabella und Karls Y. darboten, sich in mancher
Hinsicht zu trüben. Philipp II. war der erste in jener langen
Reihe von Monarchen, welche durch ein engherziges und ver-
kehrtes Regierungssystem das Wohl ihres Reiches imtergruben.
Seine unersättliche Herrschsucht lies ihn in dem Verlust eines
der köstlichsten Edelsteine seiner Krone und in dem Untergang
der Armada schon Vorspiele künftiger, noch tieferer Demütigungen
der spanischen Grösse erblicken. Im Innern zertrümmerte er
mit der Aragonischen Verfassung die letzten Reste bürgerlicher
Freiheit. Das Werk der Unterdrückung und Entmächtigung,
das sein unbeugsamer Willenstrotz begonnen hatte, wurde durch
die Ohnmacht seiner Nachfolger, willenloser Spielbälle in den
Händen treuloser Günstlinge, noch wirksamer gefördert. Die
Verderblichkeit dieses Herrschsystems ist oft und mit den
grellsten Farben geschildert worden, und seine zerstörenden Ein-
flüsse liegen in dem späteren Ruin des Landes zu offen am Tage,
als dass es sich irgend beschönigen liesse; aber man darf wohl
vor der Uebertreibung in jenen Darstellungen warnen. Despo-
tismus und Gewaltmissbrauch waren in jener Zeit die Seele der
ganzen europäischen Politik, und es kann noch gezweifelt wer-
den, ob sich die Wagschale des Uebels entschieden auf die
Seite von Spanien neige. Die so ohne Weiteres angenommene
Meinung, dass dies in überwiegendem Masse der Fall sei, schreibt
sich aus einer Periode her, als die meisten europäischen Mächte
die spanischen Monarchen mit neidischem und feindseligem Auge
ansahen, und trägt schon hierin die Warnung zur Schau, sie
') Glemenoin, Blogio de la Regna Isabel. — Mendez, Typografia
Espaflola, p. 36 ff.
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— 9 —
wenigstens nicht ohne sorgfältige Prüfung anzunehmen. Ohne
hier auf eine solche eingehen zu können, dürfen wir indessen
so viel mit Bestimmtheit aussprechen, dass man sich von dem
Despotismus der spanischen Monarchen aus dem Habsburgischen
Hause und dessen Wirkungen einen ganz falschen Begriflf macht,
wenn man glaubt, er habe den Staat sofort von der Höhe der
Macht und des Glanzes herabgestürzt, alle Kraft der Nation ge-
brochen, alles Selbstgefühl und allen Unabhängigkeitssinn in ihr
erstickt und sie zu einer Herde zitt ender Sklaven herabgewür-
digt. So leicht war das gewaltigste Staatsgebäude in Europa
nicht zu zertrümmern, so leicht die Energie eines der edelsten
Völker der Welt nicht zu überwältigen. Wie sehr auch eine
verwerfliche, aus Tyrannei und Erbärmlichkeit gemischte Re-
gierungsweise das Staatswohl in seinen Fundamenten unter-
graben, den Gewerbfleiss im Innern lähmen und den Einfluss
nach Aussen verringern mochte, Spanien behauptete sich doch
noch während des ganzen XVH. Jahrhunderts als eine Macht
ersten Ranges, und fuhr fort, ein bedeutendes Gewicht in den
europäischen Angelegenheiten zu üben. Die verkehrtesten Mass-
regeln der Regierenden waren unvermögend, den mächtigen Im-
puls aus früherer Zeit ganz zu hemmen und das Reifen der
Früchte, deren Saat unter einem besseren System ausgestreut
worden war, zu hindern. So blieb auch das Nationalbewusstsein
dasselbe, was es war; die grosse Vergangenheit warf einen
blendenden Schimmer auf die Gegenwart, der über den heran-
nahenden Verfall täuschte. Frei und kühn trug der Spanier
nach wie vor das Haupt, ungebeugt durch den Druck der Um-
stände; noch war der edle castilianische Stolz, noch das Be-
wusstsein von dem hohen Berufe seines Volkes in ihm nicht
erloschen; und die spanische Geschichte des XVII. Jahrhunderts
ist noch reich an Zügen eines edlen und unabhängigen Sinnes,
die dem nicht entgehen werden, der nur auf sie achten will.
Die grösste geistige Herrlichkeit ist nicht notwendig an die Zeit
des grössten materiellen Wohls gebunden; sie kann, wie auch
andere Beispiele zeigen, dessen Verfall überleben, oder als Nach-
blüte auf dessen Trünunern gedeihen. So scheint sich in Spanien
die Federkraft des Geistes im Konflikt mit dem äusseren Druck
nur gestählt und zu höherem Schwünge gekräftigt zu haben.
Wenn Kunst und Litteratur als treue Spiegelbilder des geistigen
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— 10 —
Gehalts einer Nation gelten können und dieses wieder den
höchsten Massstab ^gibt, um deren höhere oder geringere Bifite
zu beurteilen, so muss der Zeitraum von den letzten Decennien
des XVI. bis zu denen des XVII. Jahrhunderts für die reichste
und glänzendste Periode des spanischen Lebens gehalten werden.
Die Regierungen der drei Philippe umfassen das eigentlich gol-
dene Zeitalter der spanischen Litteratur, vor allem der Poesie;
demi was bedeuten die einzelnen, wenn auch schätzbaren Lei-
stungen der früheren Jahre gegen die fast unübersehbare Menge
trefflicher Werke, die zwischen den Meisterstücken des Cer-
vantes und Calderon liegen?^)
Der Absolutismus in Spanien, b^vor er seit Philipp IL in
eine anmassende Vergötterung der Königsperson und der Königs-
rechte ausartete, wird von der Geschichte bis zu einem gewissen
Grade gerechtfertigt. Das Reich war ja hauptsächlich durch
das Bemühen und die Verdienste seiner Könige entstanden und
der Scharfblick imd die Grossmut derselben hatten jene Er-
oberungen eingeleitet und jene Vorteile im politischen Leben
errungen, welche erst das Land zu seiner vollsten Blüte und
zum Höhepunkt der Macht gebracht. Als die politische Situation
imd der scharfe Antagonismus in Sachen des Glaubens die Ent-
fernung der Mauren und Juden aus dem Reiche notwendig
machte, sah sich der Bauer und noch mehr der Kaufmann einer
tüchtigen Stütze beraubt; er fand sich ebenfalls in der Lage,
die Regierung um Schutz und Hilfe anzuhalten. So wurde die
herrliche Entfaltung des Handels ganz ursprünglich zu einem
königlichen Regal, der Mercantilismus ging schon bei seinem
Entstehen in den landesfürstlichen Protektionismus über, mit
dem er jetzt in der That identifiziert wurde. Auf diese Weise
waren es die Umstände, welche die finanzielle Gewalt in den
Händen der Regierung konzentrierte ; der despotische Charakter,
den diese annahm, war eine natürliche Folge dieser bevorzugten
Stellung, und die Geschichte hätte jenen Despotismus gutge-
heissen, wäre er in deh Schranken der Gerechtigkeit und Mensch-
lichkeit geblieben. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir meinen,
dies sei auch in jenen Zeiten gefühlt und verstanden worden,
wie wir in der Litteratur vornehmlich an der starken Betonung
*) AUS dem citierten Werke von Sohaok's, B. IL, S. 4 ff.
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— 11 —
des autoritätischen Prinzips in einer oft auffallenden Weise er-
sehen können. Vor Allem sehen wir die nationale Volksromanze
eine Veränderung durchmachen, die uns einen genauen Grad-
messer der nationalen Stimmung bietet; das Lied des Cid, dieses
echt spanische Lied, die urtypische, alle Oharakterzüge des
Volkes wiedergebende Erzählung, scheint sich am besten dazu
zu eignen, das momentan herrschende Gefühl im Leben der
Nation anzugeben. So wie in den Anfängen der spanischen Un-
abhängigkeit der Kampf gegen die Mauren auf Schritt und
Tritt jedem Spanier das Schwert in die Hand drückte imd dessen
Erfolg auch von der persönlichen Tapferkeit abhängig war, er-
scheint in jener Zeit der Cid, als Träger des Volksbewusstseins,
als ^ein trotzig kühner, auf seine Rechte eifersüchtiger Hidalgo,
der seinem natürlichen Lebensherm die Achtung und Treue zollt,
die ihm vermöge dieses Verbandes gebührt; sich selbst aber
nichts vergibt, die Ehre höher haltend als Gut und Gunst^ und
fühlt er sich darin gekränkt oder ungerecht behandelt, so löst
er den Verband und kündigt Treue und Lehen; denn Alles,
was er hat, gewann er in Schlachten, gefochten mit seiner
Lanze und unter seinem Panier."^) Später, unter der Herrschaft
des Despotismus, stellt sich der Cid „mit der Auszeichnung der
Unterwürfigkeit dar, als der treue Diener seines Herrn, und
hochgeehrt durch Verbindung mit königlichen Geschlechtem; er ist
der zahme, galante Hofritter, der sentimental-witzige Concetti
macht, viel spricht und wenig thut."*) Wer aber glauben würde,
dieses Gefühl der Unterwürfigkeit, mehr als das Resultat der
Ueberlegung, sei der Ausdruck der Niedergeschlagenheit und
Furcht vor der waltenden Regierung, der würde sich sehr
täuschen; allerdings, irgend ein Personalinteresse, das Streben
nach einem Amte oder einer Belohnung werden auch in manchem
Falle die Phantasie des Litteraten bei der Umänderung dieser
Nationalromanze beeinflusst haben; wenn man jedoch findet,
dass nicht selten neben dieser Hochschätzung der königlichen
Autorität, offene und direkte Mahnungen und Vorwürfe an den
Regenten vorkommen, wie es zum Beispiel bei Calderon und
*) Ferd. Wolf, Studien zur Gesohiohte der spanisohen und portu-
giesischen Litteratur. Leipzig 1858.
•) Cit. Werk von Wolf.
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— 12 —
Cervantes der Fall ist,^ so kann man durchaus nicht annehmen,
dass jene Ehrerbietung blosse Speichelleckerei sei. Wie streng
auch die Presse beaufsichtigt sein mochte, der Spanier war zu
edel und zu stolz, um sich im freien Ausdruck seiner Gefühle
Schranken setzen zu lassen; es ist wirklich auffallend, mit
welcher würdevollen Selbständigkeit sogar auf der Bühne der
Regierung und dem Könige Belehrungen gegeben und Vor-
stellungen gemacht werden. Als sogar die Mauren vertrieben
wurden, was in politischen Kreisen für einen endgültigen Tri-
umph der Nation über den gefährlichen Feind betrachtet wurde,
gab es Männer, welche diese Vertreibung offen missbilligten,
wegen der Schäden, die daraus vorzüglich der Agrikultur er-
wuchsen. ^) Auch schienen viele der zahlreichen Ritterromane,
die in jener Zeit verfasst wurden, mit ihrem scharf hervor-
tretenden individualistischen Charakter, die Macht der Persön-
lichkeit als Kontrast oder Protestation der geschlossenen Macht
der Regierung gegenüber zu stellen. Da aber bei allen diesen
Versuchen, sowohl bei den Schreibern, wie auch bei den Lesern
hauptsächlich die Phantasie zur Geltung kam und nur die Er-
regung der Phantasie im Auge gehalten wurde, entstand bei
der Unmenge derartiger litterarischen Produkte, die damals her-
vorgebracht wurden, allenthalben eine krankhafte Schwärmerei,
die einige Spuren sogar in den besten Werken jener Zeit, in
zahllosen Liebesabenteuern palladinischer Art, zurückgelassen
haben.
Der mährenhafte Charakter dieser Fictionen, die Fülle der
fabelhaften Begebenheiten, die sie darstellten, gaben dem Hange
zum Wunderbaren, der durch die abenteuerlichen Kriege mit
den Mauren und durch die Erlebnisse in der neuen Welt mächtig
in der ganzen Nation angeregt war, erwünschte Nahrung. Der
Reichtum an phantastischen Erfindungen, der uns noch heute
in den bessern dieser Romane Erstaunen abnötigt, der blen-
dende Glanz der Maschinerie in ihren prächtigen, von Gold und
Edelsteinen funkelnden Palästen, ihren schwimmenden Inseln,
geflügelten Rossen, magischen Ringen, gefeiten Waffen und ver-
') So Bohrieb Gines Perez : yFinalmente los moriscos fueron saoadoB
de 8U8 tierras, 7 fuera mejor qua no se ies sacara, por lo muoho que han
perdido de ello su Majestad y todoB aus reines/ S. Wolf, e. W. S. 836.
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— 13 —
zauberten Schlössern, ihren Feen, Riesen und Zwergen, hätte
selbst eine nüchternere Phantasie als die spanische mit sich fort-
reissen können. Die übertriebene Sucht nach dem Wunderbaren,
ausserhalb aller Natur liegenden, das Hohle und Geschraubte in
den Affekten, der Wirrwarr in Geographie und Geschichte, die
Weitschweifigkeit der Wortfülle in der Darstellung, diese Schatten-
seiten der ganzen Gattung, welche das Verdammungsurteil Ein-
sichtsvoller auf dieselbe lenkten, wurden von dem grösseren
Publikum übersehen, das ihr bis in den Anfang des XVIL Jahr-
hunderts seine Neigung in hohem Grade zuwandte.^)
Auch hier können wir in der Litteratur das Bild der so-
cialen Stimmung deutlich vor uns sehen: es herrscht allgemein
ein sociales Fieber, eine Meinungs- und Gefühlsverworrenheit,
eine unbestimmbare, noch gezügelte, aber schon starke Strömimg
nach Neuerung mit einem sonderbaren Gefühl der Beklemmung.
Die Situation richtig erkannt zu haben, ist das Verdienst
des Cervantes^ und auch die Erklärung seiner Bedeutung und
seines JRuhmes. Cervantes hatte die Intuition seiner Zeit und
ist deswegen der Bahnbrecher einer glänzenden Epoche gewesen,
welche noch lange dem Verfalle widerstand, den die engherzige
Politik nun schon angefangen hatte. Er muss sich klar gelegt
haben, dass nicht die Regierung, sondern nur die Gesellschaft die
Gefahr abwenden konnte, die der Nation nahte, zumal sich
die Regierung nichts sagen liess, und dass nicht so sehr die
Regierung, sondern ebenfalls die Gesellschaft für die Geschicke
der Nation in letzter Instanz entscheidend ist. Und auch die
Art und Weise, wie man bis dahin auf die Gesellschaft einzu-
wirken gesucht hatte, erkannte er als unrichtig ; jene Mahnungs-
worte, welche die Litteratur ihr zuwandte, klangen mit dem
gleichen Ton, an dem die Gesellschaft sich gewöhnt hatte und
hatten die gleiche Farbe, wie sie; sie wurden daher entweder
nicht verstanden, oder gar nicht beachtet. Cervantes erkannte
wohl die Risse, welche da in der politischen Situation erschienen
und erblickte die Kluft, die sich in der Zukunft vor der Nation
drohend aufthat. Ein ungemein bewegtes und wechselvolles
Leben hatte ihm durch die verschiedenartigsten Erfahrungen
die Ueberzeugung beigebracht, dass der Mensch nur dann wirk-
») C. W. von Sohaok's, II. B., S. 27 ff.
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— 14 -
lieh gross ist, wenn er natürlich ist; die Einfachheit und Be-
scheidenheit seien die natürlichen Folgen der bewussten geistigen
Kraft, denn sie bezeugen das richtige Walten der Vernunft und
die innere Zufriedenheit, die in sich sein eigenes Qlück ein-
schliesst, während der Porop und übermässige AufifäUigkeit
das Vorherrschen der Phantasie auf Kosten der Vernunft, das
heisst die Folge einer trügerischen Einbildung bedeuten. Diese
Schlussfolgerung konnte im Munde keines Menschen mehr über-
raschen und wirksamer sein, als im Munde des Cervantes, denn er
wie kein anderer hatte alle Wechselßllle des Lebens erlebt und
Glück und Unglück desselben in allen Stufen der socialen Glie-
derung angesehen. Die Wirkung war daher ungeheuer, als er
der schwärmenden und träumenden Phantasie ihr eigenes Bild
mit allen LichteflFekten vorführte und danmter die Worte nieder-
schrieb: Vanitas vanitatum et orania vanitasi Die Gesellschaft,
an die er sich gewandt, fühlte die Berührung der Realität und
musste daran Wohlgefallen empfinden, denn noch nie hat ein
Schriftsteller einen solchen Erfolg gehabt, wie Cervantes.') Man
kann ohne Uebertreibung sagen, Cervantes' Werk (wir reden
von seinem Hauptwerk Don Quijote) sei ein politisches Ereignis
gewesen; die Erfrischung, die Heilwirkung, die ihm folgte, lässt
sich nur mit der Wirkung vergleichen, die ein errungener Sieg
auf eine ermüdete Armee ausübt. Wie Cervantes die Intuition
der Sachlage und der socialen Situation hatte, so musste ihm
die Gesellschaft mit Verständnis entgegenkommen; die Masse
verstand ihn und so brach jene Epoche an, die mit vollem
Recht die geistig goldene der spanischen Litteratur genannt wird.
Der höchste Glanz dieser glorreichen Epoche ist Calderon.
Dieser Dichter hat es verstanden, die bezaubernde Anmut einer
höchst melodischen Poesie mit der Kraft der tiefsinnigen Philo-
sophie zu vereinigen; er hat der zarten und abgerundeten Form
den Geist des lebendigen Gedankens eingeflösst. Calderon ist
nicht nur einer der gewandesten Meister des Ausdrucks, sondern
*) Naoh der Angabe der Aoa4emia espahola erlebte das Werk
Don Quijote bis im Jahre 1657, 400 AuFgabeD in s) aniRcher Sprache,
200 enwlisolie Ut-bcrsetzungen, 168 französische, 96 eiglische, 80 portu-
giesische, 70 deutsche, 18 schwedische, 8 polnische, 6 dänische, 2 russische
ur.d 1 lateinische. Das Werk wurde i604 angefangen und mit längerer
Unterbrechimg 1615, kurz vor dem Tode des Cervantes, yullendet.
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— 15 —
auch einer der tiefsten und konsequentesten Denker, und seine
Schöpfung ist eines der prachtvollsten und wertvollsten Produkte
des Menschengeistes überhaupt. Dies müssen wir feststellen,
obwohl wir nicht jene blinde Begeisterung teilen, die in so
schwungvollen Worten einer der grössten Litteraturkenner unseres
Jahrhunderts, A. W. von Schlegel, zum Ausdruck gebracht, i)
Es scheint uns, diese Vergötterung des Dichters, wonach dieser
allein in seiner wunderbaren Pracht da steht, wie ein grossartiges
Monument aus glänzenden Edelsteinen, die er aus fremden und
unerreichbaren Gegenden zusammengelesen , schade vielmehr
seinem wirklichen Ruhme und seinen Verdiensten, als eine ge-
rechte und massige Kritik. Denn diese allein vermag uns zu
überzeugen, dass er sich durch die Macht des eignen Genies
zur schwindelerregenden Höhe emporgeschwungen hat und
hindert, dass, um ihn zu gut zu verstehen, man ihn missver-
stehe und in Widersprüche verwickle. Calderon's Verdienst be-
steht darin, dass er, mittelst einer Rechnung seines begnadeten
Verstandes, in sich gesammelt und zur Vollkommenheit gebracht
hat, was durch verschiedene Generationen an verschied(»nen Mo-
menten und Menschen zu Tage getreten. Calderon ist nicht so
originell, wie Cervantes und nicht so erfinderisch, wie Lope de
Vega; aber er erhebt sich über beide, indem er das zur höchsten
Abstraktion bringt, was jene nur erfasst, um mit einer meteo-
rischen Farbenpracht und den magischen Strahlen des Nordlichts
das umgibt, was jene in der idyllischen Schönheit einer süd-
lichen Landschaft zur Abendstunde oder unter dem Trillern und
Singen der Vög<»l in einem Urwald aufbauen. Und nicht nur
von diesen zwei höchsten hat Calderon geschöpft, sondern wir
könnten an der Hand seiner Werke selbst nachweisen, dass er
die ganze vorhergehende spanische Litteratur und zweifellos auch
die italienische beherrscht und sich beider bedient hat; von dieser
letztern hat er vor allem die Personifikation abstrakter Ideen,
wie sie so schön bei Dante sich findet (zum Beispiel Beatrice,
Virgil etc.) und das theologische und didaktische Colorit vieler
seiner Stücke übernommen. In der spanischen Litteratur fand
^ ') A. W. Schlegel, Yorlesungen über dramatisohe Kunst und Lit-
teratur, B. 3.
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— le-
er, ausser in Cervantes und Liope de Vega*), in allen bedeuten-
deren Schriftstellern Stoff für seine Dramen, die manchmal nur
eine Umarbeitung bereits vorgefundener scheinen. Das ist zum
Beispiel der Fall bei der Dama duendey da er selbst dies mit
den folgenden Worten eines anderen Stückes (Casa con dos
puertas) andeutet:
La dama duende sdra
Que bolver d vivir quiere.
(Es soll die Dama duende [Die Dame Kobold] sein, die
wieder zu leben verlangt, wahrscheinlich weil ein anderes Stück
ähnlichen Inhalts und Namens schon vorlag). Ausserdem ist das
Calderon'sche Stück Encanto ein encantOy wenigstens einem be-
deutenden Teile nach, aus dem Lustspiel Amor par senas von
Tirso de Molina, herausgearbeitet; einige Scenen von 'der La
devocion de la Cruz sind aus Mira de Mesena's Esclavo del
DemoniOj und andere von dem Magico prodigioso ebenfalls aus
Mesena's Ermitaho galan übernommen. Man erkennt sodann
im Oalderon'schen Stück En esta vida todo es verdad y todo
mentira die Einwirkung von Mesena's Rueda de la Fortuna,
und in Cabellos de Absalon Tiro's Venganza de Tamar. Ana-
loge Scenen mit einer in El mayor mostruo los zelos finden
sich in La prospera fortuna de Ruy Lopez de Avalos von
Damian Salustrio del Poyo und in Prudenda en la muger von
Tirso. Calderon's Peor estd que estaba ist fast nur eme Umge-
staltung eines gleichnamigen Stückes von Luis Alvarez, das im
Jahre 1630 gedruckt erschien, und Medico de su honra ist sehr
') Ein besonderes Kapitel dieser Sohrift wird den Zusammenhang
zwischen Cervantes und Calderon darstellen; welche Bewunderung nun
Lope de Yega Calderon eingeflösst habe, geht aus folgenden Versen
hervor :
Aunque la persecuoion
De la envidia teme el sabio,
No reoiba de ella agravio
Que es de serlo aprobaoion:
Los que mas presum^^n son,
Lope, ä los que envidias da!s,
I en SU presuncion veräs
Lo que tus glorias mereoen
Pues los que mas te engrdodecen
Son los que te envidian mas.
Obras sueltas des Lope de Vega, T. XII, p. XV.
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- 17 —
ähnlich mit Casarse por vengarae von Rojas. Das Stück No
hay burlos con el amor erinnert an Lope*s Melindres de Beiisa
und La nina de Oomez Arias an ein gleichnamiges Stück
von Guevara; Lope hat ebenfalls ein Stück betitelt El gran
Principe de Fez, mit welchem das gleichnamige Calderon'sche
grosse Analogien zeigt u. s. w.
Das Gesagte wird genügen, um die Calderon zukommende
Stellimg zu erfassen und seinen inneren Wert, wie die Trag-
weite imd Wichtigkeit seines Werkes im Folgenden besser be-
urteilen zu können. Wir gehen nun auf die Besprechimg des
grossen Dichters ohne Weiteres über.
Ortti, Die WeltanBohanung Calderons. S
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18 —
n.
Allgameina Bildung. — Speziell philosophische Bildung Calderon's.
Ein spanischer Gelehrter unserer Tage, Menendez Pelayo,
beurteilt die intellektuelle Bildung Calderon's in einer feinsinnigen
Arbeit, betitelt Calderon y su teatro^ folgendermassen : „Wenn
man sich, sagt er, nach einem Autor umsieht, der in sich die
ganze intellektuelle und poetische Grösse unseres goldenen Zeit-
alters einschliesse und vollende, wendet sich der Blick instinktiv
nach Pedro Calderon de la Barca und die Lippen sprechen seinen
Namen aus.^ Eine eingehende und aufmerksame Kritik von Oal-
derons Werken zeigt in der That, dass dieses Urteil nicht über-
trieben ist ; denn, obwohl Calderon, wie wir bald sehen werden,
die wissenschaftliche Bewegung, die um seine Zeit durch Europa
gieng, fast gänzlich übersah, so lag' der Grund hierin an den
speziellen Verhältnissen seines Landes, welches durchweg von
jener Bewegung nicht berührt wurde. Die politischen Fragen
hingen so innig mit den religiösen zusammen und die Renais-
sance zeigte eine so ausgesprochene antikirchliche Tendenz, dass
die Sorge der spanischen Regierung, dieser neuen Bestrebung des
menschlichen Geistes den Eingang in ihrem Lande zu versperren,
leicht begreiflich erscheint. Abgesehen von den persönlichen An-
schauungen der Monarchen und ihrem traditionellen religiösen
Geist, der jedoch bei einem lasterhaften und engherzigen Handeln
durchaus nicht ernst sein kann, lagen in der Nation selbst viel-
fach die Gründe, die von einer Lockerung des reUgiösen Ge-
fühls entschieden abrieten. Dieses Gefühl war es ja hauptsäch-
lich gewesen, welches den Spanier in seinem hartnäckigen, jahr-
hundertelangen Kampf mit den mohamedarüschen Mauren rmter-
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— 19 —
stützt hatte und so als einer der Grundpfeiler bei der Konstitu-
ierung der Nation aufrecht blieb; die Religion ebenfalls hatte
sie zum Wagnis der Entdeckung Amerikas angespornt und nicht
selten als Beschützerin des ganzen Abendlandes hingestellt,
wie bei Lepanto (7. Oktober 1671), wo Spanien in der That
Europa aus der äussersten Gefahr errettete. Aber ausser diesen
geschichtlichen Gründen kamen andere innerer rechtlicher Natur
in Betracht. Trotz des rebellisch beanlagten Gemüts des Spaniers,
der nicht gern einer andern obersten Autorität, als seinem eigenen
Willen, gehorchte, hatte ihm die lange Reihe von unvergleich-
lichen Verdiensten, welche seine Nation ihren Monarchen zu
verdanken hatte, doch schliesslich tiefe Dankbarkeit und Ehr-
furcht eingeflösst : eine lange und glorreiche Tradition hielt ihn
ÄU seinem Herrn gebunden und die Erweiterung der religiösen
Erkenntnisse hatte diesen Respekt vor der gesetzlichen Auto-
rität sanktioniert und befestigt. Es kam noch der Umstand
hinzu, dass, wie jene religiösen und antireligiösen Bestrebungen
immer politische Zwecke vorhatten, wie z. B. die Reformation
aeigte, und diese Ziele nicht selten direkt gegen Spanien,
welches den politischen Horizont beherrschte, gewendet
waren; so stand die spanische Nation ihnen im Voraus feind-
lich gegenüber. Das ist der Grund, warum Spanien so ent-
schieden und so kompakt gegen die erwachende Reaktion
auftrat und warum der Spanier darin eine Gefahr für sein
Vaterland erblickte und sie durch die Litteratur bekämpfte.
So blieb der Boden Spaniens für alles unzugänglich, was
in jenen Zeiten Richtiges und Unrichtiges hervorgebracht
wurde und deswegen ist es nicht übertrieben, zu meinen,
Calderon habe die Gesamtbildung seiner Nation in jener Zeit in
sich gesammelt, trotz seiner bedenklichen Unkenntnisse in man-
chem Wissenschaftsgebiete.
Jedoch würden wir Calderon wegen dieser Mängel nicht
für entschuldigt halten, wenn nicht auch seine persönliche Le-
benslage ihre Erklärung geben würde. Mit seiner Berufung an
den Hof (1637) war das Zeichen seiner geistigen Unfreiheit ge-
gegeben; und zwar musste er nicht nur den Druck der vor-
nehmen Umgebung, die ihn zu sich emporgehoben, empfinden,
sondern sich auch bezüglich der Zeit und des Stoffes seiner Kom-
positionen ihr zur Verfügung stellen : nicht wenige seiner Stücke
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— 20 —
sind auf direkte Bestellung hin gemacht. Dazu kam noch der
Umstand, dass sein Aussichts- und Beobachtungsfeld durch die
Sitte noch mehr beschränkt wurde, nach welcher nicht alle
Klassen der Gesellschaft, sondern nur die vemehmeren Stände
zu den Hof-Theatern Zutritt hatten, so dass der Dichter, schon
der dramatischen Wirkung wegen, die Entwicklung und den
Inhalt des Stückes diesem auserwählten Publikum anzupassen
genötigt war. Dieser äussere Zwang lässt sich deutlich an vielen -
der Calderonschen Stücke beobachten, welche zu sehr die Hand
des Dichters zeigen, der die Aktion und die Personen willkürUch
und unzusammenhängend bewegt. Oft ist die gewählte Aus-
drucksweise, die philosophische Affektierung des Stils und
die spekulative Form des Dialogs offenbar nur eine Folge
der persönlichen gestachelten Eitelkeit des Dichters, der seine
eigenen Kenntnisse zur Geltung bringen will; sowie zweifellos
nuincher von den groben Fehlem, die in seinen Werken vor-
kommen, der Hast zuzuschreiben sind, mit der er oft arbeiten
musste. Wir müssen daher die Verstösse gegen die Wissenschaft
nicht selten aus diesen Ursachen erklären, gleich wie bei
Shakespeare gethan wurde, und nicht sofort uns von der Auf-
fälligkeit des Irrtums überraschen lassen; Calderon's Zuhörer-
schaft, obwohl aus den gebildetsten Männern seiner Zeit be-
stehend, war keineswegs in jedem AugenbUcke mit ihrer Eru-
dition bei der Hand, um die Kunst nach den genauen Gesetzen
der Gelehrsamkeit zu beurteilen. Jene Männer entbehrten auch
vieler Kenntnisse, die uns heute ganz geläufig sind, besassen
aber dafür ein grösseres Verständnis und ein natürliches Gefühl
des Grossen; sie setzten sich gerne über die historische Ge-
nauigkeit hinweg, wenn der Dichter dadurch besser in die Lage
versetzt wurde, den Effekt seiner dramatischen Kombinationen
und den Plan seines Stückes zur Geltung zu bringen. Der Dichter
seinerseits verlangte für sich diese Freiheit und es wird aus ver-
schiedenen Stellen seiner Werke ersichtlich, dass wirklich jene
Ungenauigkeiten oft absichtlich und ganz nach Berechnung ein-
geflocht^i wurden, um die Gesamtwirkung des Stückes nach
einer bestimmten Richtung hin zu lenken. Das sehen wir be-
sooders bei den komischen Partien geschehen, wie es z. B.
in jenen Verse» in Los dos amantes del Cielo der Fall ist:
Un Fridle .... mas no es bueno
Porque anu no hay en Roma Frailes.
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— 21 —
Unter Beachtung dieser Umstände müssen wir solche groben
Irrtümer beurteilen, wie wenn der Dichter in En esta vida todo
es verdad y todo es mentira^ redend von der Zeit des Byzan-
tinischen Kaisers Phokas (7. Jahrhundert), das Schiesspulver
erwähnt :
Ultima razon da Reyes
Son la polvora y las balas.
In einem andern Stück, La Virgen del SalgrariOj sagt
ein Bischof ebenfalls des siebenten Jahrhunderts:
Africa, Amerika y Asia
Son las tres de que no tengo
Necesidad; Erodoto
Las deserive con su ingenio,
wonach Herodot eine Beschreibung von Amerika gemacht haben
soll. Im gleichen Stück wird Konstantinopel in der Weise er-
wähnt, als wäre es schon zur Zeit, als die Araber Spanien er-
oberten, in den Händen der Ungläubigen gewesen. Was jedoch
die geographischen Fehler betrifft, deren in den Werken Cal-
derons noch mehrere vorkommen, müssen wir sie entschieden
auf die mangelhaften Kenntnisse, die in jener Zeit in Spanien
auf diesem Gebiete herrschten, zurückführen ; einige Weltkarten,
die sich auf der Lonja und in der Columbinischen Bibliothek in
Sevilla befinden, geben uns eine Idee von den fabelhaften Vor-
stellungen, die man damals über ferne Gegenden, besonders des
Nordens, hatte. Da steht Calderon nicht über dem kulturellen
Niveau seines Landes und wenn die Verhältnisse, die wir oben
erwähnten, derartige Unkenntnisse nicht erklären würden,
könnten wir ihn nicht für entschuldigt halten, zumal sein Geist
von universeller Beanlagung getragen war.
Wir haben, um uns ein möglichst richtiges Urteil über
die Bildung des spanischen Dichters machen zu können, als
geraten erachtet, von allen mehr oder weniger hypothetischen
Meinimgen der Commentatoren absehend, selber in seinen zahl-
reichen Werken zu forschen und dieselben einem aufmerksamen
Studium zu unterwerfen. Dabei benützten wir, was Calderons
schönste Schöpfungen, nämlich die Atäos sacramentales, anbe-
trifft, eine spanische Ausgabe, die in Madrid im Jahre 1769,
Oficina de la Viuda de Don Manuel Fernandez, versehen
mit einer Vorrede, die aus Calderons Feder stammt, erschienen
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ist. Für die Dramen bedienten wir uns einer Leipziger Ausgabe
vom Jahre 1827 (herausgegeben von J. Jorge Keil). Diese
Ausgabe giebt die bekannte Biographie Calderons von D. Juan
de Vera Tasis y Villaroel, einem Schüler des grossen Dichters-
Calderon zeigt in seinen Stücken eine grosse Vorliebe zur
Personifikation ; sein tiefer und forschender Verstand suchte bei
den mannigfaltigen Erscheinungen, die das Leben bietet, besonders
in denen, die aus den Handlungen des Menschen sich ergeben,
nicht die unmittelbaren Beweggründe zu ermitteln, welche
jene Handlungen veranlassen, sondern das Gesetz des ganzen
Wechselspiels des menschlichen Herzens und Willens und
machte sich ein ganzes System von allgemeinen BegriflFen, wie
Glaube, Liebe, Vernunft etc., durch deren Einwirken der Mensch
angetrieben wird. Mit seinem riesigen Scharfsinn berechnete er
die Kollisionen und Wechselwirkimgen dieser Begriffe unter sich
und indem er sie auf den Bühnen in den mannigfaltigsten Combi-
nationen einführte, zeigte er in einem mysteriösen Hintergrund,
getragen von unermesslichem Glanz und bereits umgeben mit
der Stille des Jenseits, die Bühne des menschlichen Herzens-
Diese Personifikation, deren Durchführung eine ungeheure Be-
rechnung erfordert und alles übertrifft, was in einer andern
Litteratur derartiges hervorgebra3ht worden ist, wendet der
Dichter auch in Fällen an, wo nur gewisse Kategorien der gei-
stigen Produktion des Menschen in Frage kommen, und so finden
wir bei ihm auf ähnliche Weise behandelt die Jurisprudenz, die
Medizin, die Philosophie etc. Wenn aus der Konsequenz, mit
der jene Wissenschaften in den Calderonschen Stücken sich aus-
nehmen, auf die Kenntnisse des Dichters in jenen Wissensge-
bieten geschlossen werden darf, so können wir annehmen, dass
er wenigstens deren Hauptideen richtig begriff; jedoch scheint,
uns dies zu wenige um von eigentlichem Wissen zu sprechen.
Auch sieht man klar, dass der Dichter hier durchaus innner-
halb der engen Grenzen der damaligen Wissenschaft steht: er
nennt z. B. Medizin, was eigentlich Biologie ist^) und Mathe-
matik die mathematische Physik. «) Für ihn ist noch, wie für
') Auto saoramental A Dios por razon de Estado.
^ Loa zu Ant. eacr. Andromeda y Pereeo, wo er die Spiegelung^
Reflexion eto., Mathematik nennt.
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— 23 —
Empedokles, der menschliche Leib ein Produkt der Elemente,
die sich in einem Gleichgewicht zusammengefunden haben;
diese Elemente sind Feuer, Luft, Erde, und Wasser, *) Diese Auf-
fassung mutet unseren Dichter sehr an, obwohl man nicht ganz
klar unterscheiden kann, ob er sie als philosophisch annehmbar,
oder bloss als für die Poesie ungemein passend findet. Er kommt
inmier wieder darauf zurück, als wolle er sich von der Rich-
tigkeit derselben überzeugen, als mache ihm sein Verstand Ein-
wendungen dagegen. Dasselbe wiederholt er, wenn er die Tiere
und die Natur aus dieser Mischung erklärt ; so sagt er im Df ama
En esta vtda todo es verdad y todo mentira: „Jenes Tier,
Erde der Leib, die Seele Feuer, Wasser der Schaum (der Saft)
und sein ganzes Wesen Wind.** Ein Pferd beschreibt er fol-
gendermassen : „Das Pferd, in dem ein kleines Bild des Uni-
versums zierlich sich abspiegelt, denn sein Leib ist aus Erde,
seine Seele aus Feuer, seine Säfte aus Wasser und sein Atem
aus Wind; in dieser Mischung bewundere ich einen Chaos, da
es, in seiner Seele, in seinem Schaum, Leib imd Atem, ein Un-
geheuer ist aus Feuer, Erde, Wasser, Wind.** *) So spricht er
von den Vögeln: „Ihr Vögel, fliegend in der Luft, seid bunte
belebte Blumensträusse, und ruhend auf den Bäumen seid ihr
redende Blumen.** «) Das Sinnbild dieses Kreislaufes in der Natur
ist der Phönix, „welcher Vogel, Flamme, Glut und Wurm, Urne,
Scheiterhaufen, Stimme und Brand im Feuer, entsteht, lebt,
dauert und vergeht.** *) Er macht sich sehr vertraut mit diesem
Gedanken, der ihm schliesslich sehr geeignet erscheint, die or-
ganische Entwicklung der Natur zu erklären. Ausgehend von
der Vorstellung des Mikrokosmus, findet er den Menschen, als
') A un tiempo, proouren
Agna, Tierra^ Fuego, Aire,
Que BUS esfuerzos tributen
Para una Naturaleza,
El fin ä que las oonduoe
Su Jumenso Criador.
Ant saor. La oura y la enfermedad. — Auoh A. s. A Dios por rason
de Estado.
*) La Vida es suefio.
•) Eco y Naroiso.
*) En esta vida todo es verdad y todo mentira.
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— 24 —
^vortrefflich dazu begabt, eine Welt im Kleinen zu sein, da er
in sich die Eigenschaften aller Wesen fasse.*' ^) Weiter führt er
aus : „Mit den^ Stein hat er die nämliche Ausdehnung, die kör-
perliche Wertigkeit gemein, mit der Pflanze teilt er das vege-
tative Leben, mit dem Tiere die freie Bewegimg und das „Le-
bensgefühl^, mit den höheren Intelligenzen hat er das Begreifen
und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, gemein. Und wenn ich
weiter gehe, so finde ich, dass er mit Gott selbst das gemein
hat, dass er ewig ist." Die Idee der Entwicklung hat keine
Analogie mit der Idee jenen evolutiven Zustandsändenmgen
durch Kondensation, die wir bei den alten Philosophen der mi-
lesischen Schule, vornehmlich bei Anaximenes, vorfinden, ebenso
wenig wie mit der Idee der biologischen Evolution Darwin's in
unseren Tagen. Bei Calderon idealisiert sich alles, indem es
eine allgemeine Bedeutung und einen allgemeinen Charakter an-
nimmt. Wir werden diese seine Idee an anderm Ort wieder
aufnehmen.
Im Menschen ist das Blut das erhaltende Element 2) und
das Herz das Centrum, das Königsorgan des ganzen Organismus,
indem es das Leben reguhert.^) „Das Herz ist das erste, das lebt,
und das letzte, welches stirbt," sagt er, „und regiert die Sirme
und die Potenzen":*) wenn man an Stelle von Potenzen Em-
pfindungscentren setzt, wird man in diesen Worten einen Satz
der modernen Physiologie finden. Noch wichtiger sind die an-
deren Worte: „Der Saft des Blutes, in unserer BeschaflFenheit,
tritt in Beziehung zur Luft," 5) womit der Blutkreislauf, den
Servet \md nach ihm Harvey entdeckten, angedeutet wird. Wir
wissen nicht, ob Calderon Kenntnis von jener Entdeckung er-
halten hat; seine Worte klingen so originell und geben auch
so wenig Auskunft über den eigentlichen Kreislauf des Blutes,
dass wir es sehr bezweifeln und meinen, das sei einer jener
genialen BHcke, die Calderons Vernunft in die Natur wirft: da
wir, um zu leben, atmen müssen, und das Blut der erhaltende
*) A. 8. Los alimentos del hombre.
') Loa zu A. 8. A Dios por razon de Estado.
') Loa zu A. 8. El santo rey Don Fernando.
*) Ebend.
^) El aire, en nuestra composicion, toca el humor de la sangre.
A. s. La cura 7 la enfermedad.
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— 25 —
Stoff des Körpers ist^ fiel ihm ein, dass das Blut den Nahrungs-
stoff aus der Luft ziehe. Ebenso interessant ist jene andere
Idee, womit er die Kant-Laplace'sche Theorie über die Entstehung
der Gestirne in Umrissen formuliert; er sagt im Drama Amado
y aborrecidOj Jornada III : „Unsere Gestirne sind eine zersplitterte
Sonne" : ^) ein um so bedeutsamer Gedanke, wenn man bedenkt,
wie wir bereits gesagt, dass Calderon von den wissenschaftlichen
Entdeckungen jener Zeit, von Copernicus, Kepler, Galilei, nichts
erfahren zu haben scheint. Es steht noch auf dem Boden der
Ptolomäischen Lehre, obwohl er es nirgends zu erkennen geben
will. Wir ersehen dies aus einer Stelle, in welcher er die Reise
der Sonne von Osten durch Norden nach Westen beschreibt, 2)
was nur möglich ist, wenn man mit Ptolomäus, das Feststehen
der Erde und die Drehung der Sonne um sie anninunt. Nach
dieser Ansicht erscheint Calderon Asien im Osten, Amerika im
Westen, Afrika im Norden und Europa im Süden. Es gelingt
ihm aber, von Jerusalem ausgehend und den Meridianen folgend,
mit ziemlicher Genauigkeit die Staaten der Erde zu bestimmen.^)
Was nun die philosophische Methode anbetrifft, so sehen
wir aus Calderons Werken, dass er vornehmUch die aristotelische
befolgt, die er gründlich kennt. Der Dichter ruft nicht selten,
nach Art der Scholastiker, Aristoteles als Autorität an und ent-
nimmt ihm Sätze, welche die Scholastik vor ihm bereits über-
nommen hatte, wie: Nihil vacuum in rerum natura.*) Auch
greift er, wenn er längere Auseinandersetzungen vermeiden will,
zum Begriff der Endursache, zur Gaicsa caiLsarum^ um die
Existenz Gottes zu beweisen ; *) durchweg wendet er die Formel
„Stoff und Form" für Substanz und Erscheinung auch an.^)
Auch andere griechische Philosophen scheint er zu kennen :
er nennt die Stoiker als die hervorragendsten unter ihnen. ^)
') Pues mestras luoes bellas
Niinoa soD mas
Que uü sol quebrado ä estrellas.
') A. 8. La nave del Mercader.
') Loa zu A. 8. El viatioo oordero.
*') Loa z. A. 8. A Dio8 por razon de Estado.
*) A. 8. A Dios por razon de Estado.
•) ü. a. A. 8. La nave del Mercader. — Loa z. A. 8. Psiquis y Cupido.
^) A. 8. A Dios por razon de Estado.
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— 26 —
Die sieben Weisen führt er ebenfalls einmal an: sie disputieren
über die Frage: „Was ist das Kleinste, welches das Qrösste
fcisst, und das Grösste und Kleinste gleichzeitig ist ?^ Die Ant-
worten sind sehr verschieden: einer entscheidet sich tür das
Gesicht, ein anderer für das Gehör, ein dritter für das Herz, ein
vierter für den Verstand, ein fünfter für den E^ristaU.*)
Es ist nicht sehr schwer zu erkennen, dass Calderon.alle
diese Anführungen nicht mit der ernsten Ueberlegung des Den-
kers, sondern bloss mit der Müsse und Gemütsruhe eines Spielers
vorbringt : manchmal gilt es, eilig einem Dispute zu vorzukonmien,
manchmal ist es angezeigt, mit billiger Mühe viele Kenntnisse
zur Schau zu bringen. So sagt er uns plötzlich, nachdem er in
den Autos anders und besser sich ausgedrückt hat, dass „Grott
das Universum aus dem Exemplar seiner Idee hervorbrachte. ***)
Das ist ein aus Plato übernommener Satz. In einem andern Stück
tritt der menschliche Verstand mit den Kennzeichen der grössten
Zahl auf, ^) was mit anderen Worten Protagoras Satz: jidncov
XQrjjLuircov fihQov ö.v'&Qconog übersetzt. Anderswo nennt er den Leib
„ein lebendiges gestimmtes Instrument, das innerhalb der Seele
geräuschlose Harmonie spielt**;*) die Pylihagoreer nannten die
Seele die Harmonie des Leibes, Mit allen diesen Anführungen
überrascht er uns und um dieser Ueberraschungen willen, die
er bei seinen Zuhörern hervorbringen will, hat er sie auch in
seinen Stücken eingeflochten. Bald bricht sich seine innere Idee,
die geheime Tendenz seiner Seele wieder Bahn und sein mäch-
tiger Geist schwebt wieder unabhängig und glanzvoll auf der
Bühne.
Im übrigen bewegt sich Calderon im Fahrwasser der Scho-
lastik. Wir lassen hier das Urteil folgen, das uns der verehrte
Rektor der Universität zu Salamanca, Herr Lozano, in
einem gütigen Brief vom 1. August 1895 gab, weil es von
Bedeutung ist, zumal es von einem gründlichen Kenner Calde-
rons kommt. Herr Lozano schreibt: „Alle diejenigen, die von
Calderon vom philosophischen Standpunkt aus geschrieben haben,
») Loi z. A. 8. Andromeda y Perseo.
•) El Purgatorio de S. Patrioio.
•) A. s. La divina Filotea.
*) A. 8. La nave äel Meroader.
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— 27 —
sind darin einig, Calderon habe sich zu sehr von den philoso-
phischen Strömungen, die damals in unserem Lande herrschten,
beeinflussen lassen — von jenen Strömungen, die durchaus
scholastisch waren. So sagt Menendez Pelayo in seiner Arbeit
über Calderon („Calderon y su teatro", die wir auch oben er-
wähnten): Zweifellos sehr hoch musste die Kultur des Volkes
sein, welches solche Schauspiele verstand,^) nicht nur wegen der
theologischen und philosophischen Anspielungen, die sich darin
vorfinden, sondern wegen der oft trockenen, immer didaktischen
Ausdrucksweise, besonders in den Zwiegesprächen, in denen oft
jedes poetische Kolorit schwindet und an dessen Stelle das kahle,
syllogistische Verfahren tritt . . . und die Form eine so derbe
und decidierte Gestaltung annimmt, wie in einer scholastischen
Argumentation.
Und nicht nur in der Form merkt man diesen scholastischen
Einfluss, sondern, wie der eben citierte Schriftsteller weiter sagt,
„stammte jene ungezügelte Neigung, alles Abstrakte zu personi-
fizieren, aus den vorherrschenden Einflüssen der scholastischen
Philosophie im XVI. Jahrhundert.**
Calderon steht unter der unmittelbaren Gewalt jenes Mannes,
der im Mittelalter die philosophische Sonne, der Adler der Spe-
kulation gewesen ist; wir meinen Thomas von Aquin. Dieser
Mann, dessen genialer Kunstgriff darin bestand, Aristoteles zu
christianisieren, der Geister wie Dante völlig beherrscht hat, und
heute noch mehr Adepten zählt als irgend ein anderer Philosoph,
als irgend ein anderes System — dieser Mann hat auch Calderon
für sich gewonnen. Der hl. Thomas ist für^ihn die Vollendung
jeder Philosophie; er, der wie ein Damm dagestanden, gegen
welchen die Wogen der beginnenden Renaissance anprallten und
der wie ein reissender Strom sich in jener Zeit den Weg bahnte, ist
für Calderon das vollkommenste Muster. Ihm nimmt er oft ganze
Ideen, ganze Diktionen, die ganze Art der Argumentation ab ; ')
i) Wir zeigten an anderer Stelle, dass Galderons Stücke nicht Tor
dem Volke, sondern im Hoftheater im Buen Retiro gespielt wurden und
verweisen dabei auf Schaok's Geschichte der spanischen dramatifiohem
Litteratur und Kunst, III. Bd. — Berlin 1846.
*) Da können wir keine besonderen Stellen angeben; die entnom-
menen Ideen schwimmen unbestimmt in den verschiedenen StUcken.
Man lese z. B. den A. s. A Dies por razon de Estado (»Die Güte, nicht
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— 28 —
Tomas dijo, ^) der Meister hat gesprochen, sagt er mit Ehrfurcht,
um eine schwierige Kontroverse zu entscheiden.
Mit der Patristik ist Oalderon ebenfalls vertraut; nicht selten
stützt er seine Aussagen, sofern sie in das theologische Gtebiet
hinübergreifen, mit dem Zeugnis eines Kirchenvaters ; so z. B. in
der Loa zu A. s. La lepra de Constantino, wo er den heiligen
Chrysostomus anführt; in anderen Autos nennt er den heiligen
Augustin, ^) den heiligen BasUius, ^) und führt andere Kirchen-
väter diskutierend an, obwohl nicht in den Fragen, die jeder in
seinen Werken erörtert.*)
Oalderon beherrschte die lateinische und die italienische
Sprache; er macht Andeutungen, als hätte er etwas griechisch
und hebräisch verstanden, aber sicher ist es nicht. ^) Er hatte
eine sehr genaue Kenntnis von der Geschichte der christUchen
Kirche und derjenigen seines Landes; er kannte sehr gut die
alte Mythologie und die romantischen Sagen von Spanien und
Italien, und überhaupt alle Gebiete, die auf eine dichterische
Thätigkeit Bezug haben. Denn vor allem war er Dichter und
nur wenn er in seiner dichterischen Begeisterung auftritt,
kann er der Fülle und Originalität seiner eigenen Gedanken
Ausdruck verleihen. Diese originellen Gedanken Oalderons haben
wir uns im folgenden bemüht zu sammeln, zu ordnen und als
ein Ganzes darzustellen. Oalderon hat selbständige Ideen genug,
um sich von den Fesseln der traditionellen Scholastik frei machen
zu können, und obwohl er jene Methode so eifrig befolgt, er-
zielte er damit nur jene geistige Gymnastik, die nur die Scho-
lastik zu geben vermochte. „Die Scholastik, sagt Oondorset,
verschärfte die Geister; jener Geschmack an den subtilen Unter-
scheidungen, jenes Bedürfnis, die Ideen ohne Unterlass zu zer-
mitgeteilt, ist unvollkommen* etc.); die Loa zu A. s. La nave del Mer-
oader und kurzweg alle Autos, in denen ein theologisohes Argument be-
handelt wird.
*) Loa zu A. s. El Pintor de su deshoura.
■) A. 8. Lo que va del hombre ä Dios.
•) A. s. Andromeda y Perseo.
*) A. 8. Las ordenes militares. — A. 8. El sacro Parnaso.
*) Er pflegt die Etymologie der Fremdwörter in diesen Sprachen
(Fines, Areopag, Moses etc.) zu erklären; so z. B. im A. S. A Dios por
raion de Estado. — A. b. El yiatioo oordero.
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— 29 -
setzen, deren flüchtige Nuancen aufzufangen, sie mit neuen
Wörtern zu repräsentieren; der ganze Apparat, der in^s Werk
gezogen wurde, um einen Gegner in dem Dispute in Verlegenheit
zu bringen, um seinen Fallstricken zu entgehen, war der Ur-
sprung jener philosophischen Analysis, die nachher die fruchtbare
Quelle unseres Portschrittes geworden ist." i) Calderon fühlt sich
nicht selten ob diesen Uebungen müde und erhebt den Bhck in
die freie Natur, in das von einfacher Wahrheit schimmernde Blau,
weit über die Wälder, über die Prairie, längs den spielenden
Bächen. Dann fühlt er in seinen innersten Pasem, wie eine
freudige und tiefe Melancholie, eine Wärme voll Geheimnis, einen
Ernst voll Kindlichkeit. Dann ist er ein Dichter-Philosoph, der
^bald mit der süssen Schwärmerei eines behaghch Träumenden,
bald mit dem erhabenen Ernste eines tiefsinnigen Mannes oder
Greises diese glühende Pracht des Tag- und Nachthimmels, wo
die Sterne unverwelkhche Blumen sind, diese von Farbe bren-
nenden, von Duft berauschenden Blüten, die vergänglichen
Sterne der Erde, die in Purpur getauchten Buchten, diese furcht-
bar-schönen Stürme zu belächeln, oder als Offenbarungen des
Höchsten zu belauschen." ^)
„Alle Erscheinungen der Welt, das Kleinste wie das Grösste,
das Lebende wie das Unbelebte, das Peme wie das Nahe, werden
von der heiligen Begeisterung des Dichters, welche in der Natur
das Abbild und den Schatten eines höheren Geistes feiert, zu
einem Blumenschmuck versammelt, in dessen Tauperlen sich die
ewige Schönheit des Jenseits spiegelt. Mit schwärmerischem
Naturgefühle wandelt Calderon umher in dem bunten Zauber-
garten der Schöpfung, wo ihm jede Blüte, die ihren Kelch sehn-
süchtig dem Lichte aufschhesst, der Gesang jedes Vogels, das
Rauschen jedes Blattes das ewige Mysterium der Liebe verkündigt.
Und so versetzt uns seine Dichtersprache mit dem Schmelz und
der Weichheit und zugleich der von innerer Glut leuchtenden
Kraft ihrer Bilder in eine südliche Landschaft, unter Palmen
imd Cypressenhaine, überwölbt von dem tiefen Blau eines ewig
reinen Himmels; Lauben von Rosen und Jasmin prangen im
ersten heiligen Schmucke des Frühlings, aus dem dunklen Grün
^) Esquisse des progr^s de Tesprit humain, 7^me ^poque.
') Friedrich Zimmermann bei Sohack's o. W. IIL Bd. S. 88.
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^^r
— 30 —
glänzen goldene Früchte hervor, im Hintergrunde aber wogt das
unendliche Meer und wiegt mit dem Steigen und Fallen seiner
Wellen den Geist in sehnsüchtige Träume ein.** ^)
Diese Worte geben ein treffliches Bild von Calderons Er-
scheinung; sie ist eine machtvolle Vereinigung der orientalischen
Phantasie und Gemütswärme mit der nüchternen abendländischen
Intelligenz. Wir haben da die schönste und merkwürdigste Ver-
einigung des idealistischen Sinnes, der hinter den mannigfachen
Komplexen der Erscheinungen immer neue Proportionen und
Figuren entdeckt und den Gedanken mit einer Fülle von Schlüssen
überrascht, und dem ruhigen und klaren Verständnis der gemeinen
Wirklichkeit, welches das Herz in die Labyrinthe der mensch-
lichen Natur einführt und ihm die schönen Felder der Liebe
entdeckt. Dicht neben dem strengen ascetischen Rigorismus
erscheint, obwohl selten in anstössigen Worten, die Pracht der
irdischen Herrlichkeit und neben der schmachtenden Sehnsucht
nach himmlischer Wahrheit nehmen wir das Interesse für die
Kleinigkeiten des Lebens wahr. Ebenso finden wir da, neben der
ursprünglichen Freiheit und Schöpfungskraft des Geistes, eine
berechnete Nachgiebigkeit gegen die momentanen Richtungen
der Zeit, eine verletzende Sophistik neben der schönsten Sprache
der Natur und Ausdrücke weltumfassender Anschauimg neben
der Anbequemimg an die BegrifiFe und Vorstellungen einer be-
bestimmten Menschenklasse.
Sein Geist ist einer der edelsten und vollendetsten, welche
die Menschheit aufzuweisen hat; er stellt sich dar wie ein nach
allen genauen Regeln der Mathematik aufgebauter Palast, aber
einer jener Feenpaläste der Mauren mit ihren gewundenen und
schlängelnden Arabesken, mit ihrer wunderbaren Farbenkompo-
sition und ihren vollen und phantastischen Formen, gesehen in
einer hellen Nacht des südlichen Himmels, wenn der Wind die
verborgene Melodie der trockenen Blätter hervorzaubert und
über die ferne Wüste den Ruf des Raubtieres hindehnt. Calderon
hat das Glück gehabt, das so wenigen grossen Männern gegönnt
wurde, ein steter und unsterblicher Gegenstand der Bewunderung
und der Nachahmung zu bleiben; und die immer grössere Be-
deutung, die er in der Weltlitteratur fortwährend annimmt, zeugt
») Friedrich Zimmermann bei Schaok's o. W. IIL B(L, S. 67.
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— 31 -
am besten für seine geistige Kraft. Wir haben ihn als Philosoph
darstellen wollen, und obwohl wir uns die grösste Mühe gegeben,
den Denker zu verstehen und zu interpretieren, sind wir weit
entfernt zu denken, dass es uns auch immer gelungen; vielmehr
beeilen wir ims die Befürchtung auszusprechen, dass imsere
Arbeit nicht nur ein Versuch, sondern ein schwacher und im-
genügender Versuch bleiben wird.
lieber Calderon scheinen ims die besten, ausser dem bereits
citierten Werke von Schack, folgende Schriften:
A. W. von Schlegel : Vorlesungen über dramatische Litte-
rfttiu" und Kunst, Bd. 3.
Valentin Schmidt (Wiener Jahrbücher der Litteratur 1822,
Bd. 17—19), der eine psychologische Studie über Calderon giebt.
Trench : Essay on the life and genius of Calderon, 2. Aufl.
London 1880.
Pastenrat: Calderon. Leipzig 1881.
Fastenrat: Calderon in Spanien.
Angel Lasso de la Vega : Estudio de las obras de Calderon
de la Barca, Madrid 1886. '
A. Morel-Patio: Revue critique des travaux d'örudition
publi^s en Espagne, Paris 1881.
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- 82
m.
Biographie. — CaJderons Weltanschauung.
Es ist nicht ohne ein gewisses Interesse, wenn man sieht^
wie die Menschheit gewisse Daten unbeachtet lässt, die ihr irgend
einen Vorteil gebracht haben, während sie das Datum einer
Söhlacht oder eines sonstigen Ereignisses, das ihr grosses Unheil
verursacht, niemals vergisst und in allen Geschichtsbtlchem mit
Aufmerksamkeit aufzeichnet. Was die Menschheit Gutes besitzt,
ist ihr von den Männern des Geistes erstritten worden; \md
gerade diese Männer werden bald in die Vergessenheit zurück-
gedrängt und bleiben der Mehrzahl der Menschen unbekannt.
Um von den Männern zu schweigen, die der Menschheit direkt
durch die Werke der Nächstenliebe gedient haben, wollen wir
nur einige Beispiele von solchen erwähnen, die ihr auf dem in-
direkten Wege der Wissenschaft Glück und Wohlfahrt brachten.
Lange hat man sich darum gestritten, wie Humboldt uns be-
richtet, ob Copemicus am 19. Pebmar 1473, wie McBstlin will,
oder am 12. Februar des gleichen Jahres geboren wurde. Das
Datum des Geburtstages von Christoph Columbus schwankte
lange in einem Zwischenräume von 19 Jahren; Ramusio setzt
es in das Jahr 1430 ; Bemaldes, sein persönlicher Freund, in das
Jahr 1436; der Geschichtsschreiber Muöoz in das Jahr 1446.
Kepler sch^3int nicht am 21. Dezember 1571 zu Weil, sondern
in einem Dorfe in Württemberg, zu Magstat, den 27. Dezember
1671 geboren worden zu sein.
AehnUch ist es auch Calderon ergangen. Gewöhnlich gab
man an, er sei im Jahre 1601, am ersten Tage des Jahres ge-
boren worden, imd mit dieser Aussage stimmt auch die Biographie
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— 33 —
Vera Tasis überein. Nun scheint es aber, auch den Forschungen
von Antonio de Iza Zamacola y Vilar und von J. E. Hartzen-
busch festzustehen, dass er am 19. Januar 1600 zu Madrid ge-
boren wurde^. Sein vollständiger Name lautet : Don Pepro Cal-
deron de la Barca Barreda, Gonzales de Henao, Ruiz de Blasco
y Rianno. Er war adelig und seine Mutter flammingischer
Herkunft.
Ueber diese Verwechslung der Daten vermögen wir uns
keine genügende Erklärung zu geben. Vielleicht liegt der Gnmd
hievon in der ungenauen Führung der amtlichen Register oder
in der Verwechslung des Datums des Geburts- mit demjenigen
des Tauftages. Letzteres erscheint noch plausibler, zumal damals
das piarramtliche Register bei Eintragung von Ehen und Taufen
die gleiche offizielle Gültigkeit hatte, wie das staatliche; und
da nicht immer die Taufe am Geburtstag geschah, so konnten
sich zwei Daten ergeben, die den Geschichtsschreiber leicht ver-
wirren konnten.
Calderon's Produktivität, obwohl lange nicht mit der des
Lope de Vega zu vergleichen, ist sehr gross und hat sich fast
ausschliesslich in der Poesie bethätigt. In Prosa verfasste er,
nach der Angabe von Vera Tasis, nur eine Abhandlung in Ver-
teidigung der Würde der Malerei und eine in Verteidigung des
Schauspieles; ebenso ein Schriftstück über den Einzug der Kö-
nigin Mutter. Leider ward der Ruhm, den Calderon durch seine
Werke sich erwarb, diesen Werken selbst verhängnisvoll ; denn
nicht selten wurden sie zu verschiedenen Anlässen zugerichtet
und den Launen der Kopisten und unbedeutender Dichter an-
heim gegeben. So erklären, sich die Verunstaltungen, die uns
manches seiner Stücke fast unkenntlich machen; vielleicht ist
auch manches Drama, dem sein Autor Ruhm verschaffen wollte,
uns unter Calderon's Namen zugekommen, das durchaus seines
Namens nicht würdig war. Vera Tasis gibt an, er habe mehr
als 120 Schauspiele (von denen nur 108 uns genau, zugekommen
sind), und mehr als 100 Autos sacramentales (von denen wir
nur 73 mit Sicherheit kennen), ausserdem noch mehr als 200
Loas (Vor- imd Zwischenspiele), 100 verschiedene Sonnette, eine
Abhandlung in Oktaven über die letzten Dinge, Lieder, Romancen
*) Siehe das schon oitierte Werk von Ferd. Wolf.
Ortiz, Die W«ltansohauuDg Calderons.
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— 34 —
etc. verfasst. Diese Angabe macht Calderon selbst in einera
Briefe vom 24. Juli 1680 an den Herzog von Veragna^ der im
„Theatro espannol de D. Vicente Garcia de la Huerta*', IL Teil,
in. Band wiedergegeben ist^). Die vollendetste Sammlung von
Calderon's We^:ken findet sich in der Bibliothek des Colejio Mayor
de Oviedo zu Salamanca. Die AtUos, religiös-moralische Stücke,
wurden dem deutschen Kaiser und dem französischen Könige
übersandt; ob im Original, wissen wir nicht.
Calderon muss eine idyllische, ungemein empfindliche und
zarte Seele besessen haben; schon bei den ersten Worten, die
er niederschreibt, ist er feierlich und sein Geist erfasst sofort
die Lyrik. Wie ein majestätischer Adler erhebt er sich mit aus-
gespannten Flügeln und dreht seinen Flug in der Richtung der
Sonne. Ohne den religiösen Gefühlen untreu zu werden, welche
eine mystische Stimmung seiner Seele und die Erziehung seiner
ersten Jugend ihm beigebracht und ohne sich gegen sie zu em-
pören, erkennt man leicht an ihm eine unbezwingbare Tendenz,
zur Lösung der verschiedenartigen und tiefen Probleme des
Menschenlebens vorzudringen. Anstatt aber in jenem zweifel-
vollen Schmerze, der sich der Denker bei ihren ersten Schritten
auf dem Pfade der Erkenntnis bemächtigt, alle jenen Dogmen
des Gedankens, welche die gewöhnliche Erfahrung lehrt, von
sich wegzuwerfen, um sich allein' den ganzen Plan der Welt
nach den Schlüssen seiner Vernunft zu konstruieren, behielt
Calderon auf seiner einsamen Wanderung durch die Gefilde
des Ungewissen eine Fackel in der Hand, die ihn vor den Trug-
erscheinungen seines eigenen Schattens warnte. Er sagt sich
beständig : Willst Du das Absolute finden, so bilde es nicht aus
Dir heraus; er ahnt überall die Nähe der Wahrheit, ohne sie
von seiner Auffassung oder von der Form seines Denkens ab-
hängig zu machen. Das ist schon eine überaus vorsichtige Hand-
lungsweise ; denn, wenn man bei der philosophischen Forschung
von dem ausgeht, das in dem Denkenden selbst gegeben ist,
ist es nicht möglich, dass andere Schlüsse gezogen werden, als
solche, die einer besonderen AuflFassung entsprechen und die
^) Angegeben *in der von uns benutzten Ausgabe der Schauspiele.
Nach diesem Datum hat Calderon nooh andere Schauspiele verfasst, so
zum Beispiel „Hado y divisa", das er im 81. Jahre schrieb.
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— 35 —
daher nur persönlich sein können. Calderon macht sich nicht
an das Problem heran mit »der Pordenmg, es müsse sich an die
Lösung halten, die er aufstelle; sondern er räumt zum Voraus
ein, dass diese Lösung bereits existiere, und dass es nun an
ihm stehe, sich so dem Problem gegenüber zu stellen, dass er
dieselbe erfasse. Er nimmt von Vorneherein an, es könne wahr
sein, was er nicht begreift, und es sei sicher und wahr, dass er
nicht Alles begreife. Diese Selbstlosigkeit und ausserordentliche
Klugheit, die ihm von der Religion angeraten wurde, erweitert
seinen Blick ins UnermessUche und erfüllt ihn mit Kraft. So
rüstete sich Calderon zu seinen Forschungen; denn schon als
Jüngling fühlte er eine tiefe, beinahe drückende Einsamkeit,
die Einsamkeit des Genies, die ihn leicht in das Labyrinth seines
eigenen Ich getrieben hätte. Das Panorama, welches die Natur
vor seinen Augen entfaltete, fesselte ihn lange Stunden, den
jungen Busen mit geheimer Bangigkeit erfüllend, auf einer Wiese
oder am Fenster seines Zimmers; die Somie ging unter am
Horizont, die Hügel prangten in blühendem Grün, die Land-
schaft duftete beim leisen Wehen des Windes, die Wellen des
Manzanares flössen scherzend dahin; oder es war eine stembe-
säete Nacht, der Mond lind durch den Rauni wandelnd, eine
kärglich beleuchtete, schweigsame Ebene, ein Haufen Häuser,
in Dunkelheit gehüllt, menschliche Wesen verbergend, und in
der Ferne Berge, Schweigen, Geheimnis Alles dies spiegelte
sich in seinem Innern mit einer fast beklemmenden Rührung
ab. Alles fühlte er, aber er verstand es nicht, die Kette der
Vorgänge, die er betrachtete, hatte sich von ihm losgelöst, er
war ein armes Waisenkind inmitten einer fröhlichen Familie.
„Ach, was geht mich an, wenn der Frühling so lieblich die
rosigen Teppiche ausstreut ; wenn die lispelnden Winde duftende
Klänge hervorzaubern, wenn die Quellen, wie schmelzende Perlen,
anmutig der Vögel Gesänge begleiten ; was . geht mich das an,
wenn Blumen, wenn Liebe, wenn der Wind, das Wasser das
All mich traurig machen?" i) Ein melancholischer Zug legte
sich über sein Antlitz nieder, ein sonderbarer Ernst, der seine
Lehrer in Salamanca, wohin er mit 13 Jahren an die Universität
kam und bis 1619 Theologie und Mathematik studierte (vom
^ La Griada j la SeQora, Jörn I.
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— 36 —
9. Jahre an war er an einem JesuitenkoUegiura gewesen), nicht
begreifen konnten. Er versuchte in seinem 14. Jahre seinen
Gefühlen in einem Schauspiele Luft zu machen, das er „Der
Himmelswagen" nannte. Mit 19 Jahren hatte er die Studien an
der Universität absolviert.
Die Sehnsucht, zu wissen, aufzuklären, was ihn umgab,
trieb ihn, nach Ruhm dürstend, im Jahre 1625 nach Mailand
und Flandern im Heere des Königs, und er blieb bis 1635 von
seinem Vaterlande abwesend. Aber auch dann hatte sein Blick
immer noch den Ausdruck einer quälenden Sehnsucht und sein
Gesicht zeigte die tiefe Melancholie einer unermesslichen, un-
erwiderten Liebe. Beim abgemessenen Schritt der Soldaten^
welche in einer grossen Heersäule die Ebenen Flanderns durch-
zogen, entfernte sich seine Aufmerksamkeit von jenen glän-
zenden Waffen, von dem Staub der Pferde, von den Ge-
sängen, welche die Glut der Sonne seinen braunen Geföhrten
entpresste, und versenkte sich in tiefes Forschen. Merkwürdige
Schule und doch nicht die Bücher verstaubter Phantasien, nicht
die Grübeleien praetentiöser Gehirne, noch die herausgeschwitzten
Visionen verknöcherter Philosophen konnten die unbändige Kraft
seines Geistes zur Lösung seiner wichtigen Aufgabe führen. Das
Schlachtfeld, das Ringen und Verschwinden, eine feierliche Ruhe
nach verzweifeltem Geheul, das waren die Augenblicke, in denen
sein Geist die Lösungspunkte des Problems aufzeichnete. Starr
den Ansturm einer Festung beobachtend, die Wogen der Soldaten
hin und her geschleudert anblickend,- oder hingestreckt auf den
Feldern Kataloniens, wo er sich (1657) Heldenruhm erwarb, er-
griff er den Sieg seines Gedankens. Da erblickte er das Uner-
messliche, in welches alles Geschehene sich senkt, da fühlte er
die Nähe jener Ruhe, welche den Zuckungen aller Phänomene
folgte, und, schwebend über dem Abgrund, erfuhr er, dass die
Kraft aller Erscheinungen die war, ein Verhältnis, irgend welches,
zwischen den Gedanken, dem Geist, und jenem ewigen Schweigen
herzustellen. Jene mächtige, unbekannte Unendlichkeit hielt
ihm auf einmal den grossen Wert des Lebens vor, und er fragte
sich, welches seine Stellung darin sein würde.
So ward Calderon ein Philosoph, so hatte er einen festen
Punkt gewonnen, von welchem aus er das Universum beobachten
konnte. Von nun an wurde er ruhiger, seine Melancholie ver-
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— 37 —
lor ihre quälende Gewalt und schlug in einen sanften Ernst, in
eine mystische Selbstlosigkeit um. Er schrieb fortan mit Vor-
liebe Stücke von rehgiös- philosophischem Inhalte.
Im Jahre 1637 erhielt er die Auszeichnung des Santiago-
Ordens, nachdemf er seit 1636 am Hofe die Leitung des Theaters
geführt hatte. Im Jahre 1651 wurde er Priester und 1663 Hof-
kaplan. Er starb am 2^. Mai 1681, am Pfingsttage.
Sehen wir jetzt uns die philosophische Aufgabe unseres
Dichters näher an.
Von dem gewonnenen Ufer der etoigen Bvhe, d, h. von
der Ueberzeugung eines beharrenden Princips aus, wagt sich
Calderon weiter zur Erforschung der Welt. Vor ihm avan-
cieren, von der beweglichen Unendlichkeit her, die Wellen des
Lebens, die Erscheinungen, mit sonderbarer Klage seine Püsse
labend; weiter hin eine endlose Unruhe, darüber ein schauer-
liches Röcheln, düstere Einsamkeit, hie und da der liebliche An-
blick eines Sternes oder das kalte Leichengesicht des Trabanten
einer unbekannten Sonne. Es war furchtbar und grossartig
zugleich; aber Alles rang. Alles wand sich in quälender Sehn-
sucht, Alles sprach von Ruhe, Alles verlangte nach Ruhe,
strebte nach Glück, Glück und Ruhe schienen das Gleiche zu
sein. Hier war somit Alles einig; auch er hatte in seinem Innern
eine solche Welt getragen und hatte sich gleichfalls nach jener
Ruhe gesehnt; noch einmal, wimmernd wie ein Kind, blickte
er in das Universum hinaus.
Und das Universum wirbelte imi ihn herum; die Materie
gestaltete sich in unendliche Formen, die eine mit den andern
durch gegenseitige Wechselwirkung verbunden; ein unaufhör-
liches Fluktuieren, ein Sichbilden und Verschwinden, das war
alles, was ihm gelang, wahrzunehmen^). Aber mitten im ewigen
Verändern bUeb doch unverändert das Ewige > auch das iort-
während Sichbewegende war ruhig in dem Fortwährenden. Noch
einmal trat ihm diese mysteriöse Ruhe entgegen, noch ein-
mal führte sie ihm die ganze Natur vor die Augen, und zum
ersten Male fühlte er bei diesem Gedanken einen Schauder von
Furcht.
*) Um den Satz : Alles in der Welt ist Ersoheinumg, dreht sich der
Auto: La vida es sue&o.
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— 38 —
Aber was war jene Ruhe? War sie jenes eisige Pluidum
Spinoza's, oder die Weltidee Plato's oder die formlose Substanz
des Aristoteles? Nein; eine Gott- Welt war ihm ein Widerspruch
und Giordano Bruno war Calderon gänzlich unbekannt (Spinoza
war damals noch Kind); auch Descartes, der damals mehr in Hol-
land als in Prankreich, geschweige denn in Spanien, bekannt
wiu*, war ihm sehr wahrscheinlich fremd i), und die Gedanken
Plato's und Aristoteles, deckten sich ebensowenig mit dem seinigen.
Er dachte anders: Dieser Gott, den ich fühle, lagert nicht ausser«
halb der belebten Welt, die ich sehe, denn überall sehe ich ihn
durchscheinen: ein Gott, der ausserhalb *seiner bildet und er-
schafft, ist kein Gott, ist ein Künstler. Was da ist, sind Er-
scheinungen; was da erscheint, ist der Ewige; aber was sind
die Erscheinungen? die endlosen Offenbarungen jenes ewigen
Wesens, das sie immerwährend anzudeuten versuchen : der Ewige
erscheint ewig sich selber! 2)
Die Erscheinungen zeigen nur in der That, welche Macht
der Unendliche hat, sich selber zu oflFenbaren, das heisst, sie
zeigen mir das Bewusstsein seiner, eine Thätigkeit in sich selbst^
die Selbsterkenntnis jenes Unendlichen in sich, xmd die Kraft
dieser Erkenntnis ist die Lebenskraft des AUsI
Diese Kraft ist nicht die Erzeugung selbst, noch die leitende
Idee der Ordnung und Klassifizierung oder absolute Erkenntnis,
sondern sie ist das Leben des Erzeugten in der Erkenntnis;
und ist doch mit der Erzeugung und der Erkenntnis nur Eirui^
weil die Schöpfung nur durch die Erhaltung besteht, und die
Erhaltung eine ewig erneuerte Schöpfung ist.
So stellt sich dem Dichter die Idee der Gottheit dar, ein Gott-
Erzeugung (Poder), ein Gott-Erkenntnis (Sabiduria) und ein Gott-
Kraft (Espiritu), der in drei Offenbarungen nur eine Wesenheit
bildet in der fernen Zurückgezogenheit des Absoluten. Die
Materie ist nur die Beziehung innerhalb dieses Dreieinigen Gottes.^)
*) Wir werden diese Frage später noch ausführlicher auseinander-
setzen.
•) Diese Idee ist die Grundidee verschiedener Autos, u. A. des Auto :
A Dios por razon de Estado, und Loa z. A. s. El Valle de la Zarzuela.
•) Die Auflfassung der Materie unter diesem geometrischen Gesichts-
punkt ist vom hl. Augustin, der sie ca pacUaa formarum nennt : Muta-
bilitas rerum mutabilium ipsa ea pax est formarum omnium in quas mu-
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— 39 -
Im Mittelalter findet sich ein Philosoph; der in ganz ähn-
licher Weise diese Idee des Höchsten und Ersten auffasst; wir
wissen wohl, dass sie die Feststellung des christlichen Dogmas
ist und als solche bei allen Denkern der christlichen Richtung
sich findet. Bei diesen jedoch nimmt sie einen ausgeprägten
theologischen Charakter an, während wir nur auf philosophischem
Boden verweilen wollen. Daher übersehen wir alle andern imd
erwähnen nur denjenigen, dessen Ausführungen mit den obigen
uns übereinzustimmen scheinen. Es ist dies Nikolaus Cusanus
(1401 — 1464), der Vorläufer des Copernicus, berühmt nicht nur
als Philosoph, sondern auch als Astronom und Naturwissen-
schaftler. Er fasst Gott als das Grösste, das Unendliche, das
absolute Maximum auf, der Alles umfasst und durch nichts be-
begrenzt wird; Zeit, Raum, Bewegimg sind nichts an ihm. Er
ist aber gleichzeitig das Minimum, denn seine Gegenwart ist in
Allem. Er bildet das »an den Dingen, was wirklich an ihnen
ist; Alles hängt von ihm ab, denn er ist absolute Notwendigkeit.
Er ist für Alles, was existiert, dreifache Ursache, denn er ist
causa efficiens, causa formalis, causa finalis : Deus est tricausalis,
er ist die reine Wirklichkeit, purissimus actus, infinita actualitas,
er ist die Einheit, das gewaltige Leben des Alls, er ist das Sv,
das ravrovf aber ohne das heQov, Er ist aber dreieinig, da er
zugleich denkendes Subjekt, Denkobjekt und Denken ist: intelli-
gens, intelligibile, intelligere. Er ist unitas, aequalitas et con-
nexio. — Ab unitate gignitur unitatis aequalitas ; connexio vero
ab unitate procedit et ab aequalitate. — Gott ist Können,
Wissen, Wollen.
Aber auch die Naturwelt zeigt diese Trinität, wie es nicht
anders sein kann wegen der Beziehung, die zwischen dem Machen-
den und dem Gemachten existiert: mundus quoque trinus. In
der Natur finden wir eine Gewalt zu schafiFen; davon scheidet
sich sofort das Produkt als zweite Phase, während eine gewisse
innere Beziehung zwischen beiden das Ganze erhält. Diese drei
Momente charakterisieren sich als fecunditas, proles, amor. Die
tantur res mutabiles (Conf. 12, 6, 6). — Et intendi in ipsa oorpora, eo-
ruraque mutabilitatem altius inspexi, qui desinuat esse quod fuerant et
inoipiunt esse quod non erant, foedas et horribiles formas perturbatis
ordinibiis volverat animus, sed formas tarnen (De Gen. c. M. I).
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Geisteswelt entzieht sich auch nicht dieser Regel, denn auch
da waltet eine trinitas intellectualis : fecunditas, notitia seu con-
ceptus, amplexus seu voluntas^).
Sehr interessant ist die Uebereinstimmung in den Resultaten,
welche die beiden Denker aus ihren Spekulationen ziehen, obwohl
der Weg der Argumentation ein so verschiedener ist. Wir müssen
jedoch bemerken, dass Calderon keine eigentlichen Erörtenmgen
macht, sondern nur durch mannigfaltige Wendungen dem Ge-
danken jene Form beibringt, die wir oben darzustellen versucht.
Calderon scheint sofort begriffen zu haben, dass die Materie,
als capacitas formarum, als Formenfähigkeit aufgefasst, an
sich nichts Reelles sei und lediglich einen gewissen logischen
Bestand habe; sie erschien ihm sogleich als die Wirkung der
Veränderlichkeit. Es schien ihm nun, dass eine Erscheinung
in ihm sich nicht abspiegeln könne, wenn in ihm nicht etwas
Analoges sei, dem sie gewissermassen entspreche, wo sie sich
gleichsam anklebe^), und dass er sie nicht aufnehmen xmd ana-
lysieren könne, wenn sie sich in ihm nicht auflöse. Er kam so-
mit zum Schlüsse, dass der Mensch das hergestellte Gleichge-
wicht aller möglichen Erscheinungen sei^). Im Auto sacramental
La nave del Mercader nennt er desshalb den Leib ein Instrument,
dessen inneres Gesetz die Seele ist *•). Da eben, in diesem Gleich-
gewicht, ruht die Kontrolle der Erscheinungen und hebt sich
jede Regung der umliegenden Welt auf. Es ist nicht zu miss-
kennen, mit welcher unendlichen Würde dieses Resultat die
Menschheit umgab und wie eng wurde ihr Weg durch die Ge-
schichte mit den glühenden Schranken der feierüchsten Verant-
wortung gemacht 5)!
*) Cueanus fasßt, wie CalderoD, den Menschen unter dem Geslohts-
p unkte des Mikrokosmns, als parvus mundus auf.
'') Schon Plato sagte ähnhch, das Erkennen sei ein halbes Sioh-
erinnern.
') Vergi. besonders Ende des A. s. La Inmunidad del Sagrario:
Feliz. mundo, que se ve — en el hombre restaurado. — R6nan sagtauch
ähnlich: Chaque t^te pensante a ^t^, ä sa guise, le miroir de Tunivers
(Fragm. philosoph. pag. 287). — „Connaltre c'est oomparer un Souvenir
ä ime Sensation*^. Guyaux, Genäse de Tid^e de temps, pag. 21.
*) Es el euerpo — templado instrumento vivo, que interiormente
va haoiendo — al alma harmonia sin ruido.
') A. 8. El Gran Teatro del mundo.
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— 41 —
An diesem Punkt angelangt, finden wir für angemessen,
diese antropocentrische AuflFassung Calderon's mit derjenigen
anderer Philosophen zu vergleichen, um dadurch die originelle
Stellung unseres Dichters besser hervorzuheben. Die mensch-
liche Persönlichkeit hat auch für ihn einen Centralwert in der
Schöpfung, ähnlich wie das „Ich*' bei Pichte und Schopenhauer;
anstatt aber für ihn den Ursprung des Universums zu repräsen-
tieren, wie bei diesen beiden Philosophen, ist sie das Resultat,
wenigstens was ihre organische Verfassung anbelangt, von
dessen Gesamtwirkung. Calderon rettet dadurch die unabhängige
Existenz der Aussenwelt, ohne sie dem Subjekt einimpfen
zu müssen, wie jene und auch Hegel gethan. Calderon's Auf-
fassung gewinnt über die andere den Vorteil, dass sie leicht
das selbständige Walten der Natur und ihren unabwendbaren
Einfluss auf den Menschen erklärt, ohne dessen ausserordent-
liche Stellung und Gewalt innerhalb derselben einzuschränken.
Im Auto s. La cura y la enfermedad wird die Menschheit eine
Tochter des Universums genannt; bei dieser Annahme würde
auch die Apriorität der BegrifiFe, die Kant als unbeweisbar an-
nimmt, nicht mehr schwer zu erklären sein.
Die Entwicklung bis zur Bildung des Menschen ist ein
stufenweises Fortschreiten der Formen oder der Gebilde, die
von der einfachsten Gestalt durch Veränderung zur höchsten
Ausbildung gelangen. Diese Veränderung geht jedoch nicht,
wie die Evolution Darwin's, auf dem biologischen Wege der
natürlichen Fortpflanzung vor sich, welche ja für jeden Typus
mehr den Charakter des Beharrens als den des Veränderns trägt,
sondern sie vollzieht sich im Gleichgewicht der Einflüsse im
Universum, etwa durch die kosmische Kraft, die er, nach der
damaligen astrologischen Auffassung, in den Einflüssen und Ein-
wirkungen der Gestirne ausgedrückt findet. Er beschreibt an
mehreren Stellen, die wir im IL Kapitel angegeben haben, den
Uebergang z. B. einer Blume in einen Vogel, die Combination
der vereinigten Wirkung des Wassers, des Windes, der Erde,
der Materie in ein Pferd u. s. w. Das Sinnbild dieser Ent-
wicklung ist der Vogel Penix, der aus der eigenen Asche weit
schöner und verjüngt wieder ersteht i).
S. II. Kapitel.
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— 42 —
Diese Entwicklung ist eine Wechselwirkung durch die
Form der Körper bis zur Erlangung des Gleichgewichts. Die
Form übermittelt in entsprechender Weise die Kraft der inneren
Bestimmung des Körpers : dies lässt erkennen, dass im Universum
die Tendenz nach der Verwirklichung eines Planes besteht, ob-
wohl dieser nicht immer offenkundig, sondern oft durch Widerstände
vorschreitet. Im Auto s. Los alimentos del hombre wird die Ab-
stammung des Menschen aus dieser mannigfachen Wechselwirkung
erörtert imd als die Synthese aller möglichen Wesen charakteri-
siert i). Der Engländer Baco hebt auch, wo er von der Schöpfung
spricht, die Entstehung der Formen aus der Urmaterie als die ei-
gentliche Charakteristik der Entwicklung hervor: „In den Werken
der Schöpfung sehen wir einen zweifachen Ausfluss der Kraft
und Gewalt des Schöpfers : der eine bezieht sich auf seine Macht,
der andere auf seine Weisheit. Der eine gibt sich besonders in
der Schöpfung der Materie kund, der andere dagegen in der
Schönheit der Form, womit die Materie nunmehr bekleidet wird.
Während nun die Schöpfung der Materie sich als das blosse
Werk seiner Hände hinstellt, trägt die Einführung der Gestalt
in die Materie den Charakter eines Gesetzes oder eines Be-
fehles«).'
Wir entnehmen einem vor zwei Jahren in Madrid er-
schienenen Werke von Arturo Soria, eine Illustration, welche
diese Entfaltung und den Zusammenhang zwischen der ersten
imd der letzten Form der Naturgebilde sehr getreu darstellt.
Der Mensch erscheint in einem Krystall eingeschlossen, dessen
verschiedene Flächen den verschiedenen Flächen des mensch-
lichen Körpers und den Ausbildungen der Finger und Zehen
entsprechen. Die Uebereinstimmung ist in der That wunderbar. ^)
S. II. Kapitel.
9) Das Christentum, I., S. 126—127.
') Origen poliedrioo de las especies.
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— 43 —
Uebrigens ist diese Idee der geordneten Entwicklung durch
die Wechselwirkung der Körper als solche aufeinander — eine
Wechselwirkung, auf welcher der Satz der Erhaltimg der Energie
beruht — gar nicht neu. Der heilige Vincentius von Lerins,
angeführt von Brunetifere, hatte sie in folgenden Worten aus-
gedrückt: Quod volvitur non ideo proprietate muntatur: die
Evolution — das ist der richtige Ausdruck — hebt die Wende-
punkte nicht auf, die ihr Fortschreiten andeuten. Dies drückt
genau, wenn wir richtig interpretieren, Calderon's Gedanken aus.
Aber schon im XUI. Jahrhundert hat unser Dichter bezüglich
dieser Idee in seinem Vaterlande einen Vorgänger gehabt. Joan
') Bruneti^re, de rAoademie frangalse : Soienoe et Religion, Paris 1895.
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— 44 —
Lorenzo Seguro de Astorga beschreibt in seinem Poemai de
Alejandro verschiedene Naturgebilde, deren Entstehen in der
gleichen Weise unter dem Einflüsse der kosmischen Kraft vor
sich geht, wie die Thränen durch das Einwirken äusserer und
innerer Ursachen auf den Menschen entstehen. Es handelt sich
dabei mehr um ein Bestimmen der bestehenden Gesetze, als um
einen Druck auf den Organismus^).
Trotz der Verkettung der Vorgänge in der Entwicklung
werden die Unterschiede zwischen den Genera nicht aufge-
hoben, sondern jedes Genus gewinnt dadurch gerade eine be-
sondere Geltung und übernimmt eine Rolle. Wir erwähnen hier
einen sehr bekannten Gelehrten unserer Tage, der ebenfalls
diese Ansi<jht hegt. Er sagt wörtlich in seinem Buche Die
Philosophie im Lichte der Sprache: „Die Natur ohne Genera-
unterschiede wäre wieder das Chaos. Es kann zwar gesagt
werden, dass nicht die Natur, sondern wir gelb von grün, dass
nicht die Natur, sondern wir hohe von tiefen Noten unter-
scheiden. Dies ist in gewissem Sinne wahr, nämlich insofern
als die Natur nur in so weit für uns existiert, als sie von uns
begriffen wird. Aber auf der andern Seite können wir nur be-
greifen, was begreifbar, und nur unterscheiden, was unterscheid-
bar ist; und wenn wir auf unseren BegrifiF von den Genera die
alte Probe von der Abstammung von gemeinsamen Eltern an-
wenden, so muss klar werden, dass dieser generische Begriff
der Dinge nicht vollständig subjektiv ist, obgleich er, wie unsere
ganze Erkenntnis, auf subjektiver Wahrnehmung beruht. —
Wenn einmal ein Genus richtig als solches anerkennt ist, scheint
mir die Annahme, es könne je ein Genus zu einem andern
Genus aufsteigen, ein Widerspruch in sich selbst. Man kann
sich vorstellen, dass aus einer Urform, die weder Pflanze, noch
Tier ist, sich möglicherweise eine Pflanze oder ein Tier ent-
wickeln kann; aber einmal Pflanze und es werden immer nur
Pflanzen, einmal Tier und es werden immer nur Tiere daraus
hervorgehen. Ja, ich gehe einen Schritt weiter und sage, ein-
') Trostbrief Alexanders an seine Mutter Olympia : Madre se alguno
por dereoho oviesse de llorar, puese llorase el oielo por sus estrellas, 4
loa mares por sus pescados 6 el aer por sus aves, 6 las tierras por sus
yerbas 6 por ouanto en ello a. — S. o. Werk Ferd. Wolf: Studien zur*
Gesohichte der spanischen und portugiesischen Nationallitteratur, Berlin 1859.
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mal Schaf immer Schaf, einmal Affe immer Affe, einmal Mensch
immer Mensch. Ich kann mir denken, dass es vor dem Anbe-
ginn aller Dinge ein Wesen gab, welches noch weder AflFe noch
Mensch war und von einem derartigen Wesen kann man ver-
muten, dass es sich zu einem AflFen oder einem Menschen ent-
wickelt habe. Aber es scheint mir einfach vemunftswidrig nach
einem fossilen Affen als dem Stammvater eines fossilen Menschen
sich umzusehen.*'
Soviel Max Müller.
Wie lässt sich nun bei dieser Auffassung der Dinge die
menschliche Seele definieren? Wie nimmt sie sich dabei aus?
Das bereits Gesagte könnte uns schon auf diese Frage Antwort
geben ; wir ziehen jedoch die Worte unseres Dichters vor. Nach
einer Stelle vom Auto El diablo mudo erscheint der mensch-
liche Geist als die abstrakte Conception der gesamten harmo-
nischen Natur ^). Ebenso kann man aus den Darstellungen in
den Autos entnehmen, dass der Gedanke der Akt des Sichbe-
wegens unter den Erscheinungen ist, um zu urteilen 2), während
in einem Drama die Vernunft als die Fähigkeit erscheint, die
Erscheinungen zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen^).
Der Geist in seiner Thätigkeit gegenüber ihrer Endbestimmung
aufgefasst, heisst Seele ^).
Man sieht, mit welcher Konsequenz die Schlüsse und Fol-
genmgen gezogen werden ; es wird scharf unterschieden zwischen
Materie und Geist, aber die zwei Substanzen bedingen einander
dermassen, dass die eine für die andere notwendig ist. Auch im
Falle, dass zum Beispiel die Materie einmal aufhören würde,
würde sie doch im Geiste gewissermassen immer noch fort-
bestehen.
Allein auch diese Auffassung, diese scharfe und sichere
Definition der Seele gehört Calderon nicht ausschliesslich an;
sie findet sich beim heihgen Thomas von Aquin. Nachdem
dieser in scholastischer Art auseinander gesetzt hat, dass ts
'*) Naturaleza — y oonsoimiento
son una oosa mesura,
pero la una en oomun — el otro en partioular.
') U. a. Auto El pleite matrimonial.
•) Con quien vengo, vengo, II. Jörn. u. a.
*) AutOB saoramentales.
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TT^
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eine Unvollkommenheit sei, dass ein jedes Ding nur seine eigenen
und nicht auch die Vollkommenheiten der andern Dinge besitze,
führt er weiter aus: „Ut huic imperfectioni aliquod remedium
esset, invenitur alius modus perfectionis in rebus creatis, secun-
dum quod perfectio, quae est propria unius rei, in altera re in-
venitur; et haec est perfectio cognoscentis in quantum est cog-
noscens, quia secundum hoc a cognoscente aliquid cognoscitur,
quod ipsum cognitum aliquo modo est apud cognoscentem ; et
ideo dicitur, animara esse quodadmodo omnia, quia nata est om-
nia cognöscere; et secundum hunc modum possibile est, ut in
una re totius universi perfectio existat^)."
Nun blieb noch Eines zu entscheiden. Wenn der Mensch
das Aequilibriura der Erscheinungen war, warum war er ausser-
halb des Laufes der Vorgänge geworfen, warum ergrifif er nicht
die Kette der. Begebenheiten? War die ursprüngliche Stellung
des Menschen die, welche er jetzt einnahm? Es war so' vieles,
man musste es bekennen, in und ausser ihm, so düster, so qual-
voll, so sinnlos 1 Und vor Allem, woher stammte diese Tendenz
im Menschen, seine AufiFassung, seine Gesinnung, sein Ich an
den Grund von Allem zu setzen. Alles nach sich selbst zu be-
urteilen, Allem das beizulegen, was er selbst in sich hatte ?^)
Dieses Anblicken der Dinge von sich selber aus, als von ihrer
Quelle, anstatt sie in der Richtung zu betrachten, in welcher
Alles notwendigerweise floss, das heisst in Gott; diese indivi-
duelle Beurteilung, die der Mensch, als er aus dem Schosse der
Natur hervorspross, unmögUch haben konnte^), da er nach den
Gesetzen derselben gemacht war, schien ihm ein Verbrechen. Er
sah darin in der Menschheit die Erkenntnis verdunkelt^). Die
Erkenntnis, deren Aeusserung in der innigen Tendenz, Alles zu
• *) Quaest. disp. q. 2.
*) en efecto es preoiso
Que todo estilo se extrafle
Guando es extrafio ei estilo.
Eoo j Naroiso.
') Diese ist eine der Hauptideen der Autos (S. El Gran Teatro del
mundo, La nave del meroader, Los alimentos del hombre, El Pintor de
SU deshoura, La vida es suefio etc.).
^) Die meisten Autos; z. B. La nave del meroader, Los alimentos
del hombre eto.
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- 47 —
vereinigen und zu verschmeken^ Liebe ist, eine Liebe, die Alles
durchdringt und durchwärmt, Alles beleuchtet und beglückt.^)
Aus dieser Liebe leitet Calderon mit unglaublichem Scharfsinn
alles Wissen und das Endziel von Allem in seinem Schauspiele
De una causa dos efectos ab.*)
Öiese Liebe, die Triebfeder unseres Erdenlebens, in ihrem
weitesten Sinne, ist, da der Mensch dieses heiUge Gesetz auf
sich selber, als auf seinen Erlasser bezieht, der Ursprung all
unseres Uebels, all unseres Unglücks. In -der wahren Liebe ist
das All ein ewiger Gesang, in der Liebe, die wir auf uns mit
einer Art Selbstvergötterung') beziehen, liegt eine Trübung der
ewigen Erkenntnis in uns; wir rollen um unser armseliges Ich
*) A. s. Psiquis y Cupido etc.
') Fed. — Pues es oienoia el aer amante?
Fad. — De harto desvelo y ouidado;
Porque, aunque para saberla
No es menester estudiarla,
Pues el mas neoio se halla
Sin pensarlo dentro della,
Para aproveoharla sf;
I no solo es oienoia amor,
Pero no hay oienoia, seflor,
Que amor no oontenga en sf.
La de artes, pues oada dia
Todo silogismo es;
De fllosofia, pues
Natural filosofia
Es; la de leyes tambien
Pues para que bien se aveoga
No hay republioa que tenga
Mas leyes que el querer bien;
Tambien es de astrologia
Que es oienoia de las estrellas
I el amor oonsiste en ellas ;
Hasta la de Teologia
Es pues si tiene, sefior,
De la teologia el efeoto
A Dios mismo por objecto,
Tambien es Dios el amor.
Jörn. n.
') In Auto La cura y la enfermedad wird zur Gottheit gesprochen :
Vete que yo aspiro — (ser) duefio de mi mismo.
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— 48 —
unbestimmbar dahin, es paralysieren sich an uns die Regungen
des ewigen Lebens, es trocknen aus die wonnigen Fluten der
Wahrheit. ^) Wir haben keine Erkenntnis mehr, sondern wir
behaupten nur noch; wir müssen uns um unser Centrum drehen,
wie in einem entsetzlichen Wahn; wir stürzen quer durch die Ord-
nung der ewigen Harmonie. Wir sind als wären wir nicht.
Unsere Sinne, krankhaft erregt, empfinden mit einer Art Phre-
nesie, mit einer Art schmerzhafter Wollust, nicht nur mit Ge-
fahr, sondern mit der Sicherheit, sich zu täuschen ; und mehr und
mehr entfernt sich, wie ein Paradies, das einst war, die rosige,
geliebte Vision des Absoluten, bis sie gänzlich verschwindet.
Das ist der ewige Tod.
In diesem unnatürlichen Verhältnis zwischen der schöpfe-
rischen Gottheit und dem Menschen erblickt Calderon den Ur-
sprung der Religion^ welche eben diesen Bruch, der zu Ungunsten
des Menschen ausfallen muss, aufzuheben sucht. Und diese
Erkenntnis, die im Menschen gleichsam verdunkelt erschien, die
unmer dem Menschen gegenüber eine hoffnungsvolle, coärcitive
Stellung eingenommen hat; diese Erkenntnis Gottes in seiner
Schöpfung 2), aus der Alles entsprang, nach welcher die Mensch-
heit ruhelos geblickt, gewahrte nun endlich der Mensch, be-
kleidet mit seinem eigenen Ich und all dem beladen, was er in
sich fühlte und dem ausser ihm Stehenden zuschreiben konnte.
Diese Erkenntnis, die unwiderstehlich darnach strebt, das richtige
Verhältnis zwischen Gott, und seinen Geschöpfen wieder herzu-
stellen: diese Erkenntnis ist Christus! 3)
So erblickte Calderon, auf dem Hügel Palästinas (welches
eine Centralstelle für die Erdoberfläche ist) diese bebende Schnee-
gestalt durch die Jahrhunderte hindurch; er hört mit überwäl-
tigender Rührung das Stöhnen eines Sterbenden und sieht an-
dächtig das wallende Banner der Weltgeschichte in der Hand
dieses Märtyrers in Ewigkeit.^)
*) „Die Liebe ist Wahrheit*, La dama duende, Jörn. IIL — Der Ge-
gensatz zwisohen der wahren und der sündigen Liebe ist sehr schön im
Sohauspiel De una oaiisa dos efeotos dargestellt.
*) En mi vive el Alma de la Naturaleza — A. s. El diablo mudo.
•) Vergl. A. s. t La Inmunitad del Sagrario — La oura la enfermedad
— Psiquis y Gupido (p. Madrid); Loa z. A. El Vall© de la Zarzuela etc.
*) Loa z. A. El Gran Teatro del mundo; A. s. La vida es suefio etc.
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— 49 —
Aber diese Auffassung gewinnt noch mehr Gewicht, wenn
man ein anderes Ergebnis in's Auge fasst. Die Erklärung der
Erscheinungen als blosser Veränderlichkeitsmomente befriedigte
ihn zuerst nicht völlig. Er sah, dass ein Gegenstand doch nicht
nur ein vorübergehendes Flirren, ein Hauch, eine Exhalation
war, sondern dass er eine massive Gestaltimg, etwas Hinderndes
annahm und die Vorstellung von Gewicht und Schwere erweckte^).
— Wenn ich einen Gegenstand sehe, überlegte er, sehe ich nicht
den Gegenstand wie er ist, sondern wie er nicht ist *), was setzt
mich ausserhalb der richtigen Anschauung ? — Eben das Mich-
setzen an die Urquelle des All; und das ist ein Geschehen,
etwas an sichj das ich empfinde, das aber ausser mir existiert. Was
ist dieser Betrug, diese Hemmung, dieser schweigende Wider-
stand, diese Verneinung? — Es war eben Verneinung, es war
das Nein gegenüber dem Ja, das rollende Nein im Schosse des
ewigen Ja, das Seinwollende im Angesichte des Seins. Dieser
Kontrast in dieser geistigen Gestalt ist die Form unseres Da-
seins ; unser Denken stützt sich darauf, denn die Logik ist nichts
anderes, als ein Unterscheiden zwischen Ja und Nein zu Gunsten
der Affirmation. Auch die Geschichte ist nur der Kontrast zweier
Ideen. Desshalb behauptet Calderon, dass „Alles mit seinem
') Wunderschön ist dieser Gedanke im A. s. La Imnimidad del
Sagrario ausgedrückt.
') So bekennen die Sinne im A. s. El nuevo Palaoio del Retiro:
Gusto: Jo no gusto le que gusto.
Vista: Jo no veo lo que veo.
Tacto: Jo no tooo lo que toco.
Alfato: Jo no huelo lo que huelo.
Ebenfalls wird im A. s. La vida es suefio gesagt:
Tengo ejos y no ven;
Tengo oidos y no esouohan;
Tengo manos y no tocan;
Tengo pies y no se umeven etc.
Nur das Gehör, d. h. das Wort in gewissem Sinne, wird immer
ausgenommen (Psiquis y Cupido, A. s. para Madrid; A. s. El nuevo Pa-
laoio del Retiro; El Golfo de las sirenas); das Gehör soll „die Vernunft
leiten' (Todos por el oido nuestra razon cautivemos, A. s. El nuevo Pal.
del Retiro, durch das Gehör wird eben das Werdende und nicht, wie
durch die andern Sinne, das Seiende wahrgenommen und dieses konnte
desswegen durch eine einmalige Trübung nicht beeinträchtigt werden.
Ortiz, Die Weltanschauung Galderons. 4
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— 50 —
Gegensätze entsteht," i) und dass ^ Alles zwöi Ansichten hat,
wiewohl die positive eigentlich deutlicher ist.*' 2) ^Hast Du nie
eine Rose gesehen, wie ein Stern eines grünen Himmels, welche,
sich dem Winde königlich aufthuend, mit anmutiger Nachlässigkeit
sich darbietend, zulässt, das die arbeitsame Biene und die giftige
Spinne aus ihrem Schosse, die eine Honig, die andere Gift aus-
saugt? — aus der Harmonie der Natur ebenfalls schöpft der
eine Traurigkeit und der andere Glück.** ^)
Diese Idee des Kontrastes, die so mächtig bei Dante, Shake-
speare und Goethe auftritt, ist eines der deutlichsten Merkmale
von allem, was wir erfassen. Durch die Einwilligung in die
Negation entsteht in uns, nach dem spanischen Dichter, die
falsche Anschauung der Dinge; die sich aufzwingende Wahr-
nehmung lässt uns oft darin einen Druck, eine gestörte Strömung,
einen Bruch der natürlichen Ordnung, kurz den Schmerz em-
finden, während die successive Auffassung den BegrifiF der Zeit,
des Vergänglichen, des Vorübergehens, des Verschwindens in's
Grundlose wachruft. So vernichtet sich der Mensch, durch die
Vorspiegelung der Selbstvergötterung geblendet, und stellt sich
hin, phrenetisch verwirrt, unter den Ansturm der endlosen Chöre
der Wesen imd tiefer unter alle Geschöpfe.*) Wozu nun diese
Anstrengung imd dieses Streben nach Selbstvergötterung? des
Menschen Mühe löst sich ja im ewigen Kontraste des über ihm
Stehenden auf, und ihm bleibt nur „der verzweifelte Zwang
seiner selbst" übrig. 5) „0 Du (es spricht der Dämon), traurige,
^) Los dos amantes, Jörn. II. Aeholich hat auoh Sohelling gesagt:
die Welt ist Kontrast.
Qu6 bien de todas las cosaa
Dijo un oelebrado injenio
Que tenian dos semblantes,
Uno malo y otro bueno,
I que d la luz que le miran
Pareoen bien.
La se&ora 7 la oriada, Jörn. I.
•> La seöora y la oriada, Jörn. I.
*) ,E1 hombre en peoado no solo bruto es, que no discurre; pero
idol inmobil, que ni hable, ni exuohe, ni vea, ni toque, ni huela, ni guste* :
A. 8. La oura y la enfermedad; A. s. La nave del meroader; A. s. Ei
yeneno y la Ariaca etc.
*) El infernal abismo -- desesperado imperio de si mismo: El ma-
gioo prodigioso.
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— 51 —
verhängnisvoUö, fürchterliche Herberge \ind schlummernde At-
mosphäre des Sterblichen, der in bebender Erstarnmg in seiner
Nichtigkeit da liegt ! du, Gefängnis der Angst, Wohnung des
Schreckens, an deren Thor das Weinen heult; o Du, wenn ich
Dich mit Deinem Namen nennen soll, ungeordneter Wille des
Menschen, Mörder Deines Heims, familiärer Feind des Lebens!
Du, tausendmal Du, denn kein Wort nennt Dich besser als
dieses, stürze hervor aus dem Schosse Deiner Felsen, und man
sehe, wie schnell auf den Ruf des Löwen das wilde Tier ge-
horcht.«
Diese absolute Wesenheit der Verneinung, welche Calderon
wiederholt anführt imd höchst dramatisch zu schildern versteht,
bildet bei ihm — was gewiss sehr originell ist — ein philo-
sophisches Moment. Sie ist nicht, wie bei Goethe, „ein Teil von
jener Kraft — die stets das Böse will imd stets das Gute schafft*,
denn ein Teil einer ideellen Kraft ist unmöglich. Sie ist auch
„der Geist, der stets verneint" : ihr unmittelbares Fühlen ist nicht
ein Angriff auf die absolute Bestätigung, sondern ein Sichsetzen
an die Stelle dieser. Mit anderen Worten, sie ist ein erklärendes
Licht über das All, 2) welches zur zügellosen Unabhängigkeit
strebt, gerade dieser geistigen, der Natur und dem Erschaffenen
gegenüber bevorzugten Stellung wegen. * Sie ist das primitive
Aufsichbeziehen aller Dinge, ein Riss in der Harmonie der
Ewigkeit; daher sein immerwährendes Eingreifen und Einwirken
in die Ordnung der Natur. ^)
Durch den Kontrast zwischen diesem verneinenden Ele-
mente gegenüber dem ewig Seienden ensteht jenes wundersame
Phänomen von Sein und Nichtsein, das wir Erscheinung nennen. *)
Der Mensch schreitet mitten unter diesen durch, und hat sich
für links oder rechts zu entscheiden. Der logische Schluss ist
die erste und wahre Form unserer Freiheit, deren vollkommenen
Genuss wir nur in der Wahrheit haben können. Die Freiheit,
die nicht in einem Beherrschen der Erscheinungen, sagen wir
der äusseren Natur besteht, da deren Gesetze nicht vom Men-
') A. 8. El Valle de la Zarzuela.
') So el registro poderoso de esos orbes — El magico prodigioso.
•) S. u. a. A. s. La Divina Philotea ; A. s. El veneno y la Ariaoa etc.
^) ,Las apariencias no son ni verdad, ni mentira', en : En eeta vida
todo es verdad y todo mentira.
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— 52 —
sehen ausgehen und der Mensch nicht ihr letztes und höchstes Pro*
duktist, sondern in einer unabhängigen Stellung ihnen gegenüber;
diese moralische Freiheit, sich selbst dem hinter den Erschei-
nungen hindurchschimmernden Geist gegenüber zu bestinamen,
ist eine der verfochtensten Behauptungen Calderons.^) An
hundert Stellen beteuert pr die unumstössliche Wahrheit des
freien Willens : ^) das ist für ihn ein Pundamentalsatz, auf den
er nicht selten die Hauptmotive seiner Stücke stützt. Diese
Freiheit ist mit imserer Existenz zusammengekettet.
Wenn aber der logische Schluss die erste und wahre Form
unserer Freiheit ist, so ergiebt sich daraus, dass der freie Wille,
d. h. die Fähigkeit sich zu bestimmen, mit der Fähigkeit, zu
urteilen , zusammenfällt : Wille und Verstand sind engstens
verknüpft. Sie sind nur zwei Momente der nämUchen Po-
tenz. *)
So gestaltet sich die Anschauung Calderons zu einem
Idealismus, den wir vielleicht praktischen Idealismus nennen
können. Er ist in der That von der Praxis gegeben imd sucht
allem einen geistigen oder ideellen Hintergrund zu geben, ohne
>) yDer Verstand besiegt alle Einflüsse durch die freie Bestimmung^
Apolo y Climene. — ^Du hast gesiegt, da Du Dich nicht besiegen liessest^,
El magico prodigioso. — Im Schauspiele „Apolo y Climene* wird der
Verstand zweimal (Jornada I und II) Monarch aller Einflüsse genannt.
') El hado infio
no fuerzo el libre albedrio:
La devocion de la Cruz.
Sobre el libre albedrio
No hay conjuroS) ni hay encantos:
El magico prodigioso.
S. auch: La yida es sueüo.
•) Para teuer voluntad
es menester
teuer uno entendimiento.
De una causa dos efectos, Jörn. III.
Aehnlich hat auch Spinoza in seiner Ethik gesagt: Intellekt und
Wille sind Eins. Auch Kant verknüpft den freien Willen an die Urteils-
kraft: diese ist die Verbindung zwischen der sensiblen und der intel-
ligiblen Welt und bildet das Mittel, wodurch in der intelligiblen Welt,
wo keine Kausalität mehr wirkt, eine Bestimmung in Bezug auf die Er-
Boheinungswelt möglich ist. Die moderne Psychologie hat sich mit diesem
Satze der Analogie zwischen Verstand und Wille einverstanden erklärt.
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— 63 —
die materielle Wirklichkeit zu zerstören. Dieser Idealismus,
dessen Formulierung sich der volkstümlichen Auffassung ent-
zieht, muss jedoch im gewöhnlichen Leben stillschweigend an-
genonmien werden, denn, anstatt sich in vanitöse Spekulationen
zu verlieren, bleibt er auf dem Boden der uns allen gegebenen
mittelbaren Wirklichkeit und findet darin täglich seine Ver-
wertung. Wir empfinden, was ausser uns steht, aber wir empfin-
den es nach unserer Beschaffenheit ; ^) wir analysieren alles „nach
der Organisation von Potenzen und Sinnen",*) d. h. in dem
Verhältnis zwischen einem stabilen inneren Gesetze und den
Erscheinungen. Der Mensch geniesst sein volles Bewusstsein
nur im Zustande der Wahrheit; aber, um zu diesem zu gelangen,
müssen wir auf imseren Egoismus verzichten. Nur so kann die
Seele ihren jungfräulichen Zustand wieder erlangen, in dem sie,
den Blick auf Gott geheftet, mit kindüchem Entzücken die ewige
Wonne, die rosigen Fluten der Liebe, die linden Winde der
endlosen Harmonie geniesst 1
Wenn das individualistische Moment als Grundlage unsere«
Denkens gegeben ist, so bleibt für uns nichts so sehr der Ver-
zerrung anheimgestellt, als die Auffassung des Absoluten. Das
ist, glauben wir, die Ursache der unzähligen philosophischen
Systeme, welche sich immer um die gleichen Fragen drehen,
ohne sie je zu lösen. Dieser Titanenkampf, den die Denker
liefern, um dem Himmel die Wahrheit zu entreissen, um das Ab-
solute anblicken zu dürfen, ist jedoch aussichtslos. Die Mensch-
heit ist bald dieser falschen Alarmrufe müde, welche die Philo-
sophen, wie nächtliche Schildwachen, von Zeit zu Zeit einander
zuwerfen. Es ist wie ein Versuch, das Absolute zu repräsentieren,
dieses unermüdliche Philosophieren, und alle Systeme sind die
Etappen des verzweifelten Kampfes mit dem waltenden, unfass-
baren, unerreichbaren Absoluten. Calderon macht auch da eine
Ausnahme: er baut kein System auf, er will nicht das All er-
schaffen, er verschwindet ganz hinter dem Lichte der sich offen-
barenden Thatsache. Das ist jene Klugheit, die man ihm so
^) Gemäss dem Satze der Scholastiker: Quidquid reoipitur, ad modum
reoipientis reoipitur.
•) A. 8. La nave del meroader. -- Analog dem Satze des hl. Thomas :
Assimilitatio in oognitione humana fit per aotionem rerum sensibilium in
vires oognosoitivas humanas. Smnm. o. gent. lib. I, 65.
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— 54 —
sehr in der Komposition nachgerühmt. Um ihn zu begreifen,
muss man die Erscheinungswelt nie aus den Augen verlieren,
denn fortwährend stützt er sich auf diese. Bei anderen Philo-
sophen ist oft genügend, um das ganze Gebäude ihrer Gedanken
in's Auge zu fassen, dass man den Ausgangspunkt ihrer Deduk-
tionen erfasst : alles übrige stellt sich dann leicht der Ueberlegung
dar. Bei Calderon dagegen ist es notwendig, frei und aufmerksam
die Natur anzublicken, aber unter der Leitung seiner Worte»
Calderon's Geist erweitert sich so in's Unermessliche, während er
vor unseren Augen sich zu verkleinern und zu verschwinden
sucht. Daraus gewinnen seine Worte grössere Ueberzeugungskraft
und der ganze Aufbau seiner Ideen erhebt sich fast unbemerkt,
aber in riesigen Dimensionen und mit einer wunderbaren Archi-
tektur. Der Vorteil dieser Methode vor allen Systemen und vor
der Methode der reinen Spekulation ist offenkundig: der Philo-
soph erreicht auf diese Weise leicht den doppelten Zweck, ver-
standen zu werden imd zu überzeugen.
Manchmal nehmen jene Systeme, durch die Autorität des
Aufstellers und durch den Glauben der Adepten, einen dogma-
tischen Charakter an und entwickeln sich, imter dem Einfluss
besonderer Umstände, zu religiösen Konfessionen. Sie schliessen
dann das Leben und seine Aeusserungen in gewisse Formeln
ein und verwandebi sich so in ein stockendes Gefüge, das wie
eine Kruste sich über den menschlichen Geist ausbreitet und ihn
hemmt imd niederdrückt. Das, meint Calderon, sei besonders bei
den orientalischen Völkern der Fall. ^) Eine viel grössere Kraft,
eine der menschlichen Natur viel eher angepasste BeschaflFenheit
besitzt das Christentum, welches, sich geschmeidig allen Forde-
rungen des Geistes anschliessend, niemals sein Wesen ändert
und für immer einen Richterstuhl in der Seele aufgerichtet hat.
Von diesem Standpunkte aus übersieht wieder Calderon alle
Probleme des Lebens und löst sie an dem Schein dieser MoraL
Der Charakter unserer Arbeit zwingt uns, über diese Betrach-
tungen hinwegzugehen, da dieselben, obwohl von grosser Tiefe
und praktischem Werte, mehr theologisches Kolorit tragen. Wir
verlassen daher dieses Gebiet und wenden uns anderen Fragen zu.
t) El ^an principe de Fez.
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— 55 —
Der Mensch befindet sich, wie wir oben dargethan, in einem
beständigen Kampfe; das Leben ist ein Ringen, ein Sturm, die
zusanmienfliessende ewige Entscheidung. Während der Geist, in
diesem Getümmel schweigsam aufgerichtet, die wundersame
Phantasmagorie beschaut, sie prüft und sich neigt, fliesst der
bebende Strom unaufhaltsam dahin. Wir haben oft nur Gefühle,
wo wir glauben, Wahrheiten zu besitzen; wir ringen mit den
Vorstellimgen des Fiebers, während wir meinen, die Probleme
unserer Existenz anzusehen und ohne Zögern, ohne Schauder
geben wir uns dem Truge und der Illusion hin. „In diesem Leben
ist alles Trug und alles ist Wahrheit, denn bei allem, das gut
ist, muss man zweifeln, ob es nicht schlecht sein könnte!*'^)
Der Mensch hat nur die Möglichkeit, die Wahrheit zu gewinnen
und zu erkennen; Positives hat er in sich nichts. Die mannig-
faltige Scene des Lebens, in ihren engen Grenzen aufgefasst,
verliert sich in einem aufregenden Traum, dessen phantastische
Gestalten gegen die stille Ewigkeit emporzucken : „Der Mensch,
wenn er lebt, träumt was er ist, bis er erwacht. Der König
träumt, dass er ein König ist und in diesem Betrug lebt er fort,
befehlend, ordinierend und regierend; wer möchte König sein,
da er weiss, dass er im Schlafe des Todes erwachen wird? Der
Reiche träimit seinen Reichtum, der ihm Sorgen macht, und der
Arme, der leidet, träumt seine Armut und sein Elend ; es träumt
träumt der Jüngling mit seinen Idealen, es träumt der Gedrückte,
imd der Anspruchsvolle träumt sich seine Ansprüche ; es träumt,
wer verletzt imd beleidigt, und in der Welt träumen alle, was
sie sind, obwohl es niemand versteht. Was ist das Leben?
— Phrenesie. Was ist das Leben ? Betrug, ein Schatten, Illusion.
Das Leben ist nur ein Traum, und man träumt auch, dass man
träumt l*' 2)
Aehnlich wie Calderon, hat Renö Descartes, ungefähr in
der gleichen Zeit, derartige Betrachtungen über das Leben und
dessen Analogie mit dem Traume angestellt. ^) Auch ihm schien
') No hay humano bien
que no parezea verdad
oon duda de que lo es.
En esta vida todo es verdad j todo mentira.
') La vida es suefio.
') Meditationes de prima philosophia, Medit. I.
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— Se-
es, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen der oft illusori-
schen Welt unserer Wahrnehmung und der Traumwelt existiere.
Wie vieles glauben wir richtig zu sehen und imsere Wahrneh-
mimg ist doch falsch : die Gestirne des Himmels sind nicht, wo
wir sie sehen, denn die Lichtbrechung verschiebt uns ihre Lage ;
das Wasser, das unter einer Brücke fliesst, von welcher aus wir
es beobachten, scheint uns ruhig zu sein, während die Brücke
langsam vorwärts rückt. Und wie viele andere Erlebnisse im
Traume, welcher Zusammenhang oft zwischen den Begebenheiten
successiver Träume, wie viele Gedanken offenbaren sich uns in
der weihevollen Stille des Schlafes! So dachte Descartes. Ist
diese etwaige Uebereinstimmung zwischen Calderon und Des-
cartes in diesem Punkte rein zufällig? Kann nicht Calderon,
der etwas jünger als sein Zeitgenosse war, dessen Wei:ke, viel-
leicht den Discours de la mithode^ welcher im Jahre 1637
herauskam, gelesen haben? Um diese Frage zu erörtern, schien
uns am sichersten, da besondere Schriften über diesen Punkt
nicht existieren, die Werke beider Philosophen einer Untersuchung
zu unterziehen und die Stellen, die irgend welche Analogie mit
einander aufwiesen, sorgfältig zu vergleichen und daraus ein
Urteil zu gewinnen. Wir fanden in der That einige derartige
Stellen in Calderon*s Werken, die mit cartesianischen sehr
ähnlich erschienen. ^) Aus diesen ersieht man, dass für Calderon
^) Entendimiento : el tiempo
que yace el hombre, tambien
estoy yo sin disourrir,
sin peroipir, ni atender.
Yaga mi iroaginaoion
oonfusas visiones v6;
y todo es tiniebla y sombras
para mi el mundo, porque
sin los sentidos no puedo
aotos de razon haoer.
A. s. Los enoantos de la culpa.
Pues los suenos
ouantas figuras engendran
son disoursoB de aquella alma
que no duerme, y oomo quedan
entanoes de los sentidas
las acciones imperfeotas,
imperfectamente forman
los disbursos, y por esta
razon suefia el hombre cosas
que entre si no se oonoiertan.
El Purgatorio de S. Patrioio.
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— 57 —
der Traum gar nichts anderes ist, als eine Bestäubung der Seelen-
thätigkeit in Bezug auf die Aussen weit. ^) Deswegen nehmen
wir die Vorstellungen „ohne Cohaerenz und Ordnung" wahr und
wegen der ursprünglichen Störung auch in der Ordnung der
Natiu", von der wir oben gesprochen, ist auch das Leben ein
Traum, aus dem wir „im Tode erwachen", denn der Tod ist
imerschütterliche Wahrheit. 2)
Für Descartes ist ebenfalls das Leben ein potenzierter
Traum. Wir können hier nicht eine ausführliche Auseinander-
setzung seiner Erörterungen in den Meditatianes beigeben, imd
wir begnügen uns, zu bemerken, dass, obwohl die beiden Denker
in dieser Idee übereinstimmen, der Weg ihrer Argumentation
durchaus ein verschiedener ist. ^) Wir hätten daher dennoch an
diesen Ausführungen keinen Anhaltspimkt für die Annahme
irgend welcher Beziehung zwischen den zwei Philosophen gefun-
den, wenn eine Stelle aus dem Auto El Pleito matrimonial uns
nicht in der Vermutung bestärkt hätte, dass eine solche existiert
haben müsse. Die Stelle lautet folgendermassen : „Die Seele
und der Leib vereinigen sich, indem Gott im gleichen Augen-
bücke aus Seele, Leib und Leben eins macht."*) Das erinnerte
uns stark an die unio substantialis von Descartes, nach welcher
Gott die zwei Substanzen, Geist und Materie, vereinigt imd
daraus das Leben macht. Die Analogie ist in der That frappant,
und wir ersuchten einen der tiefsten Kenner von Calderon's
Werken, zur Zeit Universitätsrektor in Salamanca, von dessen
*) In einer der oben oitierten Stellen heisst es : Alles ist im Traume
Verwirrung, weil der Verstand ohne die Sinne keine Akte der Vernunft
vollziehen kann. — Diese Aeusserung, die augensoheinlioh mit dem Sen-
sualismus Looke's sich berührt (Nihil est in intelleotu, quod prius
non fuerit in sensu), will jedooh nicht sagen, dass Sinne und Vernunft
das Gleiche seien, sondern dass die Vernunft eng mit den Sinnen zu-
sammenhängt, wie wir aus der Definition der Se^le gesehen haben.
*) No es morir todo? — Gasa oon dos puertas mala es de guardar.
*) Der Charakter dieser Schrift, sowie ihre Dimension zwingen uns,
DesoEui^es' Philosophie als bekannt vorauszusetzen.
*) Vida: pues
os juntais (Alma y Cuerpo)
haoiendo en un punto Dios
un compuesto de los tres,
que somos Guerpo, Alma y Vida.
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— 58 —
Briefe wir einiges an anderem Orte angeführt haben um Aus-
kunft. Wir teilen hier noch den Teil des Briefes, der sich auf
unsere Frage bezieht.
Sehr geehrter Herr!
Es ist mir sehr daran gelegen gewesen, den Zweifel, den
Sie mir vorlegten, nach Möglichkeit zu lösen. Sie fragten
mich, ob es nicht bekannt sei, dass eine Beziehung zwischen
Calderon und Descartes existiert habe und weder im Archiv
dieser Universität, noch bei den besten Biographien imseres
Dichters habe ich die geringste Andeutung gefunden, als hätte
Calderon je mit Descartes verkehrt, noch seine Werke gekannt.
Im Gegenteil, alle stimmen darin überein, den scholastischen
Charakter in den Werken Calderon's hervorzuheben.
Es lagen ja zwischen der Zeit, in welcher Calderon seme
Studien auf der Universität vollendete (1619) und der Zeit, in
welcher Descartes das erste Mal seine Werke veröffentlichte
(1640),^) mehr als 20 Jahre; so dass es nicht anzunehmen ist,
dass Calderon irgend eine Kenntnis über Descartes sich angeeignet
hätte, um so mehr, da, wie ich einem gründüchen Kenner der
Werke Calderon's entnehme, dieser nicht der französischen Sprache
mächtig war. Und seine litterarischen Studien, die bekanntlich
seine Zeit gänzUch in Anspruch nahmen , hätten ihm keine
Müsse gelassen, sich dem Studium eines neuen philosophischen
Systems, das so verschieden war von dem, das er gelernt hatte,
zu widmen. Man sage auch nicht, dass er irgend eine Ueber-
Setzung in spanischer Sprache mag gelesen haben, da Descartes'
Fehler, wenn man ihn für einen solchen halten darf, damals
allen Spaniern eigen war, welche sich für reich genug hielten,
um nicht vom Auslande Wissenschaft oder Litteratur erbetteln
zu wollen.
Was aber am meisten den anti-cartesianischen Charakter
unseres Dichters beleuchtet, sind seine Werke selbst, und ganz
besonders seine Autos sacramentales. In einigen von diesen
scheint er ja als gangbare Münze- die Theorie der Existenz der
verschiedenen Accidentien der Substanz — eine Theorie, die
') Eigentlich 1637.
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— 59 —
schon allein einen Philosophen für anti-cartesianisch erklärt —
anzunehmen.
Er sagt im Cubo de la Almudena: Das Gesicht uhd der
Tastsinn beziehen sich auf die Accidentien, nicht auf die
Substanz ;i) und im El dia mayor de los dias hebt er weiter
diese scharfe Unterscheidung hervor. *)
Ebenso glaube ich nicht, dass die Worte, die Sie dem Auto
El Plevto mairimonial entnommen haben, irgendwie gegen diese
Ansicht Zeugnis ablegen. Denn, wenn Calderon das Leben sinn-
bildlich „eine kalt brennende Flamme" genannt hat, so erregt es
in der scholastischen Lehre keinen Anstoss, zu denken, dass im
Augenblicke, da sich die Seele mit dem Leibe verbindet, in
beiden das Leben entstehe, indem das intellektuelle von der
Seele, das sensitive und vegetative aus der Zusammensetzung
beider ausfliesst. Im gleichen Auto zeigt sich klar, dass Calderon
eine solche innige und wesentUche Vereinigung ^zwischen Leib
und Seele des Menschen annimmt, und diese hat nicht nur keine
Analogie mit dem antropologischen Dualismus, der die Basis der
cartesianischen Psychologie bildet, sondern sie steht mit ihm in
offenem Konflikte.
Auch dort, wo er von der Vereinigung von Seele,' Leib
und Leben zu einem Ganzen redet, will er nicht die cartesianische
Trilogie annehmen, bei welcher der Körper und der Geist zwei
unabhängige und antithetische Substanzen bilden; denn der
') A los acoidentes darn credito
oredito la vista y taoto
quo no ä la substanoia.
*) I ä este Soberano imgido,
que en aooidentes de pan
y vioo asiste, ellos mismos
aon cortinas soberanas
de SU grandeza . . .
y pues el amor ha sido
oausa de estos aooidentes
diga el ooro de los San tos:
ah Jesus 1 que aooidentes
tan soberanoB,
pues por ellos le vimos
saoramentado.
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— 60 —
Dichter sagt ja weiter unten, dass das Leben eine Flamme ist,
welche von beiden entsteht, i) d. h. dass, nach Calderon's An-
schauung, das Leben aus dem Menschen in dem Augenblicke
ausfliesst, wo, durch die Vereinigung von Seele und Leib, das
menschliche Gebilde vollkommen dasteht.
nein, genug bewiesen ist es doch, dass imsere intell^-
tuellen Grössen nicht der Abglanz eines französischen Philoso-
phen sindl'^
So weit der Brief.
y vida, llama enoendida
que de las dos procedida eto.
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— 61 -
IV.
Philosophischer Zusammenhang zwischen Cervantes und Calderon.
Wir knüpfen wieder die Frage an, die wir im ersten Kapitel
über das Verhältnis zwischen Cervantes und Calderon angedeutet
haben. Wir bringen da ganz persönliche Ansichten vor und
machen deswegen durchaus keinen Anspruch, bei der Schluss-
folgerung, die sich aus ihnen ergiebt, Recht zu haben. Wir sind
völlig überzeugt, dass diese zwei geistigen Gestalten unzertrenQ-
lich in der Geschichte der philosophischen Ausbildung ihrer
Epoche zusammengehören. Nach unserer Meinung bezeichnen
sie, in der Evolution der Zeit , verschiedene Kulturmomente;
und wenn sie auch der verschiedenen Gestaltung der Umstände
wegen, unter denen imd für welche sie wirkten, mit verschiedener
Klangfarbe erscheinen, so sind beide doch Träger des nämlichen
Godankens. Beide brechen sich Bahn in der Gesellschaft mit der
mächtigen Kraft der nämlichen Idee. Calderon setzt Cervantes
voraus; der eine vollendet und rundet ab, was der andere zu
einer systematischen Form in schöner Abgrenzung aufgebaut
hatte. Wenn wir den Romantiker als den unruhigen Geist der
beständigen Erfahrung bezeichnen würden, könnte der Dichter
als die Spekulation der Empirik gelten; Cervantes malt die
erscheinende Welt, die Scenerie des Lebens und deutet ihre
geometrischen Propositionen an, während Calderon's Hand darin
die Kurve des Gesetzes aufizeichnet.
Cervantes war ein so unruhiges und wechselvolles Leben be-
schieden, wie kein unruhigeres ei'nem Menschen überhaupt zufallen
kann. Im Jahre 1547 geboren, hat er schon in seiner ersten Jugend
von seinem Städtchen Alcalä aus die wunderbaren Thaten seiner
Majestät Karl Y., des ersten Monarchen, der sich Mtgestät nennen
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— 62 —
Hess, erzählen hören und die wallenden Fahnen der einziehenden
Plamminge erblicken können. Seine Phantasie, von Natur aus
so blühend, trieb ihn, das Weite zu suchen und das Leben zu
erfahren. Zuerst war er Kammerdiener bei einem Kardinal in
Rom; er kämpfte in der Sohlacht bei Lepanto, im Jahre 1671,
unter Don Johann von Oesterreich gegen die Türken, und erlitt
schwere Verwundungen, die ihm einen Arm lähmten ; war Soldat
in Sardinien, in der Lombardei, in Sicilien, wurde von Seeräubern
gefangen genommen und als Sklave in Algier verkauft. Hier
versucht er in der kühnsten Weise einigemale zu entfliehen,
doch umsonst, bis er losgekauft wird. Dann kommt er nach
Spanien zurück, von hier geht es als Soldat nach den
Inseln Azoren und erst im Jahre 1583 erscheint er wieder
in Spanien, wo er nun definitiv bleibt. Ein nächtlicher Streit
gegen einige Hofleute in der Nähe seines Hauses, bei wel-
chem Verdacht auf ihn fiel, brachte ihn, im Jahre 1604, in's
Gefängnis.
Da nun, im öden Dunkel eines Gefängnisses war es, wo
seine Seele etwas Unermessliches, etwas wie die unerforschte
Ruhe, die Gegenwart eines Schweigens, welches nach den
Zuckungen der Welt sich einstellt, gewahrte und empfand.
Gestützt auf das Gitter seiner Zelle, die Erlebnisse seines Lebens
überdenkend, sah er sie wie das bittere Spiel einer unbesiegbaren
Ironie sich entfalten. Seine Jugend, seine Kämpfe, Lepanto,
die Gefangenschaft in Algier, die Fluchtversuche, der so oft
herbei- und wieder hinweggeschlichene Tod, seine Gedichte, sein
jetziger Aufenthalt: — das war die ganze Scene eines mensch-
lichen Daseins I Wie sehr sah es einem Traume gleich, und in
diesem Traume erkannte er das Leben: „Ich sehe jetzt ein,
schrieb er, dass alle Genüsse des Lebens wie ein Schatten und
ein Traum vergehen oder wie die Blume des Feldes absterben!" ^)
In diesen Worten ist das ganze Resultat seiner grossen
Erfahrung zusammengefasst : in diesen offenbart sich der feier-
liche Ernst in der Fröhlichkeit und im Scherze, die seiner Natur
so eigen waren. Und diese plötzüchen Offenbarungen grosser
Wahrheiten in so anmutender imd überraschender Weise macht
den Wert seines Werkes aus.
') Don Quijote, IL Parte, Cap. XXII.
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- 63 —
Unter diesem Einfluss stand direkt Calderon. Wir sahen
bereits, wie ihm das Leben unwert und wie ein Traum vor-
kam, und wie er diese Ueberzeugung durchaus innig empfand
und zum Ausdruck brachte ; an diesen Punkt der Cervantes'schen
Philosophie scheint er also anzuknüpfen und seine ganze Welt-
anschauung ist in der That von dieser Vorstellimg stark beein-
flusst. Ein sehr inniger Zusammenhang zwischen den zwei
grossen Männern ergab sich schon aus dem Umstände, dass
Calderon eine Epoche vorfand, die ganz Cervantes gehörte und
imd er sie nicht anders zu der seinigen machen konnte, als
dadurch, dass er sie glänzender machte und weiter führte. Von
einer Umwälzung derselben konnte, wenn auch Calderon's natür-
liche Anlagen sich dazu hätten verwenden lassen können, bei
dem ungeheuren Erfolge seines Vorgängers keine Rede sein.
Wirksamer als dieser geschichtliche Zwang war die natürliche
geistige Verwandtschaft, welche schon ursprünglich Calderon
auf die Bahn des Cervantes lenkte. Wir lassen einen kurzen
Vergleich folgen, um diesen Zusammenhang besser darzustellen.
Cervantes ist von einem lebhaften Gefühl der Fröhlichkeit
und einer warmen Strömung durchweht. Er nennt oft das Leben
eilte Komödie] er sieht darin immer etwas Scherzhaftes, neben
seinem Ernste, es ist für ihn, wenn uns der Ausdruck erlaubt
ist, wie ein sauer-süsses Gemisch, in welchem keine wahre
Genugthuung, sondern nur der Ansporn zu einer immer weiter
entfliehenden Genugthuung ist; eine Komödie, nichts als eine
Komödie, die uns durch Vorstellungen innerlich bestimmt. „Wie
in der Komödie, so auch im Leben spielen einige die Rolle des
Kaisers, andere die des Soldaten, des Kaufmanns, des Verliebten ;
wenn aber das Ende kommt, nimmt allen der Tod die IQeider
weg, die sie differenzierte und alle bleiben gleich im Grabe."
„Und wenn wir diese Welt verlassen und über uns Erde ge-
worfen wird, schreitet der Fürst auf gleich engem Pfade weiter,
wie der Taglöhner, und der Körper des Papstes nimmt nicht
mehr Plafz ein, als derjenige des Sigristeh, wiewohl der erstere
höher stand als der zweite. ^) Wir haben oben gesagt, dass solche
ernste Gedanken und Folgerungen in der scherzhaften Darstel-
') Don Quijote, II. Teil, Kap. XII.
») Don Quijote, II. Teil, Kap. XXXI.
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— 64 —
lung wie ruhige Stunden des Mondscheins in der weohselvoUen
Scene erscheinen, welche die auf die Dauer ermüdende Span-
nung unterbrechen. Sie deuten das Ziel an, wohin Cervantes
steuert und zeigen, dass der kunstvolle Mechanismus, womit
diese Gedanken begleitet sind, nur die vor den Augen der Zeit
notwendige Apanage bildet.
Calderon dagegen ist von Anfang an ernst und feierlich;
er steht da, die Arme gekreuzt, die Augenbrauen zusanunen-
gezogen imd redet mit einem etwas psalmodischen Ton. Er
lächelt selten und nur aus Liebe zum Publikum; beständig
beschäftigt ihn der tiefe Ernst seiner Probleme. Er wird hie
und da so derb, dass seine Sprache mit bitterer Ironie prasselt
„Kurz war die Komödie, aber wann war die Komödie des Lebens
nicht kurz ? wann war sie für denjenigen nicht kurz, der bedenkt,
wie alles nur ein Ein- und Ausgehen ist? Schon verlassen alle
die Bühne ; die Erscheinung, die sie hatten und die sie zierte, zieht
sich zu ihrer ursprünglichen Form zurück; als Staub sollen sie
hinausgehen, da sie als Staub hineingekommen sind. Von allen
sollen die Zierden zurückverlangt werden, mit denen sie die
Vorstellung geschmückt, denn nur für diese Zeit wurden sie
ihnen gewährt. Als Staub sollen sie hinausgehen, denn 'als
Staub kamen sie hinein." „Und du, König, lass' die Krone hin,
entblösse deine Majestät; nackt und bloss soll deine Person aus
dem Possenspiel des Lebens scheiden. Der Purpur, der dich mit
solchem Stolz erfüllte, wird die Schultern eines andern bald be-
decken, denn weder Purpur, noch Scepter, noch Kränze wirst du
mitnehmen dürfen: dies alles war geliehen I" „Jetzt, da der
Spaten dem Scepter gleichgestellt ist, geht ein in das Theater
der Wahrheit 1 euer Theater ist die Bühne der Täuschungen!" i)
Aus diesen Beispielen sehen wir deutlich, wie die zwei
grössten Denker der hiberischen Halbinsel von ein und demselben
erhabenen Gefühl durchdrungen waren und wie das Genie zur
Erfüllung seiner Aufgabe beim Wechseln der Umstände in beiden
eine verschiedene Gestaltung annimmt. Der Uebergang von
Cervantes zu Calderon wird von Lope de Vega, dem zartfühlen-
den, üebUchen Lyriker, der mit Shakespeare das Theater
schuf, hergestellt. Wie de Vega, findet Calderon sein Gefallen
A. 8. El gran Teatro del mundo.
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- 65 —
an jenem abenteuerlichen Fluge durch die Regionen der Blumen
und der Winde, an jener ungebundenen Freiheit, die seiner
mächtigen Phantasie immer offene Wege wies. Wegen der
unbestrittenen Superorität des Geistes stellt sich daher Oalderon
dar, als die vollkommenste Synthese der spanischen Philosophie
und gleichzeitig der spanischen Litteratur. Er glänzt wie ein
Gestirn über seine Zeit nicht nur, sondern in der geistigen
Gonstellation aller Nationen findet sich vielleicht nur ein Mann,
dessen intellektuelles Licht dem seinigen gleich käme ; uud das
ist Dante Alighieri.
Weder Cervantes, noch Calderon sind Idealisten. Dies wollen
wir hier festgestellt haben, weil manches, was wir über sie gesagt
haben, dazu angethan erscheinen könnte, sie für solche zu halten.
Für Beide ist nicht das reell, was uns in der Erscheinung ent-
gegentritt, sondern nur, wir wollen uns so ausdrücken, der
logische Bestand derselben.
Wenn wir mm das bis jetzt Gesagte überblicken, so finden
wir, dass die zwei Männer, von denen hier die Rede gewesen,
mit zwei Kulturmomenten ihrer Nation, wie wir schon einmal
gesagt, identisch sind. Wir konstatieren bloss diese Thatsache,
ohne uns in Erörterungen über die Wechselwirkung der Um-
stände auf den Intellekt auserwählter Geister oder umgekehrt,
einzulassen. Cervantes erscheint in der That wie die lebendige
Verkörperung jener Unruhe Spaniens zur Zeit seiner Weltherr-
schaft, während Calderon die erhabene Würde in Q^enwart
eines grossen Unglücks darstellt. Es ist bei letzterem das Gefühl
eines Starken vorhanden, der besiegt und bedrängt, sich in seinen
letzten Zufluchtsort, dorthin, wo nur ewiges Schweigen und
keine Demütigimg mehr ist, flüchtet. Es ist die Ueberraschimg
einer unerbittlichen Gefahr, die furchtbare En.ttäuschung eines,
der nach langem und qualvollem Ringen das Nutzlose seiner
Anstrengungen fühlt; es ist, in einem Worte, die ganze Stim-
mung eines Volkes, die sich in ihm spiegelt. Ein Schlag nach
dem andern hatte in der That die spanische Macht geknickt:
im Jahre 1640 fällt Portugal ab, nachdem 1688 die spanische
Flotte vernichtet worden war; im Jahre 1648 muss Spanien die
Unabhängigkeit der Niederlande (im Frieden zu Münster) aner-
kennen; 1659 muss es Roussillon und Perpignan, Dünkirchen
und Jamaica, im Pyrenäischen Frieden, abtreten, und gegen das
Orli£, Die Weltensohauung Oalderoiii. 5
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Ende des Lebens des Dichters steht bereits der Erbfolgekrieg
bevor. Spanien hatte mit Italien, Prankreich, gegen die Nieder-
lande, in Afrika, mit der Türkei, mit Deutschland, England,
Amerika und im Innern gegen Revolten in diesem Jahrhundert
zu kämpfen gehabt und, am Ende so vieler Kämpfe, nach so
grossen Anstrengungen, hatte es sich ergeben, dass seine Macht
nur trügerischer Schein gewesen. Entvölkert, verhasst, wo war
all sein fabelhafter Reichtum hingegangen? Das prächtige Ge-
bäude war zusammengebrochen, nur ein Haufe Trümmer war
geblieben, umgeben mit einem Schimmer und aus seiner Mitte
kam mystisch hergeklungen die Stimme Calderons.
Zum Schlüsse wollen wir ein Urteil, das Calderon's Biograph
Vera Tassis über ihn abgiebt, und eines von Goethe anführen,
damit man sehe, wie Calderon's Grösse in allen Zeiten Aner-
kennung gefunden. Vera Tassis drückt sich in seinem pompösen
Stil folgendermassen aus: „Das war das Orakel unseres Hofes
und der Neid der Fremden, der Vater der Musen, der Luchs
der Gelehrsamkeit, das Licht der Bühnen, die Bewunderung der
Menschen, er, der allgemeine Zufluchtsort der Bedürftigen, dessen
Höflichkeit die aufmerksamste, dessen Umgang der zuverlässigste
und belehrendste, dessen Sprache die harmloseste, jedem seine
Ehre erweisende, dessen nie mit beissenden Glossen den Ruhm
irgend eines verwundende Feder die feinste seines Jahrhunderts
war, der die Lästerzungen weder mit Libellen befleckte, noch
sein Ohr den boshaften Verkleinerungen des Neides lieh. Das
endlich war der Fürst der castilianischen Dichter, welcher
Griechen xmd Römer in seiner geweihten Poesie wieder aufleben
Hess, denn er war im Heroischen gebildet imd erhaben, im
Moralischen gelehrt und tiefsinnig, im Lyrischen anmutig und
beredt, im Heiligen göttlich und sinnvoll, im Liebevollen edel
und schonend, im Scherzhaften witzig und lebendig, im Komischen
fein imd angemessen. Er war sanft und wohlklingend im Vers,
gross und zierlich in der Sprache, gelehrt und feurig im Aus-
druck, ernst und gewählt in der Sentenz, gemässigt und eigen-
tümlich in der Metapher, scharfsinnig und vollendet in den
Bildern, kühn und überzeugend in der Erfindung, einzig und
ewig im Ruhm.**
Goethe stellt Calderon in die Reihe jener Männer, die da
auf dem Gang der Geschichte am Rande des Weges sich erheben
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und den Bataillonen der Generationen die Richtung anzeigen. .
Wenn sie verschwinden, bleibt an ihrer Stelle ein gewaltiges
Denkmal von Licht und von Flammen, oft auch von Rauch und
von Asche. Er stellt Calderon unter diese Männer und giebt
ihm einen Vorzug vor allen andern, nämlich eine überzeugende
Konsequenz, einen systematischen Ausbau, die praktische Ver- ,. '1
Wertung der Wahrheit, die er nicht auf eine entlegene Region,
sondern in die Tragweite jedes Menschen stellt ; er sagt : „Calderon * ^
ist unendlich gross; er ist dasjenige Genie, das zugleich den
grössten Verstand hatte." ^)
Zu Eokermann I, S. 151.
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