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Full text of "Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte"

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Bener Stadien mr PhilosopMe nnd ibrer Geschichte. 



Band T. 

Heraufgegeben von 

Dr. Ludwig Stein, 

Professor an der Universität Bern. 



HERDER und KANT. 

von 

Dr. Anna TnmarUn. 



Beim. 

Verlag von A. Siebert. 
1896. 



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DEC 6 1905 

T-5 



Die Frage und ihre Litteratur. 



r Im Herbst 1762 immatrikulierte sich Herder an der Königs- 

I berger Universität und am 21. August betrat er zum ersten Mal 

das Auditorium des Magisters Kant. Der Inhalt dieser ersten 
l Vorlesung, wie wir ihn aus Herders Kollegienhefte ^) kennen, 
J5 betraf die damals vielbesprochene Geisterfrage. '^) Nachdem Kant 
p eine natürliche Lösung derselben empfohlen hatte, stellte er 

k dieselbe Forderung der natürlichen Erklärung auch an die 
p Theologie. Diese freigeistige Ansicht mag wohl dem jungen 
" liberalen Theologen gefallen haben, und von dieser Stunde an 
S wurde derselbe ein eifriger Schüler und Bewunderer Kants. Dass 
; dieses Verhältnis sich nachmals änderte, dass Herder später zu 

den gehässigsten Gegnern und Bekämpfern des Kritizismus ge- 
hörte, ist leider allzu sehr bekannt. Allzu sehr verbreitet ist 
aber auch die Zurückführung dieses veränderten Verhältnisses 
auf persönliche Gründe. Auch Hettner leitet den Bruch zwischen 
Herder und seinem ehemaligen Lehrer aus der Rezension ab, 
die der letztere über die ,Ideen' geschrieben hat. ^) Anders zwar 
lautet das Urteil derer, die sich mit der Frage speziell beschäftigt 

*) Haym, „Herders Leben und Werke**, L, 80, 

*) Sollte schon diese Vorlesung durch die Swedenborgfrage ver- 
anlasst worden sein, so könnte dieselbe als ein eigentlicher Markstein in 
den Beziehungen der beiden Denker gelten ; ihr begegnen wir im Anfang 
dieser Beziehungen, an ihrem Wendepunkte („Träume" und ihre Rezension) 
und endlich an ihrem Ende (Herders letztes Urteil über Kant in „ Adrastea"). 

■) Hettner, „Litteraturgeschiohte des 18. Jahrhunderts,** III., 8, 8. 99. 

1 



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r 



— 2 — 

haben ; so weist schon Pfleiderer ^) einen tiefer liegenden Grund 
der Polemik der beiden Philosophen nach; ihre tiefe Geistes- 
verschiedenbeit und nicht bloss persönliche Umstände zwangen sie 
zu einer Auseinandersetzung, und es liegt in der Natur der Sache 
selbst, dass der innere Widerspruch ihrer philosophischen An- 
sichten zum Ausdruck kam. Nur räumt Pfleiderer dieser Geistes- 
verschiedenheit eine zu grosse Bedeutung ein und verneint auch 
jede Beeinflussung Herders durch Kant, sogar in den Universitäts- 
jahren des ersteren. Seitdem aber Suphan-) die philosophische 
Abhängigkeit des jungen Herder von seinem Lehrer nachgewiesen 
hat, ist dieselbe eine unbestreitbare Thatsache. Als eine solche 
gilt sie auch Haijm/) der, alles vorhandene Material berück- 
sichtigend, das ganze Verhältnis am besten beleuchtet; für 
ihn ist die Ursache des Bruches weder die persönliche Ent- 
fremdung Herders von Kant, noch das System des letzteren an 
sich, sondern die Folgen dieses Systems; Herder kämpft, 
nach seiner Meinung, weniger gegen Kant, als gegen den 
Kantianismus. Endlich beschäftigt sich mit dieser Frage auch 
Kühfiemann/) welcher den Bruch der beiden Philosophen durch 
die Erlahmung des Herderschen Gedankens erklärt. 

Um die Frage nach der Ursache dieses Bruches zu lösen, 
scheint es mir am wichtigsten, immer die Zeit der geäusserten 
Ansichten zu berücksichtigen und die jeweiligen Standpunkte 
der beiden Denker gegenüber zu stellen. Diese Methode des 
zeitlichen Verfolgens der beider Denker scheint mir, in Rücksicht 
auf die allmähliche Entwickelung der Kantischen Weltanschau- 
ung einerseits und die Abhängigkeit der Ansichten Herders 
von seinem jeweiUgen Gemütszustand andererseits, doppelt be- 
rechtigt. 

Die zweite Frage, welche sich uns bei. der Betrachtung 
der beiden Philosophen von selbst autdrängt, ist die nach dem 

*) Pfleiderer, „Herder und Kant* (Jahrbücher lür protestantische 
Theologie, Bd. I, Heft 4, 1875). 

^) Suphan, „Herder als Schüler Kants" (Zeitschrift für deutsche 
Philologie. 1872. Bd. IV). 

^) Robert Haym, „Herder nach seinem Leben und seinen Werken" 
(1880-1885). 

*) „Herders letzter Kampf gegen Kant" (Studien zur Litteratur- 
geschichte, Bernays gewidmet. 1893). 



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— 3 — 

Verhältnis ihrer Weltanschauungen. Was die Litteratur dieser 
Frage betrifft, so ruft anfangs die Polemik Herders eine ganze 
Reihe ihn tief herabsetzender Schriften hervor.^) In diesen 
Schriften — meistens von Kantianern verfasst — erscheint 
Herder als verschrobener Metaphysiker, der das Neue in der 
Wissenschaft zu würdigen weder verstehe, noch wünsche. Fast 
die ganze erste Hälfte unseres Jahrhunderts blieb dieser Vorwurf 
auf Herder lasten, und erst in den letzten Jahrzehnten ver- 
suchten einzelne Forscher ihm Gerechtigkeit widerfahren zu 
lassen. Schon 1858 erklärt Zimmermann^) die Polemik Herders 
für die Stimme des gesunden Menschenverstandes und Herder 
selbst für das edelste Publikum, welches sich gegen die Schul- 
philosophie auflehnt. Böhmer^) sieht in beiden Denkern die 
Vertreter der zwei verschiedenen Weltanschauungen : der ideali- 
stischen in Kant und der realistischen — naturwissenschaftlichen 
in Herder; während Kants „idealistische, aber nebelhafte Welt- 
anschauung'^ ihm als „ein eigentümlicher Durchgangspunkt der 
deutschen Kultur erscheint^, siebter in Herder den „glücklichsten 
Philosophen Deutschlands'^ und den wahren Vorläufer und Ver- 
treter der naturwissenschaftlichen Richtung. Aehnlich gestaltet 
sich auch das Verhältnis unserer Philosophen bei Pfleiderer, 
welcher die Herdersche Weltanschauung als eine monistische 
dem Kantischen Dualismus gegenüberstellt. Bärenbach^) sieht 
sogar in Herder einen direkten Vorläufer Darwins, welcher dem 
„seit Kant verpönten Empirismus" Anhänger gewinnt. Massiger 
in seinem Lob ist Michalskj/,^) der die einzelnen wahren Ge- 
danken der „Metakritik" hervorhebt und den Einfluss Herders 
auf Schelling und Lotze zu beweisen sucht. Die letzte Herder- 
arbeit ist wohl die von Kühnemann, ^) welcher in Herders Welt- 
anschauung zwar einen gesunden Kern findet, in seiner Polemik 



') „Mancherlei zur Geschichte der metakritischen Invasion** von 
Rink; dann die Schriften Kiesewetters, Krugs, Ratzes, Gramers etc. 

') Zimmermann, „Geschichte der Aesthetik*. S. 425 ff. 1858 

^) Böhmer, „Geschichte der Entwicklung der naturwissenschaftlichen 
Weltanschauung.** S. 33. 1872. 

^) BSrenbach, „Herder als Vorläufer Darwins**. 1877. 

*) Michalsky, „Kants Kritik der reinen Vernunft und Herders Meta- 
kritik** (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. 1884-1885). 

") Kühnemann, „Herders Persönlichkeit in s. Weltanschauung*. 1893. 



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gegen Kant aber ein Zeichen „der Stockung der Gedanken in 
seiner Persönlichkeit*^ erblickt.^) 

Bevor wir an die Lösung dieser unserer zweiten Frage — 
nach dem Verhältnis der Weltanschauungen unserer Philosophen 
— herantreten, müssen wir noch die frühere Frage — nach den 
persönlichen Beziehungen derselben — beantworten. 

') Denselben Standpunkt nimmt auch die jüngste Arbeit Kühne- 
manns, „Herders Leben^ ein (S. 262 flF.). 1895. 



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Erster Teil. 



1. Herder als Schüler Kants. 

lieber die Universitätsjahre Herders, wie auch über seine 
erste Begegnung mit Kant berichten uns teils die „Erinnerungen" 
(I, S. 59—61), teils Herders Briefwechsel.^) Alle Vorlesungen, 
welche Kant in den Jahren 1762 — 64 hielt — über physische 
Geographie^ Mathematik, Logik, Moral, Philosophie und Meta- 
physik — , soll Herder gehört und ihren Inhalt auch selbständig 
verarbeitet haben. Manche Stellen aus seinen Briefen und Jugend- 
gedichten zeugen von seiner Begeisterung für den Lehrer, welcher 
auch seinerseits die frühen Produkte des Herderschen Geistes 
mit Wohlwollen begrüsst hat. So schreibt Herder an Eichhorn : 
„Durch Kant ist die Philosophie das Lieblingsfeld meiner Jugend 
geworden," und in einem seiner Gedichte sagt er : „Mein Erden- 
blick ward hoch — er gab mir Kant." Ein ganz anderes Licht 
wirft auf die Beziehungen des jungen Herder zu seinem Lehrer 
die Vorrede zur „Kalligone" : „Der Jüngling," sagt da Herder 
von sich selbst, „bewunderte des Lehrers dialektischen Witz, 
seinen Scharfsinn, seine Beredsamkeit ; bald aber merkte er, dass 
wenn er sich diesen Grazien des Vortrages überliesse, er von 
einem feinen dialektischen Wortnetz umschlungen würde, inner- 
halb welchem er selbst nicht mehr dächte. Strenge legte er 
sich also auf, nach jeder Stunde das sorgsam gehörte in seine 
eigene Sprache zu verwandeln . ..." (S. 12). Auch Caroline 
Herder will uns glauben machen, dass ihr Mann „Kant am 
liebsten über die grossen Gesetze der Natur habe reden gehört ; 
an seiner Metaphysik hingegen habe er weniger Geschmack 

•) Näheres darüber bei Suphan und Haym, I, S. 29—50. 



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gefunden; Kants blinder Schüler und Nachbeter konnte und 
wollte er niemals werden, und eine Sympathie der Gemüter fand 
niemals statt" (Erinnerungen, I, S. 62). P]s fragt sich nun, inwie- 
fern diese beiden angeführten Stellen der Wahrheit entsprechen ; 
gegen ihre Glaubwürdigkeit spricht am meisten die bekannte 
Stelle aus den „Humanitätsbriefen'^, welche Kant als philo- 
sophischen Lehrer preist (XVIII, S. 324): ^ Ich* habe das Glück 
genossen," heisst es dort, j^ einen Philosophen zu kennen, der 
mein Lehrer war . . ., er kam immer zurück auf unbefangene 
Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert der Menschen . . . 
Er munterte auf und zwang zum Selbstdenken; Despotismus 
war seinem Gemüt fremde. Dieser Mann, den ich mit grossester 
Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein 
Bild steht angenehm vor mir." Und durch den Vortrag dieses 
zum Selbstdenken aufmunternden, dem Despotismus fremden 
Lehrers sollte der Jüngling gefürchtet haben, „von einem feinen 
dialektischen Wortnetz umschlungen zu werden, innerhalb 
welchem er selbst nicht mehr dächte?** Sollte wirklich so 
dialektisch bestrickend und den Inhalt verschleiernd der Vortrag 
des damaligen Kant gewesen sein, der in seiner „Nachricht von 
der Einrichtung der Vorlesungen" — 1765 — 66 — die forschende 
induktive Lehrmethode als die beste hinstellt und das Ziel des 
Vortrages darin sieht, dass die Schüler „philosophieren, nicht die 
Philosophie, denken, nicht die Denker lernen" ? Hat auch Herder 
den Verfasser der ^Kritik der reinen Vernunft", die er ja nicht 
verstehen konnte, als einen Scholastiker angesehen, so hätte er 
doch schwerhch diesen Vorwurf dem Kant der 1760er Jahre 
machen können. Herder selbst schreibt an Hamann, ^) von allen 
seinen Universitätslehrern sei Kant allein kein Pedant. Und 
in Herders Reisejournal vom Jahre 1769 lesen wir: „Philosophie 
und Metaphysik sollen als das Resultat aller Naturwissenschaften 
gelehrt werden; ein lebendiger Unterricht darüber im Geiste 
eines Kant, — was für himmlische Stunden!" („Lebensbild" II, 
S. 214 ff.). Alle diese Aeusserungen Herders widersprechen den 
zwei oben angeführten Stellen aus der „Kalligone" und den 
„Erinnerungen". Trotzdem werden die letzteren noch von 
Pfleiderer als glaubwürdig angesehen ; erst Suphan und nach ihm 

») Lebensbild I., 2, 178. 



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Haym haben sie, wie mir scheint, endgültig widerlegt. Der 
Zweck des Herderschen Berichtes* in der „Kalhgone*^ ist nach 
Suphan ,,jenes erstere Bekenntnis in den „Humanitätsbriefen** 
einzuschränken und abzuschwächen, und dem Misstrauen und 
Widersprüche gegen die Lehren Kants, mit dem Herder spät 
und unerwartet hervorgetreten war, ein möglichst altes Datum 
zuzuschreiben ..." 

Haym^) weist einzelne Anklänge an Kants damalige An- 
sichten beim jungen Herder nach ; so z. B. das Hervorheben der 
Schriften Baumgartens, die Bevorzugung der „analytischen 
sokratischen Lehrmethode", die Forderung der „physischen 
Analyse" in der Philosophie, die Theorie der unzergliederhchen 
Begriffe, endlich direkte, wiederholte Anklänge an Kants „Be- 
trachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen". 

Aber würden wir auch nicht im Stande sein, diese einzelnen 
Anklänge nachzuweisen, so bliebe auch dann der tiefe Einfluss 
Kants auf Herder für uns eine unbestreitbare Thatsache, mag 
sie nun Herder bewusst oder unbewusst gewesen sein. Erinnern 
wir uns an den damahgen Standpunkt Kants. Es war die 
Zeit, in welcher Kants „Falsche Spitzfindigkeit der vier 
syllogistischen Figuren" (1762), „Der einzig mögliche Be- 
weis Gottes" (1763), „Nachrichten über die Einrichtung der 
Vorlesungen" (1765) und „Betrachtungen über das Gefühl des 
Schönen und Erhabenen" erschienen. Lassen wir auch die 
schwierige, streitige Frage von der Entwickelung des Kantischen 
Denkens bis 1770 bei Seite, so bleibt doch als eine, so viel ich 
weiss, allgemein anerkannte Thatsache zurück, dass in Kants 
philosophischem Standpunkt vom Jahre 1762 bereits Leibnizisch- 
Wolfische rationalistische, wie auch englische em})irische Ele- 
mente aufgelöst waren, -) und völlig ausser Zweifel steht endlich 
Kants Hinneigung zur naturwissenschaftlichen Forschung. Diese 
drei Elemente finden wir aber sämtlich auch bei Herder wieder: 

») I. Band, S. 39-50. 

') K. Fischer, „Immanuel Kant", I., 7. Kapitel, S. 116; Paulsen, 
jEntwicklungsgeschichto der Kantschen Erkenntnistheorie" ; sogar Hey- 
mans, welcher im allgemeinen die Annalime einer empirischen Periode bei 
Kant bestreitet, giebt einen wenn auch unbewussten Empirismus (S. 574). 
oder wenigstens eine empirische Methode (Archiv für Gesch. der Philos., 
IL, 579,) zu. 



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— 8 — 

die Naturwissenschaft war seine Lieblingswissenschaft , der 
Empirismus seine Methode, und der Rationahsmus endhch der 
Standpunkt, von welchem aus er sogar den konsequenten 
naturphilosophischen Pantheismus Spinozas mit Leibnizisohen 
Elementen durchsetzte. 

Diese Verbindung von Empirismus und Rationalismus führte 
Kant zur Annahme einer mechanischen CausaUtät, die jedoch 
teleologisch gefärbt war, ^) sie bildete seine Lehre „der mecha- 
nischen Entstehung und fortschreitenden Elntwicklung" — und 
eben diese Lehre ist, wie Kuno Fischer sagt, zum Ausgangs- 
punkt der Herderschen „Ideen" geworden. 2) 

Von demselben dogmatisch-rationalistischen Standpunkt aus 
kommt Kant zu seinem Optimismus und behauptet, dass' unsere 
Welt die beste und vollkommenste sei; 3) auch diese Ansicht 
hat Herder nie verleugnet; die Zweckmässigkeit des grossen 
Ganzen war immer der Standpunkt, von welchem aus er das Ein- 
zelne betrachtete. Alle Begriffe, welche aus der damaligen 
Kantischen Weltanschauung entsprangen — von den lebendigen 
Kräften,^) von der Stufenleiter der Wesen, der freien Ent- 
wickelung der Natur nach ihren immanenten Gesetzen,^) der Be- 
grilT von Gott als von der höchsten sich in der Natur offenbarenden 
Vernunft,^*) die Ineinsbildung der Freiheit und der Natur — das 
alles finden wir in den späteren Schriften Herders als deren Grund- 
gedanken wieder. 

Eine bevorzugte Stellung nahm im damaligen Gesichts- 
kreis Kants die Moralphilosophie ein : ihm war die Moral etwas 
Feststehendes, dem Denken Vorausgehendes und von ihm Un- 
abhängiges ; ') — auch dieses raoraHsche Element ist ein be- 
zeichnendes und fast ausschlaggebendes für die ganze litterarische 
Thätigkeit Herders — es ist das Princip seiner Humanitätslehre. 
So finden wir denn in dem damaligen Standpunkt Kants die 
Keime der drei wichtigsten Elemente des Herderschen Geistes: 

*) „Naturgeschichte dos Himmels". 
^) , Immanuel Kaat„, I, 151. 
•') „Betrachtungen über den Optimismus". 
*) „Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte*. 
^) „Naturgeschichte des Himmels". 

**) „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des 
Daseins Gottes". 

') Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen". 



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— 9 — 

es ist sein naturwissenschaltlicher Pantheismus, die Durchsetzung 
desselben mit rationalistischen, geistigen Elementen und endlich 
die Belebung des Ganzen durch die Idee der Humanität. Sollte 
Kant auch keinen directen Einfluss auf Herder ausgeübt haben, 
so wirkte er auf ihn zweifellos mittelbar, indem er ihn mit 
Leibniz, Newton, Locke, Schaftesbury und Rousseau bekannt 
machte — Philosophen, deren directer Einfluss auf Herder von 
Niemanden geleugnet wird. 

Alle diese scheinbar unversöhnlichen Elemente gähren in 
Kant in den Jahren 1762—64. Sie treffen wir auch bei Herder 
damals, wie später an. Aber während sie bei Herder nie ganz 
versöhnt und vermittelt wurden, strebt Kant nach einem ein- 
heithchen und konsequenten System ; den Weg zu einem solchen 
findet er im Humeschen Skepticismus. Dies ist das einzige 
Element des damaligen Kantischen Denkens, welches wir bei 
Herder nicht antreffen. Zwar finden sich auch bei ihm einzelne 
Bemerkungen, welche, im Vergleich mit dem Wölfischen Dogma- 
tismus, skeptisch klingen; zwar ist auch ihm gleich Kant die 
Metaphysik „eine sok ratische Weisheit Nichts zu wissen^* (Frag- 
mente, Bd. II, S. 17), aber es handelt sich hierbei immer nur 
um die „hohe Philosophie", wie Herder die Metaphysik nennt, 
nicht um die Philosophie überhaupt. So äussert sich der Her- 
dersche seichte Skepticismus nur in seinem Widerspruch gegen 
die bisherige dogmatische*) Philosophie. Kant hingegen, dem 
es mit seinem Zweifel wirklicher Ernst war, überwand zunächst 
durch denselben alle fremden Einflüsse, unter welchen er früher 
gestanden hatte, um dann schliesslich ihn selbst zu überwinden 
und zu seinem eigenen krititischen System zu kommen. Diese 
tiefe Bedeutung konnte Hume für Herder, mit seiner von Hause aus 
vertrauensvollen Seele, mit seinem absoluten Glauben an unsere 
Erkenntnis, nicht haben. So war denn eben dasjenige Element 
im Geiste Kants, welches dessen Kritizismus herbeiführte, für 
Herder unzugänghch, und so war ihm das Verständnis des zu- 
künftigen Systems seines Lehrers von vorneherein verschlossen. 2) 

') Darauf bezügliche Stellen bei Herder, siehe Haym, I, S. 48. 

*) Höffding, „Kontinuität im Entwicklungsgange Kants*, Arohiv, 
Bd. VIII. „Herders Naturell und Geistesrichtung gemäss war es kein Wun- 
der, dass Humes Zweifel ihm übertrieben und willkürlich erscheinen konnte; 
Herder fand keine solche Verwendung für diesen wie Kant, dessen Gedanken 



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— 10 - 

Von dem skeptischen Elemente abgesehen, blieb Herder, wie 
Haym (I, S. 41) sagt, „ein Kantianer vom Jahre 1765, um schliess- 
lich gegen den Kant vom Jahre 1781 die nur neu gemischten 
und gefärbten Gedanken des werdenden Kant zu Felde zu 
führen/ 

Dieses einzige Element, welches den Schüler vom Lehrer 
trennte, führte nun zu ihrem ersten Missverständnis; den Anlass 
dazu gaben „Die Träume eines Geistersehers". Mit Recht, scheint 
mir, nennt Hettner (III, 2, S. 251 ff.) diese „Träume" — das 
Programm der ganzen zukünftigen Thätigkeit Kants, den Vor- 
läufer seines Kriticismus. Mag der Standpunkt dieser Schrift 
ein absolut skeptischer (K. Fischer, I, 2(>9) oder ein noch im 
wesentlichen empiristischer (Paulsen, S. 88), oder endlich ein 
reahstisch-rationalistischer (Heymans im Archiv, II, 575) sein — 
das eine darf wohl als sicher gelten, dass von allen vorkritischen 
Schriften Kants diese dem kritischen System inhaltlich am 
nächsten steht. Für Kant ist der Geisterseher Swedenborg ein 
eben solcher Träumer, wie alle dogmatischen Metaphysiker, von 
denen sich jeder seine eigene Welt ausdenkt. In der Frage, 
ob es Geister gäbe, wie sie beschaffen seien, ob es eine Gemein- 
schaft zwischen ihnen gäbe, entscheidet ersieh weder /)ro^ noch 
contra: jede Annahme sei ebenso möglich, aber auch ebenso 
unbeweisbar, wie die ihr widersprechende, denn metaphysische 
Behauptungen können nicht bewiesen werden, sie sind Traum, 
bewusster oder unbewusster Trug. Weder der Hylozoismus, 
der Alles belebt^ noch der Materialismus, der Alles tötet, sind 
beweisbar; ja noch mehr: „wie etwas könne eine Ursache sein, 
oder eine Kraft haben, ist unmöglich durch Vernunft jemals 
einzusehen"; die wahre Aufgabe der Philoso})hie besteht daher 
nicht in der Behandlung von Fragen , die sie nicht zu lösen 
vermag, sondern nur in der Prüfung der „Gi'enzen der mensch- 
lichen Vernunft", und die Folge dieser Prüfung ist eine sokrat- 
ische Zufriedenheit mit der gegebenen, erkennbaren Welt. Auch 
die Behauptung, dass die Metaphysik die Frage nach dem zu- 
künftigen Leben lösen soll, weil die letztere unsere Moral be- 



dadurch in stärkeren Fluss gesetzt wurden, ja Herder konnte kaum 
verstehen, wie Kant ihn zu verwenden vermochte; sein späteres Ver- 
hältnis zu Kant lässt dies vermuten." 



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— 11 — 

gründe, wird von Kant widerlegt; ihm ist ja die Moral etwas 
Ursprüngliches, vom Wissen Unabhängiges: „man müsse die 
Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohl- 
gearteten Seele, nicht umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die 
Hoffnung der anderen Welt gründen." So haben wir denn schon 
in dieser Schrift die beiden Hauptkeime des Kriticisnms Kants. 
Seine offene Erklärung für das vernünftige „Ich weiss nicht" 
einerseits und sein Abweichen von Hume in den Fragen der 
Moral andererseits kündigen uns im Verfasser des kleinen Bänd- 
chens den Urheber der beiden Kritiken an. 

Und nun, wie verhält sich Herder zu diesem Vorläufer der 
kritischen Schriften Kants? In seiner Rezension der , Träume"^) 
lobt er die feine und einnehmende Art des Vortrags, die treu- 
herzige Laune zu erzählen und zu philosophieren, die Beobacht- 
ungen in der Pathologie der menschlichen Seele, den analytischen 
Weg. Nicht zufrieden aber ist er mit dem Inhalt der Schrift 
und besonders mit ihrem „dogmatischen", d. h. rein philosophischen 
Teil, in welchem Kant von der Möglichkeit der Geister spricht. 
Herder wirft dem Verfasser vor, dass er „Hypothesen darbringe, 
die, wie eine Synthese betrachtet, mehr Schönheit haben, als 
sie haben dürften, wenn sie immer bei Datis blieben". Als ob 
Herder nicht bemerkt hätte, dass Kant nur dazu die Frage 
scheinbar ernst aufnimmt, um dann überhaupt die Beschäftigung 
mit solchen Fragen im komischen Lichte darzustellen, sagt er: 
„Der Verfasser trägt die Wahrheiten von beiden Seiten vor und 
sagt, wie jener Römer: einer sagt nein! der andere ja! ihr 
Römer, wem glaubt ihr?*^ Schon die erste Rezension Herders 
beruht so auf einem Miss Verständnis; was er „Wahrheiten" 
nennt, ist für Kant nicht einmal wissenschafthche Hypothese, 
sondern nur ein Trug, ein Traum der Vernunft ; Kant fragt den 
Leser nicht: wofür entscheidest du dich, sondern er behauptet 
geradezu: wenn du ein wenig Vernunft hast, wirst du dich für 
garnichts entscheiden, wirst du dich um derartige Fragen über- 
haupt nicht bekümmern. 

Woher kommt denn dieses Missverständnis? Suphan leitet 
es von der „Hochachtung ab, die dem Schüler auch proble- 

*) Königsberger politische Zeitungen, 1766. 18 Stück (SWS., I., 
Seite 68). 



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— 12 ~ 

matische Behauptungen des Lehrers im Lichte von Beweisen 
erscheinen lässt*^ ; Haym (I, S. 48) sieht seine Ursache in der 
„Anwendung seitens Herders derselben kritischen Behutsamkeit, 
die er von Kant gelernt hatte^. Aber wenn ich mich nicht irre, 
liegt der Grund davon viel tiefer; es ist derselbe Grund, der 
Herder für immer das Verständnis des Kantischen Systems ver- 
schluss ; es ist seine einheitUche, auf Synthese gerichtete Natur, 
der die tiefe Verschiedenheit der Erkenntnis und der Wirklich- 
keit, der Erscheinung und des Dinges an sich, des Scheins und 
des Seins, der ganze Kantische DuaHsmus zuwider war; es ist 
sozusagen sein Objektivismus, welcher sich gegen den Kantischen 
Subjektivismus immer sträubte. Herder hat die bahnbrechende 
Bedeutung der „Träume" eher geahnt, als erkannt: „Die Schrift," 
sagt er, „enthält allgemeine Betrachtungen über die Metaphysik, 
und das Schlusshauptstück des dritten Teils insonderheit enthält 
einige grosse Züge zu einem Plane, den der Verfasser selbst am 
besten ausführen und anwenden könnte." Herder meinte wohl 
damit die Säuberung der Philosophie von dogmatischen Be- 
hauptungen, eine Reform der Methaphysik ; dass aber Kant auch 
eine Reform der ganzen Philosophie unternehmen wolle, dass er 
nicht nur die Beweisbarkeit der Geisterlehre, sondern auch die 
absolute Erkenntnis der Erfahrungswelt leugnen werde, das hat 
Herder kaum vorher geahnt; denn hätte er es, er würde nicht 
mit solcher Freude den Plan zu einem System verkündet haben, 
dessen Bekämpfung für ihn so verhängnisvoll werden sollte. Dass 
dieses erste Auftreten des Schülers gegen seinen Lehrer durchaus 
nicht auf persönliche Umstände zurückzuführen ist, unterliegt 
keinem Zweifel: die Beziehungen der beiden, so lange Herder 
in Königsberg blieb, haben wir bereits kennen gelernt; als Herder 
Ende 1764 nach Riga ging, bHeben seine Beziehungen zu Kant 
noch immer freundschaftlich; wir wissen aus Herders eigenem 
Zeugnis, dass Kant „ihm seine Träume bogenweise zugeschickt 
hat" („Aus Herders Nachlass", II, 24), wir wissen ferner, dass 
die beiden noch lange mit einander Grüsse wechselten und dass 
Herder sogar seine Jugendfreunde von Riga aus aufmunterte, 
Kants Vorlesungen zu besuchen („Erinnerungen", II, 220). Endlich 
haben wir auch einen Brief Herders an Kant vom Jahre 1767 
(„Lebensbild", I, 2, 294) — einen Brief voll Achtung und Ver- 
ehrung, der dabei doch von der Selbständigkeit des Schülers 



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— 13 — 

dem Lehrer gegenüber zeugt; Herder, heisst es da, „habe Zweifel 
wider manche philosophische Bedenken und Beweise seines 
liebsten, verehrtesten Kant."^) 

2. Herders dynamischer Standpunkt. 

Mit der Herderschen Rezension der „Träume" beginnt eine 
neue Periode in den Beziehungen der beiden Philosophen ; bereits 
äussert sich in ihr die Geistesverschiedenheit der zwei Denker, 
welche später zu ihrem gänzHchen Bruch führen sollte. Bis dahin 
aber, bis dieses erste kleine Missverständnis zu einer unüber- 
brückbaren Kluft wird, vergehen fast 20 Jahre, innerhalb 
welcher unsere Philosophen sich immer mehr von einander 
entfernen, ja sogar entgegengesetzte Wege einschlagen. Auch 
äusserlich löst sich ihr Verhältnis: Herder verliert seinen 
Lehrer aus den Augen, er kommt unter neue Einflüsse, die 
eines Nicolai und eines Hamann, und das Bild seines ersten 
Lehrers erblasst allmählich in seiner Erinnerung. Mit der äusser- 
lichen Entfremdung geht die innere Hand in Hand. Polgen wir 
den beiden PhUosophen auf ihren immer mehr auseinandergehen- 
den Wegen, um sie dann bei ihrem ersten Zusammentreffen 
einander gegenüberzustellen. 

Als Jüngling kam Herder in das Auditorium Kants ; seine 
junge empfängliche Seele fasste .mit Freude jedes neue Wort, 
jeden neuen Gedanken auf, denn alles Neue zündete einen neuen 
Funken in seiner erwachenden Seele ; wäre Kant nicht, so hätte 
er vielleicht einen anderen „Apoll** besungen. Als j,ein werden- 
der** war er immer dankbar. Und doch war er nicht für Alles 
gleich empfanglich; in seiner zarten Seele waren schon klare, 
scharfe Züge erkennbar: die Natur mit ihrem stillen, aber stetigen 
Wirken war noch in der Kindheit der Lieblingsgegenstand seiner 
Betrachtung ; in der lebenden Natur vergass er sich selbst. Der 
Knabe, der das Wirken und Weben der Natur im Kleinen mit 
Liebe betrachtete, 2) sollte später mit derselben Liebe ihr Wirken 
auf dem ganzen Erdenrund, in der Geschichte der Völker, im 
ganzen Universum verfolgen. Jetzt bewundert der Knabe die 

') Seit 18 U ist uns auch ein Brief von Kant an Herder vom Jahre 
1767 bekannt; Altpreussisehe Monatsschrift 1891, Heft 3, 4, S. 194. 
») Siehe „Erinnerungen'', I., S. 11 f. 



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— 14 — 

kleine Blume, die sich so schön aus einer Knospe entfaltet; auf 
dein Gipfel seines Denkens angelangt, wird er in der ganzen 
Menschheit, in der ganzen Geschichte eine grosse Knospe be- 
wundern, die sich zur höchsten Blüte entfalten soll, zur „Blüte 
der Humanität '^. Das Gesetz dieses Wachsturas wird er später 
„innere Kräfte" nennen; die ganze, alle diese Kräfte in sich zu- 
sammenfassende Ordnimg wird ihm als Allnatur, Allgott er- 
scheinen, dessen Wille sich in der Erziehung der Menschheit 
äussert. All die schönen, erhabenen Gedanken Herders soUen sich 
so an denselben Kernbegriff anreihen, der auch die Seele des Knaben 
erfüllt : es ist der Gedanke des lebendigen Wirkens und Webens 
der Natur, des allmählichen Wachstums und Verwelkens, des 
Entstehens und Vergehens — der (ledanke des ewigen Werdens. 
Wie ein roter Faden zieht sich dieser Gedanke durch die ganze 
litterarische Thätigkeit Herders, er umspannt alle seine einzelnen 
Ansichten und Begriffe, er bedingt seine ganze dynamische 
Weltanschauung. Es scheint dieser Hauptbegriff Herders in 
seinem eigenen energischen, lebhaften, leidenschaftlichen Naturell, 
in seiner empfängUchen und leicht beweghchen Seele, in seinem 
heftigen, immer thätigen Gemüt begründet zu sein: bei einem 
Mann wie Herder, der so sehr mit seinem ganzen Wesen am 
wirklichen Leben hängt, der so sehr vom Gemüt beherrscht wird, 
kann das Denken wohl Gesetze vom Gemüt empfangen. Und gerade 
bei Herder scheint diese Abhängigkeit vom Gemüt zugleich die 
Bedingung des Denkens, wie die Klippe zu sein, an dem es scheitert: 
denn nichts fehlt dem Herderschen Gedanken des Werdens und der 
Entwickelung so sehr als die eigene Entwickelung. Wissbegierig 
beobachtet Herder die Natur in ihrem Wirken und Weben, jede 
Erscheinung verfolgt er bis zu ihrem Vergehen, um dann auch das 
letztere in ein Entstehen übergehen zu sehen; aber sein Gemüt 
befriedigt dieses ewige Konnnen und Gehen nicht: der Herbst mit 
seiner verheerenden Wirkung auf die Natur erfüllt die Seele des 
jungen Herder mit Wehmut, und schon als Knabe stellt er Vergleiche 
zwischen den fallenden Blättern und sterbenden Menschen an: 
„Ein Geschlecht von Blättern, das so wenig aufersteht als wir 
Menschen, wenn wir abfallen ! Für mich hat kein Bild und kein 
Bild und kein Gleichnis von Jugend auf mehr Eindruck gemacht 
als diess !" ^) Das Gemüt sucht etwas Bleibendes, Unvergängliches — 

^) Brief an seine Braut. Bückeburg, Okt. 1771; „Erinnerungen*, I, S. 12. 



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— 15 ~ 

es strebt nach einem fassbaren, erreichbaren Ideale. Warum? 
fragt die immer weitersuchende Wissbegierde, und wieder — 
Warum? sie rastet nie. Wozu? sagt das stille Gemüt — es 
will Ruhe, es will Halt, haben. Und fängt der Mensch an, nach 
den Zwecken in der Natur zu suchen, so ist es aus mit seinem 
unvoreingenommenen Urteil über ihre Gesetze, ihre Ursachen. 

So steht denn das Streben nach einem fassbaren Ideale bei 
Herder nahe an der wahrheitsgetreuen Erforschung des Wirk- 
lichen, und lässt die Erkenntnis nicht zur Wahrheit durchdringen. 
Der strenge naturwissenschaftliche Begriff des Werdens, ver- 
bunden mit dem ablebenden und morschen Substanzbegriff — 
da haben wir die Keime und die Schranken der Herderschen 
Entwickelungstheorie : bald mehr, bald weniger vom Gemüt ab- 
hängig, bald in Mysticismus verfallend, bald sich scheinbar zur 
völlig freien Forschung erhebend, bleibt Herder immer auf halbem 
Wege stehen. Zwischen der dogmatischen Philosophie des vorigen 
Jahrhunderts und der freien Forschung eines Darwin in einer 
bedenklichen Mitte stehend, will er die beiden entgegengesetzten 
Begriffe des Seins und des Werdens versöhnen und in eins ver- 
schmelzen ; in Wahrheit aber bleiben sie bei ihm ebenso unvermittelt 
und entgegengesetzt, wie es ihre Natur mit sich bringt, — nur 
verweilt er bald bei dem einen, bald beim anderen und giebt 
sich so nur äusserUch den Schein der Konsequenz. 

Herders erstes vollendetes philosophisches Werk war die 
Preisschrift „Ueber den Ursprung der Sprache" (1770). Offen 
und frei tritt darin Herder gegen die orthodoxe Süssmilchische Hypo- 
these des göttlichen Ursprungs der Sprache auf: „Schon als 
Tier hat der Mensch Sprache" (V, S. 5) ; „die unmittelbaren Laute 
der Empfindung haben nicht bloss keinen übermenschlichen, 
sondern offenbar einen tierischen Ursprung — das Naturgesetz 
einer empfindenden Maschine" (S. 17). Zwar will Herder anderer- 
seits auch nicht diese unmittelbaren Laute der Empfindung mit 
Condillae für den einzigen Ursprung der Sprache erklären; die 
letztere ist für ihn vielmehr eben dasjenige Prärogativ des 
Menschen, welches ihn vom Tier unterscheidet, und dieser Unter- 
schied zwischen dem Tier und dem Menschen steht für Herder 
fest : weder will er mit Condillae „die Tiere zu Menschen", noch 
mit Rousseau „die Menschen zu Tieren" machen (S. 21). „Das 
erste Merkmal der Besinnung (der menschlichen Vernunft-Reflexion) 



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l war das Wort der Seele. Mit ihm ist die menschliche Sprache 

erfunden" (S. 35). Aber wenn auch Herder dem französischen 
Materialismus in seinen letzten Konsequenzen nicht folgen wollte, 
so war schon der Bruch mit dem deutschen Dogmatismus für 
die damalige Zeit und besonders für einen Theologen ein grosser 
Schritt vorwärts. Aber kaum ist das Werk vollendet und im 
Druck erschienen, so gerät Herder in Verzweiflung, er klagt, dass 
„niemand von der Akademie sich über die fatale Schrift erbarmt 
habe,"^) und „möchte sie jetzt weg haben;" 2) er fürchte, heisst 
es in seinen Begriffen, „vielen Widerspruch, Fragen und Streit- 
schriften".^) Eher fürchtete er schon sein eigenes Ich, welches 
selbst vor den Konsequenzen seines Denkens erschrack. Und 
als Herder vollends von der Unzufriedenheit seines Freundes 
Hamann hörte,*) wurde sein innerer Zwiespalt noch stärkerund 
seine Wahrheitsliebe musste diesmal vor dem beleidigten Gemüt 
die Waffen strecken. Er sehe jetzt selbst ein, heisst es nun 
wieder,^) „dass das ganze Ding nicht wahr ist, und wolle das 
beweisen für den Thoren, der Beweis brauche", und schon im 
nächsten Werke — „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts" 
— widerruft Herder seine Worte : „nur durch -göttlichea Unter- 
richt hat der Mensch den Gebrauch der Sprache und der Ver- 
nunft gelernt" (S. 299). Dieses letztere Werk aber fallt schon in 
eine neue Periode des Herderschen Denkens, ins Jahr 1775, mithin 
in seine Bückeburger Zeit. Diö einsame Bückeburger Periode 
mit ihrem stillen Leben, die Annäherung an die fromme Gräfin 
Maria, der erneuerte Einfluss Hamanns und die gleichzeitige 
Entfremdung von Nicolai — alles scheint in diesen Jahren zu- 
sammenzuwirken, um Herders Gemüt ein völliges Uebergewicht 
über den trockenen Verstand zu geben. Herder sucht sein Ideal^ 
er findet es in Gott, in seinem Gott, im Gott des Gemütes; 
dieser Allgott umfasst ihm jetzt die Seele, das ganze menschliche 
Leben, die ganze Natur mit ihren Gesetzen — es ist das Ewige, 



') Brief an Nicolai, „Von und an Herder", I., 328. 
^) Brief an Caroline. „Aus Herders Nachlass*, HL, 178. 
^) Brief an Caroline, „Erinnerungen", I., 206. 

*) Hamanns Rezension in der Königsberger Zeitung, 1772, von Hart- 
knoeh Herdern zugeschickt. 
*) Siehe Hayni, L, 499. 



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-!4^' • 



— 17 — 

das Unvergängliche, es ist die höchste Vernunft, i) Wohl ist es 
keine blosse philosophische Abstraktion, sondern vielmehr ein 
lebendiger, ein denkender und fühlender, ein gerechter Gott; es 
ist die Verkörperung des Höchsten, was nur in der menschhchen 
Seele sein kann, — aber eben darum ist es auch nur ein Ideal, 
welches das Gemüt fordert und aus sich selber schafft, mit 
dem freien, forschenden Denken kann und soll dieser Gott nichts 
gemein haben. Dieser Seelengott offenbart sich Herder ebenso in 
der Geschichte der Menschheit („Auch eine Philosophie der Ge- 
schichte^S 1774), wie auch in der ältesten Urkunde — der heiligen 
Schrift („Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts", 1774). 
Und je mehr sich Herder in die Betrachtung dieses Seelengottes 
vertieft, desto befriedigter wird sein Gemüt, aber sein Wissens- 
drang bleibt ungestillt. Eine Reaktion gegen diese mystische 
Stimmung musste mit innerer Notwendigkeit Platz greifen; 
Herders Streben zur Wahrheit musste diesmal die Schranken 
des Gemütes durchbrechen. Ein Zeichen dieses neuen Um- 
schwungs könnte man schon in den „Ursachen des gesunkenen 
Geschmacks" erblicken, in welchen Herder, sich von dem ab- 
soluten Ideal abwendend, auf den individuellen, zeitlich bedingten 
Geschmack mit seinen natürlichen Ursachen hinweist. -) In noch 
freieren Bahnen bewegt sich das Herdersche Denken in der 
Preisschrift „Erkennen und Empfinden"; hier gelangt sein dy- 
namiscfier Standpunkt zum ersten Mal zum philosophischen Aus- 
druck. Vom Sinnesreiz bis zum abstrakten Denken, •^) von den 
dunkeln Empfindungen bis zu klaren deutlichen Ideen,*) von der 
Physiologie bis zur Psychologie und Erkenntnislehre •'') verfolgt 
Herder das Werden seiner wirkenden, lebendigen Kräfte. Beim 
Menschen bleibt Herder stehen ; der Mensch zeigt ihm die Brücke 
vom Individuellen zum Ideal, und so steht seine Humanitätslehre 
in der Mitte zwischen seiner Theologie und seiner Naturwissen- 
schaft. Der Mensch in seinem Thun und Leiden, in seiner Ent- 
wickelung zur Humanität ist der Anker, an welchem das Denken 

^) „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts", S. 311 : „Auch eine 
Philosophie", S. 484, 558, 565, 680 ff. 

') SWS., Bd. V., S. 59y, tl.-3, 645, 048 ff. 
«■•) SWS., Bd. VIII, S. 190. 
*) Dasselbe, S. 179. 
*) Dasselbe, S. 180. 

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— 18 - 

Herders sich zu befestigen sucht: raenschUche Theologie, mensch- 
hche Kunst, menschhche Geschichte, ja sogar menschliche 
Philosophie — das sind die Hauptfragen, mit welchen sich Herder 
beschäftigt und welche in seinem geschichts- philosophischen 
Werk „Ideen" ihre Lösung finden. 

3. Kants Entvrickelung zum Kriticismus. 

Das letztgenannte Werk Herders — „Die Ideen*^' — rief 
den grossen geschichtsphilosophischen Streit unserer beiden Phi- 
losophen hervor, und so treffen ihre bis jetzt getrennten Wege 
wieder zusammen. Inzwischen ist aber auch Kant ein anderer 
geworden, der entscheidende Umschwung zur kritischen Periode 
war in ihm bereits vollzogen. Das grosse kritische System ent- 
stand auf den Trümmern der beiden vorangegangenen Richtungen, 
der rationalistischen und der empirischen; im Grunde haben 
sich beide am Schluss bankerott erklärt: der Rationalismus 
musste selbst im Leibniz- Wolfischen Dogmatismus Concessionen 
machen und dem Empirismus blieb nichts übrig, als im Hume- 
schen Skepticismus auf jede notwendige und allgemeine Erkenntnis 
zu verzichten. Beide Stadien der Entwickelung der Philosophie 
hatte Kant bereits durchgemacht, als er beim Hume'schen Skep- 
ticismus anlangte. Hat aber Hume eine Kluft zwischen Erfahrung 
und Vernunft, Wirklichkeit und Ideal gerissen, so war es die 
That Kants, diese Kluft zu überbrücken; dass sie über- 
brückt sein sollj sagte Kant sein moralisches Gefühl, welches 
für ihn etwas Feststehendes, Primäres war; dass sie es sein 
kann und wirklich ist^ zeigte ihm die Mathematik mit ihren 
allgemein gültigen Formeln und die Naturwissenschaft mit ihren 
festen Gesetzen. 

So löste Kant den bisherigen Widerspruch des Denkens 
und djBS Empfindens, indem er behauptete, in jeder unserer 
Erkenntnis seien die beiden Elemente gleich vertreten — das 
empfangende und das denkende Vermögen wirken immer zugleich. 
So strebt das Kantische System, welches scheinbar eine Kluft 
zwischen Subjekt und Objekt bedeutet, im Grunde nur danach, 
eine Kluft zwischen dem Denken und Empfangen aufzuheben 
und eine höhere, transcendentale Einheit herzustellen. Wenn 
Kant dabei auf eine völlige Erkenntnis dieser Einheit und ihres 



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— 19 — 

Wesens verzichtet, so ist doch dieses, wenn auch nicht ganz 
fassbare Ideal seiner Theorie zugleich das Ideal der Wissenschaft 
schlechthin — nämlich diejenige Monade zu finden, welche der 
Materie, dem Geiste, wie den Vorstellungen von beiden zu Grunde 
läge. Wollten die beiden vorkritischen Richtungen der Philosophie 
das Welträtsel auf einmal, sei es durch den Begriff des Denkens, 
sei es durch den der Ausdehnung lösen, wollten sie den Schlüssel 
zu den Vorgängen der geistigen und der materiellen Welt zugleich 
fassen, so ging Kant über die beiden entgegengesetzten Hypo- 
thesen der bisherigen Philosophie hinaus, um die MögUchkeit 
ihrer Versöhnung in einer transcendentaleh^ unfassbaren Ein- 
heit zu finden: er verzichtete zwar auf das vollständige Er- 
reichen seines Ideals, steckte es aber dafür auch höher, als es 
die vorkritischen Denker gethan hatten. So erscheint uns sein 
ganzes System als ein Streben nach der höchsten, wenn auch 
nur in der Idee erreichbaren Einheit; während eine jede der 
vorkritischen Richtungen uns eine verwirklichte, dafür aber 
beschränkte Einheit, ein realisierbares, aber zu diesem Behuf auch 
herabgesetztes Ideal zeigt. In demselben Verhältnis wie zur 
ganzen vorkritischen Philosophie steht Kant auch zu ihrem viel- 
seitigsten Vertreter — Herder ; daher auch das besondere Interesse, 
welches ihre Polemik für uns hat. 

Wir sahen schon, wie beide Elemente, beide Richtungen 
des vorkritischen Denkens, von deren Widerspruch Kant ausging 
und mit deren endgültiger Scheidung und Begrenzimg er be- 
gann, wie sie beide in Herders Philosophie, ja sogar in seiner 
ganzen Persönlichkeit eng verbunden waren ; wir sahen, wie ihn 
sein Denken zum Empirismus, zur forschenden Erfahrungswissen- 
schaft führt, während sein Gemüt sich im rationalistischen 
Idealismus Luft macht. Seine ganze Philosophie war daher 
nichts als ein Versuch, die beiden entgegengesetzten Richtungen 
zu vers{)hnen. Hat Kant, sich in freier, unerschrockener Ge- 
dankenforschung über beide Parteien erhebend, ihren Streit 
unparteisch geschlichtet, so empfand Herder diesen Streit in 
seiner eigenen Persönlichkeit zu tief, um ein unparteischer Richter 
sein zu können. Kant und Herder nahmen beide ihren Weg 
durch die breite Heerstrasse des seichten, durch den gesunden 
Menschenverstand gemilderten Dogmatismus ; Herder wagt nicht 
diese Strasse zu verlassen, er scheut den steilen Weg des ex- 



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— 20 — 

tremen Empirismus in der Form des Hume's^chen Skepticismus ; 
Kants unerschrockener Gedanke aber bebt vor keiner noch so 
gewagten Consequenz zurück. Wie ein geschickter Arzt oft ein 
starkes Mittel braucht, um nur die Krankheit zu erkennen und 
sie dann desto leichter heilen zu können, so folgt auch Kant 
gern der Philosophie in ihren abschreckendsten Consequenzen, 
in ihren ausgeprägtesten Einseitigkeiten, um an diesen ihre 
Wundstellen leichter herauszufinden; eben darum, weil Kant in 
allen diesen extremen Richtungen nicht aufgeht, sondern sie 
nur prüfend verfolgt, vermag er die Philosophie zugleich 
von ihren beiden Enden anzufassen, den Idealismus Rousseaus 
und den Skepticismus Humes zu gleicher Zeit zu würdigen. 
Nicht so mutig und unerschrocken ist Herder: je tiefer die 
Krankheit der vorkritischen Philosophie in seiner eigenen Per- 
sönlichkeit steckt, je enger sie mit seinem befangenen Gemüt 
verbunden ist, desto nachsichtiger zeigt er sich gegen diese 
Krankheit, desto zaghafter und milder ist er in seinen Mitteln. 
In seinem Streben nach einer fassbaren Einheit der Welt 
und der Erkenntnis, der Wirklichkeit und des Ideals, stimmt 
Herder mit der ganzen vorkritischen Philosophie überein, aber 
dieses Streben macht sich bei ihm um so leidenschaftlicher 
geltend^ als jene beiden entgegengesetzten Elemente in den zwei 
verschiedenen Seiten des Herderschen Naturells ihre Verkörpe- 
rung fanden. Nicht nur als vorkritischer Philosoph steht daher 
Herder im Widerspruch zu Kant, sondern auch als ein Mensch, 
welcher in seinem eigenen Charakter die Keime zu demjenigen 
Zwiespalt birgt, welchen Kant aus der Philosophie zu schaffen 
gesucht hat. Und so ist denn der Satz, den wir früher auf 
die gesamte vorkritische Philosophie angewandt haben, in Bezug 
auf Herder doppelt wahr : er verhält sich zu Kant wie die fass- 
bare, aber unvollkommene zu der, als blosse Idee hingestellten, 
aber vollkommeneren und höheren Einheit, wie die sich mit 
wenigem begnügende Wirklichkeit zum ewigen Streben nach 
dem Ideal, wie die bedingte Erfahrung zur ewig strebenden, nie 
rastenden Wissenschaft. Solange Kant, als Herders Lehrer, noch 
selbst in der Zeitphilosophie befangen war, solange er mit der 
ganzen Leibniz- Wolfischen Schule nach einer Vermittelung der 
philosophischen Gegensätze strebte, ging ihm Herder willig nach; 



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— 21 - 

als er aber zum erstenmal den Vermittelungspunkt überschritt, 
Hess er Herder hinter sich zurück : mit den „Träumen" war das 
Verständnis Kants für Herder verschlossen. Lassen wir auch 
die Streitfrage nach dem Standpunkt Kants in dieser Schrift 
bei Seite, so bleibt doch eins sicher : mit der vorkritischen Philo- 
sophie steht Kant nicht mehr auf gleichem Wege, und mit der 
seichten Versöhnung der beiden vorkritischen Methoden, deren 
jede eine vollständige Erkenntnis der Welt für sich beanspruchte, 
hat er nichts mehr zu thnn. „Die Gemeinschaft zwischen einem 
Geist und einem Körper ist unbegreiflich' (S. 25), sagt Kant; 
damit aber ist der empiristischen Erklärung der ganzen Welt 
aus der Erfahrung, wie auch der rationalistischen Unterordnung 
der Welt unter die Gesetze des Geistes jeder Weg abgeschnitten 
— der entscheidende Schritt der endgültigen Scheidung der 
beiden Erkenntnisquellen, der Sinnlichkeit und des Verstandes, 
ist gethan. Weder genügt die naturwissenschaftliche Beweis- 
führung a posteriori dem Verstände, noch entspricht die meta- 
physische Beweisführung a priori immer der Erfahrung (S. 93 
bis 97), — wieder die entsc^heidende Trennung der beiden Me- 
thoden, die Sonderung des rationalistischen und des empirischen 
Elements. Mit diesem einen entscheidenden Schritt bricht Kant 
die Brücke zwischen ihm und der vorkritischen Philosophie ab. 
Während Herder mit der ganzen vorkritischen Philosophie nach 
dem letzten Wort des menschlichen Wissens frug, genügte es 
Kant, der Forschung ein Ideal aufzustellen, eine Richtung zu 
zeigen, ohne ihr von vorne herein ein Ziel, eine Grenze zu 
stecken. 

4. Der durch die „Ideen" veranlasste Streit. 

Die kritische Erstlingsschrift Kants, „Die Kritik der reinen 
Vernunft", erschien schon 1781, drei Jahre früher als die 
„Ideen"; seit Anfang 1782 besass Herder die „Kritik"; aber nach 
Hayras Ansicht hat er sie erst aus Hamanns „Metakritik über 
den Purismum der reinen Vernunft" kennen gelernt.^) Mag nun 
diese Behauptung zutreffend sein oder nicht, für uns bleibt dies 

*) li, S. 244; die Thatsache, dass Herder Hamann zu dieser seiner 
Metakritik aufgemuntert hat, seheint mir auf seine genauere Kenntnis 
des Kantiachen Werkes hinzuweisen. 



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— 22 — 

gleichgültig, denn verstanden hatte Herder die ^Kritik** gewiss 
nicht; wenn man den „Erinnerungen" glauben darf, soll Herder 
die „Kritik*^ schon 1783 „ungeniessbar und seiner Vorstellungsart 
zuwider" gefunden haben. ^) Dass aber Herders Weltanschauung 
von der „Kritik*^ gar nicht beeinflusst wurde, zeigt am besten 
der erste Teil der „Ideen". Zu den beiden Korypheen der neueren 
Philosophie, Spinoza und Leibniz, nimmt hier Herder eine aus- 
gesprochene Stehurig ein, er lernt von den Systemen beider, aber 
den Begründer der neuesten Philosophie lässt er ohne jegliche 
Berücksichtigung; er citiert zwar lobend seine „Theorie des 
Himmels" (S. 14), aber was das eigentliche kritische System 
Kants betrifft, so laufen ihm alle Voraussetzungen des Buches 
schnurstracks entgegen: überall wo Kant eine unüberbrückbare 
Kluft sieht, wo er seinen DuaUsmus aufstellt, findet Herder eine 
grosse, allumfassende Einheit, unter welche der Geist ebensowohl 
wie die Materie, die Vernunft wie die Sinnlichkeit, die Freiheit 
wie die Causalität passen, eine grosse Einheit, die nur allmählige 
Abstufungen, aber keinen jähen Sprung kennt (V. Buch, S. 167). 
Ein personificierter Pantheismus, ein mit geistigen Elemenen 
durchsetzter Materialismus — das war die Philosophie des eben 
erschienenen Buches. Wie gross der Abstand zwischen ihr und 
der Philosophie der reinen Vernunft ist, fällt schon beim ersten 
BHck in die Augen; beide Systeme hatten keinen Platz neben 
einander. Und wenn Herder das System seines Lehrers gar nicht 
berücksichtigte, so war es anders mit dem letzteren. Dieser war 
einer der ersten, welchen Hamann den Anfangsband der „Ideen" 
zugeschickt hat ; ^) er musste sich von dem neuen Werk, als von 
einem Versuch der Geschichtsphilosophie, die Lösung einer der 
wichtigsten Fragen seines eigenen Systems versprechen, der 
Frage nämlich über das Verhältnis der Willensfreiheit zu der 
Causalität der empirischen Welt. Aber nicht einmal die Wich- 
tigkeit der Frage, deren Lösung Kant suchte, wurde von Herder 
anerkannt; nicht nur machte dieser keinen ernsten Versuch, den 
Widerspruch der Willensfreiheit und der mechanischen Causalität 
aufzuheben, — er sah diesen Widerspruch gar nicht ein, er 
betrachtete die Freiheit als ein Gesetz der causal bedingten 



') „Eriunorungen*', IJ, S. 221. 
») Haym, II, S. 245. 



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— 23 — 

Natur. Hat nun die Herder'sche Lösung der geschichtsphiloso- 
phischen Frage Kant nicht befriedigen können, so war es ganz 
natürlich, wenn nun Kant sich fragte, ob nicht f<ein System eine 
bessere Lösung dieser Frage geben könnte. Und als ob Kant 
sich selbst darüber Rechenschaft geben, als ob er die Anwend- 
barkeit seines Systems auf verschiedene Gebiete der Wissenschaft 
prüfen wollte, Hess er noch im November desselben Jahres in 
der Berliner Monatschrift seine ^Tdee einer allgemeinen Geschichte 
in weltbürgerlicher Absicht" erscheinen. 

Auf diesen Aufsatz und auf die Aeusserung Hartknochs, — 
Kant schreibe den Misserfolg seiner „Kritik" Herdern zu, — sich 
berufend, wirft Pfleiderer Kant vor, es sei ungerecht von ihm 
gewesen, mit diesem Aufsatz die „Ideen" bekämpfen zu wollen, 
ohne ihren Schluss abzuwarten. Dieser Vorwurf scheint mir 
nicht ganz begründet zu sein, , denn einerseits verdienen die 
„Erinnerungen", welche die Aeusserung Hartknochs bringen 
(II, S. 221), wie wir schon gesehen haben, kein unbedingtes 
Vertrauen; was andererseits den obigen Aufsatz betrifft, so 
konnten die „Ideen" höchstens der letzte äussere Anlass zur 
Abfassung desselben sein, da doch sein Hauptgedanke noch vor 
den „Ideen" entstanden war: in der Vorbemerkung weist Kant 
auf eine Notiz in der Gothaischen Gelehrtenzeitung vom 11. Fe- 
bruar 1784 hin, als auf den Anlass zu seinem Aufsatz: „Eine 
Lieblingsidee des Herrn Professor Kant ist, dass der Endzweck 
des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten 
Staatsverfassung sei . . . ."; so stand der Grundgedanke der 
Abhandlung Kants im Februar 1784 bereits fest, während er die 
„Ideen" erst im Sommer dieses Jahres las. 

Als ob Kant sich gegen die indirecte Bekämpfung seines 
Systems im ersten Teil der Ideen verteidigen wollte, geht er in 
seiner Abhandlung von derselben Grundanschauung aus, welcher 
dort am meisten widersprochen wird, — von dem Conflict beider 
Wesen im Menschen, des tierischen, aus der Natur entspringenden, 
und des vernünftigen, der intelligiblen Freiheit entsprechenden; 
gemäss dem ersten ist der Mensch ein egoistisches Tier, das 
einer Zügelung seiner Triebe bedarf und im steten Antagonismus 
mit Seinesgleichen begriffen ist; als ein Vernunftwesen aber 
kann der Mensch einen Ausweg aus diesem Conflict finden, 
indem er, die Besserung, die Erziehung und die Vervollkommnung 



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— 24 — 

der die Vernunft und die Freiheit allein vertretenden Gattung 
anstrebt und so, den Conflict selbst zur Ursache einer gesetz- 
mässigen Ordnung machend, zum ewigen Frieden, zu einem 
Weltbürgertum gelangt. Durfte auch diese indirecte Polemik 
Kants von Herder nicht übelgenommen werden, so hatte der 
letztere in einer andern Schrift Kants, der „Recension der Ideen", ^) 
Grund genug, um mit seinem ehemaligen Lehrer unzufrieden zu 
sein; wenn nämhch die Einwände, welche Kant gegen Herders 
Geschichtsphilosophie erhebt, auch richtig sind, so können sie 
alle nur von einem Standpunkt gemacht werden, den Herder 
nicht verstehen konnte. Es ist, wie Metzler '^) sich ausdrückt, 
der Pantheismus Herders, der die Substantialität des menschlichen 
Geistes ausschliesst, — was bei Kant am meisten Ansioss erregen 
musste und von ihm bekämpft wurde. Lassen wir Kant selbst 
reden, so ist der wichtigste Angriffspunkt der „Ideen" — „die 
Idee und Endabsicht des Buches**, welche Kant folgendermassen 
ausdrückt : „es soll, mit Vermeidung aller metaphysischen Unter- 
suchungen, die geistige Natur der menschlichen Seele, ihre 
Beharrlichkeit und Fortschritte in der Vollkommenheit aus der 
Analogie mit den Naturbildungen der Materie, vornehmlich in 
ihrer Organisation bewiesen werden." Die Herder'sche Hypothese 
der unsichtbaren Kräfte, welche eigentlich seinem ganzen System 
zu Grunde liegt, nennt Kant einen „Kunstgriff, welcher das, 
was wir nicht verstehen, durch etwas anderes erklären soll, was 
wir noch weniger verstehen." Die ganze Theorie der organischen 
Kräfte ist für Kant „eine Metaphysik, ja sogar sehr dogmatische, 
so sehr sie auch Herder, weil es die Mode so will, von sich 
ablehnt." Von seinem späteren kritischen Standpunkt aus nannte 
Kant die ganze frühere Philosophie dogmatisch, aber er vergass 
dabei, dass das von ihm zur dogmatischen Metaphysik gestempelte 
System nichts anderes war, als eine weitere Entwickelung der- 
selben Ideen, welche er selbst vor 20 Jahren dem Verfasser 
eingeprägt hatte. Nichts würde vielleicht Herder so beleidigt 
haben, wie dieser Vorwurf eines metaphysischen Dogmatismus ; 
am wenigsten erwartete er diesen Vorwurf von Kant, dessen 
System er selbst mit Hamann für „pure Metaphysik" hielt. Dazu 

') Januarheft der Jenaer Zeitung, 1785. 
") „Herders Gesehichtsphilosophie". 



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-- 25 - 

kam noch der ironische, vernichtende Ton der Recension; das 
ganze geschichtsphilosophische System Herders wird als blosses 
Werk der Einbildungskraft, des lebhaften Genies des Verfassers 
betrachtet, und als sein höchstes Verdienst wird der Mut gepriesen, 
mit welchem er die Bedenklichkeiten seines Standes überwunden 
hatte. 

Dass Herder durch diese Recension gegen ihren Verfasser 
verstimmt und erbittert wurde, ist ja ganz begreiflich: um das 
Sachliche und Wahre der Recension einzusehen, müsste er aus 
einem dogmatischen zum kritischen Philosophen werden — ein 
Sprung, den zu machen er nicht im Stande war, und so erschien 
ihm diese Recension als blosse Ungerechtigkeit und böswilliger 
Angriff, i) 

Einen fast noch schlechteren Eindruck, als die Recension, 
scheint der geschichtsphilosophische Aufsatz Kants auf Herder 
gemacht zu haben : der Vernunftkritiker sagte dem Naturforscher, 
der Rigorist Kant — dem Gründer der Humanitätslehre wenig 
zu. „Ich w^oUte,'* schreibt er darüber an Jakobi,'-) „dass dich der 
Himmel begeisterte, über den selig-metaphysischen Sklavensinn 
ein Blatt zu schreiben, . . . Wenn das, was in der Recension 
\md dem Aufsatz steht, nicht Schwärmerei ist, aber bündelnde, 
eiskalte Knechtsschwärmerei, so weiss ich kein Wort mehr." 

Im zweiten Teil der Ideen •*) nimmt Herder den Menschen, als 
Naturwesen, in Schutz, und bekämpft den Kantischen Satz, dass 
der Mensch ein Tier sei, welches einen Herrn nötig habe 
(S. 383) ; er hebt die Bedeutung des Individuums im Gegensatz 
zur Kantischen Gattung hervor (S. 345) und will einerseits 
als Bestimmung des Menschen die Glückseligkeit (S. 338, 350), 
andererseits die Glückseligkeit als individuelles Gut betrachtet 
wissen (S. 333, 341). Herder bekämpft ferner Kants Meinung, 
dass das einzige Mittel des Portschritts der Staat sei (S. 340) ; 
er weist auf den Einfluss der unvollkommenen menschlichen 
Sprache auf den Verstand hin, welcher deswegen weder der 
„reinen Anschauung", noch der „blossen Spekulation'^ — dieser 
„Undinge der metaphysischen Schwärmerei" — fähig sei (S. 360); 

') Ueber die Stimmung Herders und seines Kreises und die Anti- 
recension von Reinhold — siehe Haym IL, S. 248—251. 

') 25. Februar 1785 - „Aus Herders Nachlass«, H., S. 2G0. 
■') Erschienen August 1785. 



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— 26 — 

endlich polemisiert er gegen den Selbstwahn, seine Vernunft 
für frei von Erfahrung und von Tradition zu halten (S. 343), 
und gegen den Metaphysiker, welcher die Philosophie der Ge- 
schichte konstruiert, indem er „einen Begriff der Seele festsetzt 
und aus ihm entwickelt, was sich entwickeln lässt, w^o und in 
welchen Zuständen es sich auch finde" (S. 290). 

Wenn auch alle diese Ausfälle gegen Kant Herder selbst 
unbewusst gebheben sein sollten, wie Haym dies vermutet, i) 
so waren sie doch für Kant ein Grund mehr, den 2. Teil der 
„Ideen" zu recensieren. Eine Verständigung auf dem speciell 
geschichtsphilosophischen Boden war jetzt zwischen Kant und 
Herder ebenso wenig möglich, wie früher auf dem rein philo- 
sophischen ; von ganz entgegengesetzten Gnmdanschauungen 
ausgehend, giengen sie auch in den Konsequenzen ihrer Systeme 
immer mehr auseinander: dem abstracten Denker war die 
Menschheit, dem Naturforscher der Mensch das Massgebende; 
der Vernunftkritiker richtete sich nach der Gattung, der Phi- 
losoph des personificierten Pantheismus nach dem Individuum; 
für Kant lag das Kriterium der Beurteilung eines Volkes oder 
einer Zeit in der Wirkung, die sie ausübte, für Herder in ihrem 
eigenen Zustand; der erstere sah den Zweck des Menschen in 
der Thätigkeit, der letztere in der Glücksehgkeit. Die Kluft 
zwischen beiden vertiefte sich immer mehr, und beim besten 
Willen konnten sie kein Verständnis für einander haben. 

Wieder verteidigt Kant in seiner Recension ^) seine von 
Herder angefochtenen geschichtsphilosophischen Ansichten : nicht 
die Glückseligkeit, sondern die Thätigkeit ist die Bestimmung 
des Menschen, nicht das Individuum, sondern die Gattung ist 
das Kriterium des Fortschritts. Es ist wieder nur der Ton der 
Recension — noch ironischer und vernichtender, als in der ersten 
— den wir auf die Rechnung der persönlichen Verstimmung 
stellen dürfen: Die Vorwürfe selbst sind so natürlich, dass man 
sie, ohne die Recension gelesen zu haben, erraten könnte. Ich 
glaube nicht, dass, wie Haym annimmt, bei ruhiger Behandlung 

') IL, 253. — „Herder hatte seine Empfindliclikeit nicht zügeln 
können, und hätte doch nun so gern mit Kant Frieden gehabt* ; Haym 
stützt sich dabei auf die Stelle in Herders Brief an Jakobi: ^Eigentlich 
habe ich keine Zeile gogen Kant geschrieben" — 16. September 1785. 

-) Jenaer Zeitung, Januar 1785. 



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— 27 — 

der Frage und ohne hinzugekommene Erbitterung, eine Einigung 
der beiden Philosophen auf dem geschichtsphilosophischen Felde 
möglich gewesen wäre: dazu scheinen mir ihre Qrundansichten 
zu verschieden und zu sehr in ihren Persönlichkeiten selbst be- 
gründet zu sein. Am schwersten wäre es wahrscheinlich für 
Herder gewesen, seinem Gegner gerecht zu werden, denn dazu 
hätte er seinen dogmatischen Standpunkt ganz verleugnen 
müssen, was für ihn unmöglich gewesen wäre; eher könnte schon 
Kant Herders Ansichten, wenn nicht billigen, so doch begreifen, 
denn dazu brauchte er sich nur seinen eigenen vorkritischen 
Standpunkt zu vergegenwärtigen. 

Wenn auch Herder noch immer gegen Kant verstimmt 
bleibt, 1) so wiederholt er seine Angriffe doch nicht mehr und 
die geschichtsphilosophische Polemik wird von Herder auf- 
gegeben.^) Eine Fortführung der Polemik seitens Kant sieht 
Haym in seinem Aufsatz „Mutmasslicher Anfang der Menschen- 
geschichte" (1786), welcher sich gegen das X. Buch der „Ideen" 
wendet. Aber auch seitens Herder war jetzt ein inneres Ein- 
verständnis mit Kant unmöglich: zu tief fühlte er jetzt den 
Abstand, der nun zwischen ihm und seinem ehemaligen Lehrer 
lag. In seinem bald darauf (1787) erschienenen „Gott*^ kommt 
dieser Widerspruch zum Ausdruck: bald spricht Herder gegen 
„die menschliche Erkenntnis ohne und vor aller Erfahrung*^, 
gegen „die sinnliche Anschauung ohne und vor aller sinnlicher 
Empfindung eines Gegenstandes'^ g^g^ii die eingepflanzten For- 
men der Denkkraft, die ihr von niemanden eingepflanzt wurden" 
(S. 513), bald gegen die „Hyperkritik, welche ohne Existenz sein 
und ohne Erfahrung wissen will" (S. 521), bald endlich gegen 
die Undemonstrierbarkeit Gottes (S. 419, 516, 588); ebenfalls im 
Widerspruch zum Kritizismus behauptet er, dass das wahre 
Dasein mehr sei, als blosse „Erscheinungen im Raum und in der 
Zeit" (S. 540). Aber im ganzen Werke in seiner ersten Ausgabe 
ist der Name Kants nicht einmal genannt, und der ernste würdige 
Ton dieser Aeusserungen scheint mir ein Beweis zu sein, dass 
sie weniger boshafte Ausfälle gegen Kant selbst, als der Versuch 



') Haym, II, S. 258. 

*) Ausser den von Haym angeführten versteckten Angriffen im 
III. Teil der Ideen. 



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— 28 — 

einer ernsten Widerlegung seines Systems sind, welches Herder 
zu wichtig erschien, um von ihm ganz abzusehen. 

In der zweiten Ausgabe vom Jahre 1800 sind manche 
Stellen *) hinzugekommen, welche sich direct gegen Kant richten 
und in einem ziemlich gehässigen Ton geschrieben sind; vor- 
läufig aber sprach Herder nicht gegen Kant, sondern nur gegen 
seine Lehre; er scheint sogar, wie wir gleich sehen werden, 
auf dem Wege zu sein, sieh mit seinem Gegner auszusöhnen. 

5. . Nochmalige Annäherung. Herders an Kant. 

Man kennt die Begeisterung, welche die französische Re- 
volution in Kant hervorgerufen hat; ähnlich verhielt sich zu 
ihr auch Herder. Im ersten ungedruckten Entwürfe zu den 
^Humanitätsbriefen" giebt er dieser seiner Begeisterung einen 
klaren Ausdruck: er preist den Geist seiner Zeit und kommt 
bald darauf auf Kant zu reden. -) ,, Durch Kant,'^ sagt er, „ist 
ein neuer Reiz in die Gemüter gekommen, nicht nur das Alte 
2u sichten, sondern auch, wohin insonderheit der Zweck der 
Philosophie geht, die eigenthch menschlichen Wissenschaften — 
Moral, Natur und Völkerrecht nach strengen BegriflFen zu ordnen. 
Sehr heilsam sind die Versuche ; sie werden in Thathandlungen 
greifen, und einst, so Gott will, selbst zu angenommenen Maximen 
werden." In so hellem Licht erscheint Herder sein früherer 
Gegner, da er ihn in Zusammenhang mit den ihm sympatischen 
Zeiterscheinungen bringen kann; jetzt wie früher beurteilt er 
ihn nur nach den einzelneu Wirkungen und Resultaten seines 
Systems : die geschichts-philosophischen empörten Herder, die 
socialen stimmten mit seinen eigenen Ansichten überein, sie 
versöhnten ihn wieder mit Kant. Aber man denke nur nicht, 
dass Herder jetzt seine frühere Meinung verleugnete, dass er mit 
den Konsequenzen des Systems auch das System selbst annahm 
und billigte; auch jetzt kann er das Geschichts-philosophische 
nicht ganz umgehen ; mit einem versteckten Hinweis auf Kants 
geschichts-philosophischen Aufsatz (Brief 1 10), nimmt er die alte 
Frage nach dem Krieg und Frieden wieder auf. Hat Kant im 

') Vorrede, S. 400: I., S. 419, Note 2; IV., S. 519, Note 1 : V., S. 538, 
Note 6. 

-) Bd. XVIII, S. 327. 



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— 29 — 

Krieg die Wirkung einer Naturgewalt gesehen, welche nur durch 
eine andere ebenfalls unserem Erhaltungstrieb entsprungene 
Naturgewalt im Schach gehalten werden kann; fand er daher 
das einzige Mittel dieses Hebel aufzuheben in einer besseren 
Staatsverfassung, so will Herder in dem Krieg bloss eine grosse 
Verirrung der Menschheit sehen, welcher durch allgemein ver- 
breitete ,,BiUigkeit und Gerechtigkeit", durch Aufklärung des 
einzelnen, wohl abzuhelfen sei (Bd. XVIII, S. 267). Dicht neben 
dem Lob, welches Herder Kant spendet, spricht er gegen die 
„arme neue Philosophie, die über reine Vernunftbegriffe ausser 
aller Erfahrung, über Anschauungen vor aller Empfindung 
spinnt", gegen „extramundane Freiheit", gegen den wieder auf- 
tretenden Scholasticismus, gegen die „transcendentale Barbarei" 
(S. 323), — mit einem Worte wir finden schon hier alle Angriffe 
der Metakritik, nur in milderer gemässigter Form. Nicht das 
System und seine Formen, sondern nur manche seiner heilsamen 
praktischen Wirkungen und Kants eigenen forschenden Geist 
preist Herder: „Kants Werke werden bleiben, ihr Geist, wenn 
auch in andere Formen gegossen, wenn auch mit anderen Worten 
umkleidet, wird wesentlich weiter wirken und leben." ^) Nicht 
aus Diplomatie, sondern aus innerer Ueberzeugung , nicht um 
der Bewunderung einen Dämpfer aufzulegen,-) sondern im Gegen- 
teil um sie in ihrer Reinheit zu bewahren, wälzt er die Schuld 
an den böwsen Wirkungen des Kriticismus von seinem Begründer 
auf die Schüler und spricht gegen den intoleranten Despotisnms 
und gegen die schädlichen Ueberschätzungen und Missverständ- 
nisse der Kantischen Lehre (S. 325). Wenn Herder ferner die 
Kritik der Urteilskraft ein „ideenreiches Werk" nennt, so ist 
auch das weder Schmeichelei, noch Verleugnung seiner inneren 
Meinung, denn er will ja nur „im einzebien dabei lernen, ehe 
er untersucht, ob systematisch betrachtet auch alles haltbar 
sein möchte, oder sich manches nicht auch anders sagen Hesse". 
Dass die ganze Stelle vom Herzen diktiert ist, dass in diesem 
Augenblick Herder die Sache Kants wirklich mit der ange- 
fochtenen Philosophie nicht verwechselt hat, beweist am besten 
die schon früher angeführte Stelle, in welcher Herder sich der 



Bd. XVIII, S. 327. 
') Haym, IL, S. 651. 



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— 30 — 

Erinnerung an seine Jugendzeit und an den Unterricht seines 
Liebiingslehrers hingiebt (Bd. XVII, S. 404, oder Bd. XVIII, S. 324); 
über solche Gegenstände und mit solchem Gefühl spricht keine 
Diplomatie und am wenigsten bei einem Gefühlsmenschen, wie 
Herder einer war. Wenn überhaupt eine Einigung der beiden 
Philosophen jemals möglich gewesen wäre, so war es jezt; wie 
Herder es mit allen Philosophen gethan hat, so versucht er jetzt 
sich auch Kant anzunähern; aber wie immer, vermag er auch 
jetzt nicht seine eigene Weltanschauung zu verleugnen und 
kann sich Kant nur dadurch annähern, dass er sein System den 
eigenen Ansichten gemäss auslegt und interpretiert. Der Geist 
der früheren Schriften Kants, heisst es, bürge dafür, dass seine 
Philosophie nicht von der Erfahrung abziehe, sondern im Gegen- 
teil auf sie hinweise; falsch sei die Meinung, dass man sich in 
Kants Schriften hineinlesen solle, falsch sei es, von der Schwierig- 
keit des Verständnisses des in Wahrheit „hellen, lichten, sogar 
oft wortreichen" Kant zu reden (Bd. XVIII, S. 325). „Nachdem 
durch Kant,** heisst es weiter, „der Schutt des angemassten 
Wissens vom Herzen geräumt ward, konnte dasselbe für das 
sittHch gute freischlagen; durch den inneren Sinn erfahren wir 
die Forderung recht zu ffitin^, in uns erkennen wir die Freiheit 
nach dieser Forderung zu handeln; wir können denken — und 
schliessen, dass wir moralischen Ursprungs sind; unsere Bestimmung 
ist selbstverdiente GlückseUgkeit' \ — so verändert Herder die 
Kantischen moralischen Postulate in einen theoretischen Beweis 
und seine intelligible in eine empirische Freiheit, ebenso wie 
seinen kategorischen Imperativ in eine Glückseligkeitslehre. 
Wenn Herder ferner den Hauptinhalt der Kantischen Lehre 
folgendermassen zusammenfasst : Vorbilder unserer Denkkraft 
in und ausser sich, Zusammenhang der inneren und äusseren 
Welt, Verhältnis der Vernunft und der Sprache, — so interpretiert 
er in den Kantischen Transcendentalismus sein eigenes empirisches 
System des ^Einen in Vielen" hinein (Bd. XVIII, S. 327). Wenn 
endlich Herder die absolute Originalität dem Kantischen System 
abspricht, so ist es wieder ein Zeichen dafür, das ihm das wahre 
Verständnis dieses Systems verschlossen war. Man wundert sich 
über die Verbindung der Systeme Spinozas und Leibnizens in 
„Gott*^ ; ist aber diese Verschmelzung der Lehren Kants und 
Herders in den „Humanitätsbriefen"* nicht noch wunderbarer? 



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— 31 — 

Den Grund, warum Herder jetzt Kant besser als je geniessen 
kann, spricht er selbst aus: „Kants Kritik der praktischen Ver- 
nunft und die darauf gebaute Moralphilosophie legt den Grund 
zu einem Natur- und Völker?^echt !^ (Bd. XVIII, S. 329). 

In manchen Stelion der später im Druck erschienenen 
^Humanitätsbriefe'S so z. B. im Brief 33 (Bd. XVII, S. 158), finden 
wir eine directe Anlehnung an Kant: „Schaftesbury," heisst es 
hier, „hat, um seine Moral liebenswürdig zu machen, mit der 
menschlichen Natur zu sehr getändelt. Hier muss man zum 
alten Wort Gottes zurückgehen: „Du sollst, du sollst nicht!" 
Wenn andererseits in einigen Briefen ein Widerspruch gegen den 
Rigorismus der Kantischen Moral auftritt (Brief 51, S. 250), wenn 
Herder dem kategorischen Imperativ das uns innewohnende Prinoip 
des höchst Schönen, oder wie die Griechen sagten, das Ideal des 
morahschen Anstandes gegenüberstellt (Brief 73, S. 377), so 
dürfen wir nicht vergessen, dass dieser Rigorismus der Kanti- 
schen Moral auch Kants treuesten Anhänger — Schiller nicht 
immer befriedigt hat ; war es bei Schiller das Gefühl des Dichters, 
sein ästhetischer Sinn, was sich gegen das abstrakte „Soll" 
empörte, so war es der Dichter, ebenso wie der Naturforscher 
Herder, dem die streng durchgeführte Unabhängigkeit der mensch- 
lichen Moral von der Natur zuwider war: „Eine Sinnlichkeit," 
sagt er im 73. Briefe (Bd. XVII, S. 376), „die dem Verstände 
entgegengesetzt wäre, sollten wir nicht kennen, so wenig uns 
ein Verstand ohne Sinnlichkeit und eine Moral völlig reiner 
Geister bekannt ist. Nach meiner Philosophie erweisen sich alle 
Naturkräfte in Organen ; körperlose Geister sind mir unbekannt." 

Diese wenigen Stellen, in welchen man auch einen Wider- 
spruch gegen Kants Ansichten erblicken könnte, sind doch nicht 
direct gegen ihn selbst gerichtet, und es ist immer nicht Kant, 
sondern der Kantianismus, nicht der Meister, sondern die Schüler, 
gegen w^elche Herder polemisiert. 

6. Die neu atiftauchenden Feindseligkeiten. 

Das leidliche Einvernehmen, welches sich zwischen Herder 
irad Kant bis in die Mitte der neunziger Jahre eingestellt hatte, 
konnte nicht von Dauer sein ; es war eine Slille, die vor dem 
Sturm eintritt. Schon in den 1798 erschienenen ^Christlichen 



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— 82 — 

Schriften" wird der Widerspruch gegen Kant immer lauter; mit 
Eifer stellt sich Herder auf die Seite der Humanität, welche er 
in der Lehre Kants vermisst, er spricht gegen den „Egoismus, 
der sich selbst gebietet", gegen diese „leere Form der Gesetz- 
gebung, die weder Macht noch Seligkeit, weder Geist noch 
Leben hat" (Bd. XX, S. 181); er stellt dem übernatürlichen 
Despotismus der Vernunft die greifbare und unumstössliche 
Macht der Natur, der Triebe, des Lebens, der Organisation ent- 
gegen (S. 182 u. f.). Aber nun gesellen sich dazu neue Angriffs- 
punkte; aus einem sich Verteidigenden wird Herder zum An- 
greifenden. Fast die ganze fünfte Sammlung ist eine directe, wenn 
auch immer noch nicht offene Polemik gegen Kants „Religion 
innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" und sein „Radikales 
Böse". Beide Werke befriedigten nicht den humanen Naturforscher 
Herder; ihm war das Wesen der menschlichen Seele gut und 
nicht böse (Bd. XX, S. 219); nicht die Moral der starren Pflicht, 
sondern die des Herzens, die Liebe war seine Religion (Bd. XX, 
S.91, 141, 184, 185 ff.). Die religionsphilosophischen Ansichten ent- 
fremdeten wieder die beiden Denker, wie ihre ähnlichen liberalen 
Ansichten bei Anlass der französischen Revolution sie einander 
näher gebracht hatten. Schon die ganze Kantische Auffassung 
der Religion, als der blossen Folge eines Bedürfnisses unserer 
Vernunft, als eines Postulates derselben, befriedigten den gemüt- 
vollen Herder nicht (Bd. XX, S. 163); als etwas Absolutes, 
wirkHch Reales will er die Wahrheiten der Religion aufgefasst 
wissen (Bd. XX, S. 162), und nicht als blosse Antinomien des 
Verstandes, die ebensoviel pro wie contra sich, haben. 

Auch gegen das radikale Böse, gegen diese „philosophische 
Diaboliade** zieht Herder, der Bewunderer der Natur, der humane 
Optimist, los (Bd. XX, S. 218). Alle diese Einwände sind vom 
Standpunkt Herders ebenso begreiflich, wie früher seine Einwände 
auf dem geschichtsphilosophischen Felde; nur ist der Ton jetzt 
polemischer und gehässiger. Bald ironisierend, bald angreifend, 
stellt Herder das ganze System Kants im komischen Lichte dar, 
indem er es durch falsche Ausdeutung ganz verunstaltet; so 
giebt er das folgende Beispiel des kategorischen Imperativs : 
„Du sollst essen, damit du allen vernünftigen Essern ein 
Vorbild der befolgten Esspflicht ohne gehabte Esslust werdest*' 
(S. 182). 



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— 33 — 

Fragen wir uns nach der Ursache dieser Wandlung in dem 
Verhältnis Herders und Kants, so finden wir die Antwort 
darauf in der Korrespondenz Herders ; wiederholt beklagt er sich 
darin über die bösen Wirkungen des Kantischen Glaubens auf 
die studierende Jugend und vor allem auf die jungen Theologen.^) 
Die Begeisterung für die neue Lehre ^iirde immer grösser; aber 
„von wenigen verstanden und auch von diesen missverstanden", 
brachte sie keine guten Früchte; das Positive in dieser Lehre 
war den jungen Studierenden unzugänglich, und das Negative 
hatte das einzige Resultat, dass es vom Studium anderer Philo- 
sophen abwandte. Als Lehrer und Geistlicher hat Herder Ge- 
legenheit gehabt, diese negativen Resultate des Kantischen 
Systems kennen zu lernen. In ihm redete jetzt der Groll des 
Lehrers, dessen Schüler unwissender geworden sind, und diesen 
Groll hat er auch direkt in den „Christlichen Schriften" ausge- 
sprochen : „Religionsphilosophen, Lehrer und Führer werden auf 
Universitäten gebildet . . . ausrotten muss man daher den Wahn 
der jungen Spekulanten, als ob es vor ihnen weder Philosophie, 
noch Religion gegeben habe und sie sich solche erst ausklügeln 
und einen Gott ausphantasieren müssten ! . . ." (Bd. XX, S. 249.) 
Entsprechend diesem Ziel Herders, dem schädlichen Einfluss der 
Kantischen Lehre entgegenzuwirken, wenden sich auch die Vor- 
reden der beiden polemischen Werke Herders an „uneingenommene 
Jünglinge". Auf dasselbe Ziel läuft auch das zur selben Zeit 
von Herder abgefasste „Gutachten über Errichtung einer Selecta 
am Gymnasium" hinaus — einer oberen Klasse, in welcher die 
Philosophie durchgenommen werden sollte, um so die Studenten 
von dem schädlichen Einfluss der philosophischen Studien auf 
der Universität zu schützen. 

Aber noch immer wendet sich Herder nicht direkt gegen 
Kant und noch immer erwähnt er nicht seinen Namen; um 
Herder zu einer direkten Polemik zu bewegen, bedurfte es eines 
neuen treibenden Motivs, und ein solches sieht Haym (Bd. II, 
S. 661)2) in (Je|. y^m Kantianer Stäudlin verfassten Recension 
seiner „Christlichen Schriften". Man darf Herder wohl glauben, 
dass er die Bekämpfung des Kantianismus jetzt als seine heilige 

*) Siehe auch ^Erinnerungen**, II., S. 226. 
n Siehe auch Suphan, Bd. XXI, S. XI. 



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— 34 — 

Pflicht betrachtete; die Kantische Philosophie konnte ihm um 
so leichter als blosse Wortgrübelei erscheinen, je weniger er 
ihren tieferen Sinn verstehen konnte; nichts veranlasst uns 
daher, die Aufrichtigkeit der Schlussworte der Vorrede zur 
„Metakritik" anzuzweifeln: „Dem Verfasser, heisst es da, war 
seine Schrift eine Pflicht, und er wird in ihr fortfahren. Gerüstet 
gegen Pfeile und Bolzen, die ihn treffen mögen, manchem an- 
genehmen Geschäft des Lebens freiwillig entsagend . . /' Man 
kann den Gedanken nicht unterdrücken : die Rolle eines Märtyrers 
der Pflicht schmeichelte Herder. Schon im Juli 1798 machte er 
sich an die Arbeit, und im April 1799 war die „Metakritik" 
fertig. 

Kaum ein philosophisches System bedarf eines so eingehen- 
den Studiums, wie dasjenige Kants; revolutionär, wie es war, 
konnte es nur von dem recht verstanden werden, der sich zu- 
nächst den Sinn seiner Reform klar gemacht hatte und nun von 
dem dadurch gewonnenen Standpunkt das ganze grosse Gebäude 
in seinen Einzelnheiten betrachtete. Nicht so war es mit Herder. 
Noch ehe er das System selbst recht kannte, stiess er mit seinen 
bösen Wirkungen zusammen ; mit einem Vorurteil trat er daher 
an das Werk heran, mit der voreingenommenen Absicht, es zu 
bekämpfen, zu widerlegen; vom Lernen, von vorurteilsloser 
Benutzung und Auslegung der Gedanken war jetzt nicht die 
Rede. Sein eigenes System war schon längst fertig; wir haben 
gesehen, wie wenig es sich mit dem Kriticismus vertragen konnte. 

Wollte nun Herder dem letzteren gerecht werden, so hätte er 
es zunächst ganz objektiv betrachten, seinen eigenen Standpunkt 
für den Augenblick verlassen müssen, und das war für ihn eine 
absolute Unmöglichkeit. Herder bleibt so bei seinem alten Stand- 
punkt, widerspricht von demselben aus Kant und stellt gleich 
darauf sein eigenes System auf; dem negativen Teil folgt un- 
mittelbar der positive; nur haben diese beiden leider nichts als 
die äussere Form gemein ; das Positive steht mit den widerlegten 
Partien aus der Kantischen Lehre in keinem Zusammenhang 
und hat mit ihnen nur äusserliche Anknüpfungspunkte. Auch 
die Sprache Kants will Herder nicht anerkennen ; bald gebraucht 
er Kants Ausdrücke im älteren, gewöhnlichen Sinne (a priori, 
synthetisch etc.), bald setzt er an ihre Stelle seine eigenen Aus- 
drücke (Innewerden, Organik, Denkbilder des menschlichen 



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— 35 — 

Verstandes etc.) und widerspricht dann den dadurch verunstal- 
teten Ausführungen Kants; eine jede Widerlegung beruht so 
auf einem Missverständnis. Was uns am meisten an der „Meta- 
kritik." abstösst, ist ihr bitter polemischer, ungerechter, gehässiger 
Ton, der bald in feuilletonistisches Gezänk, bald in cynische 
Witzelei ausartet. „Von einem Buche, sagt Herder in der Vor- 
rede (S. 8), ist die Rede, von keinem Verfasser." Wohl mag das 
Herders gut gemeinte Absicht gewesen sein; aber nicht lange 
bleibt er ihr treu, seine Ausfälle gegen das System werden immer 
gehässiger und treffen immer mehr auch seinen Gründer.^) Der 
boshaften Allegorie in der Vorrede, — die kritische Philosophie 
als Unholdin Hägsa dem gesunden Menschenverstand Hugo 
entgegentretend — entspricht vollkommen auch die Allegorie 
am Schlüsse des Buches — die kritische Philosophie als Spinnen- 
gewebe in dem Bienenkorb. 

Mit einem Worte, das ganze Buch, von Anfang bis zum 
Ende, ist, als Kritik, dem Inhalte wie der Form nach, ganz 
verfehlt. Aber giebt es denn nichts, was Herder in unseren Augen 
verteidigen, was uns eine verzeihliche Ursache seiner ungerechten 
Polemik zeigen könnte? Sehen wir nur einen Augenblick von 
der äusseren Form der „Metakritik", von ihrem gehässigen Tone 
ab; auch abgesehen davon, dass manche ihrer Vorwürfe auch 
von anderer Seite mehrmals gegen Kant erhoben wurden, auch 
abgesehen davon, dass der positive Teil der „Metakritik" an sich 
viel Wahres und Schönes enthält — kann auch der negative 
Teil in Herders Geiste seine Erklärung finden. Diesem einheit- 
Hchen, synthetischen Geiste war der Kantische schroffe Dualis- 
mus von Welt und Erkenntnis, Sein und Denken, Sinnlichkeit 
und Vernunft, Materie und Geist unzugänglich;' Herders Er- 
kenntnislehre war im scharfen Gegensalz zu Kant eine Sinnes- 
lehre, seine Logik eine Seinslehre, seine Ethik eine Glückselig- 
keitslehre. In der transcendentalen Aesthetik fragt Kant nach 
dem Ursprung, der Gültigkeit der Erfahrung ; aber dem Schüler 
Bacons und Lockes, Herder, ist diese Gültigkeit eine ausgemachte 
Sache, er versteht gar nicht den Sinn der Kantischen Frage und 
behandelt seine transcendeniale Aesthetik vom Standpunkt der 
Erfahrung selbst; so verwandeln sich bei ihm die Anschauungs- 

•) S. 338, Note tKant, als ^seiner Majestät getreuester Unterthan«. 



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— 36 — 

formen in „Erfahrungsbegriffe" (S. 48), die Anschauung selbst 
in ein „Innewerden des Daseienden" (S. 43), die Erscheinung in 
„sinnliche Gegenstände" (S. 45), das abstrakte apriori in ein 
„energisches apriori" (S. 67), die ganze transcendentale Aesthetik 
endlich in eine „Organik" (S. 67), oder in eine „Gefühlslehre" (S. 45). 
In der transcendentalen Analytik sucht ferner Kant die Möglich- 
keit der Gesetze in der Natur zu beweisen; aber auch diese 
Möghchkeit ist vom empirischen Standpunkt Herders selbstver- 
ständlich; denn die Vernunft, als Teil des grossen Alls, muss 
auch diese Gesetze dieses Alls anerkennen, sich aneignen (S. 86, 207). 
Die Kategorien sind für Herder nur von der Erfahrung abgeleitete 
Verstandesbegriffe (S. 82), dem Schematismus der Vernunft ent- 
spricht in seiner Lehre die, Sinnlichkeit und Vernunft verbin- 
dende, Sprache (S. 119), der Kantischen Spontaneität des Ver- 
standes das Anerkennen des Gleichartigen durch unseren inneren 
Sinn (S. 88), der Kantischen formalen Logik seine inhaltsvolle 
(S. 82) Logik. Noch weniger versteht Herder den Sinn der 
transcendentalen Dialektik; die Vernunft ist für ihn nur der 
höhere, zusammenfassende, an die Erfahrung anknüpfende Ver- 
stand (S. 207), und die Kantische, von Erfahrung und SinnHchkeit 
unabhängige, reine Vernunft, geradezu ein Unsinn (S. 18). Der 
Transcendentalismus der Vernunftideen Seele, Welt, Gott 
widerspricht seiner Anschauung von diesen höchsten, von der 
Erfahrung abgeleiteten BegriflFen, die eine wirkliche Realität 
haben (S. 209, 210, 212, 235); daher bleiben auch die Kantische 
rationale Psychologie, Theologie und Kosmologie für ihn unver- 
ständUch, denn in seinem System haben alle diese Zweige der 
Metaphysik eine empirische Basis in der Wirklichkeit; er, der 
gemütvolle, humane Deist will nichts von einem Gott wissen, 
den er sich selbst ausklügeln soll (S. 235), nichts von einer 
Moral, die despotisch gebietet und doch einer Gottheit bedarf 
(S. 289). Und konnte es anders sein, konnte denn wirklich 
„dieser zweckhafte Glaube, bei welchem ich zwar nicht weiss, 
weshalb, aber wozu und wofür ich glaube," jemals Herder 
befriedigen, dessen Religion und Ethik mehr in seinem vielseitigen 
Gemüth, als in seinem Verstand begründet waren? Und wenn 
Kant die Ideen von Seele, Freiheit und Gott aus der Kritik der 
reinen Vernunft verweist und sie nur als Postulate der praktischen 
Vernunft anerkennt, so sträubt sich Herders einheitliche Natur 



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— 37 — 

gegen diö „Scheidung der zwei Vernünfte, von denen eine das 
wieder aufnimmt, was die andere zermalmt hat" (S. 235, 289, 
315). Weil Herder eine Einigung des Denkens und des Handelns 
in seiner praktischen Thätigkeit, als Prediger, nicht erreichen 
konnte, verlor er seine Gemütsruhe; und am Streben, die ver- 
lorene Einigung in der Philosophie seines Zeitalters wieder her- 
zustellen, scheiterte seine philosophische Ruhe. 

Diese Gegenüberstellung der beiden Teile der „Metakritik", 
des positiven und des negativen, steigert zwar nicht den Wert 
des letzteren, aber sie erklärt uns seinen Ursprung; mit dem 
besten Willen, ohne jede Voreingenommenheit, hätte Herder 
Kant doch nicht verstehen, höchstens hätte er ihn auslegen, 
nach seiner Weise interpretieren können, wie er es z. B. in den 
„Humanitätsbriefen" gethan hat; und noch bleibt es zweifelhaft, 
ob dieser Vermittelungsversuch bei systematischer Beurteilung 
des kritischen Systems doch nicht an seiner Härte gescheitert 
wäre. Die Folge persönlicher Umstände war nicht, dass Herder 
Kant missverstanden hat, sondern nur, dass er dieses Missver- 
ständnis zu einer direkten Polemik brachte, und zwar zu einer 
ungerechten, bitteren Polemik; und auch diese persönlichen 
Umstände waren eher die schädlichen Wirkungen des Kantianis- 
mus auf die studierende Jugend, i) als die Erinnerung an die 
ungerechte Recension der „Ideen" von Kant. Diese Erinnerung 
und der dabei wieder erwachte alte Groll mögen wohl auch 
mitgewirkt und vielleicht, für Herder selbst unbewusst die Form 
seiner Polemik beeinflusst haben; eine grössere, entscheidende 
Wirkung aber dieser Recension zuzuschreiben verbieten uns die 
zwei Urteile Herders über Kant, das ungünstige, über die 
„Träume", 18 Jahre vor der Recension, und das günstige, in 
den „Humanitätsbriefen", 10 Jahre nach ihr. 

Trotz der vielen Gegenschriften seitens der Kantianer^) 
giebt Herder seine Polemik nicht auf. Schon in der Vorrede 
zur „Metakritik" (S. 8) spricht er von einer „Metakritik zur 
Kritik der Urteilskraft", im Herbst 1799 fing er an an dem Werk 
zu arbeiten, und Frühling 1800 war es fertig und erschien unter 
dem Namen „Kalligone". 

*) Siehe Suphan, Bd. XX, S. XI; Haym, Bd. 11, S. 656. 
*) Rink, , Mancherlei zur Geschichte der metakritischen Invasion**; 
dann die Schriften von Kiesewetter, Krug, Ratze, Gramer etc. 



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— 38 — 

Als Kritik ist das Buch nicht weniger verfehlt als die 
„Metakritik". Durch alle Gegenschriften nur gereizt, ist jetzt 
Herder noch ungerechter als früher ; noch absprechender verhält 
er sich gegen alle Aeusserungen des kritischen Philosophen, 
noch gehässiger ist sein Ton, noch boshafter seine Ausfälle 
gegen Kant selbst. Wie einer, der seiner Sache vollständig 
sicher ist, betrachtet er die ganze „Kritik der Urteilskraft" von 
oben herab und belehrt dabei Kant mit solchem Bewusstsein 
seiner Ueberlegenheit, mit solcher Selbstüberschätzung und kind- 
licher Naivität, dass das unangenehm Abstossende seiner Polemik 
einfach zum Lächerlichen wird. Und andererseits wird es für 
uns jetzt noch augenscheinlicher, als bei der „Metahritik", dass 
Herder nur darum gegen Kant ungerecht war, weil er ihn nicht 
zu verstehen vermochte, weil sein Naturell dem Kantischen zu 
sehr entgegengesetzt war, als dass er sich mit ihm hätte einigen 
können. Der Kantische Subjektivismus, der die Gesetze des 
Schönen in uns und nicht in die Natur der Dinge selbst verlegt, 
war lür den Empiristen Herder ebenso unverständlich, wie der 
Kantische Rationalismus, der die Gesetze der Natur nur als 
Denknotwendigkeiten, nicht als Seinsnotwendigkeiten anerkannte. 
Dem Kantischen Begriff des subjektiv Schönen stellt daher 
Herder sein „an sich Schönes", seine „Naturschönheit" entgegen 
(S. 47, 51, 70, 77 etc.); wie früher das „apriori" der Erkenntnis, 
so versteht er jetzt das apriori des Geschmackes nicht; das 
formal Schöne, oder wie Kant sich ausdrückt, das „reine Schöne", 
ist für Herder ebenso metaphysisch leer, wie früher die „reine 
Vernunft" (S. 109, 110 etc.); das interesselose Wohlgefallen, 
welches Kant für sein absolut Schönes in Anspruch nimmt, 
scheint Herder wieder von seinem historischen und naturwissen- 
schaftlichen Standpunkt unmöglich, denn tür ihn ist jedes Wohl- 
gefallen mit der Sinnlichkeit der menschlichen Natur, folglich 
mit Interesse verbunden (S. 27, 34, 48 etc.). Dem Kantischen 
Begriff des Schönen mengt sich bei Herder der Begriff des An- 
genehmen, des Vollkommenen und Zweckmässigen, dem Begriff 
der Kunst der des Nützlichen bei (S. 27, 30, 49, 76, 130, 142) 
Mit einem Worte, der Kantischen Lehre vom absoluten Schönen 
stellt sich das an den Zeitgeschmack gebundene, individuell 
bedingte Schöne (S. 207) gegenüber. 



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— 39 — 

Es ist wiederum der Geist der Synthese, der genetischen 
Betrachtung der Dinge, welcher sich dem Geiste der den Dingen 
auf den Grund gehenden, zum absolut Wahren strebenden Ana- 
lyse gegenüberstellt ; es ist derselbe Grundunterschied der Welt- 
anschauungen beider Denker, welcher auch auf dem ästhetischen 
Gebiete eine Einigung für sie unmöglich machte. Aber auch in 
der Aesthetik, wie in der Erkenntnistheorie, würde dieser Wider- 
spruch sich vielleicht nicht kund gethan haben, wenn auch hier 
nich t wieder treibende Motive hinzugekommen wären ; und diese 
Motive waren wiederum die Wirkungen des Kantianisraus in der 
Aesthetik; mit Recht, scheint mir, bringt Haym (Bd. II, S. 699) 
die klassische, formenfrohe Litteraturepoche mit der Lehre des 
„reinen Schönen" in Zusammenhang: „Herder, sagt er, lagerte 
in der Misshandlung des Kantischen Buches allen den Verdrass 
ab, welchen ihm die Grundsätze und die dichterische Praxis der 
Xeniendichter, der Bund Goethes mit dem kantisierenden Aesthe- 
tiker Schiller und die Zuwendung des öflTentlichen Urteils und 
der Journalistik zu den Werken dieser beiden verursachte." 
Nicht nur gegen Kant, sondern auch gegen die Weimarische 
Schule, gegen die neueste Dichtung richtet sich die „Kalligone" 
(S. 102, 192). Auch die Kalligone fand keine gute Aufnahme; 
zwar schwiegen im allgemeinen die Angegriffenen, aber dieses 
Schweigen drückte vielleicht Herder mehr als die früheren Gegen- 
schriften. 

Hatte Herder früher eine dritte antikantische Schrift über 
die schädliche Einwirkung der kritischen Philosophie auf die 
Moralität und die innere Glückseligkeit des Menschen ^) geplant, 
so Hess er jetzt — vielleicht infolge des Misserfolges der beiden 
ersten polemischen Werke — diesen Plan fallen. 

Noch einmal vernehmen wir Herders Urteil über Kant und 
zwar über das gleiche Werk, welches auch seine erste Recension 
hervergerufen hat, über „Die Träume eines Geistersehers". Bei 
seiner ersten Beurteilung dieser Schrift, im Jahre 1767, hat 
Herder Kant den Vorwurf gemacht, „er bringe Hypothesen dar** 
(s. oben S. 11), jetzt, nach fast 35 Jahren, wiederholt Herder in 
der „Adrastea" denselben Vorwurf, wendet aber dabei die Wafl'en, 

*) Erinnerungen, IL, S. 226; nach den ^Erinnerungen" hat Falk 
Herder beredet, die Polemik aufzugeben. 



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— 40 — 

welche Kant gegen die dogmatische Philosophie gebraucht hat, 
gegen ihn selbst um: „Warnend ist für die Metaphysik dieses 
Beispiel; denn treibt unser neuerer Idealismus (Kriticismus) 
nicht auch dergleichen, sogar auch blosse Buchstabenspiele? 
Hat das verwichene Jahrhundert nicht eine Reihe Geisterseher 
hervorgebracht, die Swedenborg bei weitem nicht an die Seite 
zu setzen wären?'* Das erste Urteil gegen Kant sprach Herder 
bei Gelegenheit eines Werkes aus, in welchem er den Plan eines 
Systems zu erblicken glaubte; gegen dasselbe System und bei 
derselben Gelegenheit ist auch sein letztes litterarisch ausge- 
sprochenes Urteil gerichtet, gegen das System selbst, nicht gegen 
seinen Begründer. Und als ob dieses letztere Urteil nur darauf 
hinzielte, uns mit der Polemik Herders zu versöhnen, von ihr 
jeden Verdacht eines persönlichen Streites abzuweisen, schliesst 
sie mit folgenden Worten: „Ernst und bedeutend winkt uns 
Adrastea durch Swedenborg zu, auch fromme Gedanken, auch 
die reinen Ideen des Wahren und Schönen nicht über Mass und 
Ziel zu führen, als ob sie die Wahrheit selbst wären; bei der 
redlichsten Gesinnung wird durch sie der Selbstbetrogene ein 
Wahnsinniger, ein Verführer." — Klarer kann es nicht gesagt 
werden ; die Verführten will Herder auf den richtigen Weg führen, 
der Verführer selbst ist für ihn nur ein Selbstbetrogener, 

7. Motive, Charakter und positiver Inhalt der Polemik. 

Ueberblicken wir zum Schluss die ganze Polemik Herders 
gegen Kant, von der Recension der „Träume" an bis zum letzten 
Ausspruch in der „Adrastea", so finden wir überall als ihre 
Ursache ein wirkliches Missverständnis, und als Grund des letzteren 
die innere Geistesverschiedenheit der beiden Denker einerseits 
und den Abstand Kants von Herder, als von einem vorkritischen 
Philosophen, andererseits. Mit diesem Missverständnis steht Herder 
nicht vereinzelt da; Kant selbst behauptete, ihn habe niemand — 
ausser etwa Maimon — richtig verstanden. Und dieses war ja in der 
Natur der Sache begründet ; um das Positive des Kantischen Systenaä 
erfassen, um die vielseitige Bedeutung seiner reformatorischen Lehre 
überbhcken zu können, hätten die vorkritischen Philosophen sich 
auf ihre eigenen Schultern stellen, den Weg, den sie bisher 
gegangen waren, auf einmal verlassen und alle Ansichten, in 



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— 41 — 

welchen sie geschult waren, ablegen müssen ; dazu aber bedurfte 
es einer Energie der Gedanken, die weder dem alternden Herder, 
noch einem Hamann, Garve oder Schultze und wie die Kritiker 
Kants sonst hiessen, eigen war. Nicht umsonst fand Kant seine 
begeistertsten Anhänger im Kreis der akademischen Jugend; es 
ist immer die jüngere und nicht die alternde Generation, welche 
sich für neue Ideen empfönglich zeigt. Und so war es auch vor- 
nehmlich die Jugend, die sich um die Fahne des Kriticismus 
scharte, während die ältere, absterbende Generation sich gegen 
das ungewohnte Neue ablehnend verhielt und, am Alten haftend, 
ihren eigenen philosophischen Besitz zu verteidigen suchte. In 
der Mitte dieser vorkritischen Geister steht auch Herder, der 
seinen Gedankenbesitz schon darum mit doppelter Energie ver- 
teidigte, weil er ihn sölbst errungen hatte. Er sah selbst das 
Unzureichende der bisherigen Philosophie ein, er fühlte tief in 
sich selbst den Widerspruch, an welchem diese Philosophie krankte, 
und suchte sein ganzes Leben lang diesen Widerspruch zu lösen 
oder doch zu müdem; der Gedanke des ewigen Werdens, der 
wirkenden Kräite sollte für ihn diesen Widerspruch des Geistes 
und der Materie, der Erkenntnis und der Welt aufheben. Aber 
nun sieht er die Arbeit, der er sein ganzes Leben gewidmet hat, 
durch die neue Philosophie zu nichte gemacht. Man will von seinem 
Ausweg aus dem philosophischen Dilemma nichts wissen, man 
braucht ihn ja nicht mehr, seitdem eine transcendentale Einheit 
den alten Widerspruch aufgehoben hat. Herders grösste Abnei- 
gung war die Schulmetaphysik, und nun sieht er sich mit allen 
Metaphysikern unter dem gemeinsamen Namen „dogmatischer" 
Philosophen auf einen Haufen geworfen. 

Mit dem herannahenden Alter erlahmte die innere Lebens- 
kraft Herders, sein Gemüt sehnte sich immer mehr nach Ruhe, 
nach einem fassbaren Ideal, immer grösser wurde das Bedürfnis, das 
bereits Errungene zu geniessen ; das Neue fasste er nicht mehr frei 
auf, sondern musterte es an dem aus dem Kampf des Gedankenlebens 
Geretteten; seine Gedanken vermochten nicht den neuen Strö- 
mungen zu folgen, und unmutig wandte er sich von allem Neuen ab. 
Mit Missmut sah Herder, wie andere in ihrer Gedankenarbeit vor- 
wärts kamen, während er seine Kräfte umsonst verbraucht hatte 
und sein Denken zerfloss, ohne sich zu vertiefen und sich 
in direkter Richtung zu entwickeln. Er sieht andere um sich 



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— 42 — 

herum — einen Kant, einen Schiller, einen Gcethe — die im 
Vollbesitz des Errungenen dastehen, er aber, der so tief empfand, 
der so leidenschaftlich nach dem Ideal strebte, er steht unbe- 
friedigt da, in innerem Zwiespalt mit sich selbst, viele Fragen 
ungelöst, und die gelösten von den Zeitgenossen nicht anerkannt, 
von der neuen Generation vergessen und verpönt ; wer wird da 
dem vereinsamten alternden Greis seinen Unwillen gegen die 
neuen Errungenschaften der Wissenschaft und der Kunst streng 
anrechnen? 

Und nun suche man Herder im Kreise seiner Familie auf, 
unter seinen Kindern, für deren Erziehung er keine Mittel hat 
und von denen der geUebteste und begabteste Sohn August sich 
vom Vater abwendet und in das feindliche Lager übergeht ; 
Herder selbst von einem schweren Leiden heimgesucht, unter 
dem Druck schwerer Consistorialthätigkeit, die ihm keine Freude 
macht, physisch und moraHsch gebrochen, die Ideale seiner Jugend 
mit alternder Stimme verteidigend, in krankhafter Furcht, dass 
nicht etwas von dem alten gewonnenen Gedankenbesitz im Kampf 
gegen das Neue verloren gehe; est ist etwas Pathologisches in 
der Thätigkeit imd dem ganzen Fühlen und Denken Herders in 
seinen letzten Jahren. Wer kann an diesem Zeitabschnitt in 
seinem Leben vorübergehen, ohne Mitleid mit dem armen Greis 
zu haben ; wer versteht nicht seine „Trauer über die Zeit, über 
Weimar, über sich, über alles" (J. Pauls Brief an Jacobi, „Briet- 
wechsel" S. 70). Wenn er jetzt sich oft zum Hass erniedrigt, 
so hat er dafür früher auch zu lieben verstanden; Hass und 
Liebe waren in seiner Weltanschauung die beiden Pole der 
Weltaxe; Hass und Liebe waren auch die beiden Grundtriebe 
seiner tief empfindenden Natur. 

Es ist nicht zu läugnen, dass Herders Polemik gegen Kant 
viel Ungereimtes enthält; aber andererseits muss man auch zu- 
geben, dass er in manchen seiner Einwände vieles zuerst aus- 
gesprochen hat, was später von kompetenteren Kritikern gegen 
Kant geltend gemacht wurde. Das erste, was Herder gegen eine 
Kritik der reinen Vernunft eingewendet hat, ist, dass dabei diö 
Vernunft zugleich „Partei und Richter, Gesetz und Zeuge sein 
müsse" (S. 18). Wenn nun Herder so die Frage aufwirft, ob wir 
denn im stände seien, über unsere Vernunft zu urteilen, ja noch 
mehr, von unserer Sinnlichkeit absehend, unsere reine Vernunft 



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— 43 - 

zu beurteilen (S. 17), die Vernunft zu transcendentieren (S. 40), 
so unterscheidet sich diese Frage nicht wesentlich von der 
Hegeischen: ob wir schwimmen können, ohne ins Wasser zu 
steigen. Trifft auch dieser Vorwurf Kant nicht, weil eine Kritik 
der reinen Vernunft in transcendentaler Hinsicht eine empirisch 
fassbare reine Vernunft nicht voraussetzt, so hat doch dieser 
Vorwurf seine relative Berechtigung, insofern er die Bedeutung 
der sinnHchen Erfahrung gegenüber der wissenschaftlichen Ab- 
straktion verteigt. Schon an diesem Beispiel sehen wir das Ver- 
hältnis Herders zu Kant; es ist das reale Leben mit seinem 
natürlichen Bewusstsein, welches sich dem wissenschaftlichen 
System eines abstrakten Denkers gegenüberstellt. Man könnte 
sagen, alle Einwände Herders gegen Kant haben einen ge- 
sunden empirischen Hintergrund, aber sie alle beruhen auf 
einem Missverständis des tieferen Sinnes der Kantischen Lehre; 
daher hat auch die ganze Polemik keinen positiven Wert; 
dafür aber hat. sie für uns ein grosses historisches Interesse, 
als Vorbild aller anderen Kritiken Kants vom Standpunkt des 
natürlichen Bewusstseins einerseits und vom vorkritischen Stand- 
punkt andererseits. 

Wenn Herder z. B. gegen die scharfe Scheidung von Ver- 
stand und Sinnlichkeit protestiert (S. 73), so stimmt er darin 
mit Reinhold vollständig überein; nur vergisst dabei Herder, 
dass Kant mit diesem scheinbaren Widerspruch, welcher in der 
„gemeinsamen Wurzel der beiden Stämme", in Kants transcen- 
dentaler Einheit aufgelöst wird, den ewigen Widerspruch der 
Materie imd des Geistes aufhebt, indem er sie in die Reciptivität 
der Eindrücke und die Spontaneität der Begriffe verwandelt. 
Wenn ferner Herder gegen die Apriorität des Raumes und der 
Zeit (S. 47), oder der Kategorien (S. 73), oder endlich gegen 
die „priorisierte Idealität" der Kantischen Lehre (S. 148 u. f.) 
überhaupt auftritt, so macht er sich desselben Miss Verständnisses 
schuldig, welchem wir seit Garve so oft begegnen und welches 
auf der Verwechslung des Kantischen transcendentalen mit einem 
schafifenden Idealismus beruht; nicht nur Herder, sondern auch 
manche Kanntkenner suchen seine Anschauungsformen und Denk- 
gesetze nicht im Menschen, als im erkennenden Subjekt, sondern als 
im Objekt, welches selbst durch diese Gesetze begründet ist ; mit 



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— 44 — 

vielen andern Kritikern verwechselt auch Herder die Kantische 
„Erscheinung" mit dem Schein und setzt daher an ihre Stelle 
„sinnliche Gegenstände" (S. 45); aber er übersieht dabei, dass 
diese Erscheinung die sinnlichen Gegenstände ebensowohl wie 
die sie auffassenden Denkfunktionen, sofern sie Objekte unserer 
Erkenntnis sind, mit einschliesst. Tritt femer Herder gegen den 
Widerspruch der Phänomena und Noumena auf, so thut er nur 
dasselbe, was schon so manche Kantkenner seit Jacoby gethan 
haben; nicht Herder allein fasst das Kantische Noumenon als 
etwas ausser und unabhängig von dem Phänomenen Bestehendes 
auf, nicht er allein begreift nicht den wahren Sinn des Noumenons, 
als einer höheren trän scen dentalen Einheit, welches auch das, 
was wir in die Welt hineinlegen und das, was wir von ihr er- 
fahren — auch das Phänomenen — mit einschhesst (S. 171). 
Ebenso oft ist auch die Verwechslung der Kantischen intelligibeln 
mit einer Intellektualwelt (S. 188); eine Verwechslung, welche 
den Kantischen negativen Begriff in einen positiven verwandelt 
und aus welchem das Missverständnis entsteht, als ob der Kriti- 
cismus nichts anderes sei, als veränderter Rationalismus. Wenn 
Herder ferner gegen die Kantische „Scheidung der zwei Vernünfte 
protestiert, von denen die eine das wieder aufnimmt, was die 
andere verworfen hat" (S. 235, 289, 315), so übersieht er dabei, 
dass nur die reine Vernunft erkennend, während die praktische 
bloss postulierend ist und dass sie beide, wenn auch von ver- 
schiedenen Seiten, sich der letzten Wahrheit nähern. 

Die Einwände Herders gegen Kants einzelne Ausdrücke 
beruhen ebenfalls fast immer auf einem Missverständnis; wenn 
Herder z. B. gegen die Einteilung der Urteile in synthetische 
und analytische polemisierend den oft wiederholten Einwand 
erhebt, ausser den identischen und verschiedenen Begriffen können 
auch gleiche Begriffe sein (S. 36), so vergisst er, dass die Gleich- 
heit schon an sich ein Gedankenelement ist, welches in der 
gegebenen Vorstellung nicht mit eingeschlossen ist und sie 
folglich, wenn auch nicht empirisch, so doch transcendental 
erweitere; das gleiche Miss Verständnis liegt auch seiner zweiten 
Behauptung zu Grunde, dass die Grenze zwischen den analytischen 
uno den synthetischen Urteilen keine feste, sondern nur eine 
relative sei (S. 35); wiederum verwechselt er dabei die trans- 
cendentale, rein logische Natur des Urteils mit seinem empischen 



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— 46 — 

Werden. Tadelt Herder ferner den Missbrauch der Aristotelischen 
Ausdrücke „apriori*^ und „aposteriori" (S. 309), so macht er Kant 
damit denselben Vorwurf, welchen auch andere Logiker bis auf 
Ueberweg gegen ihn erhoben haben, während man doch, wie mir 
scheint, nicht berechtigt ist, dem Philosophen zu verbieten, den 
Sinn der Wörter zu ändern. Wenn Herder weiter gegen Kants 
„apriorische Erkenntnis" polemisiert, so teilt er nur das allzu 
verbreitete Miss Verständnis, als ob Kant eine ganze Erkenntnis 
und nicht vielmehr einen Teil, eine Form der Erkenntnis a priori 
zulässt (S. 23, 32 etc.). 

Aehnlich wie die angeführten, sind auch die anderen Ein- 
wände Herders; immer liegt ihnen das Missverständnis der re- 
formatorischen kritischen Lehre zu Grund; sie geben uns einen 
schlagenden Beleg für den Kantischen Satz : „Nur wenige haben 
mich verstanden und auch diese haben mich miss verstanden.*^ 
Die Bedeutung dieser Polemik ist daher nur eine negative, eine 
historische; sie zeigt uns die Schwierigkeit des Verständnisses 
Kants und seinen ungeheuren Abstand von der vorkritischen 
Philosophie. 



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Zweiter Teil. 
Das Verhältnis der Systeme. 

1. Der allgemeine Charakter dieses Verhältnisses* 

Wenn die Beziehungen Herders zu Kant gezeigt haben, 
wie sich die Entartungen des dynamischen Standpunkts bei 
Herder und des Kritischen bei den Pseudokantianern gegenseitig 
widersprechen, so kommen wir, bei genauerer Verfolgung der 
Grundgedanken ihrer Weltanschauungen, zu der Ueberzeugung, 
dass ihre wahren Gedanken einander gegenseitig ergänzen ; beide 
betrachten denselben Gegenstand von zwei verschiedenen Stand- 
punkten, beleuchten ihn von zwei verschiedenen Seiten. Das- 
jenige, was Herders Beziehungen zu Kant bestimmte, war sein 
unbeständiges^ vom Gemüt abhängiges Denken, und daher war 
auch bei der Betrachtung dieser Beziehungen die beste Methode 
die des zeitlichen Entwickeins; will man aber den Kern der 
Herder'schen Gedanken rein herausfinden, so muss man vom 
jeweiligen Augenblick mit seinen vorübergehenden Einflüssen 
absehen. Thut man's nicht, so verbietet die Menge sich ganz 
widersprechender und nur durch die Augenblicksstimmung er- 
klärbarer Aeusserungen Herders vollständig, etwas Bestimmteres 
über ihn zu sagen. ^j Mir scheint daher, dass das einzige Mittel, 
Herder ganz gerecht zu werden, wäre, ihn aus seiner Zeit und 
ihren Einflüssen zu begreifen, wie wir es im ersten Teil gethan 
haben, um dann wiederum das abzusondern, was Herder individuell 
angehört, und was sein geistiges Eigentum ausmacht. Sehen wir 
nun von diesen augenbhcklichen Einflüssen ab, so finden wir 

') Daher auch die verschiedenen Auffassungsweisen von Herder. 



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— 47 — 

als den in seinem Naturell bedingten Kern aller seiner Gedanken 
den Begriff des ewigen Werdens. Diesen Grundbegriff möglichst 
rein hervorzuheben, wie er, selbst von keinen Nebenumständen 
abhängig, das ganze Denken Herders formte und bedingte, würde 
demnach die Aufgabe des folgenden Teils sein. Wie in Herders 
Beziehungen zu andern Denkern alles von der Zeit abhing und 
durch sie bestimmt wurde, so wurde sein eigenes Denken durch 
die Zeiteinflüsse nur unterdrückt und vergewaltigt. 

Nicht so bei Kant, dessen Denken eine gerade, strenge 
Entwickelung darbietet ; im bewussten Streben nach der reinen 
Erkenntnis begriffen, lässt er sich durch keine Nebenumstände, 
durch keine Gemütsneigungen von seinem geraden Wege ab- 
bringen ; unermüdlich schreitet er seinem bewussten Ziele zu ; sein 
Gedanke erhebt sich immer höher und höher, bis er im kritischen 
System seine vollkommenste Entwickelung erreicht. Oekonomisch 
schaltet Kant mit seiner Zeit und seiner Arbeit, er sieht die 
Grösse seines Unternehmens, und hält seine Kräfte in strenger 
Disziplin. Herder weiss hingegen seinen Gedanken keinen Zwang 
aufzulegen, er zerfliesst, er geht mehr in die Breite als in die 
Tiefe. Wollen wir beiden Denkern gleich gerecht werden, so 
müssen wir auch bei jedem das Beste hervorsuchen, wir 
müssen das Ende der Entwickelung Kants, seinen kritischen 
Standpunkt, dem Ausgangspunkt Herders, seinem dynamischen 
Grundgedanken, entgegenstellen. Wir müssen, so sonderbar 
es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, den ersten Ge- 
danken Herders an dem letzten Gedanken Kants messen ; sonderbar 
ist es, weil wir dabei die Entwickelung nur beim letzteren be- 
rücksichtigen und beim ersteren davon vollständig absehen; es 
scheint mir aber zugleich gerecht zu sein, weil Kants kritischer 
Standpunkt mit seinem abstrakten Charakter seine vollständige 
Entwickelung in seinem Begründer selbst fand, und auch nur 
in eitlem Geiste sich so vollkommen und einheitlich ausbilden 
konnte, während die empirische Natur des dynamischen oder 
biologischen Standpunkts Herders es mit sich bringt, dass weder 
ein einzelnes Menschenleben, noch eine einzelne Generation mit 
ihren beschränkten Erfahrungen ihn zu wissenschaftlicher Ge- 
wissheit und apodiktischer Gesetzmässigkeit bringen kann. 

Ein Vorwurf ist Herder wegen dieser seiner Zerflossenheit 
und zu grosser Vielseitigkeit seines Denkens sehr oft gemacht 



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- 48 — 

worden, der Vorwurf des Eklekticismus ; und in der That möchte 
man diesem Vorwurf beistimmen, wenn man sieht, wie Herder 
sich den widersprechendsten Systemen anbequemt, oder sie unter 
einander zu versöhnen sucht und dabei ihre Grenzen verwischt. 
Wer im „Empfinden und Erkennen" Leibniz aus dem Geiste 
Spinozas korrigiert und verbessert (S. 178), um dann in „Gott" 
wiederum Spinoza im Leibniz'schen Sinne zu interpretieren 
(S. 450, 463, 459); wer in den „Spinozagesprächen" zugleich 
Mendelssohn und Jacoby Recht geben will (IV. Gespr.) ; wer zu 
gleicher Zeit unter dem Einfluss eines Nicolai und eines Hamann 
stehen kann, der ist schwerlich ein systematischer Philosoph zu 
nennen. Und andererseits kann man denjenigen nicht Eklektiker 
nennen, der so fest an seiner dynamischen Grundanschauung 
hängt, und dessen ganzes Denken so sehr in seinem eigenen 
Naturell begründet ist. Wohl suchte Herder sich in den Gedanken- 
gang aller seiner philosophischen Vorgänger und Zeitgenossen 
hineinzudenken und hineinzufühlen, w^ohl suchte er von jedem 
etwas zu lernen, aber es gelang ihm nur da, wo der Geist des 
betrachteten Philosophen mit dem seinigen eine innere Verwandt- 
schaft hatte; er lernte nur dasjenige von anderen, Was auch in 
ihm selbst vorhanden war; nur ein gleichartiger Geist konnte 
ihn daher beeinflussen, und auch dieser nicht vollständig, denn 
jeder fremde Einfluss beschränkte sich bei Herder auf Erwecken 
schlummernder Kräfte; sobald aber der fremde Geist sich von 
dem Herder'schen entfernte, verlor sich auch jede Beeinflussung; 
entweder blieb dieser für Herder ganz verschlossen, oder Herder 
modelte ihn unbewusst in seine eigene Denkungsart um. Eben 
weil er seinen eigenen Geist nie verleugnen konnte, identifizierte 
er ihn nur allzu oft mit dem Geiste der betrachteten Denker; 
daher kam er auch fast nie zur klaren, unvoreingenommenen Ein- 
sicht in die Gedanken anderer, aber eben daher auch liess er 
sich von niemandem ganz beeinflussen ; der Spinoza, dem er folgt, 
dessen Schüler er sich nennt, ist nicht der wirkhche Spinoza, 
nicht der streng abstrakte Denker, sondern ein grosser denkender 
Gemütsmensch, wie Herder selbst einer ist; Herders Leibniz ist 
wiederum nicht der rationalistische Schöpfer der prästabiHerten 
Harmonie, sondern ein freier Bewunderer der Natur; Herders 
Rousseau ist kein politischer und socialer Reformator, sondern 
bloss ein gefühlvoller Anbeter alles Urwüchsigen und Natürlichen ; 



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— 49 — 

Herders Kant endlich — sein Lehrer — ist ihm ein vorsichtiger 
Gelehrter und anspornender Erzieher, und Kant — sein Gegner 
— ein spitzfindiger Metaphysiker. Der wahre eigentliche Geist 
fremder Denk^er verschwindet bei Herder, er sieht nur seine 
eigenen Geistesformen, die er in andere hineininterpretiert. Ist 
Herder ein Eklektiker, so ist er's nur als ein Urteilender und 
Nachempfindender; aber eben darin äussert sich seine völlige 
Eingenommenheit von eigener Denkungsart ; als schaffender imd 
selbstthätiger Denker ist er durchaus originell. Die Schuld am 
Eklekticismus Herders trägt wiederum sein Gemüt, welches das 
originelle Denken nicht zur Einsicht in die fremde Originalität kom- 
men lässt ; ich möchte über den Herder'schen Eklekticismus dasselbe 
sagen, was Lessing über den Leibniz'schen gesagt hat: „Leibniz 
hat nicht gesucht, sich den herrschenden Lehrsätzen aller Par- 
teien anzupassen, im Gegenteil, er suchte alle Lehrsätze der 
herrschenden Parteien seinem System anzupassen.^ 

Ganz anders aber verhält es sich mit Kant; den Geist des 
jeweiligen Denkers tief durchschauend und ihn von seinem eigenen 
absondernd, bleibt Kant eben dadurch immer originell, im Be- 
urteilen wie auch im Selbstschaffen. Dass Kant seinen Stand- 
punkt gewechselt hat, zeugt nicht von Mangel an Originalität, 
sondern im Gegenteil von einer inneren Entwickelung, die manche 
Stadien zu durchlaufen hat, bis sie ihren Höhepunkt erreicht. 
Daher denn auch die Ironie, dass Herder Kant immer den Vor- 
wurf macht, er lege anderen Philosophen Zwang auf, er übe 
despotisch seine Macht, er wolle mit seinem alleingültigen System 
die Freiheit des Denkens aufheben (Metakritik S. 166, 186,273); 
während es in Wirklichkeit Herder ist, der allen betrachteten 
Systemen unbewusst die Fesseln seines eigenen Geistes auferlegt. 

Der radikale Gegensatz beider Denker liegt schon in ihren 
Persönlichkeiten begründet ; während bei Herder das Denken von 
dem Gemüt ganz beherrscht wird, trennen sich bei Kant beide 
Momente des Geistes, das Denk- und das Gefühlselement, und 
keines von ihnen beansprucht eine Herrschaft über das andere. 
Aber nicht allein das befangene Gemüt Herders widerspricht 
dem strengen Denken Kants, nicht allein der mystische Gefühls- 
und Glaubensphilosoph, sondern auch der Naturforscher, der 
ernste Historiker, der Künstler Herder empört sich oft, wenn 
auch nicht immer mit Grund, gegen Kant. Der Widerspruch der 

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— 50 — 

beiden Geister umfasst die ganze Richtung ihres Denkens, 
dessen Inhalt und Methode; es ist der alte Widerspruch des 
abstrakten Gedankens und der sinnlichen Anschauung, oder noch 
besser der systematischen Spekulation und des wirkenden realen 
Lebens. Weil die Philosophie Herders im vollsten Sinne eine 
Philosophie des Lebens war, stand auch in ihrem Mittelpimkt 
der Begriff der wirkenden, der thätigen Kraft; den Gedanken 
in seiner abstrakten Reinheit, ausser seinem Existenz- und Wu-- 
kungskreis zu fassen, ihn so von seiner empirischen Anwendung 
abzusondern, wie Kant es in seiner transcen dentalen Philosophie 
gethan hat, vermochte Herder nicht (Metakritik S. 18, 24, 63 etc.); 
ein Gedanke, der nicht zugleich etwas Wirkliches, etwas Reales 
darstellt, ist für ihn ein Unsinn („Gott '^ S. 522, ^Met.*^ S. 62, 96); 
ein absolutes Nichts kennt und versteht er nicht („Gott" S. 586, 
„Metakritik" S. 63). Herder steckt selbst tief im Loben, er hat 
dessen Eigenschaften, aber auch dessen Mängel ; selbst im Leben 
begriffen, vermag er nicht mit einem Blicke das Ganze zu über- 
schauen, sein Auge bleibt an Einzelnheiten haften; wohl kennt 
er diese Einzelnheiten genau, aber er verliert ihren Zusammen- 
hang, er hat keinen UeberbHck. Wie ganz anders bei Kant, der, 
fern vom Leben und seinen Leidenschaften und Irrungen, 
von der Höhe seines abstrakten, konsequenten Gedankens, das 
ganze Leben auf einmal überblickt, und alle seine Vorgänge 
gerecht und unvoreingenommen beurteilt. Innere Neigung und 
warme Liebe durchglüht jeden Gedanken Herders; strenge Ge- 
rechtigkeit hält sie alle bei Kant im Zusammenhang. Herder 
hasst und liebt mit seinem ganzen Herzen ; Kant lässt sich weder 
von Hass, noch von Liebe hinreissen ; er urteilt frei imd unpar- 
teiisch. Beide Denker streben nach Freiheit: Herder sucht sie 
vergebens im Leben, Kant erreicht sie im Gedankenreich. 

Aus diesem Grundunterschied können wir uns auch den 
Widerspruch der philosophischen Standpunkte erklären ; das reine, 
abstrakte Denken Kants ringt sich zur Theorie der reinen Er- 
kenntnis durch; das vibrierende Leben Herders formt sich die 
Theorie des ewigen, inneren Werdens; der transcendentale und 
der dynamische Standpunkt stehen sich ergänzend gegenüber, 
der erste in seiner vollkommenen systematischen Einheit, der 
zweite in der Form eines wissenschaftlichen Tastens, eines naiven 
Realismus. 



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— 51 — 

Fast auf allen Gebieten des menschlichen Denkens begegnen 
sich die Ansichten beider Philosophen, bald sich widersprechend, 
bald sich durchkreuzend und gegenseitig ergänzend. Um eine 
Uebersicht zu gewinnen, können wir alle diese Berührungspunkte 
in vier Hauptgebiete zusammenfassen: 1. Die ^Kritik der reinen 
Vernunft*' entspricht der Herder'schen Metaphysik, zugleich aber, 
als Elrkenntnislehre, seiner Psychophysiologie ; 2. die „Kritik der 
praktischen Vernunft*^ und die „Religion innerhalb den Grenzen 
der blossen Vernunft^ entsprechen der Herder'schen Religions- 
und Moralphilosophie; 3. die „Kritik der Urteilskraft" Herders 
Aesthetik, und endlich 4. Kants geschichtsphilosophische Auf- 
sätze der Herder'schen Geschichtsphilosophie und Entwickelungs- 
lehre. Auf keinem dieser Gebiete finden Herders Gedanken 
einen definitiven, systematischen Abschluss — zerstreut und 
weit auseinandergelegen begegnen wir ihnen in allen seinen 
Werken. 

2. Metaphysik und Erkenntnislehre. 

Metaphysik und Erkenntnislehre sind die zwei Probleme, 
welche bei Herder wie bei Kant zusammenfliessen ; für Kant ist 
<lie Metaphysik nichts anderes, als die Wissenschaft von den 
Grenzen der Vernunft, sie ist, mit anderen Worten, der negative 
Teil seiner Erkenntnislehre. Bei Herder ist umgekehrt die Er- 
kenntnislehre ein Teil der Psychologie, wie diese ein Stück der 
Physiologie,^) und so ist die Erkenntnislehre für ihn nichts mehr, 
als ein Teil der Weltkenntnis, der Metaphysik. Beide Wissen- 
schaften stehen bei jedem der zwei Denker im inneren Zusammen- 
hang, aber im entgegengesetzten Verhältnis. Noch im völligen 
Vertrauen auf die Macht des menschlichen Wissens, fragt Herder 
geradeaus nach der Welt und ihren Gesetzen; Kant trennt das 
menschliche Wissen von der realen Wahrheit und stellt vorerst 
die Frage nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnis selbst auf. 
Erst mit dieser Frage dringt die Wissenschaft, deren historischer 
Weg im allmählichen Fortschritt vom Objekt zu dem sie auffassen- 
den Subjekt besteht, zur wahren Erkenntnis durch. So treffen 
wir in Herder und in Kant, an einem, historischen Punkt, beide 

') „Erkennen und Empfinden'*, S. 180; Reisejournal, „Lebensbild'', 
H., S.2l5f. 



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— 52 — 

Enden des Weges der Erkenntnis einander gegenübergestellt. 
In dieser verschiedenen Problemstellung unserer Denker können 
wir auch die verschiedenen Tendenzen des menschUchen Denkens 
überhaupt betrachten, die idealistische^ auf den Gesetzen des 
Geistes begründete, und die realistische ^ auf die Beobachtung 
der Natur hinweisende; nur müssen wir dabei nicht vergessen^ 
dass Herders Realismus ziemlich verworren und einseitig ist, da 
er die Welt der Erfahrung mit dem sie auffassenden Geiste auf 
einen Haufen wirft, ohne sogar die Schwierigkeit des Problems 
klar einzusehen; während Kants IdeaUsmus die Welt der Er- 
fahrung ebenso wenig, wie die Gesetze des menschlichen Geistes 
läugnet, und nur die vollständige Erkenntnis der ersteren für 
uns Menschen im RückbUck auf die letzteren verneint; sein 
Standpunkt ist nur subjektiv gültig, er ist nicht schaffend, son- 
dern nur transcendental idealistisch. Es ist ja sehr wohl möglich 
und scheint auch wahrscheinlich zu sein^ dass Herder nur daher 
bei seinem naiv-realistischen Standpunkt stehen geblieben ist, 
weil es ihm nicht so sehr um die reine Erkenntnis zu thun war, 
als um eine Weltanschauung, welche sein Denken ebenso wie 
sein Gemüt befriedigen könnte;^) mag aber immerhin Herders 
Standpunkt seine Persönlichkeit rein ausdrücken, systematischer 
und philosophisch haltbarer wird er dadurch doch nicht. 

Um den Grundunterschied beider Systeme in eine kurze 
Formel zu bringen, könnten wir sagen, dass dem Einen die Frage 
nach der Erkenntnis im Centrum steht und alles andere bewegt 
und bedingt, während für den Anderen diese Frage eine Neben- 
frage ausmacht und aus dem System selbst entspringt. Wir 
haben schon gesehen, wie Herder von seinem dynamischen Stand- 
punkt die erkenntnistheoretische Frage dadurch löst, dass er die 
Kluft zwischen der Materie und dem Geist, dem Sein und dem 
Denken mittelst des Begriffs des ewigen, lebendigen Werdens, 
der wirkenden Kraft überbrückt;*^) als einp aufsteigende Stufen- 
leiter der lebendigen inneren Kräfte erscheint ihm die ganze 
Welt, auf ihrer unteren Hälfte die unbewegliche Natur, auf der 
oberen die geistigen Wesen, ungeföhr in der Mitte der die beiden 
vermittelnde Reiz, mit dem das Reich der Materie abschhesst 

^) Kühneraann, „Herders Persönlichkeil in seiner WMtansohauung"^ 
S. 199 ff. 

*) Gott, S. 451, 460, 546, 564; Metakritik, S. 67. 



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~ 53 - 

und das lebendige Reich des Geistes anfängt.^) Unter vielen 
geistigen Kräften, nicht einmal von den übrigen streng abge- 
sondert, steht das menschUche Denken; Reiz, Empfindung, 
Denken, Fühlen, Wollen, das alles sind gleiche geistige Kräfte, 
und sie alle stehen in einer aufsteigenden Linie, die mit dem 
Vermögen der Krystalisation im Steine beginnt und, so weit wir 
sie verfolgen können, mit dem menschHchen Denken abschliesst.^) 
Sogar der Unterschied zwischen der Kraft des Denkens und der 
der Krystalisation ist bloss ein gradueller, nicht die Kräfte selbst, 
sondern nur ihre Richtungen sind in beiden Fällen verschieden/'; 
Damit aber ist die Ansicht auf die Vernunft, als auf eine Natur- 
anlage gegeben. ') Gelingt es nun Herder, diese Ansicht durch- 
zuführen, sie zur Grundlage einer philosophischen Weltanschauung 
zu machen, so ist eben dadi^rch eine einheitliche Lösung des 
Welträtsels gegeben; das Ziel der menschhchen Erkenntnis, alles 
Gefundene in eine letzte Formel zu bringen, ist erreicht. 

Manche Aeusserungen Herders über das geistige Leben des 
Menschen sind so entfernt von den damaligen metaphysischen 
Ansichten darüber, dass sie uns geradezu durch ihre Aehnlichkeit 
mit den Ergebnissen der modernen. Wissenschaft überraschen. 
„Meines Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem 
Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich," sagt er in „Er- 
kennen und Empfinden" (S. 180); und gleich darauf: „Wir 
empfinden nur, was unsere Nerven uns geben, darnach und 
daraus können wir auch nur denken" (S. 190). Anderes wiederum 
erinnert in seinem konsequenten Materialismus an die iPoren- 
theorie eines Empedokles „Es ist zwischen unseren Sinnen imd 
den Gegenständen ein Medium (Licht, Schall), das so viel von 
d^n Gegenständen abreisst, als diese Pforte empfangen kann, 
alles übrige aber ihnen lasset" (Erkennen und Empfinden S. 187). 

Und doch ist Herder nichts weniger als konsequenter Ma- 
terialist oder Sensualist ; das Geistige ist bei ihm vom Materiellen 
im Grunde scharf gesondert, wie sehr er auch beides vermitteln 

Ideen, S. 47-49, 66-67, 84, 91, 167, 177 ff.; Gott, S. 568; Erkennen 
und Empfinden, S. 192 ff. 

») Erkennen und Empfinden, S. 192; Ideen, S. 86-91, 103—108, 167. 

«) Gott, S. 453; Ideen, S. 97, 102; Humanitätsbriefe, Nr. 116, S. 248; 
Erkennen und Empfinden, S, 193. 

*) Ideen, S. 115, 122, 129. 



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- 54 — 

möchte. „Uniäugbar, sagt er z. B. in den „Ideen** (S. 182), dass 
der Gedanke, ja die erste Wahrnehmung ganz ein ander Ding 
sei, als was ihr der Sinn zuführet.** Kann Herder so schon bei 
der Sinnes Wahrnehmung nicht einer gewissen Doppelseitigkeit 
des Problems entgehen, so wird die Doppelseitigkeit beim ab- 
strakten Denken zu einem förmlichen Cirkelschluss, in welchem 
Herder erfolglos hin und her schwankt; einerseits strömt die 
Weltkenntnis dem Menschen von aussen zu, andererseits aber 
müssen die Gesetze der menschlichen Vernunft, als für die Welt 
gültig, in sie hineingelegt werden: „Wir können die Natur nur 
nach der Analogie unserer selbst beurteilen" und „unser Erkennen 
haben wir nur aus dem Weltall durch Empfinden und Assimi- 
lieren,*' so lautet es schon in „Erkennen und Empfinden" ; und 
wieder weiter: „der empfindende Mensch fühlt sich in alles, 
fühlt alles aus sich heraus" (S. 170). Denselben Kreislauf bedeutet 
auch die Stelle der „Ideen" (S. 273 bis 274), welche unsere Er- 
kenntnis« und unser ganzes geistiges Leben für von der Tradition 
imd den klimatischen Bedingungen und wiederum von einer 
genetischen, sich selbst schaffenden Kraft abhängig erklärt; den- 
selben Cirkelschluss zeigen .wieder die „Ideen", indem sie in der 
Vernunft zugleich etwas Vernommenes, Gelerntes (S. 144) und 
andererseits etwas mit der Organisation des Menschen Gegebenes 
(S, 116) sehen. Desselben Cirkelschhisses machen sich auch die 
„Spinozagespräche" schuldig, indem sie die Existenz der höchsten 
Vernunft aus der raenschHchen und zugleich das Wesen der 
menschlichen aus dem der höchsten erklären (S. 476, 516), oder 
das Denken zum Beweis des Denkbaren, das Denkbare zum 
Grunde des Denkens machen. Denselben Cirkelschluss finden wir 
endlich auch in der Metakritik ; das 8. Kapitel sieht den Ursprung 
unserer allgemeinen Begriffe in den Gesetzen des Weltalls und 
zugleich in der Analogie unserer selbst (S. 207), und das 14. 
Kapitel betrachtet die Vernunft zugleich als Erkenntnisquello 
und als empirisch gegebenen Gegenstand, als wirkende Kraft 
(S. 291, 296). Mit einem Worte, die ganze Herder'sche Theorie 
des Einen im Vielen oder des Besondern im Allgemeinen*) ist 
nichts anderes als ein in sich selbst zurückkehrender Beweis, 
als eine verworrene Einheit von Subjekt und Objekt. Nicht um- 

') Metakritik, S. 83, 250. 



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— 56 — 

sonst bildet auf Herders Denkmal eine Schlange, die den Schwanz 
im Munde hat, das von ihm selbst gewählte Symbol seiner ganzen 
Denkungs weise. ') 

Auf zwei Wegen versucht Herder in diesem Cirkelschluss, 
dessen er sich wohl bewusst war,^) einen festen Anhaltspunkt 
zu erlangen; einmal indem er, sich zum gesunden Menschen- 
verstand flüchtend, auf die Kraft hinweist, deren Wirken als 
Denken wir in uns, und deren Wirkungen wir zugleich in der 
äusseren Welt beobachten;^) und dann, indem er auf eine 
Harmonie hinweist, ^) welche zwischen unserer inneren und der 
äusseren Welt stattfindet. Aber keine von diesen beiden Theorien 
scheint mir philosophisch stichhaltig zu sein: 1. indem Herder 
unsere Vernunft den Naturkräften gleichstellt, betrachtet er sie 
als Vermögen und nicht als Erkenntnisquelle, als Objekt und 
nicht als Subjekt; die erkenntnistheoretische Frage bleibt so 
immer ungelöst; 2. was die Harmonie betrifft, so kann sie nur 
dann zum Weltprinzip erhoben werden, wenn sie bewiesen wird 
und zwar entweder auf dem naturwissenschaftlichen, oder auf 
dem subjektiven Wege; im ersten Fall aber ist es eine, wenn 
man so sagen kann, physische Harmonie, eine natürliche und 
nicht eine sittliche, ethisch freie, wie Herder sie fordert; im 
zweiten Fall ist es diejenige subjektive Teleologie, welche Kant 
begründet hat ; keine von beiden will aber Herder, und so kommt 
es denn, dass Herder in der Harmonie „ein vom Schöpfer ge- 
schaffenes Band der Wesen" sieht. •'^) Denselben Kreislauf der 
Gedanken, dessen eine Strömung vom Subjekt, die andere vom 
Objekt, die eine vom Geist, die andere von der Materie, ausgeht, 
werden wir später auch auf anderen Gebieten der Philosophie 
Herders finden können ; es ist sein Streben nach einer monistischen 
Weltanschauung, welches ihn zu dieser seiner Theorie der 
geistigen Kräfte und mit ilir in diesen Kreislauf treibt. Dieser 
Fehler seines Denkens kommt vielleicht dort am klarsten zum Vor- 
schein, wo er andere Systeme, in welchen er diese Einheitlichkeit 

*j Eriunerungen, IL, S. 361. 
'^) Erkennea und Empfinden, S. 170. 

'') IV. Spinozagespräch, S. 522; Erkennen und Empfinden, S. 171 
Metakritik, S. 297. 

*) Erkennen und Empfinden, S. 174, 178; Metakritik, S. 297. 
^) Erkennen und Empfinden, S. 174. 



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- 56 - 

vermisst, bekämpft, ohne ihnen selbst ein eigenes konsequenteres 
System gegenüberstellen zu können; der Leibniz'schen „Prä- 
stabilierten Harmonie" tritt er schon in „Erkennen und Empfinden*^ 
entgegen (S. 176), dann in „Gott" (S. 461); der Spinozistischeu 
Unterscheidung von Ausdehnung und Denken in den „Spinoza- 
gesprächen" (S. 451, 467); der Kantischen Transcendentalphilo- 
sophie endlich in der „Metakritik"; und überall versucht Herder an 
die Stelle des Widerlegten sein System der Kräfte autzustellen. ^) 

Es scheint mir das grösste Verdienst Herders zu sein, dass 
er gegen die absolute Scheidung des Geistes von der Materie 
aufgetreten ist, dass er der einheitlichen Weltanschauung das 
Wort geredet und so der modernen Naturwissenschaft den Weg 
geebnet hat — fast hundert Jahre bevor sie zu ihrem jetzigen 
Ansehen gekommen ist; dass er aber dieser Weltanschauung 
keine wissenschaftliche Form zu geben vermochte, kommt, wie 
ich es schon früher zu erklären suchte, eben daher, dass seine 
dynamische Theorie, als eine Erfahrungswissenschaft, am meisten 
dem Gesetz der allmählichen Entwickelung unterworfen ist, und 
daher nur nach langer Ausbildung ihre vollständige Form er- 
langen kann. 

Wenn hervorgehoben wird, -) dass derselbe Fehler des 
Denkens, die in sich zurückkehrende Beweisführung, in der 
Fichte'schen Ichlehre, in der HegeFschen Entwickelungslehre 
imd in der Schelling'schen Naturlehre angetroffen wird, so ist 
damit der Widerspruch des Herder'schen Systems keineswegs 
l)eseitigt; sondern es wird im Gegenteil dadurch bewiesen, dass 
ein dogmatischer Monismus, der nicht mit dem Kriticismus 
gewisse Grenzen unserer Erkenntnis zugeben will, unvermeidHch 
in eine Doppelströmung gerät, deren beide Ausgangspunkte, 
Subjekt und Objekt, bis jetzt keine Philosophie vollständig zu 
verbinden vermochte. 

Es ist zwar richtig von Pfleiderer bemerkt worden, dass 
Herder sich zu Kant so verhält, wie Monismus zu Dualismus; 
es ist ebenso richtig, was Pfleiderer weiter bemerkt, Monismus 
und nicht Dualismus sei der letzte Zweck der Wissenschaft, zu 
welchem unser Jahrhundert uns drängt. Ebenso wahr scheint 

') Gott. S. 450, 461; Metakritik, S. 67: Erkennen und Empfinden, 
S. 192. 

') Hayni, L, S. 675 ff. 



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— 57 — 

<is mir aber zu sein, dass der Monismus Herders nur ein ver- 
worrener und äusserlicher ist, während der scheinbare Dualismus 
des vorstellenden Subjekts und des vorstellbaren Objekts bei 
Kant in Wirklichkeit auf einen unbedingten, transcendentalen 
Monismus hinausläuft. Die Unlösbarkeit des Problems Kants, die 
letzte Wurzel unserer Erkenntnis zu finden, von welcher wir 
nur die Stämme sehen, ist in dem Wesen des Wissens selbst 
begründet; die Grösse Kants besteht eben darin, dass er als 
das ewige Los der Wissenschaft das Streben nach der Wahrheit 
hinstellte, anstatt, wie die vorkritische Philosophie, ihr ein fass- 
bares Ziel zu stellen, dessen Geltung aber nur bedingt bliebe. 
Dieses Verhältnis Kants zu seinen Vorgängern drückt er in 
seiner Schrift ^Von einem neuerdings erhobenen vornehmen 
Ton in der Philosophie*^ am besten selbst aus, indem er die 
^Kritische Forschung als herkulische Arbeit der Selbsterkenntnis 
der Genialbetrachtung der Neuplatoniker" entgegenstellt. 

Während Herder zur klaren Absonderung des Subjekts und 
des Objekts noch nicht fortdringt und bei dem unklaren Begriff 
der Harmonie stehen bleibt, sondert Kant ein für allemal beide 
Enden der erkenntnistheoretischen Frage, und — der späteren Natur- 
forschung die Betrachtung des Objekts überlassend — sucht er selbst 
das festzustellen, was allein vom Subjekt bestimmt wird. Ob 
diese beiden Wege sich jemals treffen werden, ob unser Wissen 
jemals zu dem Punkt gelangen wird, in welchem Subjekt und 
Objekt ineinsfliessen, diese Frage hat die Zukunft zu beantworten. 
Für Kant ist dieses Zusammentreffen, diese Einheit, eine trans- 
cendentale Idee, welche unserem Forschen die Richtung, aber 
nicht den Endpunkt zeigt. *) 

Scheint Herders System vor demjenigen Kants den Vorzug 
einer Einheit zu haben, so ist diese Einheit eine bloss künstliche, 
erdichtete und, wie wir später sehen werden, eine sogar bloss 
äusserliche und scjheinbare. So äussert sich auch ihre Schwäche 

') Es ist derselbe Gedanke , den vor Kant schon Lessing ausge- 
sprochen hat: »Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen, dass wir aus 
dem Gedanken alles herleiten wollen, da doch alles mit samt den Vor- 
stellungen von höheren Prinzipien abhängt. Dass wir uns davon nichts 
denken können, hebt die Möglichkeit nicht auf." Es ist ganz begreiflich, 
wenn Herder diese unerkennbaren Prinzipien in den reellsten BegrifiF des 
Daseins umwandelt („Gott^ S. 501—503). 



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— 58 — 

schon darin, dass das Problem immer in sich selbst zurückkehrt 
und einen ewigen Kreis bildet, anstatt, wie bei Kant, im ewigen 
Fortschritt zweier parallelen, sich in der Unendlichkeit treffenden 
Linien die einheitliche Lösung zu erlangen. 

Bei Kant bewegen sich Subjekt und Objekt ohne einander 
in ihren unabhängigen Ent Wickelungen zu stören; dass ein Zu- 
sammenhang zwischen beiden existiert, ist eine Thatsache, welche 
Kant in der zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft" 
(S. XXXIX und 275) ausdrückUch bestätigt hat; nur das Wesen 
dieser Einheit kennen wir nicht, eben weil sie einelranscendentale 
ist. Die Wand, welche Subjekt und Objekt scheidet, ist die Auf- 
fassungsweise des ersteren, seine Anschauungsformen, seine Ver- 
standesbegriffe und endlich seine Ideen ; so ist die ganze Kantische 
Theorie der Erscheinung und des Dinges an sich, so sind seine 
transcendentale Aesthetik, Analytik und Dialektik, durch seine 
Sonderung des Subjektes und Objektes gegeben ; Kants Antwort 
auf die alte erkenntnistheoretische Frage war — empirische Schei- 
dung von Subjekt und Objekt, ja sogar ein gewisser Verzicht auf 
vollständige Erkenntnis des fetzteren ; aber diese Sonderung zum Be- 
huf einer höheren, transcendentalen Einheit. Vor dieser empirischen 
Sonderung aber erschrack Herder und er übersah die höhere Einheit. 

Oft sehen wir Herder in der Kreisbewegung zwischen Sub- 
jekt und Objekt dem Kantischen Subjektivismus ganz nahe kom- 
men, die entgegengesetzte Strömung reisst ihn aber bald wieder fort; 
da erkennt Herder Zeit und Raum für blosse Grenzen der be- 
schränkten menschlichen Erkenntnis( „Spinozagespräche", S. 444, 
457, 489, 508) ; da gesteht er, dass die absolute Wahrheit nicht 
in der Erfahrung, sondern nur in unserer Vernunft anzutreffen 
sei („Gott", S. 518), da lässt er zu, dass der einzige Beweis Gottes 
unser Bedürfnis, die höchste Vernunft vorzustellen, sei („Christliche 
Schriften", S. 156); da endlich spricht er von dem ^mir Schönen" 
(^Kalligone^, S. 104, 207); nur noch ein Schritt, und die Schranken 
unserer Vernunft sind festgestellt, die Grundlage des Kriticismus 
ist da; vor diesem letzten Schritt aber schrickt Herder zurück. 
Vielleicht würde ein reines, unbefangenes Streben nach der Er- 
kenntnis von diesen Resultaten nicht wieder zur Theorie der 
objektiven Zeit- und Raumvorstellungen, der absoluten Erkenntnis 
des Seienden, des höchst realen Gottes, des Naturschönen zurück- 
kehren. Dass der grösste vorkritische Gegner Kants zugleich 



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— 59 — 

selbst nur einen Schritt vom Kritizismus entfernt war, ist der 
schlagendste Beweis, wie sehr die Zeit und die Wissenschaft für 
denselben reif waren. 

Macht nun Herder diesen erlösenden Schritt nicht mit, so 
verliert die ganze kritische Theorie für ihn jeden Sinn ; denn 
was sind die Kantische Aesthetik, seine Analytik und seine 
Dialektik anderes, als eben die verschiedenen Abstufungen dieser 
Grenze zwischen Subjekt und Objekt? Was bleibt von ihnen allen 
übrig, wenn man ihre Petitio principii verwirft, dass es etwas 
geben könne, was die Erfahrung uns nicht sagt und was doch 
für uns gültig ist? Für Herder ist ja die Erfahrung der alleinige 
Ausgangspunkt; dass er daher keine transcendentale Logik kennt 
und ihr nur eine „Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte" 
(„Metakritik'^, S. 41) entgegenstellen kann ist, leicht verständlich; 
keiner von den bahnbrechenden Teilen der Kritik hat daher für 
Herder diejenige Bedeutung, welche er für ihn haben würde, 
wenn er sich seines vorkritischen Standpunktes entledigen könnte. 
In seiner ganzen Lehre finden wir nichts, was den Kantischen 
Raum- und Zeitanschauungen, seinen Kategorien, seinen Ideen, 
dem Wesen nach und nicht nur der äusseren Form gemäss (wie es 
in der „Metakritik'^ geschieht), gegenübergestellt werden könnte ; 
mit anderen Worten : für die Erkenntnislehre in dem Sinne, wie 
sie seit Kant existiert, hat Herder nichts gethan ; und was seine 
Metaphysik betrifft, so bleibt sie trotz ihres scheinbaren Monis- 
mus, den Herder nicht müde wird, dem Kantischen Dualismus ent- 
gegenzustellen (so „Metakritik", S. 314), stark dogmatisch gefärbt; 
sogar seine Behauptung, dass alle Seelenvermögen eine Einheit 
bilden, dass „man mit Namen keine Fächer in unserer Seele 
zimmert,^ bedeutet nur scheinbar einen Fortschritt Kant gegen- 
über; schon abgesehen davon, dass es Herder selbst bei weitem 
nicht gelingt, diese Einheit konsequent durchzuführen, so will 
ja auch Kant die letzte Einheit der aus „einer gemeinsamen 
Wurzel" entspringenden Seelenvermögeii nicht läugnen und ver- 
neint nur ihre Erkennbarkeit. 

Kant gegenübergestellt, bedeutet Herder das zurückgebliebene 
naiv-realistische Denken, während Kant bereits auf einem fort- 
geschrittenen Standpunkt steht. Aber giebt es denn wirklicjh 
keinen Herder'schen Gedanken, welcher durch Kants Fortschritt 
nicht zur Vergangenheit gemacht worden wäre, dessen Bedeu- 



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— 60 — 

tung auch in unserem Jahrhundert fortbestehen könnte? Wolil 
giebt es einen und diesem einen hat Herder es zu danken, dass 
sein Name an der Seite des Kaniischen dankbar wiederholt wird; 
es ist sein Grundgedanke des Werdens, der Entwickelung. Wo 
dieser rein ausgeprägt wurde — in seiner Metaphysik oder 
seiner Erkenntnislehre — dort erhielt das System eine Festig- 
keit und Dauerhaftigkeit, welche den übrigen Teilen fehlen: 
die Idee der ewig wirkenden Kräfte, des Vergehens und Ent- 
stehens, der klimatischen Bedingtheit aller Wesen, der natur- 
gemässen Entwickelung, des Einflusses der Tradition und der 
Sprache auf den Menschen, sie alle, die schönen Gedanken der 
^Ideen" wirken immer fort und sie sind es auch, welche die 
„Ideen" zum verbreitetsten Werke Herders gemacht haben. Nur 
noch ein Schritt von seiner Entwickelungslehre zu grösseren 
Konsequenzen, nur noch eine letzte Läuterung seines Werde- 
begriffs von dem hergebrachten metaphysischen Begriff des Seins, 
und wir haben die Elemente der neueren Naturlehre, der Biologie, 
wie sie Darwin geschaffen hat; da kommt aber bei Herder die 
Zweckmässigkeitsidee hinein, da kommt der Begriff des Ideals, 
als einer äusseren Ursache, eine teleologische Betrachtung der 
Welt mit dem Gottesbegriff in ihrer Grundlage; die freie For- 
schung wird von den ihr angelegten Fesseln des von aussen 
hineingreifenden Ideals gehemmt : der Vorläufer Darwins verspeni 
sich selbst den Weg zur Erkenntnis. So in der Naturwissenschaft, 
der Herder'schen Metaphysik, so auch in der Psychophysiologie, 
der Herder'schen Erkenntnislehre. Mit sicheren Schritten durch- 
misst er in der Schrift „Vom Erkennen und Empfinden*^ das 
Feld der Anfänge der menschlichen Erkenntnis ; aber nun findet 
er in allen diesen Erscheinungen ein inneres Band zwischen der 
äusseren und inneren Welt, „ein geistiges Band, welches der 
Schöpfer geknüpft haben muss, dass gewisse Dinge dem empfin- 
denden Teil unseres Organismus ähnlich, andere widrig sind". ^) 
Mag auch dabei das gefundene Band, Harmonie^ eher teleologisch 
als theologisch khngen, der freie Gang der Gedanken ist dennoch 
abgeschnitten ; das alte Streben nach dem Absoluten zerschneidet 
wiederum den Faden der Entwickelung. 

Wir sehen, je reiner der Werdensgedanke sich bei Herder 
ausprägt, desto folgerichtiger ist er. Widerspricht er dabei 

*) Erkennen und Empfinden, S. 174; ühnlich auch Ideen, S. 367. 



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— 61 - 

Kant, oder beweist er damit dessen Inkonsequenz? Nein: 
denn seine Naturwissenschaft, wie auch seine Physiologie 
betreffen nur die Welt, wie wir sie kennen und sie erforschen 
können, oder, mit Kants Worten zu reden, die Erscheinungs- 
welt; dass diese aber in gewissen Grenzen erforscht werden 
kann und muss, hat auch Kant ausdrücklich behauptet. Forscht 
Herder nach den Gesetzen des Denkens, findet er sie m der 
physiologischen Thätigkeit unserer Seelen vermögen, so thut er 
ja damit nur dasjenige, was Kant unter dem Namen der an- 
gewandten Logik forderte; die letztere wird ja von Kant gar 
nicht geläugnet, nur stellt er ihr seine reine Logik an die Seite. 
Will ferner Herder die Gesetze der Natur beqbachten, so er- 
weitert er nur unsere Erkenntnis a posteriori^ welche wiederum 
dem Kantischen a priori gar nicht widerspricht, sondern das- 
selbe nur ergänzt. Will aber Herder die physiologisch nach- 
gewiesenen Gesetze unseres Denkens zu Gesetzen des Weltalls 
machen, oder die Gesetze des Alls durch die beschränkten Be- 
griffe unseres menschlich fehlbaren Verstandes bedingen, ^) so 
verfehlt er die Wahrheit, und genügt weder den Forderungen 
Kants, noch denjenigen der strengen modernen Naturwissenschaft. 
So sehen wir, dass derjenige Teil des Herderschen Systems, 
welcher an sich berechtigt ist, Kant im Grund ergänzt und ver- 
vollständigt ; der Kantische Transcendentalismus, als Methode 
der Forschung, und der Herdersche Begriff des Werdens, als ihr 
Inhalt, — nur reiner, wissenschaftlicher ausgedrückt — sind die 
beiden Wegweiser, an welche sich das XIX. Jahrhundert zu 
halten hat und welche sich gegenseitig nicht widersprechen, 
sondern im Gegenteil ergänzen. Derjenige Teil des Herderschen 
Systems aber, der den Kern zum Verfall in sich selbst trägt, 
der in sich selbst morsch ist, stellt sich dem Kantianismus ent- 
gegen, um in dieser Gegenüberstellung sich als völlig unstich- 
haltig zu erweisen : es ist das Element der Ruhe in seiner Ent- 
wickelungslehre, es ist die Herbeiziehung und Hypostasierung 
des Ideals dort, wo es sich nur um die vergängliche Wirklich- 
keit handeln sollte — es ist der Gottesbegriff und der Gedanke 
der äusseren Zwecke und Ursachen in seiner Metaphysik, der 
Begriff eines bestimmten, vom Schöpfer geschaffenen Bandes 
zwischen Materie und Geist in seiner Erkenntnislehre. 

*) Herders ganze Theorie des Eines in Vielem. 



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— 62 - 

Fragen wir uns nach den Verdiensten beider Philosophen 
um die Erkenntnislehre, so ist es klar, dass dieselbe, als die 
Wissenschaft von der Beschaifenheit, dem Umfang und den Grenzen 
der menschlichen Erkenntnis eigentlich nur von Kant begründet 
wird; was Herder einzig gebührt, ist der Ruhm, ihre physiologischen 
Grundlagen ins Auge gefasst zu haben; das was er sucht und 
in seiner Logik als „Physiologie der Erkenntniskräfte" zu finden 
glaubt, sind nicht Gesetze der Erkenntnis, sondern Gesetze des 
Denkens. Eben deswegen aber hört seine Logik auf, reine Er- 
kenntnislehre zu sein ; sie ist vielmehr bloss eine auf Erfahrungs- 
thatsachen gebaute Wissenschaft; sie ist nicht mehr eine phi- 
losophische Begründung der Wissenschaften überhaupt, sondern 
nur eine unter mehreren anderen. Was aber das Verdienst Herders 
noch mehr herabsetzt, ist die Thatsache, dass bei ihm auch diese 
Erfahrungswissenschaft völlig der philosophischen Schärfe und 
Konsequenz entbehrt, die eine solche haben müsste, um sich 
mit Recht an die Seite des Kritizismus stellen zu können. Mag 
dieses die moderne inhaltliche Logik und Erkenntnislehre ver- 
suchen, — Herdern konnte dieser Versuch nimmermehr gelingen, 
schon weil er nicht, wie die letztere, sich auf die Fortschritte 
Kants stützen wollte, noch konnte. Bedingt die Herdersche 
naiv-realistische Erkenntnistheorie eine metaphysische Logik, so 
wie sie in Hegel ihren Höhepunkt hat, so ist Kant der Begründer 
der subjektivistisch'formalen Logik. Wenn die Ansichten beider 
in der modernen Wissenschaft vertreten sind (die ganze ob- 
jektivistische Richtung der Logik bei Scheiermacher, Trendlen- 
burg, Beneke, Ueberweg etc. könnte Herder zu ihren Vor- 
läufern zählen), so bleibt doch zu bedenken, dass Kant allein der 
systematische Begründer und Vertreter seiner Theorie war, 
während Herder nur als ein sehr unsystematischer und in- 
konsequenter Vorläufer späterer Philosophen dasteht. 

Stellen wir Herders und Kants Gedanken, so wie sie sich zeit- 
lich gegenüberstanden, entgegen, so tritt Herders Bedeutung vor 
derjenigen Kants vollständig zurück; sehen wir aber von der zeit- 
lichen Bedingtheit und dem individuell-unsystematischen Charakter 
des Herder'schen Philosophierens ab, so finden wir in seinen 
wahren Aeusserungen die Keime eines Systems, welches sich 
gegenwärtig in seiner vollständigen Ausarbeitung an die Seite 
des Kantischen stellt; freiUch brauchte es zu dieser vollständigen 



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- 63 — 

Ausarbeitung eines grossen Zeitraums, und, was für unsere 
Frage noch wichtiger ist, die Nachfolger Herders raussten, ehe 
sie sich mit seinem Gegner messen konnten, sich an der Phi* 
losophie des letzteren stärken. Keiner von den neuem Logikern, 
die Kants philosophische Grundlagen der Logik zu ergänzen 
oder zu widerlegen beanspruchen, läugnet zugleich eine gewisse 
Abhängigkeit von Kant, keiner seiner Gegner spricht dieser 
philosophischen Reform ihre bahnbrechende Bedeutung ab, 
mag er nun im Einzelnen mit Kant übereinstimmen oder 
nicht. 

Aehnlich wie mit der Logik verhält es sich auch mit der 
Herderschen Metaphysik : weist sie mit ihrer monistischen Grund- 
anschauung, mit ihrer bloss quantitativen Verschiedenheit des 
Geistes und der Materie, mit ihrer Annahme einer Stufenleiter 
der Wesen, direkt auf die späteren Systeme eines Schelling 
(Naturphilosophie), eines Hegel (Dialektik), eines Trendlenburg 
und eines Ueberweg hin, so muss man nicht vergessen, dass 
diese alle zu ihrem Vorläufer Kant hatten, auf dessen philo- 
sophischer Reform sie alle fussen. Man könnte auch Herders 
Theorie der Stufenleiter der Wesen und die durch dieselbe be- 
gründete Ansicht von der inneren Verwandtschaft des Erkenn- 
baren und Erkennenden, als diejenige Theorie bezeichnen, welche 
sich in der neueren Zeit der Kantischen prinzipiellen Scheidung 
von Sein und Denken entgegenstellt; es ist ja der Standpunkt, 
von welchem Ueberweg Kant zu widerlegen sucht, es ist zu- 
gleich der Punkt, in welchem der Kantianer Herbart sich von 
Kant trennt; aber wiederum muss man dabei bedenken, 
dass Ueberweg sowohl wie Herbart auf den Schultern Kants 
stehen, und dass andererseits eine innere Harmonie der Welt 
auch von Kant nicht geläugnet wurde, nur dass er, auf einen 
fheoretischen Beweis derselben verzichtend, sich mit einer sub- 
jektivistischen Teleologie begnügte, deren Ursprung nicht die 
objektive Zweckmässigkeit der Natur, sondern nur das praktische 
Bedürfnis des Menschen nach ihr bildet. 

Mit dieser Frage werden wir uns noch später (IV. Kapitel) 
beschäftigen müssen; jetzt aber noch einige Worte über die 
Methode unserer Philosophen. Beim ersten Anblick scheint es, 
als wende Kant ausschliesslich die Deduktion und Herder die 
Induktion an; sehen wir uns aber das Verhältnis näher an, so 



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— 64 — 

bemerken wir, dass Kant mit seiner Begründung der synthetisch- 
apriorischen Schlussart die empirische, sei es nun analytische 
oder synthetisch-induktive, gar nicht verneint; wenn Herder da- 
her seine empirische Beweisführung der Kantischen apriorischen 
entgegenstellt, so übersieht er gänzlich, dass er damit Kant 
nicht widerspricht, sondern im Gegenteil ihn nur ergänzt; der 
ganze Unterschied besteht hier, wie auch auf anderen Gebieten 
darin, dass beide Methoden bei Herder ziemlich verworren bei 
einander stehen, während Kant sie beide auseinanderhält,, 
imd den Weg der einen — der Deduktion durch seine „Kritik 
der reinen Vernunft" begründend, die Entwickelung der anderen 
— der späteren Erfahrungswissenschaft überlässt. 

III. Religions- und Moralphilosophie. 

Wie Metaphysik und Erkenntnislehre, so haben auch Re- 
ligions- und Moralphilosophie bei beiden Philosophen eine ent- 
gegengesetzte, wenn auch eng miteinander verbundene Stellung ; 
Kants Glaube ist ein Vernunftglaube, er erkennt einen Gott an, 
weil söine praktische Vernunft es fordert, — seine Religions- 
philosophie ist auf einem praktischen Bedürfnis begründet, si^ 
existiert um der Moral willen. Ganz entgegengesetzt verhalten 
sich beide Fragen bei Herder : ihm ist Gott die höchste Realität, 
die Gotteslehre daher die Lehre vom höchst realen Wesen, der 
höchsten Vernunft Güte und Allmacht;^) im Vergleich mit ihr 
ist die Moral nur die Lehre von den Gesetzen der endüchen, 
beschränkten Güte, von der menschlichen Tugend. Nach Kant 
sollen wir an Gott glauben, weil wir in uns die Idee der voll- 
kommenen Menschheit und ihres Endzwecks, den Gedanken des 
höchsten Gutes tragen. Nach Herder sollen wir sittlich sein, 
weil wir Abbilder der höchsten Sittlichkeit sind. Auch hier wie 
überall ein ganz verschiedener Ausgangspunkt. 2) 

Noch mehr Verschiedenheit, wenn wir die Stellung der 
lieligionsphilosophie in dem Ganzen beider Systeme betrachten : 
bei Herder kommt alles aus Gott, und alles kehrt zu ihm zurück; 
ebenso unvermittelt, wie die Welt und der freie menschliche 

^) Gott, VI. Gesprüch: Metakritik, S. 232 ff. ; Erkennen und Empfinden, 
S. 202 ff 

') Ideen, Bd. XIII, S. 154. 



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— 65 — 

Geist, steht bei ihm neben jenen auch Gott — objektive Wahr- 
heit, wie sie beide, eine dreiteilige Einheit, deren inneren 
Widerspruch Herder entweder nicht einsieht, oder nicht einsehen 
möchte; so bildet auch die Gotteslehre bei ihm einen Teil der 
Metaphysik; er scheidet sie noch nicht aus, um ihr eiiie ge- 
sonderte Stellung anzuweisen. Auch darin macht Kant den ent- 
scheidenden Schritt ; wie er Subjekt und Objekt geschieden hat, 
so scheidet er jetzt innerhalb des ersteren die theoretische Er- 
kenntnis vom praktischen Bedürfnis und erlangt so auf dem 
Wege der praktischen Postulate seinen notwendigen, aber zu- 
gleich von der Naturlehre wie auch von der menschUchen 
Preiheitslehre unabhängigen Gott. Bei Herder ist so die Gottes- 
lehre die erste, bei Kant die letzte Frage. 

In der Metaphysik und der Erkenntnislehre war es der 
Streit zweier Standpunkte, des Rationalismus und des Empirismus, 
an welchen unsere Philosophen angeknüpft haben. Ein Zufall 
giebt uns Gelegenheit, auch ihre religionsphilosophischen Ansichten 
mit einer ähnlichen Streitfrage in Zusammenhang zu bringen ; es 
ist der berühmte Mendelssohn-Jacobische Spinozastreit, welcher 
Kant und Herder zur endgültigen Läuterung und klaren Aus- 
einanderlegung ihrer Ueberzeugungen Anlass giebt. Während der 
Aufklärungsphilosoph Mendelssohn, vom rationalistischen Stand- 
punkt ausgehend, Spinoza gegenüber Beweise eines theistischen 
Gattes zu geben sucht, stimmt sein Gegner mit Spinoza in der Un- 
demonstrierbarkeit Gottes überein, um sich dann ganz dem Ge- 
fühlsglauben hinzugeben; so treten in diesem Streit Glauben 
imd Verstand gegenüber, wie sich im erkenntnistheoretischen 
Streit der menschliche Geist und die Welt der Erfahrung 
entgegengetreten sind. 

Wir sahen, wie unbestimmt und verworren Herders Ansichten 
in der erkenntnistheoretischen Frage waren und wie sie zwischen 
dem Rationalismus und dem Empirismus schwankten. Seine 
Spinozagespräche (IV.) von 1787 zeigen uns, dass er sich mit der 
religiösen Frage nicht besser abfand; beide Prinzipien des Glaubens 
und der theoretischen Erkenntnis sind in der Religion verbunden 
und nach seiner Meinung gleich berechtigt; recht schwer fallt 
eö ihm, sich für eine der streitenden Parteien zu entschliessen ; 
anstatt *sich zu einer ausgesprochenen Ansicht zu bekennen, 
modelt er die Begriffe beider nach seiner Weise um; Jacobis 

5 



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- 66 — 

Glaubensprinzip wird für ihn zur „Enthüllung des wahren Daseins 
Gottes durch Offenbarung" und zur „unmittelbaren Erkenntnis 
dessen, was da ist und wie es da ist*' (Gott, S. 611); andererseits 
aber sieht er in den Mendelssohnschen physiko-teleologischen Be- 
weisen nichts mehr, als den blossen Wunsch, die Undemonstrier- 
barkeit eines realen Gt)ttes zu bekämpfen; es ist eine ziemlich 
ungeschickte Ausflucht, wenn Herder, anstatt sich offen auf eine 
bestimmte Sjite zu schlagen und die andere abzuweisen, sich 
zugleich beiden gesellt, und die Waffen beider gegen „die 
Vemünftelei, die leeren Phantome einer müssig spekulierenden 
Einbildungskraft" kehrt (S. 613). Dieser neue Gegner in der 
religionsphilosophischen Frage war offenbar Kant ; er soll an der 
Verwirrung Herderscher Gedanken die Schuld tragen; hier wie 
immer tritt Herders Widerspruch gegen Kant dort am stärksten 
hervor, wo seine eigenen Gedanken nicht stichhaltig sind. 

Aber noch früher als Herder nahm Kant selbst eine bestimmte 
Stellung zu diesem Streite ein und zwar in den zwei 1786 erschie- 
nenen Schriften „Bemerkungen zu Ludwig Jacobs Prüfung der 
Mendelssohnschen Morgenstunden" und „Was heisst sich im Den- 
ken orientieren*^. Wie früher den Streit zwischen Sinnlichkeit und 
Verstand, so schlichtet Kant jetzt den Streit zwischen Glauben 
und Erkenntnis, indem er ihre Grenzen scharf bezeichnet: der 
erste ist praktisch, die zweite theoretisch; der erste ist daher 
nur subjektiv gültig, und darf nicht den Anspruch auf objektive 
Wahrheit, wie die zweite, erheben ; was speziell die Gottesfrage 
betrifft, so muss sich hier die theoretische Vernunft jedes Urteils 
enthalten; entscheiden kann darin nur das praktische Bedürfnis. 
So bildet Kants Vemunfbglaube die Lösung der religiösen Frage, 
wie Kants subjektiver Idealismus die Lösung der erkenntnis- 
theoretischen bildete. Wiederum besteht hier die Reform Kants 
in der Scheidung der bisherigen Standpunkte, in der Anerkennung 
beider, wenn auch nur in gewissen Grenzen, in der Hinstellung 
der Einheit beider zum Endzweck der Menschheit. Denn als 
eine solche Einheit der sinnlichen Glückseligkeit, von welcher 
der Popularphilosoph ausgeht, und der höchsten Pflichterfüllung, 
die Jacobi zum Prinzip nimmt, erscheint Kant sein Gott, der 
Verheisser des moralischen und zugleich eudämonistischen 
höchsten Gutes. Bezeichnend ist es für Kant, dass er sich mehr 
auf die Seite der Vernunftbeweise Mendelssohns, als auf die des 



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— 67 — 

Gefühlsglaubens Jacobis neigte, dass er auch darin die Gefühle 
den Gedanken untergeordnet wissen wollte, ebenso wie es für 
Herder höchst charakteristisch ist, dass er in diesem Streit des 
Gedankens und des Gefühls sich gar nicht entscheiden konnte, 
dass er dort am meisten Eklektiker war, wo es sich um die ge- 
nauere Bestimmung beider in ihm streitenden Elemente handelte. 
Eine noch bedenklichere Stellung, als zwischen Jacobi 
und Mendelssohn, nimmt Herder zwischen Spinoza und Leibniz 
ein ; Jacobi und Mendelssohn kamen doch darin überein, dass sie 
beide den Glauben an einen persönlichen Gott billigten; ganz 
entgegengesetzt waren in diesem Punkt die Ansichten Spinozas 
und Leibnizens: während der letztere Gott als die höchste In- 
dividualität anerkennt, kennt Spinoza nur einen pantheistischen 
Gott, als „natura naturans" gefasst ; aber wie gross auch dieser 
Abstand sein mag, so verhindert er Herder doch nicht, beide 
Ansichten zu versöhnen und seinem eigenen Standpunkt zu 
assimilieren. Er denkt den Sinn der spinozistischen Gottes- 
auffassung ganz auszuschöpfen, wenn er gegen „Gott, als das 
müssige Wesen, das ausserhalb der Welt sitzt und sich selbst 
beschaut, so wie es sich Ewigkeiten hindurch beschaute, ehe 
es mit dem Plan der Welt fertig ward", protestiert; einen 
solchen Gott aber findet er höchstens im indischen Jagrenat, 
und keineswegs im kirchUch-christlichen Gott („Gott", S. 495 
bis 496); er nimmt keinen Anstand, diesen christlichen 
Gott mit dem spinozistischen übereinstimmend zu finden, 
oder seine „Religion der Liebe, der höchsten Vernunft, des 
reinsten götthchsten WoUens" zugleich und im gleichen Grade 
bei dem heiligen Johannes und bei Spinoza zu finden (Erkennen 
und Empfinden, S. 202). Der Gott, welchem Herder huldigt, 
und welchen er in der „Ethik" zu finden glaubt, ist das aller- 
reellste Wesen („Gott", S. 462, 536), „die Urkraft aller Kräfte, die 
Seele aller Seelen (S. 463), die „höchste Intelligenz, innere Voll- 
kommenheit, Güte und Allmacht" (S. 457, 469, 471), die „weiseste 
Notwendigkeil" (S. 472, 479, 480, 481, 536) und die „höhere 
Adrastea*^ (S. 473). Dass von dieser Auffassung nur noch ein 
Schritt zum persönlichen Gott Leibnizens ist, dass die innere 
Notwendigkeit des so interpretierten Spinoza eng an die mora- 
lische Notwendigkeit seines Antipoden grenzt („Gott", S.485), dass 
die höchste Intelligenz in keinem grossen Abstand von der 



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— 68 — 

höchsten Monade sich befindet, ist klar; man sieht auch gleich, 
dass es Herder nur dadurch gelingt, diesen Komproniiss zu finden, 
dass er die abstrakte Substanz mit Leben erfüllt, und eine sitt- 
liche Zweckrnässigkeit in den streng mathematischen F^antheismus 
hineininterpretiert. So wird dieser zu einer Art von Theodicee, 
aber eben dadurch wird seine strenge Wissenschaftlichkeit auf- 
gehoben. Die HerJersche Adrastea soll die zwei grundverschie- 
denen Grundlagen der Religionsphilosophie zu einer Einheit 
machen; es gelingt ihr aber weder den strengen Pantheismus 
Spinozas mit der prästabilierten Harmonie Leibnizens zu ver* 
söhnen, noch sie beide zu verdrängen und sich an ihren Platz 
zu stellen; in einer zweideutigen Lage zwischen beiden schwan- 
kend, bleibt sie ein misslungener Versuch, die mathematisch 
strenge Religion des Verstandes mit dem optimistischen Glauben 
des Gemüts zu versöhnen. Die Frage bleibt bei Herder un- 
gelöst; bei Spinoza ist der Glaube an Gott ein pantheistischer, 
bei Leibniz ist es ein Gefühlsglaube, bei Herder beides zugleich. 
Wie geht nun Kant dabei zu Werke? Weder die Natur- 
wissenschaft noch die Moral können Gott beweisen ; er ist über- 
haupt undemonstrierbar ; und doch sollen wir an ihn glauben^ 
weil es unser praktisches Bedürfnis fordert; die theoretische 
Vernunft kennt dieses Bedürfnis nicht und sie hat auch nichts 
mit der Rehgion zu thun. So scheidet Kant auch hier die Frage 
aus; er giebt der Religionsphilosophie eine gesonderte Stellung ; 
er sondert sie von der Metaphysik ebenso wie von der Naturlehre; 
dadurch aber wird für die Religionslehre eine Theodicee ebenso 
entbehrlich, wie auch eine pantheistische Naturbetrachtung; die 
Versöhnung beider im Herderschen System der weisesten Not- 
wendigkeit wird umgangen. Wir sehen, dass imsere Philosophen 
sich auf diesem Gebiet ähnlich verhalten, wie in der Erkenntnis- 
lehre und Metaphysik : an die Stelle der Herderschen- seichten 
Vermittelung bisheriger widersprechender Ansichten, tritt bei 
Kant die erlösende Sonderung zum Behuf einer höheren Einheit. 
Nur dass hier das Herdersche Gemütselement mehr in Anspruch 
genommen wird, und dass daher dessen Druck fühlbarer ist: 
an seinem Gotte hängt Herder mit seinem ganzen Wesen (und 
nicht wie an seiner Psychophysiologie bloss mit dem forschenden 
Verstände), in Gott findet er die Lösung aller seiner Fragen, in 
(rott gelingt es ihm, mit Spinozas Hülfe, die beiden Tendenzen 



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— 69 — 

seines Wesens, die naturforschende und die sittliche, zu ver- 
einigen, in Gott findet er sein lange angestrebtes Ideal, in ihm 
sieht er den Anfang und das Ende jeder Entwickelung, in ihm 
äussert sich die ganze Persönlichkeit Herders. In keiner Frage 
finden wir bei Herder soviel äussere ITebereinstimraung, aber 
zugleich inneren Widerspruch mit Kant, wie hier. Auf beiden 
Enden seiner Religionsphilosophie nähert er sich dem Vernunft- 
kritiker: wenn Herder behauptet, dass die Gesetze der geregelten 
Notwendigkeit die höchsten und die einfachsten sind („Gott" 561), 
dass der Naturforscher mehr zur Ehre Gottes thut, als die Ver- 
fasser der vielen Theodiceen („Gott" 490); so sagt er ja fast das- 
selbe was Kant: „wir haben kein Bedürfnis geheime Kräfte, 
geistige Naturwesen, anzunehmen, denn wir liaben mit der Er- 
forschung der empirischen Ursachen genug zu thun.''^) 

Noch grösser ist die Uebereinstimmung auf der andern 
Seite: denn wenn Herder sich auf das Gemüt beruft, welches 
ihn zum Glauben zwingt, 2) so gründet sich Kant auf das Po- 
stulat der praktischen Vernunft ; bei beiden sind es praktische 
und nicht theoretische Motive. Aber indem Herder beide Mo- 
tive nicht nur in sich vereint, sondern auch das eine durch 
das andere beeinflussen lässt, gerät er in eine Inkonsequenz, 
die Kant vermeidet: unerwartet wird ihm der Gott des Ge- 
mütes zum Gott des Universums, die Schöpfung des mensch- 
lichen Bedürfnisses zur höchsten ReaUtät; das Ideal der Sitt- 
lichkeit, welches er in sich fühlt, wird ihm zum Allgott der 
Natur. Auf einmal durchbricht so dieser letzte Schritt das an 
sich konsequente System der Herderschen Religionsphilosophie; 
aber dieser Schritt ist kein zufälliger; er macht das Wesen der 
Herderschen Theorie aus; er ist nicht willkürlich, sondern in 
seiner ganzen Persönlichkeit bedingt. „Der wissenschaftliche 
Forscher, sagt Herder in den „Christlichen Schriften** (XX, S. 15G), 
thut wohl, wenn er allenthalben nur Natur, d. i. Kräfte, Ord- 
nung, den Lauf und die Regel der Dinge aufsucht, ohne ihnen 
dort und da willkürlich kleinfügige Absichten unterzu- 
J schieben. . .'^ „Dem Gemüt des Menschen indes genügt das 

; Wort Natur nicht, weil es ihm zu viel und zu wenig sagt. . .** 

# „Verstand war der Bildner der Dinge — spricht das menschliche 



*) Kritik der praktischen Vernunft. 

') Christliche Schriften. Bd. XX, 163 ff., 162 ff. 



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— 70 — 

Gemüt, das Gemüt anerkennet in der Schöpfung. . , Es nennt 
das die Schöpfung durchdringende Wesen — den Urwirker, den 
allmächtigen Schöpfer.' Dass Herder selbst diese doppelte 
Tendenz der menschlichen Seele so gut einsah, zeigt seine 
Vielseitigkeit; dass er aber in sich selbst dieselbe nicht zu 
scheiden vermochte und keine Macht über sie hatte, erklärt 
die unsysteniatische Methode seines Denkens und den unphilo- 
söphischen Charakter seiner Theorie. 

Dadurch dass Herder durch seinen Gott beiden Bedürfnissen 
der menschlichen Seele, dem praktischen und dem theoretischen, 
genügen wollte, geriet er in einen ähnlichen Gedanken- 
cirkel, wie wir ihn in seiner Erkenntnislehre gefunden haben: 
aus der Betrachtung der menschHchen Güte und Vernunft 
schliesst er auf einen Gott (auch Kant kommt zu seinem Gott 
auf subjektivem Wege, auch er gründet sich dabei auf das 
menschliche Ich, auf die praktische Vernunft); nun will aber 
Herder durch diesen subjektiv-gültigen Gott zugleich seinen Er- 
kenntnisdrang befriedigen, und so verwandelt sich dieses Ideal 
in ein reales Wesen, ^) welches die ganze Natur und mit ihr auch 
das menschliche Ich in sich einschliesst ; aus der Natur und dem 
menschlichen Geist steigt Herder zu Gott empor, und von diesem 
wiederum zur Natur und zum Menschen zurück. Hier ist wohl 
die Inkonsequenz Herders grösser als auf allen andern Gebieten ; 
das Gemüt stellt hier die grössten Forderungen auf; ihm genügt 
nicht mehr das ihm angewiesene Gebiet des Glaubens; es will 
auch das Wissen regulieren und beherrschen. Es bedurfte des 
ganzen Ernstes und der Strenge der Kantischen praktischen 
Vernunft, um unparteiisch die Rechte und Grenzen des Gemütes 
zu bestimmen und dem Gedanken das Recht der freien Forschung 
unbeschädigt zu lassen. Derjenige, welcher, wie Kant, diesen 
Ernst des sittlichen Bewusstseins besitzt, welcher keine Härte 
der Meinung fürchtet, wenn sie nur der Wahrheit entspricht; 
welcher sich vollständig beherrscht und seinem Gedanken nicht 
zuerst den Weg im Gemüt zu bahnen braucht; welcher vor 
keiner noch so strengen Consequenz zurückschrickt; welcher 
frei und unbefangen nach der ewigen Wahrheit strebt — der wird 



') Erkennen und Empfinden, S. 202; Gott, S. 440, 442; Metakritik, 
S. 210, 233, 259 ff ; Ideen, Vorrede, S. 7, 9. 



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— 71 — 

die Herdersche Religion zu unklar und zu sehr den Schwächen 
des gebrechlichen Menschen angepasst finden. Wer aber selbst 
diese Schwächen kennt, wer selbst gebrechlich ist, wer sich zu 
sehr vom Gemüt beherrschen lässt und seine Fesseln trägt, den 
wird dafür die sanfte, anschauliche Religion Herders mehr an- 
sprechen, als die harte, rigoristische Vernunftreligion Kants; 
dazu wird auch ihr ästhetischer Charakter beitragen, ein Zug, 
den Pfleiderer mit besonderem Nachdruck hervorhebt. 

Am reinsten und vollkommensten scheint mir die Religion 
Herders dort zu sein, wo sie sich zum BegrifiF der höchsten Hu- 
manität aufläutert ; und hier stimmt sie auch mit dem Kantischen 
Moralglauben am meisten überein; wo sie aber mit der Meta- 
physik und der Naturlehre verbunden wird, da verliert sie ihre 
Lauterkeit, da widerspricht sie auch der Lehre Kants. Wenn aber im 
theoretischen Sinne die Religionsphilosophie die grösste Schulung 
des Gedankens fordert, so braucht sie in praktischer Hinsicht 
vor allem ein fühlendes, warmes Herz, und das finden wir bei 
Herder entschieden eher, als bei Kant ; seine Religion der Liebe, 
der Humanität, des Gemütes, spricht auch das Gemüt warm 
an; mag sie auch dem wissenschaftlich prüfenden Blicke zu 
unklar und zu inkonsequent erscheinen, ihre Wirkung auf den 
Durchschnittsmenschen bleibt dessenungeachtet gross ; es ist das 
Herz, das in ihr zum Herzen spricht, der sich sympathisch auf- 
dringende Glaube, die begeisterte Liebe zu Gott, die manchen 
Gefühlsmenschen mehr überzeugt, als alle theoretischen Be- 
weise. Wird die Religionsphilosophie als Wissenschaft auch 
von Kant mehr beeinflusst als von Herder, so bleibt dem grossen 
Kreis des Publikums die Herdersche Herzensreligion doch zu- 
gänglicher und näher, als der strenge Kantische Vemunftglaube. 

Dem allgemeinen Verhältnis der beiden Philosophen in 
der Religionsphilosophie entsprechend, gestaltet sich auch ihre 
Stellung zur Kirchenlehro. Auch darin schwankt Herder zwischen 
einer freieren historischen Forschung und einer eingenommenen 
Gefühlsinterpretation der Bibel; in der letzteren hat er einen 
Lavater und einen Jacobi, und in der ersteren einen Lessing 
zu Vorläufern. Bald versucht Herder sich auf dem historisch 
forschenden Standpunkt zu erhalten und betrachtet kritisch die 
Ereignisse der heiligen Geschichte ; bald aber schwindet der 
wissenschaftliche Boden unter seien Füssen, das Gefühl zwingt 



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— 12 — 

ihn, die überlieferten Erzählungen als wahre Begebenheiten zu 
betrachten, und von diesem Standpunkt aus schreibt er ihnen 
einen sittlichen Einfluss zu, den sie nur haben könnten, wenn 
sie wirklich historisch wären. Der verhängnisvolle Cirkel- 
schluss wird auch hier nicht vermieden. „Ist die Geschichte Jesu 
von den Fischern von Kapernaum erfunden, so danke ich den 
Fischern, dass sie eine solche Geschichte erdichtet haben. Meinem 
Geist ist sie wahr!' ^) 

Das ist ungefähr der allgemeine Inhalt der Herderschen 
Kirchenlehre; sich selbst unbewusst verwechselt er das eigene 
Fühlen und Wollen mit der beurteilten Frage, und so wird ihm 
das Fragliche zur Thatsache; seine Lage ist eine zweideutige 
Stellung zwischen der historischen Prüfung und dem leicht- 
gläubigen Gemüt. Auch hier, wie überall, löst Kant die Auf- 
gabe, indem er beide Elemente trennt und scheidet: auch hier 
hat das historische, theoretische Forschen mit dem praktischen 
Bedürfnis nichts zu thun ; noch weniger darf das letztere An- 
spruch auf die Beherrschung der ersteren erheben. Nur das 
praktische Bedürfnis darf daher in der Schriftauslegung Gültig- 
keit haben, und innerhalb desselben nicht das Gefühl, denn 
dieses ist zu individuell und daher nicht allgemeingültig, son- 
dern das Bedürfnis der praktischen Vernunft, der moralische 
Glaube ; dieser stellt sich in die Mitte zwischen einer historischen 
Betrachtung und einer auf Gefühl begründeten Exegese der 
Bibel; eben dadurch aber, dass Kant es für möglich hält, die 
gegebenen Thatsachen der christlichen Kirchenlehre seinem 
System anzupassen, dass er die ersteren an seiner praktischen 
Vernunft misst, lässt er dem positiven Christen den einzig 
möglichen Ausweg offen, das positive Christentum mit der 
Vernunftwissenschaft zu versöhnen. Herder übersieht diese 
günstige Möglichkeit, er sucht in seiner völligen Abhängig- 
keit vom Gemüt eine alleinige Herrschaft für das letztere, und 
da er doch nicht mit der Wissenschaft brechen will, si>errt 
er sich selbst jeden Ausweg ab. So geschieht es denn, dass 
alle Lehren des Christentums nicht vom Theologen, sondern 
vom Philosophen gebilligt und anerkannt werden. Was die 
historische Seite der Bibel anbetrifft, so will Kant die Fakten 

') Christliche Schriften, Bd. XX, S. 179. 



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— 73 — 

nicht als geschichtliche Thatsachen, sondern bloss als Symbole 
betrachten ; als wahrhafte Ereignisse haben sie nach ihm mit der 
Religion nichts zu thun. Herder hingegen sucht in diesen Fakten 
geschichtliche Thatsachen und interpretiert doch zugleich in sie 
seinen eigenen Geist hinein; unbewusst verwandelt er sie so nach 
seinen eigenen Begriffen. 

Haym vergleicht Herder mit Lessing; Kuno Fischer Kant 
mit Lessing; dass Herder und Kant trotz ihrer Verschiedenheit 
eine Aehnlichkeit mit dem Schöpfer des ^Nathan" haben, ist 
wahr; allein diese Aehnhchkeit beschränkt sich nur auf den ihnen 
allen gemeinsamen Charakter des Liberalismus und der Duldsam- 
keit, nicht aber den individuellen Kern ihrer Lehren. Sie alle stim- 
men darin überein, dass das Wesen der ReUgion in ihrer sitthchen 
Wirkung und nicht in Kultushandlungen, nicht in äusserem 
Gottesdienst besteht. Gleich aber fängt auch der Unterschied 
an: der Gemütsmensch Herder unterwirft das theoretische 
Bedürfnis völlig dem praktischen, er opfert die wissenschaftliche 
Konsequenz seiner Religionslel>re um ihrer Gefühlsseite willen; 
Lessing, der Mann des gesunden klaren Menschenverstandes, 
will keine Konsequenz opfern, kein einziges Recht des Ver- 
standes aufgeben; er giebt alles Dogmatische der Religion auf, 
und setzt an dessen Stelle eine reine Sittlichkeitslehre; ich 
möchte sagen, Lessing hat gar keine Religionsphilosophie, 
80 sehr tritt sie hinter der Sittlichkeitslehre zurück; Lessings 
Verhältnis zur Religionsphilosophie ist ein durchaus negatives. 
Kant endlich rettet die Rehgionsphilosophie, indem er durch die 
prinzipielle Scheidung des theoretischen und praktischen Be- 
dürfnisses, die Grenzen beider zwar bestimmt, aber sie zugleich 
innerhalb ihrer selbst erweitert; so kommt er dazu, auch die- 
jenigen Grundsätze des Christentums zu billigen, welclie Lessing 
und Herder verwerfen. Es scheint, als ob der Charakter jedes 
Denkers die Entscheidung darin gebe: bei Herder entscheidet 
das Gemüt, bei Lessing der Verstand, bei Kant die praktische 
Vernunft; demgemäss sind auch die praktischen Ziele ver- 
schieden: eine warme Liebe ist das Wesen der Rehgion und 
speziell des Christentums i) bei Herder; das Wohlthun, die Nütz- 
lichkeit, das Vermögen, die Liebe Anderer zu (»rringen, bei 



Christliche Schriften, Bd. XX, S. 162, 168, 184. 



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— 74 — 

Lessing; und die Pflicht, dis Gute zu thun, nur weil es ein 
Qesetz in unserem Inneren fordert, bei Kant. Wenn es darauf 
ankäme, sich für Einen zu entscheiden, so dürfte «ich, wie mir 
scheint, die gebildete Welt in drei verschiedene Gruppen teilen: die 
Verstandesmenschen würden zu ihrem Muster den duldsamsten ^) 
und seinen Blick vor Allem aufs Leben richtenden Schöpfer des 
„Nathan" wählen; die Vernunftmenschen würden sich auf die Seite 
des entschieden höheren und ideelleren Religionsbegriffs des Ver- 
nunftkritikers stellen; die Gemütsmenschen würde endlich die 
liebevolle und innige Herzensreligion des Humanitätsphilosophen 
am meisten ansprechen. 

Bei Herder ebenso, wie bei Kant, wird die Religion von 
der praktischen Seite betrachtet, und das verbindet sie mit der 
Moralphilosophie der beiden Denker. Wir haben schon gesehen, 
wie bei Kant die Religion sogar in der Moral begründet war, 
und wie sie bei Herder einen sittlichen Charakter trug. Schon 
als Schüler Kants lernt von ihm Herder die Moral dem Wissen 
voranzustellen; wie das moralische Gefühl Kant mit Rousseau 
verband, so wurde es ebenfalls das Verbindungsglied zwischen 
Herder und Rousseau. 

Was war die Moral Herders? Güte, Gerechtigkeit, Bil- 
ligkeit nennt er sie; in dem höchsten Punkt ihrer Entwickelung 
erscheint sie ihm als die Blüte der Humanität, als die Bestimmung 
des Menschen („Ideen", S. 164). Aber umsonst suchen wir bei 
ihm nach einer bestimmten, festen Definition dieser Humanität, 
welche als Grundlage der Moral betrachtet werden könnte. Fast 
überall, wo Herder den Begriff der Humanität näher bestimmen 
will, fliesst sie mit der Glückseligkeit zusammen,*) seine Sitt- 
lichkeitslehre ist ganz eudämonistisch. Es ist ja der ausgespro- 
chenste Eudämonismus, wenn er die „echte und einzige Be- 
stimmung des Menschen, glücklich zu sein*', als den wahren 
Zweck der Erdschöpfung betrachtet. Eine Moral aber, welche 
die Bestimmung des Menschen von seiner Glückseligkeit nicht 

') Nur Lessing macht bewuust keinen Unterschied der Konfessionen: 
für Kant ist die protestantische die einzig gute; Herder ist wohl darin 
vielseitiger, aber diese seine Vielseitigkeit ist nicht die eines konsequenten, 
toleranten Denkers, sondern erscheint eben als Ausdruck seines breit 
angelegten, für jeden fremden Einfluss gleich empianglichen Gemütes. 

') Ideen, S. 338, 341, 345, 350; Humanitätsbriefe, S. 113, 115, 



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— 75 — 

unterscheidet, läuft eher auf eine Lebensweisheit hinaus, als 
auf eine Moral im strengen Sinne. Wenn daher Kant dieser 
doppelsinnigen seichten Moral seinen kategorischen Imperativ 
entgegenstellt, so drückt er, und nicht Herder, das Wesen der 
Ethik vollkommen aus. Dieser Vorzug Kants entspringt wiederum 
aus den Grundlagen seines Systems. Der Grundgedanke der 
Ethik ist der PreiheitsbegrifiF, und dieser ist bei Herder ver- 
worrener und unbestimmter als bei Kant. Als Naturforscher 
kennt Herder „in der Natur keine Aussematur, ausser der (em- 
pirischen) Kausalität keine (intelligible) Kausalität", ^) er kennt 
nur nach bestimmten Gesetzen wirkende Kräfte. 2) Als Geniüts- 
raensch aber ist Herder ganz vom Gedanken der Güte, Gerech- 
tigkeit und Liebe erfüllt; beide Seiten seines Charakters ver- 
binden sich, um die strenge Notwendigkeit der Natur mit der 
freien Güte des Geistes im Begriff der höchsten, weisesten Not- 
wendigkeit zusammenzufassen.^) Auf diesem Wege der Ver- 
söhnung und Vermittelung gelangt Herder zu seiner Auffassung 
der Freiheit als innerer Notwendigkeit, als „Selbstbestimmung 
der Kräfte."*) 

Aber der doppelsinnige Ursprung der Herder'schen Freiheit 
verrät sich immer durch ihre schwankenden Bestimmungen; 
bald sieht Herder auch in der Natur eine Freiheit, denn auch 
sie entwickelt sich nach inneren Gesetzen;^) bald aber spricht 
er die Freiheit nur dem Menschen zu: „der Mensch ist der erste 
Freigelassene der Schöpfung, er geht aufrecht, er kann wählen*;®) 
eben hat er die Freiheit auf die ganze Natur ausgedehnt, sie mit 
der Kausalität identifiziert, mit anderen Worten, sie geläugnet, 
jetzt erkennt er sie im grössten Umfang als Wahlfreiheit an. 

Und dann wieder erklärt Herder mit Luther, die wahre 
Freiheit bestehe darin, dass man erkenne, dass man nicht frei 
ist,^ um später das Entgegengesetzte zu behaupten: „der Mensch 
hat eine Wage in seiner Hand, er hat in seiner Macht, nicht 

') Metakritik, S. 229. 

*) Erkennen und Empfinden, S. 201. 

') HI. Spinozagespräch. 

*) Gott, S.635; Ideen, S. 149; Metakritik, S. 228. 

^) Metakritik, S. 228. 

«) Ideen, S. 146 ff. 

^ Erkennen und Empfinden, S. 202. 



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— 76 - 

nur das Gewicht zu stellen, sondern auch selbst Gewicht zu sein 
auf der Wage.**) -Sagen die letzten Worte nicht dasselbe, was 
Kant mit seinem sittUchen autonomen Gesetz sagt, und anderer- 
seits sind nicht seine vorher angeführten Worte von der wahren 
Freiheit, als Gefühl der Unfreiheit, ein klarer Anklang an Spinozas 
strenge Kausalität ? Dass es keine Kompromisse zwischen Freiheit 
imd Kausalität geben kann, dass auf eudämonistischer Grundlage 
kein strenges Moralsystem aufzubauen ist, hat Kant eingesehen, 
und diese Einsicht zwang ihn abseits von der strengen Kausalität 
der Natur und abseits von der seichten Vermittelung der Kau- 
salität mit der menschlichen Freiheit, seine ideale unbedingte 
Freiheit, als intelligibles Ding an sich, aufzustellen, um auf die- 
selbe seine rigoristische Moral zu gründen. Er hat seine Moral 
von dem strengen Kausalitätsbegriff unabhängig gemacht, und 
doch hielt er diese strenge Kausalität, wenn sie nur konsequent 
durchgeführt wurde, für besser, als den seichten „synkretistischen* 
Vermittelungsstandpunkt ; der erste widersprach wenigstens nicht 
seinen theoretischen Ansichten, während der letztere weder dem 
praktischen, noch dem theoretischen Bedürfnis Genüge leistete. 
Wenn wir die Frage historisch betrachten, so finden wir im 
MiHeu unserer Philosophen einen Freiheitsbegriff auf dogma- 
tischer Grundlage und ihm gegenüber eine, auf empirische That- 
sachen gebaute, Kausalitätslehre, wie sie sich auch in Spinozas 
System ausprägt. Wenn Herder sich durch seine morahsche 
Tendenz von der letzteren abgestossen fühlte, so fühlte er 
sich andererseits durch seine empirische Tendenz zu ihr hin- 
gezogen; daher seine Vermittlung beider in seiner Freiheits- 
auffassung als innerer Selbstbestimmung. Und wie immer, ver- 
wischt auch hier Herder die Grenzen der entgegengesetzten 
Ansichten; Spinoza eifert nach seiner Meinung nicht gegen 
die wahre moralische Freiheit, er stellt vielmehr die mensch- 
liche Freiheit mit der göttlichen auf die gleiche Linie, son- 
dern nur gegen die blinde Willkür (,,Gott«, S. 500). Und 
andererseits befriedigt Herder nicht der hergebrachte dogma- 
tische Freiheitsbegriff, imd so verwandelt er ihn in eine nach 
Gesetzen wirkende Kraft der Natur, in eine „Energie der 
Seele". 2) Dieselbe Freiheitsauffassung findet sich, wie schon 

') Ideen, S. 146. 

') Metakritik, S. 228; Erkennen und Empfinden, S. 199. 



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— n — 

Pfleiderer bemerkt, bei Hegel und Schelling; wenn aber 
I^eiderer weiter bemerkt, dass diese Freiheitsaiiffassung diejenige 
sei, über welche eine gesunde Philosophie nie hinausgehen 
sollte, so glaube ich, dass diese Auffassung der Freiheit im 
wissenschaftlichen Sinne gleichbedeutend mit deren absoluten, 
wenn auch versteckten Verneinung ist. Giebt es überhaupt eine 
Freiheit, so kann sie nie in den Grenzen der kausal bedingten 
Natur gesucht werden ;. nur als eine Idee, als ein völlig subjek- 
tives Aggregat des menschlichen Geistes, kann ich mir sie vor- 
stellen; daher scheint mir auch Kuno Fischer Recht zu haben, 
wenn er sagt, dass es ausser der Kantischen keine andere Frei- 
heitslehre geben kann. Kant kennt auch nur zwei wissenschaftlich 
begründete Standpunkte : den seinigen der ideal-subjektiven Frei- 
heit, und den Spinozas der strengen Kausalität. War der letzte für 
Herder zu schroff und rücksichtslos, so konnte er auch den ersteren 
nicht annehmen, weil er seine kritische Grundlage nicht begriff. 
Die Lösung dieses Problems gelingt Kant nur darum, weil 
er, den Widerspruch beider bisherigen Ansichten erkennend, ohne 
sie zu vermitteln, einer jeden ihr bedingtes Recht zu bewahren 
sucht; wiederum ein entscheidender Schritt der Trennung der 
Herder'schen Vermittlung gegenüber. Steht nun die Kantische 
absolute Freiheit in ihrer idealen Form höher als die bedingte 
Naturfreiheit Herders, so fragt es sich, ob sie nicht in ihrem 
Missbrauch mehr Gefahr bietet als die letztere ; wenn gegen Kant 
hervorgehoben wird, sein autonomes Gesetz könne in ebenso 
autonome Gesetzlosigkeit, seine absolute Freiheit in absolute 
Willkür umschlagen, so könnte man andererseits hervorheben, 
dass Herders Naturfreiheit sich nicht nur in den höheren und 
edleren, sondern auch in den niedrigsten und rohesten Trieben 
offenbaren kann. Wenn es sich fragen würde, welches von beiden 
Uebeln das kleinere sei, so würde ich mit den Worten Schillert 
antworten: „Die Natur muss uns in Rücksicht auf jeden be- 
stimmten Zustand unserer Menschheit notwendig demütigen, 
aber sie verschafft uns doch den süssesten Genuss unserer Mensch- 
heit als Idee^ denn nur wir sind der Freiheit teilhaftig, die allein 
den Fortschritt zum Ideal, zum Göttlichen ermöglicht; die Natur 
kann diesen Vorzug der Freiheit nur dann mit uns teilen, wenn 
sie unseren Weg, den Weg der Willkür geht."^ ^) 

^) „Naivo und sentimentalisehe Dichtung*. 



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— 78 - 

Dass auf diesen zwei verschiedenen Grundlagen sich auch 
ganz verschiedene Systeme der Moral entwickelt haben, ist be- 
greiflich. Weil Herder keine absolute Freiheit kennt, so kennt 
er auch keine absolute, sondern nur eine eudämonistische Ethik; 
bei ihrer schwankenden, unsicheren Grundlage ist auch seine 
ganze Moral seicht und müde ; an die Bedingungen des Lebens, 
an die Gewohnheiten, Triebe und Schwächen der menschlichen 
Natur gebunden, ist sie nachsichtig und vergiebt leicht; sie kann 
sich nicht zu den hohen Forderungen und der rücksichtslosen 
Strenge des Kantischen Imperativs erheben, denn dieser ist 
nur bei Annahme einer unbedingten Freiheit mÖgUch. Selbst 
aus dem Leben und seinen Thatsachen hervorgegangen, nimmt 
sie das Leben so wie es ist; sie begnügt sich mit deijenigen 
relativen Vollkommenheit, die dem Menschen zugänglich ist. 
Dem Prinzip der Herder'schen Erkenntnislehre : „Wir kennen 
keine andere, als die menschliche Vernunft, und nur sie können 
wir richten," entspricht auch das Prinzip seiner Moral: wir kennen 
nur eine menschliche Moral imd nur von ihr sollen wir reden *). 
Es ist wieder derselbe Trennungspunkt von Kant, welcher, aus den 
Grenzen des Lebens heraustretend, das Unbedingte durch die 
Kraft seiner Abstraktion aufsucht, um aus diesem das Bedingte 
besser zu beurteilen. Auch darin ist der Standpunkt Härders ein 
naiv-realistischer, während derjenige Kants ein höherer, idealisti- 
scher ist. Das Ideal der Sittlichkeit bei dem ersteren ist im Leben 
selbst, bei dem letzteren ausser dem Leben, es ist unerreichbar 
und sinnlich unfassbar, aber eben dadurch bewährt es seine 
Eigenschaft als ewiges, unvergängUches Ideal; hier tritt Kants 
Standpunkt klarer, als auf jedem anderen Gebiete als ewiges 
Streben hervor, während Herders menschliche, mithin erreichbar« 
und bestimmbare Vollkommenheit seinem Streben Grenzen auf- 
stellt, und einen Ruhepunkt im steten Werden des moralischen 
-GhÄrakters ausfindet. Durch dieses hohe Ideal ist auch die rigo- 
ristische Moral Kants bedingt; der Name des Sittlichen ist ihm 
zu heilig, als dass er ihn bei jeder nur nicht verachtenswerten 
Handlung gebrauche; die menschlichen Thaten des Alltags 
sind ihm zu kleinlich und zu bedingt, als dass er auch sie vom 

') Metakritik, S. 18, 82; Ideen, S. 145; Humanitätsbriefe, S. 876; Er- 
kennen und Empfinden, S. 199. 



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— 79 — 

Standpunkt der Sittlichkeit betrachten könnte ; sie können mehr 
oder weniger legal sein, aber um etwas sittlich zu nennen, muss 
man eine Handlung haben, die diesem hohen Massstab entspräche; 
und wenn Herder, den kategorischen Imperativ parodierend, ihn 
auf die Esspflicht anwendet,^) so übersieht er dabei gänzlich, 
dass auch Kant einen Massstab für das gewöhnUche Leben hatte, 
den der Legalität, dass er aber zugleich die Notwendigkeit eines 
höheren Kriteriums einsah und dafür seinen Imperativ auf- 
stellte. Hätte Herder die Kantische für höhere, sittlich geschulte 
Menschen gültige Moral durch seine mildere, dem Durchschnitts- 
menschen angepasste, Sittlichkeitslehre ergänzt, wie erfolgreich 
hätte er seine Thätigkeit an der Entwickelung des Kantischen 
Gedankens der Legalität ausüben können. So aber wirkte er in 
dieser Kant ergänzenden Richtung, ohne dieses sein Verhältnis 
zu verstehen, ja sogar gegen denjenigen polemisierend, den er 
unbewusst ergänzte. Sehen wir uns Herders Moral in diesen 
Grenzen seiner wahren Aufgabe an, wie schön hat er sie erfüllt ! 
Wie fein verstand er die Strenge der Notwendigkeit durch die Bei- 
mischung des Schönen zu mildern und die Fesseln der rücksichts- 
losen Natur durch diese ästhetische Färbung anziehend zu machen ! -) 
Wie rührend preist Theano die „süsse Anmut der Notwendigkeit,*' 
in welcher sie, die „durch Ordnungen der Natur und Einrich- 
tungen der Menschen gebundene Frau," ihren Trost sucht. Wie 
schön ist wiederum der Zug der Herder^schen Moral, der 
ihr Leben und Wirken giebt, die thätige, warme mitfühlende 
Liebe,*) ein Zug, der in der Kantischen Ethik fast ganz vor der 
Pfficht zurücktritt. Dass die höchste Tugend, dass die völlig 
effÖUte Pflicht, als Ideal Kants, auch die Liebe mit einschliesst, 
^ftbersah wohl Herder in seiner Polemik; aber wer wird es ihm 
Vfelrafgen, dass er auch auf dem Wege zu diesem Ideal die Liebe 
irfid ihre Wirkungen offenbart wissen wollte, und sie für einen 
stärkeren Impuls als alle Pflichtgefühle hielt ; ist doch die Liebe 
te der That das am meisten bestimmende und ausschlaggebende 
-Mbtfv für den Menschen, so lange er fehlerhaft und schwach, so 
^fssi^ er Mensch ist. 

•) Christliche Schriften, Bd. XX., S. 182. 

') Gott, S. 684; Ideen, S. 147; 73. Humanitätsbriei, Bd. XVII, S. 376. 
») Christliclie Schriften, S. 91, 166, 182, 184; Erkennen und Em- 
pfinden, S. 200. 



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— 80 — 

Am besten drückt dieses Verhältnis der beiden Moralprin- 
zipien, der Liebe und des Pflichtgefühls, das in den „Erinnerungen*^ 
abgedruckte Gedicht : „Der philosophische Egoist** aus. Die zweite 
Hälfte desselben lautet: 

„ . . . Du lästert, die grosse Natur, die bald Kind und bald Mutter, 
Jetzt empfängt, jetzt giebt, nur durch Bedürfnis besteh'? 
Selbstgenügsam willst du dem schönen Ring dich entziehn, 
Der Geschöpf an Geschöpf reiht im vertraulichen Bund, 
Willst du. Armer, stehen allein, und allein durch dich selber, 
Wenn durch der Kiäfte Tausch selbst das Unendliche steht?'*') 

Dabei scheint mir Herder insofern Recht zu haben, als er 
zum Grunde seiner Moral nicht den einzelnen Menschen mit 
seinem isolierten Gewissen stellt, sondern nur den Menschen,^ 
insoweit derselbe ein Glied einer socialen Einheit^ der Gesell- 
schaft, ausmacht; auch scheint mir Kant sich mit seinem auto- 
nomen Gesetz zu sehr auf das menschliche Selbstbewusstsein 
und zu wenig auf das sociale Bewusstsein zu gründen; ma» 
könnte vielleicht diese zwei Standpunkte unserer Philosophen 
auf zwei Grundkräfte der Natur zurückführen, von denen die 
eine ihre Thätigkeit nach aussen ausbreitet, während die andere 
alles auf sich zu beziehen strebt (centrifugal und centripetal) ; 
während Kant in allem sich nach seinem Ich richtet, nach seinen 
subjektiven Erkenntnisformen und seinem autonomen Moralgesetz, 
sucht Herder seine Stellung in der ihn umgebenden Welt ; seine 
Erkenntnis kommt von aussen und seine Moral strebt hinaus in 
das Universum; dementsprechend ist auch das Ziel der Moral 
bei Kant das Gute um des Guten willen, während es bei Herder 
das Wohlthun, die Erreichung bestimmter Zwecke ist. Daher 
denn innerhalb des Kantischen Standpunkts die Gefahr eines 
ethischen Formalismus, und innerhalb der Herder'schen die 
Gefahr ,der Verwechslung des Moralischen mit dem Nützlichen. 

Wenn aber Herder dem Kantischen Standpunkt einen 
philosophischen Egoismus vorwirft,'^) so scheint er mir wieder 
im Unrecht zu sein; auch bei Kant fehlt es nicht an einem 
Band zwischen den einzelnen mit Selbstbewusstsein versehenen 
Subjekten; es ist die streng bestimmte, zum Gesetz erhobene 

') Die „lOrinnerungen** schreiben das Gedicht Herder zu, während 
OS sonst Schiller zugeschrieben wird (IL, S. 245). 

') Auch Metakritik, S. 289: Christliche Schriften, Bd. XX, S. 187. 



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— 81 — 

Form dieses Bewusstseins, sei es nun im theoretisch-erkennenden 
(als subjektive Erkenntnisformen) , oder praktisch-moralischen 
Sinne {als autonomes sittliches Gesetz). Dass jeder Einzelne das 
Sittengesetz in sich trägt, macht ihn zum sittlichen Subjekt ; 
dass aber dieses Gesetz bei allen dasselbe ist, macht die einzelnen 
Wesen zu einer moralischen Einheit ^ der Menschheit. Die Schuld 
der allzu grossen Isolierung des Menschen, welche Kant von 
Herder zugeschrieben wird, scheint mir viel eher an Herder 
selbst zu haften; ist die Kantische Moral subjektiv, so ist die 
seinige individuell. Beide stehen vor dem alten Problem: wie 
verhält sich der einzelne zur Allheit? Während Herder sie un- 
mittelbar verbinden will und, seinem System des „Einen in 
Vielem** gemäss, dogmatisch behauptet, beide seien analoger 
Natur,*) sucht Kant das Problem dadurch zu lösen, dass er im 
Menschen zugleich ein Individuum, einen Einzelnen, und ein 
Subjekt, einen Teil der Allheit oder der Menschheit sieht. Nur 
dadurch gelingt es ihm, im Menschen sein individuelles Bewusst- 
sein anzuerkennen, zugleich aber ein absolutes Gesetz, ein all- 
gemeines Ideal aufzustellen. 

Herders Formel „anerkenne dich selbst und drücke die in dir 
liegende Form aus," ^) macht das absolute Gute unmöglich; nur bei 
Kants ausser dem Individuum liegender Bestimmung des Men- 
schen, nur bei seiner Menschheitsidee, die im einzelnen nie 
erreicht werden kann, und dennoch im menschlichen Subjekt 
gegeben ist, im Subjekt, als vollkommenem Repräsentanten der 
Gattung, nur bei diesem, zwar schwierigen Standpunkt, der im 
Menschen zugleich Individuum und Gattungssubjekt, zugleich 
Erscheinung und Ding an sich sieht, nur bei diesem ist ein 
absolut Gutes trotz der fehlerhaften Natur jedes gegebenen 
Menschen möglich. Wenn Kant nur mit dem grössten Aufwand 
seiner Abstraktion diesen Standpunkt durchführt, so verfällt 
Herder in den Fehler, der für seine Ethik verhängnisvoll wird: 
ist nämlich die Moral ihrer Natur nach individualistisch, so ist 
Jeder in seiner Art gut, das Böse existiert nicht, wie Herder 
selbst in „Gott*' (S. 544, 570) zugiebt ; zugleich aber, können wir 
ihn ergänzen, giebt es auch kein Gutes, denn dieses kann nur 



') Ideen, S. 345. 

') Metakritik, S. 154. 



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— 82 - 

als Gegensatz des Bösen existieren. Zum zweiten Mal bricht 
so die Herder'sche Moral zusammen: giebt es keine absolute 
Freiheit, so giebt es überhaupt keine Freiheit; giebt es ausser 
dem Individuum kein absolut Gutes, so giebt es überhaupt kein 
Gutes. 

Hat die subjektive Moral Kants vor der individualistischen 
Herders den Vorzug der wissenschaftlichen Konsequenz, so hat 
die letztere in der praktischen Anwendung den Vorzug, dass 
sie die jeweiligen, individuellen, sinnlichen Formen, den relativen 
Wert jeder Handlung besser berücksichtigt. Diese Betrachtung 
des relativen Wertes bei Herder und der Kantische Hinweis auf 
den absoluten Wert der Handlungen ergänzen einander so, wie 
das Leben und die Wissenschaft, oder wie die absolute Lehre 
und ihre empirische Anwendung. 

4. Geschichtsphilosophie. 

Die verschiedene Lösung, welche beide Denker dem Pro- 
blem vom Verhältnis des Individuums und der Gatttmg geben, 
bedingt auch die Verschiedenheit ihrer geschichtsphilosophi- 
sehen Ansichten; sehen wir uns daher diese verschiedenen 
Lösungen näher an. Herders Sinn für das Wirkliche, Lebendige 
zieht seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Wesen mit seinem 
individuellen Charakter; zugleich aber treibt ihn seine Begei- 
sterung für das Ideal, in diesem Einzelnen dem Allgemeinen, 
dem Idealen nachzuspüren — aus dem Individuellen wird auf 
das Allgemeine geschlossen, und wiederum dient dieses auf 
zweitem Wege erlangte Allgemeine zum Massstab des Indivi- 
duellen ; der personifizierte Pantheismus Herders kehrt in sich 
selbst zurück. ^) Und dieses ewige Zurückkehren in sich selbst, 
dieser unendliche Kreislauf des Denkens ist vielleicht das ewige 
Schicksal derjenigen Methode, welche, zum Behuf leichterer 
Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besondern, sie auf einer 
gemeinsamen Grundlage aufbaut — sei es auf der der einzelnen 
Erfahrung, oder auf der des verallgemeinernden Denkens. 
Beide Entwicklungen dieser scheinbar einheitlichen Methode, 
nur ins Extreme getrieben, giengen der Kantischen Reform 
voraus ; er schied das Allgemeine vom Besondern und führte sie 



») Metakritik, S. 24, 202, 207 : Ideen, S. 344. 



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— 83 — 

auf einen prinzipiellen Unterschied der menschlichen Vermögen 
zurück: die Rrkenntnis a priori nahm das Allgemeine für sich 
in Anspruch, die Erkenntnis a posteriori musste sich mit dem 
Einzelnen, dem Individuellen^ begnügen ; dadurch aber gewann 
auch das Kantische Apriori eine lebendigere Gtestalt, der ab- 
strakte Unterschied der Erscheinung und des Dinges an sich 
wurde zum konkreteren des Individuums und des Subjekts, und 
dieser noch immer metaphysische Unterschied wurde wiederum 
zum rein naturwissenschaftlichen von Individuum und Gattung. 
Auch diesmal löst Kant das Problem durch einen entscheidenden 
Schritt, während Herder seine Schwierigkeit in einer naiv-reali- 
stischen Weise wegzudisputieren sucht. 

Um beide Problemstellungen besser beurteilen zu können, 
sehen wir sie ims näher an, so wie sie sich in den geschichts- 
philosophischen Ansichten Kants und Herders zu einem System 
entwickelt haben. 

Für Herder ist der Mensch nur Individuum, das einzelne 
Wesen mit seinem jeweiligen Charakter nur ein Tier unter anderen 
Tieren; demgemäss ist der Mensch ein Stück Natur, ein ein- 
zelnes Glied des Universums. ^) Kant hingegen scheidet, wie 
wir gesehen haben, den menschlichen Geist von der Natur: 
durch seinen sinnlichen Charakter gehört der Mensch als Indivi- 
duum noch zur Natur, aber durch seinen Geist, als Subjekt, ist er ein 
Vemunftswesen. Bei Herder ist daher die Geschichte der Mensch- 
heit ein Stück der Naturgeschichte, ^) bei Kant ist sie eine Prei- 
heitsgeschichte. Scheinbar hat darin Herder vor Kant den Vor- 
zug der konkreteren Gestalt und der grösseren Passbarkeit seiner 
Ansichten ; noch mehr scheint Herder diesen Vorzug zu besitzen, 
indem er, die Menschheitsgeschichte natürlich erklärend, auch ein 
natürliches Band derselben nachweist; sein menschliches Indi- 
viduum siösst im Leben auf andere Individuen — die sociale 
Einheit steht vor uns; ihre Gesetze sind nach Analogie der 
Natur nachweisbar.») Kants Preiheitsgeschichte entbehrt dieses 
Vorzugs, ihre Gesetze sind nicht den Naturgesetzen analog, und 
können nicht aus den Erfahrung« Wissenschaften geschöpft werden ; 

') Ideen, S. 31, 68; Humanitätsbriefe, Bd. XXVII, S. IIB, IIB. 
') Ideen, S. 37, 62, 347; Humanitätsbriefe, Bd. XXVII, S. Ü5, 122; 
Bd. XXVIII, S. H6, 246. 

') Ideen, S. 159, 346; Humanitätsbriefe, S. 116. 



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— 84 — 

das einzige Band seiner Geschichte ist nicht das äussere Zu- 
sammentreffen vereinzelter Individuen, sondern die innere Ge- 
meinschaft der menschlichen Subjekte; die Geschichte bildet bei 
ihm eine moralische Einheit und erweitert sich zum Begriff 
der Menschheit, während Herder bei der Auffassung der mensch- 
lichen Gattung als socialer Gruppe einzelner Individuen stehen 
bleibt. 

Was in der auf natürlicher Grundlage gebauten Geschichts- 
Philosophie Herders voltetättdig feHt^ ist eW ethischer Ereiheits- 
begriff; die Gesetze, welche sie feststellen kann, sind daher tierisch 
und nicht rein ethisch. Kant sah ein, dass diese rein ethischen 
oder — sagen wir besser — menschlichen Gesetze nur in einer 
Freiheitsgeschichte möglich sind, und daher ist seine Geschichts- 
philosophie auf den Begriff der Freiheit gebaut; er sah aber 
zugleich, dass die Gesetze der Freiheit, trotzdem sie för unser 
praktisches Bedürfnis unentbehrlich sind, auf dem Erkenntnis- 
wege nicht bestimmt werden können, eben weil sie Freiheüs- 
gesetze sind. Daher ist auch das Prinzip seiner Geschichts- 
philosophie kein erkennendes oder naturwissenschaftliches, son- 
dern ein bloss regulatives oder bestimmendes. In seiner Ge- 
schichtsphilosophie will er nicht den wirklichen ethischen Fort- 
schritt der Menschheit nachweisen und feststellen, sondern den- 
selben nur als „Richtschnur für den betrachtenden Denker*^ 
hinstellen. Mir scheint diese seine Ansicht auf das bedingte 
Recht der Geschichtsphilosophie eine entscheidende zu sein. 
Dass dieselbe im Vergleich mit Herder das Recht behält, wie 
wir es bald sehen werden, ist zwar noch kein gültiger Beweis 
ihrer Richtigkeit; man könnte ja einwenden, dass es einem 
andern, konsequenteren Denker, Darwin, gelungen ist, den 
Fortschritt der Entwicklung im Menschen wie auch im Natur- 
leben nachzuweisen, ohne den Menschen aus dem Reiche der 
Natur ganz auszuscheiden. Man muss aber dabei nicht ver- 
gessen, dass während es Darwin nur um die technische, nur 
um die positive Vollkommenheit zu thun ist, Herder und Kant 
die sittliche Volkommenheit der Menschheit behandeln, eine 
Vollkommenheit, die ims selbst als Verdienst angerechnet werden 
kann, und auf die wir mit gerechter Genugthuung eines Erwerbers 



») Huinanitätsbriefe, Bd. XVIll, S. 118, 122. 



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.-So- 
und nicht mit sinnlosem Stolz eines reichen Erben zurückschauen 
dürfen., Der Unterschied zwischen Herder und Darwin ist da- 
rum nicht mir ein quantitativer der grösseren oder kleineren 
Konsequenz des Denkens, sondern auch ein qualitativer der 
ganzen Problemstellung. Darwin sucht und findet einen bio- 
logischen Fortschritt; Herder hingegen möchte einen ethischen 
Fortschritt nachweisen, und es gelingt ihm nicht. Zwar sucht 
auch Kant einen ethischen Fortschritt nachzuweisen, aber dieser 
erscheint ihm nicht als eine auf natürlichem Wege bewiesene 
Erfahnmgsthatsache, sondern nur als ein a priori in unserem 
praktischen Bedürfnis (Glaube an das höchste Gut und Hoffnung 
auf seine Erfüllung) gegebenes teleologisches Prinzip, welches 
nur regulativ und nicht constituitiv wirken soll. „Damit. soll 
die Bearbeitung der eigentlich bloss empiriHch abgefassten Hi- 
storie^, steht es im Kantischen geschichtsphilosophischen Auf- 
satz, „gar nicht verdrängt werden, das ganze soll vielmehr ein 
Gedanke sein von dem, was ein philosophischer Kopf zur Recht- 
fertigung der Natur versuchen könnte." Der Unterschied zwischen 
Herder und Kant besteht darin, dass der erstere einen wirkhch 
otjektiven Fortschritt der Moral nachweisen will, während der 
letztere diesen Fortschritt nur als ein subjektiv gültiges Prinzip 
hinstellt. 

Sehen wir uns die speziell geschichtsphilophischen An- 
sichten Herders an, wie sie durch diesen seinen personifizierten 
Pantheismus bedingt sind: zunächst das Endziel seiner Ge- 
schichte, die Bestimmung des Menschen oder die Humanität. 
Wir haben schon bei der Betrachtung seiner Moral gesehen, dass 
seine auf natürlichem Wege abgeleitete Humanität kein abso- 
luter, kein rein ethischer Begriff sein könne, und dass sie bei 
ihrer individualistischen Grundlage eines allgemeinen Kriteriums 
entbehre. Dass bei Herders eudämoii istischer Moralauffassung 
die Bestimmung der Menschheit mit ihrer Gliick^eligkeü zu- 
«ammenfloss, soll, scheint mir, el)en so wenig Wunder nehmen, als 
dass bei seinem Individualismus die individfielle V^oUkommenheit 
zum Kriterium und die individuelle Glückseligkeit zum Zweck 
der Geschichte wurde, ^j Und nun der dritte Fehler seiner Ge- 

Ideen, S. aS8, 84!, 342, 350. 

*) Ideen, S. 333, 341, 345; Humanitätsbriefe, Bd. XVII, S. 113, 115. 
Auoh eine Philosophie, S. 5()o, 509. 

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— 86 — 

Schichtsphilosophie, ein Fehler, den Herder, wie mir scheint, 
mit jeder auf natürlichem Wege construierten Geschichtsphilo- 
söphie teilen muss : ist nämlich die Geschichte in den Gesetzen 
der Natur streng bedingt, so hat auch jede ihrer Entwicklungs- 
phasen ihre Berechtigimg in sich selbst, eine jede ist in ihrer 
Art vollkommen, denn die Natur, abgesehen von den mensch- 
lichen in sie hineininterpretierten Begriffen, kennt kein besser und 
kein schlechter y sie kennt keinen Fortschritt, sondern nur einen 
Fortgang, ein Wachstum. Der wahre Fortschritt besteht darin, 
schreibt Herder im Widerspruch gegen Iselins Fortschrittsge- 
schicTite, dass das eine Zeitalter auf einem andern fusst, und 
ein anderes vorbereitet, dabei aber einen Zweck in sich selbst 
hat. Wie der Baum in allen seinen Wachstumsperioden, so ist 
auch der Mensch in allen seinen Lebensstufen, so ist auch die 
Menschheit in allen ihren Zeitaltern Selbstzweck. ^) 

So scheitert die natürliche Geschichtsphiloöophie Herders 
an drei Klippen: ihr fehlt ein Kriterium (das Individuum kann 
kein Kriterium der allgemeinen Geschichte abgeben); ihr fehlt 
ein festes, absolutes Ziel (die Glückseligkeit hat in einer rein 
sittlichen Wissenschaft keinen Platz); ihr fehlt endlich ein 
Fortschritt, denn ein Fortschritt setzt schon ein Absolutes, als 
sein Ziel, voraus. 

Sehen wir uns jetzt die Geschichtsphilosophie bei Kant 
an. Mit seiner unbedingten Freiheit, mit seiner strengen Moral 
ist auch seiner Geschichtsphilosophie ein Ziel gesteckt : es ist die 
VerwirkUchung des Ideals, die Erhebung des Individuums zum 
Subjekt, der Natur zur Freiheit. Diese letztere ist nur in der 
ganzen menschlichen Gattung möglich, die allein die Vernunft 
repräsentiert ; das Kriterium der Kantischen Geschichtsphilo- 
sophie ist die Menschheit und das Mass, in welchem sie ihre 
Bestimmung erfüllt, und nicht das Individuum mit seiner Glück- 
seligkeit. Bleiben wir einen Augenblick bei dem eudämoni- 
stischen Element der Geschichtsphilosophie stehen. Bei Herder 
ist dasselbe dun.^h seine Humanitätstendenz bedingt, die ihn 
dazu zwingt, das Einzelne nicht nur als Mittel, sondern als 
Selbstzweck zu betrachten ; in dieser Fordenmg stimmt er ja 



') Auch eino Philosophie, S. 489, 511, 554; auch Ideen, S. 342; 
Humanitätsbriefe, S. 113. 



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— 87 — 

auch mit Kant überein, nur da^s sie für Kant ein blosses Po- 
stulat der praktischen Vernunft* für Herder ein Naturgesetz ist. 
Ni(!ht nur soll der Mensch seine Mitmenschen human behandeln, 
sondern er wird auch von der Natur hurnan behandelt; seine 
Glückseligkeit ist der Zweck der Natur, der gütigen Vorsehung 
(^Ideen" S.'341); man kann nicht läugnen, dass diese naive Ueber- 
tragüng der menschlichen Humanität auf die ganze Natur und 
die darauf gebaute Gluckseligkeitstheorie ziemlich unphilosophisch 
sind; zugleich aber darf man nicht vergessen, dass auch Kants 
Geschichtsphilosophie die Glückseligkeit nicht ausschliesst : das 
Gefühl, dass wir unsere Bestimmung erfüllen, indem wir für das 
Wohl der später kommenden Generationen arbeiten, ist für einen 
sittlich geschulten Menschen eine vollständige Genugthuung für 
seine physischen Mühen. „Wenn nicht * das Schattenbild der 
Glückseligkeit, das sich ein jeder selbst macht**, sagt Kant in 
der Recension der „Ideen", „sondern die dadurch ins Spiel gesetzte 
Thätigkeit und Kultur, deren grösstmöglicher Grad nur ein 
Werk der Menschen selbst sein kann, der eigenthche Zweck 
der Vorsehung wäre, so würde jeder einzelne Mensch das Mass 
semer Glückseligkeit in sich haben, ohne im Genuss derselben 
irgend einem der nachfolgenden Glieder nachzustehen ; was aber 
den Wert nicht ihres Zustandes, sondern ihrer Existenz selber 
betrifft, so würde sie nur hier allein eine weise Absicht im 
ganzen offenbaren **. 

Besteht der Fortschritt der Kantischen Geschichtsphilosophie 
in der ewigen Verwandlung der Naturgesetze in Freiheitsgesetze, 
so erwächst daraus eine Schwierigkeit, die die Herder'sche 
natürliche Geschichte vermeidet: wie kann man für eine Frei- 
heitsgeschichte Gesetze aufstellen, wo kann man ein Band zwischen 
der bedingten Natur und der unbedingten Freiheit tinden ? Herder 
ist viel besser dran ; ihm sind die Gesetze der Geschichte in der 
Natur selbst gegeben („Ideen", IV. Buch), das Band der Geschichte 
findet er in der Tradition („Ideen" S. 347); es scheint, als ob 
Herder hier die Oberhand gewinnen sollte; mit seiner Auffassung 
der Menschheitsgeschichte als Freiheitsgeschichte, scheint Kant 
einen Abstand zwischen seinem idealistischen und jedem realisti- 
schen System zu legen, sei es nun dem naiven Systeme Herders 
oder dem wissenschaftlichen Darwins. Betrachten wir aber beide 
Lehren genauer, und dieser Abstand verschwindet; nicht der Kan- 



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— 88 — 

tische, sondern eher schon der Herder'sche Standpunkt wider- 
spricht dem modernen biologischen: indem Kant als Repräsen- 
tanten seiner intelligiblen Freiheitsidee die Gattung hinstellt, 
trifft er in diesem für ihn wie auch für den Naturfoi-scher aus- 
schlaggebenden Begriff mit dem letztern zusammen ; noch näher 
kommt er dem englischen Forscher, indem er die Kultur als das 
einzige Mittel des Fortschritts betrachtet, und wiedenun indem 
er das Fördernde in der Kultur im Antagonismus der Kräfte 
sieht. Herder hingegen, welcher in seinen Einzelausführungen 
die Ergebnisse der modernen Biologie vorauszuahnen scheint, 
entfernt sich wiederum von ihr immer mehr und mehr; zwar 
erinnert seine genetische Kraft an die Erblichkeit (Ideen S. 273, 
278, 303, 308, 329), seine Tradition an die Gesetze der Anpassung 
(S. 304, 306, 319), seine klimatische Bedingtheit an die natur- 
gemässe Entwicklung (S. 30, 66, 63, 253, 261, 296 ff.), sein 
Instinkt an die sich im Kampf ums Dasein entwickelnden Eigen- 
schaften (S. 60, 142), — aber nirgends ringt sich Herder zum reinen 
unabhängigen Gedanken durch; seine Tradition trägt den Cha- 
rakter von göttlichem Unterricht und Erziehung des Menschen- 
geschlechts (S. 346, 347, 349, 262), seine genetischen Kräfte sind 
prästabilierte Keime (S. 173, 174, 276, 281), seine klimatische 
Bedingtheit eine Art Naturabsicht (S. 268, 293, 298, 320, 338), 
sein Instinkt eine Güte der weisen Schöpferin Natur ; *) an dem 
sich ausbildenden Werdegedanken bleibt immer etwas vom her- 
gebrachten metaphysischen Substanzbegriff haften. 

Was uns endlich auf diesem Gebiete und gerade bei der Her- 
anziehung Darwins besonders klar wird, ist ein neuer Fehler des 
Herderschen Systems: als einen, wenn auch verworrenen, Mo- 
nismus haben wir früher seinen Standpunkt bezeichnet; nicht 
einmal einen solchen finden wir in seiner Geschichtsphilosophie ; 
denn ist seine Gegenüberstellung von Kräften und Organen^) 
nicht wiederum ein Dualismus der Natur selbst, ein neuer Dualis- 
mus, der den alten von Geist und Materie beseitigen soll ? Und hat 
denn Kant nicht vollkommen recht, wenn er von diesem Stand- 
punkt aus die Herder'sche Hypothese der unsichtbaren Kräfte einen 
Kunstgriff nennt, welcher das, was wir nicht verstehen, durch 

') S. 128, 130, 140, 841, 356. 
*) IdeeD, S. 172. 



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— 89 — 

^twas anderes erklären soll, was wir noch weniger verstehen? 
In welche Irrtümer und Inkonsequenzen Herder durch diesen 
unbewussten Dualismus verwickelt wird, zeigen am besten seine 
Beweise der Unsterblichkeit ; ^) denn ihr ganzer Fehler besteht 
eben darin, dass sie von der Stufenleiter der sichtbaren Organe 
auf eine aufsteigende Reihe unsichtbarer Kräfte schliessen ; und 
hat wiederum dabei Kant nicht recht, wenn er behauptet, dieser 
Beweis sei ein vollkommen metaphysischer? Wenn Pfleiderer 
hervorhebt, dass im Grunde beide in dem Unsterblichkeitsglauben 
übereinkommen, so übersieht er dabei, dass Kants Glaube an 
die persönliche Unsterblichkeit ein bloss religiöser ist, während 
derjenige Herders ein naturwissenschaftlicher zu sein beansprucht;*) 
wiederum hat daher Kant recht, wenn er bemerkt, dieser Glaube 
könne sich wohl auf moralische und metaphysische Beweise 
gründen, aber niemals könne er auf dem naturwissenschaftlichen 
Wege einleuchtend gemacht werden. So fallt denn der einzige 
Ausweg, welchen sich Herder für seine Geschichtsphilosophie 
vorbehielt, hin ; der einzige Fortgang, den er als Fortschritt der 
Geschichte bezeichnet, ist der Uebergang zum höheren Stadium 
auf der Stufenleiter der organischen Kräfte durch die Unsterb- 
üchkeit; Kant war der erste, der das Unwissenschaftliche und 
Unphilosophische dieser Hypothese nachgewiesen hat. 

Sollte es, den beiden Ausgangspunkten unserer Philosophen 
gemäss, den Anschein haben, dass es für Herder viel leichter 
sein würde, die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung auf 
der natürlichen Gmndlage nachzuweisen, als für Kant auf seinen 
metaphysischen Voraussetzungen, so finden wir nun, dass beide 
ihre Rollen wechseln, indem der Naturforscher die Sittlichkeit 
innerhalb der Natur selbst suchend, in die Metaphysik umschlägt, 
und indem der Vernunftkritiker seine Freiheitsideale nicht der 
Natur selbst, sondern seiner Betrachtung der Natur voranstellt. 

Indem Kant die HoflFnung auf die Erfüllung des höchsten 
Gutes für den Menschen für bindend erklärt-, bekommt für ihn 
diese Erfüllung, als Postulat der praktischen Vernunft, auch eine 
praktische Realität; als teleologisches Prinzip verbindet sie so 
die Welt der Erkenntnis mit der Welt des praktischen Handelns, 



') Ideen, S. 169. 

») Ideen, S. 165, 177. 



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— 90 — 

die theoretische mit der praktischen Venuuift, die Erscheinungs- 
welt mit dem Ding an sich, die Naturgeschichte mit der Frei- 
heitsgeschichte. Dieses teleologische Prinzip bekommt seine fasfö- 
bare, konkrete Form, indem die Menschengattung zu s^fhem 
Träger wird ; die letztere verbindet die bfeiden Seiten des Mensiihen, 
die vernünftige in ihrer Gesamtheit und die sinnliche in ihren ein- 
zelnen Gliedern; sie wird auch in zeithcher Hinsicht dieses 
Bihdeglied, indem der Mensch als Tier in ihre Vergangenheit, 
in den vorkulturellen Zustand verlegt wird, und der Mensch als 
vollkommenes geläutertes Wesen, als Ideal jeder Kultur, in ihrer 
Zukunft dasteht. 

Die Kulturgeschichte wird so bei Kant ein Bindeglied 
zwischen Natur und Freiheitsgeschichte ; dadurch aber bekommt 
die Kantische zur Kulturgeschichte gewordene Geschichtsphilo- 
sophie einen realistischen Zug, welcher sie der modernen Socio- 
logie näher bringt. Zu gleicher Zeit entfernt sich Herder von 
derselben, indem er, von seinem Individualitätsstandpunkt zu 
sehr eingenommen, dem ewigen Werden und Vergehen einen 
Endpunkt innerhalb jedes einzelnen Wesens aufstellt, indem er 
in seinem Gleichmass der Kräfte^) eine berechtigte Schranke 
für die Entwicklung findet. So gelingt es Kant, trotzdem er 
von der abstrahierten Freiheitsidee ausgeht, eine richtigere Auf- 
fassung zu bekommen, als Herder, welchem dies ja bei seinem 
sinnUch fassbaren, natürlichen Ausgangspunkt leichter sein sollte. 
Während für Herder die Geschichte nichts mehr als blosse , Kette 
der Geselligkeit und der bildenden Tradition' (Ideen, S. 35, 345, 
349), und ihr einziger Fortgang der „in immer verjüngten Ge- 
stalten aufblühende Genius der Humanität*^ (S. 353) ist^ findet 
sie Kant im ewigen Fortgang zu grösserer Vollkommenheit, zu 
vollständigerer Freiheit. „Die Philosophie," sagt Kant in seinem 
geschichtsphilosophischen Aufsatz, „kann auch ihren Ohilliasmus 
haben, aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, 
obgleich nur sehr von Weitem, selbst beförderlich werden kann, 



*) Ideen, S. 336, 339; Auch eine Philosophie, S. 500. Auch bei 
Schiller finden wir diese Forderung der ungeteilten Einheit des Indivi- 
duums und des Gleichgewichts der Gemütskräfte (^Aesthetisohe Briefe*)^ 
da aber dieses Gleichgewicht den Fortschritt ausschliesst, stellt er es an 
den Anfang und an das Ende der Kultur, und schliosst es aus ihr selbst 
aus („Naive und sentimentalische Dichtung*). 



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— 91 — 

der also nichts weniger als schwärmerisch ist." Von diesem 
Standpunkt aus zerfällt ihm die Geschichte in drei Perioden : der 
Naturzustand; die Kultur oder die auftretende und mit der Natur 
streitende Willkür; und endhch die vom Druck der Sinnlichkeit 
befreite Sittlichkeit und Vernunft als das Ideal der Kultur. Wir 
erkennen in diesen drei Perioden die Keime der poetischen Be- 
trachtung der Geschichte bei Schiller und seiner drei Begriffe 
des Naiven, des Sentimentalischen und des Idealischen. 

Darin, dass Kant im Naturzustand bloss die erste, vorbe- 
reitende Stufe der Geschichte sieht, besteht sein Gegensatz zu 
Rousseau, welcher den Naturzustand mit dem Ideal verwechselt. 
Dieselbe Verwechslung finden wir auch bei Herder ; aus ihr ent- 
springt sein gleiches Interesse für alle Zeitalter und Nationen, 
abgesehen vom Grade ihrer Kultur;^) aus demselben Grunde 
fehlt auch bei Herder eine gerechte Würdigung der Kultur selbst,'-*) 
wie sie uns bei Kant entgegentritt. Was wir aber bei Herder 
am meisten vermissen, ist die Aussicht auf eine vollkommenere 
Zeit, auf das Ideal, welches bei Kant als ein Wegweiser der 
Geschichte, als das nie erreichbare, wenn auch immer anzu- 
strebende Ziel der Kultur da steht. Es ist wahr, dass Kant 
gerade in dieser Beziehung, w^e Hettner es hervorhebt, gewisse 
Vorzüge vor Herder hatte; ein solcher war z. B, sein unvorein- 
genommes Verhältnis zum Staatsleben, welches Herder wirklich 
in zu schwarzem Licht erschien (, Ideen" S. 340, 383); ein solcher 
war auch seine imbefangene Ansicht von der Aufklärung, welche 
nicht, wie bei Herder (S. 348, 371), durch die Fehler der da- 
maligen deutschen Aufklärung bedingt war ; aber der bedeutendste 
und grösste Vorzug Kants war sein klares, systematisches und 
folgerichtiges Schliessen, war sein reiner, in sich selbst be- 
dingter Gedanke ; nur dieser sein Vorzug kann es erklären, wie 
er trotz seinen apriorischen geschichtsphilosophischen Ansichten 
den Ergebnissen der modernen Sociologie näher kommen konnte, 
als derjenige Begründer der Geschichtsphilosophie, welcher in 
einzelnen seiner Ausführungen eine überraschende Aehnlichkelt 
mit dieser jüngsten Wissenschaft aufweist. Während Kant gerade 
in seinen Ansichten von der Kultur und ihrer Bedeutung ein 

Ideen, S. S4ß; Humanitätsbriefe, Bd. XVI IL, S. 237, 248. 
») Ideen, S.371, 372. 



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— 92 - 

direkter Vorläufer Bucklös zu sein scheint, schauen die ethisch- 
metaphysischen Betrachtungea Herders eher in die Vergangenheit 
als in die Zukunft, eher auf einen St. Pierre und J. J. Rousseau 
zurück, als auf die Sociologie unseres Jahrhunderts hinaus. 

Wenn wir uns fragen, wie konnte Kant, trotzdem er einen 
ethischen Portschritt suchte, auf realem, festen Boden bleiben, 
scheint mir darauf nur eine Antwort möglich zu sein: dieser 
Portschritt ist für Kant ein blosses teleologisch-regulatives Prinzip, 
und nicht eine metaphysische Hypothese oder eine Erfahrungs- 
thatsache; sein Glaube an diesen Portschritt ist weder ein em- 
pirischer, noch ein metaphysischer (wie in der Geschichtsphilo- 
sophie Herders), sondern bloss ein moralische7\ 

5. Entwicklungslehre. 

Dieser Gedanke des Portschritts und die mit ihm verbun- 
dene teleologische Weltanschauung führen uns auf ein neues 
Gebiet — auf die Entwlckluhgslehre beider Phifosophen. Her- 
dern selbst erschien der transcendentale Idealismus Kants als 
direkter Gegensatz der Entwicklungsgeschichte ; daher stellt er 
auch den kantischen „lehren Kategorien und Anschauungs- 
formen" seine lebendigen und wirkenden Kräfte entgegen; da- 
her bekämpft er auch Kants Begriffe von Raum, Zeit und 
Kausalität, als erst vom Menschen in die Welt hineingebrachte 
metaphysische Pormen, die ohne ihn keine Existenz hätten, um 
an ihre Stelle seine der Welt immanenten, wirkenden, aus sich 
selbst und ohne jedes menschliche Zuthun sich entwickelnden 
Naturkräfte zu setzen. Dasselbe Verhältnis zwischen Herder und 
Kant erblicken auch einige neuere Verteidiger des ersteren, *) 
und andererseits wird derselbe Einwurf von Neuem gegen Kant 
erhoben. Und in der That scheint beim ersten Anblick die 
Kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich 
jede Möglichkeit der Erforschung der Natur und mithin auch 
ihrer naturgemässen Entwicklung auszuschliessen. Wenn wir 
uns andererseits daran erinnern, dass der Entwicklungsgedanke 
der grösste und tiefste Gedanke Herders war, wenn wif be- 
denken, dass dieser einzige Gedanke, in Herders Naturell be- 
gründet, auf alle seine Geistosprodukte einen unvergänglichen 



') So Pfleiderer, Böhmer, Bärenbacli. 



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- 93 — 

Stempel legte, so entsteht in uns die Hoffnung, in diesem Punkt 
wenigstens könne und werde unser Denker den Sieg davon 
tragen. Lesen wir femer solche Auszüge rein naturwissenschaft- 
lichen Charakters, wie Pfleiderer, Böhmer oder Bärenbach aus 
seinen Schriften gemacht haben, so werden wir in dieser un- 
serer Hoffnung noch mehr bestärkt. Nehmen wir aber Herders 
Werke in ihrem ganzen Umtange, so werden sich auch ganz 
entgegengesetzte Aeusserungen Herders nicht wegreden lassen. 
Und wenn sogar Bärenbach, der Herder zu einem direkten Vor- 
läufer Darwins und Häckels stempelt, in den ,Ideen* „Stellen 
begegnet, in denen der Dichter den Denker und Forscher über- 
wältigt hat**, und sie dadurch wegzudisputieren sucht, dass er auf 
andere hinweist, , welche die reinste Krystallisation der Darwin- 
schen Lehre zeigen", so könnten wir ja den Satz umkehren, 
und die letzten Sätze durch die ersteren wegräumen. In Wirk- 
lichkeit aber lassen sich weder die einen, noch die anderen 
läugnen; man muss den Denker nehmen, so wie er war und 
nicht so, wie er nach unserer Meinung sein sollte; mit einer 
Hineininterpretierung modemer Standpunkte der Wissenschaft 
erweist man auch unserem Philosophen keinen guten Dienst, 
denn dann tritt das Widersprechende seiner Aeussemngen nur 
mit doppelter Stärke hervor, und dasjenige, was bei unvoreinge- 
nommener Betrachtung als relative Wahrheit erschien, erscheint 
jetzt als unverzeihliche und unerklärUche Inkonsequenz. Kehren 
wir daher zur Persönlichkeit Herders selbst zurück, so finden 
wir für diesen, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht 
zu beseitigenden, Widerspmch eine Erklämng, welche ihn von 
der rein menschlichen Seite aufhebt; wir finden diese Erklämng 
in Herders Naturell, in welchem delr Wissensdrang, das uner- 
müdliche Forschen auf so wunderbare Weise mit der hemmenden 
Sucht der Befriedigung des Gemütes zusammentraf, in welchem 
das Denken und das Fühlen, diese beiden Pole der menschlichen 
Natur, die liberale und die konservative Seite derselben, so eng 
mit einander verbunden waren, und so beständig ein Jedes die 
Herrschaft über das Andere führen wollte. 

Wie dieser sonderbare Zusammenhang. auf Herders geistige 
Thätigkeit gewirkt und die Ausarbeitung seines Entwicklungs- 
gedankens bedingt und zugleich gehemmt hat, haben wir schon 
gesehen. Eine reine Entwicklungstheorie, die das ewige Werden 



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— 94 — 

in der. Natur, betrachtet, und weder vom betrachtenden Geiste, 
noch von äusseren in sie willkürlich hineingebrachten Gesetzen 
abhängt, kennt weder von vorneherein aufgestellte Zwecke, noch 
bestimmte Schranken, noch gewisse menschUchen Absichten; 
sie ist ewig, wie die Natur selbst ; ihre Gesetze und ihre Zwecke 
sind nicht ausser, sondern in ihr selbst. Je unabhängiger von 
jedem teleologischen Ausdeuten, je freier von jedem mensch- 
lichen Bedürfnis, desto gesicherter ist sie vor jedem Wandel 
der Zeit, desto grösser ist ihr Anteil an der Wahrheit. Eine 
solche Entwicklungstheorie fordert von ihrem Träger absolute 
Freiheit des Gedankens; sie fordert, dass der Forscher alle Be- 
dürfhisse seiner Natur im Zaume halte, ohne seinem Denken 
irgend welchen Zwang aufzuerlegen. Der tief empfindende Gemüts- 
mensch Herder war nicht dör gegebene Mann dazu; wohl be- 
trachtete er mitfühlend jedes Entstehen und Vergehen, aber 
eben daher konnte er dabei, zu sehr von seinem Gefühl be- 
herrscht, nicht unparteiisch verbleiben ; wohl war er ein liberaler 
Forscher, insofern er keine Vorurteile bewusst besass, aber 
desto grösser war seine Abhängigkeit von solchen fast allgemein 
menschlichen Vorurteilen, von welchen er sich keine Rechen- 
schaft gab. Der Fehler seines Liberalismus besteht darin, dass 
er nur in seinem Gemüt imd nicht in der Kraft seines Denkens 
begründet war. 

Wie ernst auch Herders Streben, das ewige Werden unvor- 
eingenommen zu beobachten, sein mag, so kann er doch nie 
von Zwecken absehen, und zieht sie, vielleicht auch unbewusst, 
hei jedem Entstehen und Vergehen herbei. In der Gestalt der 
Erde („Ideen", S. 42, 45), in den Formen der Erdorganisation 
(„Ideen", S. 49), in den Gesetzen des Pflanzenreichs („Ideen*, S.52, 
98), wie auch des Tierreichs („Ideen", S. 60, 83, 132, 140, 168), ja 
sogar im allgemeinen Kampf ums Dasein („Ideen ^, S. 61, 1,78; 
Bd. XVIII, S. 118), und endlich am meisten in der Organisation 
des menschlichen Körpers („Ideen", S. 69, 114, 119, 127), sieht 
Herder nichts anderes als Zwecke der gütigen Vorsehung. Die 
ganze Naturgeschichte ist ihm eine grosse Erziehungsanstalt, 
deren Leiterin dieK ünstlerin Natur ist („Ideen", S. 86, 104, 333; 
auch Bd. XVII, S. 120, Bd. XVIII, S. 246, Bd. V, S. 513). Mit 
prophetischem Blick stellt Herder die erhabene Synthese der 
ganzen Natur in seiner Stufenleiter der Wesen auf; der Mensch 



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— 95 — 

ist nach ihm nicht.s weiter als das letzte Glied in der grossen 
Reihe der Wesen, welche ihm vorangegangen sein raussten 
(„Ideen", S. 70, 401); nun kommt er zur näheren Bestimmung des 
Menschen und trennt ihn von der übrigen Natur nicht nur 
ethisch, sondern auch physisch („Ideen", S. 109, 112, 127, 141, 
257, 405, 435 etc.) und ernennt ihn sogar zum Herrn der Erde 
(„Ideen", S, 272, 425). Der Mensch ist Produkt der Erde, heisst 
es in den ersten Büchern der „Ideen" (S. tSl), „ein Bruder aller 
Erdorganisationen "^j aber plötzlich erwacht Avieder das alte Vor- 
urteil, als ob der Mensch der Zweck der Schöpfung sei, und nun 
erklärt Herder, die Erde sei um des Menschen willen so und 
nicht anders von der Vorsehung geschaffen („Ideen", S. 42, 45). 
Der Zweck der Herderschen Geschichtsphilosophie ist, nachzu- 
weisen, dass wir eigentlich nicht Menschen sind, sondern Men- 
schen werdefi („Ideen", S. 351) ; nun aber kommt Herder zu seiner 
Humanität und erklärt sie für eine „Uranlage des Menschen" 
(„Ideen", S. 395). Diese am meisten in die Augen springenden 
Inkonsequenzen der Herderschen Entwicklungslehre zeigen 
so recht ihren Doppelcharakter. 

Weil Herder selbst der vielseitigste Vertreter des Lebens 
war, liebte er dasselbe so innig und verfolgte es so aufmerksam ; 
weil er aber zugleich mit der Vielseitigkeit des Lebens auch 
seine individuelle Beschränktheit in sich trug, vermochte er nicht, 
es in seinem ganzen Umfang unvoreingenommen und unpar- 
t.eiisch zu beurteilen. Als ein grosser Vorkämpfer für die ent- 
wicklungsgeschichtliche Forschung, sie mehr instinktiv ahnend 
und prophetisch voraussehend, als bewusst durchdenkend und 
konsequent durchführend, steht er an der Grenze der beiden 
Epochen der Wissenschaft, der alten metaphysischen imd der 
modernen naturwissenschaftlichen; zu beiden zieht ihn sein 
Naturell und von beiden fühlt er sich zugleich in ihrer kon- 
sequenten Durchführung abgestossen ; wie ein neuer Prometheus 
sucht er die Unmündigkeit der Menscheit aufzuheben und ihr 
das Feuer der Denkfreiheit vom Himmel herunterzuholen; aber 
bei ihm gesellen sich zu den Qualen des griechischen Helden 
noch die des inneren Zweifels, des tiefen Zwiespalts; er ist 
zugleich von den Göttern, von der Menschheit und von sich 
selbst zu dem „schHmmsten Selbstmord verurteilt, dem Selbst- 
mord des ewigen Zweifels'*. 



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— 96 — 

Sehen wir uns jetzt die Entwicklungslehre an, wie sie 
sich bei Herders Gegner ausdrückte. Herder hatte Unrecht, in- 
dem er das System Kants als Hemmung für die freie Forschung 
und für den Fortschrftt der Naturgeschichte betrachtete ; er hatte 
Unrecht, indem er einen Widerspruch zwischen der transcen- 
dentalen Philosophie und dem Entwicklungsgedanken fand^ 
denn der transcendentale Idealismus führt nicht von der Er- 
fahmng ab, sondern weist im Gegenteil auf sie hin. Die Ent- 
wicklungstheorie, sofern sie das empirische Werden einschliesst,. 
sofern sie sich mit den blossen Erfahrungsthatsachen begnügt^ 
ist von dem transcendentalen Idealismus el)en so wenig aus- 
geschlossen, wie jede wissenschaftliche Betrachtung über- 
haupt. Sind auch die Gesetze, nach welchen wir die Natur be- 
urteilen, transcendental-ideal, so sind sie zugleich auch empirisch 
real, mit anderen Worten, sie sind für uns eine Denknotwen- 
digkeit, und als solche haben sie für uns Menschen einen ebenso- 
bindenden Zwang, als ob sie Seinsnotwendigkeit wären. In 
diesem Sinne scheint mir Kant mit der Entwicklungslehre nicht 
nur in keinem Widerspruch zu sein, sondern im Gegenteil sie gegen 
alle Angriffe von der skeptischen Seite zu schützen. Nun könnte 
aber dagegen geltend gemacht werden, dass die Entwicklungs- 
lehre auf blosse Thatsachen nicht angewiesen werden kann, da 
ja dasjenige was sich entwickelt, sich zu Etwas entwickeln 
muss, und dass sie daher das empirische Element mit dem teleo- 
logischen Verbinden soll; da aber die theoretische Teleologie im 
eigentliciien Sinne aus dem Kantischen System ausgeschlossen 
ist, so könnte es den Anschein haben, als ob mit ihr auch die 
Entwicklungsgeschichte ausgeschlossen wäre. Mir scheint aber 
diese Forderung des teleologischen Elements nur eine bedingte 
Berechtigung zu haben; tritt sie nämlich mit dem Anspruch auf 
absolute Gewalt auch in der Naturwissenschaft auf, so fördert 
sie nicht mehr ihren Fortschritt, sondern hemmt ihn nur. 

Wir haben bei Herder gesehen, wie das Streben, aus der Be- 
obachtung des uns Zugänglichen, Beschränkten, auf Weltgesetze zu 
schliessen, seine Entwicklungslehre zu einer bloss willkürlichen In- 
terpretierung der Natur gemacht hat. Vorsichtiger geht Kant mit 
dem Problem um, und ihm gelingt es, dieser grössten Schwie- 
rigkeit der Naturwissenschaft, des richtigen Gebrauchs des teleo- 
logischen Prinzips, Herr zu werden: das letztere ist für ihn 



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— 97 — 

nämlich kein konstituitives, sondern bloss ein regulatives^ heu- 
ristisches Prinzip; es giebt uns keine wirklichen Weltgesetze, 
sondern nur Gesetze, an welche wir, durch unsere menschliche 
Natur dazu gezwungen, uns halten müssen. 

Es ist wahr, dass Kant auch eine Teleologie im eigentlichen 
Sinne, als Theorie der Endzivecke zulässt, aber diese gehört nach 
ihm nicht mehr in unsere Erkenntnis weit, sondern nur „in die 
reflektierende Urteilskraft,** sie dient „zur blossen Beurteilung 
der Erscheinungen, denen die Natur nach ihren besonderen Ge- 
setzen als unterworfen gedacht werden könnte und nicht zur 
Ableitung ihrer Produkte von ihren Ursachen^. Das Motiv der 
wahren Teleologie ist nach Kant bloss praktisch, wie es ja auch 
ihre Zwecke sind; eben daher aber darf und kann sie nichts 
mit der Erkenntnis zu thun haben ; auch ist die Entwicklungs- 
theorie in dem Sinne, in welchem sie bei Kant die Natur- und 
Preiheitsgeschichte verbindet, nämlich als allmählicher Fortschritt 
der ersteren zur letzteren, nichts mehr als ein blosses Postulat 
der praktischen Vernunft, und wenn sie auch als solche nie aus 
den Augen verloren werden soll, so darf sie doch nicht 
unsere freie Forschung beeinträchtigen und beeinflussen. Diese 
Scheidung des theoretischen und des praktischen Elements in 
der Entwicklungslehre scheint mir von so fundamentaler Be- 
deutung zu sein, dass sie allein im stände wäre, alle Ueber- 
treibungen der letzteren zu verhindern und dieselbe auf das 
wahre Feld ihrer Thätigkeit anzuweisen. 

Diese Kantische Scheidung des Wissens und des Handelns, 
des Wahren und des Guten, war derjenige Punkt, welcher bei 
Herder am meisten Anstoss erregte; und auch jetzt gehört sie 
zu denjenigen Seiten des Kriticismus, welche noch immer Be- 
denken hervorrufen. Diese Scheidung wird in der Theorie des 
Schönen bei Kant aufgehoben, an die Stelle der Kluft zwischen 
dem Praktischen und dem Theoretischen tritt ihre Einheit. 
Und so führt uns die Betrachtung der philosophischen Systeme 
unserer Denker auf das letzte Gebiet, auf welchem sie zusammen- 
treffen, auf ihre Aesthetik. 

6. Aesthetik. 

Auf keinem Gebiet scheint mir ein entscheidendes und 
gerechtes Urteil über das Verhältnis beider Denker so schwer 



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— 98 — 

zu sein, wie gerade in der Aesthetik ; der Wert der Herder'schen 
Aesthetik wird im Verhältnis zu der Kantischen so verschieden 
angeschlagen, dass man schon durch diese Thatsache geneigt 
sein möchte, die Verschiedenheit der beiden Philosophen gerade 
auf diesem Qebiete mehr als auf allen anderen auf zwei radikal 
entgegengesetzte Auffassungen der Aesthetik zurückzuführen. 

In der theoretischen Philosophie war es der Unterschied 
der sinnlichen Wahrnehmung und der philosophischen Abstrak- 
tion, des wirklichen Lebens und des sich über dasselbe erhebenden 
Gedankens, welcher uns die Uneinigkeit der beiden Denker 
erklärte ; in der praktischen war es der Unterschied der gewöhn- 
lichen Lebensweisheit und der hohen philosophischen Ethik, 
der alltäglichen Sittlichkeit und der erhabenen, kaum erreichbaren 
Moral. Jetzt, auf dem Gebiet des Schönen, ist es ein ähnlicher 
Unterschied; Herder, selbst Dichter und feiner Kunstkritiker, 
ein seltener Kenner der Musik und der Bildhauerei, Herder 
spricht von der Poesie als Dichter, von der Plastik als Bildhauer, 
von der Musik als Musiker, er urteilt über die Kunst wie ein 
Künstler; wir finden bei ihm ein feines Verständnis und ein 
empfängliches Gefühl für ihre Schönheiten, eine nähere Bekannt- 
schaft mit ihren Arten und ihren Theorien, aber zugleich auch 
eine Voreingenommenheit für dasjenige, wofür er von der Natur 
mehr Sinn hat ; zugleich ein Befangensein von seinem jeweiligen 
Standpunkt, zugleich eine allzu grosse Abhängigkeit vom empi- 
rischen Bindruck der einzelnen Werke ; das Urteil über die Kunst 
überhaupt wird oft durch das gegebene Kunstwerk und seinen 
Eindruck beeinträchtigt: das Absolute wird zu sehr durch das 
Individuelle verdunkelt. 

Anders verhält es sich mit Kant. Ob auch er von der Natur 
besonderen Sinn für die schönen Künste hatte, ob die einzelnen 
Kunstwerke, vor allem musikalischer Art, ihm einen besonderen 
Genuss darboten, und ob man seinem Urteil über einzelne Er- 
scheinungen der Kunst und über die empirische Anwendung der 
Kunsttheorien vertrauen konnte, das scheint mir mehr als zweifel- 
haft zu sein ; aber vielleicht eben darum, weil er für keine Kunst 
besonders eingenommen war, konnte er sie alle unparteiisch 
beurteilen. Ohne von einem besonderen individuellen Schönheits- 
sinn geleitet zu werden, war er in seinem Urteil über das Schöne 
auf das allgemein Menschliche angewiesen; frei von allen künst- 



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— 99 — 

lerischen Sympathien und Antipathien, konnte er von der Höhe 
seiner Abstraktion das Qesamtfeld der Schönheit gerechter be- 
urteilen und, was noch wichtiger ist, sein Gedanke, frei von 
jedem Einfluss eines zersplitterten Gefühls, konnte seine Kunst- 
theorie zu einer Einheitlichkeit erheben, welche bei einem prak- 
tischen Künstler durch seine individuelle Stellung beeinträchtigt 
wäre. Dass Kant trotz dem Mangel an empirischem Material eine 
Kunsttheorie aufgestellt, welche bis jetzt ihre Gültigkeit nicht 
verloren hat, scheint mir desto mehr ein Beweis seines Genies 
zu sein, da eine solche abstrakte Betrachtungsweise, wie die 
seinige, der Gefahr des leeren Spekulierens ausgesetzt ist. 

Das Problem, vor welches beide Denker mit diesen Vorzügen 
nnd Nachteilen treten, ist die Definition der Schönheit ; die grosse 
Schwierigkeit dieses Problems besteht darin, dass eine feste, von 
Zeit und Land unabhängige Definition des Schönen im Wider- 
spruch mit dem wandelbaren und immer wechselnden Geschmack 
steht. In der ganzen Kunstgeschichte bemerken wir ein ewiges 
Schwanken zwischen beiden Seiten der Kunst; bald ist es die 
absolute Schönheit und, als ihr empirischer Ausdruck, die festen 
Kunstregeln, bald die freie Schönheit mit der ihr entsprechenden 
grdsseren Entwickelung der Individualität des Künstlers, welche 
die Oberhand gewinnt. In der Zeit, in welche die Thätigkeit 
Herders und Kants fSUt, ist es eher die erste, als die zweite 
Elrscheinimg, welche wir in der Kunst antreffen. Die metaphysische 
Schönheitslehre Baumgartens einerseits und der Druck des fran- 
zösischen Pseudoklassicismus mit seinen strengen Regeln anderer- 
seits waren diejenigen Kunstrichtungen, wel ehe Herder vorfand, 
und im Widerspruch zu welchen er seine Fordenmg der freien 
Kunst, der naturwüchsigen Schönheit, des indivi duellen Geschmacks 
aufstellte. Freilich verliert er auch das Ideal, das Absolute nicht 
ganz aus den Augen; schon im „Vierten kritischen Wäldchen" 
spricht er von dem „Ideal der Schönheit für jede Kunst, für jede 
Wissenschalt, für den guten Geschmack überhaupt*, das unab- 
hängig ist von jedem „National-, Zeit- und Persona Igeschmack" 
(S. 41). Aber umsonst suchen wir nach einem systematisch be- 
wiesenen Zusammenhang dieses Allgemeinen und des Besonderen ; 
dieser Zusanunenhang wird mit der Herder'schen Theorie des Einen 
in Vielem stillschweigend vorausgesetzt. Aber nehmen wir au ch 
dieses dogmatische Grundprinzip an, es bleibt doch eine Schwierigkeit 



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— 100 — 

dabei: wo liegt in jedem besonderen Fall das eigentliche und 
bestimmende Schönheitselement? Ist es eine feste Eigenschaft 
des betrachteten Gegenstandes oder ein Zug des Betrachtenden ? 
Es ergiebt sich schon aus der panth eistischen Weltanschau- 
ung Herders, dass seine Schönheit eine objektive sein muss, dass 
er sie in der Natur selbst, als ihr Gesetz, ihr Phänomen, und 
nicht als blosses Substrat des menschlichen Geistes betrachten 
muss; es ergiebt sich ebenso von selbst, dass er in der Schönheit 
einen Ausdruck der Naturvollkommenheit, des individuellen 
Wohlseins sehen wird; es ist ferner eine strenge Konsequenz 
seines ganzen naturalistisch angelegten Systems, wenn er von 
einem „Naturschönen", oder „An sich Schönen" spricht, i) 
Unerwartet erscheint schon eher seine andere, beim ersten 
Anblick der ersteren widersprechende Ansicht von dem „mir 
Schönen^; es ist klar, dass damit ein individuell bedingtes 
Schöne an die Seite des bereits besprochenen objektiven Schönen 
i^estellt wird. „Herders Schönheitsurteil," sagt Lotze, „ist mehr 
als subjektiv, es ist individuell.** Sind diese beiden Gedanken 
wirklich nur verschiedene Abstufungen desselben Begriffs, so- 
liegt freihch zwischen beiden Schönheitsdefinitionen Herders 
ein ganz unüberbrückbarer Widerspruch, der uns auf eine 
ausserordentliche Inkonsequenz unseres Denkers schliessen liesse. 
Aber mir scheinen die Begriffe „individuell" und „objektiv", 
wenigstens in dem Sinne, in welchem sie bei Herder zu fassen 
sind, nicht so widersprechend zu sein: in der Herderschen Welt-- 
anschauung bildet das Individuum ein dem ganzen Universum 
vollständig ähnliches Element; der das Schöne betrachtende 
Mensch ist ebenso ein Stück Natur, wie auch der von ihm be- 
trachtete Gegenstand, sie beide folgen denselben Gesetzen der 
Schönheit und Vollkommenheit, sie beide wirken und streben 
nach der einen vollkommenen Vernunft, welche in der ganzen 
Welt herrscht; das „mir Schöne" richtet sich nach denselben 
Kegeln der ewigen und einzigen Harmonie, die auch das „an 
sich Schöne" bestimmt; das individuelle Schöne bei Herder 
ist in keinem Fall mit dem subjektiven Schönen, wie es seit 

) „Kalligone", S. 47, 51, 62, 67, 70, 77, 103. 
') S.34, 76, 96, 103, 104, 115, 207. 



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— 101 — 

Kant als aussernatürliches, nur dem menschlichen Geiste eigenes 
Element betrachtet wird, gleichbedeutend; im Gegenteil, es ist 
streng objektiv in dem Sinne, dass es innerhalb der Natur und 
ihren objektiven Gesetzen seine Wirkimgssphäre hat, sei es nun 
in der äusseren Welt oder in dem sie sinnlich anschauenden 
Menschen. Aber ein anderer Vorwurt scheint sich mir von selbst 
gegen Herder zu erheben : diese Theorie, nach welcher das 
unseren Sinnen Verwandte sich ihnen assimiliert, setzt schon 
eine innere Harmonie des Empfindenden und des Empfindbaren 
voraus, einen Begriff, der von Herder dogmatisch behauptet wird. 
Zum zweitenmal soll so dieser BegriflT die Aesthetik Herders dort 
zusammenhalten, wo sie in Widerspruch gerät; das allgemein- 
menschliche und das sinnlich-besondere Schöne, und innerhalb 
des letzteren das eigentlich objektive und das individuelle Ele- 
ment, sollen in der Harmonientheorie diejenige Einheit finden, 
welche durch ihre widersprechende Natur ausgeschlossen ist. 

Aber lassen wir auch diese dogmatische Behauptung als 
Thatsache gelten — eine innere, feste Einheitlichkeit und strenge 
Konsequenz fehlt dennoch der Herderschen Aesthetik. Ist die 
Schönheit ein Ausdruck des individuellen Wohlseins, kann nur 
das „sich Vollkommene'^ „mir schön*^ sein (S. 103 — 104), ist die 
Schönheit „ausdrückend" in dem naturalistischen Sinne, in wel- 
chem Herder das Wort gebraucht, 2) so wird ihre Bedeutung so 
sehr erweitert, dass es am Ende schwer fällt, ihr eine bestimmte 
Grenze zu ziehen; „sich vollkommen" ist ja die ganze Natur; 
die Natur selbst, ohne Beziehung auf den menschlichen Geist, 
ist folglich immer schön; ^) das H^ssliche existiert nicht. Wenn 
Herder auf der anderen Seite erklärt, schön sei nur dasjenige, 
was mir angenehm ist, was mir geföUt,^) so rettet er damit die 
Möglichkeit des Hässlichen, aber weil das letztere nur eine indi-- 
viduelle Grundlage, nur ein individuelles Kriterium hat, ist es 
auch so schwankend und unsicher, wie es uns in der Herder'- 
schen Theorie des Hässlichen erscheint. Das Kriterium der 
Schönheit, als Ausdruck des Wohlseins, ist zu allgemein, so 
allgemein, dass es die ganze Natur umfasst, und das Kriterium 

') S. 80, 34, 40, 100. 
') S.77, 115. 
») S. 79, 81, 86. 
*) S. 78. 



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— 102 — 

der Schönheit als individuelle Sympathie ist zu wenig allgemein, 
so dass es keine feste Formen mehr hat; es ist überhaupt kein 
zureichendes Kriterium. 

So bricht die Herdersche Theorie der Schönheit auf beiden 
Enden in sich selbst zusammen; sie ist zu individuell, um eine 
allgemeine Theorie zu bilden, und sie ist zu verschwommen, um 
den besonderen Fall zu bestimmen. Auch die Harmonie kann 
diesem Fehler nicht abhelfen, denn sie kann im besten Fall 
erklären, wie diese beiden, scheinbar widersprechenden Erklärungen 
bei Herder neben einander ungestört stehen können, aber sie 
giebt ihnen nicht diejenige Wahrheit, welche ihnen fehlt. Beide 
Bestimmungen fassen das Schöne als Ausdruck der Vollkommen- 
heit und des Wohlseins auf, sei es des Betrachtenden oder des 
Betrachteten; in beiden Fällen ist das Schöne teleologisch; die 
teleologische Betrachtung aber ist nur subjektiv zu gebrauchen, 
und kann eben daher dem Herderschen objektiven Schönen 
keine genügende Grundlage geben; andererseits aber ist das 
teleologische Prinzip überhaupt so sehr von dem rein ästhe- 
tischen entfernt, dass es, in die Aesthetik eingeführt, die- 
selbe als besondere Wissenschaft eher vernichten als be- 
gründen kann. Mit einem Worte : lassen wir auch die Herdersche 
Theorie der inneren Harmonie, des festen Zusammenhangs und 
der Einheitlichkeit der ganzen Natur zu (eine Bedingung, auf 
welcher seine ganze Aesthetik beruht), so fehlt es auch dann 
dem Herderschen Schönen an einer festen Definition, an einem 
allgemeinen, bleibenden Element und endlich an einem gültigen 
Kriterium. 

Wenn aber seine Aesthetik im Vergleich mit ihrem jetzigen 
Zustand nicht mehr stichhaltig erscheint, so muss man doch 
nicht vergessen, dass im Verhältnis zu seiner Zeit diese seine 
Ansichten einen entschiedenen Fortschritt bedeuten. Im Wider- 
spruch zur halb-metaphysischen trockenen Aesthetik eines Baum- 
garten und zum Formalismus der pseudoklassischen Richtung 
mit ihrer Vorherrschaft in der Litterat ur erscheint der begeisterte 
Ruf Herders: „kehrt zur Natur und zu ihren natürlichen Aeusse- 
rungen zurück!" wie eine erlösende Parole des heranbrechenden 
freien Zeitalters. Herders Fehler ist es freilich, dass er in 
diesem seinen Freiheitsdrang nicht Mass zu halten wusste, 
und in seiner Flucht vor trockenen Schulregeln in das andere 



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— 103 — 

Extrem, der unbestimmten und verschwommenen Naturverherr- 
lichung, geriet. 

Wie hat aber Kant dieses Problem der Aesthetik gelöst? 
Die erste Schwierigkeit desselben, die Versöhnung der allgemeinen, 
absoluten und der besonderen, veränderlichen Schönheit, besei- 
tigt er dadurch, dass er bloss die erste für das „reine Schöne'^ 
erklärt, während er die letztere als bloss sinnliche Erscheinung 
der ersteren betrachtet ; indem ferner Kant das reine Schöne für 
apriorisch erklärt, und bloss das sinnliche an der Schönheit 
beteiligte Element für empirisch hält (entsprechend der Form 
und der Materie der Erkenntnis), löst er auch die zweite 
Schwierigkeit ; dem eigentlich objektiven Element tritt jetzt nicht 
mehr das individuelle (wie bei Herder), sondern das rein sub- 
jektive entgegen; obgleich beide in jedem einzelnen Phänomen 
der Schönheit vertreten sind, so widersprechen sie doch nicht 
einander, weil einem jeden von ihnen eine gesonderte Stellung 
angewiesen ist; das absolute, unvergängliche, allgemein gültige 
Element des Schönen ist vollständig subjektiv, das individuell- 
verschiedene, das vorübergehende und dem Zeit- und Volks- 
geschmack angepasste ist objektiv. So verbindet eigentlich Kant 
beide Seiten der Aesthetik, die absolut wissenschaftliche und die 
sinnlich künstlerische, nur dass er, um der Verwirrung beider 
zu entgehen, sie zunächst scharf absondert; sich selbst auf die 
Erörterung der ersten beschränkend, überlässt er die Behandlung 
der zweiten Künstlern vom Fach. Die ^anhängende Schönheit" 
scheint mir nicht, wie Haym sich ausdrückt (Bd. II S. 701), „nur 
hinterher eine Beziehung des Schönheitsurteils zu der eigenen 
Bedeutung der Dinge herzustellen," sondern sie ist vielmehr für 
Kant eine von vorneherein feststehende Thatsache, welche eben 
daher seines Beweises weniger bedarf, als die „reine Schönheit". 

Wenn Zimmermann, den Kantischen ästhetischen Subjekti- 
vismus bekämpfend, an die Stelle der Harmonie unserer Seelen- 
kräfte, als Bedingung des Schönen, die Harmonie überhaupt 
stellt, wenn er überhaupt die inneren Verhältnisse unseres Geistes, 
auf welche Kant das Wesen der Schönheit zurückführt, durch 
objektive Urverhältnisse der Natur ersetzen will, so scheint mir 
dadurch die ganze Aesthetik in ihren dogmatischen, vorkritischen 
Zustand zurückgeführt zu werden, geschweige denn, dass durch 
diese Verwechslung der Kantischen Begriffe, subjektiv und 



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— KU — 

objektiv, die ganze Reform Kants rückgängig gemacht würde. 
Lässt man aber dem Kantischen ästhetischen Subjektivismus 
seine Geltung, wie es z. B. Lotze thut, so gelangt man mit ihm 
zu einem Schönen, welches seine Berechtigung weder in seiner 
Nützlichkeit, noch in seiner Annehmlichkeit, sondern nur in 
seiner von jedem äusserlichen Zwang unabhängigen Form hat, 
welches nicht an unsere individuell-egoistische, sondern nur an 
unsere subjektiv-ideale Bedürfnisse angepasst werden muss ; da- 
her ist auch das Kantische Schöne frei von jedem sinnlichen 
Interesse, aber auch von jedem begrifflichen Beurteilen; es ist 
vollständig unabhängig und in sich allein bedingt, aber zugleich 
steht es auch in höchster Uebereinstimmung mit unserem Sub- 
jekt, in ihm fliesst das Objektive und Subjektive zusammen, in 
ihm trifft unser Geist mit der Natur zusammen, das Schöne 
stellt diejenige Einheit wieder her, welche das ganze System 
auf dem Wege der Scheidung vorbereitet hat : „Die Urteilskraft 
giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohl- 
gefallens ihr selbst das Gesetz, und sieht sich sowohl wegen 
dieser inneren Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äusseren 
Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, auf etwas 
im Subjekte selbst und ausser ihm, was nicht Natur, auch nicht 
Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem 
Uebersinnlichen verknüpft ist, bezogen, in welchem das theo- 
retische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche 
und unbekannte Art zur Einheit verbunden ist**. (Urteilskraft, 
S. 255.) 

So kommen die überall scharf gesonderten Begriffe des 
Wahren und Guten im Schönen wieder zusammen, und bilden 
mm eine Einheit, die nicht dogmatisch behauptet wird, sondern 
als bewiesene Thatsache dasteht. 

Den entgegengesetzten Weg nimmt Herder; nachdem er 
in seinem ganzen System den Widerspruch unserer theo- 
retischen Erkenntnisse und unserer praktischen Ideale geläugnet, 
nachdem er in seiner ganzen geistigen Thätigkeit nach der 
Einheit des Wissens und des Wollens gestrebt hat, will er nun 
jetzt zu der dogmatisch behaupteten Einheit des Wahren und 
Guten noch ein drittes Element hinzufügen — das Schöne ; aber 
weil diese Einheit nur dogmatisch behauptet wird, ist sie auch 
so künstlich, so äusserlich imd unzusammenhängend; Herders 



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— 105 — 

auf das Wahre und Gute zurückgehende „ausdrückende Schöne** 
(S. 322) ist viel weniger rein ästhetisch, als die von ihm ange- 
fochtene (S. 318) Kantische „Schönheit, als Symbol der Sitt- 
lichkeit betrachtet*': denn in letzterer ist das Symbol nur sub- 
jektiv zu nehmen, während bei Herder der Zusammenhang ein 
wirklicher, ein objektiver sein soll — mithin ein solcher, 
welcher nicht bewiesen, sondern nur dogmatisch behauptet 
werden kann. 

Bei seiner unklaren Auffassung des Schönen gelangt Herder 
auch nicht zu einer in sich gerundeten Kunsttheorie ; es ist der 
Philosoph und nicht der Künstler, welcher der Kunst eine un- 
abhängige, von der Wissenschaft imd dem Handwerk gesonderte 
Stellimg anweist. ^) Und wenn Kant diese Unabhängigkeit der 
Kunst in seinem Begriff des freien, „künstlerischen Spiels" aus-^ 
drückt, so entgeht er dadurch gleichzeitig den beiden Gefahren, 
welchen die Kunst so oft erliegt : der Trivialität der nüchternen 
realistischen Nachahmung der Wirklichkeit und der Geflissentlich- 
keit der ideen vollen Reflexion: zwei Extreme, welche beide in der 
Herderschen Kunsttheorie einander gegenüberstehen. In der 
Polemik gegen das Kantische, von ihm missverstandene „Spiel*', ^) 
fordert er einen emstön, sittlich bessernden, Ideengehalt; zu- 
gleich aber fühlt er das Unpoetische dieser Forderung, und 
sucht sie zu mildem, indem er andererseits eine leichte ange- 
nehme Darstellung der Begebenheiten fordert, indem er dem 
Künstler vorschreibt, „mit unseren Gedanken und Leiden- 
schaften zu spieletij sie zu erregen, festzuhalten, zu verwandeln 
und verschwinden zu lassen** — mit anderen Worten, er ge- 
stattet der Kunst ein absichtliches Spielen zu egoistischen 
Zwecken — er verfällt selbst in die Trivialität, welche er 
Kant zuschreibt.^) 

Uebersetzt man beide Kunsttheorien ins Praktische, so 
findet man in Kant den Theoretiker der klassischen Zeit, in 
Herder denjenigen der Sturm- und Drangperiode: während 
das Kantische „reine Schöne** seinen Ausdruck in den form- 



') S. 126, 801. 
*) S. 141, 144, 158. 
•) S. 158. 



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— 106 — 

vollendeten Kunstwerken der Klassiker fand, gelangte weder die 
Theorie Herders, noch die dichterische Praxis der Stürmer und 
Dränger zur künstlerischen Verschmelzung von Form und In- 
halt : die erstere blieb derb realistisch, während der letztere sich 
in weichliche Sentimentalität und übertriebene Phantasterei 
verlor. Man könnte Herders Theorie mit jeder naturalistischen 
Richtung überhaupt in Beziehung bringen, auch mit dem 
modernen Naturalismus, welcher alle seine, an sich ideale, Pro- 
bleme auf so nüchterne, unpoetische und derb-realistische Art 
löst. Noch in einem anderen Punkt nähert sich der Kunst- 
Naturalismus der Herderschen Theorie: beide streben danach, 
die menschliche Persönlichkeit zum vollen Ausdruck zu bringen, 
der Individualität zu ihren Rechten zu verhelfen, wenn es auch 
auf Kosten der ganzen Menschheit und der allgemeinen Ord- 
nung geschehen sollte. 

So ist es auch in der Aesthetik nicht der Fachmann 
Herder, sondern der Philosoph Kant, welcher unverrückbare, 
feste und absolute Regeln aufstellt, und so für die theore- 
tische Entwicklung der Kunst von Bedeutung ist. Herders 
Verdienst hingegen ist sein unmittelbarer Einfluss auf den 
praktischen Fortschritt der Kunst, die tiefgeheiide Wirkung, 
welche seine genetische Methode in der Kunst hervorgebracht 
hat; wie auf allen Gebieten, so ist auch in der Aesthetik der 
beste Gedanke Herders der des naturgemässen Werdens. Die 
vergleichende Litteraturgeschichte, die germanische Philologie, 
die Forschung auf dem Gebiet der Volkspoesie — alle diese 
Zweige der Wissenschaft gehen im wesentlichen auf Herder 
zurück; man braucht sich nur an die Bedeutung der von ihm 
angeregten Shakespeare-, Ossian- und Homerstudien, an seine 
Wirkung auf den jungen Goethe, an den Einfluss der Volks- 
liedersammlungen, zu erinnern, um Herders Bedeutung für die 
historische Entwicklung der Kunst und vor allem der Litteratur 
zu begreifen. Brachte Kant eine Reform auf dem theoretischen 
Gebiet, so wirkte Herder auf die angewandte Kunst ; stellte der 
erstere absolute Regeln auf, so wies der letztere auf das His- 
torisch-Individuelle hin. Unwillkürlich erinnert uns diese Pa- 
rallele an den anderen, rein litterarischen Gegner, Herders 
an Lessing: auch dieser hatte seine Stellung mehr auf dem 



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— 107 — 

theoretischen Gebiete, und auch er verhielt sich zu Herder, wie 
sich die absoluten Kunstformen und Regeln zu den wandelbaren, 
individuell bedingten Kunstrichtungen verhalten ; und wie Herder 
und Lessing einander nicht ausschliessen, sondern im Gegen- 
teil ergänzen und vervollkommnen, so ergänzen sich auch 
Herder und Kant, wenigstens in ihren wahren Behauptungen, 
und bilden zusammen eine vollkommene Einheit, die nur klarer 
hervortritt, nachdem wir sie beide gesondert und geschieden 
haben. 

7. Schluss. 

Für die Beziehungen Herders zu Kant war die Ansicht des 
ersteien massgebend, dass er ein Philosoph der Wirklichkeit, der 
Natur, sein Gegner aber ein Philosoph des grübelnden Witzes, 
der Schxümetaphysik sei ; wie sehr aber auch Herder selbst davon 
überzeugt war, für uns verhält sich die Sache, nachdem wir die 
beiden Weltanschauungen einander gegenübergestellt haben, ganz 
umgekehrt. Kant und nicht Herder sieht die Wirklichkeit mit 
unvoreingenommenem, freiem Blick; Herder hingegen idealisiert sie 
und interpretiert in sie sein eigenes Ich; es gelingt ihm dadurch, 
seine ganze PersönUchkeit in seiner Weltanschauung zum vollen 
Ausdruck zu bringen, aber dafür gelangt er nicht, wie Kant, 
zum klaren Einblick in die thatsächUche Welt. Dass das wirk- 
liche Verhältnis der beiden Denker demjenigen entgegengesetzt 
ist, welches sich Herder vorstellte, dass die Schuld, welche er 
seinem Gegner zuschrieb, in Wirklichkeit auf ihm selbst lastet, 
bringt eine tragische Ironie mit sich, welche um so mehr unser 
Mitleid mit Herder hervorruft, als er selbst seiner Sache voll- 
ständig sicher war. 

Der Kriticismus war ein harter Prüfstein für Herder; wo 
sein eigenes System nicht fest genug war, wo es in sich 
selbst die Keime des Verfalls trug, da erlag es dem stren- 
gen, klaren Gedanken Kants. Dieser hat selbst mit seiner 
Recension der ,,Ideen" den ersten Schritt zu diesem Prüfen ge- 
than, und Herder hat dasselbe vollendet, indem er in seiner 
Polemik gegen Kant die schwachen Seiten seiner eigenen Theorie 
blossgelegt hat. Die nähere Betrachtung beider Denker hat uns 
gezeigt, wie nur die falschen Aeusserungen Herders Kant wider- 



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— 108 — 

sprechen, während der gesunde Kern seiner Gedanken den letzteren 
nur erg,ä^zt; seine dynamische Weltanschauung, sein ästhetisch 
ausgebildetes Gefühl, nur in reinere Formen gegossen, von jeder 
Stockung, die seine Persönlichkeit mit sich brachte, befreit, 
stehen dem Kriticismus ergänzend zur Seite. Auch für Kant 
scheint diese Polemik ein Prüfstein zu sein, aber an diesem 
bricht nicht der Kriticismus selbst zusammen, sondern nur klarer 
wird es, zu welchen Missverständnissen und Missbräuchen derselbe 
führen kann; die gleichen Vorwürfe erhoben sich auch später, 
entweder gegen Kant selbst von solchen, die wegen ihrer Geistes- 
verschiedenheit Kant nicht verstehen konnten, oder aber gegen 
solche, die sein System weiterzuführen dachten und es nur ver- 
schlimmbesserten. Aul allen Gebieten hat der Kantische Kriti- 
cismus unstreitig einen theoretischen Vorzug vor dem naiven 
ReaUsmus Herders. Das systematische, konsequente Denken war 
überhaupt nicht der Vorzug Herders. Vielleicht weil er nicht so 
sehr nach der reinen Erkenntnis, als nach geistiger Befriedigung 
und innerer Ruhe strebte, störte ihn der Widerspruch des Ideals 
imd der Wirklichkeit nicht ; er erhob in seiner poetisch-religiösen 
Phantasie die Wirklichkeit eigenmächtig zum Ideal; sie beide 
versöhnten sich in seinem naiven Realismus; Welt und Bewusst- 
sein erscheinen bei ihm als eine unklare imd verschwommene 
Einheit. 

Kant hingegen sonderte beide; er durchschnitt die verworrene 
Einheit wie einen gordischen Knoten, und stellte als höchstes 
Ziel der Wissenschaft das ewige Streben nach einer inneren und 
harmonischen Einheit der beiden Teile auf. Inzwischen entwarf 
Herder eine prophetische Zeichnung dieser Einheit; er streute 
fruchtbare Samen in den Boden, welchen sein Gegner vorbereitet 
hatte. Ohne ein geschlossenes System aufzustellen, warf Herder 
nur einzelne Gedanken hin und bahnte ihnen durch öftere 
Wiederholung den Weg, so dass sie später, in unserem Jahr- 
hundert, bereichert wieder auftreten konnten. Während Kant 
selbst mit schöpferischer Hand sein grosses Werk zu Ende brachte 
und die Wissenschaft in neue Bahnen führte, war es die Auf- 
gabe Herders, erzieherisch aut seine Mitwelt zu wirken, allen 
Bestrebungen seines Zeitalters den Stempel der Humanität auf- 
zudrücken und in seinen Zeitgenossen, einem Goethe und einem 



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— 109 — 

Alexander von Humboldt, die Begeisterung für die Forschung 
Bu wecken. 

Während Kants grosses philosophisches System in theo- 
retischer Hinsicht kaum verbessert werden kann, werden Herders 
Gedanken immer weitergeführt werden, ohne dass das Ganze 
darunter litte. Herder selbst hat seine Arbeit zu keinem Ab- 
schluss gebracht, aber sein Beispiel des rastlosen Suchens und 
Porschens, seine für das Ideal und für die Wahrheit begeisterte 
Rede spornte andere zur Vollendung seiner Arbeit an. Wenn 
auch Herder weder ein direkter Vorläufer Darwins und Hseckels^ 
noch ein Begründer der modernen Entwicklungslehre genannt 
werden kann, so ist er doch der Erzieher einer realistischen^ 
naturforschenden Generation. Zu Herders Zeiten waren die Ge- 
danken vom ewigen Werden, von der allmählichen Entwicklung 
sogar in der naiven Form, in welcher er sie ausgesprochen hat, 
etwas ganz Neues, Unerhörtes, etwas, wofür viele Lanzen ge- 
brochen werden mussten, bevor es Eingang fand. Die erste 
Lanze brach Herder; zwar war sein Erfolg nicht vollständig, 
aber seinen Nachfolgern war es schon leichter, den von ihm 
gebahnten Weg zu gehen. Herder that den ersten Schritt zum 
Anbau der neuen Wissenschaft, aber in den alten hergebrachten 
Traditionen befangen, stand er noch nicht fest auf dem un- 
bebauten Boden. Dem ersten Schritt aber folgten andere; man 
eroberte am Ende das Gebiet, welches der naive Realist des 
vorigen Jahrhunderts ahnend vorausgesehen , aber zu früh sich 
im Besitz desselben geglaubt hatte. 

Wurde Kants grosses theoretisches Gebäude in seinem 
eigenen Geiste ausgeführt, so konnte Herder die von ihm 
angebahnte Richtung nicht selbst abschliessen, denn in einer 
Theorie, die so sehr viel Erfahrung und Kenntnisse, wie die 
Entwicklungslehre, fordert, kann unmöglich das Wissen und 
Können eines Menschen ausreichen; da müssen sich viele Men- 
schenkräfte erproben, viele Hände müssen angelegt werden, viele 
Generationen müssen die Wahrheit der neuen Lehre, die Stand- 
hafligkeit des neuen Baues erproben, bis endlich das Ganze in 
seiner abgeschlossenen Vollkommenheit und Dauerhaftigkeit da- 
steht. Dafür aber hat auch die empirische Richtung, welcher 
Herder angehört, den Vorzug, dass sie in ihrer nunmehrigen 



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— 110 — 

Ausbildung allgemeine Anerkennung geniesst, so dass sogar der 
Wert und die Richtigkeit der rein spekulativen Theorie Kants 
daran gemessen wird, inwiefern dieselbe mit dem Entwickelungs- 
gedanken im Einklang steht. Im Laufe der Zeit wurden die Rollen 
gewechselt: unterlag erst der Vorläufer der Entwickelungslehre 
Herder dem freien abstrakten Gedanken des Begründers des 
Kriticismus, so wird jetzt umgekehrt Kant vom Standpunkt der 
ausgebildeten Entwicklungslehre beurteilt. 



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^' ♦ 



Berner Stadien znr PMlosophie nnd ihrer Geschichte. 



aaad II. 



Herauflgegeben yon 

Dr. Ludwig Stein, 

Professor an der UniyersiU&t Bern. 



Der Zusammenhang 



von 



Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung 

und Strafe. 



Von 

Dr. J. I. Nlemlrower. 




k 



Bern. 

Ve r 1 a g von A. Sichert. 
1896. 



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Druck von Steiger & Uie,, Tliunstrasse 6, Born. 



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Einleitung. 

§ 1. Der indirekte Beweis für die Willensfreiheit. 

Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung und Strafe werden 
allgemein in Verbindung mit einander behandelt. Wei:, die Natur 
des Willens betrachtend, sich die Frage vorlegt, ob der mensch- 
liche Wille frei sei, untersucht oft auch die Verantwortlichkeit 
des Menschen für seine Willensäusserungen. Wer andererseits 
das Wesen des Gewissens, der Belohnung und Strafe einer 
kritischen Betrachtung unterwirft, dehnt zumeist seine Unter- 
suchungen auch auf die Beschaffenheit seines Willens aus, dessen 
Kundgebungen den Gegenstand der Verantwortlichkeit bilden. 
Wie die Würdigung eines Gegenstandes dessen genaue Kenntnis 
voraussetzt, setzt natürlich jede Wertschätzung menschlicher 
Willenshandlungen die Kenntnis und Erkenntnis der Natur des 
WoUens, also auch die Entscheidung für oder gegen die Lehre 
der Willensfreiheit voraus. Willensfreiheit und Verantwortlichkeit 
werden daher in Beziehung zu einander gebracht und zwar wird 
Willensfreiheit als die Voraussetzung der Verantwortlichkeit, des 
Rechts und der Pflicht dem Menschen für sein uns gelallendes 
Thun und Lassen, Lust und für sein uns missfallendes Unlust zu- 
zufügen allgemein angesehen und als die Grundbedingung jeder 
wahren Erkenntnis des Gewissensphänomens, der inneren Beloh- 
nung und Strafe, betrachtet. Ohne Willensfreiheit keine Verant- 
wortlichkeit, wird von vielen Denkern mit kategorischer Sicherheit 
behauptet. Vermag der Mensch nach freiem Entschluss zu wollen 

Nimierower, . Willen sfreiheit*. 1 



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— 2 — 

und zu handeln, d. h. zwischen contradiktorischen Gegensätzen 
aus eigener Machtvollkommenheit zu wählen, dann mag er die 
Polgen seiner Wahl tragen ; wird €f aber durch gegebene Causal- 
reihen zu einem bestimmten Wollen und Handeln genötigt, dann 
fehlt jedes Recht zur Bestrafung für böse Handlungen und jeder 
Grund zur Belohnung für gute, wie auch jeder Anlass zur Selbst- 
belohnung und Selbstbestrafung durch das Gewissen. Nun ist 
aber Belohnung und Strafe seit Alters her üblich, fast bei allen 
Völkern in irgend welcher Form üblich, so dass man sie nicht 
ganz hinwegdenken kann, ihre Berechtigung nicht zu leugnen 
vermag — Argumentum e consensu gentium — folglich gilt 
auch ihre Voraussetzung — die Willensfreiheit. Will man der 
Sanktion der üblichen Belohnung und Strafe seitens der Jahr- 
tausende keine Bedeutung beilegen, ist man gegen das Autori- 
tätsprinzip, auf dem allein eine solche Sanktion beruht, dann kann 
man noch immer niclit den Begriff der Verantwortlichkeit und 
seine Voraussetzung, die Willensfreiheit, fallen lassen, denn es 
giebt eine Sanktion der Belohnung und Strafe, die jedem gelten 
muss, — die Sanktion des Gewissens. Selbstzufriedenheit und 
Reue, diese Thatsachen der innern, unmittelbaren Erfaliruög, 
bezeugen die Berechtigung der Strafe und die Verpflichtung zur 
Belohnung bezeugen indirekt die Freiheit des menschlichen 
Willens. Der Mensch ist frei, denn er fühlt sich verantworte 
lieh für seine Handlungen. Der Ausgangspunkt des Beweises 
für die Willensfreiheit ist nun — das Bewusstsein ^) der Ver- 
antwortlichkeit. 

Direkt an das Bewusstsein der Freiheit anzuknüpfen, wie 
Hegel 2) empfiehlt, ist wohl bequemer und einfacher, aber nicht 
richtiger; denn nach dem gegenwärtigen Stande des Problems 
wird im Bewusstsein der Freiheit ein Zeugnis und Erzeugnis der 
physischen Freiheit, der Freiheit des Thuns, aber nicht der 
metaphysischen Freiheit, der Freiheit des Wollens gesehen.*) 
Die Freiheit des Willens wird — zumeist indirekt — aus der 
Thatsache der Verantwortlichkeit zu ermitteln gesucht. Dieser 



') Siehe Eduard v. Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Be- 
wusstaeins, S. 458. «Dasjenige Phänomen, welches am meisten zur Stütze 
des Indeterminismus herangezogen wird, ist die Verantwortlichkeit. 

') Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4. 

•) S. Kap. 1, § 3.. 



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— 3 — 

indirekte Beweis spielt in der Geschichte des Freiheitsproblems 
— von der griechischeti Philosophie an bis auf die neueste — 
eine grosse Rolle. ^) 

§ 2. Willensfreiheit als Voraussetzung der Verantwortlichkeit 
in der Philosophie Griechenlands. 

Schon Aristoteles 2) machte die "Möglichkeit der Gesetz- 
gebimg, der Belohnung und Strafe von der Annahme abhängig, 
dass wir selbst die Urheber unserer Ueberzeugung sind. Dieses 
Abhängigkeitsverhältnis der Verantwortlichkeit leugneten auch 
die Stoiker '"*) nicht ganz, weshalb sie sich ersichtlich grosse 
Mühe gaben, den Begriff der sittlichen Zurechnung mit ihrem 
Determinismus, der aus ihrem Pantheismus unbedingt folgt,*) in 
Einklang zu bringen. Besonders Chrysippus^) war bestrebt^ die 
Möglichkeit der moralischen Verantwortlichkeit auch nach dem 
Determinismus zu wahren ; anscheinend hielt er die Beseitigung 
des indirekten Beweises der Freiheit für ein wesentliches Moment 
des Problems. Dieser indirekte Beweis, die Rücksicht auf die 
nach dem Determinismus bedrohte Verantwortlichkeit, fiel auch 
für den Gegner der Stoa, fib* Epikur^) schwer ins Gewicht zu 
Qiuisten der Willensfreiheit. — Im allgemeinen drangen jedoch 
die alten Griechen kaum in die Tiefen des Problems der Willens- 
freiheit ein. Wie sie sich an die Erklärung der Natur heranwagten, 
ohne vorher die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, die 
Natur der Erkenntnis genauer zu untersuchen, so gingen sie 
auch an die Lösung ethischer Fragen, an die Peststellung prak- 
tischer Weisheitsregeln, sittlicher Lebensprinzipien, ohne die 

*) Die Untersuchung, die ich anstelle, erheischt keine Darstellung 
der Geschichte des indirekten Beweises für die Willensfreiheit, so dass ich 
mich auf eine Darlegung der Bedeutung dieses Beweises bei tonangebenden 
Philosophen der alten, neuen und neuesten Epoche beschränken darf. 

*) Siehe Zeller, Eduard, Philosophie der Griechen. 3. Aufl. Bd. 2, 2. 
S. 587-591. 

* •) Siehe Zeller a. a. 0., Bd. 3, 1, S. 160-168. 

*) Ebendas. S. 162. „Der Determinismus des stoischen Systems ist 
die unmittelbare Folge seines Pantheismus.* 

») Ebendas., Bd. 3, 1, S. 167. 

•) Ebendas., S. 424. 



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— 4 - 

Natur des Willens gründlich zu analysieren. Erst in den letzten 
Perioden der griechischen Philosophie begann man — wie in 
erkenntnistheoretischer Hinsicht, so auch in psychologisch-ethischer 
— nateh dem Warum des Warum zu fragen, das Vermögen des 
Willens zu zergliedern. Ich hebe die Oberflächlichkeit der Griechen 
in diesem Punkte hervor, um Hartmann zu begegnen, nach 
welchem i) die Griechen den klassischen Beweis für xiie Verein- 
barkeit von Determinismus und Verantwortlic'hkeit geliefert haben. 
Der Umstand, dass sich bei den Hellenen ein intensives Gefühl 
innerer Verantwortlichkeit vereint mit dem ßewusstsein einer 
imerbittHchen Notwendigkeit und Prädetermination des eigenen 
Handelns vorfindet, widerlegt nach Hartmann den indirekten 
Beweis für die Willensfreiheit, würde aber, wie ich glaube, den- 
selben erst dann widerlegen können, wenn sich die Griechen 
der ganzen Tragweite des Problems der Freiheit bewusst worden 
wären und dennoch die Annahme der Unfreiheit des Willens in 
Einklang mit dem Bewusstsein der Verantwortlichkeit gezeigt 
hätten — was jedoch nicht der Fall ist, da sie bloss die Ober- 
fläche des Problems gestreift und sich noch dazu oder gerade 
deswegen in Widersprüchen verstrickt haben. Selbst bei Plato 
finden sich offenbare Widersprüche 2) und selbst Aristoteles be- 
rührte bloss die Frage der morahschen Freiheit. ^) In der Zeit 
der Stoa aber, in der die Tiefe und Tragweite des Problems 
erkannt wurde, fühlte man thatsächlich den Gegensatz von De- 
terminismus und Verantwortlichkeit, so dass man sich alle Mühe 
gab, auf künstliche Weise die Kluft, die die fraglichen Begriff'e 
trennt, zu überbrücken. Kurz, man darf die Griechen nicht als 
Zeugen in der Frage der Willensfreiheit anrufen, weil bei ihnen 
viel zu wenig Klarheit in Bezug auf diese Frage herrschte, weil 
die Tiefe des Problems der Willensfreiheit imd die Weite seiner 
Konsequenzen erst in der letzten Periode der eigentlich grie- 
chischen Philosophie und in der Neuzeit voll und ganz erkannt 
wurde. 



') A. a. 0. S. 407. 

') Siehe Ludwig Stein, Arohiv für die Geschichte der Philosophie. 
Bd. 2, S. 200. 

') Siehe Schopenhauer, Die beiden Grundprohleme der Ethik, S. 64^ 
in der Gesamtausgabe. Leipzig 189L 



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§ 3. Willensfreiheit als Voraussetzung der Verantwortlichkeit 
in der neuen und neuesten Philosophie. ■ 

Die Neuzeit machte ernst — wie mit den Grundfragen der 
Erkenntnis, mit der Wissenschaft des Wissens, so auch mit der 
Grundfrage der Ethik — mit dem Problem der Willensfreiheit 
und wieder nimmt der indirekte Beweis eine hohe Stellung ein 
im Reiche der Beweise für die Freiheit des menschlichen Wollens. 
Es gentigt bloss einen Ausspruch des Descartes anzuführen, des 
Vaters der neuen Philosophie, unter dessen Zeichen die Philo- 
sophen der Neuzeit mehr oder weniger standen. Descartes sagt^) 
— ^damit** — mit der Willensfreiheit — ^ist er" — der Mensch 
nämlich — „gewissermassen der Urheber seiner Handlungen wnd 
kann deshalb gelobt werden. Denn die Automaten lobt man 
nicht wegen der genauen Ausführung aller Bewegungen, auf die 
sie eingerichtet sind, aber man lobt ihren Werkmeister wegen 
der genauen Verfertigung derselben, weil er dies nicht not- 
wendig^ sondern freiwillig vollführt hat.' Diese Annahme, dass 
Lob, Zurechnung, Verantwortlichkeit nur auf Wesen, die „durch^) 
ihren Willen, d. h. frei handeln,** bezogen werden können, diese 
Annahme, die für die Lehre der Willensfreiheit geltend gemacht 
wurde und wird, durchzieht die ganze Geschichte des Problems 
der menschlichen Freiheit in der Neuzeit, wird bekanntlich von 
Kant betont, wirkte auch bei Schopenhauer und veranlasste 3) 
ihn zur Konstruierung eines mehr künstlichen Begriffs der Frei- 
heit, nachdem er seine Untersuchung mit den Worten schliesst:^) 
„Alles was geschieht vom Grössten bis zum Kleinsten geschieht 
notwendig." Quid quid fit, necessario fit. Bei Kant^) kommt 
allerdings seine kategorisch-absolute Auffassung der Vergeltung 
und bei Schopenhauer seine verhimmelnde Ueberschätzung des 
Willens, der ihm das Eins und Alles ist, in Betracht, aber auch 
Denker, die von Schopenhauer völlig und von Kant zum grossen 
Teil unabhängig sind, sehen eine Gefahr für den Begriff der 
Verantwortlichkeit in der Leugnung der Willensfreiheit. So meint 



*) Die Prinzipien der Philosopliie, I. Teil, § 37. 

*) Ebendae. 

*) Die beiden Grundpr. a. a. 0. S. 93. 

*) Ebendas., S. 60. 

») Siehe Kap. 1, §§ 11, 12. 



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— 6 — 

Zeller, ^) das Haupt der historischen Schule, dass die gleiche 
Schwierigkeit jede deterministische Ansicht gedrückt hat: den 
sittlichen Anforderungen gerecht zu werden und die Möglichkeit 
der sittlichen Zurechnung zu wahren. Aehnlich diesem Ausspruche 
des Klassikers der Philosophiegeschichte Griechenlands äussert 
sich Kuno Fischer, ^j der Klassiker der neuen Philosophiegeschichte : 
„Entweder man verneint alles Recht zu einer moralischen Wert- 
bestimmung, alle Verschuldung des moralischen Unwertes, die 
Thatsache desjenigen Bewusstseins, welches Gewissen heisst oder 
man muss die aufgeworfene Frage bejahen.*^ In demselben Fahr- 
wasser bewegt sich der ideale Realist v. Kirchmann, indem er 
sagt : ^) „Im Leben wird diese Freiheit des Willens nicht bezweifelt 
und das bürgerliche wie das Strafrecht ist auf Voraussetzung 
derselben errichtet. Nur freie Handlungen begründen Verbind- 
lichkeiten, nur freie Handlungen werden bestraft. Auch die Reue, 
die Gewissensbisse, die Busse im Moralischen ruhen auf diesem 
Begriffe der Freiheit." Noch deutlicher äussert sich Herrmann 
Ulrici, ein Vertreter des Idealismus, des Neufichteanismus. In 
aller Entschiedenheit meint er:*) „dass mit der Freiheit des 
Willens, mit der Möglichkeit sich anders zu entschliessen, zu- 
gleich alle Verantwortlichkeit des Menschen für sein Thun und 
Lassen, wie überhaupt alles ethische Verhalten, aller Unterschied 
zwischen Recht imd Unrecht, Gut und Böse, Tugend und Laster, 
hinwegfällt." Als Repräsentant der Juristen mag hier noch Rüm- 
melin^) genannt werdfen, nacli welchem^) alle Strafgesetze — 
indeterministisch sind. Wie er glaubt, kann ') man sich nicht 
nach dem Determinismus die bürgerliche Strafe erklären, denn®) 
wie kann man strafen für ein unvermeidliches Thun?^) Der 
Determinismus muss sich wenden und drehen, darauf eine Antwort 



') Philosophie der Griechen. Bd. 3, 1. S. 164. 

*) üeber das Problem der menschliehen Freiheit. Festrede. Heidel- 
berg 1875. S. 20. 

') Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral. 2. Aufl. Berlin 1873. 
S.8I, 82. 

*) Gott und der Mensch, I. Leipzig 1874. S. 7, 8. 

^) Reden und Aufsätze. Neue Folge. Freiburg und Tübingen 1881. 

«) S. 44. 

') Siehe S. 58-60. 

«) S. 46. 

") Ebendas., siehe auch S. 49, 



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zu geben und eine andere als eine gesuchte und künstliche 
Deutung ist auch kaum denkbar." — Diese Aeusserungen her- 
vorragender Denker, die leicht vermehrt werden können, zeigen 
zur Genüge, mit welcher Bestimmtheit die Willensfreiheit als die 
Voraussetzung der innern und äussern Verantwortlichkeit be- 
trachtet wird. 

§ 4, Die Betrachtung der Willensfreiheit für dieVoraussetzung 

der Verantwortlich keif als Hindernis einer wirklichen Lösung 

des Freiheitsproblems, 

Die Gleichsetzung von Unfreiheit des Willens mit Freiheit 
von jeder Verantwortlichkeit, diese Gleichsetzung, deren Berech- 
tigimg untersucht werden wird, ist, wie mir scheint, ein Hemm- 
schuh der Entwicklung des Preiheitsproblems gewesen, ein 
Hindernis einer wahren Lösung, gleichsam einer Auflösung des 
Problems. Denn der Umstand, dass man Verneinung der Willens- 
freiheit mit Abschaffung der allgemein üblichen und seitens des 
Gewissens sanktionierten Belohnung und Strafe identifizierte und 
dann natürlich einen Schritt weiter gehend, der Aufhebung der 
Sittlichkeit gleich stellte, machte und macht zum Teil eine 
objektive, völlig unparteiische Behandlung der Frage unmöglich. 
Die tiefsittliche Befürchtung, durch diese Frage die Grundlagen 
der Sittlichkeit zu erschüttern, muss zu allen Zeiten auf den 
Denker, der sie behandelt, beengend und beklemmend wirken 
und seinen Gedankenstrom hemmen und dämmen. Das die Unter- 
suchung der Frage begleitende Gefühl mit geistigem Dynamit 
zu spielen, sich auf einem geistigen Vulkan zu bewegen, eine 
Frage zu behandeln, deren Lösung gefährliche, Umstürzler ische 
Folgen für die SittUchkeit haben kann, eine Umwertung oder 
richtiger Unv/ertxxng aller sittlichen Werte, eine Vernichtung 
aller moralisch-rechtlichen Begriffe herbeizuführen vermag — 
dieses Gefühl beeinflusst das Denken, bestimmt die Stellungnahme 
zum Problem und die Interessen der Sittlichkeit bestechen zu 
Gimsten der Willensfreiheit. In Bezug auf Sokrates sagt Ludwig 
Stein,^) das^ bei ihm das religiös-sittliche Interesse zuweilen so 
entschieden vorwog, dass darunter die rein philosophische Seite 
der behandelten Probleme leiden musste. Bezüglich des Problems 



Arohiv a. a. 0., Bd. 2, S. 199. 



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— 8 — 

der Willensfreiheit lässt sich dasselbe von vielen Philosophen be- 
haupten. Wie der Theologe es zumeist bloss zu einer Philosophie 
zweiten Ranges bringt, weil er nicht voraussetzungs- und rück- 
sichtslos an die Frage herantritt, sondern vielmehr mit einer 
gewissen Bangigkeit irgendwie mit der Bibel in Konflikt zu 
geraten und einen Streit zwischen seinem Bekenntnis und seiner 
Erkenntnis, zwischen seinem Verstände imd seinem Herzen heraut 
zu beschwören, so lange an seinem Denkstoffe herumarbeitet — 
unbedingt nach bestem Wissen und Gewissen — bis sein Geist 
das zu bestätigen scheint, was sein Gefühl längst geahnt hat, 
kurz, wie der Theologe seiner religiösen Interessen wegen mit 
Voreingenommenheit philosophiert, so philosophiert oft auch der 
Philosoph in Bezug auf das Problem der Willensfreiheit — unter 
dem Einflüsse seiner sittlichen Interessen und voreingenonunen 
für die Willensfreiheit, die ihm als die Grundlage jeder ethischen 
Verantwortlichkeit, der Begriffe Gut und Böse u. s. w. gilt. 
Denn gewöhnlich steht der Mensch nicht jenseits von Gut und 
Böse und ist nicht in der Lage, mit der genialen Kälte eines 
Nietzsche i) die brennendsten Probleme der Ethik zu behandeln, 
sondern ist bemüht, mehr unbewusst — durch die Wärme der 
Begeisterung für die in Frage stehenden Ideen und Ideale der 
Sittlichkeit betäubt — die ihm teuem Beg^riffe irgendwie, sei es 
durch Kunstmittel, zu retten. Es erscheint mir daher nicht als 
„seltsam", wie es Herbart 2) erscheint, dass Jakobi und andere 
sich anstrengen, „die Lehre von der Freiheit zu behaupten und 
sich selbst, trotz aller Gegengründe, die sie kennen, davon zu 
überreden"; denn diese Thatsache erklärt sich aus der herrschen- 
den Besorgnis, durch die Leugnung der Willensfreiheit der Sittr- 
hchkeit einen Stoss zu versetzen. 

§ 5. Die Willensfreiheit als Privilegium des Menschen. 
Die ausgeführte Auffassung der Willensfreiheit als die Basis 
der Verantwortlichkeit und der Sittlichkeit überhaupt bestärkt 
die Annahme, dass die menschliche Freiheit ein Privilegium des 

*) Uebrigens herrscht auch bei Nietzsche keine Kälte der Objektivität 
vor, sondern vielmehr — um der Wahrheit die Ehre zu geben - die Glut 
und Wut, aber auch ein gewisse Poesie der Immoralität. 

') Briefe an Karl Griepenkerl in der Gesamtausgabe. Leipzig 1851. 
Bd. 9. Seite 119. 



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- 9 — 

Menschen sei, weshalb man die Freiheit mit der Energie ver- 
teidigt, mit der man angefochtene Vorrechte zu verteidigen 
pflegt. Dass die Freiheit als Adelsbrief der Menschheit angesehen 
wird, dass Gefühlsmomente bei der Behandlung der Freiheit 
mitspielen, kann durch Anhäufung diesbezüglicher Aussprüche 
leicht erhärtet werden; ich begnüge mich jedoch mit der An- 
führung dreier Beispiele aus dem Altertum, der Neuzeit und der 
neuesten Zeit. Am Ausgange des Altertums preisen der Neu- 
platoniker Plotinus und der Cyniker Oenomaus^) die Willens- 
freiheit als das Steuer und die Grundlage des menschUchen 
Lebens. Ohne dieselbe, heisst es bei Plotinus,-) wären wir keine 
Menschen, sondern von aussen bewegte Teile des Weltganzen. 
— In der Neuzeit singt Jakobi das Hohelied der Willensfreiheit. 
,jOhne Freiheit,*^ erklärt er,^) „wäre keine wahre Achtung, Be- 
wimderung, Dankbarkeit und Liebe möglich, wäre alles, was den 
Menschen adelt und erhebt, das Wahre, Schöne und Gute nur 
Täuschung, Lug und Betrug;" und er schHesst^) seine Betrach- 
tung über die Willensfreiheit — höchst bezeichnend — mit dem 
Worte: ^Ziehe die Schuhe aus, denn hier ist ein heiliges Land." 
Nicht weniger pathetisch ist in der Gegenwart Hugo Sommer, 
der in dem Geiste Lotzes das Problem zu lösen sucht. Folgende 
Sätze aus seiner Abhandlung mögen hier beigefügt werden als 
Beweis, dass auch in der Jetztzeit Gemütsausbrüche bei der 
Behandlung des Freiheitsproblems sich geltend machen.^) „Gross 
und bewundernswert ist in der That diese im Prinzip unüber- 
windliche Kraft des freien Willens. Nichts in der Welt kann 
den freien Willen des Menschen brechen, der fest und treu auf 
seinen Entschlüssen beharrt, keine Drohungen, keine Verlockungen, 
keine Marter, selbst nicht die Schrecken des Todes. ^ Ja, Sommer 
meint sogar,**) ,,dass die Thatsachen, die für die Willensfreiheit 
sprechen, nicht durch theoretische Gründe begreiflich gemacht 
werden können; denn ihr Gewicht beruht allein auf gefühls- 

') Zeller, Philosophie der Griechen. Bd. 8, 1, S. 770. 
') Ebendas., Bd. 3, 2., S. 585-537. 

■) Siehe Jakobis sämtliche Werke, Bd. 2, S. 320 -323; Bd. 4, S.29,30. 
*) Ebendas., Bd. 2, S. 323. 

^) lieber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit. 
2. Aufl. Berlin 1888. S. 18. 
") Ebendas., S. 19. 



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— 10 — 

massiger Wertschätzung. ** Dieser Umstand nmi, dass viele sich 
auf einem teils heiligen, teils gefährlichen Boden zu bewegen 
glaubten bei der Betrachtung der Freiheitsfrage, trägt zur Er- 
klärung der Inkonsequenzen^) bei, die sich hervorragende Denker 
der Annahme der Willensfreiheit zu Liebe zu Schulden kommen 



') So lassen sicli die Neuplatoniker (s. Zeller, Philosophie der Griechen ; 
Ploün, Bd. 8, 2., S. 385-387: Porphyr, ebendas. S. (>34; Jamblioh, ebendas. 
S. 710; Hierokles, ebendas. S. 766; Syzian, ebendas. S. 773; Proklus, ebendas. 
S. 813; Boethius, obend. S. 862) eine Inkonsequenz zu Schulden kommen 
durch ihre Anerkennung zur Willensfreiheit, denn aus ihrem Praedetermi- 
nismus, aus ihrer Leiire, dass das ganze irdische Dasein ein Nachspiel 
oder eine Wiederholung eines überirdischen Seins ist und so durch diese 
Präexist^nz bestimmt wird, lässt sich nicht« anderes als ein strenger 
Determinismus folgern. Du Bois Reymond in seiner berühmten Schrift 
„Die sieben Welträtsel", S 89, sagt: »Der blosse Name der prästabilierten| 
Harmonie, den Leibniz seinem System giebt, schliesst Freiheit aus.* Mit! 
demselben Rechte kann man auch sagen : Der blosse Name „Präexistenz- 
lehre'* schliesst jede Freiheit aus. Jodl in seiuer Geschichte der Ethik 
(Bd. I, Stuttgart 1882, S. 23) zieht thatsiiohlich aus der Präexistenzlehre 
die Konsequenz, dass das Streben nach dem Guten gewissermassen mit- 
gebracht, angeboren sei, was sich natürlich auf das Streben nach dem 
Bösen übertragen lässt und sich so eine unerbittliche Determination 
des Willens ergiebt. Dessenungeachtet nehmen die Neuplatoniker die 
Freiheit des Willens an, weil sie ihnen als die Voraussetzung der Ver- 
antwortlichkeit und als das kostbarste (rut und Recht des Menschen er- 
scheint. Es darf jedoch nicht ausser Acht gelassen werden, dass die 
Neuplatoniker diese Inkonsequenz von Plato gleichsam geerbt haben, der 
sich auf dem Gebiete der Freiheitslehre in Widersprüchen bewegt, der 
ebenfalls keine Prädetermination des Willens annimmt. Siehe Zeller, 
Bd. 2, 1.. S. 718-720. Plato selbst wird wohl kaum durch die Rück- 
sicht auf die nach dem Determinismus bedrohte Verantwortlichkeit 
zur Freiheitslehre bestimmt worden sein, da er der Vertreter — und 
zwar der erste -— der sogenannten relativen Straftheorie, der Er- 
ziehungstheorie ist, einer Theorie, die den Begriff der Freiheit entbehren 
kann, aber von fatalistischem Prädeterminismus hält ihn wohl die 
fragliche Rücksicht ab, denn nach dem Prädeterminismus giebt es über- 
haupt keine Verantwortlichkeit. Die angeführten Momente sind auch 
bezüglich der Inkonsequenzen mit zu berücksichtigen, die sich bei Augustin 
und Sotus Erigena finden. Siehe Jodl a. a. 0., Bd. I, S. 61 und Ritter, 
Christliche Philosophie, 1. Bd., S. 466, 467. — Mit diesem Hinweis auf die 
Inkonsequenzen der Neuplatoniker und der Scholastiker muss ich mich 
begnügen, da ich hier nicht die zahlreichen Inkonsequenzen registrieren 
darf, die die Annahme der Willensfreiheit nach den verschiedensten Seiten 
hin zur Folge hat. , 



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— 11 — 

lassen. Denn dieser Umstand trübte das Denken und störte die 
Unparteilichkeit des Denkens. Diesem Umstände hat man auch 
die babylonische Verwirrung der Terminologie des Freiheitspro- 
blems^), die vielfach vorkommende Vergewaltigung des technischen 
Ausdrucks zu verdanken ; denn die gef ühlsmässige Wertschätzung 
des Freiheitsbegriffs erschwert die Verzichtleistung auf den Aus- 
druck Freiheit und bestimmt deshalb zu Umwegen in der Be- 
zeichnung der Notwendigkeit des menschlichen Handelns. Die 
Vorliebe für's Wort Freiheit auch seitens deterministischer Denker 
lässt sich folgendermassen psychologisch erklären. Ein Wort 
nämlich, das seines Inhaltes wegen, der Vorstellung wegen, die 
es ausdrückt, in uns Gefühle erzeugt, behält seine Wirkung auch 
dann noch, wenn sich sein Inhalt als unreal erweist, wenn es 
als inhaltsleer erkannt wird ; denn nach dem Gesetze der Asso- 
ciation ketten sich Wort, Vorstellung und das sie begleitende 
Gefühl so eng an einander, dass beim Auftritt des einen Gliedes * 
auch die andern erscheinen, dass z. B. dieses allgemeine Gesetz 
aufs Wort Freiheit angewandt — das Wort Freiheit, auch wenn 
man es deterministisch fasst, seine Wirkung aufs Gefühl, seine 
Wirkung als allgemeiner Ausdruck der Grundlage des Sittlichen, 
des Menschwerdens ausübt. Freilich wirkt die Erkenntnis der 
Unrealität eines fragUchen Wortes manchmal so mächtig, dass 
die Associationskette gebrochen wird und dieses Wort wie für 
unsern Verstand, so auch für unsere Gefühle ein leerer Schall 

') Was in der Spraclie des einen Systems Indetermiaismus ist, ist 
in der Sprache des andern Determinismus. Was der Eine mit Notwendig- 
keit bezeichnet, bezeichnet der Zweite mit Freiheit. Zwar sind die ter- 
minologischen Ausdrücke fast immer, in der Philosophie mindestens, 
mehrdeutig, was sich leicht aus der Thatsache erklärt, dass kein System 
eine Schöpfung aus dem Nichts ist, sondern die Fortsetzung oiner vor- 
angegangenen Philosophie, deren Terminologie es natu/rgemäsa übernimmt 
und seinen Zwecken entsprechend umarbeitet^ jedoch ist diese Vieldeutig- 
keit nur selten der Vieldeutigkeit der Terminologie des Freiheitsproblems 
ähnlieh, nur selten zu so vielen Wenn und Abers führend, die Vorliebe 
für ein bestimmtes Wort verratend, ja einen gewissen innern Zwang zur 
Anwendung dieses Wortes klar zeigend, wie es bezüglich des Freiheits- 
problems der Fall ist. Ich habe das Wort im Auge, das fast kein System 
gerne entbehrt, das Wort Freiheit. So bezeichnet beispielsweise Leibniz» 
die Notwendigkeit, mit der unser Wollen aus imserer Individualität folgtJ 
noch immer als Freiheit. Siehe Zoller, Geschichte der deutschen Philo-I 
Sophie seit Leibniz. 2. Aufl. S. 118, HO. ^ 



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— 12 -- 

Avird, jedoch kann dies in Bezug auf das Wort Freiheit kaum 
der Fall sein, denn es bleibt auch für den konsequentesten De- 
terminist der Ausdruck politischer, religiöser und socialer Ideale. 
Allenfalls lässt sich behaupten, dass die Gefühlsmomente, die 
das Problem der Willensfreiheit begleiten und zwar infolge der 
Ueberschätzung der Willensfreiheit als das bedeutendste Vorrecht 
des Menschen und der Betrachtung derselben als das Fundament 
der Sittlichkeit begleiten, nicht nur als Hindernis einer objektiven 
Betrachtung des Problems, sondern auch einer klaren und un^ 
zweideutigen Darstellung derselben anzusehen ist. Zur ßeseiti- 
gu7ig dieses Hemmnisses beizutragen^ die Stichhaltigkeit des 
indirekteti Beweises für die Willensfreiheit zu prüfen ^ ist die 
Aufgabe vorliege?ider Abhandlung. 

§ ß. Die beiden Fragen vorliegender Abhandlu?ig, 

Zwei Fragen bilden den Gegenstand der Untersuchung: 

1. Kann der Begriff der Verantworthchkeit den der Willens- 
freiheit entbehren oder fällt er zugleich mit der Verneinung des 
letztern? Weiter und allgemeiner gefasst lautet die Frage: 
Welcher Zusammenhang besteht thatsächlich zwischen den Be- 
griffen Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung und Strafe? 

2. Wie kommt es, dass der sogenannte gesunde Menschen- 
verstand gewöhnlich ein unlösbares Verhältnis zwischen Willens- 
freiheit und Verantwortlichkeit annimmt? Mit andern Worten: 
Wie erklärt sich das Fortbestehen des indirekten Beweises für 
die Willensfreiheit trotz der vielfachen Ablehnung desselben? 

Die zweite Frage tritt freilich erst auf nach Erledigung der 
ersten zu Ungunsten des indirekten Beweises ; sie tritt aber dann 
mit Notwendigkeit auf; denn es genügt nicht, eine weit ver- 
breitete Annahme abzulehnen, sondern es gilt auch die Momente 
ausfindig zu machen, die die irrige Annahme entstehen und 
bestehen lassen. So begnügt sich z. B. Spinoza nicht mit der 
Verbannung des Zweckgedankens aus der Naturerklärung, sondern 
sucht die Momente aufzuweisen, die den Menschen für die teleo- 
logische Naturbetrachtung stimmen. So befasst sich auch Spinoza 
mit der hier gestellten zweiten Frage. ^) 

') Sii^he Kap. 1. § 18. 



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- 13 - 

ß 7. Der Unterschied zicischen dem E nt stehen und dem 

Bestehen des Verantworlichkeitsbegriffs als erster leitender 

Gedanke dieser Untersuchung, 

Die gelieferte Untersuchung der ersten Frage, der Frage 
nach den Beziehungen der Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit^ 
wird von dem Gedanken beherrscht, dass die traghchen Be- 
ziehungen nicht auf allen Stufen der Entwicklung des Verant- 
wortlichkeitsbegriffes dieselben sind, dass man in dieser Hinsicht 
vornehmlich zwischen der Genesis, dem Entstehenkönnen und 
dem Fortbestehenkönnen der VerantwortUchkeit ohne Willens- 
freiheit unterscheiden darf und wie. es sich zeigen wird, unter- 
scheiden muss. Wenn man nur die Verantwortlichkeit als ein 
Produkt der Entwicklung betrachtet und in der Gegenwart 
stehen die meisten Denker auf dem Hegelisch-Darwinistischen 
Standpunkte der Entwicklungslehre,^) so leuchtet die gemachte 
Unterscheidung ein ; denn es ist doch klar, dass Begriffe auf dem 
Höhepunkt ihrer Entwicklung, gleichsam in ihrem Mannesalter 
auf so manchen Faktor verzichten können, der ihnen in ihrer 
Jugend auf den ersten Stufen ihres Werdens unentbehrlich war. 
Also ich unterscheide zwischen dem Werden des Verantwort- 
Uchkeitsbegriffes und dem Sein desselben, nachdem er bereits 
geworden ist und frage daher: Lässt sich der ^Begriff der Ver- 
antwortlichkeit auch ohne Annahme der Willensfreiheit aufrecht 
erhalten und wenn, ja, lässt sich auch die Entstehung des Ve?^- 
antworlichkeitsbegriffs denken ohne Zugrundlegung des Frei- 
heüsbegriffs ? 

§ 8. Die Verbindung der Untersuchung des Zusammenhanges 

vonWillensfreiheit undVerantwortlichkeit mit der Feststellung 

des Zusammenhanges von Gewissen^ Belohnung und Strafe als 

zweiter leitender Gedanke vorliegender Abhandlung. 

Die Beantwortung der gestellten Fragen wird wohl erheblich 
erleichtert durch die Darstellung des Verhältnisses zwischen der 

*) Auch abgesehen von den AnhäQgern Darwins und Spencers be- 
trachten viele die Sittlichkeit Überhaupt als ein Produkt der Entwicklung. 
So Jodl in seiner Geschichte der Ethik an mehreren Stellen, und Karl 
Kösfclin, Geschichte der Ethik, I. Tübingen 1887. S. 3. Vgl. Jehring, Der 
Zweck im Recht. Bd. 1. S. 118 f. 



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— 14 — 

Innern und der äussern Verantwortlichkeit, zwischen Gewissen 
auf der einen, Belohnung und Strafe auf der andern Seite, wie 
auch zwischen der Zurechnung des Guten und der des Bösen. Die 
eigentliche Rechtfertigung dieses Unternehmens bietet erst der 
Erfolg desselben, die Erkenntnis, dass das Verhältnis der Ver- 
antwortlichkeit und Willensfreiheit zu einander dem gegenseitigen 
Verhältnis von Gewissen, Belohnung und Strafe ähnlich sei. Ich 
glaube jedoch schon hier darauf hinweisen zu können, dass so- 
wohl die Peststellung der Beziehungen zwischen innerer und 
äusserer Verantwortlichkeit als auch die Darlegung der Be- 
ziehungen zwischen belohnender und strafender Zurechnung 
nicht nur an sich, sondern auch bezügUch der Beurteilung des 
indirekten Beweises für die Willensfreiheit von Bedeutung sind. 
Die Peststellung des thatsächlichen Zusammenlianges zwischen 
Gewissen einerseits, Belohnung und Strafe andererseits ist des- 
halb für das Problem der Willensfreiheit von Wichtigkeit, weil 
die Säulen der letzteren, die Belohnung und die Strafe, ihre 
Hauptstärke, ihre Tragkraft erst durch die Sanktion des Gewissens*) 
erlangen, so dass es viel auf ihr wirkliches Verhältnis zum Ge- 
wissen ankommt. Die Schilderung dieses Verhältnisses ist in der 
Jetztzeit um so wichtiger, als gegenwärtig von mehreren Seiten 
der Zusammenhang von Gewissen und Strafe, nach einer be- 
stimmten Seite hin, jede Einwirkung der Strafe aufs Gewissen 
des Verbre(;hers bestritten wird. So meint Nietzsche,^) dass die 
Strafe im Schuldigen kein Gefühl der Schuld erzeugt, denn wenn 
er auch seine That bereut, so ist dies kein Ausfluss des Gewissens, 
sondern vielmehr ein Akt der Erniedrigung, der noch schlimmer 
sei als die verbrecherische That selbst. Diese Behauptung 
Nietzsches entspringt allerdings seiner Weltanschauung, seiner 
Anbetung des unbeugsamen, hartnäckigen Kraftmenschen, für 
welchen Reue eine zu missbilligende Schwäche ist, und ist daher 
nicht ernstlich aufzufassen; aber von einer andern Seite, der 
mehr Bedeutung zuzumessen ist, seitens der Kriminalanthropo- 
logie ItaUens, wird ebenfalls die Schärfung und die Stärkung des 
Gewissens durch die Strafe in Abrede gestellt und zwar gestützt 



') Siehe § 1. 

*) Siehe Hugo Kaatz, Die Weltanschauung Fried r. Nietzsches. I. Teil. 
Dresden und Leipzig 1892. Seite 48-50. 



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— 15 — 

auf die Statistik der Rückfälle. ^) Durch diese Leugnung einer 
bedeutendem Rückwirkung der Strafe aufs Gewissen erleidet 
auch die Sanktion der Strafe durchs Gewissen einen Schlag, 
weshalb es als dringend erscheint, den gegenseitigen Einfluss 
von Gewissen und Strafe zu bestimmen. Ebenso erheischt es das 
Interesse des Preiheitsproblems das Verhältnis der Zurechnung 
des Guten zur Zurechnung des Bösen zu bestimmen, damit sich 
die Thatsache kläre, dass man als Beweis für die Realität der 
Willensfreiheit stets die Zurechnung des Bösen und fast niemals 
die des Guten anführt, eine Thatsache, die Paulsen-) als auf- 
fallend findet, die er im Dienste des Determinismus verwertet. 
Kurz, eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Willens- 
freiheit und Verantworthchkeit kann nur gewinnen, wenn sie 
mit der Darstellung der gegenseitigen Beziehungen zwischen 
Gewissen, Belohnung und Strafe verbunden wird. 

§ 9, Die wahrscheinlicJien Gründe der Abhängigkeitserklärung 
desVerantwortlichk&itsbegriffes von der Freiheitslehre, 

Wie ich in Bezug auf die Frage nach der Berechtigung 
der Auffassung, die die Willensfreiheit als Voraussetzung der 
Verantwortlichkeit betrachtet, die Gesichtspunkte andeutete, von 
welchen aus ich die Frage betrachte, werde ich auch in Bezug 
auf die zweite Frage, auf die Frage nach den Gründen, die es 
dem Menschen erscheinen lassen, als ob der Satz: „Der Mensch 
ist für sein Thun und Lassen sich selbst und andern verant- 
wortlich," nur als Nachsatz des Urteils: „Der Mensch ist in seinem 
Wollen und Handeln frei" ; seine Gültigkeit hat, kurz andeuten, 
welchen Weg ich einschlage. — Die meisten Irrtümer entstehen 
entweder durch Verwechslung ähnlicher, verwandter Begriffe 
mit einander oder durch unberechtigte Verallgemeinemngen der 
Beziehungen eines Begriffs. Diese allgemeine und allgemein an- 
erkannte Erkenntnis auf die vorliegende Frage angewandt, lässt 
von vornherein vermuten, dass sowohl Verwechslungen der 
Willensfreiheit oder der Willensunfreiheit mit ähnlichen Begriffen, 



*) Cesare Lombroso, Der Verbrecher in antliropologisoher, ärztlicher 
imd juristischer Beziehung. Deutsch von Fränkel. Hamburg 1887. Bd. 1., 
Teil 3, Kap. 6. Dril, Der verbrecherische Mensch im Juriditechesky Djestnik 
1882. Heft 11, 12, zieht die Konsequenzen der Aneicht Lombrosos. 

») System der Ethik. 3. Aufl. Berlin 1894. Bd. 1. S.421. 



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— IG — 

als auch die Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses ge- 
wisser Verantwortlichkeitstheorien von der Freiheitslehre auf die 
Verantwortlichkeit schlechthin die Annahme erzeugten und be- 
festigten, dass Verantwortlichkeit nur als Konsequenz der Willens- 
freiheit denkbar sei. Ich sage sowohl Verwechslung ähnlicher 
Begriffe, als auch die Uebertragung gewisser Beziehungen eines 
Teiles aufs Ganze, trotzdem entweder dieses oder jenes ausreichen 
würde, weil weitverbreitete und lanr/ anhaltende Annahmen 
auf einen komplizierten Hintergrund, auf mehrere und manig' 
fache GrÜ7ide hinweisen. 

§ 10. Entwurf. 
Eine Lösung der gestellten Fragen im Sinne der vorigen 
Paragraphen erfordert nun : a) eine Zusammenstellung der Theorien 
der Freiheit oder Unfreiheit des Willens, b) eine Darstellung der 
Straftheorien, c) eine Darstellung der Gewissenstheorien, d) eine 
Darstellung der Genealogie des Gewissens und der Strafe, e) eine 
Feststellung der Beziehungen zwischen Gewissen imd Belohnung 
oder Strafe, f) eine Bestimmung der Beziehungen zwischen 
Belohnung und Strafe unter besonderer Berücksichtigung des 
Umstandes, dass die Belohnung stets in den Hintergrund der 
Betrachtung geschoben wird, g) die Lösung der ersten F'rage, 
h) eine Begründung der Thatsache, weshalb der sogenannte 
gesunde Menschenverstand indeterministisch gesinnt ist, i) eine 
Feststellung derjenigen Gebilde, mit denen die Begriffe der 
Willensfreiheit und der Willensunfreiheit verwechselt werden, 
j) eine Begründung, weshalb sie verwechselt werden, k) eine 
Angabe derjenigen Straftheorien, die von der Freiheitslehre ab- 
hängig sind, l) eine Begründung, weshalb ein Verallgemeinenmgs- 
})rozess in Bezug, auf das Verhältnis zwischen Willensfreiheit 
und Verantwortlichkeit statt hat, und endlich ni) eine zusammen- 
fassende Beantwortung der zweiten Frage. Ich werde jedoch, 
damit ich nicht zu häufigen \yiederholungen gezwungen bin,, 
mehrere der bezeichneten Untersuchungen mit eina?ider ver- 
knüpf en^ in einer Weise, die sich von selbst rechtfertigen wird. 
Ich teile die Abhandlung in drei Kapitel. Im ersten Kapitel 
fornmliere ich das Problem der Willensfreiheit, stelle die bedeu- 
tenderen Standpunkte in Bezug auf dasselbe dar, kritisiere die- 
selben kurz und suche endlich die Neigung zur Bejahung der 



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&- r> 






— 1'^ — 

Freiheitsfrage zu begründen. ^) Im zweiten Kapitel sind alle 
übrigen Untersuchungen und Schilderungen, die die Beantwortung 
der ersten Frage dieser Abhandlung erfordert, in zusammen- 
hängender Weise enthalten und im dritten Kapitel die Betrach- 
tungen, die der Beantwortung der zweiten Frage dienen. 



') Ich darf freilich nicht alle Feinheiten der einzelnen Freiheits- 
und Gewissenstheorien berücksichtigen, sondern muss mich auf allgemeine 
Charakteristiken beschränken. 




Niemiruwür, »Willonsfroihüit*, 



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Erstes Kapitel. 
Das Problem der Willensfreiheit. 

ß 1. Die Vielseitigkeit des Problems, 
Das Problem der Willensfreiheit gehört zu denjeDigen 
Grundproblemen, die dem Denker auf verschiedenen Gebieten 
der Wissenschaft begegnen.^) Theologie, Metaphysik, Moral- 
philosophie, Psychologie und Rechtsphilosophie haben mehr oder 
weniger Interesse an demselben. Jedoch lenkt jede beteiligte 
Disziplin einer andern Seite des Problems ihre Aufmerksamkeit 
zu, formuliert es nach der ihr eigenen Art, sucht es mit ihren 
Erkenntnissen in Einklang zu bringen, kurz jede einzelne Wissen- 
schaft sieht das Problem mit ihrer vergrössernden oder verklei- 
nernden Fachbrille. Wie ein und derselbe Gegenstand der 
Wahrnehmung in verschieden gearteten lidividualitäten ver- 
schiedenartige Gedanken und Erinnerungen weckt — weil jede 
wahrnehmende Person das Objekt der Wahrnehmung in ihrer 
besonderen Weise, gewissermassen mit anders gestalteten Werk- 
zeugen verarbeitet — so zeigt sich die Freiheitsfrage in einer 
andern Gestalt, je nachdem ein Theologe, ein Philosoph oder 
ein Jurist an ihre Lösung von dem ihm historisch gegebenen 
Standpunkt aus herantritt. 

Diese Vielgestaltigkeit des Problems und die Einseitigkeit 
seiner Auffassung in den Einzelwissenschaften erschwert seine 
Lösung. Man kann allerdings die mannigfachen Gesichtspunkte 
mit einander vergleichen und ausgleichen; die theologischen, 



') ö. Herbart, Briefe, a. a. 0. Seite 2. 



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- 19 — 

philosophischen und juristischen Auslassungen sichtend sammeln, 
um eine die engen Grenzen der Pachwissenschafterl überschrei- 
tende Lösung der Frage zu ermöglichen ; aber jede noch so 
gelungene Zusammenstellung einseitiger Ansichten ergiebt noch 
immer keine Vielseitigkeit der Auffassung und ersetzt nicht eine 
rein sachliche, von jeder Pachgebundenheit losgelöste Erörterung 
eines Themas. Denn die übermässige Hervorhebung einzelner 
Momente des Problems auf Kosten der Gesamtbetrachtung, die 
Verknüpfung des Problems mit ihm wenig analogen und nur 
entfernt verwandten Gedanken, die Aufhebung des Gleichgewichts 
im Für und Gegen der Frage — alles Polgen der Einseitigkeit 
in der Behandlung des Problems seitens der durch Fachinteressen 
gebundenen Einzelwissenschaften — wirken störend auch dann, 
wenn man das Problem aus den Banden der einseitigen Betrach- 
tung zu befreien, von den mit ihm verknüpften Problemen los- 
zulösen sucht. Was die Geschichte der Wissenschaft zusammen- 
gekittet, Jässt sich sehr schtver auseinander nehmen. VVas tausend- 
jährige Gedankenprozesse verschmolzen liaben, lässt sich schwer 
auflösen. Es gilt daher im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten 
eine Ächtung der Gesichtspunkte vorzunehmen und der Dar- 
stellung der Freiheitslehren eine Uebersicht der verschiedenen 
Fassungen der Freiheitsfragen vorangehen zu lassen. 

§ 2. Die theologische Fassung des Problems. 
Die astrologische Fassung des Problems, die im Mittelalter 
die Hauptrolle spielte, die Frage ob und inwieweit ^) der Mensch 
von der Konstellation abhängig sei, hat in der Gegenwart, in 
der die Wissenschaft mindestens mit jedem astrologischen Wahn 
aufgeräumt hat, 2) nur für die Geschichte des Problems eine 
Bedeutung, kann daher an dieser Stelle übergangen werden. 
Die der astrologischen Form verwandte theologische Fassung 

*) Gersonides z. B. ineinte, Schicksale, Neigungen, Gedanken und 
Tliateü der Menschen seien zwar von der Konstellation al>hängig, aber 
die Vernunft und die Willensfreiheit des Mensehen vermögen doch das 
von denTiimmeTskorpern Bewirkte zu durchkreuzen und aufzuhehen. 
S.Joel, Levi ben Gerson als Religionsphilosoph. Breslau 1862. Seite 48. 

*) Gegen diesen astrologischen Determinismus trat sehr scharf der 
Religionsphilosoph Maimonides auf. S. David Rosin, Die Ethik des Mai- 
monides. Breslau, 1876. Seite 62-75. 



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— 20 - 

des Problems, die noch gegenwärtig in der Theologie eine Rolle 
spielt, soll hier im Unterschiede von der philosophischen Form 
des Problems gezeigt werden. In der Theologie nimmt das Pro- 
blem der Willensfreiheit die Form eines Dilemas an, denn sowohl 
die Bejahung als auch die Verneinung der Freiheitsfrage stimmt 
nicht mit den theologischen Lehren überein. ^) Ist der Mensch in 
seinem Wollen und Handeln vom Einflüsse überirdischer MäcfUe 
frei, so dass er aus eigenem Antriebe und aus eigener Macht 
das Böse will und wählt, das Prinzip 2) des Bösen schafft, dann 
ist die Annahme einer göttlichen Vorsehung, die bestimmend 
ins Menschenleben eingreift, vmd der Glaube an die 3) Möglichkeit 
der Prophetie, der Voraussage künftiger Ereignisse unhaltbar, 
da doch der Mensch jede Einmischung himmlischer Mächte 
energisch abzulehnen, alle Vorherbestimrnungen zu vereiteln und 
alle Prophezeiungen inspirierter Gottesmänner mittelst eines ein- 
fachen „ich will nicht" Lügen zu strafen vermag — eine An- 
nahme, die dem Menschen mehr Macht einräumt, als es sich mit 
dem Begrifl'e der Allmacht Gottes verträgt.^) Ist der Mensch 
andererseits dem Einflüsse übersinnlicher Mächte unterworfen, 
dann ist das Böse in der Welt nicht seiii Werk und die Schuld 
des Bösen triffst die ihn beeinflussende oder gar beherrschende 
Gottheit, was mit dem Begriffne der Gottheit unvereinbar ist. ^) 

') S. Siebeck. Lehrbuch der Religionsphilosophie. Leipzig, 1893. 
Seite 389, 390. Vgl. Du Bois Reymond, Die sieben Welträt^el, Seite 86. 

'') S. Ritter, Chr. Philos., L Bd., a. a. 0. Irenäus, Seite 288, 289. 
Tertullian, Seite 297, leiten die MögUchkeit der Sünde aus der Freiheit ab. 
lieber Augustin s. ebendas. Seite 427 fF. und in Kuno Fischers Geschichte 
der neueren Philosophie, 8. Aufl., Bd. 1, Seite 46— 5L 

^) Jq'I in seiner Schrift über Levi bon Gerson, a. a. 0. Seite 48, 
führt aus, dass Gersonides durch das Problem der Prophetie zur Annahme 
eines gewissen Determinisinus veranlasst wurde. 

••) S. Schelling, Pbilos. Untersuchungen über das Wesen der mensch- 
lichen Freiheit, Seite 403 in der Landshuter Ausgabe seiner philos. 
Schriften, 1809. Bd. L 

^) Zur Charakteristik der theologischen Schwierigkeiten des Deter- 
minismus s. Schopenhauer Parerga u. Paralipomena in der Gesamtausgabe, 
a. a. 0. Bd. 1, Seite 65—69. Vgl. Luthers sämtliche Werke, Erlangen. 
Bd. 24, S. 143 ~ 146. Bd. 25, S. 74, Bd. 58, S. 214 ff. In Bezug auf die jü- 
dischen Scholastiker s. Stein, Die Willensfreiheit bei den jüd. Philosophen 
des Mittelalters, vgl. ferner L. Knoller, Das Problem der Willensfreiheit 
in der älteren jüdischen Religionsphilosophie. Berlin 1884. S, 13. 



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-- 21 — 

Die Theologie bringt also das Problem der Willensfreiheit 
mit den Problemen der Vorsehung und Prophetie in Verbindung 
und fragt: Fatalismus^) oder Willensfreiheit? Sie hat allerdings 
einen milden, sanften, inkonsequenten Fatalismus im Auge, im- 
merhin die Annahme, dass der Mensch nicht seines Schicksals 
Meister sei, dass er vielmehr einem fremden übermenschlichen 
Willen unterthan sei. 2) 

§ 3, Die philosophische Fassung des Problems, 
Im Gegensatze zur Theologie lautet das Stichwort des 
Preiheitsproblems in der Philosophie: Freiheit oder Kausalität. 
Die Freiheitsfrage wird folgendermassen formuliert: 1. Ist der 
Wille des Menschen dem in der Natur herrschenden Gesetze von 
Ursache und Wirkung unterworfen oder bildet er eine Ausnahme 
und ist kausallos? Wenn der menschliche Wille dem Kausal- 
gesetze unterliegt, auf welche Weise äussert sich die Kausalität 
im Reiche des menschUchen WoUens? 

Im Interesse der Klarheit betone ich in der Fragestellung 
drei Momente : a) dass es sich nicht direkt um die Freiheit des 
Menschen schlechthin handelt, sondern um die Freiheit des 
menschlichen Willens^ b) dass zur Frage, ob es eine Kausalität 
des Willens giebt, sich die Frage hinzugesellt, wie wohl die 
Kausalität des Willens beschaffen sein mag, und c) dass eine 
Kausalitätslosigkeit des Willens eine Ausnahme von der allge- 
meinen Naturregel bilden würde. 

a) Die Frage ist nicht, ob der Mensch schlechthin frei sei, 
denn die menschliche Freiheit im Gegensatze zu äusserem Zwang 



') Ueber Fatalisraus und Determinismus, Kap. 3. § 3. 

') Den Gegensatz zwischen der theologischen und der philosophischen 
Fassung der Frage bringt in der knappsten Form L. Stein in seinem 
Archiv a. a. 0. Bd. 2, Seite 195, zum Ausdruck : , Heute lautet die Formel 
nicht mehr: Wie verträgt sich die göttliche Vorsehung mit der mensch- 
lichen Willensfreiheit? — die Grundfrage lautet: Wie ist mit der jetzt 
fast allgemein zugestand**nen physischen Notwendigkeit die sittliche Zu- 
rcchnungsrähigkeit und Verantwortlichkeit vereinbar? Da ich in diesem 
Kapitel die Freiheitslehren gesondert von ihren Konsequenzen in Bezug 
auf die Verantwortlichkeit zu schildern habe, muss ich hier selbstver- 
ständlich die Freiheitsfrage mehr nach ihrer theoretischen Seite hin fassen, 
im Gegensatz zu Stein, der die praktische Seite — mit vollem Recht — 
in den Vordergrund rückt. 



mf. 



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— 22 — 

steht fest, die physische Freiheit wird vom menschlichen Be- 
wusstsein bezeugt, i) Die Frage ist, ob auch der Wille des Men- 
schen frei sei, ob der Wille frei will, das will sagen — nicht 
tautologisch gesprochen — ob auch das Ich frei zu wollen, *) sich 
im Wollen auszuprägen vermag, ohne Widerstand zu finden, 
ohne dass es durch anderweitige nicht aus dem Ich selbst 
(juellende Kräfte bestimmt und beschränkt werde, b) Die Ver- 
neinung dieser Frage, die Unterwerfung des WoUens unter das 
Gesetz der KausaHtät würde nicht — dessen rauss man sich von 
vornherein bewusst sein — das Problem gelöst haben, sondern 
würde vielmehr zu einer neuen Frage Anlass geben, zur Frage, 
wie die Kausalität des Willens geartet sei. Denn die Kausalität 
hat nicht in der ganzen Natur dieselbe Form, wirkt im Unorga- 
nischen anders als im Organischen, im Tierleben anders als beim 
Menschen. Ich wiederhole es: Zur Frage, ob das menschUche 
Wollen vom Gesetze der Kausalität beherrscht wird, muss die 
Frage nach der Natur der Willenskausalität hinzukommen; denn 
mit Schopenhauer gesprochen, der Satz vom Grunde hat eine 
vierfache Wurzel und die Kausalität eine dreifache Gestalt.^) 
c) Wie man leichter und objektiver die Freiheitsfrage zu lösen 
vermag, wenn man sich bewusst wird, dass die in Frage stehende 
Kausalität wohl nicht oder vielleicht nicht Kausalität im mecha- 
nischen Sinne sei,*) so giebt sich die Freiheitsfrage viel klarer, 
wenn man sie mit dem vollen Bewusstsein stellt, dass im Falle 

^) Schon Ilobbes unterscheidet zwischen dem Wollen des Thuns, 
das man Freiheit nennt, und dem Wollen des Willens, dessen Vorhanden- 
sein er bestreitet. Diese Unterscheidung bezeichnet Paulsen in seinem 
Syst. d. Eth. Bd. 1, Seite 414, als das letzte Wort in dieser Sache. 

') Vgl. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Berlin 
1893, Bd. 2, Seite V6b f. S. auch L. Kym in der Zeitachrift für Philo- 
losophie, Fichtezeitsohrift, Neue Folge Bd. 29, Seiter 252. Kym fasst auch 
nach einer gewissen Seite hin die Frage der Willensfreiheit in Beziehung 
zum Ich. 

«) S. I. d. Kap. § 16. 

') Wilhelm Wundt in seiner Ethik, 2. Aufl. Seite 463, 464, führt aus, 
dass es für die neueren Gestaltungen der Willenslehre verhängnisvoll 
geworden ist, dass Kant, der in dieser Frage noch immer den grössten 
Einfluss ausübt, den fundamentalen Unterschied des geistigen und natu- 
ralistischen Kausalbegriffs völlig verkannte, da er Kausalität überhaupt 
und mechanische Kausalität in einem Sinne gebraucht. 



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- 23 - 

ihrer Bejahung der menschliche Wille eine Ausnahme in der 
Natur bilden wird, eine merkwürdige Ausnahme, da doch der 
Mensch als Glied der Natur in vielen Beziehungen sicherlich 
einer kausalen Notwendigkeit unterliegt. 

Der Indeterrainist Jacobi war sich auch dessen bewusst, 
indem er sagt:^) „Die Vereinigung von Naturnotwendigkeit und 
Freiheit in demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreif- 
liches Faktum, ein der Schöpfung gleiches Wunder und Geheimnis.*' 
Dieses Bewusstsein stört nun nicht die Denker aller Zeiten zu 
fragen, ob und in welcher Form der menschliche Wille vom 
Kausalgesetze beherrscht wird. 

^^5^ 4. Die bedevienderen Standpunkte in der Freiheitsfrage, 

Aus der Masse der Ansichten über die Freiheitsfrage lassen 
sich sechs bedeutendere Standpunkte herausheben. Es sind : 2) 
aj Die Willkürlehre oder der konsequente Indeterminismus, b) die 
Wahllehre oder der inkonsequente Indeterminismus, c) die An- 
nahme der Willensfreiheit als Kraft der Ueberwindung des eigenen 
Charakters oder der inkonsequente Determinismus, d) die An- 
nahme einer transcen deuten Freiheit oder der transcendentale 
Indeterminismus, e) die Lehre einer absoluten Unfreiheit des 
Willens oder der mechanische Determinismus, fj die Annahme 
einer relativen Freiheit oder der psychologische Determinismus.*^) 

§ 5, Die Willkürlehre oder der konsequente Indeterminis?nus, 

Die Willkürlehre vertritt den Begriff liberum arbitrium in- 
difFerentiap, der nach Schopenhauer ^) den einzig bestimmten und 
klaren Begriff der Willensfreiheit ausmacht. Der Wille des 
Menschen ist nach der fraglichen Lehre kausallos. Der Wille 

>) Bd. 2, Seite 317. 

*) Die Berechtigung zur im Texte gegebenen Zusammenstellung 
wird die Darstellung der Freiheits- oder Unfreiheitstheorien erweisen. 

") Mit Ausnahme der Willkührlehre, die eine absolute Freiheit an- 
nimmt und der Lehre der absoluten Unfreiheit haben sich alle übrigen 
mit beiden Fragen des Problems abzufinden. loh werde dennoch — der 
Kürze wegen — auf die zweite Frage erst bei der Kritisierung des psy- 
chologischen Determinismus zurückkommen, der auf den Unterschied 
zwischen mechanischer und geistiger Kausalität grosses Gewicht legt. 

*) Die beiden Grundprobleme a. a. 0. Seite 9. 



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— 24 — 

oder richtiger das menschliche Ich vermag alles, i) vermag unter 
denselben zeitlichen und räumlichen Bedingungen ein und das- 
selbe zu wollen oder nicht zu wollen. Freiheit des Willens ist 
ein Vermögen-) „von zwei kontradiktorisch Entgegengesetzten, 
ohne bestimmende Gründe das eine oder das andere zu wollen, 
schlechthin bloss, weil es gewollt wird." Jeder Willensakt ist 
demnach das alleinige Erzeugnis des Menschen, ein ganz unab- 
hängiges Ganzes, das einen absoluten Anfang bildet. Die Genesis 
eines Willensaktes ist daher sehr einfach. Der Mensch spricht 
gewissermassen ein mächtiges: „Es sei**^ und es ist, denn der 
Wille ist der Inbegriff alles Könnens und seine Freiheit ist ab- 
solut, ist Willkür. Während alle anderen Freiheitsbegriffe — die 
Begriffe der politischen oder religiösen Freiheit — bloss relative 
Freiheiten, Teilfreiheiten ausdrücken, drückt der Begriff der 
Willensfreiheit die Freiheit in ihrer Ganzheit und Absolutheit, 
die Freiht^it aus, eine Freiheit, die geradezu als eine unnatür- 
liehe Macht des Menschen anzusehen ist.*) „Die Freiheit ist ein 
Vermögen, das auf keine begrifflich möghche, sondern auf eine 
begrifflich d. h. natürlich unmögliche Weise wirke." Dessen- 
ungeachtet kann die Realität dieses Freiheitsbegriffes nicht 
bezweifelt werden. Denn^) „wir sind uns dieser Freiheit so be- 
wusst, dass es nichts giebt, was klarer und vollkommener erkannt 
wird." Bedürfte die Freiheitslehre noch irgendwie des Beweises, 
so könnte man auf ^ine Unzahl von Menschen hinweisen, die 
trotz aller Folterqualen bei ihren Entschlüssen beharrten, wie 
auch auf die Thatsache,^) dass der Mensch im Gegensatze zum 
Tiere ^) sich auch zur Selbsttötung entschliessen kann. 

') Freilich nur alles das, was in den Grenzen der menschlichen 
Natiu- liegt. 

') Bei Schelling, a. a. 0. Seite 463. 

*) Jakobi zitiert bei Zeller. Gesch. d. deutsch. Philos., a. a. 0. Seite 448. 

*) Descartes, Prinzipien a. a. 0., I, § 41. Die berühmte Beweis- 
führung Descartes für die Realität der Aussenwelt kann auch in Bezug 
auf die Realität der Willensfreiheit angewandt werden. Wir sind frei, 
denn wir sind uns der Freiheit bewusst und der Schöpfer unseres Be- 
wusstseins, Oott, wird uns doch sicherlich nicht täuschen. Das Bewusst- 
sein der Freiheit betont auch Jakobi. S. Ritter a. a. 0. Bd. 2. S. 546, 547. 

^) Jakobi a. a. 0., Bd 1, Seite 175 u. ülrici a. a. 0. T.2, Seite 39. 
i ") In neuester Zeit tauchte dagegen die Behauptung auf, dass auch 

Ibei Tieren Selbstmordfälle vorkommen. 



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— 25 — 



§ 6. Kritik des konsequenten Indeterminismus. 

Die Willkürlehre stösst auf heftigen Widerspruch seitens 
der Erfahrung. Denn nach dieser Lehre ^) ist jedes grössere 
Unternehmen, das eine Reihe von Handlungen in verschiedenen 
Zeitmoinenten erfordert, jedes Unternehmen, dessen Ziel ein 
wenig hinausgeschoben ist, ein leichtsinniges Wagnis, denn wer 
sichert uns, dass sich unser freier Wille zu all den nötigen Vor- 
stellungen bequemen wird ; nach dieser Lehre hat ^) Erziehung 
keinen Sinn, denn der Wille nimmt in seiner Selbstherrlichkeit 
keine Lehren an und lässt sich durch nichts bestimmen, nach 
dieser Lehre hat ferner jede dramatische Kunst keinen Wert, 
denn einen konkreten Fall nehmend, — welclien Sinn hat das 
Kunstwerk des grossen Dritten „Der Mohr von Venedig,** wenn 
der Mohr seine Desdemona auch ohne die Intriguen des Jago, 
ohne jede Eifersucht ermordet hätte, so er es nur „gewollt*^ 
hätte, nach dieser Lehre endlich kann auch das Sittengesetz 
nicht auf den anarchischen Willen bezogen werden, denn wenn 
das Sittengesetz dem Willen Achtung abgewinnt, so ist seine 
Freiheit im Sinne der Willkür aufgehoben. Diesen Indeterminis- 
mus kann man nicht zu Ende denken.^) Dies«« Indeterminismus 
gleicht in seinen Schwierigkeiten, seinem kontradiktorialen Gegen- 
satz, dem Fatalismus.'*) Nach beiden Begriffen, d. h. ob der Wille 
nichts oder ob er alles aus sich heraus zu vollbringen vermag, 
ist e'me Unzahl von Erscheinungen im Menschenleben unver- 
ständlich. Der konsequente Fatalismus und der konsequente Indeter- 
minismus haben daher auch nur wenige Anhänger finden können,^) 



») S. Simrael a. a. 0., Bd. 2, Seite 232. Georg v. Gizyoki, Moral- 
philosophie. Leipzig, 1888. Seite 234, 235. 

') S. Herbart Briefe a. a. 0. Seite 62-64. v. Hartmann a. a. 0. S.467. 
V, Gizycki a. a. 0. S. 240, 241. 

*) S. Schelling a. a. 0. Seite 464. Ihering a. a. 0. Bd. 1, Seite 4. . 

*) Gizycki a. a. 0., Seite 241, bezeichnet auch die Willkür- oder Zu- 
fallslehre als eine gfataliBtische* Meinung. 

') In der Philosophie giebt es mehrere solcher konsequent zuge- 
spitzten Lehren, die nicht ernst zu nehmen sind. So z. B. ein übertrieben 
konsequenter Phänomenalismus. S. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 
3. Aufl. Berlin 1895. Seite b62. 



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— 26 — 

aber ihre abgeschwächtem Formen, so der inkonsequente In- 
determinismus haben viel Anhang gefunden.*) 

§ 7. Die Wahl! ehre oder der inkonsequente Indeterminismus. 
Nach dem inkonsequenten Indeterminismus ist der Wille 
den Motiven zugänglich, aber er wird von denselben nicht be- 
herrscht, sondern er beherrscht sie vielmehr, indem er in ihrem 
steten Kampfe mit einander die Entscheidung hat. Der Mensch 
will, indeyn er wählt. Zwar entspringen die menschlichen 
Willenshandlungen einer Reihe ihnen vorangegangener Begeben- 
heiten, aber ohne den Wahlakt, ohne die Zuthat des Willens 
oder des Ichs, ohne diese eigentliche Thnt entstehen keine 
Willenshandlungen. Zwar giebt es eine Kausaütät des Willens, 
aber der Wille selbst ist eine Quelle der Kausalität, denn er 
ist 2) eine Kraft der Wahl und beruht auf dem innersten Ich des 
Menschen, der in der TotaHtät seiner Persönlichkeit frei ist. Die 
Freiheit des Willens besteht nun darin, dass der Wille -^j oder das 

*) Leibniz in der Vorrede zur Theodicee führt aus, dass die meisten 
Menschen etwas von türkischem Verhängnis in ihr Leben mit einmischen. 
Vgl. forner Th. Visohers, „Auch Einer*'. Kine Reisebekanntschaft. 

*) S. Friedrich Julius Stahl, Rechts- und Staatslehre. I.Abt. Heidel- 
berg, 1854. I.B. § 41. . 

■) Ebendas., Seite 114, 1. Buch. Im grossen unl ganzen darf 
man wohl Stahl diesem inkonsequenten Indeterminismus zuzählen. Der 
Wille ist nach ihm zwar nicht grundlos und nicht unbegrenzt, aber doch 
frei. Stahl spricht auch von einer notwendigen Wahl und sucht Kausalität 
und Freiheit zu vereinigen. Vgl. §§ 39, 40, 41 des ersten Buches. Auf 
ähnlichem Standpunkte steht auch Kym am a. a. 0. Seite 95. Vgl. auch 
ülrici a. a. O , 2. Teil, Seite 37, 56 und 66. Auch Hugo Sommer, a. a. O., 
der Licht in den Wirrwar der widerstreitenden Ansichten gebracht zu 
haben glaubt, durch die Trennung der negativen und positiven Bedeutung 
des Freiheitsbegriffs, s. Seite 4 9, scheint die sogenannte Wahllehre zu 
vertreten. P> definiert nämlich die Freiheitsbegriffe folgendermassen : 
„Freiheit im ursprünglichen positiven Sinne bedeutet die Fähigkeit, unter 
mehreren, sich dem Bewusstsein gleichzeitig darbietenden Motiven zu 
wählen, d. h. überhaupt etwas Bestimmtes zu wollen. Freiheit im nega- 
tiven Sinne bedeutet die Fähigkeit, sich in seinem Wollen von Motiven 
freizuhalten, welche unserm wahren Wesen, d. h. unserer sittlichen Be- 
stimmung widerstreiten " Die Begriffe sind so gefasst, dass es auch dem 
Determinismus nicht schwer fällt, sie zu acoeptieren. Soll diese Fassung 
des Freiheitsbegriffes irgend welchen bestimmten Sinn haben, muss man 
die Wahlfähigkeit, von der Sommer spricht, im Sinne der Wahllehre ver- 



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- 27 — 

menschliche Ich zwischen den Motiven entscheidet und wählt. 
Dessen ist sich der Mensch bewusst und muss sich bewusst sein, 
da er es doch ist, der den Motiven Macht und Kraft zur Ein- 
wirkung verleiht.^) Dieselben Motive näralich, die auf den einen 
Willen wirken, bleiben dem andern gegenüber ganz wirkungslos. 
Ihre Wirkung ist also von der Empfänglichkeit des Menschen 
abhängig. Sie tragen ihren Wert nicht in sich, sondern erhalten 
denselben vom Menschen. 



§ (9. Kritik des inkonsequenten Indeterminismus. 

Die Schwäche dieser Preiheitslehre besteht eben in ihrer 
Inkonsequenz, in dem Zugeständnis einerseits, dass der Wille 
motiviert wird und in der Behauptung andererseits, dass sich 
derselbe grundlos für die eine Reihe der Motive zu Ungunsten 
der andern entscheiden kann. 

Es drängt sich wie von selbst die Frage auf, woher der 
sonst motivierte Wille mit einem Male bei einer Entschlussfassung 
die Macht nimmt, sich der ihm unangenehmen Motive zu ent- 
ledigen. Was treibt ihn auch dazu, für die schwächere Motiv- 
gruppe gegen die stärkere' Partei zu ergreifen, vielleicht die 
Achtung vor dem Sittengesetz, eventuell der Hang zum 
Bösen? Das wäre ja ein motivierter und kein grundloser Willens- 
entschluss, was sich mit dem Indeterminismus nicht verträgt. 
Trägt etwa der Wille die Kraft, den Motiven zu trotzen in sich, 
so macht sich eine andere Schwierigkeit geltend, die Schwierig- 
keit nämlich, dass der Wille so selten von seinem Vermögen 
Gebrauch macht. In einem Bilde, wenn der Wille als Herrscher 
im Reiche des menschlichen Lebens mit unbeschränkter Gewalt 
das Parlament der Motive nach Laune zu bändigen vermag, so 
ist es unbegreiflich, weshalb er dieses Parlament überhaupt nicht 
aufhebt. Nun kann man wohl einwenden, dass der Wille das 

stehen, als eine Fähigkeit, den Stärkegrad der Motive zu ignorieren, sich 
für eine schwächere Motivgruppe zu Ungunsten einer stärkeren zu ent- 
scheiden, die unserer Bestimmung widerstreitenden Motive . zurückzu 
drängen, auch wenn sie stärker wirken als die Motive des Sittlich-Guten. 
Die Fassung des Frei hei ts begriff es bringt jedenfalls keine Klarheit ins 
Problem. 

') S. Rümmeli, a. a. 0. Seite 52-54. 



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— 28 — 

Parlament der Motive beaiehen lässt, damit es ihm von der 
Au<:senwelt berichtet, ihm gewissermassen Handlangerdienste 
leistet, ohne dass er sich von demselben wesentlich bestimmen 
lässt. Wenn dem aber so ist, so müssen sich doch mehr Beweise 
der selbständigen Machtentfaliung des Willens geltend machen, 
als es thatsächlich der Fall ist. In Wirklichkeit scheint diese 
Macht des Willens nur in einem Falle zur Geltung zu kommen, 
in dem Falle nämlich, wenn sich kontradiktorisch entgegenge- 
setzte Motive das Gleichgewicht halten. Ein solches Zusammen- 
treffen gleich starker Einwirkungen findet jedoch nach Leibniz^) 
niemals, allenfalls sehr selten'^) statt, so dass die Annahme, dass 
die eigentliche Wiilensthätigkeit auf diesen einen Fall sich be- 
schränke, geradezu komisch wirken muss. Wenn es gestattet ist, 
das vorhin gebrauchte Bild vom konstitutionellen Monarchen zu 
Ende zu führen, so ist nach dem inkonsequenten Indeterminis- 
mus der Wille ein Monarch, der nur dann auf die Schaubühne 
tritt, wenn die widerstreitenden Parteien des Parlamentes sich 
das Gleichgewicht halten und ihren Kampf ohne Dazwischen- 
traten eines dritten Faktors nicht beenden können. Kurz, es 
giebt nur ein Entweder-oder. P^ntweder der Wille wirkt voll- 
ständig motivlos oder nur aus Motiven. Entweder Freiheit im 
Sinne der Willkür oder Determinismus. Wahlfreiheit ist übrigens 
genau genommen, der sprachlichen Bedeutung des Wortes nach, 
Determinismus. 

Was versteht man denn unter Wahl?-^) Die Abschätzung 
der wahrscheinlichen guten und bösen Folgen eines zu fassenden 



') S. Theodicee, 1. Teil, § 49. 

*) S. Kuno Fischer, a. a. 0. Seite 16, in Bezug auf den sogenannten 
Buridans Esel. Nach Fischer trägt dm Intelligenz des Esels die Schuld 
an der Verhungerung, denn zu der Wahl zwischen den heiden Mitteln 
zur Stillung des Hungers, kommt die zweite Wahl hinzu, ob man ver- 
hungern will oder nicht. Der Mensch aber findet fast immer einen Aus- 
weg aus ähnlichen Engen des Lebens, weiss sich stets zu helfen, was . 
bei der Fülle menschlicher Beziehun>ien, bei dem Reichtum der mensch- 
lichen Ursächlichkeit, beim raschen Wechsel des menschlichen Gefühls- 
lebens fast selbstverständlich ist. 

") S. Swereff in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philo- 
sophie. 17. Jahrg. 1893, Seite 4S5, wo ebenfalls auf die deterministische 
Bedeutung des Wortes Wahlfreiheit hingewiesen wird. Vgl. Gizycki, a a. O. 
Seite 217. 



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;t»^ 



- 29 - 

Beschlusses, das Abmessen und Abwägen der verschiedenartigen 
Bedingungen, Umstände und Konsequenzen des fraglichen Be- 
schlusses. Eine solche Wahlth&tigkeit setzt bloss die physische 
Freiheit, die Ungezwungenheit des Urteilens und Wollens voraus, 
aber keineswegs die Losgelöstheit von jedem kausalen Zusam- 
menhang, von allen früheren Gedankenverbänden, von allen 
vollzogenen Willensakten, vom Grundstock der Individualität. 
Man wählt z. B. einen Beruf, einen Freund u, s. w./ungezwungen, 
aber nicht ohne ausreichenden Grund luid der Massstab der 
Beurteilung und Wertschätzung bei einer Wahl wird nicht aus 
dem reinen Nichts hervorgezaubert , sondern wächst vielmehr 
hervor aus unserem Wesen, aus unserer Vergangenheit, aus der 
Masse unserer Gedanken, Gefühle und Wollungen. Der Begriff 
der Wahl deutet also auf den Determinismus hin; denn wenn 
man sagt, dass der Mensch wählt, so sagt man. zugleich, dass 
er nicht schlechtweg will^ im Öinne des Indeterminismus. 

§9. Der inkonseqtietite Determinismus. 

Aus den im vorigen Paragraphen ausgeführten Bedenken 
heraus bildet sich der inkonsequente Determinismus. Nach dem- 
selben bewegen und bestimmen äussere Reize und innere Motive 
den Willen. Alle Willensakte sind Produkte höchst komplizierter 
Prozesse, wurzeln in der Vergangenheit und tragen zugleich die 
Keime der Zukunft in sich, sie sind Ursache und Wirkung zu- 
gleich. In den gegenseitigen Kämpfen der Motive siegt die 
Stärke, die Stärke, die aus der Tiefe des menschlichen Charakters 
quillt. Alle Entschlüsse folgen demnach aus dem innersten Innern 
des menschlichen Wesens, aus seiner Persönlichkeit, aus seinem 
Charakter und sind mehr oder weniger Konsequenzen des Indi- 
vidualcharakters. Diese Notwendigkeit schliesst jedoch die Frei- 
heit nicht aus^ deren sich der Mensch bewusst ist ; denn frei ist 
der Mensch, indem er seinen natürlichen Charakter zu über- 
winden vermag. 

Der Mensch ist frei zur Ueberwindungy vermag seinen 
Charakter von Grund aus zu ändern und dadurch eine Umwand- 
lung in seinem Gefühls- und Willensleben herbeizuführen. Diese 
Freiheit ist das, was man in der Theologie „geistige Wieder- 
geburt" nennt, das Vermögen, die eiserne Starre des Charakters 
zu durchbrechen, die revolutionäre Macht, die ganze Verfassung 



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— 30 — 

des eigenen Wesens zu ändern, die schöpferische Kraft, sich 
gleichsam umzubilden, sich zu häuten. Eine derartige Ueber- 
windung wird durch Selbsterkenntnis herbeigeführt. Einige 
mindestens einmal, erlebt der Mensch eine solche ReaUsierung 
der Freiheit, bricht er mit seiner Vergangenheit und wendet sich 
neuen Zielen zu. Solche Momente der Selbstkritik und Selbst- 
erkemitnis weist auch die Geschichte der Menschheit, die Ge- 
schichte der Wissenschaften, besonders die der Philosophie auf. 
Von solchen Momenten datiert man die neuen Epochen in der 
Menschheitsentwicklung. ^) 

§ 10. Kritik des inkonsequenten Detenninismus. 

Wie erhebend diese Ueberwindungslehre auch wirken mag, 
sie löst das Freiheitsproblem nicht, weil sie, wenn auch nicht 
gleich der W^ihllehre auf halbem Wege stehen bleibt, so doch 
immerhin den Weg nicht zu Ende geht, weil sie inkonsequent 
und unbestimmt ist.. Sie ist inkonsequent, denn wenn aus 
dem Charakter des Menschen das Kleinste wie das Grösste 
folgt, muss doch auch die Aufhebung dieses bestimmten 
Charakters aus ihm selbst resultieren. Wenn der Mensch nicht 
das Geringste vermag, was sich nicht mit seinem Charakter ver- 
trägt, so kann er doch sicherlich nicht so Grosses und Bedeu- 
tendes wie die Umformung eben dieses Charakters ohne Zustim- 
mung gleichsam des umzuwandelnden Charakters vollziehen. 
Freilich scheint es ganz absurd, aus der Aktivität des Charakters 
seine Negation folgen zu lassen, den Charakter gewissermassen 
einen Selbstmord begehen zu lassen. Dies scheint aber nur so 
absurd, wenn man nicht das Wesen des Charakters in Betracht 
zieht oder wenn man es ganz falsch auffasst, wenn man den 
Charakter als etwas Starres, Unabänderliches, als ein Objekt des 
reinen Seins im metaphysischen Sinne nimmt, wozu die Redens- 
arten von der Geschlossenheit, Festigkeit, Unbezwingbarkeit des 
Charakters verleiten. 

In Wirklichkeit ist aber der Charakter kein „ehernes Etwas," 
sondern die verhärtete, jedoch leicht auflösbare, ja zu jeder Zeit^) 
sich auflösende Einheit der Gefühle und Gedanken eines Sub- 

*) Kuno Fischer, a. a. 0., vertritt diesen Standpunkt. 
») S. Gizyoki, a. a. 0. Seite 242. 



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— 31 — 

jekts. Der Charakter ist ein Objekt des wechselvollen Werdens, 
ist entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig, so dass man 
nur von einer relativen ^) Geschlossenheit, Festigkeit und Voll- 
endung des Charakters sprechen darf. Wenn nun ein gewaltiges 
Ereignis, eine gewichtige Erfahrung, eine hervorragende Er- 
kenntnis, also ein mächtiges Motiv die Intelligenz oder das 
Gemüt eines Menschen in Aufruhr bringt, sich durch ein stets 
irgendwie offenbleibendes Hinterpförtchen des Charakters in das 
Innere des Menschen einschleicht oder gar durch die Wucht 
der Wirkung die Kette, die den Charakter bildet, durchbricht, 
das verhärtete Wesen des Menschen wieder flüssig macht und 
so der fraglichen Person ein ganz neues Gepräge aufdrückt, 
dann vollzieht sich das, was man Wiedergeburt oder Ueberwin- 
dung nennt und es beginnt eine neue Aera im Leben des be- 
treifenden Menschen. Man vergegenwärtige sich als Beispiel 
folgenden historischen Fall. Martin Luther, der anfänglich Rechte 
studierte und keine grosse Lust zu ernstem Bibelstudium ver- 
spürte, umwandelte sich infolge der Einwirkung eines fürchter- 
lichen Gewitters auf sein Gemüt und zwar, wie hinzugefügt 
wird, infolge einer Gemütserschütterung, die dadurch herbei- 
geführt wurde, dass einer seiner Freunde an seiner Seite vom 
Blitz getroffen wurde; er gieng in sich und das Resultat dieser 
Selbstkritik und Selbsterkenntnis war seine Abwendung vom 
Weltlichen und Zuneigung zum Geistlichen. Nun liegt ofl^enbar 
ein grosser Teil dieser Natureinwirkung in Luthers früherem, 
jetzt umgeformten Charakter. Die Empfänglichkeit Luthers 
für solche Eindrücke beruht auf seiner Jugendlichkeit; denn 
im gereiften Alter, wo das Gepräge eines Menschen natur- 
gemäss gefestigter als in der Jugend ist, muss freilich ein 
Charakter umwälzender Faktor stärker sein als in der Jugend- 
zeit. Auch die Art der Wirkung resultiert aus dem Wesen 
Luthers. Ein Anderer würde vielleicht in dem schrecklichen Tode 
seines Freundes eine Ungerechtigkeit der Vorsehung erblicken 
und sich infolge dessen vielleicht ganz von Gott abwenden. 
Dieses Beispiel zeigt, dass thatsächüch der Charakter selbst zu 

^) S. Wundts Ethik, Seite 478, 479, wo ausgeführt wird, dass ein 
vollkommen entwickelter Charakter, der erheblichem Aenderungen nicht 
mehr unterworfen ist, eia blosses Ideal sei, welchem die Wirklichkeit 
niemalB entsprechen kann. 



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— 32 — 

seiner Vernichtung beiträgt, dass von einer Freiheit zur Um- 
schaffung des Innenlebens keine Rede sein kann; denn nicht 
Jievolution, sondern Evolution *) ist die richtige Bezeichnung für 
die Aenderung der Charakterform. Die Wahrheit dieser Annahme 
bezeugen gerade die Umwandlungen, die sich im Charakter der 
Menschheit vollziehen. Die Perioden der Selbsterkenntnis in der 
Philosophie, in der Wissenschaft überhaupt, sind offenbar nicht 
Erzeugnisse der Geisteshelden dieser Perioden, sondern resultieren 
aus den geschichtlichen Verhältnissen jener Zeitläufte. Diese 
Auffassung des Charakters und seiner Umwandkmgen ist die 
einzig haltbare; denn, wenn man den Charakter als etwas an 
sich Unabänderliches fasst, das nur durch das Machtgebot des 
Willens aufgehoben wird, dann drängt sich wieder die alte 
Frage auf: Weshalb tritt der Wille nur in Zeiten der inneren 
Gefahr nach der ähnlichen bekannten Einrichtung im römischen 
Reiche als Diktator auf? Charakter und Willen sind daher nicht 
von einander loszulösen, sondern einheitHch zu fassen ; der Cha- 
rakter ist die feste Form des Willens und unterliegt dem Kau- 
salgesetze. -) 

§ IL Der transcendentale Indeterminismus. 

In Hinsicht der Erfahrung lässt sich, meint der transcen- 
dentale Indeterminismus, aus den angegebenen Gründen kein 
Freiheitsbegriff bilden. Der Mensch als empirisches Wesen, als 
Sinnenwesen, als Naturding ist sicherlich unfrei und determiniert, 



*) E. T^aas im 6. Jahrgang der Vierteljabresschrift für wissenschaftl. 
Philosophie, Seite 324, versucht nun auf Grund dieser allmählicken Aen- 
derung des Charakters einen Freiheitsbegriff zu bilden, indem er BSigt, 
dass wir so blieben oder so wurden und dass wir nicht allmählich anders 
wurden, dass wir zu unserm jetzigen Zustand ivillentlich heigetragen 
haben, bildet den Hintergrund unserer Verantwortlichkeit. Diese An- 
nahme des willentlichen Beitrages zur allmählichen Aenderung hat keinen 
Sinn ; denn, wenn der Wille kausal gebunden ist, vermag er nichts, auch 
das Geringste nicht ohne Ursache, auch eine allmähliche Veränderung 
seines Charakters nicht. Mit einem Worte, ist der konsequente Indeter- 
minismus falsch, so ist aueh jede indeterministisoh angehauchte Lehre, 
mag sie auch nur 1 Prozent Indeterminismus einschmuggeln, falsch; ist 
der Indeterminismus als Regel unbegründet, so ist er es auch als Aus- 
nahme : vgl. V. Hartmann, a. a. O., S. 448, 449. 

-') Vgl. Herbart, Allg. Piedagogik, Seite 297, 299, 302. 



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— 83 — 

aber der Mensch als geistiges Wesen, der intelligible Mensch • j 

ist frei; denn im Reiche des Intelligiblen giebt es keine Kau- 
salität. *) Wie unbegreiflich die transcendentale Freiheit auch sein 
mag, sie inuss als Postulat gesetzt werden. 

Die Natur des Sittengesetzes, -) die allgemeine Form des- 
selben und seine rnbedingtheit setzt voraws, dass der Mensch 
in allen Gestaltungen seines Wesens das Gute wollen kann. 
Der kategorische Imperativ kann sich nur an einen freien 

') Mit dieser Theorie der traDSceiidentalen Freiheit darf nioht die- 
jenige Lehre verwechselt werden, die die Freiheit in ein Leben vor diesem 
irdischen Dasein verlegt, die da behauptet: »Wie der Mensch hier hand^-lt, 
so hat er von Flwigkeit und schon im Anfange der Schöpfung der Men- 
schen gehandelt/ Schelling, a. a. 0., Seite 471. Diese Lehre mag der 
Theologie als Erklärung des bösen Prinzips in der Welt dienen, aber für 
die Philosophie, die die Frage stellt, ob jeder einzelne Willensakt d-s 
Menschen frei sei, ist eine Verlegung der Wahl des Guten oder des Bösen 
in die Urzeit der Schöpfung, in ein rein geistiges Leben, mag man es sich 
auch mit Schelling (Seite 470) unzeitlieh, ausser aller Zeit denken, eine 
Anerkennung des Determinismus in empirischer und transcendentaler Be- 
ziehung, also das gerade Gegenteil der Freiheitslehre Kants. Vgl. Zeller, 
Geschichte der deutschen Philosophie, a. a. , Seite 360, 370. lieber die 
transcendentale Freiheitslehre vgl. Kant u. a. Kritik der reinen Vernunft. 
2. Aufl. Elementarl. 2. Teil, 2. Abteifuncr. 2. Buch, 2. HauptstUck. S. 
Jodl, Bd. 2, Seite 27 38. — Schopenhauer spitzt den transcendentalen 
Indeterminismus auf folgende Weise zu: Unsere Thaten sind allerdings 
Produkte der Notwendigkeit, folgen aus unserem Charakter, aus dem »was 
wir sind*. Was wir aber sind, transcendental gesprochen, sind wir frei. 
Die Freiheit liegt im esne und" die Notwendigkeit im operare, vgl. Die 
beiden Grundprobleme a. a. O., Seite 90, 98, 174—178. YgL über Schopen- 
hauers Freiheitslehre, Jodl a. a. O., Bd. 2, Seite 243 247. Auch Nietzsche 
•lenseit« von Gut und Böse, 2. Aufl., Leipzig 1890, Seite 26, deutet auf die 
transcendentale Freiheit, auf die Freiheit des Au-sich hin, freilich im 
Widerspruche mit seinem Sensualismus, worauf Ludwig Stein, ^Friedr. 
Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren", Berlin 1893, Seite 48— 49, 
hinweist. Auch die wissenschaftlichen Vertreter des Spiritualismus hul- 
digen dieser Theorie. So Karl du Prel in seinem Büchlein ,Das Rätsel 
fies Menschen*, Reklam. 

*) Vgl. Jodl, Band 2, a. a. 0., Seite 29, 80. „Jenes Gesetz ist nur 
in Beziehung auf die Freiheit des Willens möglich, unter Voraussetzung 
desselben al)er notwendig; und umgekehrt, diese ist notwendig, weil jene 
Gesetze als praktische Postulate notwendig sind*. — Kant selbst, in der 
Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, Seite 5, bezeichnet die Freiheit 
als die Bedingung des moralischen Gesetzes. S. ferner I.Teil, 1. Bu^h, 
I. Hauptst. Anmerkung zu 55 6. Vgl. auch ebendas.. ^ 5, Aufgabe 1. 
Nlemlrower, ,WiIlensfreih«Mt'. 3 



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- 34 - 

Willen richten. Die Anerkennung der Autonomie des Willens 
setzt die Annahme der Freiheit voraus. 

Da nun der Mensch als Wesen der Erfahrung unfrei ist, 
so rauss er als übersinnUches Vernunft wesen frei sein. 

§ 12. Kritik de^ iranscendentalen Indeterminismus. 

Diese Theorie steht und fällt mit dem Kantianismus. Die 
Kantische Ethik kann sie nicht entbehren und nur die Kantische 
Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich kann 
sie erklären. Wer aber nicht Anhänger der Kantischen Moral 
ist, der sieht sich nicht veranlasst zur Annahme einer transcen- 
dentalen Freiheit; wer femer zwischen Phänomenen und Nou- 
menon nicht unterscheidet, der kann sich eine intelligible Freiheit 
gar nicht denken, was Kant selbst betont.^) Die transcendentale 
Freiheitslehre wird daher vom Materialismus, für den es über- 
haupt keine Transcendenz giebt, keine von der Materie unab- 
hängige Gebilde, am schärfsten und schroffsten abgelehnt. 

§ 13. Der mechanische Determinismus. 

Der Materialismus hält es für selbstverständlich, dass der 
Mensch, der auch zur Natur und nur zur Natur gehört, dem 
allgemeinen Naturgesetze der Kausalität unterliegt, dass der 
Mensch, der nur ein Pünktchen in dem grossen All ausmacht, 
keine besondere Privilegien besitzt und nicht durch seine Gesetz- 
losigkeit und ungehemmte Willkür den Kosmos in ein Chaos zu 
verwandeln vermag. 

Unsere Vorstellungen und Strebungen, unsere Willensakte, 
sind nach dem Materialismus notwendige Begleiterscheinungen 
unserer Bewegungen. Mit einem Worte, die Welt zu der der Mensch 
gehört ist ein Mechanismus *) und in einem Mechanismus ist kein 
Platz für eine Willensfreiheit. Das Gesetz von der Erhaltung der 
Energie,^) von dem Nichtsverlorengehen und nicht Nichthinzu- 
kommen in der Summe der Kraft, spricht entschieden gegen 

S. Vorrede zur 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft, Seite 28 ; 
ferner Kritik der praktischen Vernunft, I.Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück. 
Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft. Eiementarl., 2. Teil, 2. Abt., 2. Buch, 
2. Hauptstück. 

*) S. Dubois-Reymond, Die sieben Welträtsei, Seite 87, 88. 

') S. Simrael, a. a. 0., Bd. 2, Seite 286. 



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— 35 — 

jede Willkür, gegen jede Freiheit. Auch die Erfahrung, wie sie 
sich in der Statistik i) giebt, spricht gegen jede Freiheit des 
Willens, zeigt, dass der Mensch einfach als eine Maschine zu 
betrachten sei, die unter Umständen die von ihr erwarteten 
Dienste leistet und unter andern Umständen den verlangten 
Dienst versagt. Das Gleichnis mit der Maschine wird noch weiter 
geführt. Wie man die Maschine im Falle ihrer Dienstleistung 
als gut und vollkommen, und im Falle ihrer Dienstverweigerung 
als schlecht und unvollkommen bezeichnet, so ist es ähnlich in 
Bezug auf den Menschen. Die Maschine an sich, also auch die 
menschliche Maschine, ist weder gut noch schlecht, sondern ist 
was sie ist, was sie sein muss ; ihre Wertschätzung beginnt erst 
dann, wenn man das, was sie sein soll^ das, wozu man sie be- 
stimmt, in Betracht zieht. Die Maschine ist frei, insofern sie in 
ihrer Thätigkeit nicht absichtlich von aussen her gestört wird, 

*) lieber statistische Thatsacben im Dienste des Freibeitsproblems 
handeln u. a. Adolf Wagner, Die Gesetzmässigkeit der scheinbar will- 
kürlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik, Hamburg 1864. 
Drobisoh, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit, 
Leipzig 1861. A. v. Oettingen, Die Moralstatistik, in mehreren Auflagen 
erschienen. S. Wilhelm Wundts Grundzüge der physiologischen Psycho- 
logie. 4. Auflage, 1894, 2. Band, Seite 400, wo ausgeführt wird, dass in 
den statistischen Daten kein zwingender Beweis für die ausachlieas- 
Uche Determination gegeben ist. Es ist auch bekannt, dass Quetelet die 
statistischen Thatsacben im Sinne und zu Gunsten des Indeterminismus 
zu deuten sucht, indem er behauptet, die Stetigkeit und Gleichmässigkeit 
des menschlichen Handelns deute auf die Freiheit des Willens hin, auf 
eine vernunftgemässe Selbstbeherrschung des Menschen, denn die natür- 
lichen Impulse und Leidenschaften würden bei ihrer Buntheit und Wild- 
heit, bei ihrem wirren Durcheinander den menschlichen Zuständen den 
uoregelmässigsten und zufälligsten Charakter aufdrücken. Gegen diese 
Behauptung kann natürlich mit Leichtigkeit a\if die Thatsache hingewiesen 
werden, dass nicht, wie man nach dieser Ansicht erwarten sollte, Pro- 
dukte der Vernunft und des moralischen Wertes, sondern gerade im Ge- 
genteil Produkte der Unvernunft \md des moralischen Unwertes durch 
die Statistik festgestellt werden. — Die statistischen Thatsacben spielen 
in der italienischen Kriminalanthropologie eine bedeutende Rolle, in der 
sogenannten positiven Schule des Strafrechts, nach welcher die Hand- 
lungen des Menschen, gute wie schlechte, stets das unvermeidliche Pro- 
dukt seines Organismus und der natürlichen und socialen Atmosphäre 
sind, in welcher er geboren ist und lebt. Vgl. Gretener, Die positive 
Schule des Strafrechts, in der Zeitschrift des bemisohen Juristenvereins, 
1884, Seite 167. 



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— 36 — 

sie ist unfrei, insofern sie unter Umständen ihre Thätigkeit 
ändern oder gar einstellen muss. Ebenso ist der Mensch frei im 
Sinne der Abwesenheit des Zwanges und unfrei insofern seine 
Willensakte aus seinem Wesen, wie aus seinem Milieu folgen.^) 

§ 14, Kritik des mechanischen Determinismus, 
Die Lehre von der Mechanik des Willens, diese absolute 
Anerkennung der materialistischen Kausalität im Willensleben, 
stösst auf Widerspruch, sowohl beim Idealismus, Parallelismus 
als auch bei einem feinern Materialismus. Der Idealismus, der 
nur dem Geistigen, Substantialität zuerkennt , kann natürlich 
diese rein mechanische Auffassung des Willenslebens, die Unter- 
werfung des Psychischen unter das Naturgesetz des Materiellen 
nicht gelten lassen. Der Parallelismus, der zwar nur eine Substanz 
anerkennt, aber zwei Formen derselben kennt, kann sich mit 
einer Lehre nicht befreunden, die sowohl im Reiche des Denkens, 
des Bewusstseins als auch in dem der Ausdehnung nur eine 
Form der Kausalität annhnmt. 

Auch der mehr philosophische Materialismus, der zwar als 
das Wesentliche in der Erscheinungswelt das Materielle betrachtet, 
die Materie als die Substanz ansieht, aber sich dennoch der 
Thatsache stets bewusst ist, dass im Laufe der Entwicklung 
eine gewisse Differenzierung zwischen höhern und niederem 
Formen des Daseins, zwischen geistigen und körperlichen sich 
ausbildet. Auch dieser Materialismus kann nicht annehmen, 
dass die Psyche nach demselben Schema , in derselben Form 
regiert wird, in der die Körperwelt regiert wird. Die eigentlichen 
Haupteinwürfe gegen den mechanischen Determinismus shid 
aber gegen seine Konsequenzen bezüglich der menschlichen 
Verantwortlichkeit zu richten, worauf ich an dieser Stelle nicht 
eingehen kann.^) 

<$>' 13. Der psychologische Determinismus. 
Der psychologische Determinismus, der von Locke begründet 
ist,^) erkennt die Kausalität in Bezug auf das Wollen voll und 

) So bezeichneten Hobbe-«, Gassendi, Holbach u. A. den Menschen 
als Maschine. S. Ritter a. a. 0. Seite 229, 230, 238, 414. 
») S. Kap. 2, § 16. 
*) S. Wuridt, Phys. Psychol., Bd. 2, Seite 399. 



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- 37 ~ 

ganz an, aber er nimmt für das Willensleben, wie für das Psy- 
chische überhaupt eine besondere Form der Kausalität in Anspruch. 
Das Reich der Gedanken ^) und Empfindungen ist allerdings um 
nichts weniger gesetzmässig als das der übrigen Natur, für die 
Betrachtung der inneren Natur des Menschen ist die Notwendig- 
keit ebenso wie für die der äusseren Natur das Letzte und 
Höchste, wozu wir gelangen können, aber diese Notwendigkeit 
äussert sich in der Form der Freiheit.^) ^Wille heisst demnach 
das Vermögen der eigenen Kausalität gegenüber der Aussen- 
welt," so dass man, wenn man will, was allerdings die Klarheit 
des Freiheitsproblems beeinträchtigt, noch immer von .einer 
Freiheit des Willens reden darf in dem Sinne der Unabhängig- 
keit der AuHsenwelt gegenüber, eine Freiheit, die durch Er- 
ziehung, durch Selbsterziehung, durch Bildung des Intellekts und 
Veredlung des Gemüts reahsiert werden kann. Freiheit und 
Notwendigkeit lassen sich auf diese Weise vereinigen, wie es 
Herder^) und andere versuchten. 

§ 16. Kritik des psychologischen Determinisnms, 

Dieser psychologische Determinismus ist es, man darf es 
wohl sagen, den alle Philosophen eigentlich im Auge haben, 
der auch etwas Erhebendes an sich hat. Dieser Determinismus 
erhebt Lessing*) zum Ausspruch : Ich danke dem Schöpfer, dass 
ich muss, dass ich das beste muss. Von diesem Determinismus 
kann Schopenhauer ^) sagen, dass er eine Quelle des Trostes und 
der Beruhigung sei. Abgesehen von diesem Gefühlsmoment, das 
für die Wissenschaft nicht von Belang ist, hat die psychologische 
Freiheits- oder, was dasselbe ist, Unfreiheitslehre das Bewusst- 
sein des Menschen für sich, das auf eine Freiheit, mindestens 
auf eine Form der Freiheit des Willens hinweist, hat sie die 
historische Thatsache für sich, dass der sogenannte gesunde 
Menschenverstand zu allen Zeiten irgendwie eine Freiheitlichkeit 

») S. E. DühriDg, Kursus der Philosophie. Leipzig, 1875. Seite 33, 218. 

*) S. Ihering, a. a. 0., Seite 24. 

*) S. Ritter, a. a. 0., Seite 495. 

') S. Ritter, a. a. 0., Seite 487. 

*) Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 60. 



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— 38 — 

des Willens anzunehmen geneigt ist. ^ pie Hauptlehre dieses 
Determinismus von der Verschiedenheit der naturalistischen und 
geistigen Notwendigkeit kann auf doppelte Weise gewonnen 
werden. Von zwei verschiedenen Ausgangspunkten kann man 
zu dieser Lehre gelangen. Der eine Ausgangspunkt spielt bei 
Schopenhauer, der andere bei Iheriug eine Rolle. Den ersten 
Ausgangspunkt bildet der sich aufdrängende Unterschied der 
Kausalarten.2) Ursache und Wirkung geben sich nicht in allen 
Zweigen der Natur auf dieselbe Weise. 

A. Im Unorganischen äussert sich dieses Gesetz anders als 
in der Pflanzen- und Tierwelt, in dieser wieder anders als im 
Menschenleben. In drei Formen zeigt sich die Kausalität und 
zwar als Ursache schlechthin, als Reiz und als Motiv, a) Im 
Unorganischen ist sie einfach, daher leicht wahrnehmbar. Ursache 
und Wirkung berühren einander, b) Im Organischen ist sie ver~ 
wickelter, jedoch immerhin bemerkbar, denn ein Teil der Ursache 
scheint in die Wirkung überzugehen, c) Beim Menschen ist sie 
immateriell, höchst kompliziert und darum zumeist unbemerkbar. 
Je höher die Stufe der Kausalität, desto entfernter sind Ursache 
und Wirkung von einander. Je entwickelter das Objekt der 
Kausalität ist, desto verwickelter die Kausalität selbst. Je 
feiner die Kausalität, desto weniger wird man sich ihrer be- 
wusst, desto mehr wird si6 geleugnet. 

B. a) Die Ursache als Ursache schlechthin im Unorgani- 
schen drängt sich jedem als materieller Zwang auf, b) die 
Ursache als Reiz, als Notwendigkeit, und c) die Ursache als 
Motiv äussert sich in der Form der Freiheit. 

C. a) Wenn die Wirkung sich auf materielle Weise an die 
Ursache kettet, wenn sie sich als Erzeugnis der Ursache giebt, 
dann giebt sich die Kausalität in der Form der Gewissheit "*) 

*) Zwar habe ich in der Einleitung, § 4, diese Vorliebe des gesunden 
Mensohenverstandes für die Annahme der Willensfreiheit zu begründen 
gesucht, dennoch glaube ich, dass die angeführten Gründe, allein kaum 
zur Erklärung der fraglichen Thatsaohe ausreichen. 

*) S. Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme, a. a. 0., Seite 26 ff. 
Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 2. Aufl. S. 45-47. 

■) Ich schliesse mich in dieser Darstellung selbstverständlich Schopen- 
hauer an. Ich glaube doch durch Zuhilfenahme der logischen Formen 
Gewissheit, Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit, wie der Gegensätze 
Zwang, Notwendigkeit und Freiheit, die Darstellung erleichtern zu können. 



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— 39 — 

und kein Zweifel taucht gegen ihre Realität auf. b) Wenn aber 
Ursache und Wirkung nur teilweise, nur indirekt, nur durch ein 
Medium, durch den Reiz, der vom Objekt A aufs Objekt B 
tibergeht, mit einander in Berührung kommen, dann ist für die 
wissenschaftliche Konstruierung der Dinge das Kausalverhältnis 
zwischen den Objekten A und B zweifellos, aber für das Be- 
wusstsein giebt sich diese Kausalität gewisserraassen in der Form 
der Wahrscheinlichkeit. Es waltet Wahrscheinlichkeit, aber nicht 
Sicherheit ob, weil der kausale Prozess uns nicht ganz verständ- 
lich und bekannt ist. c) Wenn endlich eine Handlung B auf 
eine ihr völlig entrückte Handlung A zurückgeführt wird, wenn 
ein ps^ychischer Kaüsalprozess sich abspielt, so ist die Annahme 
der Kausalität für die Psychologie als Wissenschaft etwas 
Sicheres, fürs menschliche Bewusstsein aber stellt sich diese 
Kausalität in der Form der Möglichkeit dar. Als frei, oder 
logisch gesprochen, als möglich erscheint die psychische Kau- 
salität, weil man die Beziehungen zwischen den Ursachen und 
Wirkungen nur spärlich kennt. 

Den Ausgangspunkt einer zweiten Ueberlegung, die aber 
zu demselben Resultate führt, bildet die Thatsache, dass der 
Mensch zumeist mit bestimmten Absichten handelt, durch sein 
Thim oder Lassen Zwecke erreichen will. Diese Thatsache wird 
von keiner Seite bestritten, worüber gestritten wird, ist die Frage,^) 

') S. Ihering, a. a. 0., Buch 1, Seite 11, 14, 78, 93. Ihering nimmt 
die AusRohliesslichkeit des Zweckgesetzes im Willen des Menschen an. 
In der Natur herrscht das „Weil**, für den Willen das »Um** (Seite 4), 
und wo isein Zweck, sondern bloss ein Grund vorliegt, dort haben wir es 
nicht mit einer Handlung, sondern bloss mit einem Ereignis zu thun 
(Seite 15), denn bei einer Handlung dreht sich es immer um einen Zweck, 
mag man ihn auch in der Form des Grundes ausdrücken (Seite 15—21). 
Ihering giebt jedoch selbst zu, dass die äussern Einwirkungen Gelegen- 
heitsursaohen abgeben, dass ferner die Möglichkeit der ersten Regung 
zur That durch die gegebene Individualität de% Subjekts bedingt und be- 
gründet ist (Seite II, 12), dass endlich das äussere Stadium des Wollens, 
die Verwirklichung des Willens, unter das mechanische Kausalitätsgesetz 
fällt (Seite 11). Nun glaube ich, dass, wenn man die Zugeständnisse 
Iherings zusammenfasst, den ersten Anfang einer Handlung, die äussere 
Anregung, auf ein „Weil** zurückführt, das eigentliche Interesse fürs frag- 
liche Objekt anfangs wenigstens aus der Individualität des Betreffen- 
den ableitet und dann das letzte Moment des Wollens, das „Zur-That- 
werden* des Willens wieder der mechanischen Kausalität ausliefert und 



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— 40 — 

ob es im Psychischen überhaupt ein Wollen ohne Zweck gebfe 
oder ob im Reiche des Willens Handeln und um eines Zweckes 
tmllen handeln^ identisch sei, Dass der Mensch zumeist wiD, 
;^um^ dieses oder jenes zu erlangen, nicht einfach ,,weih er dies 
oder jenes früher gewollt oder gethan hat, dass beim Menschen 
zur Ursache schlechthin die Z weck Ursache , allerdings wohl 
mittelbar wirkend, hinzukommt, bedarf keiner längeren Beweis- 
führung; denn der Mensch wurzelt zwar in der Vergangenheit, 
aber lebt doch zumeist in der Zukunft, erinnert sich zwar 
manchmal des Vergangenen, denkt jedoch oft an das Zu- 
künftige, so dass die Zukunft stets seine Gegenwart beein- 
flusst, und infolge dessen der Zweckgedanken, der der Zukunft 
gehört, und nicht die Ursache schlechthin, die in der Ver- 
gangenheit fusst, im menschlichen Leben entscheidend ist. 
Auch verhält sich der Mensch den l^rsachen, den äussern 
Reizen gegenüber, nicht rein leidend^ sondern er tritt auch 
handelnd auf, durch den Zweckgedanken angespornt, die Gegen- 
wart im Geiste der Zukunft gestaltend und die Zukunft durch 
die Gegenwart schafiFend. 

Der Mensch als denkendes Wesen wird naturgemäss durch Ge- 
danken, die aufkommende Zeiten Bezug haben, also durch Zwecke 
geleitet, daher bergen die Motive menschlichen Wollens zumeist 
einen Gedankenstoff, ^) sind irgendwie mit Gedanken verbunden. 
Die zwingende Kraft der Motive hat Aehnlichkeit mit der Nöti- 
gung logischer Wahrheit, so dass Motiv und Handlung mehr 
Berührungspunkte mit Grund und Folge als mit Ursache und 
Wirkung zu haben scheint. Kurz, die Form der Innern Kausalität 
unterscheidet sich von der der äussern,^) was den Glauben her- 
vorruft, dass sie eine Art Freiheit bildet. 



noch dazu eine Reihe von Willensphänomenen als Ereignisse abfertigt, 
wenn man dies bedenkt^o leuchtet es ein, dass man zwar den Zweck- 
begriff mit dem psychischen ^ausalbegriff zu verknüpfen hat, dass man 
sie aber nicht einfach, wie Ihering es macht, identißzieren darf. 

') S. Rousseau Emil, deutsch von Kramer, Berlin 1790, 3. Teil, 
Seite 56. „Welches ist denn die Ursache, die seinen Willen bestimmt? 
Es ist seine Verstand^skraft. es ist sein Vermögen, zu urteilen". 

') S. Paulsen, System der Ethik, a. a. 0. Bd. 1, Seite 425. Einleitung 
in die Philosophie, a. a. 0. Seite 224. 



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41 



,<y 17, Gründe der Vorliebe des gesiutden McNschmversfandes 
für die Freiheitslehre, 

Nachdem die Darstellung der Theorien der Freiheit oder 
Unfreiheit des Willens jedenfalls ergeben hat, dass die Freiheits- 
lehre mit Schwierigkeiten verbunden ist, ist es wohl recht am 
Platze der Frage näher zu treten, wie es kommt, dass der Mensch 
zur Bejahung der Freiheitsfrage geneigt ist. Die theologischen 
Interessen *) der Menschheit, wie auch die gefühlsmässige Wert- 
schätzung -) der Freiheit einerseits und die freiheitliche Form der 
psychischen Thätigkeit andererseits machen es wohl begreiflich, 
dass die Freiheitslehre so viele Anhänger findet. Indessen muss 
^ine Thatsache, die sich zu allen Zeiten geltend macht, die für 
das ganze Problem von Wichtigkeit ist, die besonders in Bezug 
auf die Hauptfrage dieser Abhandlung, in Bezug auf die Frage 
nämlich nach dem Verhältnis der Verantwortlichkeit zi^r Willens- 
freiheit von grosser Tragweite ist, muss also eine .>solche That- 
sache ausführlicher und näher erklärt und begründet werden. Fünf 
MametUe sind es nach meiner Ansicht vornehmlich, die zur Er- 
klärung der fraglichen Thatsachen in Betracht gezogen werden 
müssen. Zwei dieser Momente tragen mehr indirekt zur Annahme 
und Verbreitung der Freiheitslehre bei und drei derselben direkt. 

A. Die indirekten Momente sind : a) Die S<;hwierigkeit der 
Aufstellung allgemeiner Gesetze im Psychischen, b) Das Ver- 
hältnis des Kausalgesetzes zu den Vorstellungen der Zeitlichkeit 
imd Räumlichkeit; von denen der gewöhnliche Mensch im Psy- 
chischen absieht. B. Die direkten Momente sind : a) Die Freiheit 
des menschlichen Thuns, die leicht mit der des menschlichen 
Wollens verwechselt wird, b) Das öftere Zusammenfallen von 
Wahlakt und Willensakt. r) Der monistische Trieb des Menschen. 
Diese Momente hängen zum Teil zusammen, lassen sich jedoch 
auch unabhängig von einander darlegen, w^s im folgenden ver- 
sucht werden soll.^) 

') S. in diesem Kapitel, § 2. Vgl. Spencer, Thatsachen der Ethik, 
deutsch von R. Vetter, Stuttgart 1879, Seite 55. 

*) Vgl. Einleitung, § 4 und 5. 

') Das indirekte Moment a findet sich zum geringsten Teil angedeutet 
bei Spinoza, das direkte Moment a wird vertreten von Schopenhauer, 
V. Hartmann und Simmel und das direkte Moment b ist Wundt entnommen, 
die übrigen Momente hingegen glaube ich selbst hinzufügen zu dürfen. 



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— 42 - 

(^' 18, Die Schwierigkeit der Aufstellung allgemeiner 
Gesetze im Psychischen. ^) 

Die Aufstellung allgemeiner Gesetze im Seelischen , die 
Erkenntnis der psychischen Kausalität ist mit vielen Schwierig- 
keiten verbunden und will kaum gelingen. A. Beweis: Diese 
Behauptung kann leicht bewiesen werden 1. durch die Neuheit 
derjenigen Wissenschaft, die auch die Zahlen psychischer Objekte 
reden lässt, die seelische Thatsachen statistisch zu Gesetzen 
verknüpft, ich meine die Moralstatistik ; 2. durch die Thatsache, 
dass eine Anwendung der naturwissenschaftüchen Methoden in 
der Geschichtswissenschaft erst in der neuesten Zeit versucht 
wird (Buckle) und zwar mit nicht sehr grossem Erfolg. 

B, Diese Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Fassung 
der psychischen Begebenheiten erklärt sich aus der Natur der 
Psyche, liegt 1. in der Kompliziertheit seeHscher Prozesse, 2. in 
der teils scharf zugespitzten, teils verschwommenen Individuali- 
siertheit der verschiedenen Willensträger. 1. Die Kompliziertheit, 
das bunte Auseinander und Ineinander der einzelnen Elemente, 
der stetige Formwechsel ein und desselben Stoffes, das ewige 
Werden auf der einen und die Konstanz auf der andern Seite 
erklären die Erfolglosigkeit der Unterordnung seelischer Zustände 
unter allgemeine Gesetze. 2. Die allgemeine Fassung psychischer 
Gesetze wird auch durch die grosse Manigfaltigkeit psychischer 
Subjekte erschwert. So manche Denker 2) erklären es auch für 
unmöglich, irgendwie auf das Wollen und Handeln der Menschen 
bezugnehmende Gesetze von allgemeiner Gültigkeit aufzustellen, 
da es doch kaum zwei einander vollständig gleichende Individuen 
\md bei ein und demselben Individuum kaum zwei einander 
völlig gleichende Seelenzustände giebt. 

Diese Behauptung geht nun allerdings zu weit, denn wenn 
auch keine vollständige, keine absolute Gleichheit der Subjekte 
und der Phänomene denkbar ist, so ist doch eine relaiife 

•} Vgl. Wundts Kihik, Seite 465. S. auch Sluart Mill, System der 
di?dukiiven und induktiven Logik^ -xleutsch von Gomperz, Bd. 6, Käp. t$, 
§ 1. Allgemeine Betrachtung über die Gesellschaftswissenschaft. S.L.Stein. 
Das Prinzip der Entwiokelung in der Geistesgeschichte, in der Deutschen 
ivundsohau, 1895, Juni. Besonders S. 398, wo auf die engen Grenzen der 
experimentellen physiologischen Psychologie hingewiesen wird. 

') So z. B. Adolf Lasson. 



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— 43 — 

Gleichheit, eine wesentliche Aehnlichksit der Erscheinungen 
und ihrer Subjekte annehmbar, so dass man allgemein bestimmen 
kann, ähnliche Ursachen bringen unter ähnlichen Umständen 
bei einander ähnlichen Personen ähnliche Wirkungen hervor — 
ist nun also auch diese Behauptung unberechtigt, so zeigt sie 
jedenfalls, dass die strenge Geschiedenheit der Individuen, wozu 
noch eine gewisse Aehnliohkeit der Individuen in manchen 
Stücken hinzukommt, ein Hindernis und Hemmnis der Erkenntnis 
des Psychischen, des Zusammenhanges zwischen den psychischen 
Einzelerscheinungen bildet. 

C, Diese Eigenart des Psychischen macht sich besonders 
im Willens\eb^n des Menschen geltend und führt zur falschen 
Schlussfolgerung aus dem Umstand, dass man die Kausalität der 
Willensphänomene nicht zu erkennen vermag, auf das ünvor- 
handensein jeder Kausalität im Reiche des Willens. Mit einem 
Worte, der Mensch kennt nicht und kann in den meisten Fällen 
nicht kennen die Ursachen seines WoUens, deshalb ist er geneigt, 
das Wirken jeder Ursächlichkeit in Bezug auf sein Wollen zu 
leugnen. Würde der Mensch die Willensprozesse voll und ganz 
verstehen können, so würde er sicherlich an eine Kausallosigkeit 
des Willens nicht denken. Was ist denn ein Willensprozess nach 
dem Determinismus? ein Kampf kontradiktorischer Motivreihen. 
Was ist ein Entschluss nach dem Determinismus ? der Sieg einer 
starkem Motivgruppe über ihre schwächere Gegnerin. Dies zu 
erkennen, das wahre Wesen der Willensprozesse und der Willens- 
entschlüsse zu erfassen, ist der Mensch nicht so leicht im stände, 
denn die Voraussetzungen einer leichten Einsicht in das Innere des 
Willens fehlen zumeist. Die Voraussetzungen sind: 1. Die Kenntnis 
aller Motive, die an einem Willensprozess, an einem Willenskampf 
beteiligt sind. 2. Die Möglichkeit, ihren Stärkegrad zu messen. 

Nun ist die Kenntnis aller Motive wii^ die Abschätzung 
ihres Einflusses fast unmöglich. Die Ursachenkette ist eine so 
raanigfaltig gegliederte, die einzelnen Glieder de/selben sind durch 

') Auch Spinoza in seiner Ethik, Anhang zum 1. Teil meint, dass 
die Menschen sich für frei halten, weil sie die Ursachen der Dinge, der 
Zustände, die Triebfedern ihres Wollens nicht kennen. S. 3. Teil, Erläute- 
rung zu Lehrs. 2, wo Spinoza sagt: ^So glaubt das Kind, dass es die Milch 
freiwillig begehrt und ebenso hält der Knabe das Wollen der Rache und 
der Furchtsame das Wollen zu fliehen für ein freiwilliges*. 



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— 44 — 

tausendfache Fäden mit einander verbunden, dass man die ein- 
zelnen Motive kaum betrachten kann, dass man diese Ursachen- 
kette nicht als Ghederung, sondern als Einheit nimmt; als 
Einheit kann sie aber nur in Beziehung zu ihrem Substrat 
gefasst werden, weshalb sie als freies Produkt desselben, des 
wollenden Ich erscheint. Auch der Umstand, dass die Träger 
der Willensakte individuell von einander verschieden sind und 
nach ihrer Verschiedenheit mannigfachen Einwirkungen zugäng- 
hch sind, so dass dieselben Motive das eine Subjekt bestimmen 
können, auf das andere aber gar keinen Einfluss haben, auch 
dieser Umstand erschwert die Erkenntnis des Willensprozesses, 
weil er jede objektive Wertschätzung der Motive unmöglich 
macht. Auch noch manch andere Eigentümlichkeit des Psychi- 
schen wirkt in derselben Richtung, erschwert das Bekanntwerden 
aller in einem bestimmten Falle in Betracht kommender Motive. 
So bewirkt das Gesetz der Gedankenverdichtung , welches Lazarus 
in seinen Schriften ausgebaut hat, dass auch Gedanken, Motive, 
die ausserhalb der Schwelle des Bewusstseins sich befinden, beim 
Zustandekommen eines Entschlusses mithelfen.. Ein Glied einer 
grossen Gedankenreihe vermag nämlich oft kraft des ganzen 
Verbandes, dem es angehört, zu wirken, ohne dass man sich 
aller übrigen Verbandglieder recht bewusst wird.*) 

Zur Verdeutlichung möge folgendes Beispiel dienen. Ein 
Journalist entschliesst sich nach langem Schwanken und Wanken 
aul Befehl seines Chefs einen falschen Bericht in Umlauf zu 
setzen. Wie kommt dieser Entschluss zu stände? Zwei Gruppen 
von Bestimmungsgründen kämpfen eine Zeit lang mit einander, 
auf der einen Seite : Ehrgefühl, Wahrheitsliebe, ideale Auffassung 
des Joumalistenberufs, Furcht vor Entdeckung des Betruges 
u. s. w.; auf der andern Seite: Rücksichten auf seine Familie, 
auf seine Kinder, seine Zukunft, die Furcht vor Brotlosigkeit in 
jeder Gestalt. Den Ausschlag fürs Begehen des Verbrechens 
giebt jedoch — wollen wir annehmen — eine anscheinend un- 
bedeutende Erinnerung, eine Erinnerung an unliebsame Haus- 
streitigkeiten in Zeiten der Stellenlosigkeit des Betreffenden. 
Diese Erinnerung, die auf eine andere Person oder auf dieselbe 

') Ks wundert mich, dass noch keiner — meines Wissens wenigstens — 
das Gesetz der Gedankenverdichtung zum fraglichen Zwecke verwertet hat. 



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— 45 — 

in einem anderci Zusammenhang keine Wirkulig ausüben oder 
gar einen komischen Eindruck hervorrufen würde, ist bei dieser 
IndividuaHtät, unter diesen bestimmten Verhältnissen das Gute 
in derselben zu verdrängen im stände. Denn die blosse Er- 
innerung an häusliche Streitigkeiten Infolge materieller Be- 
drängnis wirkt so mächtig, als wenn sich der Betreffende all 
der traurigen Ursachen, all der unangenehmen Begleiterschei- 
nungen und all der bösen Folgen jener Zwisiigkeiten bewusst 
worden wäre. Thatsächlich denkt er nur daran, dass der be- 
vorstehende Verlust seiner Stellung wieder zu Pamilienstreitig- 
keiten führen wird, aber in diesem Gedanken verdichten sic^h 
all die Begebenheiten, die jenen Streitigkeiten, an welche er 
denkt, vorausgingen und folgten, so dass man diesen Gedanken 
als Abkürzung, als Abbreviatur einer ganzen Gedankenreihe, 
als den Auszug eines wesentlichen Abschnittes aus der Lebens- 
geschichte der in Frage stehenden Person betrachten kann. Der 
Betreffende wird sich jedoch dessen nicht bewusst und kann daher 
nicht glauben, dass diese unbedeutende Erinnerung in ihm eine 
solche Wirkung erzielen kann, sondern ist geneigt, die Wirkung 
und Entscheidung der Freiheit seines Willens zuzuschreiben. 

Die Kompliziertheit *) wie die Eigenart der Willensprozesse 
überhaupt erzeugen also indirekt eine Vorliebe für die Annahme 
der Willensfreiheit. 

i^l9. Das Kausalf/esefz in Verbindunfj mit Zeit und Baum, 

Wie die Natur des Psychischen, so veranlasst die Natur 
des Kausalgesetzes die Leugnung der Kausalität des Willens. 
Das Kausalgesetz wird mit den Begriffen Zeit und Raum in 
Verbindung gebracht. Im Unorganischen, wo Ursache und Wir- 
kung einander berühren, merkt man das räumliche Verhältnis 
und man merkt es in der Zeit; im Organischen, wo die Ursache 

') An dieser Stelle mag noch eine Hypothese Simmeis beigefügt 
werden. Von der Voraussetzung ausgehend, das« keine Vorstellung ohne 
einen Bewegungsprozess im Gehirn zu stände kommt, hält es Simmel doch 
andererseits für möglich, dass zu einer zureichenden Ursache eine physio- 
logische Bedingung gehört, welche keine BetvusatHeinsaeite hat, so dass 
man ganz vergeblich mit den Mitteln der Psychologie des Bewusstseins 
nach der eigentlichen Ursache sucht. Vgl. Simmcls Einleitung in die 
xMoral, Bd. 2. Seite 294 



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— 46 — 

als Reiz auftritt, handelt es sich noch immer um ein Uebergehen 
eines Teiles der Ursache in die Wirkung, also wieder ein räum- 
lich und zeitlicher Prozesa. Im Psychischen aber kann sich ge- 
wöhnlich der Mensch Zeitlichkeit undRäumhchkeit nicht denken; 
er leugnet deshalb jede Kausalität. Wie diejenigen Philosophen,^) 
welche den Begriffen Raum und Zeit die Realität absprechen, 
entweder zur Leugnung, oder zur Apriorisierung der Kausalität 
gezwungen sind, so leugnet der sogenannte gesunde Menschen- 
verstand, der die Realität der Zeit und des Raumes im Psychischen 
nicht annehmen kann, die Kausalität des Innenlebens, da er sich 
doch zur Apriorisierung der Kausalität nicht emporschwingen 
kann und auch feinere Unterscheidungen zwischen der Unzeit- 
lichkeit des Psychischen an sich und der Zeitlichkeit des Psy- 
chischen als Prozess nicht macht. 

§ 20. Die Verwechslung der Freiheit des Wollens mit der 

des Thuns. 
Die Freiheit des Thuns von jedem äussern Zwang, die 
sogenannte physische Freiheit, welche allein vom ßewusstsein 
bezeugt wird, 2) wird leicht mit der Freiheit des Wollens verwech- 
selt, ^) so man nicht das ßewusstsein des Andersgekonnthabens 
zerlegt und von dem ähnlichen AndersgewoUt-haben-können 
scharf scheidet. Man verwechselt das: „Ich kann thun was ich 
will" mit dem: „Ich kann wollen, was ich will" um so leichter, 
als die Erkenntnis der Willenskausalität sich dem menschlichen 
ßewusstsein nur schwer erschliesst. Man verwechselt die Freiheit 
vom äussern mechanischen Zwang um so eher mit der von jeder 
Gebundenheit, als doch eine Freiheit im letztem Sinne dem 
Menschen schmeichelt*) und sehr erwünscht wäre. 

*) Ich begnüge mich, hier Hume und Kant zu nennen, da ich doch 
nicht auf dieses Thema des Nähern eingehen darf. 

') Vgl« § 3. Hugo Sommer, a. a. 0., ignoriert diese Unterscheidung 
fast ganz und macht sich die Untersuchung sehr bequem, indem er es 
Seite 9 als eine zweifellos evidente Offenbarung der unmittelbaren Lebens- 
erfahrung hinstellt, dass wir frei sind in unseren Willensentschlüssen. 

•) S. Ed. V. Hartmann, a. a. 0., Seite 450. 

*) Schopenhauer in seinen Grundproblemen der Ethik, a. a. 0., S. 6, 
deutet auf diesen Grund der Annahme der Willensfreiheit hin. Vgl. eben- 
daselbst, Seite 14—24. Siehe auch Simmel, a. a. 0., Seite 433, 434, wo auf 
den Zusammenhang der sekundären Freiheit, der Freiheit des Handelns, 
gemäss dem Willen, mit der Freiheit des Willens selbst hingewiesen wird. 



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— 47 - 

t? ^i. Z>as BewuHstwerden eines Willensaktes als Wahlakt, 

Die Thatsache, dass der Mensch sich seines Willens erst 
clann recht und deutHch bewusst wird, wenn es sich um einen 
Wahlakt, um eine Entscheidung zwischen kontradiktorischen 
Motiven handelt, führt zur Identifizierung von Willensakt und 
Wahlakt, denn man glaubt dem Willen oder dem menschlichen 
Ich ein besonderes Wahlvermögen zuschreiben zu müssen, da 
sich der Wille oder das Ich als treibende Macht zumeist in den- , 
jenigen inneren Gestaltungen zeigt, die eine Wahlform. haben, 
d. h. in denen mehrere MögUchkeiten sich bekämpfen. *) 

,<5^ 22. Die Rolle des monistischen Triebes bei der Entstehung 
und Ve?'breitung der Freiheit slehre. 

In den angeführten Momenten, die der Preiheitslehre teils 
die Bahn ebneten, teils direkt günstig waren, kommt der Um- 
stand hinzu, dass der Mensch von dem Triebe zur Vereinheit- 
lichung der Erscheinungen, der Prozesse, der Ursachenkomplexe 
beherrscht wird. Dieser Trieb nämlich, der in der Menschheits- 
geschichte eine so grosse Bedeutung hat, dem man all die 
genialen, wenn auch einseitigen Vereinheitlichungen der Existenz- 
und der Erkenntnisformen, der Entwicklungsprinzipien, all das 
systematische Streben der Menschen zu verdanken hat, macht 
sich überall geltend, wo er nicht auf mächtigen Widerspruch 
stösst und vereinfacht die Phänomene im menschlichen Bewusst- 
sein. Dieser monistische Trieb bewirkt es nun, dass man keine 
KausaUtät des Willens annimmt, um nicht zur Setzung mehrerer 
Ursachen der menschlichen Willenshandlungen gezwungen zu 
«ein; denn, erkennt man das Kausalitätsgesetz im Wollen an 
und sucht es in den einzelnen Fällen voluntaristischer Prozesse 
nachzuweisen, so muss man. stets mehrere Ursachen ausfindig 
machen, da nur selten eine Ursache'^) eine Wirkung hervorbringt, 

') Wundt in seiner physiol. Psycho!., a. a. 0., Seite 395, führt diesen 
Grund an. 

•) Vgl. Stuart Mill, Logik, a. a. 0., Buch 3, Kap. 5, § 3, wo es heisst: 
, Selten jedoch, wenn jemals besteht diese unabänderliche Verbindung 
zwischen einem Konsequens und einem einzigen Antecedens. Gewöhnlich 
besteht sie zwischen einem Konsequens und der Summe mehrerer Ante- 



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— 48 — 

nimmt man hingegen die Freiheit des Willens an und fasst den 
Willen als causa sui, so ist dem Vereinheitlichungstrieb Genüge 
geschehen. 

Freilich würde der monistische Trieb allein die Freiheits- 
lehre nicht erzeugen können, wenn nicht die angegebenen Gründe 
vorhanden wären. Allenfalls nimmt es nicht Wunder, so man 
all ■ die dargelegten Momente betrachtet, dass der Mensch zur 
Annahme der Willensfreiheit, zur Leugnung der Kausalität 
geneigt ist; man muss siöh vielmehr wundern, dass sich noch 
Denker^) finden, die sich darüber wundernd äussern, dass der 
Mensch die Ursachen des Geschehens in seinem Innern nicht 
bemerkt, während er doch für die Kausalität der äussern Dinge 
volles Verständnis hat. 

§23, De^r Trieb zur ^Bindunfi'^ und der Trieb zur FreiheiL 

Wie der Mensch zur Freiheit geneigt ist, so ist er auch 
andererseits zur Annahme der Einmischung eines gewissen fata- 
listischen Elementes in sein Thun und Wollen geneigt, was schon 
Leibniz^j hervorhebt. Die Vorsehungslehre ist ein Erzeugnis 
dieser Neigung, die sich sehr leicht erklärt und zwar auf das- 
selbe Moment sich zurückführen lässt, das bei der Erklärung der 
Vorliebe für die Freiheitslehre verwendet wurde ; ich meine auf 
den Trieb zur Vereinheitlichung. Die Stabilität psychischer 
Verhältnisse, der Rhythmus in den Willenserscheinungen drängt 
die Menschen von jeher, trotz, ihrer Neigung zur Leugnung jeder 
Kausalität im Willensleben, irgendwie doch ein zusammenfügendes 
Prinzip aufzustellen, eine leitende Macht, die Einheit in die 
Mannigfaltigkeit der Willenserscheinungen bringt, anzuerkenmm 
und diese ordnende Macht, dieses leitende Prinzip ist nun die 
göttliche Vorsehung. 

Wie die Harmonie der Natur, das Füreinander, Miteinander 
und Durcheinander der Dinge den Glauben an einen Weltschöpfer 
befestigt, so bestärkt die sich offenbarende Harmonie im Reiche 

(?edoQtien, die alle zusammentreffen müssen, um das Konsequens hervor- 
zurufen, d. h. um es zur gewissen Folge zu haben," S. auch Buch 5^ 
Kap. 3, § 7. 

M So V. Kirehmann, Grundbegriffe, a. a. 0.. Seite 89. 

^ S. § fi, I. d. K. 



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— 49 — 

des Willens den erhabenen Glauben an die Vorsehung Gottes 
und führt zu einem abgeschwächten Fatalismus. ^) Dieser Wider- 
spruch, dass der Mensch auf der einen Seite eine Neigung »ur 
Annahme der Willensfreiheit, auf der andern Seite zur Annahme 
fatalistischer Determiniertheit zeigt, wird verständlich, wenn 
man sich mit Siramel*) bewusst wird, dass neben dem Trieb 
zur Freiheit sich beim Menschen ein „ganz positiver Trieb zu 
ihrem Gegenteil, zur Bindung, zum Aufgeben der Selbständig- 
keit*^ findet. Dieser Trieb zur BifMlung zeigt sich bei den 
„raffinierten Kontrastnaturen, die den Zwang, die Vergewal- 
tigung gewissermassen wollustig empfinden, sei es in der reli- 
giösen Askese, der Verklärung des Gesamtich durch eine 
einzige Phantasievorstellung, sei es in der passivistischen Liebe, 
die ihre Lust in dem Misshandeltwerden durch eine andere 
Person findet und sich bis zum pathologischen Masochismus 
steigert;*' dieser Trieb zeigt sich femer bei „schwachen Seelen, 
die sich ihres Teilchens von Willenskraft erst an der Reibung 
mit unterdrückten Gegen strebungen bewusst werden." Dieser 
Trieb nun, mag man ihn erklären wie man will, befördert, wie 
ich glaube, die fatalistische Annahme, dass der Mensch durch 
und an den Willen äusserer Mächte gebunden sei und bestärkt 
den Glauben an eine göttliche Vorsehung. Diese Erklärung der 
fatalistischen Neigungen der Menschheit im Gegensatze zu ihren 
gleichzeitigen indeterministischen Neigungen macht es auch 
begreiflich, dass die Wahllehre ^ der inkonsequente Indeter- 
miniamuHy der noch immer für fatalistische Stimmungen eins 
Ausflucht gewährt^ am meisten beliebt ist, dass die inkonse- 
quenten Freiheitslehren als die eigentlichen Freiheitslehven zu 
betrachten sind. 

Kurz gefasst kann man sagen, der Indeterminismus, der 
gewissermassen ein Produkt des Triebes zur Freiheit ist, findet 
seinen Gegensatz in einem mehr oder weniger konsequenten 
Fatalismus, der im Triebe zur Bindung wurzelt, so dass wir in 
der Terminologie Fichtes und Hegels eine Thesis und Antithesis 
hätten, die nach dem sogenannten gesunden Menschenverstände 
in der Synthesis inkonsequenter Freiheitslehren ihre Vereinigung 

») S. § 2, I. d. K. 
*) A. a. 0., Bd. 2, Seite 172—176. 
Niemirower, .Willensfreiheit'. 4 



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— 50 — 

finden, die aber ihren wissenschaftlichen Vereinigungspunkt im 
psychologischen Determinismus erhalten. ^) 

^) Am Schlüsse dieses ersten Kapitels wie in der DarsteHung des 
Freiheitsproblems überhaupt, habe ioh das Recht des psychologischen 
Determinismus zu verfechten gesucht, worin ich mir freilich, der Natur 
dieses Kapitels gemäss, das nur im beschränkten Sinne selbständig, 
mehr jedoch Vorarbeit ist, Schranken auferlegen musste, da ich doch 
allen bedeutendem Standpunkten in Bezug auf die Freiheitsfrage adä- 
quaten Ausdruck verleihen musste. Auf die subtilen Untersohiedä der 
mannigfachen Standpunkte, wie auf einzelne ganz unbefriedigende 
Lösungsversuche des Problems, durfte ich immerhin nicht eingehen, so 
z. B. auf die Ansichten, die die Freiheit in dem Umstände suchen, dass 
der Mensch seinen notwendigen Handlungen freudige Zustimmung er- 
teilen, wie auch versagen kann. (Der occasionalistisohe Versuch. S. L. 
Stein, Archiv, a. a. 0., 2. Bd., Seite 193 ff.) Denn all diese Versuche kommen 
für die Frage nach dem Verhältnis dei Verantwortlichkeit zum Freiheite- 
problem wenig in Betracht und sind dem inkonsequenten Determinismus 
zuzuzählen. Der ocoasionalistische Versuch, der, wie mein verehrter 
Lehrer L. Stein den Nachweis geführt hat, einerseits mit den stoischen 
Versuchen, andererseits mit Kants Lehren von der Gesinnung und vom 
guten Willen zusammenhängt, ist für die' Geschichte des Problems be- 
deutsam, ist aber bereits erledigt durch die Kritik der inkonsequenten 
Theorien, 



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Zweites Kapitel. 



Die Formen, Theorien und Beziehungen derVerant- 
-vvortlichkeit des Menschen fUr sein Thun und Lassen. 

§ 1. Die Formen der Verantwortlichkeit. 

Nachdem im vorigen Kapitel das Freiheitsproblem unab- 
hängig von seinen Konsequenzen in Bezug auf die menschliche 
Zurechnung dargestellt wurde, kann sich die Untersuchung ihrem 
Ziele nähern, zur Peststellung der Beziehungen zwischen WiUens- 
freiheit und Verantwortlichkeit schreiten. Es gilt jedoch vorerst 
die Formen der Verantwortlichkeit imd ihr Wesen allgemein 
darzustellen, um dann die ausführliche Darstellung ihrer Theorien 
mit der Untersuchung ihrer Beziehungen zum Freiheitsprobleme 
verbinden zu können.^) Es giebt drei Formen der Verantwort- 
lichkeit: Die moralische, sociale und juristische.^) Die moralische 
Verantwortlichkeit äussert sich in der Selbstzufriedenheit und 
Selbstanklage des Menschen, in einem stolzen Selbstbewusstsein 
und in der Reue, die sociale im Beifall oder Tadel seitens der Ge- 
sellschaft und die juristische in der Auszeichnung und Bestrafung 
seitens des Staates. Die organisierte Belohnung imd Strafe, die 
staatUche hat die äussere That im Auge, ist bestinunt und 

') S. Einleitung, § 10. 

') Vgl- Gyzioki, a. a. 0., Seite 279. 



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— 52 — 

mechanisch zwingend. *) Die innere Belohnung und Strafe, die 
ethische ist auf die Gesinnung *) gerichtet, ist geistig zwingend, •^) 
aber unbestimmt.*) Die sociale Anerkennung und Verurteilung 
ist sowohl auf die That'*) als auf die Gesinnung gerichtet, ist 
aber unbestimmt und mehr oder weniger unzwingend. 

§ 2. IXe Straftheorien im nllge^neinen. '^) 
Die Straftheorien werden gewöhnlich in einfache und ge- 
mischte geteilt; die einfachen sind auf einem Prinzip aufgebaut 

*) V. Harimann, a. a. 0., Seite 499 503, ineiot, dass die Erzwing- 
barkeit kein Merkmai des Rechts sei, denn Recht bleibt Recht, auch wo 
es nicht Macht genug besitzt, sich zu realisieren. Es giebt nach ihm 
keine Grenzbestimmung a priori für dio Gel)iete der Rechtsordnung und 
der freien Sittlichkeit. Ich glaube jedoch, dass man selbst nach Hartmann 
das zwingende Moment als Unterscheidungszeichen der Verantwortlichkeits- 
formen gebrauchen kann, da doch allenfalls die staatliche Zurechnung sich 
ehiör zwihgende Creltung zu verschaffen vermag, als die andern Formen. 

*) übber Reoht und Moral s. Diihring, Kursus der Philosophie, a. a. O., 
Seite 220, 221. Steinthal, Allg. Ethik. Berlin 1885. Seite 34 138. v. Kirch- 
mann, Grundbegriffe, a.a.O., Seite 104-117. Adolf Lassen, System der 
Rechtsphilosophie. Berlin und Leipzig, 1882, Seite 2 - 10. 

■) loh halte es nicht fllr richtig, da^s man die staatliche Verant- 
wbrtlilobkeit als zwingend schlechthin und die moralische als zwanglos 
schlechthin bezeichnet, da doch die moralische Verantwortlichkeit durch 
ihr Organ, durchs Gewissen einen Zwang auszuüben vermag, sich Aner- 
kennung verschafft, daher bestimme ich die rechtliche Verantwortlichkeit 
als Mechanisch und die ethische als geistig-hioralisch zwingend. 

") Zwäi* ist das Gewissen, naöh Rousseau im Emil, a. a. 0., Bd. 8, 
Seite?, der beste aller Casuisten, dennoch liefert dasselbe für die Einzelfälle 
keine bestimmten Vorschriften, denn es ist der Ausdruck der Allgemeinen 
ethischen Prinzipien, deren Anwendung für den Einzelfall oft unbestimmt ist. 

^) Die öffentliche Meinung legt bei ihrer Wertschätzung eines 
Mfehschen mehr (Jewicht auf dessen Gesinnung, als das Recht es bei seinem 
Formalismus thun kann. Sie kennt jedoch die Gesinnung eines Indivi- 
düums aus seinen Thaten, also nicht wie das Gewissen, das die Gesinnung 
seines Subjekts unmittelbar kennt. 

^) Eine Uebersioht der Straftheorieen findet man in jedem Lt-hrbtich 
des Sfcrafrechts. S. Ansei m Feuerbachs Lehrbuch. Herausgeber Mitt^^r- 
n^er. Giessen 1874. 1. Buch. Einleitung, § 7 des Herausgebers. Berner, 
Lehrbuch, 16. Aufl., § 4, 5. Reinhold Köstiin, System des deutschen 
Strafrechts. Tübingen 1855, Seite 890-412. Hugo Meyer, Lehrbuch. Er- 
langen 1888. 1. Abschnitt, §3. Ulrici, a.a.O., 2. Teil, Seite 391—413. 
Wundt, Ethik, Seite 630-534. Paulsen, System der Ethik, Bd. 2, Seite 
121—125, u. a. m. 



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— 53 — 

und die geinischten auf mehreren. Die einfachen werden in A. 
absolute ^) und B, relative -) geteilt. ^) Die Absoluten haben 4^ 
gemeinsame Moment, dass sie hauptsächlich nach d^m Grtmd 
der Strafe fragen. Diese Theorien haben auch hinsichtlich des 
Zweckes der Strafe einen gemeinsamen Punkt, an dem sie sich 
berühren, nämlich den der Genugthnung^ gleichviel wem durch 
die Strafe genug gethan werden soll, ob dem Verletzten o46r 
dem bessern Teil des Verletzers selbst, ob der verletzten gött- 
lichen oder der gestörten gesellschaftlichen Ordnimg, ob dem 
verletzten jR^chtshev/usstsein oder dem gekränkten Bewusstsein der 
Verwandten des durch's Verbrechen Geschädigten, ob der Idee des 
Rechts oder der der Gleichheit, ob der Menschheit oder der Gottheit. 
Die Relativen haben das gemeinsame Moment, dass sie 4t^ 
Zipeckfrage des Strafrechts in den Vordergrund rücken. Diese 
Theorien werden geteilt in aj Erziehungstheorien, b) in Ab- 
schreckungs- und Unschädlichkeitsmachungslehren. *) Die Blr- 
ziehungstheorien sehen in der Strafe ein Mittel zur sittlichen 
Bessexung des Verbrechers, die Abschreckungs- und Unschädlich- 
keitsmachungslehren ein Mittel zur Verhinderung weiterer Uebel. 

^^^ 3. Die Gewisf^enstheorien. ^) 
Die Gewissenstheorien lassen sich in a) absolute, b) volun- 
taristische,^') c) intellektuelle, d) voluntaristisch-intellektualistische 



*) lieber absolute Straftheorien vgl. u. a. Welcker, Die letzten Gründe 
von Recht, Staat und Strafe. Giessen 1813. Seite 197-214. 

') lieber relative Straftheorien u. a. Welcker, ebendas. Seite 214—249. 
Adolf LasBon, a. a. 0., Seite 530 ff. 

*) Nach Paulsen in seinem Syst. d. Ethik, 2. Teil, Seite 121, könnte man 
sie vielleicht auch als A intuitiv-formalistisch, B als teleologisch bezeichnen. 

*) Zu dieser Gruppe von Straflehren ist auch die Straftheorie der 
sog. positiven Schule des Strafrechts zuzuzäblen, bei der es sich um eine 
Abwehr der Gesellschaft gegen schädigende Handlungen und gefährlich 
krankhafte Individuen handelt. Vgl. über diese Straftheorie Lombroso, 
a. a. 0., besonders E. Ferri. La scuola positiva di diritto criminale, Siena 
1883, wie auch Gretener, a. a. 0. 

*) Die Gewissenstheorien werden hier mehr in ihren gemeinsamen 
Momenten als in ihren Differenzen gezeigt, denn es kommt für die Unter- 
suchung der Beziehungen des Gewissens weniger auf die einzelnen Mo- 
mente in der Auffassung des Gewissens und mehr auf den Gesamtcharakter 
derselben an. 

°) Diese Terminologie ist Hartmann entnommen, a. a. 0. Seite 184 ff. 



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-Tjm,^ i 



~ 54 - 

scheiden, a) Die absoluten Theorien fassen das Gewissen meta- 
physisch, richtiger mythologisch auf, als ein unbestimmbares, 
unerkennbares himmlisches Etwas im Menschen oder in religiöser 
Sprache als die Stimme Gottes im Menschen, b) Die volunta- 
ristischen Auffassungen des Gewissens betrachten dasselbe als 
ein Phänomen des. Gefühls- und Willenslebens, bestimmen es 
als einen mächtigen Mitleidsausdruck des Verbrechers mit seinem 
Opfer oder als Ausdruck der Furcht vor der Strafe oder endlich 
als Ausdruck beider, c) Die intellektualistischen Gewissenstheo- 
rien führen das Gewissen auf die menschliche Reflexion zurück, 
auf die gewonnene Ueberzeugung, dass das vollbrachte Ver- 
brechen im Interesse des Verbrechers selbst hätte unterbleiben 
müssen, d) Die voluntaristisch-intellektualistischen Gewissens- 
lehren betrachten das Gewissen als ein Produkt der Erziehung, 
als eine Reaktion der angeeigneten Lebensgrundsätze und der 
eingeübten Willensrichtungen gegen eine böse Aktion. 

a) Die absolute Auffassimg des Gewissens sieht in dem- 
selben ein Privilegium des Menschengeschlechtes, ein kostbares 
Gut, das der Mensch von jeher ^) und das jeder Mensch gleich^) 
besitzt, b) Die voluntaristischen Theorien leugnen nicht nur die 
Absolutheit des Gewissens, sondern auch seine Idealität, sehen 
in demselben entweder einen Ausdruck der krassen Furcht vor 
der in Staat und Gesellschaft üblichen Bestrafung des Verbrechers 
oder ein zu spät kommendes Mitleid^) mit dem Verletzten, das 
sich, nachdem die Leidenschaft des Verbrechers verraucht ist, 
einstellt, c) Die intellektualistischen Theorien glauben das Ge- 
wissensphänomen zu heben, indem sie es der Geistessphäre zu- 
weisen, glauben die Notwendigkeit^ in der es sich giebt, da- 
durch erklären zu können, dass sie es als eine mit logischer 
Notwendigkeit sich geltend machende Konsequenz gewisser 

*) Paul Ree, die Entstehung des Gewissens, Berlin 1885. § 8 führt 
auB, dass fast sämtliche Moralphilosophen der Meinung waren, das Be- 
wuBstsein, welches wohlwollende Handlungen lobt, egoistische tadelt, 
nicht entstanden, sondern jeder Zeit in allen Mensehen vorhanden ge- 
wesen sei. Er führt folgende Denker an: Fergusson, Hutcheson, Hume, 
Lecky, Adam Smith, Stewart Mackintosh, Cicero, Schopenhauer u. a. 

») S. Rümmelin, a. a. 0., Seite 68. 

*) Darwin vertritt diesen Standpunkt. Siehe Paul Roe, a. a. O.^ 
Seite 213. 



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— 55 — 

Thaten nehmen, indem sie es auf die Einsicht zurückführen, 
dass die übereilte Handlung hätte unterbleiben sollen aus rein 
egoistischen Motiven, aus Klugheitsgründen. ^) d) Die volunta- 
ristisch-intellektualistische Betrachtungsweise des Gewissens sucht 
durch die Verknüpfung von Verstandes- und Willenselementen 
dem Gewissensphänomen einen adäquatem Ausdruck als die 
andern Theorien zu geben. Nach dieser Theoriengruppe wird der 
Mensch ohne Gewissen geboren, aber im Laufe des Lebens 
gewinnen'^) gewisse Regeln einen bestimmten Einfluss auf den 
Menschen, gewisse Persönlichkeiten die Macht der Autorität, ') 
die sowohl den Intellekt als auch den Willen beherrscht. Die 
voluntaristisch-intellektualistische Gewissenstheorie findet einen 
andern, tiefern Ausdruck im Geiste der Darwinistischen Lehre 
bei Paulsen. 

Nach Paulsen ist das Gewissensphänomen auf folgende 
Weise zu erklären.^) „Wie im tierischen Leben dem Individuum 
das Ausdenken und Berechnen des für die Erhaltung und Port- 
pflanzung des Lebens Nützlichen und Notwendigen — durch die 
Instinkte erspart wird, so dem Menschen durch die Sitten/ 
Der Instinkt, den man treffend als organisch gewordene Gattungs- 
intelUgenz bezeichnet hat, ist ein bezeichnendes Bild für die das 
Menschenleben ordnenden Sitten, ist für's Tier dasselbe, was für 
den Menschen die Sitten sind, oder in anderer Wendung,'') 
„Sitten sind das homologe Organ zu den Instinkten des Tier- 
lebens." Jedoch zeichnet sich der Mensch vom Tiere dadurch 
aus, dass während der Instinkt ganz blind waltet und vom Tiere 
nicht gewusst wird, der Mensch „um die Sitte weiss," so dass 
man Sitten erklären kann**) „als zum Bewusstsein gekommene 
Instinkte." Diese zum Bewusstsein gekommenen Instinkte bilden 
das Gewissen. Gewissen ist also in seinem Ursprünge wenigstens 

') Vgl. Hartmann, a. a. 0., Seite 187 fF. 

*) S. Theodor Waitz, Allg. Pädagogik, Braunschweig 1883, Seite 188. 
Vgl. auch die Einleitung „über Waitz praktische Philosophie" von Will- 
mann, Seite ?9. 

*) S. V. Kirohmann, a.a.O., Seite 74: ,Da8 Gewissen ist dasselbe 
wie die Achtung vor dem Gebote der Autorität; es ist nur ein anderes 
Wort.« 

'') Einleitung i. d. Philos., a. a. 0., Seite 439, 440. 

*) System d. Ethik, Bd. 1, Seite 313. 

") Ebendas. 



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— 56 — 

nichts anderes als ein Wissen um die Sitte, i) Auf höherer Ent- 
wicklungsstufe nimmt' das Gewissen allerdings eine neue Form 
an, es wird hier entsprechend der Individualisierung des geistigen 
Lebens zu einem individuellen Lebensideal, das sich sogar geg»n 
die Sitte erheben kann, ursprünglich aber ist es allenfalls mne 
Art menschlicher Instinkte, die sich im Menschen vor und noch 
stärker nach Begehung einer unsittlichen Handlung geltend 
machen. Kürzer könnte man das Gewissen fassen als „die Re- 
aktion^) eines permanent wirkenden socialen oder künstlichen 
Instinktes gegen die lieber wältigung. durch einen seiner Natur 
nach nicht permanenten, aber im Augenblicke sehr kräftig 
wirkenden ursprüngUchen Trieb. "* =0 

» 

§ 4. Kritik der Gewisse?istheoriefi, 

Die absoluten Gewissenstheorien werden durch die Erfahrung 
am einfachsten widerlegt. Die Thatsache, dass es enge und 
weite, scharfe und stumpfe, freie und unfreie^) Gewissen giebt, 
dass Kinder kaum ein Gewissen haben,'») dass ganze Völker- 
schaften^) der Vergangenheit und Gegenwart nicht im Besitze 
eines Gewissens waren oder sind, diese Thatsache ist die ge- 
eignetste Widerlegung aller Gewissenslehren, die das Gewissen 
absolut fassen, allen Menschen ohne graduellen Unterschied zu- 
erkennen. Auch die Erscheinung des sogenannten irrenden Ge- 
wissens'^) ist ein Zeugnis gegen die absolute Gewissenstheorie. 

') Einleitung i. d. Philos. Seite 440. 

') S. System der Ethik. Bd. 1, Seite 310 335. 

^) Schon Rousseau im Emil, 8. Teil, Seite 72, sagt: ,Das Gewissen 
ist in der Seele das, was der Instinkt dem Körper ist.** Freilich fasste 
Rousseau das Gewissen im Geiste seiner Zeit. 

') Vgl. V. Hartmann, a. a. 0., Seite 100, 101. 

") S. Rousseau, Emil, 1. Teil, Seite 93. 

*■) S. Paul Ree, a. a. 0., §§ 9 u. 10. Lombroso, a. a. 0., 1. Teil, 2. Kap. 
„Das Verbrechen und die Prostitution bei Wilden u. ürvölkern." 

') Dieses Moment des irrenden Gewissens wird deshalb auch seitens 
der absoluten Theorien berücksichtigt und das Vorhandensein eioes 
solchen scharf bestritten. Ich will hier als Beispiel einen Ausspruch, 
Fichtes, Sittenlehre, Seite 226, anführen, der zwar mit dem Fichte'ßchen 
System zusammenhängt, jedoch für alle absolute Gewissenstheorien — 
freilich mit den nötigen terminologischen Aenderungen — gültig ist. 
„Das Gewissen irrt nie und kann nicht irren, denn es ist das unmittelbare 



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Diese Theorie ist also absolut falsch, ilie andern hingegen kommen 
der Wahrheit mehr oder weniger nahe, da sie Elemente des 
Gewissensgebildes hervorheben, die mehr oder weniger sein 
Wesen bezeichnen. Der Fehler dieser verschiedenartigen Theorien 
besteht eben darin, dass sie das Gewissensphänomen gerne ver- 
einfachen, es aus einefn Elemente bestehen lassen, wogegen 
schon die Thatsache spricht, dass man mit einigem Recht 
so viele mannigfache Elemente gefunden hat, aus denen sich . 
dieses Phänomen bilden kann. Ich glaube daher, dass eine so 
kompHzierte Erscheinung, die sich in den verschiedenartigsten 
Fomlen ^) zeigt, in alle Lebenssphären eingreift, auf mehrere 
Momente zurückzuführen ist. Die Notwendigkeit einer solchen 
Fassung des Gewissens ergiebt sich auch leicht, wenn man die 
Einseitigkeit der angeführten Theorien betrachtet. 

Diejenigen Lehren, die Gewissen mit Furcht vor Strafe 
identifizieren, können das Auftauchen desselben Phänomens in 
den Fällen, in denen jede Furcht vor Strafe ausgeschlossen ist, 
nicht erklären und müssen zum Associationsgesetz Zuflucht 
nehmen, um aus der Angewöhnung Strafe und Verbrechen in 
Verbindung zu bringen, Strafe aus dem Verbrechen und auf das 
Verbrechen schlechthin folgen zu lassen, das Auftreten der Reue, 
— wenn man überhaupt die Furcht vor der Strafe mit Reue 
bezeichnen will — auch in den Fällen, in denen der Verbrecher 
vor jeder Strafe gesichert sei, erklären zu können. Diejenigen, 

BewuBstsein unseres reinen ursprünglichen lob, über welches kein Be- 
wussteein hinausgeht, das nach keinem andern geprüft und berichtigt 
werden kann, das selbst Richter aller Ueberzeugungen ist, aber keinen 
Richter über sich anerkennt. Es entscheidet in der letzten Instanz und 
ißt inappelabel, lieber dasselbe hinausgehen wollen, heisst über sich selbst 
hinausgehen, sich von sich selbst trennen wollen.* Fichte bringt hier die 
absolute Theorie zum konsequentesten Ausdruck. Fällt nun diese Kon- 
sequenz, zeigt es sich, dass es ein Irren uod Wirren des Gewissens giebt, 
und es giebt ein solches bei gewissen Individuen und vielleicht bei allen 
Individuen in bestimmten Lagen des Lebens, dann fällt diese Theorie. 

*) Man spricht doch auch von einem politischen, künstlerischen 
Gewissen u. s. w. Der Begriff Gewissen ist überhaupt so unbestimmt, dass 
Richard Rothe, s. Theolog. Ethik, Wittenberg, 2. Bd., 1867, Seite 20-29, 
sich des Terminus Gewissen seiner Unbestimmtheit wegen nicht bedienen 
will. Jedoch ist das Phänomen, das man Gewissen im eigentlichen engern 
Sinne nennt, das sich als Selbstzufriedenheit und Reue äussert, ziemlich 
genau begrenzt. 



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— 58 — 

die Gewissen als spätkommendes Mitleid betrachten, können 
ebenfalls ' Reue und Gewissensbisse in den vielen Fällen nicht 
erklären, in denen es sich überhaupt nicht um ein Leid handelt, 
also von einem Mitleid nicht gesprochen werden kann, in denen 
es sich um Laster individueller Natur handelt. Nicht weniger 
unzureichend sind die einseitig intellektualistischen Standpunkte, 
denn die Form, in der das Gewissen sein Urteil spricht, die 
Strenge, die es zeigt, die Macht, die es entfaltet, lassen leicht 
den Unterschied zwischen einer matten, kalten, berechnenden 
Einsicht und Uebersicht vergangener Verhältnisse und dem- 
jenigen Phänomen, das wir Gewissen nennen, erkennen. 

Die voluntaristisch-intellektualistischen Theorien hingegen 
entsprechen mehr der Wahrheit, weil sie eben ein kompliziertes 
Phänomen auf komplizierte Prozesse, auf eine Fülle von Eh*- 
menten zurückführen. Was den meisten dieser Theorien abgeht, 
das ist die Unter.^cheidung zwischen Gewi^f^en auf niedern 
Stufen der KiiltHrentwicklung und Gewissen auf den höhern in 
Bezug auf seine Bestandteile und dann auch aufsein Wesen. Was 
das Gewissen heute ist, ist es nicht immer gewesen ^ woraus es auf 
einem höhern Entwickliingspunkte besteht, hat es nicht imm^r 
bestanden. In andern Worten^ die Entwicklungslehre muss auch 
auf das Gewissen angewandt werden, was Paulsen und in noch 
bestimmterer Form Spencer^) versucht. Auch ich werde die 
verschiedenen Stadien der Entwicklung des Gewissens in grossen 
Zügen in Verbindung mit den verschiedenen Entwicklungsstadien 
der Strafe darzustellen suchen ') und zwar zu zeigen versuchen, 
dass das Gewissen eine Einheit fast all der Momente ist, welche 
seitens der versc^hiedenen Gewissenstheorien einzeln als das 
Grundwesen des Gewissens angesehen werden, eine Einheit, die 
nicht immer dieselbe Form hat und nicht auf allen Stufen der 
Entwicklung aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt ist. 

,<»' 5. Weshalb wird die Zurechnung des Guten in Theorie 
und Praxis vernachlässigt ? 
Die allgemeine Uebersicht der Straf- und Gevvissenstheorien 
zeigt, dass man hauptsächlich sich mit der Zurechnung des 

') Thatsaohen der Ethik, a. a. O. 
') S. Einleitung, Jn. 10. 



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— 59 ^ 

Bösen befasst und die des Guten im Hintergrunde stehen lässtJ) 
Diese Erscheinung macht sich auch in der Praxis bemerkbar, 
in der äussern wie in der innern. Wie es kaum Belohnungs- 
theorien giebt, macht sich auch die Belohnung des Guten in 
Staat und Gesellschaft im Vergleiche zur. Bestrafung des Bösen 
kaum geltend. Auch die innere Belohnung, Selbstzufriedenheit, 
Selbstbelohnung tritt seltener und in einem geringeren Grade 
als die Selbstbestrafung, als die Gewissensbisse auf. In der 
Litteratur zeigen sich Spuren dieser Erscheinung, die Polgen 
des Bösen werden mehr beleuchtet als die des Guten, die Höllen- 
strafen der Sünder werden auch* bei Dante mannigfaltiger aus- 
gemalt als das Glück der Seeligen im Paradies; auch in der 
griechischen Litteratur 2) und Sage nimmt das, was die Frevler 
zu erleiden haben, einen weitaus grössern Raum ein als der 
Lohn der Tugend, was doch auf die Vernachlässigung, auf die 
Minderschätzung der Zurechnung des Guten hinweist. 

Wie erklärt siich diese Thatsache? Mehrere Gründe lassen 
sich zur Erklänmg dieser Thatsache anführen; diese Gründe 
eridären teils das Zurücktreten der Belohnungsformen im Innern 
des Menschen, teils die Zurücksetzung, die die Belohnung in 
Staat und Gesellschaft erfährt. Diese Gründe lassen sich wie 
folgt kurz fassen: 

a) Die grossen Opfer, mit welchen Belohnungen verbunden 
sind, erschweren die praktische Durchführung des Belohnungs- 
gedankens im Staate. Die gesellschaftliche Belohnung, sofern sie 
nicht mit Opfern verbunden ist, macht sich daher auch mehr 
bemerklich als die staatliche. ^) 

b) Der Umstand, dass die Aufgabe des Staates, nach der 
Lassalle'schen Wendung, die eines Nachtwächters ist, und in 
erster Linie in der Beseitigung des Bösen aus der Gesellschaft 
und nicht in der Belohnung des Guten besteht, erklärt das 
Zurücktreten der Zurechnung des Guten. 

c) Die Stellungnahme der Gesellschaft zum Thun und 
Lassen eines ihrer Mitglieder äussert sich mehr widersprechend 

') S. Einleitung, § 8. 

^) S. Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen. Berlin, Bd. 1, 
1882. Seite 62, m. 

*) S. Laaa in der Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philos., 
a. a. 0., Seite 329. 



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— 60 — 

als zustimmend, weil niedere Triebe, boshafter Neid u. s. w, das 
Tadeln befördern und das Loben hemmen. Ich dichte hiermit der 
Menschheit keine besonxijBren Schlechtigkeiten an, sondern weise 
einfach auf eine bekannte Erfahrungsthatsache hin, die auch 
darin ihren Ausdruck findet, dass man von Mitleid, aber nicht 
von Mitfreude spricht. Diese Thatsache wird von Hartmann ^) 
mid Paulsen ^) betont, ist aber auch bereits von Rousseau^) her- 
vorgehoben worden, indem er sagt: „Es ist dem menschlichen 
Herzen nicht gegeben, sich an die Stelle derer zu setzen, die- 
glü( klicher sind als wir, sondern an die Stelle derer, die mehr 
zu beklagen sind als wir.^ • 

d) Das Gewissen macht sich deshalb zumeist als Opposition 
gegen das Böse geltend und nur selten als den Guten Beifall 
spendend, weil dem sittlich entwickelten Menschen das Gute 
selbstverständlich und normal ist, so dass es keine besondere An- 
erkennung beansprucht. Die Beobachung des Sittengesetzes wird 
auch seitens des Staates und der Gesellschaft auf einer hohem 
Kulturstufe als Durchschnittszustand angesehen, weshalb nur 
ganz besonders hervorragende Verdienste belohnt werden. 

e) Die Belohnung guter Thaten als System darf .überhaupt 
nicht gelten, weil dadurch eine von niedern Bestinmumgs- 
gründen, von der Aussicht auf Belohnung beherrschte Sittlich- 
keit entstehen würde. Wer Belohnung wirklich verdient, für 
den hat sie als Erzieliungsmittel zur Sittlichkeit keinen Wert 
und für wen hingegen sie einen Wert hat, der verdient sie 
nicht; denn belohnungswert ist die reine Sittlichkeit, für welche 
Belohmmg nicht in Betracht kommt und von Aussicht auf Be- 
lohnung geleitete Sittlichkeit ist der Belohnung unwert.*) Aus 
allen diesen Gründen erklärt sich das Zurückgesetztwerden der 
belohnenden Verantwortlichkeit in der Praxis und darum auch 
in der Theorie. 



') Hartmann, a. a. 0., Seite 220-226. 

-) Syst. d. p:thik, Bd. 2, Seite 110-112. 

^') Emil, a. a. 0., 2. Teil, Seite 154, 155. 

^) Damit ißt nicht gesagt, dass die Belohnung edler Thaten keine 
Berechtigung hat — sie hat ihre relative Berechtigung, es soll nur dar- 
getban werden, weshalb sich die Einrichtung der Belohnung in so engen 
Grenzen bewegt und bewegen soll. 



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— 61 — 

§ 6. Der Zitsammenhang von Gewissen und Strafe. 

Wie die übersichtliche, allgemeine Darstellung der Straf- 
und Gewissenstheorien , die Vernachlässigung der Belohnung 
bemerkbar macht, so auch das Auseinanderhalten von Gewissen 
und Strafe. Ich glaube doch von dem allgemeinen Usus, Ge- 
wissen und Strafe in der Betrachtung und Darstellung zu trennen, 
abweichen zu sollen, weil doch die Strafe ihre ethische Sanktion 
durchs Gewisse?! erhält,^) weil femer eine Wirkung der Strafe 
auf die Gewissensbildung im Menschen von verschiedenen Ge- 
wissenstheorien angenommen wird. -) Ich gehe deshalb im 
folgenden stets von der Strafe aus, knüpfe an dieselbe die ihr 
parallelen Gewissensformen unter gleichzeitiger Berücksichtigung 
der gesellschaftlichen Strafe wie der Belohnung überhaupt. 

§ 7. Absolute Theorien. 
Die absoluten oder Genugthuungstheorien lassen sich nach 
rerschiedenen Prinzipien teilen; ich will sie aber als Einheit 
fassen, als Gesamtausdruck des Vergeltungsgedankens in den 
verschiedensten Phasen seiner Entwicklung und sie in ihre 
Bestandteile zerlegen, um zeigen zu können, ob und inwiefern 
jeder einzelne Bestandteil und jedes Entwicklungsmoment des 
Vergellungsgedankens von dem Ausgangspunkte seiner Ent- 
wicklung an bis zum Höhepunkt derselben von der Annahme 
der Willensfreiheit abhängig ist. Dem Zwecke dieser Abhandlung 
entsprechend, wie auch an sich begründet, ist die Teilung des 
Vergeltungsgedankens in drei Momente oder in drei Stadien 
seiner Entwicklung: Ursprung. Verstaatlichung und Höhepunkt 
der Enttiricklung sind die drei fraglichen Momente. 

§ 8. Der Ursprung der Strafe und sein Verhältnis zur 
Willensfreiheit. 
Der Ursprung der Strafe ist die Rache, d. h. die Reaktion 
des Verletzten gegen die Aktion des Verletzers, das brennende 
Bedürfnis des Beleidigten und Beschädigten, die Beleidigung 
oder Beschädigung an dem Uebelthäter zu vergelten. Die Rache 
wird von vielen Denkern als Ursprung der Strafe betrachtet, so 

*) S. Einleitung, § 1, 

») I. d. K. S. § 3, Theorie b. und d. 



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• — 62 ~ 

ipjagt E. Dühring:!) „Die Privatrache ist für die Altertümer der 
Völker überall als ursprüngliche Keimgestalt des Kriminalrechts 
anzutreflFen. An die wildere Blutrache schliesst sich das soge- 
nannte Kompositionensystem an. Auch in der vollkommensten*) 
Gestalt kann das Kriminalrecht nichts anderes sein als die öffent- 
liche Organisation der Rache." Pfenninger ^) sagt: „Darin — in 
der Rache nämlich — liegt der letzte Gnmd und die letzte 
Ursache." Laas*) ist derselben Ansicht: „Strafe ist ethisierte 
Rache." In ähnlichem Sinne äussern sich noch viele andere 
Denker, so Abegg:^) ,Die Privatrache ist die ursprüngliche, 
roheste Gestalt der Gerechtigkeit," so Wilda : „Die Rache ist die 
erste und roheste Offenbarung des Rechlsgefühls," ähnlich Köstlin : 
„Die unmittelbare Reaktion des Beleidigten gegen den Beleidiger 
ist die erste und unmittelbarste Evolution des Strafrechts," auch 
Du Bois bezeichnet die Blutrache als primitive und grobe Mani- 
festation des Rechts. 

Die Setzung der Rache als den Ursprung der Strafe ist 
natürlich nicht geeignet, die Bedeutung und die Grösse des 
Vergeltungsgedankens zu mindern, wenn sich auch die Haupt- 
vertreter der absoluten Straftheorien zum grossen Teil gegen 
die Ableitung der Strafe aus der Rache wehren; denn die ab- 
straktesten und höchsten Vorstellungen verdanken ihre Entstehung 
den niedersten empirischsten Vorstellungen, die sittlich bedeu- 
tendsten den niedrig tierischen und die höchsten Höhen der 
Sittlichkeit können sich durch einen merkwürdigen, langwierigen 
Prozess aus den Niederungen des Trieblebens emporgehoben 
haben.^) Wenn nun Paul R^e ^) gegen die Auffassung der Rache 
als Ur- und Grundform der Strafe einwendet, dass Rache und 
Strafe nur äusserlich dasselbe fordern, innerlich aber sich von 
einander scharf unterscheiden lassen, da doch die Rache im 
Gegensatze zur Strafe etwas Egoistisches, Persönliches ist, so 
trifft er nur die Auffassung, dass Rache bereits rechtliche Strafe 



S. Cursus. a a. 0., Seite 219—243. 

^) Ebendas., vgl. Seite 220, 225, 226. 

«) Pfenninger, Der Begriff der Strafe, Seite 18 ff. 

*) Laas, Vierteljahresschrift, a. a. 0., Seite 52. 

^) Die folgenden sind bei Paul R6e, a. a. 0., Seite 38. 

«) S. Simmel, a. a. 0., Bd. 2, Seite 132. 

-') A. a. 0., §§ 13, 14, 15, 16. 



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— 63 - 

ist, aber er trifft nicht die Ableitung der Strafe aus der Rache. 
Der Umstand, den er . aniühi-t, ^) dass im Stadium der Rache 
nicht allein ein Schlag einen Gegenschlag, sondern auch der 
Gegenschlag, wie er sich ausdrückt, einen Gegen-Gegenschlag 
herausfordert, so dass sich der Hass und Zwist von Geschlecht 
auf Geschlecht vererbt, dieser Umstand sagt nur, dass die Rache 
noch nicht moralische Strafe ist, sagt aber nicht, dass sich aus 
ihr keine sittliche Vergeltung bilden kann. Die Vererbung des 
Hasses und Zwistes von Geschlecht auf Geschlecht wird übrigens 
von Röe^) falsch aufgefasst. Nach ihm hat es den Anschein, als wenn 
es sich bei den ewigen Kämpfen zwischen zwei Geschlechtem 
noch immer um die Verletzung handelt, die der Ahn des einen 
Geschlecktes dem Ahnen des andern zugefügt hat, was doch nicht 
den thatsächlichen Verhältnissen entspricht, denn wenn auch 
der Streit beider Parteien seine erste Ursache im Konflikte ihrer 
Vorfahren hat, so erhält doch die Feindschaft immer neue 
Nnhruny durch die immerwährenden Reibereien der Parteien, 
durch die Beteiligung einzelner Glieder derselben an Rache- 
akten, die sie nur in geringem Masse angehen^ die daher eine 
Vergeltung herausfordern, bei der sich wiederum weniger An- 
gegriffene hervorthun, was zu neuen Racheakten Anlass giebt 
u. s. w. bis ins Unendliche. '^) Die Rache ist also auch nach meiner 
Ansicht zwar nicht als Manifestation des Rechts anzusehen, 
enthält jedoch einen gewissen Keim des Rechts und ist gewisser- 
massen ein Vorstadium der Strafe.*) 

Macht sich hier am Ausgangspunkte der Vergeltungsstrafe 
die Willensfreiheit irgendwie geltend? Offenbar nicht. Das Raohe- 
bedürfnis entsteht bei jeder Unlustempfindung durch andere, 
gleichviel, ob die andern frei oder unfrei, mit Absicht oder aus 
Zufall die Unlustzufügung bewirken. Die Rache fragt nach dem 

') S. a. a. 0., § 15. 

*) Ebendas. 

■) Wundt in seiner Ethik, a. a. 0., Seite 535, 536, betont ebenfalls den 
Unterschied zwischen Strafe und Rache — und zwar dieselben Momente 
hervorhebend, die Paul R6e betont, aber er giebt zu, dass sich Rache in 
Strafe umwandelte durch das Medium der Züchtigung. 

*) Auch die Zwecktheorien sehen zumeist in der Rache den Ur- 
sprung der Strafe, können ihn in ihr sehen, denn Ursprung und Zweck 
der Strafe sind verschiedene Probleme, was auch Nietzche betont. S. Hugo 
Kaaibz, a. a. 0., 1. Teil, Seite 45. 



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— 64 ~ 

Was der Verletzung, aber nicht nach denn Wie, nach der Tfi(ft 
des Feindes, aber nicht nach der Absicht desselben. 

Die Rache bezieht sich nicht nur auf freie, nicht nur auf ver- 
nünftige, nicht nur auf empfindende Wesen, sondern auch auf ge- 
bundene, vernunftlose, ja empfindungslose Gegenstände. Xerxes, 
der das Wasser peitschen lässt, weil es seine Schiffe vernichtet, 
ist der wahre Repräsentant der Rache. Gewiss stillt sich in 
diesem Falle der Vergeltungstrieb leicht, weil er einerseits nicht 
ganz befriedigt ^Verden kafin und andererseits schnell, ohne 
auf Widersprtich zu stossen, befriedigt wird, aber die Rache an 
sich unterscheidet nicht zwischen den Willensquahtäten des sie 
hervorbringenden Subjektes, steigert sich nicht, wie Laas*) 
meint, je mehr das betreffende Subjekt schuldig zu sein scheint. 
Freilich die Rache des gesitteten Menschen unterscheidet zwischen 
Schuld und Schuldlosigkeit und ringt sich nicht durch gegen 
Schuldlose, die aus irgend einem Zufall uns ein Uebel zugefügt 
haben, aber diese Rache des gesitteten Menschen ist eine ab- 
geschwächte, ethisierte und nicht die eigentliche Rache, von 
der die Strafe abgeleitet wird, welche gar keine Unterschiede 
in Bezug auf die Willensqualität des Angreifers und dessen 
Freiheit oder Unfreiheit macht. 

§ 9, Ursprung des Gewissens und sein Verhältnis zum 
FVeiheitsproblem . 

Die Frage, die sich bei der Betrachtung des ersten Sta- 
diums in der Entwicklung des Vergeltungsgedankens aufdrängt, 
lautet : Wie hat man sich das Gewissen auf dieser primitiven 
Stufe zu denken ? Für die absoluten Gewissenstheorien, die keine 
Entwicklung des Gewissens annehmen, gilt natürlich diese Frage 
nicht.'-) Für alle andern Auffassungen des Gewissens aber muss 
diese Frage beantwortet werden. Die Antwort kann, wie ich 
glaube, nur die sein, dass auf einer »o niedrigen Etappe der Ent- 
wicklung das Gewissen aus spät kommendem Mitleid des Ver- 
brechers und aus Furcht vor der Hache besteht. 

Das Mitleid mit dem Verletzten, das sich bei Verbrechern 
einstellt, nachdem die Leidenschaft sich ausgetobt hat, ist ein hocli- 

') A. a. 0., Seite 161. 
') S. I. d. K. §§ .% 4. 



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— 65 — 

gradiges, denn das Mitleid ist stärker 1. je mehr Konnex zwischen 
dem Bemitleidenden und dem Bemitleideten besteht, 2. je lebendiger 
der Akt des Leidens, das den Gegenstand der Bemitleidmig bildet, 
in seiner ganzen Grellheit dem Bemitleidenden vor Augen steht, 
zwei Momente, die beim Verletzer in hohem Masse vorhanden 
sind. 1. Die verbrecherische That verbindet den Verbrecher mit 
seinem Opfer, erweckt im Verbrecher ein gewisses Interesse für 
sein Opfer, ein Interesse, das den Grad seines Mitleids steigert. 
2. Das Leid des Bemitleideten schwebt eine Zeit lang in der 
grösstmöglichen Deutlichkeit vor den Augen des Verbrechers, 
weil er doch nicht nur Zeuge, sondern auch Erzeuger desselben 
war. Das Leid, das er zugefügt hat, vergrössert sich noch in 
seiner Phantasie, weil er früher im Zustande der höchsten Lei- 
denschaft seinem Feinde ein noch viel grösseres Leid gerne zu- 
gefügt hätte, als er es thatsächlich vermochte, so dass er nicht 
nur das reale Leiden seines Opfers beklagt, sondern auch noch 
ein bloss in seiner Phantasie vorhandenes. Nun gesellt sich zu 
diesem Mitleid di^ Furcht vor der Rache des Verletzten oder 
vor der seiner Verwandtschaft. Aus dieser Mischimg von Furcht 
und Mitleid entsteht ein Dräle.% das man Gewissen nennt, das 
man auf dieser-* Stuf e der Entwicklung mindestens Gewissen 
nennen kann, das sich als ein altruistisches Hinausgehen aus 
sich selbst und ein gleichzeitiges Bedachtsein auf das eigene 
Wohl als ein Umherschwanken zwischen dem lieben Ich und 
dem verletzten Er, als eine Zerrissenheit des Gemüts, als Zwie- 
spalt der Natur, als ein mehr oder weniger klares Bewusst- 
sein, durch die Verletzung sich in diese Lage versetzt zu haben, 
darstellt. Kurz, das Gewissen giebt sich in seinem Ursprünge 
als Verurteilung der bösen Handlung aw.s* sich selbst und doch 
nicht ganz um des eigenen Seihst willen; denn die Stimme des 
Gewissens ist auf diesem ersten Punkte der Entwicklung ein 
i?cÄo von dem Weh- und Racheruf des Verletzten; richtiger, 
das Gewissen ist ein nicht genau zu bestimmendes Etwas, welches 
durch das Echo von dem Weh- und Racheruf des Verletzten 
entsteht, Spencer i) scheint in diesem Stadium der Entwicklung 
das Gewissen auf die Furcht vor Rache zu beschränken, bloss als 
Echo des Racherufes zu betrachten, wozu ich mich aber nicht 

*) Spenoer, a. a. O., Kap. 7, § 45. 
Nieiiilrower, .Willensfreiheit*. 5 



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— 66 — 

veranlasst sehe, weil ich mir bereits an diesem Punkte der Ent- 
wicklung ein eigenartiges Gewissensphänomen erklären kann. 
Freilich ist diese Form des Gewissens noch kaum als Ausdruck 
des Sittlichen im Menschen zu betrachten und darum nicht mit der 
Form des Gewissens zu identifizieren, die wir gegenwärtig kennen,') 
jedoch lässt sich immerhin eine eigenartige Mischung von Furcht 
und Mitleid als Ausgangspunkt der Entwicklung des Gewissens, 
richtiger der Entwicklung des Menschen zum Gewissen betrachten. 

Nun fragt es sich, ob der Urspnmg des Gewissens irgendwie 
mit der Willensfreiheit zusammenhängt. Direkt — wird man wohl 
sagen können — deutet der Ursprung des Gewissens auf eine 
Freiheit des Willens kaum hin; denn das Phänomen, das man 
als Urform des Gewissens ansehen darf, setzt bloss einerseits die 
Sitte der Vergeltung und den Trieb zur Rache voraus, anderer- 
seits ein zugefügtes Leid, ein leidendes Wesen, aber nicht die 
Willensfreiheit des Verletzers oder des Verletzten ; indirekt aber, 
wird man hinzufügen müssen, spielt schon hier — sozusagen an 
der Wiege des Gewissens — die Annahme der Willensfreiheit 
eine Rolle, da sich doch höchst wahrscheinlich die Mischung 
von Furcht und Mitleid zu einem anders gearteten Gebilde 
gestaltet hätte, wenn sich der Mensch auf jenen Stufen der 
Entwicklung der Determiniertheit seines Willens und Handelns 
bewusst worden wäre, als beim Glauben an die Willensfreiheit, 
wo er sich allein das ganze Kritische seiner Lage zuschreiben 
rausste. Die inkonsequenten indeterministischen Lehren können 
sich demnach den Ursprung des Gewissens leichter und be- 
(}uemer erklären, als die deterministischen Theorien. 

Ich sage die inkonsequenten, weil der konsequente In- 
determinismus, der keinen Zusanmienhang zwischen den Er- 
scheinungen kennt, ^) sich weder Gewissen noch Strafe erklären 
kann ;. Strafe nicht, weil sie doch eine Reaktion auf eine Aktion 
ist und so einen Zusammenhang zwischen den Zuständen eines 
Menschen in sich schliesst; das Gewissen nicht, weil nach der 
Willkürlehre das Gewissen nur nach rückwärts, nicht aber 
nach vorwärts gekehrt ist, weil es sich nur mit vergangenen 
Dingen ganz zwecklos befasst, ohne auf die zukünftigen Willens- 

') S. Paul R^e, a. a. 0,, Seite 213. 
') S. Kap. I, §§ 5 u. 6. 



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— 67 ~ 

handlangen des Menschen irgendwie von Einfluss sein zu können. 
Ebenso wie der konsequente Indeterminismus sich mit der an- 
geführten Ableitung der Strafe aus der Rache, des Gewissens 
aus bestimmten Beziehungen nicht einverstanden erklären kann, 
so auch nicht der transcendentale Indeterminismus, der die Sittlich- 
keit, ihre Organe, ihre Phänomene absolut übersinnlich fasst. 
Die inkonsequenten Preiheitslehren, die ein Herauswachsen der 
Willenshandlungen, der innern Erscheinungen, aus vergangenen 
Willensthat^n, aus verflossenen Phänomenen zugeben, dabei 
aber doch eine Freiheit des Willens anerkennen, diese Theorien 
erklären am leichtesten das Entstehen des Gewissens als eine 
Rache gegen sich selbst, als Reaktion gegen eine frei bewirkte 
Aktion. Jedoch auch der Determinismus vermag sich die Erschei- 
nungen zu erklären, indem er zwar die Realität der Willensfreiheit 
leugnet, aber doch lehrt, dass und weshalb die Menschheit an 
eine Willensfreiheit geglaubt, so dass dieser Glaube eines Ver- 
brechers ganz frei das Verbrechen begangen zu haben, der 
Mischung von Mitleid und Furcht ein gewisses Etwas hinzufügte, 
wodurch das Gebilde entstand, das man Gewissen nennen kann. 

ji{» 10, Die aus der Natur der Blutrache resultierende Verstaat- 
lichung der Vergeltung und ihre ethische Bedeutung, 

Als zweites Stadium in der Entwicklung des Vergeltungs- 
gedankens gilt die Verstaatlichung der Rache, der Uebergang 
der Privatvergeltung auf eine Gesamtheit, auf ein Organ der 
Einheit, welcher der Einzelne angehört. Dieser Uebergang erfolgt 
mit Naturnotwendigkeit, da sich die Rache immer mehr organi- 
siert, eine immer höhere Organisationsform annimmt. Der in 
seiner Person oder in der seiner nächsten Verwandten Verletzte 
ist nämlich oft nicht im stände ohne Beihiilfe Anderer sein 
Rachebedürfnis zu befriedigen, sieht sich daher veranlasst, Bünd- 
nisse mit Stammesgenossen u. s. w. zu schliessen, zum Zwecke 
gemeinsamer Rachezüge, was den bedrohten Verletzer ebenfalls 
zwingt, in Verbindung mit Andern zürn Zwecke der Verteidigung 
oder des nötigen Angriffes zu treten. Der Kampf Mehrerer gegen 
Mehrere macht nun eine Organisation notwendig, die Organisierung 
aller Kräfte und die Einsetzung einer Behörde ^ die die gemeinsamen 
Rachezüge leitet und die innern Streitigkeiten schlichtet. Diese 



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— 68 - 

Behörde oder richtiger der Rottenhäuptling bildet den Anfang 
einer staatlich organisierten Vergeltungsbehörde. 

Diese Verstaatlichung bedeutet einen gewaltigen Fortschritt 
im Entwicklungsprozess der Vergeltung, auch wetui der Staat 
keinen Schuldbegriff gebildet hätte. Dies muss denjenigen gegen- 
über betont werden, die die Wiedereinführung der Privat Vergeltung 
als eine Konsequenz des Determinismus, der den Schuldbegriff fallen 
lassen muss, ansehen, da es doch richtiger sei, dass der Verletzte 
selbst — und nicht Leute, die zur bösen Handlung, die vergolten 
Nvird, gar keine Beziehung haben — den Racheakt, die Ver- 
geltung vollzieht. Abgesehen davon, dass der Determinismus zur 
Aufhebung des Schuldbegriffes nicht gezwungen ist, wovon noch 
weiter unten, ist diese Behauptung falsch, denn auch wenn der 
Staat gleich dem rachebedürftigen Individuum bloss nach der 
Thatsächlichkeit der Verletzung und nicht nach der Schuldhaf- 
tigkeit des Verletzers fragen sollte, ist die Vergeltung durch 
den Staat sittlicher als die durch die interessierte Person: 1. in 
Ansehung des Verletzers, 2. in Ansehung des Verletzten, 3. hi 
Ansehung der Zeugen des Vergeltungsaktes. 

1. In Ansehung des Verletzers ist sie sittlicher, weil sie 
entschieden humaner ist, denn der Verletzte selbst übt die Ver- 
geltung sicherlich viel grausamer aus als der ihn vertretende 
Staat. 2. In Ansehung des Verletzten ist sie sittlich höher zu 
stellen, weil dadurch, dass er nicht selbst die Vergeltung voll- 
zieht, jene Gemütsverwilderung ihm erspart bleibt, die jede 
grausame That, mag sie sogar sittlich geboten sein, zur Folge 
hat. 3. In Hinsicht der Zeugen der Strafe ist die Handhabung 
derselben durch den Staat ethischer als die durch das angegriffene 
Individuum, weil sie weniger verrohend auf die Volksseele, auf 
das Gemüt derer, die der Vergeltung beiwohnen, wirkt. ^) 

*) Auf dieses Moment der Volksverrohung un<l Verwilderung dur(?]i 
die Strafe, nehmen auch philosophische Juristen wenig Rücksicht. So 
z B. Gretener, Die positive Schule des Strafrechts, a. a. O., Seite 177, in 
seiner Polemik gegen Ferri. Ferri nämlich macht g^f^a^i^ die Anwendung 
d<M- künstlichen Selektion auf socialem Gebiete das Bedenken geltend, 
dass alsdann in Italien allein jährlich 2000 allgemein schädliche, unheilbar 
krankhafte Individuen vernichtet werden müssten. Gretener hält diesem 
Betienken für unzureichend um der Konsequenz des sogenannten .socialen 
Darwinismus* auszuweichen. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, 
welche Abstumpfung den Volksgemütes eine jährliche Massen Vernichtung 



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- 69 - 

Auch historisch zeigt sich die sittliche Bedeutung des 
Ueberganges der Vergeltung vom Einzelnen auf die Gesamtheit, 
indem an diesem Punkte der Entwicklung die Beilegung der 
Rache durch Geld, wie das Absterben der Rache überhaupt 
begann. ^) 

§ 11, Die Anfänge der socialen Verantwortlichkeit ^ wie der 

Zurechnung des Gwten und ihre Unabhängigkeit vom Begriffe 

der Willensfreiheit. 

An diesem Punkte der Entwicklung, an welchem sich die 
Rache immer mehr organisiert, indem sich Staaten und Völker 
immer mehr bilden, taucht die sociale Verantwortlichkeit auf. 
Jedes Glied eines Kreises, das von seinen Genossen abhängig 
ist, unterliegt dem Beifall oder Tadel desselben. Alle Glieder 
«ines Kreises oder einer Rotte beachten und beurteilen die 
Handlungen, die Lebensweise ihrer Genossen, weil ^ie Interesse 
daran haben, weil sie selbst an den Racheakten eines jeden 
ihrer Genossen teilnehmen und durch die Rachezüge gegen einen 
ihrer Genossen leiden müssen. An diesem Punkte, wo der Eme 
für den Andern streitet, der Eine dem Andern Dienste erweist, 
macht sich auch die Vergeltung in belohnendem Sinne bemerkbar. 
Die Belohnung wurzelt hier in der stillschweigenden Verpflich- 
tung der einzelnen Glieder eines Bundes zu gegenseitiger Dienst- 
leistung und zur Auszeichnung hervorragenden Dienstes. Diese 
Urformen der socialen Belohnung und Strafe, wie der Belohnimg 
überhaupt, sind von der Annahme der Willensfreiheit selbstver- 
ständlich unabhängig. 

Jlf 12. Das Gewisse!} als Parallele zur staatlich organisierten 

Vergeltung, 
Das Gewissen, das aus den Beziehungen des Verbrechens 
hervorwächst^ ändert sich, so sich die Beziehungen ändern. Ist 

herbeiführen würde, welchen grossen psychischen Scheiden sie anrichten 
dürfte, einen Schaden, der ihren Nutzen überwiegen könnte, dann muss 
man, selbst wenn man den socialen Darwinismus für berechtigt hält, das 
Ferrisohe Bedenken gegen eine praktische Durchführung desselben teilen. 
Zweifelhaft ist es freilich, ob Ferri mit seinem Bedenken den Gedanken 
verknüpft^ den ich ihm unterlegte. 
') S. Paul R6e, a. a. 0., § 16. 



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— 70 — 

auf einer höhern Stufe der Entwicklung die Vergeltung nicht 
mehr in Händen eines schwachen Einzelnen, sondern in den 
eines mächtigen Qesamtwillens, so ist die Furcht vor der Ver- 
geltung vül mächt^er; ist die Vergeltung nicht mehr in Hähden 
des Feindes, sondern in denen einer geachteten Obrigkeit, so 
verstärkt sich naturgemäss das Mitleid des Verbrechers mit seinem 
Opfer, welches persönlich ihm nicht mehr in den Weg tritt,. 
so gewinnt das aus Mitleid und Furcht zusammengesetzte Ge- 
wissen eine andere Gestalt. Die krasse Furcht vor der Vergeltung 
verfeinert sich mittlerweile zu einer Ehrfurcht vor der vergel- 
tenden Obrigkeit; die gefiirchtete Macht steht als eine Autorität 
da. Jede Autorität, auch wenn sie nicht unermesslich und mi- 
endlich ist, vermag sich zu dem zu bilden, das zu erzeugen, 
was auf einer niedrigem Stufe Gewissen ist. Hartmann i) hat 
Recht, wenn er mit Haller gegen v. Kirchmann -) vom heteronom- 
autoritativen Standpunkt aus jeden Orad von Ueber legen heit 
als ausreichend zur Begründung eines moralischen Einflusses 
erachtet. Der Rottenhauptmann, der Herrscher jeder Art ist auf 
einer niedern Stufe der Entwicklung der Erzeuger des Gewissens, 
der Massstab aller Dinge; jedoch nicht der Häuptling allein, 
nicht der Staat allein, sondern auch die Gesellschaft, die Ka-^ 
meradschaft des Einzelnen bildet die Autorität, auf die er immer 
Rücksicht nimmt. Darin hegt ein sehr wesentliches Moment der 
Sittlichkeit ; denn was die Gesellschaft, was eine Vielheit mensch- 
lieber Wesen gut oder übel heisst, worin sich mehrere Menschen, 
ihre Besonderheiten abstreifend, einen, das entspricht in den 
meisten Fällen"^) der Natur des Menschen, ist sittlich.*) 

') A. a. 0., Seite 58. 

•) Indessen hat Kirohmann mit seiner Behauptung, dass die Mo- 
ralität erzeugende Autorität unendlioh und unermesslich sei, indofera 
lleoht, als der vollentwickelte Mensch von einer so grossen Anzahl von 
Autoritäten beherrscht wird, so verschiedenartigen Einflüssen zugänglic)i 
ist, dass sie ihm unendlich und unermesslich erscheinen müssen. 

■) Freilich giebt es Zeiten, Gesellschaften, in denen die Menschheit 
so verkommt, dass für einzelne sittliche Charaktere nichts übrig bleibt,, 
als gerade das Gegenteil von dem zu machen, was die Majorität für gut hält. 
Diese Zeiten stellen aber bloss die Ausnahmen der allgemeinen Regel dar. 

*) So hat bekanntlich Smith das Prinzip der öffentlichen Meinung 
in der Moral mit einem gewissen Recht aufgestellt. ,Gut ist, was den 
Beifall der Gesellschaft findet, Böse, was den Tadel derselben erregt.** 



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— 71 — 

Staat und Gesellschaft sind also die Erzeuger des Gewissens, 
ihre Gesetze bilden den' Codex, nach welchem das Gewissen 
entscheidet. Diese autoritative Macht des Staates und der Gesell- 
schaft, der Obrigkeit und der Kameradschaft dehnt sich immer 
mehr aus und verinnerlicht sich im Laufe der Entwicklung. 
Die Autoritäten, die auch einen religiösen Charakter^) haben 
können — denn dem Wilden ist sein Häuptling ein Fetisch, ein 
Gott -^ bemächtigen sich des Menschen, so dass sie gleichsam 
zum zweiten^ höhern^ herrschenden Ich desselben werden, so\ 
dass sie ihre Residenz im Menschen selbst aufschlagen. Gewissen! 
ist also kurz gefasst die Stimme des Volkes und seiner MachtA 
hoher in jedem Gliede dieses Volkes und zwar kommt die' 
Stimme anfangs von aussen, auf höhern Stufen der Entwicklung 
scheint sie von innen zu kommen. Diese Form des Gewissens 
ist nun allenfalls noch nicht das, was in der Jetztzeit als Ge- 
wissen gilt; denn dieses Gewissen ist zwar nicht mehr bloss 
Mitleid und Furcht, sondern enthält auch etwas Idealeres, Ethi- 
scheres, ist aber immerhin noch zum Teil heteronomischj was 
nicht verwundern kann, da doch die Begriffe: Sollen, Gebot, 
Pflicht, Gesetz, Strafe, sich ursprünglich auf ein äusserliches 
heteronomisches Verhältnis beziehen und erst beim voll ent- 
wickelten Menschenwesen eine innerliche autonomische Bedeu- 
tung erlangen. 2) Jedoch lassen sich schon in diesem Stadium der 
Entwicklung die Anfänge der Pflicht- und Schuldbegriffe denken. 

§ 13. Die wahrscheinlichen Anfänge der Pflicht- und Schuld- 
begriffe und ihre Unabhängigkeit von der Annahme der 

Willensfreiheit. 
Pflicht deutet auf ein Gebundensein hin, -^j deutet das 
Vorhandensein eines Verpflichtenden an, dem man Rück- 



') Vgl. Spencer, a. a. 0., Seite 127, 128. 

*) S. Gizyckij a.a.O.. Seite 141. Die grössten Denker habeo auch 
mindestens teilweise die Sittlichkeit mit himmlischen Mächten in Bezie- 
hung gebracht, also auf äussere Autoritäten begründet. Auch abgesehen 
von Warburton. S. Jodl, a. a. 0., Bd. 1, Seite 202-204, von Paley. S. eben- 
daselbst, Seite 205, 206, führen Cumberland, Clarke die Sittlichkeit teil- 
weise auf Gott zurück. S. ebendas. über den erstem. Seite 143, über den 
letztem, Seite 155 168. 

') Warburton fasste den PfliohtbegrifT auf folgende Weise: „Jede 
Verpflichtung setzt einen Verpflichtenden, einen Oesetzgeber, also Gott 



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— 72 — 

sichten ' schuldet. Dieser Verpflichtende ist nun in den ersten 
Stadien der menschUchen Entwicklung der Rottenhäuptling, die 
Rotte und die Götter, denen man Dienste schuldet^ gleichsam 
im geschäftlichen Sinne des Wortes, als Dank für ihre Leistungen 
schuldet. Wer nun diese Pflicht nicht erfüllt, der trägt die Schuld. 
Lässt man auch das Wortspiel, ^) das Hinübertragen des geschäft- 
lichen Schuldbegriffes auf den moralisch rechtlichen, so lässt sich 
noch immer sagen, dass der Schuldbegriff', anfänglich mit Frei- 
heit oder Unfreiheit des Willens, mit der Unterscheidung zwischen 
durch zureichende Gründe notwendig gewordenen Handlungen 
und freien nichts zu schafften hat, sondern einfach ein Abhängig- 
keitsverhältnis des Einzelnen von seiner Gesamtheit, des Be- 
herrschten von seinem Herrscher, des Geschöpfes von seinem 
Schöpfer, ausdrückt. 

Pflicht' und Schuldbegriff, d. h, die Rücksichtnahme auf 
die anerkannten Autoritäten'^) var dem Handeln und die 
Rechtfertigung vor denselben nach dem Handeln^ sind nicht 
als Konsequenzen des Preiheitsgedankens entstanden, sondern 
entwickelten sich anfänglich ganz unabhängig von demselben. '^) 

ß 14, Die Idealität und Axiomität des Vergeltungsgedankens 
auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, 
Das dritte Stadium in der Entwicklung der Vergeltungs- 
strafe charakterisiert sich durch die Idealität und Axiomität der 
Strafe einerseits und durch die Konstruierung eines bestimmten 
Schuldbegrifi^es andererseits. Erst auf diesem Punkte der Ent- 

voraus*. S. Jodl. a. a. 0., Bd. 1, Seite 202 204. Paley giebt folgende De- 
finition vom Pflichtbegriff: „Verpflichtet sein, heisst nichts, anderes, als 
von einem starken, auf dem Befehle eines andern beruhenden Motiv ge- 
trieben werden*. S. .Jodl, a. a. 0., Bd. 1, Seite 205. 

') Dieses Wortspiel leitet Nietzsche bei seiner Fassung des Schuld- 
begriffep. Vgl. Hugo Kaatz, a. a. 0., Seite 38—44. Solche Wortspiele 
können, zur Klärung eines Gedankenganges beitragen, dürfen jedoch nicht 
mit den Bestandteilen desselben verwechselt werden. Mein hochverehrter 
Lehrer, Moritz Lazarus, meint von ähnlichen HüUsmitteln der Unter- 
suchung, dass sie gleich dem Gerüst eines Baues, sobald der Gedankenbau 
vollendet ist, niedergerissen werden müssen und nicht mit dem Bau 
selbst verwechselt werden dürfen. 

') Vgl. Paulsen, System der Ethik, 1. Bwch, Seite 314, 315, 381. 

*) Vgl. Spencer, a. a. O., Kap. 4, § 19, über Hobbes. 



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B^-"7< 



- 73 — 

Wicklung lassen sich Strafe und Rache von einander scharf 
scheiden. Die Rache bezieht sich auf den Verletzer, die strafende 
Vergeltung hingegen auf die Verletzung, aufs Verbrechen, aufs 
böse Prinzip im Verbreche)-. Von der Person wird ganz abstrahiert 
oder die Strafe wird im Auftrage und als Rechtsanspruch des 
Verletzers selbst vollzogen, der auch eine Beziehung zur Rechts- 
idee und ein Interesse hat an der Wiederaufhebung des Uebels- 
und Ausgleichung der Negation, die seine verletzende Handlung 
hervorgebracht. Dieser Standpunkt wird hauptsächlich vonHegel^) 
vertreten und von Julius Stahl 2) vertieft, indem letzterer die 
Beziehung zwischen Verbrechen und Strafe nicht wie HegeP) 
in Verletzung und Wiederverletzung sieht, sondern in der Ueber- 

•) Hegel drückt sich in seiner Weise folgender raassen aus: „Die 
Verletzung, die deb Verbrecher widei-fiihrt, ist nicht nur an sich gerecht, 
als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner 
Freiheit, sein Recht, sondern sie ist auch ein Recht an dem Verbrecher 
selbst, das ist in seinem Dasein den* Willen in seine Handlung gesetzt, 
<]enn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, da sie etwas all- 
gemeines, das durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich 
anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsummiert 
werden darf". Grundlinien, a. a. 0., § 100. Vgl. § 99. Aus dieser dunklen 
Fassung erhellt so viel, dass Hegel die Strafe ganz abstrakt, rein logisch 
und höchst idealistisch fasst. Diese Straftheorie — mag man sie auch 
nicht anerkennen — kann nur von einer oberflächlichen und flachen 
Kritik als ganz absurd gefunden werden, denn sie bildet den Gipfelpunkt 
in der Entwicklung des Vergeltungsgedankäns, ist nicht nur eine gross- 
4irtige Abstraktionsleistung des Mensohengeistes, sondern auch geradezu 
eine Ehre fürs Menschengeschlecht in sittlicher Beziehung, da sie als 
charakteristisches Zeichen für den Höhepunkt der sittlichen Entwicklung 
•des Menschen insofern dienen kann, als sie zeigt, dass die ursprüngliche 
Rache völlig idealisiert und ethisiert wurde. Vgl. Eine kritische Dar- 
stellung der Straf theorien bei Cless. „Die Aufgabe des Staates gegenüber 
dem Verbrechertum nach den Grundsätzen des Materialismus.* Zürich 
1875. Seite 60 bis zum Schluss, wo über Hegel mehr schimpfend als 
]uitisierend der Stab gebrochen wird. S. Zellers Geschichte d. deutschen 
Philosophie, a. a., Seite 656, wo Hegels Straftheorie als die gründlichste 
und geistvollste Wiedervergeltungslehre bezeichnet wird. 

*) Rechts- und Staatslehre, a. a. 0., 1. Abt., 1. Buch. § 54, Seite 
167, 168. 

^) Die Thatsache, dass Hegel durch Wiederverletzung die Verletzung 
aufgehoben denkt, zeigt, wie mir scheint, dass auch beim grössten Rechts- 
idealisten die Vergeltung trotz aller Entwicklung teilweise ihren uraprüng- 
Hellen Charakter als Rache behält. 



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— 74 ~ 

hebung des Willens, die durch die böse That zum Ausdrucke 
gelangt, und der Niederdrückung des Willens, die die Strafe 
bewirken soll.*) 

Stahl giebt den Unterschied zwischen Strafe und Rache in 
folgenden Worten an:-) „Die Rache hat ihren Grund in der 
Verletzung einer Persönlichkeit, in ihrer subjektiven Befriedigung^ 
die Strafe aber in der Verletzung eines höhern sittlichen Willens 
als solchen oder einer sittlichen Ordnung, und die Rache sucht 
das Leiden des Verletzten um des Leidens willen, dagegen Gott 
oder Staat strafen den Verletzer nicht, damit er leide, sondern 
lassen ihn leiden, damit er gestraft sei.** 

Man sieht nun, zu welchem Idealismus die Wiedervergeltung 
sich emporgeschwungen hat, man bemerkt es viel deutlicher an 
den idealistischen Ausläufer der Vergeltungslehre, an der Hegelisch- 
Stahlischen Straftheorie, welche — während die gewöhnlichen 
Vergeltungstheorien der Person Genugthuung verschaffen wollen, 
von derselben bei ihrer Betrachtung ausgehen und sie erst im 
Laufe der Darstellung des Strafbegriffes gleichsam aus dem Auge 
verlieren — von vorneherein von der verletzten Person entweder 
ganz oder von ihr als verletzende Person absieht. Ein solcher 
Idealismus ist nur möglich, weil die Strafe 1. rein logisch gefasst 
wird, 2. eine axiomatische Sicherheit erlangt hat und 3. im Be- 
sitze der höchsten Sanktion ist. 

1. Die Strafe wird rein logisch gefasst; während die Rache 
eine Person B gegen eine Person A reagieren lässt, lässt die 
Strafe eine Handlung B aus einer und auf eine Handlung A 
folgen. Der „praktische Syllogismus** ein Terminus, dessen sich 
die scholastische Rechtsphilosophie bedient, ist ein bezeichnender 
Ausdruck — allerdings nur ein Ausdruck — für die Vergeltungs- 
strafe, die vollständig abstrakt gefasst wird. 

2. Die Strafe ist axiomatisch 1. da ihre Berechtigung nicht 
mehr angezweifelt wird, und 2. da man sie rigoristisch handhabt. 
Als Beweis dafür, dass die Berechtigung der Strafe gar nicht an- 

') Diese Fassung der Theorie hebt das grösste Bedenken gegen 
dieselhe auf, das nämlich, dass die böse Handlung durch den Akt der 
Strafe nicht vernichtet wird. Die Ueberhehung des Willens aber wird 
vorniehtet, die verletzte Herrlichkeit des Gesetzes wird wieder hergestellt 
durch die Demütigung und NiederdrUckung des übermütigen Willens. 

-j A. a. O., Seite 167, 168. 



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— 75 — 

gezweifelt wird, mag die Thatsache dienen, dass sich die absoluten 
Straflehrer in einem Kreise bewegen, so sie das Verhältnis der 
Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit behandeln. Heinze, ein 
Vertreter des Preiheitsprinzips sagt selbst^) in Bezug auf die 
Verfechter der Freiheit des menschlichen Willens im Interesse 
der Vergeltungslehren: „Man glaube gerecht zn strafen, weil 
man den freien Willen voraussetze und gehe von der Annahme 
eines freien Willens aus, weil sonst weder von der Strafe im ab- 
soluten Sinne, noch von der Gerechtigkeit der Strafe die Rede sein 
könnte." Mir beweist dieses Nicht hinauskönnen aus der absoluten 
Passung der Strafe, wie wenig eigentUch die Berechtigung zur 
Strafe angezweifelt und wie axiomatisch die Strafe gefasst wird. 

Als Beispiel für die rigoristische, unbedingte Durchführung 
des Vergeltungsgedankens mag die Satisfaktionslehre Anselm 
V. Canterburys dienen. Nach dieser Lehre nämlich konnte der 
Mensch seiner Erbsünde wegen, der verletzten unendlichen 
Majestät Gottes keine unendliche Genugthuung darbieten, wes- 
halb die unendliche Liebe Gottes, Gott selber Mensch werden 
und sich für die Sünde des Menschen als ein hinreichendes 
Opfer darbringen Hess. Diese theologische Lehre zeigt, welche 
Unbedingtheit dem Vergeltungsgedanken innewohnt, denn Gott 
hätte doch — anthropomorphistisch gesprochen — das Mensch- 
werden lassen können, wenn er auf die Genugthuung, auf die 
Vergeltung in Gnade verzichtet hätte. Die Notwendigkeit der 
Vergeltung scheint aber dem Anselm so absolut, dass er über 
dieses Bedenken leicht hinweggleiten kann. 

3. Die Strafe erhält ihre höchste Sanktion durch das Ge- 
wissen, so dass ihr Ursprung völlig verwischt wird. ^) Die Axio- 
mität der Strafe, ihr dogmatischer Charakter wird verständlich, 
wenn man bedenkt, dass sie zu den ältesten und häufigsten 
Induktionen des Menschen gehört, des einzelnen, wie des Menschen- 
geschlechtes. Der einzelne begegnet ihr schon früher und sehr 
oftj in seinem Innern und in der Aussen weit; an sich erfährt 
er oft die Wirkung böser Handlungen, die sich gleichsam als 

') Heiiize zitiert bei Kduard Herz, Das Unrecht und die allgeineineu 
Lehren des Strafrech' a. 1. Bd., Humburg, 1880, Seite 120. So sagt auch 
Pfeiminger, Seite 24. a. a. 0., „Die Frage nach dem Recht der Strafe ist 
nichts weiter als eine vom Wirkliehen abgelöste Vorstellung." 

»} S. Einleitung, 5§ 1. 



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— Tß — 

Vergeltung darstellen, *) erfährt auch die Vergeltung in Fot^i 
von Gewissensbissen; in der Aussen weit sieht er die Strafe als 
Mittel der Erziehung, als einfachen Racheakt, al& staatliche 
Funktion, als sociale Verachtung u. s. w. Die Menschheit kennt 
sie seit der Urzeit Tagen in den mannigfachsten Formen. Dieser 
Urnstand nun, dass sie so oft angewandt wird und dass sie 
so ehrwürdigen Alters ist, was sie heilig spricht, prägt ihr den 
kategorischen Charakter auf. Das Argumentum e consensu gentium, 
das für die bewusste Urteilsbildung keinen hohen Wert hat, 
macht sich in der unbewussten Urteilsbildung s^r geltend, 
indem sich das von vielen Zeiten und Geschlechtern Geübte,' 
das durch die Jahrtausende und durch die Majorität der Mensch- 
heit Sanktionierte in der Form des Sollens als kategorischer 
Imperativ, als moralisch-rechtliches Axiom giebt. Freilich fasse 
ich hier Axiom nach John Stuart MilP) als eine der ersten, 
häufigsten und sichersten Erfahrungen des Menschengeschlechtes, 
die immerhin noch irgendwie gestürzt werden können. 

§ 15. Der Schuldbegriff, 
Die höchste Stufe in der Entwicklung des Vergeltungs- 
gedankens, die ich charakterisiere, zeichnet sich auch dadurch 
aus, dass in ihr der Schuldbegriff und andere ihm verwandten 
Begriffe eine hervorragende Bedeutung haben und ganz bestimmt 
geartet sind. Gewöhnlich wird der Schuldbegriff mit der Frei- 
heitslehre in Verbindung gebracht. Schuldig ist derjenige, der 
frei eine böse Handlung begangen, \mschuldig der, der sie unfrei 
vollbracht hat. Ich glaube doch, dass man sich die Begriffe 
der Verantwortlichkeit, der Schuld, der Zurechnung, in ihren 
Anfängen mindestens, ganz unabhängig vom Freiheitsbegriff zu 
denken hat und zwar auf folgende Weise. Schon vor der Ver- 
staatlichung der Rache auf einer hohem Kulturstufe sah sich 
der Verletzte selbst veranlasst zur Unterscheidung von empfin- 
denden und empfindungslosen, fühlenden und gefühllosen, ver- 
nünftigen und vernunftlosen, persönlichen oder unpersönlichen 
Verletzem, d. h. zu unterscheiden zwischen solchen, die sich 
verantworten könne?i und solchen, die über sich alles ohne jede 

*) Pfenninger, a. a. 0., S. 30. „Ja, bis in die physiologischen Vorgänge 
des Körpers reift diese Auffassuogsweise", die der Vergeltung nämhoh. 
') Vgl. SyBt^m der Logik, a. a. 0., Buch 2, Kap. 3. 



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— 77 — 

Abwehr ergehen lassen.^) Diese Unterscheidung nahm er wohl an 
Hand der Thatsache vor, dass die Verletzer, gegen die sich seine 
Rache richtete, in Bezug auf die Gegenwehr sich von einander 
graduell verschieden zeigten. Diese Trennung nun vertieft der 
Staat und dehnt sie auch in Bezug auf die Qualität des Verletzers 
während der Vollziehung der zu bestrafenden bösen Handlung 
aus. Während der Einzelne gewisse Wesen, Subjekte oder Objekte 
von seiner Rache ausschloss, wenn sie dieselbe nicht fühlen oder 
nicht 80 fühlen konnten, wie er es haben mochte, nämlich als 
Reaktion auf ihre Aktion, schliesst der Staat — einen Schritt 
weiter gehend — auch diejenigen von der Strafe aus, die bei 
der Vollziehung der verbrecherischen That nicht als Menschen, 
sondern mehr als Untermenschen, d. h. ohne Bewusstsein wirken. 
Mit andern Worten, während der Einzelne mehr oder weniger 
eine Unterscheidung in Rücksicht auf die Ausübung der Rache, 
i7i Rücksicht auf den Zweck der Vergeltung machte, machte 
der Staat diesen Unterschied in Rücksicht auf den Anlass zur 
Riiche, auf den Grund derselben. Bei einzelnen handelte es sich 
um die Verantwortlichkeitsfähigkeit im Momente der Straf- 
vollziehung, d. h. um die Fähigkeit gestraft zu werden, bei dem 
Staate handelt es sich um die Verantwortlichkeitsfähigkeit im 
Mometäe des strafbaren Handelns, d. h. um die Fähigkeit als 
Mensch, als Vemunftwesen die strafbare Handlung zu- vollziehen. 
Der Punkt, an dem der staatliche Schuld- und Verantwort- 
lichkeitsbegriff mit dem privaten zusammentrifft, an dem der 
erstere vom letzteren emporkeimt, ist die Unterscheidung zwischen 
denen, die die Vergeltung als Vergeltung, als Konsequenz ihrer 
Handlung ansehen können und denen, die es nicht vermögen. 
Der Einzelne, der sich rächen will, hat naturgemäss die Person, 
an der er sich rächen möchte, und den Racheakt im Auge und 
macht deshalb seine Unterscheidungen in Bezug auf die Zurech- 
nungsfähigkeit zur Vergeltung, der Staat hingegen, der die 
Vergeltung abstrakt und logisch fasst, der an der Unlustzufügung 
an sich gar kein Interesse hat, wendet sich dem (Irunde der 
Strafe zu und macht seine Unterscheidungen in Bezug auf 
den Moment, in welchem die Schuld entsteht, d. h. die dem 
Staate und der Gesellschaft angenehme Handlungsweise verletzt 

') Vgl. i. d. K. § 8 in Bezug auf die Rache des Xerxes. 



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— 78 — 

wird. Der Staat überlässt es selbstverständlich nicht dem 
Verbrecher zu bestimmen, ob er als Mensch oder als Unter- 
mensch verbrochen hat, sondern stellt allgemeine Grundsätze, 
allgemeine Regeln nach dieser Richtung hin auf. In solcher 
Fassung sind Verantwortlichkeits- und Schuldbegriffe vom Prei- 
heitsproblem unabhängig; indessen muss zugegeben werden, 
dass im Laufe der Entwicklung der nun einmal vorhandene 
Glaube^) an die Freiheit des menschlichen Willens auf die 
weitere Ausbildung und praktische Verwertung des Schuld- 
und Zurechnungsbegriffes von grossem Einflüsse war. 

§ 16. Der aMtonomische und axiomatische Charakter des 
Gewissens auf dem Höhepunkt der Entwicklung. 
Wie die Strafe sich im Laufe der Entwicklung idealisiert 
und axiomatisiert hat, so auch das ihr parallele Phänomen im 
Innern. Die Idealisierung des Gewissens bildete sich durch seine 
Autonomisierung. Das Gewissen, das die Sprache des Staats und 
der Gesellschaft spricht, sozusagen die Interessen derselben im 
Individuum vertritt, spricht nicht mehr sein Urteil im Namen 
seiner Herrscher, im Namen des Staates und der Gesellschaft aus 
und kann es auch nicht im Namen derselben aussprechen, da 
die staatlichen und gesellschaftlichen autoritativen Einflüsse so 
mannigfaltig sind, dass das' Individuum ihren Namen, sie über- 
haupt kaum kennt. Das Gewissen ist zu einer innern Macht ge- 
worden. Am Entstehungspunkte war es rein egoistisch, dann 
zum Teil auch heteronomisch und an seinem Höhepunkt ist es 
subjektiv autonomisch. Wie in Bezug auf die mythologisch- 
dramatische Fassung des Gewissens im Hellenismus ^) sich zuerst 
eine Objektivierung und Verkörperung und dann eine Entkörpe- 
rung und Subjektivierung desselben geltend machte, so auch 
bezüglich der Entwicklung des Gewissens überhaupt. Zuerst ist 

*) Vgl. i. d. K., § 11. 13. Es darf nicht ausser Aoht gelassen werden, 
dass der SchuldbegriflF einen weitern populären und einen engern rein 
juristischen Sinn hat. Im allgemeinen bedeutet derselbe nichts mehr 
als ein Bewusstsein, dem Staate Rede stehen zu müssen, weshalb die 
positive Schule des Strafrechts, die jede Schuld in streng juristischem 
Sinne leugnet, noch immer von Schuld und Schuldigen spricht. 

*) S. Kap. 1, § 17 - 23. 

*) S. Gass, Die Lehre vom Gewissen, Berlin 1869, Seite 10. 



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— 79 — 

sich der Mensch der äussern Mächte, die er fürchtet und berück- 
sichtigt, bewusst, nachher entkörpem und verinnerUchen sich 
dieselben in seinem Bewusstsein. Das Gewissen wirkt allerdings 
noch immer im Dienste des Staates und der Gesellschaft,^) aber 
der Mensch ist sich dessen nicht mehr bewusst. Diese Autonomie 
des Gewissens begründet seine Axiomität. 

§17, Die Beziehungen zwischen injierer und äusserer 
Verantwortlichkeit. 

Nach der Darlegung der Straf- unä Gewissensentwicklung 
kann die Frage beantwortet werden, in welcher Beziehung innere 
und äussere Strafe zu einander stehen. In Bezug auf den Ent- 
wicklungsgang des Gewissens ist die Institution der Strafe von 
grosser Bedeutung, da doch das Gewissen in seinen Uranfängen 
eine Furcht vor Strafe, auf höhern Stufen der Entwicklung eine 
Rücksichtnahme auf äussere strafende Autorität ist und auch 
auf den höchsten Stufen nur deshalb eine axioraatische Form 
erlangt, weil das Phänomen der Vergeltung in Staat und Ge- 
sellschaft so häuiSg wiederkehrt. 

In Bezug auf das Fortbestehenkönnen des Gewissens aber, 
nachdem es bereits entstanden ist, lässt sich eine Unabhängig- 
keit von der äussern Vergeltung annehmen. Wenn es z. B. eines 
schönen Tages aus Rücksicht ^uf Lombroso und Nietzsche 2) keine 
staatliche Strafe mehr gäbe, so würde das Gewissensphähomen 
vielleicht mit weniger Energie, so doch allenfalls auftreten. 
Aehnliches lässt sich auch in Bezug auf den Einfluss des Ge- 

^; Das Medium der Uebertragung staatlich-gesellschaftlicher Welt- 
urteile auf das Individuum findet Paul R^e, a. a. O., § 27, in der Wert- 
»ohätzung der Dinge und Zustände durch die Sprache, in der Verknüpfung 
gefühlsmässiger Bewertung der Dinge mit dem sprachlichen Ausdruck. 
Gegen die Abhängigkeitserklärung des Gewissens auch auf den höchsten 
Stufen der Kultur von den äussern Mächten des Staates und der Gesell- 
schaft spricht die Thatsache nicht, dass das Gewissen manchmal mit dem 
Urteile des Staates und der Gesellschaft kollidiert, denn erstens bezieht 
sich ein solcher Konflikt des Individualgewissens mit den Gesammtge wissen 
zumeist auf einen Einzelfall, auf die Anwendung der Regel oder vielleicht 
auch auf die Regel selbst, aber nicht auf das allgemeine Prinzip, zweitens 
sind Staat und Gesellschaft so fliessende Einheiten, dass auich, wenn das 
Gewissen mit ihnen in Widerspruch zu stehen scheint, es noch immer 
sich in ihrem Fahrwasser bewegt. 

'0 S. Einleitung, § 8. 



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— 80 — 

Wissens auf die Strafe bestiraraen. Nimmt man die Strafe^ 
ohne Rücksicht auf ihre Genesis, so macht sich ein Einfluss 
des Gewissens in nur sehr geringem Masse geltend, betrachtet 
man aber das Entstehen der Strafe, ihre Entwicklung zur 
Axiomität, ihren Axiomatisierungsprozess, so muss dem G^- 
wissensphänomen eine bedeutende Wirkung zuerkannt werden; 
denn wenn die Strafe kein Echo hn Innern fände, keinen Für- 
spriecher im Gewissen hätte, würde wahrscheinlich der Axioma- 
tisierungsprozess ein viel langsamierer gewesen sein, würden sich 
die Menschen nur schwer zur absoluten, dogmatischen Passung 
der Strafgerechtigkeit bequemt haben. Die sociale Strafe hin- 
gegen ist völlig abhängig von der staatlichen und moralischen^ 
Strafe, denn die sociale Wertschätzung der menschlichen Hand- 
lungen richtet sich nach der Wertschätzung der staatlichen 
Gesetze und der Gewissensbestimmungen. 

§ 18, Das Verhältnis der Freiheits- oder Unfreiheitslehren zu 
den absoluten Straftheorien und der ihnen parallel laufenden 
Gewissensentfaltungen. 
Die Beziehungen zwischen Gewissen und Strafe sind nun 
festgestellt, was eine Peststellung der Beziehungen zwischen 
Willensfreiheit uud Verantwortlichkeit im Sinne der absoluten 
V(?rantwortlichkeitstheorien erleichtern kann. Diese Peststellung 
soll an der Hand der Beantwortung der Frage, wie sich die ver- 
schiedenen Theorien der Freiheit oder Unfreiheit zu den geschil- 
derten Straftheorien verhalten, dargelegt werden. Der konsequente 
Indeterminismus kann, wie bereits ausgeführt ist, keine Strafe 
konstruieren, da nach demselben kein „Weil" im menschhchen 
Wollen vorhanden ist. Auch Loben oder Tadeln hat nach dem- 
selben keinen Sinn, da man doch etwas Zufälliges nicht aner-^ 
können oder verurteilen kann. Gewissensbisse sind nach demselben 
auf vergangene Zufälligkeiten gerichtete Gefühle, sind überhaupt 
unverständHch. ^) Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis in- 
Bezug auf den inkonsequenten Indeterminismus, auf den Inde- 
terminismus par excellence,^) was vielfach unberücksichtigt wird,, 
indem man den Indeterminismus schlechthin als der Erklärung 

') S. I. d. K., § 9. 
^- Kap. 1, Ja 23. 



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— 81 - 

des Gewissensphänomeiis und der Begründung der. Strafe unfähig 
erachtet. 

Diese Ausserachtlassung^) des inkonsequenten Indetermi- 
nismus erklärt sich leicht, wenn man sich die Schwächen des- 
selben, die völlige Unhaltbarkeit , ^) in gewissem Sinne die 
Unwissenschaftlichkeit desselben vergegenwärtigt. Dieser inkon- 
sequente Indeterminismus, der die Freiheit des Menschen auf 
ein Wahlrecht desselben beschränkt, der seine Wahlfreiheit mit 
einer notwendigen Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in Ein- 
klang zu bringen vermag, ist aber der von den meisten Juristen 
vertretene Standpunkt und bildet die Grundlage aller indeterministi- 
schen Schuldbegriffe. Diese Wahllehre hat nun einen bedeutsamen 
Faktor in der Entwicklung der Strafgerechtigkeit und des Gewissens 
zur Absolutheit abgegeben. Auch der ihr nahestehende inkonse- 
quente Determinismus findet sich auf derselben Weise, wenn auch 
nicht mit derselben Leichtigkeit, mit den absoluten Straf-theorien 
ab. Der transcendentale Indeterminismus hingegen, der im Bereich 
des Empirischen keinen Raum für Willensfreiheit findet lind sie 
ins UebersinnHche verlegt, kann nur schwer die von ihm absolut 
gefasste Strafgerechtigkeit begründen, denn es bleibt doch un- 
verständlich, wie man das empirische Wesen, den Sinnenmensch 
bestraft für den Missbrauch seiner Freiheit, die er als Gedanken- 
wesen besitzt.^) Der mechanistische Determinismus, der den 
Menschen als Maschine fasst und einer fatalistischen Notwendigkeit 
unterwirft, kann die Schuldbegriffe im absoluten Sinne fatalistisch 
noch weniger aufrecht erhalten, denn wenn man auch die Anfänge 
des Schuldbegriffs unabhängig vom Freiheitsgedanken erklärt, so 
kann man doch eine Bestrafung für notwendige Handlungen nur 
hinsichtlich ihres Zweckes, aber nicht hinsichtlich ihres Grundes 

') S. Gizycki, a. a. 0., Seite 288—293, der gegen den Indeterminismus 
schlechthin polemisiert, ohne die nötige Unterscheidung zwischen den 
verschiedenen indeterministisohen Lehren vorzunehmen. 

») S. Kap. 1, § 8. 

') Jodl, Bd. 2, a. a. 0., Seite 33, meint, dass diese Schwierigkeit 
Kant veranlasst hat, zur Annahme der Freiheit als intelligible Wesenheit 
(he Wahlfreiheit zuzufügen. S. ebendas., Seite 263—266, über die transcen- 
dentale Freiheit und Verantwortlichkeit Schopenhauers. Die Bestrafung 
des empirischen Menschen, weil er im esse frei ist, kann nicht als be- 
rechtigt gelten. 

Xiemirower, ^Willensfreiheit*. 6 



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- 82 — 

• rechtfertigen. Kann doch nach dem Fatalismus, nach der Be- 
hauptung, dass der Mensch einer ausserweltlichen oder wenigstens 
ausser ihm liegenden Macht unterworfen ist, die Strafe nur als 
Verhängnis, ebenso wie die sie veranlassende That, aber nicht 
als Folge derselben angesehen werden und je mehr eine deter- 
ministische Lehre sich dem Fatalismus nähert, desto weniger ist 
sie ja im stände, die Strafe zu begründen. 

Für den Materialismus nun ist das Verbrechen, wie jede 
andere Handlung nichts weiter als das notwendige Resultat 
der bis zu diesem Augenblicke, wo die betreffende Handlung 
ausgeführt wird, unter Naturgesetzen in das Gehirn aufgenom- 
menen Eindrücke. *) Der Materialismus wirft Irresein und Ver- 
brechen zusammen und äussert sich über beide wie folgt : *) 
„Wenn man alle äussern und Innern Verhältnisse genau bemisst 
und abwiegt, wird man finden, dass in der Verübung von Ver- 
brechen kein Zufall herrscht. In welcher Form das Verbrechen 
auch auftreten mag, durch was immer für einen Komplex gleich- 
zeitig wirkender Bedingungen es veranlasst, durch eine wie lange 
Kette successiver Ursachen es erzeugt sein mag, es wird als die 
unvermeidliche Folge der Antecedentien erscheinen, so sicher 
als man die Explosion von Schiesspulver auf seine Ursachen 
zurückführen kann, ob nun die Reihe der dieselbe veranlassen- 
den Ursachen kurz oder lang ist." Der Materialismus in der 
italienischen Schule vollends führt alle Verbrechen auf physische 
Abnormalitäten zurück. Der Materialismus in diesen Formen 
kann die absoluten Straftheorien sicher nicht vertreten; denn 
nach demselben giebt es eigentlich nicht nur keine metaphy- 
sische oder psychologische Freiheit, sondern in gewissem Sinne 
auch keine physische, da es doch einerlei ist, ob ein Fatum, ob 
ein Tyrann oder eine tyrannische physisch-psychische Krankheit 
einen Unglücklichen zu einem Verbrechen veranlasst. 

Das Gewissensphänomen, die innere Strafe hingegen, kann 
auch der mechanische Determinismus erklären,^) was man leicht 
einsieht, wenn man sich nur die Elemente des Gewissens ver- 

') Vgl. ClesB, a. a. O., Seite '22, 23. 

*) Maudsley, bei Cless ebenda«. 

*) Kuno Fischer u. v. Kirohmano, wie die andern, s. Einleitg., § 3, 
sind also im Unrechte, wenn sie auch das Gewissen, gleich der Strafe, 
als unverständlich nach dem Determinismus bezeichnen. 



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- 83 - 

gogenwärtigt. Im Gegensatze zum mechanischen Determinismus 
findet sich der psychologische mit den absoluten Straftheorien 
ab. Gewiss, wenn man als das Wesentliche in diesen Theorien 
einen auf der Annahme der Willensfreiheit beruhenden Schuld- 
begriff .bezeichnet, ist auch der psychologische Determinismus 
von vornherein als Gegner dieser Theorien gestempelt. Man ist 
jedoch nicht gezwungen, den Schuldbegriff indeterministisch zu 
fassen, wie bereits ausgeführt wurde,*) wie es auch von Herz*) 
betont wird. Gewiss sind die absoluten Straftheorien und der 
Determinismus unvereinbar, wenn diese Theorien nach der Be- 
rechtigung der Strafe fragen und sie aus der Willkür des Menschen 
ableiten, wenn sie die Axiomität der Vergeltungsgerechtigkeit 
aufgeben; geben sie aber dieselbe nicht auf, so lassen sie sich 
auch nach dem Determinismus aufrecht erhalten. Die Frage, die 
die absoluten Strafrechtslehrer an den Determinismus richten, 
lautet wie ich glaube nicht : Wie lässt sich nach einer determini- 
stischen Weltauffassung die Strafe überhavpt rechtfertigen — 
denn die Strafgerechtigkeit bedarf für sie keiner Begründung — 
die Frage lautet vielmehr : Wenn auch auf eine böse Handlung 
«ine Strafe unbedingt folgen muss, so ist es doch ein Unrecht, 
dieselbe an einer Person zu vollziehen, die mit der strafbaren 
Handlung eigentlich nichts zu schaffen hat, der dieselbe fremd 
ist. Anscheinend laufen beide Fassungen der Frage auf dasselbe 
hinaus, bei näherer, tieferer Betrachtung jedoch ergiebt sich ein 
wesentlicher Unterschied. Nach der gewöhnüchen Fassung, die 
direkt die Berechtigung der Strafe von einer Freiheit des Men- 
schen abhängig macht, giebt es nur ein Entweder-oder ; entweder 
Willensfreiheit und ihre Konsequenz, Verantwortlichkeit, oder 
Determinismus und seine Konsequenz, Straflosigkeit; nach der 
von mir gegebenen Fassung hingegen, nach der es sich nur 
um die Berechtigung zur Strafvollstreckung an einer gewisser- 
massen unbeteiligten Person handelt, lässt sich antworten, 
dass gerade nach dem Determinismus , nach welchem jede 
Handlung, so auch die verbrecherische, als ^as Resultat der 
ganzen Entwicklung eines Menschen, als ein Produkt seines 
Charakters und der Motive, für welche er empfänglich ist. 



») S. id. K., § 15. 

») A. a. 0., Seite 120. 



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— 84 — 

angesehen werden und zugleich als bestimmend für sein ferneres: 
Verhalten betrachtet werden muss, gerade nach dem Deter- 
minismus — das Verbrechen als ein Bestandteil des Verbrechers 
an ihm und in ihm gestraft werden kann. Allerdings ist das 
Verhältnis der bösen Handlung zur Strafe nach dem Determinis- 
mus mehr unpersönlich zu nehmen; — denn nicht N. N. wird 
bestraft, weil er das Böse, das er hätte lassen können, gewollt 
und geübt hat, sondern ein Komplex von Vorstellungen, Ge- 
fühlen u. s. w., den man in Ansehung seines metaphysischen 
Substrates N. N. nennt, wird bestraft, weil ein Teil desselben 
sittlich störend gewirkt hat; — aber die Vergeltung lässt sich auch 
unpersönlich fassen, da sie sich nicht auf das metaphysische, 
sondern auf das empirische Ich bezieht. Hat etwa Vergeltung 
in diesem Sinne keine Bedeutung? Der Determinismus denkt 
sich das böse Wollen und Handeln als die Folgen einer Nieder- 
lage der edlen Motive im Kampfe gegen die unedlen und die 
Strafe als Revanche gegen das siegende Unsittliche. Muss man 
sich nun denn, gleich dem Indeterminismus, den Vorgang al& 
einen Kampf zweier Parteien denken, bei welchem der Herrscher,, 
der Wille, der die Sache der Partei des Guten zu vertreten hat^ 
durch Verrat oder durch neutrales Verhalten dem bösen Prinzip 
zum Siege verhelfen hat, weshalb das Gute in seinem Reiche, die 
edleren Motive sich gegen ihn erheben — Gewissen — wofür 
die Verbündeten der Partei des Sittlich-Guten, Staat und Ge- 
sellschaft, ihn bestrafen ? Lässt sich denn nicht, ohne jede Rück- 
sicht auf den Herrscher, auf den Willen oder das Ich, Gewissen, 
als Auflehnung der sittlichen Mächte im Menschen gegen die 
Herrsc^haft des Unsittlichen und die Strafe als Revanche des 
Staates und der Gesellschaft für den Sieg des Bösen, der die 
Idee des Guten oder ihre Herrlichkeit verletzt fassen? 

Man wird wohl einwenden, dass man doch immerhin den 
schuldlosen Herrscher, das Ich, nicht dafür büssen lassen darf,, 
dass in seinem Reiche die Partei des Bösen triumphiert, da er 
diesem Triumphe gegenüber ohnmächtig war, oder ohne Bild, 
dass man eine Person nicht strafen darf, weil in ihr die unsittlichen 
Motive über die sittlichen gesiegt haben. Dieser Einwand ist 
jedoch nur hinsichtlich des Bildes richtig, aber nicht hinsichthch 
des zu verdeutlichenden Willensverhältnisses. Freilich ein Herr- 
scher, der getrennt von den streitenden Parteien seines Reiches 



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— 85 — 

zu denken ist, der ein Sonderdasein führt, darf nicht für dieselben 
zur Verantwortung gezogen werden, der Wille des Menschen 
aber, das Ich desselben, ist von seinem Inhalt unlösbar, hat bloss 
für unser Denken und Sprechen eine Sonderexistenz, ist bloss 
im metaphysischen Sinne selbständig und substantiell, empirisch 
jedoch fällt Wille und Wollen, das Ich und seine Aeusserungen 
zusammen, so dass eine Bestrafung des Ich aus Anlass seiner 
Kundgebungen, sicher berechtigt ist. Kurz, auch der Determinis- 
mus kann die absoluten Straftheorien acceptieren, so er die Strafe 
wirklich absolut im Sinne der Axiomität fasst, so er die Zii- 
rechnungs- und VerantwortlichkeitsbegriflFe in der oben versuchten 
Weise als der Zurechnung aller als vernünftiges Wesen, als 
Mensch vollzogenen Thaten und Unzurechnung aller in Momenten 
der Untermenschlichkeit, der Vernunft- und Bewusstlosigkeit 
verübten Misset baten, fasst. 

^ 19. Rekapitulation der Untersuchungen über die absoluten 
Straftheorien vnd ihre Beziehungen, 

Da das Verhältnis der Vergeltungstheorien zum Freiheits- 
problem einen wesentlichen Bestandteil dieser Abhandlung bildet, 
sollen die Resultate der vorliegenden Untersuchung, bevor ich zu 
den relativen Straftheorien übergehe, kurz zusammengefasst werden . 

In Bezug auf die Genugthuungstheorien sind drei Momente 
hervorzuheben, die man auch als Stadien der Entwicklung des 
Vergeltungsgedankens fassen kann. 1. Die Rache als Ursprung 
der Strafe, 2. die sittlich bedeutsame Verstaatlichung der Privat- 
rache, 3. die Idealität und Axiomität der Vergeltvmgsstrafe auf 
dem Höhepunkt ihrer Entwicklung. 

E)ie sociale Belohnung und Strafe, wie auch die Belohnung 
überhaupt, tritt wahrscheinlich erst im zweiten Stadium der Ent- 
wicklung infolge der naturgemässen Organisierung der Rache zu 
Tage. Der äussern Verantwortlichkeit parallel läuft die innere. Auf 
der ersten Stufe der Entwicklung giebt sie sich als Rache gegen 
sich selbst oder richtiger als ein aus der Mischung zu spät ein- 
tretenden Mitleids des Verbrechers mit seinem Opfer und der 
Furcht vor Rache entstandenes Dritte ; im zweiten Stadium konunt 
der Einfluss äusserer Autoritäten hinzu, der im dritten Stadium 
immer mehr eine autonome Gestalt annimmt und dem Menschen 
als Ideal, als sein Ideal, als seine Idee erscheint. Die Verant- 



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- - 86 — 

wortlichkeitsforraen stehen in Rücksicht ihrer Genealogie in 
Beziehung zu einander, können jedoch — abgesehen von ihrer 
Entstehung — unabhängig von einander gefasst werden. Diese 
Formen der Verantwortlichkeit stehen nicht im gleichen Ver- 
hältnisse zum Preiheitsproblem ; das Gewissen ist mit Ausnahme 
der Willkürlehre nach allen Theorien der Freiheit und Unfreiheit 
erklärbar, die Strafe hingegen als Vergeltung ist nach dem 
konsequenten Indeterminismus als auch nach dem mechanischen 
Determinismus unhaltbar, ist eigentlich auf den inkonsequenten 
Indeterminismus begründet, lässt sich aber auch mit dem psy- 
chologischen Determinismus in Einklang bringen, wenn man 
den Anfang des Schuldbegriffes, der im Laufe der Entwicklung 
allerdings mit dem Indeterminismus verwachsen wurde, von dem- 
selben loslöst und wenn man die Frage nach dem Recht der 
Strafe überhaupt nicht aufwirft, sondern die Strafe axiomatisch 
fasst. 

§ 20, Die Erziehungstheorien und ihr Verhältnis zum 
Preiheitsproblem. 

Wie der Indeterminismus die Preiheitstheorie der absoluten 
Strafauffassungen ist, so ist der Determinismus die Willenstheorie 
der relativen Straflehren, deren sittHch bedeutsamste die Er- 
ziehungstheorie ist. An sich ist, nach dieser Theorie, die Strafe 
nicht berechtigt, berechtigt ist sie nur in Hinsicht auf ihren 
Zweck, der sittlichen Besserung des Bestraften. 

Die Strafe ist ein Erziehungsmittel oder mit einem andern 
Ausdrucke, ein Heilmittel^) für moralisch Kranke; „das Zucht- 
haus ist eine strenge Erziehungsanstalt für sittlich verwahrloste 
Individuen oder ein Krankenhaus 2) für moralische Irre.^ Diese 
Auffassung der Strafe setzt eine Determinierbarkeit des Willens 
voraus, ist nach all denjenigen Theorien, die eine Determinier- 
barkeit des Willens annehmen, also auch nach dem inkonse- 
quenten Indeterminismus haltbar; zumeist jedoch wird sie durch 
eine psychologisch deterministische Erkenntnis gefördert, so dass 
man sagen kann, wie der Indeterminismus in der Vergangenheit 
den Vergeltungsgedanken reinigte und idealisierte, so ist der 

') Vgl. Piatos Gesetze, 5. Buch, 7. 

') S. Penisen, iu seinem System der Ethik. 



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— 87 — 

Determinismus im stände, in der Zukunft Milde und Nachsicht^) 
gegen und Mitleiden mit Verbrecherseelen zu verbreiten und der 
Besserungsstrafe zum Siege zu verhelfen. Die Besserung des 
Verbrechers reicht jedoch als Zweck der Strafe nicht aus, um 
so weniger in der Gegenwart, in der von verschiedenen Seiten 
die Möglichkeit einer sittlichen Besserung der Verbrecher ge- 
leugnet wird. Es gesellen sich daher zu dem Zwecke sittlicher 
Hebung und Gesundung des moralisch Kranken noch andere 
Zwecke: Die Unschädlichmachung und Abschreckung desselben. 

§21. Die AbschreclxungS' und Unschädlichkeitstnachvvgi^theorieii. 
Der Zweck der Strafe ist nach manchen relativen Theorien 
die Vernichtung des v^erbrecherischen Individuums, als die Un- 
schädlichmachung der Ursache des Uebels, nach andern die Ab- 
schreckung des Verbrechers vom weiteren verderblichen Handeln 
oder die Abschreckung und Ablenkung anderer von allgemein 
schädlichen Handlungen durch die Bestrafung des Schuldigen. 
Diese Theorien, die hier in ihren Einzelheiten nicht verfolgt 
werden können, werden bekämpft und mit ihnen der Determi- 
nismus, der auf dieselben angewiesen ist, weil sie auf dem ver- 
rufenen Lehrsatz — der Zweck heiligt die Mittel — gegründet 
seien, der doch, wie Bemerk) sagt, sittlich unzulässig ist. Nun 
ist es wahr, dass diese Theorien, die das Recht zur Strafe, zur 
Verletzung eines menschlichen Wesens, vom Zwecke desselben 
ableiten, die Strafe als ein unheiliges Mittel, das zu einem hei- 
ligen Zweck angewandt wird, betrachten und ebenso wahr ist 
es, dass sie zum Teil den Verbrecher als Mittel zu Erziehungs- 
zwecken der Gesamtheit gebrauchen wollen. Jedoch der Satz: 
Der Zweck heiligt die Mittel, ist in einem näher zu bestimmen- 
den Sinne eine Konsequenz ^) der teleologischen Moral, der nicht 
ausgewichen werden kann. Wenn nämlich alles sittliche Handeln 
euie Einheit bildet, die von einem bestimmten Zwecke getragen 
wird, so ist es selbstverständlich, dass auch diejenigen Hand- 

') S. Paulsen, System der Ethik, a. a. 0. Seite 4.-3, 424, 425. Hartmann, 
a. a. 0., Seite 439. Simmel, a. a. 0., Buch 2, Seite 238, 242. 

^ Lehrbuch, § 7. 

') Vgl. Paulsen, System der Ethik, Bd. 1, Seite 208-213. Ueber diese 
Frage, ob der Zweck durchs Mittel geheiligt werden kann. S. auohDosto- 
jewsky, Schuld und Sühne, deutsch von W. Henckel, Seite 101 - 103. 



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— 88 - 

lungen, die losgerissen von ihrem Zusammenhang, getrennt von 
ihren Zwecken als unsittlich bezeichnet werden müssten, in 
Wirklichkeit jedoch ansehnlich ihres Zweckes, ihrer Zugehörig- 
keit zu einem sittlichen Ganzen als sittlich zu betrachten sind. 

Freilich *) „nicht ein beliebiger erlaubter Zweck heiligt die 
Mittel, sondern der Zweck, es giebt aber nur einen Zweck, von 
dem alle Wertbestimmung ausgeht, nämlich das höchste Gut, 
die Wohlfahrt oder die vollkommene Lebensgestaltung der Men- 
schen." Diese Bestimmung des fraglichen Satzes, nach der nur 
der letzte und höchste Zweck die Kraft sittlicher Sanktion be- 
sitzt, der Endzweck, der sich aber in der Praxis mehr unbemerkt 
geltend macht, nach dieser Fassung des Satzes bei Paulsen, zu 
der noch der Umstand hinzukommt, dass die genaue Berechnimg 
der wirklichen Folgen einer Handlung mit grossen Schwierig- 
keiten verbunden ist, macht diesen Satz unbrauchbar und be- 
denklich.2) Man kann sagen, heisst es bei Paulsen,^) „der Satz: 
Die Wohlfahrt der Menschen heiligt als Zweck jede Handlung 
ohne Ausnahme, ist in thesi ganz unbedenklich, aber er ist in 
praxi nicht anwendbar.** Dennoch wird dieser Satz, wie ich 
glaube, alltäglich angewendet und die Strafe, die seitens des 
Staates ausgeübt wird, beruht nach vielen Theorien auf dem- 
selben und auch die Beurteilung geschichtlicher Persönlichkeiten 
sind von demselben geleitet. Nehme man einen historischen Fall. 
Themistokles verrät seine Landsleuto an die Perser, damit 
seinen Landesgenossen kein Ausweg zur Flucht bleibe, so dass 
sie sich zum Verteidigungskampfe emporraffen müssen. Diese 
That wird noch heute gerühmt — trotzdem Vaterlandsverrat 
zu den grössten Verbrechen gehört — weil der Zweck, den er, 
der einzelne im Auge hattf*, nämlich die Rettung seines Volkes, 
das angewandte unheilige Mittel heiligt. Paulsens Bestimmung 
\md Begrenzung des in Frage stehenden Satzes ist also nicht 
zureichend, um die That Sachen, die erfahrungsgemässe Anwen- 
dung desselben erklären zu können. 

Da nun der Determinismus zumeist auf die relativen Theorien 
angewiesen ist, werde ich in aller Kürze die Bedingungen, unter 
denen nach meinem Dafürhalten dieser Satz au(;h in praxi an- 

') Kbondas., Seite 2()S. 
-) Ehencias.. Seite 210. 
•) HbeiKlas 



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- 89 — 

Avendbar ist, bestimmen. Georg Brandes ^ äussert sich über die An- 
wendung unmoralischer Mittel zur Erreichung morahscher Zwecke 
oder im Sinne einer hedonistischen Morallehre — bezüglich einer 
Zufügung von Unlust als Mittel zur Herbeifiihrung einer höhern 
Lust — folgendermassen. „Damit der Satz gültig sein soll, müssen 
folgende Bedingungen erfüllt sein: Dei^ Zweck muss gut sein — 
der Zweck darf durch keine andern Mittel zu erreichen sein als 
durch schmerzbereitende, auch nicht durch ein im geringeren 
Orade schmerzbereitendes Mittel als das angewandte. — Das 
Leid, das als Mittel angewandt wird, muss geringer sein als das, 
welches ohne Anwendung des Mittels entstehen würde.** 

An diese drei Bedingungen ist die Gültigkeit des fraglichen 
Satzes gebunden. Diese Bedingungen können im Geiste einer 
Moralphilosophie, die nicht in der Lust, sondern in der höchsten 
Entwicklung aller menschlichen Lebenskräfte das Ziel ethischen 
Strebens sieht, ausgedrückt werden — als die Sicherheit, dass 
der in Frage kommende Zweck ein bedeutsames Moment des 
letzten Zweckes ist, der harmonischen Entfaltung aller Seiten 
des Einzelmenschen wie die des Menschengeschlechtes, dass 
ferner dieser Zweck nur durch an sich unsittliche Mittel zu 
erzielen ist, dass endlich die Wirkung des betreffenden Zweckes 
die störende Wirkung des angewandten Mittels aufwiegt, oder 
in negativer Fassung, dass ohne Anwendung dieses Mittels eine 
viel grössere Stönmg der Harmonie des Einzelneu wie die der 
Oesaratheit eintreten würde, als diejenige Störung, die die An- 
wendung dieses Mittels zur Folge hat. Zu diesen Bedingungen 
muss, wie mir scheint, noch die Uninteressiertheit der Person, 
die das Mittel anwendet, an dem Mittel selbst, hinzukommen; 
denn sonst ist eine ungetrübte, unparteiische Untersuchung, ob 
die Bedingungen vorhanden sind, unwahrscheinHch, da doch die 
Sophistik des persönlichen Interesses fast inmier das Vorhanden- 
sein derselben herausklügeln wird. Das Zusammentreffen all dieser 
Bedingungen in einem gegebenen Falle ist nicht sehr häufig, 
was den Umstand erklärt, dass dem Lehrsatz : Der Zweck heiligt 
die Mittel, eine gewisse Unbrauchbarkeit und andererseits Ge- 
fährlichkeit zugeschrieben wird. So ganz selten ist jedoch das 
Zusammentreffen der Bedingungen nicht. 

*) Menschen u. Werke, Kssays, Frankfurt a. M., 1894, Seite 131. 



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- 90 ~ 

Die letzte Instanz über die Anwendbarkeit des Satzes in 
jedem Einzelfall ist das Gewissen für den Einzelnen, die allge- 
meine Sitte für die Gesamtheit. — Allgemein gesprochen, kann 
man also nur sagen: Der Zweck, der eine und letzte heiligt die 
Mittel; bezugnehmend auf die Erfahrung aber, auf die Moral in 
concreto, die entsprechend den verschiedenartigen Ausprä- 
gungen des allgemeinen Menschentypus sich zu einer Vielheit 
gestaltet, für jedes Volk, für jede Gruppe desselben, zuletzt für 
jedes Individuum eine besondere Form ^) annimmt und dem all- 
gemeinen Zweck der vollkommensten Lebensgestaltung der 
Menschheit ein besonderes Gepräge verleiht — bezugnehmend 
auf die konkrete Moral, kann man behaupten: Jeder für ein 
Individuum oder für eine Gesamtheit geltende sittliche Zweck 
ethisiert jedes Mittel, insofern die oben ausgeführten Bedingungen 
zutreffen. Diese allgemeine Erkenntnis auf einige Beispiele*) 
angewandt, würde sie noch mehr einleuchtend machen. 

Zuerst das schon angeführte Beispiel aus der Geschichte, 
Themistokles, der an dem Verrate seines Vaterlandes kein per- 
sönliches Interesse hat, der als Führer seines Volkes die Ver- 
hältnisse genau kennt und die Notwendigkeit und Wirksamkeit 
seines Mittels erkennt, darf, ja soll sein Vaterland zu dem be- 
stimmten Zwecke verraten. Für ein anderes Individuum des 
griechischen Lagers, das nicht Führerpflichten hat, das die Lage 
der Grie^^-hen nicht genau beurteilen kann, besteht nicht das Recht 
zur Anwendung des fraglichen Mittels, denn je grösser die Pflicht ^ 
je bedeut\samer der ethische Zweck des Einzelnen oder ein$r Ge- 
samtheit Vstj desto grösser natürlich das Recht in Bezug auf die 
Anwenduf^ig unmoralischer Mittel; darum ist oft das dem Staate 
oder eine|r Partei Erlaubte, ja Gebotene, dem Einzelnen 
- v^ 

*) S. A\iri8totele8, Politik, Bd. 1, Kap. 8, wo untersucht wird, ob 
Herrschende t md Gehorchende, Mann u. Weib. Freie u. Sklaven morcUiach 
verschieden si nd, was in bejahendem Sinne bestimmt wird. S. auch Paulsen, 
System d. Et^hik, Bd. 1, Seite 18-24. 

) Die J bekannte Frage Sohleiermaohers, wie wir die Kindheit eines 
Individuums S seinem reifen Alter durch die strenge Erziehung opfern 
«lürfen, und »niie allgemeine Frage der Pädagogik, in wie weit wir es 
dürfen, lösen sich nach dem wohlverstandenen Lehrsatze von der An- 
wendung an 1*» sich unmoralischer Mittel zu moralischen Zwecken. Auch 
die Frage bc^**^züglich der Anwendung der künstlichen Selektion auf so- 
cialem Gebie<'^e ist auf diese Weise zu lösen. 8. i. d. K., § 10. Anmerkg. 5X 



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— 91 — 

verboten. Also darf auch der Staat strafen als Mittel zu einem 
sittlich berechtigten und gebotenen Zwecke^ wenn und inso- 
iveit die angeführten Bedingunge?i zutreffen^ von welchen die 
Ethisi^rung unethischer Mittel von ethischen Zwecken abhängt, 
d. h, wenn der ethische Strafzweck erreicht und nur dadurch 
erreicht wird, darf die Strafe von uninteressierten Personen 
vollzogen werden. 

Was ergiebt sich aus dieser Begrenzung des Rechts zur 
Zweckstrafe für die Stellung des Freiheitsproblems zur Straf- 
gesetzgebung? Es ergiebt sich, dass derjenige Teil der mecha- 
nistischen Deterministen, der das Verbrechen auf anthropologische 
Beschaffenheiten zurückführt, als ein Produkt einer in den meisten 
Fällen unheilbaren Krankheit ansieht, kein Recht hat, den Ver- 
brecher ins Zuchthaus zu schicken; denn der hypothetische Erfolg 
der Bestrafung eines Verbrechers auf moralisch bloss angekrän- 
kelte Naturen vermag nicht die harte Bestrafung der unglück- 
lichen moralisch Kranken zu rechtfertigen, da doch die zweite 
der Bedingungen, *unter denen allein die Anwendung des Satzes : 
der Zweck heiligt die Mittel, gestattet ist, nicht in Erfüllung 
geht. Dieser Gesichtspunkt, unter dem allein ethisch die Straf- 
berechtigung betrachtet werden darf, liefert auch einen Mass- 
stab der Strafe, einen Gewinn, der nicht gering anzuschlagen 
ist, da als Haupteinwurf gegen die relativen Theorien die Be- 
hauptung auftritt, dass nach denselben jedes Prinzip der StraX- 
böinessung fehle. ^ Diese Behauptung ist nun falsch, da die Ethik 
einen Massstab der Bestrafung liefert, da sich aus den Bedingungen, 
unter denen allein die Abschreckungstrafe berechtigt ist, ein 
Prinzip des Strafmasses ergiebt. Gestraft darf nämlich nur insoweit 
werden 1. insoweit die Zwecke der Strafe es erheischen, 2. in- 
soweit diese Zwecke nicht anders und nicht mit weniger Schmerz- 
bereitung erlangt werden können, 3. insoweit die guten Wirkungen 
der Zwecke die bösen der Mittel aufzuwiegen im stände sind, 
3. insoweit endlich sich keine persönlichen Interessen an der 
Unlustzufügung an sich geltend machen. Wenn nun Rümmelin^) 
meint, dass nach den deterministischen Straftheorien, dass nach 
der Abschreckungstheorie die grausamsten Strafen angewendet 

^) Rüminelin, a. a. 0., Seite 48. 
*) Ebendas. 



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- 92 - 

werden müssen, so lässt er die Stellungnahme der Ethik zur 
Strafe ausser Acht; denn grausame Strafen dürfen nicht ange- 
wandt werden, weil und insoweit sie im Widerspruch stehen mit 
den Voraussetzungen der sittUchen Berechtigung der Strafe.^) Auch 
andere Einwände ähnlicher Art gegen die Zwecktheorien, die 
sich indirekt gegen den Determinismus richten, sind durch die 
gemachten Ausführungen widerlegt, so z. B. die absurde Be- 
hauptung, dass man nach den Abschreckungstheorien auch völlig 
schuldlose Individuen zum Zwecke der Purchteinflössung ge- 
brauchen dürfe. Aus demselben Gesichtspunkte lässt sich auch 
ein Zurechnungsbegriff konstruieren, worauf ich hier nicht näher 
eingehe. 

§ 22, Zusammenfassende Antwort auf die Frage yiach den 
ihatsächlichen Beziehungen zwischen Willensfreiheit und Ver- 

antwortlichkeit. -) 
Nach den ausführlichen Auseinandersetzungen lässt sich 
das Verhältnis der Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit kurz 
bestimmen. Wie bezüglich des Verhältnisses zwischen Gewissen 
und Strafe eine Trennung des Entstehens vom Bestehen dieser 
Begriffe sich als notwendig erwiesen hat, so auch in Bezug auf 
den Zusammenhang von Willensfreiheit und Verantworthchkeit. 
P>agt man, ob die menschHche Verantworthchkeit mit dem 
Wegfalle des Begriffes der Willensfreiheit zugleich wegfällt, .so 
lässt sich mit einem entschiedenen Nein antworten, insoweit es sich 
um den psychologischen Determinismus handelt, weniger sicher 
in Bezug auf den mechanischen Determinismus. Denn die ab- 
sokiten Straftheorien sind zwar auf Grund des inkonsequenten 
Indeterminismus entstanden und werden hauptsächlich von 
demselben getragen, können, aber auch, so sie die Straf- 
gerechtigkeit thatsächlich - absolut und axiomatisch fassen , 
mit dem Determinismus in Einklang gebracht werden und 

^) Dühring, Cunsus d. Philos., Seite 203, führt aus, dass die An- 
wendung grausamer Abschreckungsmittel neben der sogenannten Achtung, 
die die Strafe erzielen soll, eine moralische Verachtung erzeugen wlurde. 

-) Dieser Paragraph bezweckt nicht ein Resum^ aller gewonnenen 
Erkenntnisse in Bezug auf Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zu 
geben, sondern bloss mit Bestimmtheit die erste Frage dieser Abhand- 
limg kurz zu beantworten. 



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v^r~ 



- 93 — 

die relativen Straftheorien sind nach allen Lehren der Frei-- 
heit oder Unfreiheit des Willens haltbar mit Ausnahme des 
konsequenten Indeterminismus, nach welchem keine Straftheorie 
gelten kann. Prägt man, ob die innere Verantwortlichkeit, das 
Gewissensphänoraen die Realität der Willensfreiheit bezeugt, so 
lässt sich diese Frage mit Gewissheit verneinen ; denn auch der 
mechanische Determinismus ist in der Lage, das Gewissensgebilde 
zu erklären. Anders gestaltet sich die Antwort, wenn man 
den Zusammenhang von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit 
in Bezug auf ihre Ge?iesis untersucht. In Bezug auf das Ent- 
stehen, auf die Entwicklung des Gewissens und der Strafe zu 
den Formen, in denen sie gegenwärtig bestehen, ist der Glaube 
an die Freiheit des menschHchen Willens von grosser Tragweite ; 
derm die Strafe würde nicht, würde allenfalls viel langsamer den 
Prozess der Idealisierung und Axiomatisierung , das Gewissen 
würde nicht, würde jedenfalls viel langsamer den Prozess der 
Subjektivierung und Axiomatisierung durchgemacht haben, wenn 
die Menschheit nicht an die Freiheit des WoUens geglaubt hätte. 
Das Entstehen des Glaubens an die Freiheit des menschlichen 
Willens erklärt jedoch der psychologische Determinismus am aller« 
leichtesten. 



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Drittes Kapitel. 

Ghründe des Entstehens der irrtümlichen Betrax^htung 
der Willensfreiheit als Voraussetzung der Verant- 

-wortlichkeit. 

§ 1. Allgemeines. 

Nach Erledigung der ersten Frage in dem Sinne, dass zwar 
in genetischer Beziehung ein enger und inniger Zusammenhang 
zwischen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zuzugestehen 
ist, dass jedoch die Abhängigkeitserklärung der Verantwort- 
lichkeit vom Begriffe der Willensfreiheit auch auf der gegen- 
wärtigen Höhe ihrer Entwicklung bestritten wird, macht die 
Präge akut, wie es nun zu erklären ist, dass dessenungeachtet 
seitens so vieler Denker und allgemein seitens des sogenannten 
gesunden Menschenverstandes die Willensfreiheit als Grundvor- 
aussetzung der Verantwortlichkeit angesehen wird. Die gewonnene 
Erkenntnis von dem Zusammenhange der Willensfreiheit und 
Verantwortlichkeit auf den niedern Stufen der Entwicklung, 
trägt viel zur Lösung dieser Frage bei, denn nicht jeder — 
besonders der sogenannte gesunde Menschenverstand nicht — 
macht einen Unterschied zwischen dem Entstehenkönnen und dem 
Fortbestehenkönnen der Verantwortlichkeit ohne Annahme der 
Willensfreiheit. Ebenso lässt sich die gewonnene Einsicht 
in die Natur des Gewissens zur Lösung unserer Frage ver- 
werten, da nämlich das Gewissen den herrschenden absoluten 
Straftheorien huldigt und sich nach rückwärts kehrt, d. h. die 
bereits begangenen Handlungen beurteilt, ohne scheinbar auf die 



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— 95 — 

Zukunft Rücksicht zu nehmen, entsteht der Irrtum, da:>s das 
Gewissen gleich den absoluten Straftheorien einen indeterministi- 
schen SchuldbegrifiF konstruiert und nicht nur ein AndersgesoUt- 
haben, sondern auch ein Andersgekonnthaben ausdrückt. 

Jedoch meine ich, dass sich mehrere Gründe für die Er- 
klärung der in Frage stehenden Thatsache, wie fast immer bei 
derartigen Thatsachen, bei, wenn man so sagen darf, unsterblichen 
Irrtümern der Menschheit anführen lassen. Die Gründe sind vor- 
nehmlich folgende: 1. Die Verwechslung der Freiheit des WoUens 
mit der des Thuns oder mit ihrer idealen Form, mit der Idee 
der Freiheit. 2. Die Verwechslung der deterministischen Unfreiheit 
mit der fatalistischen. 3. Die Uebertragung des Abhängigkeits- 
verhältnisses der absoluten Straftheorien zu der Freiheitslehre 
auf alle übrigen Theorien der Strafe. 

§ 2, Die Freiheit des Thu7i8 und die Idee der Freiheit, 
Der Unterschied der physischen Freiheit von der metaphy- 
sischen, der Freiheit des Thuns von der des Wollefis, der Frei- 
heit der äussern Welt gegenüber von der Freiheit im Sinne der 
Kausallosigkeit ist klar gefasst worden ; ^) das unbedingt not- 
wendige Vorhandensein der physischen Freiheit bei jeder zu 
bestrafenden Handlung ist bestimmt worden;^) die Leichtigkeit 
der Verwechslung beider Freiheitsformen ist ebenfalls festgestellt 
worden,^) so dass ein näheres Eingehen auf den ersten Grund 
des Entstehens der irrtümlichen Setzung der Willensfreiheit als 
Grundbedingung der Verantwortlichkeit überflüssig erscheint; 
dessenungeachtet will ich noch das Medium, das Vermittelnde 
zwischen der Freiheit des WoUens und der des Thuns angeben, 
das bei der Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses der 
Verantwortlichkeit zum Begriffe der physischen Freiheit auf 
den der metaphysischen eine Rolle spielt, — ich meine die Idee 
der Freiheit. 

Die Idee der Freiheit*) ist ganz gesondert von dem Pro- 
blem der Willensfreiheit als eine nicht zu bezweifelnde Thatsache 



') S. 1. Kap., § 3. 
») S. 2. Kap. 
') S. Kap. I. 

*) Dieser Idee legt Theoder Waitz in seiner Pädagogik, a. a. 0., 
Seite 69 f. und an andern Stellen ein grosses Gewicht bei. 



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— 96 — 

des ethischen Bewusstseins zu nehmen. Diese Idee kann so ge- 
fasst werden, wie Pfenninger i) die Idee des Rechts fasst. Sie 
ist ein Streben nach ethischer Entwicklung, ihr Kern liegt in 
der Beziehung, in der Richtung. Es ist nicht ein Sein der Frei- 
heit, sondern ein Streben nach Freiheit, ^sie ist etwas, das nie 
war, nicht ist und nicht sein wird.'* Diese Idee ist einfach eine Ver- 
dichtung all der Bewusstseine physischer Freiheit, all des menscli- 
lichen Strebens nach Unabhängigkeit den äussern Dingen gegen- 
über. Mit andern Worten, die Idee der Freiheit ist der Ausdruck der 
Entwicklungsfähigkeit des Menschen zu immer grösserer Freiheit 
den äussern Erscheinungen gegenüber. Diese Idee der Freiheit 
ist nichts anderes als eine Idealisierung der physischen Freiheit^ 
der thatsächlichen Voraussetzung der Straf berechtigung und 
wird nun ihres idealistischen, absoluten Zuges wegen mit der 
absoluten Freiheit des WoUens leicht verwechselt, was die Be- 
trachtung der Willensfreiheit als unentbehrliche Grundlage der 
VerantwortHchkeitsbegriffe bewirkt. 

§ 3. Determinismus und Fatalismus. 
Wie die Verwechslung der metaphysischen Freiheit mit 
der physischen zu gunsteu des indirekten Beweises für die 
Willensfreiheit wirkt, so auch die Verwechslung der deter- 
ministischen Unfreiheit mit der fatalistischen. In Wirklichkeit 
aber lassen sich Determinismus und Fatalismus von einander 
scharf unterscheiden. 2) Nach dem Fatalismus ist der Wille 
di's Menschen an den Willen äusserer Mächte ganz^^) oder 
zum grossen TeiP) gebunden; nach dem Determinismus hin- 
gegen ist der Wille im wesentHchen an und durch sich selbst 
gebunden. Nach dem Fatalismus giebt es keine Entwicklung 
in den Willensverhältnissen, keinen oder bloss einen sehr 

') A. a. 0., Seite 105-125. 

*} Man hört oft die Redewendung, dass der Determinismus ein Fa« 
talismus der Gebildeten und der Fatalismus ein unwissenschaftlicher De- 
terminismus sei. Diese Bezeichnung des Verliältnisees zwischen Fata- 
lismus und Determinismus hat einen solchen Wert, vielmehr — einen noch 
geringem, als wenn man etwa unsinnigerweise die Religion als den Aber- 
glauben der Gebildeten oder — allerdings mit einem gewissen Recht — 
den Aberglauben als die Religion der Ungebildeten nennen würde. 

•^) Nach dem konsequenten Fatalismus. 

*) Nach dem inkonsequenten Fatalismus. S. Kap. I, § 2. 



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— 97 — 

äusserlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Willens- 
handlungen; nach dem Determinismus hingegen unterliegt alles 
der Entwicklung und es bestehen innerliche Beziehungen zwischen 
den einzelnen Willensakten. Kurz, nach dem Fatalismus sind 
alle innern Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte des starren 
Seins zu fassen und das für uns Zukünftige ist im Grunde etwas 
mehr oder weniger Vergangenes; nach dem Determinismus 
aber ist zwar das Zukünftige ein Erzeugnis des Vergangenen, 
jedoch eben etwas Zukünftiges und alle innern Phänomene sind 
unter dem Gesichtspunkte des fliessenden Werdens zu fassen. ^) 
Fatalismus und Determinismus haben aber andererseits auch 
Gemeinsames. Das beiden Gemeinsame ist die Anerkennung der 
im Leben des Menschen waltenden Notwendigkeit, ist auch — 
ihre Genesis betrachtend — das Emporsteigen aus dem Triebe 
zur Bindung. 2) Diese ihre Gemeinsamkeit führt zu ihrer Ver- 
wechslung und Identifizierung. Dazu kommt noch, dass manche 
deterministischen Lehren einen fatalistischen Anstrich haben, 3) 
dass der mechanische Determinismus ein Mittelglied zwischen 
Determinismus und Fatalismus bildet; denn die mechanische 
Kausalität gewährt den äussern Einflüssen einen so grossen Spiel- 
raum, entfernt die Ursachen unseres Wollens so weit aus unserm 
Innern, legt so viel Gewicht auf das Milieu, dass der Mensch, 
der der Aussenwelt gegenüber ohnmächtig dasteht, sich ebenso 
wie nach dem Fatalismus als leidendes Objekt des äussern 
Zwanges fühlt und sie daher mit Fatalismus verwechselt. Zur 
Identifizierung des Determinismus mit dem Fatalismus seitens 
vieler Denker trägt auch der Umstand bei, dass der Determinis- 
mus historisch aus dem Fatalismus, der philosophische Deter- 
minismus aus dem theologischen hervorgegangen ist, dass ein 

lieber Fatalismus und Determinismus. S. Hartmann, a. a. 0., S. 737 
u. Gizyoki, Seite 313—318 u. a. m. 

') S. Kap. 1, § 23. ' 

») Vgl. Herbarts Briefe a. a. 0., Seite 177, 178, wo ausgeführt wird 
in Bezug auf in den Fatalismus übergehenden Lehren, »dass, wenn einer 
etwas will, dieses Wollen eigentlioh nicht sein Wollen, sondern etwas 
Fremdes, was durch ihn wie durch einen Kanal hindurchgegossen werde, 
dass er selbst also nicht der Wollende sei, er es also nicht zu verant- 
worten habe, er deshalb nicht zu loben und zu tadeln sei, sondern die 
eigentliche Wirksamkeit aiisser ihm liege und vielleicht aus den ent- 
ferntesten Enden des Universums her in ihm zusammenfliesse''. 
Nierairower, .Willenefreiheif . 7 



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— 98 - 

Teil der ersten Hauptvertreter des Determinismus unter dem 
Einflüsse theologischer fatalistisch-deterministischer Lehren stand. 
So wurde Spinoza von Chasdai Crescas^) in der Preiheitsfrage 
beeinflusst,2) der aus theologischen Motiven, allerdings mit philo- 
sophischem Ernst, das Preiheitsproblem deterministisch löste,*) 
so fällt für Leibniz in der Theodicee das theologische Problem 
der Willensfreiheit mit dem philosophischen zusammen. 

§ 4. Grund der Uebertragung des Abhängigkeitsverhältnisses 
der absoluten Straftheorien auf die Straftheorien überhaupt. 

Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Straftheorien 
und Preiheitslehren hat ergeben, ^) dass nur die absoluten Straf- 
theorien von indeterministischem Gnmd und Boden getragen 
werden.^) Wie erklärt sich es nun, dass die Abhängigkeit der 
absoluten Straflehren verallgemeinert und auf die Straftheorien 
schlechthin ausgedehnt wird? Es rührt einfach daher, dass 
die absoluten Straftheorien die herrschenden sind — die 
Straftheorien. Weshalb? Dies mag hier in aller Kürze an- 
gedeutet werden. 1. Das, was ich zur Erklärung des axioma- 
tischen Charakters der Vergeltung anführte,*^) erklärt es auch, 
dass die Strafe gerne absolut und darum im Sinne der absoluten 
Straftheorien gefasst wird. 2. Das Bedürfnis des sittlich ent- 
wickelten Menschen absolute Gerechtigkeitsakte zu vollziehen, 
sozusagen sittliche Selbstzwec^L^ zu erzeugen, trägt viel zur 
Anerkennung der absoluten Straftheorien bei, nach welchen die 
Strafe ein Gerechtigkeitsakt an sich ist. 3. Die minder sittlichen 
Elemente der Vergeltungsstrafe, die von dem Ursprünge der- 
selben, der Rache, herrühren imd sich mit den ethischen Ele- 
menten vermengen, wirken nicht wenig und bei nicht Wenigen 



*) Chasdai Crescas lebte in der zweiten Hälfte des 14. und Anfang 
des 15. Jahrhunderts. 

•) S. M. Joel, Zur Genesis der Lehre Spinozas, Breslau 1871, S. öl f., 
ferner von demselben, Don Chasdai Cresoas, Religionsphilosophisohe Lehren, 
Breslau 1866, Seite 46-B3. 

■) S. Ludwig Stein, Die Willensfreiheit beiden jüdischen Philosophen 
des Mittelalters, Seite 46. 

*) S. Kap. 2, §§ 20, 21. 

^) S. Kap. 2, §§ 18, 19. 

•) S. Kap. 2. 



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— 99 — 

zu gunsten der Vergeltungstheorieii ; denn gerade die Mischling 
des rein Sittlichen mit Egoistischem übt eine Anziehungskraft 
aus, gewinnt Anhänger in juristischen Kreisen, da das Recht, 
das praktisch von grösserer Tragweite ist als die Moral, theo- 
retisch angesehen, im Lichte absoluter Sittlichkeit betrachtet, 
überhaupt eine Mischung von Ethischem und Egoistischem dar- 
stellt. Diese Gründe erklären die Vorherrschaft der absoluten 
Theorien, erklären nun mittelbar die Uebertragung der Beziehungen 
dieser Theorien aufs Strafrecht überhaupt. 

Zusammenfassend lässt sich das Fortwirken des indirekten 
Beweises für die Willensfreiheit, trotz aller Widerlegungen des- 
selben, aus den irrtümlichen Auffassungen des Preiheits- und 
Unfreiheitsbegriffes und aus der Verallgemeinerung der Abhängig- 
keitsverhältnisse einzelner vorherrschender Straftheorien erklären. 



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Berner Stadien znr Philosophie und ihrer Geschichte. 



Band Ol. 

Heraufgegeben von 

Dr. Ludwig Stein, \ 

Professor an der Universität Bern. 



Zup ©hapaktöpistik 



der 



Methode und Hauptrichtungen 



der 



PMlosopMe der Gescbichte. 



Von 
Dr. Ob. ICappoport. 




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Beim. 

Verlag von A. Siebert. 



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Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

I. Die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte, 

ihre Bedeutung und Methode 1 — 31 

IL Der specifische Charakter der geschichtlichen 

Gesetzmässigkeit 31 — 48 

III. Die Bedeutung des Individuums in der Ge- 
schichte 49 — 59 

IV. Die Hauptepochen der Entwicklung der Phi- 
losophie der Geschichte 60—79 

V. Die drei Hauptrichtungen der wissenschaft- 
lichen Philosophie der. Geschichte .... 80 — 106 



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1. Die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte, 
ihre Bedeutung und Methode. 

Die Reihenfolge, in welcher die zu lösenden wissenschaftlichen 
Probleme sich dem untersuchenden Geiste aufdrängen, ist eine 
der lehrreichsten und beachtenswertesten Ercheinungen der Ent- 
wickelungsgeschichte des menschlichen Geistes. Die genauere 
Betrachtung dieser Reihenfolge bietet uns sehr viel Ueberraschendes 
dar, oft, wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, sogar 
Unnatürliches. So dürfte uns die Thatsache befremdend gegen- 
übertreten, dass das systematische philosophische Denken sich 
zuerst mit der Aussenwelt beschäftigte, erst später mit unserem 
eigenen Geiste, am spätesten aber mit unseren eigenen Schick- 
salen, mit unserem Wohl und Weh auf Erden. Das wichtigste 
für uns und unmittelbar nächste wird also zu allerletzt Objekt 
der wissenschaftlichen Untersuchung. Die ersten philosophischen 
Systeme der Griechen hatten einen kosmologischen Charakter. 
Der Urgrund der Aussenwelt war ihre Losung. Schon nachdem 
verschiedene in sich abgeschlossene philosophische Systeme ihre 
glänzenden Vertreter in Griecdienland gefunden hatten, entstand, 
durch die Sophisten des 5. Jahrhunderts angebahnt, eine neue 
Epoche, in welcher der Mensch selbst, sein Denken, Thim imd 
Lassen zum Objekt der philosophischen Untersuchung gemacht 
wurde. Sokrates beklagte sich, dass man über den physischen 
Fragen, wie er die kosmologisch-philosophischen Betrachtungen 
seiner Vorgänger und Zeitgenossen nannte , die für uns viel 
wichtigeren Fragen vernachlässigt: „t/ ioriv nyaßovy n inri xakov 
— was das Gute, das sittlich Schöne sei?" Im 14. Jahrhundert 

üh. Rtppoport, Die Hauptrichtungon der Philosophie. , 1 



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— 2 — 

machte Petrarca sich selbst bittere Vorwürfe über seine 
künstlerische Freude an einer der herrlichsten Erscheinungen der 
Natur, indem er die folgenden, von ihm übrigens missverstan- 
denen Worte 1) des Augustinus citiert: 

Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus 
maris et latissimos lapstis fluminum et oceani ambitum et gyros 
siderum, et relinquant se ipsos. 

(Sancti Aug. confessionum libri tredecim. Lib. X, 16. 
Herausg. von Karl v. Raumer,) 

(„Die Menschen gehen zu bewundern der Berge Höhen und 
des Meeres gewaltige Fluten Und den weiten Lauf der Ströme 
und den Umkreis des Oceans, und die Bahnen der Gestirne und 
sie vergessen sich selber.") Derselbe Vorwurf, wie der des Sokrates, 
wird am Ende des 19. Jahrhunderts unserer gesamten Wissen- 
schaft von einem bedeutenden Schriftsteller gemacht — von 
Tolstqj. 

Es war demnach in der Natur des Entwickelungsganges 
unseres Denkens überhaupt begründet, dass die Philosophie der 
Geschichte, die sich mit den für uns wichtigsten Fragen über 
die Lebens- und Entwickelungsbedingungen der Menschheit 
beschäftigt, zu allerletzt den Versuch machte, sich zu einer 
selbständigen Wissenschaft zu gestalten. Dieser Entwickelungs- 
gang ist natürlich kein zufalliger, da der Zufall, wie Spinoza 
schon lehrte, als ein Asylum ignorantise betrachtet werden muss. 
Dieser Entwickelungsgang wird wie durch die Beschaffenheit 
der wissenschaftlichen Probleme selbst, so auch durch die ver- 
schiedenen zeitüchen Verhältnisse mitbedingt. Es kann nicht 
unsere Aufgabe sein, diese Ursachen und ihre Wirkungsweise 
hier näher auszuführen. 

In Bezug auf die Philosophie der Geschichte wird uns noch 
die Gelegenheit geboten werden, auf diese Ursachen zurückzu- 
kommen. Zunächst aber tritt uns die folgende Frage entgegen: 
Ist eine Philosophie der Geschichte überhaupt möglich'^ Diese 



*) Den rechten Sinn der Worte Augustins enthält die unmittelbar 
nach dem hier Angeführten folgende Stelle, die lautet: nee mirantur, 
quod haec omnia cum dicerem, non eo videbam oculis . . . neo ipsa sunt 
apud mey sed imaginea eorum . . . Man könnte glauben, hier einen Kan- 
tianer, der sich ins IV. Jahrhundert nach Christus verirrt hat, sprechen 
zu hören. 



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- 3 - 

Frage kann gegenwärtig nicht nur überflüssig, sondern auch 
seltsam erscheinen. Eine Philosophie der Geschichte ist möglich, 
da eine solche vorhanden ist. Ihre P]xistenz scheint der beste 
Beweis ihrer Möglichkeit zu sein. So scheint das Unnütze der 
von uns gestellten Frage auf der Hand zu liegen. Dürfen wir 
es nicht als seltsam betrachten, die Möglichkeit eines Wissens- 
zweiges zu bezweifeln, auf dessen Gebiet solche anerkannt grosse 
Geister, wie Vico^ Bosstietj Condorcet, Herder, Hegel, Camte, 
Btickle und Marx gearbeitet haben ? Kann die Möglichkeit einer 
Philosophie der Geschichte, die gegenwärtig eine imifangreiche 
Litteratur in allen europäischen Kultursprachen besitzt — eine 
Litteratur, geschaffen durch die Leistungen einer ganzen Reihe 
von gelehrten Fachmännern, zu denen die glänzenden Repräsen- 
tanten des historischen Wissens, wie die eines Macchiavelli, 
Mivhelet, Onizot, Laurent und andere zählen — bestritten werden? 
Ihnen schHessen sich unter anderen der französische Philosoph 
Cousin, der Physiologe Du Bois-Reymond, der Mathematiker 
Covmot, der Kulturhistoriker J, Lippert an, die einzelne Fragen 
historisch-philosophischer Natur bearbeitet haben. Die blosse 
Aufzählung derjenigen, die sich mit der Philosophie der Ge- 
schichte befasst haben, zeigt, dass dieselbe das Lieblingsobject 
war für Männer aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen 
Charakteren, von verschiedener Denkungsart und Beschäftigung. 
Wie verschieden ihrem Charakter nach sind nicht der heilige 
Augustinus, Macchiavelli und Kant! Und doch fanden sie vm- 
geachtet ihrer vielseitigen Bestrebungen alle noch Zeit und Lust, 
mit dem sogenannten Wesen der Geschichte, mit dem Schicksale 
der Menschheit im grossen und ganzen und den sie leitenden 
Gesetzen sich zu beschäftigen. Auch gegenwärtig giebt es keinen 
Mangel an historisch-philosophischen Theorien, die die ganze 
Vergangenheit der Menschheit zu umfassen, das Wesen der 
Geschichte zu entdecken und den Verlauf derselben für die 
nächste Zukunft vorauszusehen bestrebt sind. Als Beispiel weisen 
wir auf die materialistische Geschichtsauffassung von Marx und 
Engels hin, die zu ignorieren in unserer Zeit kaum möglich ist, 
wenn man auch mit dieser Geschichtsauffassung nicht einver- 
standen ist. 

Der Philosophie der Geschichte die Existenzberechtigung 
bestreiten zu wollen , scheint auch aus dem Grunde unge- 



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— 4 — 

recht zu sein, da sie ja schon verschiedene Entwickelungs- 
phasen durchgemacht hat. Die Philosophie der Geschichte hat 
schon ihre eigene Geschichte. Der Engländer Flint (1873, 1893), 
der Franzose Rougemont (1874) und der Deutsche Rocholl (1878), 
besonders die zwei Erstgenannten, haben umfangreiche Werke 
geliefert, die einen geschichtUchen UeberbUck der geschichts- 
philosophischen Ideen und ihrer Litteratur enthalten. Es wurde 
sogar von verschiedenen Seiten der Versuch gemacht, Gesetze 
der Entwickelung geschichts-philosophischer Ideen und Theo- 
rien aufzustellen. So z. B. der Italiener Marselli in seinem Werke 
„Scienza della storia". Es giebt kaum einen bedeutenden Denker 
oder Schriftsteller der Neuzeit, der keiner mehr oder weniger 
bestimmten Geschichtsauffassuug gehuldigt hätte, wenn er auch 
keine selbständige hatte. 

Ungeachtet einer solchen Menge von Zeugnissen, die für 
die Möglichkeit, ja sogar Wirklichkeit einer Philosophie der 
Geschichte* sprechen, scheint uns nichtdestoweniger die Frage 
über diese Möglichkeit berechtigt zu sein, und dies aus folgen- 
den Gründen: 

1. Weder ist die Methode, noch ist der Umfang der Philo- 
sophie der Geschichte festgestellt worden. Sie bilden vielmehr 
den Gegenstand vielfacher und wesentlicher Meinungsverschit»- 
denheiten. 

2. Die von den Geschichtsphilosophen aufgestellten Grund- 
sätze bieten ein so buntes und chaotisches Gemisch von Begriffen 
und Ideen, die mit einander um ihr Existenzrecht ringen, dass 
der Zweifel an der Möglichkeit genauer und unbestreitbarer 
Anschauungen in der Philosophie der Geschichte, oder mit 
andern Worten an der Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte 
entstehen muss. Die Geschichtsphilosophen selbst und viele un- 
parteiische Kritiker sprechen sich in diesem Sinne aus. Paulsen 
z. B. vergleicht die Litteratur über die Philosophie der Geschichte 
mit zahlreichen angefangenen aber nicht vollendeten, an den 
Nagel gehängten Unternehmungen. Diese Meinung wird auch 
von Bouülier geteilt (Rov. Phil. S. 33, XXI, 1886): „Pour ma 
part, j'ai beau chercher dans les systemes compris sous le nom 
de Philosophie de Thistoire, je n'y trouve rien qui soit clair, 
plausible ou susceptible de deraonstration." 



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— 6 — 

So auch HelmhoUz: „Die historischen und philosophischen 
Wissenschaften bringen es der Regel nach nicht bis zur Formu- 
lierung streng gültiger Gesetze mit Ausnahme der Grammatik." 

^Die bisherige sogenannte Philosophie der Geschichte, sagt 
DcergenSy war und ist eine Reihe von verfehlten Versuchen 
gewesen. Was hierauf erkannt worden ist, das mwss von neuem 
versucht werden.** 

3. Es giebt Denker, die auf Grund der spezifischen Eigen- 
schaften der Geschichte die Unmöglichkeit der Philosophie der 
Geschichte, dieses eigentlich neuesten Zweiges des Wissens, zu 
beweisen glauben. Wir sagen „des neuesten", denn wollte man 
unter der Philosophie der Geschichte nicht ein systematisches 
Ganzes, sondern einzelne philosophische Betrachtungen verstehen, 
zu welchen die Geschichte Anlass gegeben hat, so sind dieselben 
so alt, wie die Geschichte selbst, und ihre Möglichkeit, wie auch 
ihre volle Berechtigung wird von Niemandem bezweifelt. Jene 
Denker aber behaupten, der Charakter der Geschichte gestatte 
ihr nicht, eine eigene Philosophie zu haben*. 

Unter deiyenigen, welche die Möglichkeit einer Philoso- 
phie der Geschichte aus diesem Grunde bestreiten, nehmen die 
Hauptstelle Schelling, Schopenhauer und Dilthey ein. Bevor 
wir zur Darstellung und Kritik der Ansichten Schellings und 
Schopenhauers übergehen, wollen wir die zwei ersten Einwände 
gegen die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte prüien. 

Der Mangel an einer festgestellten Methode der Philosophie 
der Geschichte und der gegenwärtige chaotische Zustand dieser 
Wissenschaft können nicht als prinzipielle und entscheidende 
Gründe gegen die Philosophie der Geschichte als Wissenschaft 
angeführt werden. Denn kaum giebt es und gab es je eine 
Wissenschaft, die nicht gewisse Schwankungen oder einen chao- 
tischen Zustand durchgemacht hätte. Um so mehr ist ein solcher 
Zustand bei einem komplizierten System des Wissens, wie das 
der Philosophie der Geschichte ist, begreiflich. Denn ihrer Komp- 
liziertheit nach übertrifft sie auch diejenige Wissenschaft, welche 
August Comte als die komplizierteste betrachtete, die Socio- 
logie, da die Philosophie der Geschichte, die die allgemeinen 
Prinzipien und Bedingungen, bezw, Gesetze der geschichtlichen 
Entwickelung zu ihrem Untersuchungsobjekt hat, sich der von 
der Sociologie schon gewonnenen Thatsachen und Begriffe be- 



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— 6 — 

dient, und als vollständiges System erst nach der Sociologie auf- 
treten kann. Ausserdem sind auch geschichtliche Ursachen eines 
solchen chaotischen Zustandes der Wissenschaft vorhanden. 

Die Philosophie der Geschichte berührt unmittelbar die dem 
Menschen lieb gewordenen Ansichten und seine wichtigsten 
Interessen, indem sie die Stelle derselben in der Geschichte zu 
bestimmen, und über ihren vergangenen, gegenwärtigen und 
zukünftigen Zustand ein Urteil zu fällen sucht. Da diese An- 
sichten und Interessen nicht nur verschiedener, sondern am 
häufigsten geradezu entgegengesetzter Natur sind, so wird das 
Gebiet der Philosophie der Geschichte zum Schauplatz der hef- 
tigsten Kämpfe der Parteien und der verschiedenen Welt- und 
Lebensanschauungen. Jede Partei will die Zukunft für nch haben 
und benutzt die Geschichte als Kampfmittel. Da aber ^ mit der 
Zeit das objektive Forschen in vielen Richtungen je weiter desto 
mehr Terrain gewinnt, so ist kein Grund vorhanden, die Mög- 
lichkeit einer wissenschaftlichen Versöhnung auch auf diesem 
Gebiete Jzu bestreiten, zumal die pessimistische Hypothese der 
Ewigkeit des Kampfes der menschhchen Interessen und Grund- 
anschauungen durch das weit verbreitete, in der Geschichte 
herrschende Entwickelungsprinzip stark erschüttert worden ist. 

Gehen wir also zu denjenigen Gegnern der Philosophie der 
Geschichte als Wissenschaft über, die ihre Ansicht durch den 
Charakter des Geschichtlichen selbst begründet zu haben meinen. 

Schelling wirft geradezu die Frage auf: „Ist eine Philo- 
sophie der Geschichte möglich?" und antwortet: „Es ist keine 
Philosophie der Geschichte möglich," ^) Seinen Satz sucht er auf 
Grund folgender Betrachtungen zu beweisen: Geschichte, wie 
schon die Etymologie des Wortes zeigt, ist Kenntnis des Ge- 
schehenen, Sie hat also zum Gegenstande nicht das Bleibende, 
Beharrliche, sondern das Veränderliche^ m Aev Tif^M Fortschrei- 
tende, Naturbegebenheiten können ihre Aufnahme in die Geschichte 
überhaupt nur der Unwissenheit der Menschen verdanken. Der 
Lauf der Gestirne, ihre periodische Erscheinung u. s. w. ist für 
den Menschen Geschichte nur so lange als er das Regelmässige 
nicht bemerkt, Begebenheiten, die man periodisch regelmässig 
wiederkehren sieht, gehören nicht in die Geschichte. Der Cha- 



') Werke H. I, p. 466 ff., Stujtg. 1866. 



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- 7 - . 

rakter des historischen Prozesses als solchen ist nach Schelling 
mit einer Konstruktion eines Systems der Philosophie nicht ver- 
einbar. ^Was a priori zu berechnen ist, sagt Schelling^ was 
nach notwendigen Gesetzen geschieht, ist nicht Objekt der Ge- 
schichte, und umgekehrt, was Objekt der Geschichte ist, muss 
nicht a priori zu berechnen sein.'^ 

Schelling will sein Kriterium des Historischen nicht nur 
auf die allgemeine, sondern auch auf die individuelle Geschichte, 
und sei es auch eines einzelnen Menschen, angewandt wissen. 
Er fragt: „Könnten wir die Geschichte einer Uhr denken, die 
immer regelmässig geht? Daher ist auch der Mensch, der selbst 
Maschine geworden ist (er ass, trank, nahm ein Weib und starb), 
kein Objekt, nicht einmal der Erzählung." Er kommt also zum 
Schluss : Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine 
Geschichte möglich, und umgekehrt, nur was keine Theorie a 
priori hat, hat Geschichte. 

Die absolute UnmögUchkeit der Wiederholung, die absolute 
Individualität also einer jeden geschichtUchen Thatsache und 
Erscheinung sind die Gründe, mittelst welcher Schelling die 
Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte klar zu legen 
sucht. Zum gleichen Schluss gelangt auch Schopenhauer ^ der von 
andern Gründen und Ansichten ausgeht. Die Geschichte, behauptet 
Schopenhauer y zeigt auf jeder« Seite nur dasselbe unter verschie- 
denen Formen : ^Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde 
nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden, der eigentlich 
wesenthche Inhalt ist überall derselbe." Diesen Grundcharakter 
alles Geschehens kann aber nur der Philosoph erfassen: „Die 
Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu 
ersetzen: ihr ist jede Gegenwart ein Bruchstück." Der Geschichte 
fehlt nach Schopenhauer der Grundcharakter der Wissenschaft, 
die Subordination des Gewussten, statt deren sie blosse Coordi- 
nation desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System 
der Geschichte wie doch jeder anderen Wissenschaft. „Sie ist 
demnach zwar ein Wissen^ jedoch keine Wissenschaft,^ (Die 
Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, § 38.) 

Diese Anschauung stimmt ganz mit seiner pessimistischen 
Lebensanschauung überein, da nach derselben der Mensch, als 
„Subjekt des WoUens", wie ihn die Geschichte nur betrachten 
darf, ein „ewig schmachtender Tantalus" ist, der immer „im Siebe 
der Danaiden schöpft". (Die W. a. W. u. V., Bd. III, § 38.) 



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— 8 — 

Hier haben wir es mit zwei entgegengesetzten Ansichten 
zu thun: dqr Schelling'schen, der absoluten Individualität des 
Geschichtlichen und der Schopenhauer sehen, der absoluten Iden- 
tität derselben. ^) 

Was bietet uns aber die Geschichte in der Wirklichkeit? 
Ist sie eine Reihe von sich wiederholenden Ereignissen oder ein 
Komplex von individuellen Erscheinungen? Wir glauben be- 
haupten zu können, dass die Geschichte weder das eine, noch 
das andere ist. Die geschichtlichen Erscheinungen enthalten 
Elemente, die durch relativ unabänderUche, ursprüngliche Eigen- 
schaften der menschli(5hen Natur bedingt sind. Diese Erscheinungen 
wiederholen sich regelmässig. Andererseits aber giebt es soge- 
nannte zufällige, räumliche und zeitliche Verhältnisse, die einen 
individuellen Charakter besitzen, die in zwei geschichtlichen 
Momenten keineswegs dieselben sein können. Solche geschehen 
nur einmal. Alexander der Grosse und seine Zeit mit allen ihren 
individuellen Merkmalen waren nur einmal in der Geschichte da. 
Es ist unmöglich anzunehmen, dass ein Mann, mit denselben 
sittlichen und intellektuellen Eigenschaften begabt, wie Martin 
Luther in unserer Zeit genau dieselbe geschichtliche Rolle spielen 
würde und genau denselben Schicksalen unterworfen wäre. Die 
Zeit und ihre Aufgaben haben sich geändert und so müssen 
auch die 'innerhalb derselben auftretenden Erscheinungen sich 
verändern. Dessen ungeachtet behalten die von uns angeführten 
individuellen Erscheinungen, wie der grosse Macedonier und der 
nicht minder grosse religiöse Reformator, etwas, das auch in 
unserer Zeit existiert oder existieren kann, das auch für unsere 
Zeit Wert und Bedeutung hat. Wäre das nicht der Fall, so hätten 
wir für diese Erscheinungen kein Verständnis und die Namen 
Alexanders und Luthers wären unserer Geschichte unbekannt 
geblieben. Und so ist es auch mit allen geschichtlichen Erschei- 
nungen : wenn die absolute Individualität des Geschichtlichen vor- 
ausgesetzt wird, ist die Geschichte, als Wissenschaft, überhaupt 
eine Sache der Unmöglichkeit. Zwei verschiedene Epochen wären 
dann mit zwei Individuen zu vergleichen, die zwei verschiedene 



*) Schopenhauer ist zwar der Meinung, dass die geachriebene Ge- 
schichte es nur mit dem absolut Individuellen, mit dem „was nur einmal 
und dann nicht mehr ist'' zu thun hat. 



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— 9 — 

Sprachen reden, von denen jeder nur seine eigene versteht und 
die daher einander unmöglich verstehen könnten. 

Daher lautet unsere Antwort auf die aufgestellte Frage 
über das Wesen des Historischen folgenderraassen : Die geschicht- 
lichen Erscheinungen wiederholen sich, insofern sie als Produkte 
allgemeiner und beständiger Ursachen hervortreten. Die ge- 
schichtlichen Erscheinungen wiederholen sich nichts insofern sie 
das ' Resultat zufälliger zeitlicher und räumlicher Verhältnisse 
sind, deren Identität mit einander sogar in zwei verschiedenen 
Fällen nicht denkbar ist. Da aber die beständigen und die 
variablen Elemente der geschichtlichen Ereignisse von einander 
nicht zu trennen sind, und jedes geschichtliche Ereignis als 
solches ein Ganzes bildet, so ist dadurch für die wissenschaftliche 
Untersuchung die Möglichkeit gegeben, in dem Geschichtlichen 
als solchen überall Gesetzmässigkeit, beziehungsweise Gesetze 
festzustellen. Geschichte und Natur sind nicht entgegengesetzt ^ 
wie es Schelling an der citierten Stelle will, sondern sind eng 
'mit einander verbunden, wenn sie nicht ein und dasselbe sind. 
ITebrigens stellt Schelling eme offenbare petitio principii auf, indem 
er die Unmöglichkeit der Philosophie der Geschichte durch den 
von ihm willkürlich angenommenen absolut verä7ider liehen 
Charakter des Geschichtlichen zu beweisen sucht. 

Eine jede Teilung des Geschichtlichen in natürliche und 
geschichtliche Elemente ist künstlich und kann nur durch ein 
spezielles Bedürfnis einer Wissenschaft, für welche in Bezug auf 
ihre eigene Ziele die einen oder die anderen Elemente aus dem 
geschichtlichen Prozesse herausgegriffen werden müssen, gerecht- 
fertigt werden. Der Physiologe würde in eine ganz sonderbare 
Stellung geraten, wollte es ihm einfallen, die Aufstellung der 
physiologischen Gesetze deshalb aufzugeben, weil die Gesetz- 
mässigkeit der Erscheinungen seines Gebietes hauptsächlich durch 
die Gesetze der Chemie und Thatsachen der Anatomie vorbe- 
dingt sind. 

Dass die individuellen Merkmale der geschichtHchen Er- 
eignisse nicht im geringsten ein Hindernis ihrer Gesetzmässigkeit 
sein können, kann auch auf dem Wege der Erfahrung bewiesen 
werden, und zwar mit Hülfe der Moralstatistik. Wir können mit 
Gewißsheit sagen, dass es keine zwei Fälle des Selbstmordes 
giebt, deren Gründe ganz identisch wären. Dessen ungeachtet 



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~ 10 - 

haben wir eine Statistik des Selbstmordes, die eine merkwürdige 
Regelmässigkeit konstatiert, mit welcher sich die^e — vom Stand- 
punkte des gesunden Menschen — pathologische Erscheinung 
vollzieht. Dasselbe gilt auch von dem Verbrechen. Diese That- 
Sache, die von Th. Buckle in seiner „History of civilisation" zu 
geschichtlich -philosophischen Zwecken ausgenützt wurde, gab 
dem Begründer der Moralstatistik, Adolf Quetelet^ Anlass zu den 
oft citierten Worten, die wir seinem Werke „Physique sociale** 
entnehmen (Bd. II, pag. 31, 1869): 11 est un budget qu'on paye 
avec une regulär äe effrayante^ c*est celui des prisons, des 
bagnes et des echafauds. *) 

Ferner: On sent combien notre espi^ce marche avec unitt5, 
on voit que toutes ses quaüt^s sont aussi bien d(5termin(5s d'avance 
que Celles des individus qui la composent semblent, au contraire, 
incohörentes et desordonn^es. S. p. 228. 

Mit dem Satze, dass ein jedes geschichthche Ereignis von 
einem anderen sich unterscheidet, ist noch wenig gesagt. Die 
Unmöglichkeit einer philosophischen Beobachtung der Geschichte, 
ist damit durchaus nicht bewiesen. Um sie zu beweisen, müsste 
festgestellt werden, dass die unterscheidenden Merkmale ihrer 
Wichtigkeit und Zahl nach, diejenigen der Aehnlichkeit und 
Gleichförmigkeit übertreffen, was unmöglich ist, da die Einförmig- 
keit des organischen Baues des Menschen, seiner Punktionen, 
wie auch seiner Hauptbedürfnisse ein unleugbares Zeugnis ab- 
legen, dass die Merkmale der Identität die Oberhand behalten. 

J, St, Mill ist auch der Meinung, dass es keuie zwei gleich- 
artigen Fälle in der Geschichte geben kann, jedoch hindert ihn 
dies nicht, in seinem „System der Logik" zu behaupten: „Alle 
socialen Erscheinungen sind die der mensclilichen Natur, welche 
durch Wirkung äusserer Umstände erzeugt werden, folglich wenn 



') Dass diese berühmten Worte keine fatalistische Spitze in Quo- 
telets Gedanken hatten, wie es manche später wollten, ztMgen deutlich 
Feine eigenen Schlussworte: „C*est celui-lä (»Das Budget der VtTbrcchen*) 
qu'il faudrai s'attacher ä röduire", wie folgende Sätze: 11 suffirait, sans 
doute, de modifier les causes qui r^gissent notre Systeme social pour mo- 
diüer aussi les r^sultats döplorables que nous lisons annuellement dans 
les annales des crimes et des suicides (vide p. 368) oder: c'eat la ^oiM, 
qui prepare le crime et le ooupable n'est que Vinstrument qui Vexeoute. 
(Vide p. 428.) 



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— 11 — 

die Erscheinungen des menschlichen Denkens, Fühlens und 
Wirkens unabänderlichen Gesetzen unterworfen, so sind auch 
die Erscheinungen des socialen Lebens unabänderlichen, von d'^r 
menschlichen Natur abgeleiteten Gesetzen unterworfen." 

Der Begründer der Sociologie, August Comte^ definiert die 
von ihm geschaffene Wissenschaft, die es doch mit sich wieder- 
holenden Erscheinungen zu thun hat, als Geschichte ohne Namen 
der Individuen und sogar Völker („histoire sans noras des homraes 
ou meme sans noms des peuples"). 

Wir haben die Ansichten Schopenhauers und Schellings 
über die Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte — und 
diese zwei Denker könnten als typische Beispiele für die meisten 
Gegner der Philosophie der Geschichte dienen — zu widerlegen 
gesucht, ohne vms auf ein Prinzip zu berufen, welches diese 
beiden Denker in dieser wichtigen Frage ausser Acht gelassen 
haben. Wir meinen das Entwicklungsprinzip, das die moderne 
Wissenschaft beherrscht. 

Dier^/öf</i?^Individualität der geschichtlichen Erscheinungen, 
welche wir nicht verneinen, verhindert nicht, dass eine allge- 
meine Tendenz in der Geschichte, sozusagen eine Centralrichtung 
existiert, in Bezug auf welche allen anderen Erscheinungen die 
Rolle der Faktoren und der Bedingungen zugeschrieben werden 
muss. Die Ideen der Entwicklung und des Fortschrittes in der 
menschlichen Geschichte drücken diese Centralrichtung aus. Der 
russische Professor Karejew nennt die Idee des Fortschrittes 
,.die Seele der Philosophie der Geschichte.'^ „Die Weltgeschichte 
ist nichts anderes, als die Entwicklung der ewigen Interessen 
der Menschheit," sagt K. E. von Bser. 

Dadurch aber, dass die Philosophie der Geschichte die allge- 
meinen Prinzipien und Bedingungen der geschichtlichen Entwick- 
lung überhaupt zu ihrem Objekte hat, unterscheidet sie sich von 
der Sociologie, die nur die Statik und Dynamik des sogenannten 
socialen Körpers erforscht. Die Gesellschaft ist die unentbehrlichste 
Bedingung jeder Entwicklung; ohne Gesellschaft keine menschliche 
Entwicklung. Sie ist aber nicht die einzige Bedingung. Die so- 
ciale Evolution deckt sich nicht mit &qt geschichtlichen Evolution 
überhaupt, da die menschliche Natur keine „tabula rasa" ist, und 
jede Gesellschaftsform aus dem Menschen nur das zu machen 
vermag, was er gemäss seiner Naturanlagen werden kann. Die 



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— 12 — 

Gesellschaftsformen sind nicht nur Ursachen der individuellen 
Entwicklung, sondern andererseits auch Produkte seiner natür- 
lichen Strebungen und Kräfte. So sind die Versuche, die Phi- 
losophie der Geschichte durch die Sociologie zu ersetzen, wie es 
mit vollem Bewusstsein der talentvolle österreichische Sociologe 
Gumplowitz unternommen hat, als unzureichend zu betrachten. 

Wenn August Comte sein geschichtlich -philosophisches 
System seiner Sociologie einverleibt hat und viele ihm nach- 
ahmten, so erklärte sich dies leicht aus dem Misskredit, in 
welchem die Philosophie bis in die letzte Zeit bei der gebil- 
deten Welt stand. ^) Uebrigens gebraucht Comte öfters die 
Bezeichnung Philosophie de Thistoire'^) in seinem interessanten 
und für den Entwicklungsgang des Begründers der positiven 
Philosophie äusserst wichtigen Essays: „Opuscules de Philo- 
sophie sociale^, die vor seinem „Cours" zum erstenmale 1819 
bis 1828 erchienen. 

Comte betrachtet die Versuche Kants und Herders auf 
dem Gebiete der „Philosophie der Geschichte" als Anzeichen 
einer allgemeinen Tendenz „unseres Zeitalters zu j^ositiven Ideen 
in der Politik." Die Sociologie ist eigentlich für A. Comte das, 
was wir jetzt Philosophie der Geschichte nennen. ,La theorie 
fondamentale de T^volution humaine est assez (5tablie maintenant 
pour pr^sider ä la construction directe de la philosophie de 
rhistoire." «) 

Die Philosophie als solche wurde mit verschiedenen philo- 
sophischen Konstruktionen a priori identifiziert und verworfen. 
Die Philosophie der Geschichte teilte das Schicksal der eigent- 
lichen Philosophie. Th. Buckle nennt sein berühmtes geschichts- 
philosophisches Werk „History of civilisation", ohne genau fest- 
zustellen, was wir unter „Civilisation" zu denken haben. 

Dieses Misstrauen gegen philosophisches Denken ist ge- 
schichtlich schon überwunden, nachdem es sich erwiesen hat, 
dass die wissenschaftliche Philosophie nicht als contradictio 
in adjecto betrachtet werden darf. Die allgemeinen Prinzipien 



') Siehe z. B. ,Die Philosophie der Gegenwart*, M. Brasch, S. X XL 

') Er bezeichnet sie oft auch descriptiv: y,VHude philosophique sur 

l'ensemble de Thistoire de la civilisation". (S. z. B. Opusoules, p. 147, 1883.) 

*) Vergleiche A. Comte, Systeme de politique positive, 1853, III, 70. 



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rr^ 



— 13 — 

der Geschichte dürfen also sich nicht den Namen der Philosophie 
scheuen, mit der die Namen der genialsten Denker der Mensch- 
heit, wie Plato, Aristoteles, Spinoza, Kant, um nur die grössten 
zu nennen, so eng verbunden sind.^) 

Die Idee der Entwicklung in der Geschichte macht fast 
überflüssig die Widerlegung derjenigen Gründe, welche gegen 
die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte sich richten, die 
aus folgenden Prämissen ausgehen: 1. aus unseren unzureichen- 
den geschichtlichen Kenntnissen und 2. aus der ungemeinen 
Kompliziertheit der geschichtlichen Erscheinungen. So behauptet 
Ernst von Lasaul, ein Vertreter der theologischen Geschichts- 
auffassung: „Eine Philosophie der Geschichte zu schreiben wird 
iimner ein Wagnis sein, so lange die Bewegung des menschlichen 
Lebens auf Erden ihr Endziel noch nicht erreicht hat. Denn 
erst wenn die ganze Bewegung vollendet und in sich abge- 
schlossen wäre, könnte aus der Fülle des Lebens auch die volle 
Erkenntnis desselben geboren werden" (Ph. d. G., 1866, S. 6). 

Sich auf die Ergebnisse der positiven Wissenschaften 
stützend, sagt JRaoul Eosieres *) (Rev. polit. et litt., 1882, p. 332) : 
^Nous sommes Obligos de reconnaitre que Thistoire de la plupart 
de societ(5s aujourd'hui existantes nous est presque entiferement 
inconnue." Er stellt folgende Rechnung an: Unsere Geschichte 
kennt fünf oder sechstausend Jahre menschlicher Existenz, während 
Menschen schon vor 13,000 Jahren in Aegypten, vor 50,000 in 
Amerika und vor 100,000 Jahren in Bassin Somme gewohnt 
haben. So weit RosUres, Wie gross unsere Unkenntnis der 
älteren Perioden der Geschichte sein mag, so viel ist gewiss, 
dass diese Geschichte, wenn sie nur wirklich ein Produkt der 
Entwicklung darstellt, in ihren für uns wichtigsten Momenten 
bekannt ist. Und da nach einem elementaren Gesetz der Ent- 
wicklung die nachfolgenden Perioden Ergebnisse der vorher- 
gehenden sind, von denselben bestimmt werden und dessen 
Stempel an sich tragen, so kann aus der Wirkung (vergl. Spinoza, 
Eth. I, Alinea 4) auf ihre Ursachen leicht zurückgöschlossen 



^) Im III. Band seines Systeme de politique positive 1853 ist auf 
dem Titelblatt zu lesen: Tome III, cooteoant la dynamique sociale ou le 
trait^ g6n6ral des progrfes humains (Philosophie de Thistoire). 

») Id. Rev. pol. et litt., III., 1882, Ulm« s^rie, p. 140. 



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— 14 — 

werden, wenn wir das Gesetz der Hervorbringung der Wirkung 
kennen. Und um das Gesetz, bezw. die Richtung der Entwicklung 
zu kennen, ist es nicht notwendig, die ganze Reihe dieser Ent- 
wicklung beobachtet zu haben. Ein beträchtlicher Teil dieser 
Reihe genügt, um die ganze Reihe zu kennen, wie nur ein Teil 
des Kreises notwendig ist, um seinen Radius oder seine analy- 
tische Gleichheit zu finden. Und wie es Cuvier genügte, einen 
Knochen zu haben, um ein längst verschwundenes Tier wissen- 
schaftlich zu rekonstruieren, so bedarf der Evolutionist nur einer 
Periode der Entwicklungsreihe, um das Gesetz der Reihe zu 
finden. Ist hier eine Lücke vorhanden zwischen Prämisse und 
Schluss, so ist es dieselbe, welche bei jedem induktiven Verfahren 
sich einstellt, indem aus so und so viel Fällen ein allgemeiner 
Schluss gezogen wird, welcher für unser ßewusstsein mit Not- 
wendigkeit behaftet ist. Herbert Spencers Verfahren, z. B. bei 
der Aufstellung seines Entwicklungsgesetzes, wird, ungeachtet 
der unzureichenden Kenntnisse der Vergangenheit und Zukunft, 
sogar von den Gegnern dieser bestimmten Evolutionstheorie kann» 
als unwissenschaftlich bezeichnet werden können. Schon die Be- 
stimmung der Richtung der Entwicklung, ihre^ Bedingungen und 
ihre Polgen für das menschliche Wohlsein und Handeln in der 
Gegenwart und nächsten Zukunft könnte den Inhalt einer umfang- 
reichen Philosophie der Geschichte bilden. Die allgemeine An- 
nahme des Entwicklungsprinzipes ist ebenso wenig eine conditio 
sine qua non seiner Wissenschaftlichkeit, wie die allgemeine 
Anerkennung des Darwinismus oder des kopernikanischen Systems 
die notwendige Bedingung der Wissenschaftlichkeit dieser Lehren 
ausmacht. Dass sogar die letztere Theorie nicht allgemein an- 
erkannt ist, beweisen die jährlich verhältnismässig zahlreich 
erscheinenden Schriften gegen dieselbe. Es ist auch folgender 
Umstand für die Entwicklung der Philosophie der Gesöhichte 
von Wichtigkeit. Wären auch mathematische-exakte Gesetze 
geschichtlich-philosophischer Natur nicht möghch, so wäre noch 
dadurch die Unmöglichkeit der Philosophie der Geschichte nicht 
dargethan, obwohl es Meinungen giebt, dass die Wissenschaft 
nur erst mit der mathematischen Formel da ist (so Du Bois- 
Reymond in seinem berühmten Aufsatze „Grenzen des Natur- 
erkennens," und ein französischer Denker, indem er in Ueberein- 



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— IB — 

Stimmung mit Descartes, Hobbes und Spinoza sagte : „la science 
vit de nombre et du mesure.*^ ^) 

Mit Recht aber sagt dagegen Cournot in seinem umfassen- 
den Werke: „Considöration sur la marche des idees et des 
^venements dans les temps modernes," 1872, Pref. III. Qu'il y 
ait ou qu'il n'y ait pas des lois dans Thistoire, il suffit qu'il y 
ait des faits et que ces faits soient, täntöt subordonnöes les 
uns aux autres, tantöt indöpendants les uns des autres, pour 
qu'il y ait lieu ä une eritique dont le but est de d^meler, ici 
la Subordination, lä Tindöpendance. Et comme cette eritique 
ne peut pas preJtendre ä des dömonstrations irr^sistibles, de la 
nature de Celles qiü donnent la certitude scientifique, mais que 
son röle se borne ä faire valoir des analogies, des inductions, 
de genre de celles dont il faut que la philosophie se contente 
(sans quoi ce serait une science, comme tant de gens Tont reve, 
mais toiyours vainement et ce ne serait plus la philosophie). 

Cournot gesteht also der Philosophie nicht nur das Recht 
zu erforschen zu, sondern auch ein gewisses Recht zu erraten. 
Dieses Recht wird der Philosophie kaum streitig gemacht werden 
können, da auch die exakte Wissenschaft von diesem Rechte 
einen reichlichen Gebrauch macht — in der Form der Hypothese, 
der die Qualität des Wissenschaftlichen nicht abgesprochen wird. 2) 
Zu dieser sozusagen wissenschaftlichen Toleranz berechtigt noch 
mehr die Eigentümlichkeit des praktischen Gebietes, auf welchem 
die Erscheinungen so kompliziert sind und wo mehr als irgend 
anderswärts die Maxime Pascals ihre volle Berechtigung hat: 
Besser irren als ewig zweifeln. 

Auf dem Gebiete der Praxis, wo nicht das Denken, 
welches auch im „ewigen" Zweifel eine gewisse Selbstgenüg- 
samkeit finden kann, das Ziel ist, sondern das Handeln, welches 
zu oft eine sofortige Kenntnis der Lage fordert, müssen wir 
uns fast immer mit mangelhaftem Wissen oder Wahrschein- 
lichkeit begnügen. Als Beispiel sei hier nur die Anwen- 
dung der Wahrscheinlichkeitstheorie für praktische Zwecke der 
Lebensversicherungsgesellschaften angeführt. 



*) Tarde, La nature et Thistoire. 

') Sein kühnes Wort Hypotheses non fingo hat Newton selbst 
zum Glück nioht konsequent aufrechtgehalten. 



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— 16 — 

Die Philosophie der Geschieht^ ist, wie wir es zu beweisen 
versuchen werden, von solcher grossen Bedeutung für den den- 
kenden und handelnden Menschen, dass man fast geneigt wäre, 
die berühmten Worte Voltaires, die sich auf das Dasein Gottes 
beziehen, auf die Philosophie der Geschichte anzuwenden : exi- 
stierte keine Philosophie der Geschichte, so müsste man sie er- 
finden, vorausgesetzt, dass das „Erfinden*' auf wissenschaftlichem 
Wege möglich wäre. > 

Die Wichtigkeit der Philosophie der Geschichte ist zwei- 
facher Art: theoretischer und praktischer. Theoretisch ist sie 
wichtig nicht nur als Selbstzweck, als Mittel zur Befriedigung 
unseres wissenschaftlichen Triebes oder — wie ihn Du Bois Rey- 
mond genannt hat, unseres Causalitätstriebes, sondern auch als 
notwendige Bedingung einer wissenschaftlichen Geschichte über- 
haupt. So sagt der französische Geschichtsschreiber H. Taine 
(Essai sur Tite Live) : L'historien est donc philosophe, il ne 
ressemble des faits que pour trouver des lois . . . Peu lui Importe 
desormais de voir passer devant lui Tarm^e des ev^nementis 
disperses comme ils le sont en differents lieux, en differents 
temps. Ce vain plaisir de curiositö se tourne pour lui en ma- 
laise, il essaye ä chaque instant de les arreter au passage, por- 
tant les mains en tous sens pour saisir les chaines invisibles • 
que les lient, afin de voir partout la necessit(5 maitresse de la 
fortune. „C'est un bonheur et un besoin que de trouver ce 
plan Cache, non seulement parce que Tordre est beau, mais 
parce qu'un fait dont on ne voit pas la cause reste incertainj 
flottant dans Vair^ sur le point d'etre empörte par la moindre 
difficult^ (lui surviendra. Les causes trouv^es sont des preuves 
ajout^es et une explication vaut une temoignage; il faut (jue 
le Corps entier de Thistoire revendique le fait et Tattache par 
une necessit^ certaine pour qu'il seit acquis a la vt5rite." 

Diese Gedanken des Autors der „Origines de la France 
contemporaine** sind von um so grösserer Bedeutung, als die Ge- 
schichtsschreiber vom Fach grösstenteils die philosophischen 
Arbeiten auf demselben Gebiete sehr gering schätzen. *) 

*) Die Philosophie der Geschichte als ein mächtige! Mittel der histo- 
rischen Kritik ist schon am Ende des XIV. Jahrhunderts von einem ar- 
abischen Denker Ibn Khaldun mit einer grossen Klarheit und Entschieden- 
heit gewürdigt worden. Vgl. Vorrede und Einleitung zu seinen „Prole- 
gomena*. 



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— 17 — . 

W. V. Humboldt erklärt die richtige Feststellung einer That- 
sache für das schwierigste Unternehmen der Geschichtsohreibung. 
Dass die Philosophie der Geschichte die Lösung dieser schwie- 
rigen Aufgaben erleichtert, ist auch die Meinung Heinrich 
Ritters. In seiner ,,Encyklopädie der philosophischen Wissen- 
schaften^ sagt er folgendes: „Die Thatsachen der Erfahrung, 
welche wir durch eigene Beobachtung und durch kritisch ge- 
prüfte Ueberlieferung sammeln können , sind voller Lücken. 
Aus solchen lückenhaften Stoffen würden wir kein nur einiger- 
massen haltbares Gebäude aufführen können. Dies gilt von 
jedem Gebiete der Erfahrung, am meisten von der Geschichte 
des morahschen Reiches . . . Nur Trümmer des wirklich Ge- 
schehenen sind zu unserer Kenntnis gekommen, sowie auch nur 
Bruchstücke der Natur von uns erkundet werden können. Wenn 
wir also ein wissenschaftlich zusammenhängendes Gebäude aus 
diesen Trünmiern oder Bruchstücken errichten wollen, so werden 
wir allerdings einer Konstruktion derselben bedürfen" . . . (S. 60). 

Diese philosophische* Arbeit ist selbst dann für die Ge- 
schichte von Nutzen, wenn sie von solchen, die nicht berufs- 
mässig Geschichte treiben, gepflegt wird. Macaulay meint 
sogar, dass auch auf dem Gebiete des geschichtlichen Wissens 
eine gewisse Teilung der Arbeit notwendig sei. Während die 
Einen das eigentliche Feld der Geschichte bearbeiten, das un- 
geheure Material für dieselbe zusammenbringen, beschäftigen sich 
die Anderen damit, dieses Material nach allgemeinen Prinzipien 
zu prüfen und zu ordnen und dadurch den Wert dieses Materials be- 
deutend zu erhöhen. Vielleicht, fügen wir hinzu, ist eine solche 
Teilung einstweilen durch die Natur der Sache selbst bedingt. 
Indem die gelehrten Geschichtsforscher sich ihr ganzes Leben 
hindurch mit den einzelnen Thatsachen beschäftigen, ver- 
lieren sie das Verständnis für das Ganze, während der Sinn für 
das Allgemeine bei dem überwiegend philosophischen Geiste 
durch Gewohnheit und Anlage zur zweiten Natur geworden ist. 

Aber wie wichtig aunh die Dienste seien, die die Philosophie 
der Geschichte, der eigentlichen Geschichte leistet oder leisten 
kann, sie hat ausserdem auch selbständig ihren Wert und Bedeutung. 

Eine nähere Bekanntschaft mit den wichtigsten geschichts- 
philosophischen Fragen wird uns diesen Wert klar machen. 
Werfen wir daher einen allgemeinen Blick auf die Hauptfragen, 

Oh. Kappoport, Die Hauptrichtungen der Philosophie. 2 



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- 18 — 

die auf dem Gebiete der Philosophie der Gteschichte die Geister 
in Bewegung setzen, damit wir ims nicht nur die Bedeutung 
dieser Fragen vergegenwärtigen, sondern auch eine Einsicht 
in die Natur dieses umfangreichen Gebietes gewinnen. Zuerst 
heben wir die Frage über das Wesen der Geschichte hervor. 
Ist die menschliche Geschichte ein ewiges Zurückkehren ab- 
gelebter Formen, wie es die Theorie Vicos der Corsi und Ri- 
corsi {Pascal spricht von „itus*' und „reditus^) behaupten zu 
können glaubte? Oder ist sie, wie der amerikanische Sociologe 
Carey meint, „eine Bewegung ins Unendliche^ und zwar mit 
zunehmender Geschwindigkeit? Sollen wir der gemässigten An- 
sicht des Kulturhistorikers Tylor, der zwar die Kontinuität des 
Fortschrittes bezweifelt, aber dafür behauptet, dass „im ganzen 
der Fortschritt bei weitem den Rückschritt übertroflfen hat*' bei- 
stimmen, oder der des englischen Oekonomisten Bagehot (,Les lois 
scientifiques du d^veloppement des Nations*'), der den Fortschritt 
als eine „seltene Ausnahme" bezeichnet? Müssen wir mit Hegel 
als Ziel der geschichtlichen Entwicklung die Freiheit annehmen, 
oder in Einklang mit der pessimistischen Geschichtsauffassung, 
die ihren populären Ausdruck in dem von Hartmann beeinflussten 
Kulturhistoriker v. Hellwald^ gefunden hat („Kulturgeschichte 
in ihrer natürUchen Entwickelung", Bd. II, S. 723—724, 1877), 
die blinde Entwicklung in der Geschichte walten lassen, die 
„jede Vorstellung der Teleologie vernichtet** und in der Zu- 
kunft die Menschheit zu einer „ewigen Ruhe des Todes \md 
des Gleichgewichts" bringen wird? Sollen wir mit Herder die 
Geschichte als die allmähHche Realisation der Idee der Huma- 
nität oder, mit der Darwin'schen Richtung in der Sociologie, als 
einen unerbittlichen Kampf, wo nur „die Stärksten sich erhalten," 
betrachten? Ist die Geschichte ein künstUches Produkt des 
menschUchen Willens, wie */. J. Rousseau^ der klassische Ver- 
treter der Theorie des „Contrat social", meinte, oder ist sie ein 
natürliches Erzeugnis biologischer Kräfte, wie es Comte^ Spencer^ 
E»pinas und viele andere annehmen zu dürfen glauben? — 
Und dann — wer ist der Urheber oder das Hauptagens der 
Geschichte? Ist es der freie menschliche Wille? Ist es der blinde 
Zufall? Oder die eiserne Notwendigkeit äusserer Verhältnisse? 
Oder ist die Geschichte vielleicht ein Produkt der im Innern 
des Menschen waltenden Kräfte? Jede dieser inöglichen An- 
schauungen hat ihre Vertreter. 



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— 19 - 

Wie die Welt nach den theologischen Kosmogonien ein 
Gedanke Gottes, so ist auch die Geschichte nach der theolo- 
gischen Auffassung ein Produkt göttlicher Weisheit. Ausser der 
übernatürlichen Macht Gottes, wurde auch die Macht des un- 
abwendbaren Schicksales (bei den Griechen rvxv» i"^«^» elfxaQ' 
ftevri) als Prinzip des irdischen menschlichen Daseins aufgestellt. 
So sagt Dante : 

„Egli (Fortuna) provede, giudica, e persegue 
Suo regno comme il loro gli altri Dei**' 

•7. J. Rousseau vertritt den freien Willen in der Geschichte. 
Nach ihm ist die gesellschaftliche Verfassung ein Kunstwerk, 
die Gesellschaft ein freiwilliges Produkt des „Contrat social.*' *) 
Friedrich der Grosse erklärte den Zufall für den Meister der 
Geschichte : „Plus on vieillit, plus on se persuade que sa sacr^e 
M^estö le Hasard fait les trois quarts de ce miserable univers". 
Themas Buckle ist der gründlichste Vertreter der Herrschaft 
der Natur und Laurent nennt mit Recht dessen Lehre „le fata- 
lisme de climat**, obwohl dadurch nur eine Seite der Geschichts- 
auffassung Buckles gekennzeichnet ist, denn dieser erkennt 
andrerseits ani dass die Herrschaft der äusseren Natur durch 
diejenige der sich entwickelnden Vernunft begrenzt und bei hoher 
Entwickelung auch beseitigt werden kann. 

Hippolyte Taine will die inneren menschlichen Kräfte in 
der Geschichte gelten lassen. Er nennt die Geschichte „die 
Lösung einer psychologischen Aufgabe". Und dazwischen stehen 
vermittelnde Ansichten (so H. Ritter^ siehe Rocholl, I, S. 340), so 
dass alle möglichen Kombinationen erschöpft zu sein scheinen. 

Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, oder 
des Einzelnen zum Ganzen und umgekehrt bildet ein nicht 
minder interessantes Thema der heftigsten Diskussionen. Ist die 
Gesellschaft Produkt des Individuums oder umgekehrt? Ist es 
der Einzelne, der das bewegende Prinzip in der Geschichte dar- 
stellt oder die Masse? Sind es heroische Persönüchkeiten, die 
der Geschichte das Gepräge ihrer mächtigen Individualität auf- 
drängen? Oder sind es die Schwachen, oder, wie der moderne 
Ausdruck heisst, die „Vielzuvielen", die durch Macht der Asso- 
ciation in der Geschichte das entscheidende Wort führen? Ist 



*) Vergleiche Espinas: Lee soci^tös des aniraaux. Ch. I. 



^V:- 



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- 20 — 

die Gesellschaft nur eine Summe von Individuen, und ist ihre 
Macht nur eine einfache Summe individueller Kräfte, oder ist 
sie ein lebendiges Ganzes, ein Organismus sui generis, der neue 
Kräfte entwickelt? Existiert der Einzelne der Gemeinschaft 
wegen oder umgekehrt? Wird die Freiheit des Einzelnen in der 
Gesellschaft unterdrückt, oder findet sie erst nur in derselben 
die MögHchkeit ihrer vollen Entwickelung und ihres vollen Ge- 
deihens? Alle diese Fragen werden verschieden beantwortet. Wir 
werden einige Antworten auf diese wichtigsten Fragen der Phi- 
losophie der Geschichte hervorheben, um den jetzigen Zustand 
derselben einigermassen zu kennzeichnen. 

Der tiefsinnige Lotze sagt im dritten Bande des „Microcos- 
mus", der eine Fülle feinster tmd scharfsinnigster geschichts- 
philosophischer Betrachtungen enthält, folgendes: „Fast überall ist 
die Freiheit des Einzelnen an der Uebermacht des allgemeinen 
zu gründe gegangen." Diese Ansicht erinnert an die pessimis- 
tische Weltanschauung Schopenhauers, nach welcher das Indi- 
viduum stets uni überall im Namen der Erhaltung der Gattung 
geopfert wird. Herbart aber: Die Weltgeschichte ist eine Schule, 
nicht für die Gattung, sondern für jeden einzelnen Menschen. 
Keiner derselben wird einem angenommenen Weltplan ge- 
opfert. 

Was das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft betrifft, 
so gehen die Meinungen nicht minder auseinander. So glaubt der 
Kulturhistorikfer Bastian : „Der Einzelmensch ist ein Unding, im 
besten Falle ein Idiot, nur in der Gesellschaft kommt der Ge- 
danke durch Sprachaustausch zum Bewusstsein, die Menschen- 
natur zur Geltung. Als das Primäre ergiebt sich also der Ge- 
danke der Gesellschaft, der Gesellschaftsgedanke, und erst aus 
ihm, durch spätere Analyse, wird der Gedanke des Einzelnen 
zu gewinnen sein". Mit Enthusiasmus begrüsst diesen Gedanken 
der von uns schon erwähnte Sociologe Gumplowitz in seinem 
Werke „Grundriss der Sociologie", indem er sagt: „das sind 
goldne Worte, die wir als Motto der Sociologie acceptieren". 

Dagegen H. Lotze : „Nur die eiuzelnen lebendigen Geister 
sind die wirksamen Punkte im Laufe der Geschichte ; alles All- 
gemeine, das sich verwirklichen und zu einer Macht werdt n 
soll, muss sich erst in ihnen zu individueller Lebendigkeit ver- 
dichten, und dann durch einen Hergang der Wechselwirkung 



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"WH^ 



— 21 — 

zwischen ihnen, sich zu allgemeiner Anerkennung ausbreiten". 
(Mikr. III. Bd., S. 65). 

Noch weiter in dieser Richtung geht A. Rondellet: „La 
civilisation prise dans son ensemble n'est pas autre chose que 
Texpression de notre nature morale, et il n'y a rien de plus dans 
rhomme social que dans Tindividu (P. 77 „Philos. des sciences 
soc", 1883). 

Die Einseitigkeit dieser beiden Ansichten, in ihrer Aus- 
schliesslichkeit genommen, liegt auf der Hand. Es ist aber nicht 
unsere Aufgabe, diese Fragen an dieser Stelle einer kritischen 
Untersuchung zu unterziehen. 

Der Einfluss heroischer Persönlichkeiten wird am höchsten 
von Carlyle^) gepriesen, der die Geschichte als „die Biographie 
der grossen Männer" definiert. 

Dass der Staat oder die organisierte Gesellschaft ein Grab 
der individuellen Freiheit ist, bildet für die extremen Individua- 
listen, wie Max Stirner und seine Anhänger, ein sociales Axiom, 
welches sie daher gar nicht zu beweisen suchen. „Der Staat*) 
hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu 
bändigen, zu subordinieren, ihn irgend einem Allgemeinen unter- 
than zu machen ; er dauert nur so lange, als der Einzelne nicht 
alles in allem ist, und ist nur die deutlich ausgeprägte Beschränkt- 
heit Meiner, meine Beschränkung, meine Sklaverei. Niemals zielt 
ein Staat dahin, die freie Thätigkeit des Einzelnen herbeizuführen, 
sondern stets die an den Staatszweck gebundene. Jede freie 
Thätigkeit sucht der Staat durch seine Censur, seine Ueber- 
wachung, seine Polizei zu henmien und hält diese Hemmung für 
seine Pflicht, weil sie in Wahrheit Pflicht der Selbsterhaltung 
ist. Der Staat will aus dem Menschen etwas machen, darum leben 
in ihm nur gemachte Menschen, jeder der Er selbst sein will ist 
sein Gegner und ist nichts." (S. 263.) 

Zu dieser anarchistischen Auffassung des Staates steht die 
aristotelische im prinzipiellen Gegensatz. Seine PoUtik fängt mit 
folgenden Worten an (aufgenommen von Spencer in „Justice") : 
„Da jeder Staat sich als eine Gemeinschaft darstellt, und jede 
Gemeinschaft wegen eines Gutes sich gebildet hat (denn alle 
handeln in allem nur wegen etwas, was sie für ein Gut halten), 

') Ihm folgt Ralph Waldo Emerson in seinen geist- und lichtvollen 
Essays ^Representative Men*. 

•) Stirner: .Der Einzige und sein Eigentum*. 



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— 22 — 

« 

SO erhellt, dass alle Gemeinschaften nach einem Gute streben 
und dass insbesondere die vornehmste und über allen anderen 
stehende Geraeinschaft nach dem vornehmsten Gute strebt ; dies 
ist aber die Gemeinschaft, welche man den Staat imd die staat- 
liche Gemeinschaft nennt." 

Wenn wir von den Fragen über das Wesen und den Ur- 
heber des geschichtlichen Prozesses und über das Wesen und 
die Bedeutung des Individuums und der Gesellschaft zur Frage 
nach den Hauptfaktoren der geschichtlichen Entwicklung über- 
gehen, so begegnen wir auch hier einem heftigen Kampf 
zwischen verschiedenen Prinzipien. Das Prinzip der Rasse zum 
Beispiel ist für viele das wichtigste in der Geschichte. „Au 
XIX® sifecle, sagt Laurent^ la race a remplacö le climat et la 
nature dans les spöcidations philosophiques sur Thistoire." 

Renan sucht die Religion .und die Philosophie eines Volkes 
durch den Charakter der Rasse, der es angehört, zu erklären. 
Aus den Veranlagungen, aus dem Rassencharakter der Semiten 
leitet er ihren Monotheismus, Prophetismus und Spinozas Pan- 
theismus ab.i) 

Auch Fränck sagt: „Si Tlndo-Europ^en est sup^rieur au 
Semite, c'est par son Organisation physique" {Laurent Phil, 
de l'hist. 139 ff.). % 

Eine der Rassentheorie analoge ist die völkerpsychologische 
Richtung von Lazarus und Steinthal^ die in der Beschaffenheit 
des sogenannten Volksgeistes ein entscheidendes Moment für die 
Entwicklung sieht. 

Der intellektuelle Faktor wird von Aug, Comte als der 
wichtigste betrachtet. „On ne saurait hösiter ä placer en premifere 
ligne r^volution intellectuelle, comme principe n^cessairement 
pr^pondörant de Tensemble de Fevolution de Thumanit^.*^ (Ph. 
pos., IV., s. 459 ff. In der Dynamik noch mehr als in der Statik.) 

Der ChemÜL^rJustus Liebig erkennt im Nahrungsbedürfnisse 
die Quelle aller individuellen und gesellschaftlichen Erscheinungen. 
So meint er: 



*) Histoire g^n^rale des langues s^mitiques, pag. 4 ff. So sagt er 
u. a. ,La oonscience B^mitique est olaire, mais peu ^tendue; eile oom- 
prend merveilleuBement Tunit^, eile ne fait pas atteindre la multiplicii^. 
Le monotMisme en r^sume et en explique toui les caract^res. Y. p 5. 



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- 23 - '"/'V^ 

^C'est une v^ritö si triviale qu'on ose k peine T^noncer, 
que si Fhomme pouvait vivre d'air et d'eau, les id^es de maitre 
et de serviteur, de prince et du peuple, d'ami et d'ennemi, 
d'amiti^ ou de haine, de vertu et de vice, de bien et de mal, 
etc., n'existaient pas." („Les lois naturelles de ragriculture*'). ^) 

Derselbe : La loi (naturelle) est ä son (de Thomme) Service, 
et le serviteur sert son maitre. Ib. 109. 

Toutes les grandes ömigrations des peuples ont eu Heu de 
pays devenus infecondes vers des contr^es plus fertiles. Ib. 110. 

L'organisation des Etats, la vie sociale et de famille, les 
rapports mutuels des hommes, les m^tiers, Tindustrie, Hart et la 
science, bref tout ce qui fait Thomme ce qu'il est, sont dus 
uniquement ä cette circonstance qu'il possfede un estomac et qu'il 
est soumis ä une loi naturelle qui Toblige ä consommer journelle- 
ment une certaine quantitö de nourriture qu'il doit soustirer ä 
la terre par son activitö et son habiletö, attendu que la nature 
ne la lui offre qu'une quantite tout-ä-fait insuffisante.' ^) 

Der Franzose Le Bon fügt diesen Faktoren ^l'amour" zu. 
So sagt er: „La faim et Tamour ont ^t^ jusqu'ici les grands 
regulateurs de monde." 

Liebig sehr nahe steht J. Lippertj der die Lebensfürsorge 
für das regulative Prinzip der Kulturentwicklung erklärt. 

Die darwinische Lehre hat ihre Prinzipien auch auf ge- 
schichtlich-philosophischem Gebiete anzuwenden gesucht. Das 
Prinzip der natürlichen Auslese wird von Ward in seiner „Dy- 
namic sociology" (1883) als Hauptagens in der Geschichte auf- 
gesteUt: „It is natural selection that has created intellect; it is 
natural selection that has developed it to its present condition, 
and it is intellect as a product of natural selection that has 
guided man up to his present position (S. 15). 

Der Einfluss des Klimas auf die körperliche und geistige 
Beschaffenheit des Menschen und folglich auch auf seine Stellung 
in der Geschichte wurde schon von Hippocrates erkannt. 
EvQtjoetg . . . rfjg x^Q^^ '^fi (p^^oei äxoXov&iovra xal xd eTdea %(bv äv- 
^QWTtcov xal tovg TQÖTwvg, „A la nature du pays correspondent 
la forme du corps et les dispositions de Täme," (Hipp. Oeuvres 
II, pag. 91, herausg. und übers. Littr^ 1840). 



^) Traduction de Soheler, Bruxelles, T. I, pag. 108. 
*) Dass Marx Liebigs Ansichten bekannt und nicht unwillkommen 
waren, zeigt Note 325 im ersten Band seines .Kapital*. 



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— 24 — 

Diese Behauptung ist keineswegs als ein zufällig hinge- 
worfenes Aphorisma oder als Gelegenheitsgedanken zu betrachten. 
Wir entnehmen dieselbe seinem systematischen (zwar kleinen) 
Traktat : üeqI äigayv, vdarojv, Tojkov, wo er sich unter anderen rein 
medizinischen auch die Aufgabe stellt, den Unterschied zwischen 
den Bewohnern Europas und Asiens auf physisch -klimatische 
Beschaffenheit der entsprechenden Weltteile zurückzuführen. ^) 

Von den neuesten Vertretern des Einflusses der äusseren 
Natur auf den Menschen haben wir schon gesprochen. 

In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts haben K, Marx 
und Fr. Engels eine neue Geschichtstheorie aufgestellt, welche 
im Gegensatz zu allen anderen Auffassungen die ökonomische 
Struktur der Gesellschaft als Hauptagens der geschichtlichen 
Entwicklung erkennt. 

Bei einer solchen Fülle von Problemen, Ideen und Prinzi- 
pien, die sich auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte 
drängen, ist es natüriich, dass das Bewusstsein der Bedeutung 
dieser noch zu schaffenden Wissenschaft schon jetzt hie und da 
auftaucht. Bona Mayer^ z. B., bezeichnet die Philosophie 
der Geschichte als einen „Mittelpunkt der grossen Diskussionen, 
welche im Gesamtleben der Wissenschaft die nächste bedeutende 
Wendung bezeichnen werden.** 

Die praktische Bedeutung der Philosophie der Geschichte 
ist nicht minder wichtig. 

*) Wer wird zum Beispiel im folgenden nioht den Hauptgedanken 
Th. Buokleä fast mit denselben Worten ausgesprochen erkennen? In 
dem genannten Buche sagt Hippoorates: h fihv yoQ x<p aei TtaoojiltjoUi» 
xat gaütfiiai eveiatVf iv öe rm fieTaßodXofievo) al TcÜMurogiai ro) acofiau xal tfj yvxfj, 
xai ojto fihv ^ovyiag xal Qa&vfiir}^ tj Ösdia av^srai, Suto di taXautmQirjg xai reor 
:Tsv(oy al drögeiat. (In der Uebersetzung Littr^s: »Une perp^tuelle unifor- 
mit6 entretient PindoJence; un climat variable donne de Texeroice au 
Corps et k TÄme; or, si le repos et l'indolenoe nourissent la lachet^, 
Texercice et le travail nourissent le oourage." Bezeichnend für den poli- 
tischen Sinn Hippocrates ist folgende Stelle, in welcher er die Mutlosig- 
keit der asiatischen Völker im Vergleich mit den ein-opäischen erklärt: 

oxov yo^ ßaadsiforzai, ixet dvdyxjj dedotdzovg elvai AI yoQ yvxai, de- 

öovloixat xai ov ßovXovxat TtagoxirÖvrevetv ixövzeg elxf/f vmg dXXoxQirjg dvvdjutog 
u. s. w. (In Littr^s Uebersetzung: ,Chez les hommes qui sont soumis ä 
la royaut^, le courage .... manque n^cessairement. Leur äme est assez 
vile, et ÜB se soucient peu de s'exposer aux p^rils sans n^cessit^ pour 
accroitre la puissance d'autrui.^) 



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— 25 — 

In der modernen Zeit hat sich das gesellschaftliche Leben 
rasch entwickelt. Der Anteil aller gesellschaftlichen Klassen an 
der politischen Thätigkeit ist grösser geworden, grosse politische 
Fragen von historischer Bedeutung sind zur öffentlichen Dis- 
kussion gestellt worden und von jedem Bürger wird die Ent- 
scheidung über diese Fragen verlangt; je weiter wir fortschreiten, 
desto mächtiger wird eine Strömung, die die allgemeinsten Grund- 
lagen der herrschenden Ordnung bekämpft. Unter solchen Ver- 
hlQtnissen kann das Verständnis der sich vollziehenden geschicht- 
lichen Entwicklung für niemanden, sei er Reaktionär oder 
Progressist, Revolutionär oder Konservativer, gleichgültig sein. 
Beim Mangel dieser Erkenntnis läuft jeder Gefahr, sich in der 
unangenehmen Rolle des Don-Quichotes zu befinden, der gegen 
das notwendig sich Vollziehende eifrig kämpft. Das Verständnis 
der Geschichte hat also jetzt eine allgemeine Bedeutung ge- 
wonnen und ist für jeden zu einer aktuellen Frage geworden. 
Für diejenigen, die ihrer socialen Stellung nach das Schicksal 
Anderer in Händen hatten oder zu haben glaubten, wir meinen 
die regierenden Staatsmänner und Parteiführer, gilt das noch 
in höherem Grade, als wie für den einflussarmen Privatmenschen. 

Um von vielen Beispielen nur eins herauszugreifen, weisen 
wir auf den Kampf hin, der gegen die Mitte unseres Jahrhunderts 
fast in allen mitteleuropäischen monarchischen Staaten gegen 
den politischen Liberalismus geführt wurde. Die Staatsmänner 
dieser Staaten kämpften mit kleinen diplomatischen und polizei- 
lichen Mitteln gegen eine grosse geschichtliche Wendung — xmd 
unterlagen. Unter ihnen war ein Mann wie Mettemich, den viele 
als genialen Staatsmann betrachten, der aber jedenfalls ein 
schlechter Geschichtsphilosoph war. Es fehlt auch der neuesten 
Zeit nicht an solchen genialen Staatsmännern und schlechten 
Philosophen, die von der geschichtlichen Bewegung, gegen die 
sie mit denselben kleinlichen Mitteln gekämpft haben, aus threm 
öflfentlichen Wirkungskreise verdrängt worden sind. Und gewiss 
hatte Aug. Comte Recht, als er schon 1825 seine Argumentation 
über die grosse Bedeutung der Kenntnis der Entwicklungs- 
gesetze menschlicher Gesellschaften mit den einen wichtigea, 
wenn nicht den wichtigsten Grundsatz seines Systems kenn- 
zeichnenden Worten schloss: dans cet ordre de phönomfenes 
conune dans tout autre, la science conduit ä la prevoyance, et la 



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— 26 — 

prövoyance pennet de rögulariser Taction. (Opuscules, p. 200^ 
1873.) 

Die Bedeutung der Philosophie der Geschichte kann auch 
unter einem andern Gesichtspunkt betrachtet werden. Hermann^ 
Lotze bemerkte: „Es ist sehr fragUch, ob nicht über die Erhaltung 
des Lebens die Zwecke desselben aus den Augen verloren 
wurden*' (Mikrok III). Die Philosophie der Geschichte, indem sie 
unsere Aufmerksamkeit auf die allgemeine Richtung der ge- 
schichtlichen Entwicklung lenkt und uns unsere Stelle in derselben 
anweist, kann sie unter günstigen Umständen als ein wirksames^ 
Mittel gegen die Verflachung unserer Bestrebungen dienen. 

Ist die Philosophie der Geschichte als Wissenschaft, wie 
wir hinlängHch bewiesen zu haben glauben, nicht nur möglich, 
sondern auch von theoretischer und praktischer Wichtigkeit, so 
entsteht die Frage: wanun existiert eine solche bisher nicht? 
Alle von uns bisher erwähnten Theorien sind insgesamt nur 
unausgeführte wissenschaftliche Entwürfe. Eine systematische 
Begründung und Anwendung für die wichtigsten geschichtlichen 
Erscheinungen hat noch keine einzige dieser Theorien aufzu- 
weisen, — die sogenannte materialistische Geschichtsauifassung,. 
die ein wissenschaftUchös Organ zu ihrer Verbreitung hat, nicht 
ausgenommen. — Ein Mangel an wissenschaftlichen Vorarbeiten 
erklärt nur teilweise diesen anormalen Zustand der Philosophie 
der Geschichte. Als ein Hauptgrund hiefür müssen die falschen 
Methoden, die bis in die neueste Zeit auf diesem Gebiet ange- 
wandt worden sind, betrachtet werden. 

Sehen wir uns diese Methoden näher an. 

Alle geschichtsphilosophischen Theorien lassen sich methodo- 
logisch und inhaltlich auf drei grosse Richtxmgen zurückführen 
und zwar : die providentielle, ideaUstische und positiv-realistische. 
Die providentielle Richtung hat in Aurelitis Augustinus (de 
^Civitate Dei") und Bossuet („Discours sur Thistoire universelle") 
ihre namhaftesten Vertreter. Augustin zeichnet seinen Ausgangs- 
punkt in folgenden Worten: „A deo sunt semina formarum,. 
formae seminum, motus seminum atque formarum . . . a quo est 
omnis modus, omnis species, omnis ordo, a quo est mensura^ 
numerus, pondus, a quo est qui quid naturaliter est, cujusciimque 
generis est, cujuslibet aestimationis est" (de „Civitate Dei", Buch 
U, Kap. XI). 



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— 27 — 

Die providentielle Gteschichtsauifassung geht von einem 
absolut optimistischen Standpunkt aus, nämlich, dass Gott die) 
Welt nach den vernünftigen, wenn auch uns unbekannten 
Gründen regiert. So Augustinus: „Nescimus enim, quo judicio 
Dei bonus ille sit, pauper, malus, ille sit dives ; iste gaudeat, quem 
pro suis perditis moribus cruciari debuisse m^roribus arbitramur, 
contristetur ille quem vita laudabilis gaudere debuisse persuadet ; 
exeat . . . damnatus innocens . . . sceleratus . . . impunitus . . . latro- 
cinentur sanissimi juvenes, et qui nee verbo quemquem laedere 
potuerunt, diversa morborum atrocitate affligantur infantes ; utilis 
rebus humanis videtur nee nasci debuisse diutissime insuper vivat; 
plenus crirainibus sublimetur honoribus, et hominem sine querella 
tenebrae ignobilitates abscondant, et cetera hujus modi quae quis^ 
coUigit, quis enumerat?^ (Sancti Aurelii Augustini. Lib. XX ^ 
Cap. II, P. 407.) 

Nichtdestoweniger glaubt er behaupten zu können : 
„Quamvis ergo nesciamus quo judicio Deus ista vel faciat, vel 
ßeri sinat, apud quem summa virtus est, summa sapientia et summa 
justitia, nulla infirmitas, nuUa temeritas, nuUa iniquitas*'. (ib.) 

Der Mensch sowohl, als die Gesellschaft existieren für diese ♦ 
Gteschichtsau£fassung nicht als Selbstzweck. Sie sind nur da als 
ein Beweis der Herrlichkeit Gottes auf Erden. 

Macchiavelli charakterisiert trefflich diese christlich-religiöse 
Geschichtsauffassung, indem er sagt: „Die antike Religion hat 
niemand heilig gesprochen, als die Männer des weltlichen Ruhms, 
wie es die Heerführer und Fürsten waren. Die christliche Religion 
dagegen hat mehr die Männer der Selbsterniedrigung und Be- I 
schaulichkeit verherrUcht. Sie hat überhaupt das grösste Gut in 
die Niedrigkeit, in die Wegwerfung und in die Verachtung der 
menschlichen Dinge gesetzt, während die Alten es in die Grösse 
des Geistes, in die Stärke des Körpers und in alle diejenigen 
Dinge legten, welche geeignet sind, die Menschen stark zu 
machen.*' Das Christentum lehrt nur dulden, „diese Art zu leben 
scheint die Welt geschwächt und sie zur Beute der Bösewichter 
gemacht zu habctn.^ 

LamennaiSj der dem Christentum mit Enthusiasmus ergeben 
war, schildert in folgenden Worten den Gegensatz zwischen dem 
Geiste des Christentums und dem der alten Welt bei seiner Erschei- 
nung : Aux fetes brillantes du paganisme, aux gracieuses Images 



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— 28 >- 

d'une mythologie enchantresse, k la comraode licence de la 
morale philosophique, ä toutes les döductions des arts et des 
plaisirs il oppose les pompes de la douleur, de graves et lugubres 
cereraonies, les pleurs de la p^nitence, des menaces terribles, de 
redoutables mystferes, le faste effrayant de la pauvrete, le sac, 
la cendre, et tous les symboles d'un döpouillement absolu et 
d'une consternation profonde. (Ess. sur Tindif. en matifere de 
religion.) 

Die Methode der providentiellen Philosophie der Geschichte 
ist eine absolut aprioristische. Sie konstruiert die Geschichte, 
anstatt sie in ihrem wirklichen Verlauf zu untersuchen. Ein 
solches unwissenschaftliches Verfahren musste scheitern. 

Dis providentielle Geschichtsauffassung verzichtet auf eigenes 
Verständnis, indem sie ihr festes Vertrauen in die Allwissenheit 
der Vorsehung setzt, und da wir diese Allwissenheit nicht be- 
sitzen, so wäre eine verlorene Mühe, dies Rätsel der Geschichte 
enträtseln zu wollen. 

Die idealistische Geschichtsauffassung ihrerseits macht den- 
selben methodologischen Fehler, wie die providentielle. Sie 
konstruiert die Geschichte von oben herab, a priori. Statt der 
göttlichen Vorsehung stellt sie eine absolute Idee^ oder ein ab- 
solutes Ideal auf, dessen Realisierung der Zweck der geschicht- 
lichen Entwicklung sein soll (Leibniz' prästab. Harmonie). Hegel 
ist der typische Vertreter dieser Richtung. Als Motto zu seinem 
Werke „Philosophie der Geschichte" dienön ihm die Worte von 
W.V.Humboldt: „Die Weltgeschichte ist nicht ohne eine Welt- 
regierung verständlich." 

Diese Hineintragung eines Planes in die Geschichte kann 
von unserem heutigen Standpunkte kaum noch als wissenschaft- 
lich bezeichnet werden. „Gleich dem Seelenführer Merkur, sagt 
Hegel, ist die Idee in Wahrheit der Völker- nnd Weltführer, 
und der Geist, sein vernünftiger und notwendiger Wille ist es, 
der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt" (Hegel „Philos. 
der Gesch." 1837). 

Die geschichtlichen Thatsachen werden von dem Philosophen 
oft der Idee zu Liebe umgeformt ; ^) falls sie aber zu dieser Idee 



*) Hegel verwahrt sich zwar sehr energisch gegen geschichtliche 
Konstruktionen a priori. („Die Geschichte haben wir zu nehmen wie sie 



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— 29 — 

in keiner erweisbaren Beziehung stehen oder ihr gar wider- 
sprechen, werden sie einfach übergangen. 

Die idealistische Geschichtsauffassung hat im Vergleich zur 
providentiellen diesen Vorzug, dass sie, statt sich auf die All- 
wissenheit eines höheren Wesens zu berufen, sich des mensch- 
lichen Verstandes bedient. Dieser vermag, wenn er sich in einer 
solchen Grösse wie bei Hegel vorfindet, trotz eines falschen 
Gesichtspunktes vieles in der Geschichte zu verstehen.^) 

Die positiv-realistische Geschichtsauffassung hingegen, die' 
erst mit Aug, Cofrtte^ der sie systematisch begründet hat, unser 
Gebiet zu beherrschen anfängt, ist in methodologischer Beziehung 
die einzig richtige, die einzig wissenschaftliche. Die ausschliess- ' 
liehe Richtigkeit dieser Methode scheint uns unabhängig von der 
Richtigkeit bezw. Unrichtigkeit der theologischen und metaphysi- 
schen Weltanschauung überhaupt zusein. Der Providencialist wie 
der Metaphysiker müssen zugeben, dass sie andere Mittel^ um 
die Geschichte, den Entwicklungslauf der menschlichen Gesell- 
schaften, wie er thatsächlich vor sich gegangen ist, zu begreifen,' 
als die Geschichte selbst^ weder besitzen noch besitzen können. 
Und wenn auch ' die providentiellen und metaphysischen Ge- 
schichtskonstruktionen für ihre Vertreter selbst irgend welche 
Ueberzeugungskraft haben mögen, so lässt es sich doch nicht 
einsehen, durch welche Ueberzeugungsmittel sie dieselben An- 
deren anehmbar machen können. Denn spezielle Geschichts- 
auffassungen können ebenso wenig in allgemein annehmbare 
Glaubensdogmen verwandelt werden (wenn auch der Versuch 
dazu von den Vertretern des Glaubens gemacht worden ist) wie 
mathematische oder physische Grundsätze. Die positiv-realistische 
Methode hingegen sucht auf Grund der Kenntnis der Geschichte 
und ihrer Elemente die Gesetze der Entwicklung festzustellen. 



ist: wir haben historisch, empirisch zu verfahren**. Id. p. 13 ff.) Die ,Er- 
diohtimgen* überlässt er mit gutem Humor den , Historikern von Fach'. 
Dass alles aber in der Weltgeschichte „vernünftig zugegangen sei" (p. 12) 
ist ihm der „Gedanke, den die Philosophie mitbringt" (16). Das heisst 
eben den Charakter der Geschichte, folglich die Geschichte selbst a priori 
zu bestimmen. 

*) So überraschen und bei Hegel ein klares Verständnis für die Be- 
deutung der materiellen Faktoren, die nur künstlich mit der alles beherr- 
schenden Idee in Zusammenhang gebracht wird. 



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— 30 — 

Mängel können hier nur in der Anwendung der Methode ent- 
halten 8ein. Und dieses ist wirklich der Fall gewesen, ^uch die 
neuesten Geschichts-Philosophen fahren, von der idesdistischen 
Richtung beeinflusst, fort, das unendlich komplizierte Material, 
welches uns die Geschichte darbietet, auf ein einziges Prinzip 
zurückzuführen. Wir haben gesehen, zu welchen sich wider- 
sprechenden Ergebnissen dieses Verfahren führt. Anstatt alle 
Seiten des menschlichen Lebens und Wirkens und dessen äussere 
Ursachen zu berücksichtigen, wurde bald die eine, bald die an- 
dere in den Vordergnmd gerückt, und die übrigem als neben- 
sächliche oder abgeleitete betrachtet, ohne dass wenigstens der 
Versuch gemacht worden wäre, deren Ableitbarkeit derselben 
zu begründen. Die Geschichtsphilosophen suchten bis jetzt nach 
dem, was Du Bois-Reymond im Anschluss an Descartes und 
Kant „den archimedischen Standpunkt^ ^) nannte, nämlich nach 
einem Prinzip, aus dem heraus sie mit einem Male die ganze 
Welt der geschichtlichen Erscheinungen erklären wollten. 

Bei der ungewöhnlichen Kompliziertheit der geschichtlichen 
Phänomene, die von allen bedeutenden Denkern, welche die 
allgemeinen Fragen der Sociologie behandelt haben, wie Comte, 
Milly Spencer^ besonders betont wird, konnte dieser Versuch 
nicht gelingen. Wären auch alle diese Versuche methodologisch 
richtig, so fehlte dazu bis jetzt das Material für den vollständigen 
Aufbau eines geschichtlich-philosophischen Systems. DiePalaeon- 
tologie, vergleichende Etnologie, Moralstatistik und Kultur- 
geschichte, die unentbehrlichsten Hilfswissenschaften einer nicht 
a priori konstruierten Philosophie der Geschichte, blieben bis 
in die neueste Zeit verhältnismässig unentwickelt. Dasselbe gilt 
von der Völkerpsychologie und der Entwicklungslehre, welche 
unentbehrliche Beiträge zu einer Philosophie der Geschichte zu 
liefern berufen sind. 



*) Bei Leibniz : „perspektivische Mittelpunkt". Siehe Schelling, B. I, 
8. 457. Stuttgart 1856. 



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31 — 



n. Der speoiflsche Charakter der geschiohtUehen 
Gesetzmässigkeit. 



Im engsten Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit 
^iner Philosophie der Geschichte steht die ebenso fundamentale 
und wichtige Frage nach dem specifischen Charakter der ge- 
schichtlichen Gesetzmässigkeit, eine Frage, von deren Lösung 
gewissermassen das Schicksal der Philosophie der Geschichte 
abhängt. 

Diese Frage erscheint in ihrer ganzen Schwierigkeit \md 
Kompliziertheit erst dann, wenn wir die geschichtliche Gesetz- 
mässigkeit nicht mit der auf empirischem Wege erlangten Ge- 
neralisation homogener geschichtlicher Thatsachen identifizieren 
wollen, die in einer allgemeinen Gesetzesformel zum wissen- 
schaftüchen Ausdruck gebracht wird. Solche sogenannte empirische 
Gesetze, oder genauer empirische Generalisationen, giebt es in 
allen geistigen Wissenschaften, wie in der Geschichte in Hülle 
und Fülle und die Frage nach ihrer MögUchkeit, bezw. nach ihrer 
Existenz kann unmöglich ein wissenschaftliches Problem aus- 
machen. 

Gerade aber für die so vielfach komplizierte menschliche 
Oeschichte ist es von ungeheurer Wichtigkeit, dass wir unter 
^Gesetz" ein allgemeines und notwendiges Verhältnis zu ver- 
stehen uns entschliessen, dem eine Reihe von Erscheinungen 
unterworfen ist — und dies eigentlich ist der naturgemässe Sinn 
«ines wissenschaftlichen Gesetzes. Denn nur unter Voraussetzung 
<ier von Kant geforderten Kriterien der Gesetzmässigkeit, Allge- 
meinheit und Notwendigkeit, kann die Entdeckung geschichtlicher 
Gesetzmässigkeit für das Verständnis des vor unsern Augen sich 
abspielenden geschichtlichen Prozesses und das Voraussehen 
künftiger Ereignisse, die für unser praktisches Verhalten von so 
^grosser Wichtigkeit ist, nutzbar gemacht werden. Nur unter 
Voraussetzung der allgemeinen und notwendigen Geltung eines 
geschichtlichen Gesetzes ist die Möglichkeit gegeben, in jedem 



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— 32 — 

einzelnen Falle, in jeder bestimmten Zeitperiode und an jedem 
bestimmten Orte, den Gang der geschichtlichen Entwicklung zu 
begreifen und vorauszusehen und somit das Comte'sche wissen- 
schaftliche Ideal — savoir pour pr^voir — auf einem des für uns 
wichtigsten Gebiete zu verwirklichen. Wie viele geschichtliche 
Katastrophen wären, wenn nicht vermieden, so doch wenigstens 
gernildert worden, wenn die Geschichte sich im Besitze solcher 
allgemein anwendbarer Gesetzö befände. 

Die Möglichkeit der Herrschaft über unser geschichtliches 
Schicksal wäre mit der Wissenschaft der Geschichte ebenso un- 
streitig gegeben, wie die mehr oder weniger erreichte Herrschaft 
des Menschen über die äussere Natur durch die Naturwissen- 
schaften gegeben ist. Und wirklich ist diese Gesetzmässigkeit 
von je das Ideal der Geschichtsphilosophen gewesen. Vico will 
eine ideale Geschichte entdecken, welche das Urbild der ge- 
schichtlichen Entwicklung jedes einzelnen Volkes darstellen soll. 
(„Una storia eterna, sulla quäle corrono in tempo tutte le storie 
particolare delle nazione."^) Gesetze in der Geschichte entdecken 
ist auch die wissenschaftUche Aufgabe TJi. Buckles und die lei- 
tende Idee seines berühmten Hauptwerkes. 

Aug. Gomte glaubt bekanntlich dieses Gesetz in seinen drei 
sich ablösenden geschichtlichen Phasen (der theologischen, der me- 
taphysischen und der positiven) gefunden zu haben. Der Parallelis- 
mus der menschlichen Geschichte mit dem Lebensschicksal eines 
einzelnen Individuums, der wiederholt in der geschichtsphilo- 
sophischen Litteratur uns entgegentritt, ist von derselben Tendenz 
durchdrungen (Pascal, Krause, Lasaux u. a.) Das beständige 
Streben der Geschichtsphilosophen nach einem Plane oder nach 
einem Ziele in der Geschichte, entstammt demselben Drange, in 
den flüchtigen geschichtlichen Erscheinungen den ruhenden Pol 
eines allgemein notwendigen Gesetzes zu finden. 

Das Streben nach Gesetzen in der Philosophie der Geschichte 
stösst zunächst auf eine philosophische Schwierigkeit, welche um 
so bedeutender zu sein scheint, als sie mit einem der schwie- 

*) Vico „De uno universi juris principio et fine uno.* Edit. Joseph 
Ferrari Medioloni MDCCCXXXV. In der römischen Geschichte glaubte 
er dieses Ideal verwirklicht zu finden. Er siebt in ihr : „certam tum ori- 
ginem, tum successionem univeram historias profanae.* 



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— 33 — 

rigsten philosophischen Probleme in Zusammenhang steht, mit 
dem Preiheitsproblem. 

Die Willensfreiheit, die Freude unseres Selbstbewusstseins, 
die die Philosophie in ihren meisten und grössten Vertretern — 
Spinoza und die grossen Materialisten ausgenommen — ganz 
aufzugeben sich nicht entschliessen kann, scheint das Grab 
jeder Philosophie der Geschichte zu sein. Die Willkür des indi- 
viduellen Willens scheint jede Regelmässigkeit, jedes Gesetz 
in der Geschichte unmöglich zu machen. Der Kulturhistoriker 
Otto Henne am Rhyn glaubt durch diese Willkür, die nach ihm j 
ein imentbehrliches Element in der Geschichte ist, darauf ver- ' 
ziehten zu müssen, geschichtliche Gesetze aufzustellen („Kultur- 
geschichte im Lichte des Portschrittes"). 

Nach Gervinus ist die Gesetzmässigkeit nur dann in der 
Geschichte zu treffen, wenn dieselbe „im grossen Verlaufe der' 
Jahrhunderte überschaut*^ wird. (Einleitung in die Geschichte 
des XIX. Jahrhunderts S. 12.) ^) In seiner „Introduction ä 
la science de Thistoire" unterscheidet Buchez „Fordre fatal 
ou n^cessaire" und „l'ordre libre*^. Noch bestimmter drückt 
sich der Krausianer Laurent aus. In seiner „Philosophie de 
rhistoire" schreibt er S. 216: „II n'y a qu'un moyen de mettre 
la fixit4 de la nature physique dans le monde moral, c'est 
de nier la libert^ humaine. C'est en effet ä cela qu'aboutit le 
Systeme des lois g(5nerales. Ajoutez-y la negation d'un gouver- 
nement providentiel. Les astres qui accomplissent leur course 
avec une rögularitö admirable depuis qu'ils existent, ont-ils 
besoin d'im guide? Des lors Thuraanit^ peut aussi se" passer 
d'un ^ducateur. Les lois generales ^Hminent en definitive Dieu 
et la liberte." 

Th. Buckle findet für notwendig, in erster Linie sich mit 
dem Problem des menschlichen Willens zu befassen. (Siehe das 
I. Kapitel seines Hauptwerkes.) 

Wie auch die Lösung des Problems der menschlichen Frei- 
heit ausfallen möge, schon die Abhängigkeit der Philosophie der 



*) Im einzelnen scheint Willkür zu herrschen. Diese Ansicht ent- 
spricht der Quetelets und Bueckles, dass die Regelmässigkeit nur wäh- 
rend grösseren Perioden statistisch festzustellen möglich sei. 

Ch. Rappoport; Die Hauptrichtungen der Philosophie. 3 

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— 34 — 

Geschichte von diesem jedenfalls äusserst komplizierten philo- 
sophischen Probleme, wenn eine solche Abhängigkeit im Laurent- 
sehen Sinne wirklich stattfindet, hätte die Möglichkeit der Phi- 
losophie der Geschichte problematisch und die Einigung auf 
diesem Gebiete unmöglich gemacht. Der unversöhnliche Kampf 
der Deterministen und Indeterministen (Steiner, Philosophie der 
Freiheit, 1893) wäre von der Philosophie auch in die Geschichts- 
philosophie hinübergetragen und das Gebiet der letzteren unsicher 
gemacht worden. Zum Glück für die Philosophie der Geschichte 
ist es nicht der Fall. Wir können unmöglich den angeführten 
Meinungen über die Abhängigkeit der geschichtlichen Gesetz- 
mässigkeit vom Willensproblem beipflichten. 

Es ist leicht zu beweisen, dass diese Unabhängigkeit aus 
der Natur der Sache selbst mit Notwendigkeit folgt. 

Dass der menschhche Wille, ob frei oder unfrei, in der 
empirischen Welt („in der Erscheinung^ nach Kant) von Motiven 
geleitet werde, wird der Indeterminist ebenso wenig leugnen 
wollen, wie der konsequenteste Determinist. Nur die Unmöglich- 
keit der freien Wahl unter diesen Motiven, wird von dem letzteren 
behauptet, von dem ersteren seinem Standpunkte gemäss, in Ab- 
rede gestellt werden müssen. Dass es eine Regelmässigkeit, dass 
es strenge Gesetze gebe in der — freien oder unfreien — Wahl 
dieser Motive, folgt aus der Zweckmässigkeit der menschlichen 
Thätigkeit. Nicht Willkür oder Freiheit bestimmen unser Thun 
und Lassen, sondern bestimmte Absichten^ die wir mit den durch 
das natürliche imd gesellschaftliche Milieu dargebotenen Mitteln 
zu realisieren suchen. Jede Handlung eines normalen Menschen 
setzt sich ein Ziel, das sie zu erreichen strebt. Die menschlichen 
Absichten und Ziele sind aber nicht Objekte unserer Wahl, sie 
sind uns gegeben durch unsere physische, psychische und mora- 
lische Organisation. Der Mensch wählt seine Bedürfnisse nicht 
selbst. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit der Bedürfnisse 
aber rufen notwendige und allgemeine Thätigkeüsformen her- 
vor. Dadurch sind die konstanten Elemente des menschlichen 
Handelns überhaupt gegeben, folglich auch die Elemente der 
geschichtlichen Gesetzmässigkeit. Da die elementaren Bedürfnisse 
nur relativ konstante Grössen sind, insofern sie ihre minimale 
Befriedigung als Existenzbedingung absolut fordern, ihrer Mannig- 
faltigkeit, ihrem Umfang und ihrer Form der Befriedigung nach 



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— 35 — 

dagegen unendlich entwicklungsfähig sind, so ist durch diese 
physiologisch-psychische Basis der menschlichen Geschichte, nicht 
nur das Konstante, sondern auch das Variable in derselben 
gegeben. 

Ausser der subjektiven Quelle der Bedürfnisse giebt es 
auch eine objektive Quelle der geschichtlichen Gesetzmässigkeit. 
Es wäre eine augenscheinUche Einseitigkeit, die physiologisch- 
psychische Seite des Menschen als die einzige Quelle der kon- 
stanten Elemente, der Gesetzmässigkeit in der Geschichte zu 
betrachten. Der subjektiven Welt der Bedürfnisse steht die 
objektive Welt der Mittel gegenüber. Hier befinden wir uns auf 
dem sicheren Boden der Naturwissenschaft, die die Konstanz der 
gemeinsamen Verhältnisse der objektiven Mittel unter einander, 
wie ihrer Verhältnisse zu unseren subjektiven Bedürfnissen, zu ihrer 
unentbehrlichen Grundlage hat, was von niemanden bezweifelt 
wird. Damit ist also die zweite Quelle der konstanten Elemente 
des zeitlichen Geschehens gegeben, die Möglichkeit auch das 
GeschichtUche sub specie setemi, nach dem Gesichtspunkte der 
Gesetzmässigkeit j zu betrachten. 

Auf diesem Gebiete der Notwendigkeit in der Geschichte 
erhalten ihre volle Bedeutung die Worte Herders : „Der Bau des 
Weltgebäudes sichert den Kern meines Daseins, mein inneres 
Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde 
ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte. *^ 
{Ideen, Bd. I, S. 8, 1784) 

Wenn die natürliche Basis der Geschichte die Grundlage 
der notwendig sich vollziehenden geschichtlichen Verhältnisse 
liefert, so taucht die Frage über den Ursprung der Verände- 
rungen in der Geschichte, der variablen Elemente, der, nach 
Auffassung Mancher, eigentlichen Geschichte, auf. Die Antwort 
ist aber nach dem Vorhergesagten nicht schwer. Insofern die 
Gombination der natürlichen Kräfte, oder der objektiven Mittel 
zur Erreichung subjektiver menschlicher Ziele, die praktische 
Anwendung und Nutzbarmachung derselben durch das Wachstum 
der wissenschaftlichen Einsicht, wie durch den erfahrungsmässigen 
Gebrauch sich ändert, ist durch die objektiv-physische Basis 
der menschlichen Geschichte auch das variable Element derselben 
gegeben. Es existiert hiemit ein vollständiger Parallelismus in 
der Wirkungsweise der subjektiven wie der objektiven Paktoren 



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— 36 — 

der Geschichte in Bezug auf gesetzmässige Form des Geschicht- 
lichen. Die subjektive^ wie die objektive Reihe dieser Paktoren 
bedingen sowohl die konstanten, als auch die variablen Elemente 
derselben. Der Entwicklung unserer subjektiven Bedürfnisse ent- 
sprechen Veränderungen in der objektiven Welt der Befriedi- 
gungsmittel. ^) 

Die Geschichte ist ebenso Produkt der objektiven, wie der 
subjektiven Natur, oder populär ausgedrückt : Die äussere Natur 
und der menschliche Geist sind die Hauptquellen aller geschicht- 
lichen Faktoren. Ihre Gesetze machen sich auch in den geschicht- 
lichen Prozessen geltend. Die speziellere Zergliederung dieser 
Hauptfaktoren und die Bestimmung ihrer Wirkungsweise, im 
realen geschichtlichen Prozesse betrachtet, muss den Inhalt der 
Philosophie der Geschichte abgeben. 

Die Bezeichnungen „Geist^ und „Natur" als Hauptquellen 
aller geschichtlichen Faktoren müssen als zu allgemein betrachtet 
werden. In ihrer allgemeinen Form aber gehören diese Begriffs- 
bestimmungen in die Philosophie der Geschichte, die, als Philo- 
sophie der Natur der Sache nach sich zu allererst mit den allge- 
meinen und notwendigen Prinzipien des geschichthchen Werdens 
abzufinden hat. Nur nachdem die allgemeinen Grundlagen der 
Philosophie der Geschichte uns gegeben sind, können wir zu 
deren spezielleren Aufgaben übergehen. 

Unsere Darstellung der allgemeinen Prinzipien der Philo- 
sophie der Geschichte wäre unvollständig, wenn wir ausser den 

') Karl Marx hat in seiner „Misere de la Philosophie* auf eine sehr 
interessante Erscheinung, der er seinem Standpunkte gemäss leider eine 
allzu grosse Allgemeinheit zuzuschreiben sucht, hingewiesen, nämlich, 
dass Aenderungen in der Produktion oder richtiger in der Produktions- 
weise neue, früher nicht gekannte Bedürfnisse hervorrufen müssten. 
Durch diese Bemerkung will er die subjektiven Faktoren der Geschichte 
— wenn nicht beseitigen — so doch ganz in den Hintergrund gerückt 
wissen. Unserer Ansicht nach begeht Marx — seinen Satz in dem von 
ihm gewollten allgemeinen Sinne auffassend — ein von einem so grossen 
Genie kaum erwarteten Irrtum, indem er die Form der Bedürfnisbefrie- 
digung mit dem Bedürfnisse selbst vermengt. Die Hauptbedürfnisse, wie 
auch manche secundäre Bedürfnisse — wie die des Schmuckes exi- 
stierten immer unabhängig von der Produktionsweise, die in der Marx- 
iflchen .materialistischen" Geschichtsauffassung die Rolle des leitenden 
Faktors in der Geschichte spielt. Gerade das von ihm angeführte Bei- 
spiel — Lyoner Seide — beweist dies am klarsten. 



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— 37 — 

erwähnten zwei Hauptquellen der geschichtlichen Gesetzmässig- 
keit — Natur und Geist — nicht eine dritte, die wir als das 
^geschichtliche Milieu*^ bezeichnen können, in Betracht gezogen 
hätten. 

Diesen rein geschichtlichen Faktor, durch den die Geschichte 
gewissermassen zur Urheberin ihrer selbst wird, hat in systema- 
tischer und bestimmter Weise Hegel in die Philosophie der Ge- 
schichte eingeführt. Er übt dadurch auf dieselbe, wie wir später 
sehen werden, noch bis auf unsere Tage einen mächtigen Ein- 
fluss aus. Mit der Objektivierung des Geschichtlichen, die seiner 
universellen geschichtlichen Auffassung eigen ist, nach welcher 
der gesamte Weltprozess in eine Geschichte des Absoluten und 
eo ipso die Weltphilosophie in Geschichtsphilosophie sich ver- 
wandelt, hat Hegel seine Aufmerksamkeit auf das geschichtlich 
Gewordene, als auf ein selbständig weiter wirkendes Moment der 
Entwicklimg gelenkt. Die objektiv betrachteten einzelnen Haupt- 
momente der geschichtlichen Entwicklung . sind bei ihm ebenso 
viele Ausgangspunkte neuer Entwicklungsformen, die sich 
nach einem bestimmten, von ihm aufgestellten Gesetze voll- 
ziehen. 

Dadurch wird er zum Begründer der Theorie des geschicht- 
lichen Milieus. Dass das geschichtliche Milieu nicht unabhängig 
von den oben aufgestellten geschichtlichen Hauptfaktoren ge- 
dacht werden kann, leuchtet von selbst ein. Wenn wir die 
Geschichte als solche nicht zu einer metaphysischen Substanz, 
zu einem selbständigen Subjekt hypostasieren wollen, wie es in 
einem gewissen Sinne Hegel selbst gethan hat, so bleibt uns nichts 
übrig, als die geistige und physische Natur — im allgemeinsten 
Sinne des Wortes — als Urquell des geschichtlichen Werdens. 
Der Mensch — individuell oder kollektiv — erscheint als das 
einzig mögliche Agens der Geschichte, dem die äussere Natur 
als Objekt und Mittel, als locus standi und Werkzeug seiner 
geschichtlichen Thätigkeit, passiv dient. Die innerhalb der Ge- 
schichte entstandenen Neubildungen, Institutionen (Familie, Staat, 
Gesellschaft, Eigentum) sind aus unzähligen Einzelwirkungen 
individueller und kollektiver menschlicher Thätigkeit entstandene 
kristallisierte Komplexe. Unter vielen andern bezeichnen daher 



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— 38 — 

Vico und nach ihm Marx^) (Kapital, Bd. I) den Menschen mit 
Recht als den Schöpfer seiner Geschichte. 

Es hat sich aber erfahrungsgemäss in der Entwicklung der 
Philosophie der Geschichte als höchst wichtig erwiesen, den spe- 
zifisch geschichtlichen Faktor — das geschichtliche Milieu — im In- 
teresse des Verständnisses des konkreten Inhaltes der Geschichte 
in seiner Wirkungsweise selbständig zu betrachten. Für diese 
Selbständigkeit der Betrachtung scheinen zwei kaum zu be- 
seitigende Gründe zu sprechen: 

1. Die Natur des in der Geschichte sich bethätigenden 
menschlichen Geistes kann am besten nach seinen Wirkungen 
erkannt werden. Die geschichtlichen, zu einer bestimmten Vol- 
lendung gelangten Lebensformen sind also die geeignetsten 
Quellen zur Erkenntnis des einzigen aktiven Hauptfaktors der 
Geschichte. 

2. Es ist eine der wichtigsten, wie merkwürdigsten Erschei- 
nungen des Geschichtslebens, dass der Einzelne wie die Gesamt- 
heit von dem geschichtlich Gewordenen, wie von einer NatUr- 
macht sich abhängig fühlen, und es auch wirklich sind. Der 
Mensch ist nicht nur Herr und Schöpfer, er ist auch Sklave und 
Produkt seiner eigenen Geschichte. Vor den gegebenen geschicht- 
lichen Verhältnissen beugen sich ohnmächtig die kräftigsten 
Individualitäten wie die grössten Völker. Die geschichtlich über- 
lieferten Vorstellungen und Denkformen, Gebräuche und Sitten^ 
Regierungen, Gesellschafts- und Wirtschaftsorganismen wirken 
und dauern oft noch dann fort, wenn sie schon lange ihrer Berech- 
tigung in den Bedürfnissen, Bestrebungen und Ansichten der 
Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder, verlustig gegangen sind. 
Gewiss liegt in letzter Instanz die Macht dieser geschichtlich 
überlieferten Lebensformen in den Interessen und Sympathien der 
sie vertretenden und mit geschichtlich erworbenen Machtmitteln 
um ihre Existenz kämpfenden einzelnen Individuen oder Gesell- 
schaftsklassen. Die Macht der geschichtlichen Lebensformen 
wird also wieder in derjenigen der Menschen aufgelöst. Es ist 
aber andererseits dagegen einzuwenden, dass die geschichtliche 
Traditimi ein wichtiges Element dieser Macht ausmacht und 

') Marx allerdings mit der Beschränkung : unter objektiv gegebenen, 
hauptsächlich ökonomischen Verhältnissen, die bisweilen den „Herrn* der 
Geschichte zu ihrem „Sklaven* umwandeln sollen. 



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— 39 — 

den Uebergang von einer geschichtlichen Lebensform zu einer 
anderen so ungemein erschwert, dass gesellschaftliche Kata- 
strophen, Revolutionen, gesellschaftliche Krisen und Erschütte- 
rungen als Uebergangsmomente mit Naturnotwendigkeit über die 
Gesellschaft hereinbrechen. 

Insofern also wir diese Objektivirung des „ historischen '^ 
Paktors nur als ein Uebergangsmomeht, als Spezifikation einer 
allgemeinen geschichtsphilosophischen Annahme, als Hilfsmittel 
der Untersuchung betrachten und es mit vollem Bewusstsein 
anwenden, hat dieselbe ihre volle Berechtigung. 

Wie steht es aber mit unserer Frage der geschichtlichen 
Gesetzmässigkeit vom Standpunkte der Theorie des historischen 
Milieus? 

Indem diese Theorie eine Reihe von geschichtlichen 
Thatsachen, die in einem notwendigen kausalen Zusammenhang 
stehen, zur Erklärung des geschichtlichen Gesamtprozesses hin- 
zuzieht, schafft sie eo ipso eine neue Instanz der Regelmässigkeit 
und Notwendigkeit. Sie stellt der Geschichtswissenschaft die neue 
Aufgabe, das jeweilige notwendige Verhältnis der einzelnen 
geschichtlichen Erscheinungen und Erscheinungsreihen z\\ den 
massgebenden historisch überlieferten Lebensformen, festzustellen 
und zu erklären, auf deren Grundlage die zu erklärenden Er- 
scheinungen sich abspielen. 

Die Lösung dieser Aufgabe dürfte zur Aufstellung neuer 
geschichtlicher Gesetze führen. Das Verhältnis verschiedener 
geschichtlicher Lebensformen zu einander (wie z. B. geschichtlich 
bestimmter politischer Einrichtungen zu bestimmten Wirtschafts- 
formen oder grosser geschichtlicher Religionen zu entsprechenden 
philosophischen Systemen), die Gesetze ihrer Entwicklung, ihres 
Gedeihens und Verfalls, beziehungsweise ihres Ueberganges von 
bestimmten geschichtlichen Verhältnissen in andere, der Zeit und 
ihren Bestrebungen mehr entsprechende Formen, dies alles er- 
öffnet eine unendlich weite Aussicht für die Philosophie der 
Geschichte, die bei der Lösung dieser komplizierten Aufgabe der 
Hilfe aller Wissenschaften bedarf. Die allgemeinen Prinzipien und 
Gesetze der Entstehung und Entwicklung bestimmter Nationali- 
täten, des Staates, bestimmter Gesellschafts- und Wirtschafts- 
organisationen zu finden, wird somit zur Hauptaufgabe der Phi- 



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— 40 — 

losophie der Geschichte, deren Lösung ebensosehr von theoreti- 
schem Werte, wie von praktischer Bedeutung ist. 

Eine besondere Stelle nimmt in der Frage über den spezi- 
fischen Charakter des Historischen eine Gruppe russischer Denker 
und Schriftsteller ein, die sich in den wissenschaftlich gebil- 
deten Kreisen Russlands eines bedeutenden Einflusses erfreuen 
und in der Litteratur den Namen „russische sociologische Schule" 
führt. Zu dieser Gruppe gehören in erster Reihe Pet«r LawrofF, 
Nikolai Michailowsky und Karejeff. Leider blieb wegen Unkennt- 
nis der wissenschaftlichen russischen Litteratur diese Strömung 
in Westeuropa bis in die letzte Zeit unbekannt. Der Begründer 
und bedeutendste Repräsentant dieser Richtung ist Peter Lawroff, 
ein Mann von universeller und zugleich gründlicher Gelehrsamkeit 
und grossem philosophischen Tiefsinn.O 

Das wissenschaftliche Verdienst der russischen sociologischen 
Schule besteht in der Hervorhebung und Analyse der subjektiven 
Elemente in der Sociologie und der Geschichte, der Betonimg der 
geschichtüchen Bedeutung aktiver, fortgeschrittener Persönlich- 
keiten, die in ihrer Gesamtheit als besondere Kulturklasse — 
„IntelUgenz" genannt — eine führende Rolle in der Geschichte 
behaupten sollen. 

Nikolai Michailowsky hat im Gegensatze zu Herbert 
Spencer^ dessen Theorie des Fortschrittes und des Gesellschafts- 
organismus er einer geistreichen und mehrfach zutreffenden Kritik 
unterzieht, die subjektiven, für das menschliche Wohl wichtigen 
Elemente der geschichtlichen Evolution hervorgehoben. Nicht 
die vollkommenste Differenzierung der menschlichen Thätigkeit, 
die den Menschen zu einem Bruchstücke, zu einem Teile eines 
Teiles eines quasi objektiven gesellschaftlichen Organismus her- 
abwürdigt und verstümmelt, dürfe als Hauptmerkmal des Fort- 



*) Von P. LawrofiPs Ijeben und seiner Lehre nehmen hauptsäohlioh 
folgende Schriften Notiz; wir nennen nm- die in westeuropäischen Spra- 
chen verfassten: Eine vorzügliche Skizze von E. Rubanowitsoh: „Les 
ld6es philosophiques de Mr. Lawroff." — ,La Grande Enoyolop^die*, 
Paris, 1895, t. 21, p. 1069 (Art. von Charnay). — Revue Philosophique. 
1888, p. 517 ff. — Angelo de Gubernatis, Dizionario biografico degli Scrit- 
tori oontemporanei, p. 619, Florenz, 1879 (enthält ungenaue Angaben). 
Neue Zeit, 1893. — Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 
redigiert von R. Falkenberg. 1894, Bd. 104, p. 88 ff. — Siehe auch „Jus- 
tice«. Paris, Nr. 6,743, 1895. 



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— 41 — 

Schrittes bezeichnet werden, sondern die harmonische Ausbildung 
des Individuums, die harmonische Entwicklung aller seiner Kräfte. 
Diese Entwicklung aber folgt nicht mit fatalistischer Notwendig- 
keit aus dem objektiven Gange der Geschichte. Sie ergiebt sich 
nur als Produkt bewusster Thätigkeit menschlicher Persönlich- 
keiten, die das jeweilig gegebene historische Milieu nach ihrem 
subjektiven Massstabe, nach ihren Bestrebungen und Idealen 
beurteilen und demgemäss handeln. 

Er versucht daher die Bedeutung und Macht der aktiven 
Persönlichkeit wissenschaftlich zu begründen. In seinen brillant 
geschriebenen Essays „Die Heroen und die Menge" sucht er die 
Bedeutung der aktiven Persönlichkeit auf eine psychologisch- 
pathologische Basis zu bauen unter Zuhilfenahme der neuesten 
Ergebnisse der Psychologie und Psychiatrie. 

Nach dieser Geschichtsauffassung wird der Mensch wirküch 
als Schöpfer seiner eigenen Geschichte, wenn auch unter be- 
ständigem Drucke und unter Benützung objektiver Verhältnisse 
betrachtet. So sagt Professor Karejeff in seinem geschichts- 
philosophischen Hauptwerke : „Osnovnyie Voprosy filosofii istorii" 
(Grundfragen der Philosophie der Geschichte), Bd. U, S. 250: 
^ Alles, was in der Geschichte überhaupt existiert, existiert für, 
durch und in dem menschüchen Individuum. Alle Arten socialen 
Lebens sind nichts als verschiedene Systeme menschlicher Be- 
ziehungen. Alle Erscheinungen des geistigen Lebens sind nichts 
weiter als verschiedene Zustände menschlicher Persönlichkeiten ; 
jede gesellschaftUche Institution wird in letzter Instanz von 
menschüchen Individuen geschaffen, bewahrt und umgestaltet 

und übt bestimmte Wirkungen auf ihren Charakter aus 

Als Subjekt, das die ganze Kultur schafft, wie als Objekt ihrer 
Einwirkungen, ist das Individuum dasjenige reale Wesen, durch 
welches, in welchem und für welches der Staat, die ökonomische 
Organisation, das gesellschaftliche Leben, das Recht, die Philo- 
sophie, die Moral, die Religion, die Wissenschaft, die Litteratur, 
Kirnst existieren — es ist auch dasjenige Centrum, durch welches, 
in welchem und für welches sie alle sich mit einander verbinden. 
Das Individuum ist das einzige reale Wesen, mit dem sich die 
Oeschichtswissenschaft befasst: an imd für sich giebt es weder 
Nationen, noch Staaten, noch andere ähnliche Institutionen, weder 
Recht noch Religion, weder Philosophie noch Moral, weder 



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— 42 — 

Wissenschaft noch Kunst, noch Civilisation ; dieselben sind weder 
im Stande zu denken noch zu fühlen, weder zu wollen noch 
einen Entschluss zu fassen, noch die in ihrem Bereiche sich 
abspielenden Aenderungen gewahr zu werden — das fühlende, 
denkende, wollende Individuum allein entscheidet sich zum 
Handeln, handelt und unterliegt den Wirkungen seines Han* 
dehis." 

Objektive Gesetze in der Geschichte, die durch Eingreifen 
der individuell-menschlichen Thätigkeit nicht modifiziert werden 
könnten, zu finden, ist nach dieser Auffassung eine Sache der 
Unmöglichkeit. 

Professor Karejeff geht noch weiter und bestreitet die^ 
Möglichkeit, geschichtliche Gesetze zu entdecken. Die Geschichte^ 
wie ihre Philosophie gehören nach Professor Karejeff zu den von 
ihm genannten „phänomenologischen Wissenschaften", die sich 
[ nur mit den individuellen, nie sich wiederholenden Erscheinungen 
befassen. Das Gesetzraässige in der Geschichte fällt der Sociologie 
imd Psychologie, den „nomologischen" Wissenschaften zu. 

Prof. Karejeff teilt die schon von uns aufgeführte Ansicht 
Schopenhauers^ dass die Geschichte wohl ein Wissen, aber keine 
Wissenschaft darstelle. Die geschichtlichen Thatsachen wieder- 
holen sich flicht^ und daher giebt es keine geschichtlichen Ge- 
setze. ^) 

Prof. Karejeff will aber nicht leugnen, dass es konstante 
Elemente in der Geschichte giebt. Er will sie aber vom ge- 
schichtHchen Prozess als solchen abgesondert und der Sociologie 
wie der Psychologie einverleibt wissen. 

Schon bei der Kritik der Ansichten Schopenhauers und 
Schellings haben wir gesehen, wie unhaltbar diese künstliche 
Zergliederung der geschichtlichen Erscheinungen sei. Jede ge- 
schichtliche Erscheinung ist ein Ganzes, aus konstanten und 
variablen Elementen bestehendes^ 'und als solches will sie auf- 
gefasst werden. Als Ganzes wirkt sie auf unser Schicksal, als 
Ganzes bedingt sie die ihr folgenden Erscheinungen. Gewiss 
kann jede Wissenschaft und unter allen Wissenschaften die 
Psychologie und die Sociologie mit besonderem Rechte die kon- 
stanten Elemente zu ihren speziellen Zwecken vom geschicht- 

») Ib , Cap. Ii; S. 17 ff. 



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— 43 — 

liehen Prozesse ablösen und als solche betrachten. Eni solches 
Verhältnis kann auch zwischen anderen Wissenschaften platz- 
greifen, kann aber die Philosophie der Geschichte nicht hindern, 
ihr wissenschaftliches Objekt selbständig zu behandeln. 

Dazu übersieht Professor Karejeff, dass es ausser den Ge- 
setzen der Coexistenz und Succession, die er bei der absoluten* 
Individualität, durch welche sich das Geschichtliche nach ihm 
unterscheidet, konsequenterweise nicht anerkennen kann, auch 
Entwicklungsgesetze giebt, die schon allein einen hinreichenden 
Stoff lind ein wissenschaftlich gerechtfertigtes Objekt der Philo- 
sophie der Geschichte als Wissenschaft bilden können. Dieser 
Irrtum ist umso unerklärlicher bei Prof. KarejeflF, als er selbst 
auf dem Boden des Entwicklungsprinzips steht und die Idee des 
Portschrittes als die Seele der Philosophie der Geschichte be- 
zeichnet. 1) 

Bedeutend gründlicher und tiefer fasst die Frage über die 
Gesetzmässigkeit in der Geschichte der Begründer der russischen 
sociologischen Schule, der schon genannte Peter LawrofiF. 

Von ihm stammt die Hervorhebung des notwendig subjek- 
tiven Elementes in der Geschichte, die wir bei Nicolai Michai- 
lowsky kurz zu charakterisieren schon die Gelegenheit hatten; 
bei ihm treffen wir auch die Betonung der geschichthchen Be- 
deutung des Individuums. 

Peter Lawroff hat aber eine weitere und solidere Grundlage 
für seine geschichtsphilosophischen Ansichten. 

Mit den mathematischen, wie mit den andern exakten 
Wissenschaften ebenso gründlich vertraut, wie mit den histo- 
rischen und philosophischen, hat er in seinem noch nicht zu 
Ende gebrachten encyklopädischen Werke: Essai d'une histoire 
de la pensöe dans les temps modernes ^) (Pröparation de l'homme 
— La pöriode anthropologique), die Grundlagen seines Systems 
dargelegt. In dieser Hinsicht sind auch von Bedeutung seine zahl- 
reichen anderen Schriften, von denen die „Historischen Briefe" 
allgemein als die gelungensten und populärsten betrachtet werden. 



*) Ib., Buch IL — Prof. Karejeff darf neben Flint und Rougemont \ 
als der gründlichste Kenner der geschichtsphilosophischen Litteratur be- ' 
trachtet werden. 

') Erscheint russisch in Genf. 



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— 44 — 

Auch P. Lawroff unterscheidet die konstanten Elemente 
von den variablen des geschichtlichen Prozesses. Er betrachtet 
aber die konstanten Elemente als diejenigen der „Kultur". Zur 
Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes gehört nach P. La- 
wroff nur das bewusst sich vollziehende, das nach bestimmten 
Ideen oder Idealen sich gestaltende und verändernde, das auf 
Grund der ^Kritik^ und Negierung des Ueberlieferten und 
Ueberlebten mit Hülfe des Gedankens sich aufbauende. 

In dem oben genanten Werke sagt er wörtlich : 

„Für jede geschichtliche Epoche bilden alle Ueberbleibsel 
der Vergangenheit, welche überleben, nicht weil sie nützlich sind, 
sondern weil sie in den früheren Perioden der Gesellschaft 
existierten, einen unterschiedslosen Komplex der historischen 
Hinterlassenschaft. 

Dies kann ein nützliches Element des Lebens nur dann 
werden, wenn seine Bestandteile einer strengen Kritik, entsprechend 
den Forderungen der neuen Epoche, unterzogen werden. Was 
die Probe dieser Kritik nicht bestehen kann, kann als Gegensatz 
zu der bewussten Thätigkeit, die sich im bewussten Streben nach 
bessern Zuständen äussert, betrachtet werden. Erst durch diese 
kritische Unterscheidung erhalten wir einerseits das Ueberlieferte, 
das noch nicht kritisch durchgearbeitet worden ist: das sociale 
Milieu, die gewohnheitsmässige Kultur^ oder kürzer die Kultur; 
andererseits erhalten wir das Ergebnis der Ueberwindung des 
Milieus durch den Menschen, die er im Namen seiner Entwick- 
lungsbestrebungen vollzieht, das Ergebnis der Arbeit des Ge- 
dankens als des Vorbereiters neuer historischer Perioden, das Er- 
gebnis des geschichtlichen Lebens. Die Wechselwirkung der Ge- 
schichte und der Kultur bildet den ganzen Inhalt geschichtlicher 
Civilisationen. 

In diesem Sinne ist das geschichtliche Leben ein Prozess 
bewusster Entwicklung, die in einer Gesellschaft unter bestimmten 
Kulturformen platzgreift." 

„Nur diejenigen," führt Lawroff weiter aus, „sind als Träger 
des geschichtlichen Lebens zu betrachten, die der überlieferten 
Kultur sich nicht blindlings anpassen, sondern sie denkend und 
kritisierend in Verfolgung eines Ideals entwickeln" — mag dieses 
Ideal nun ein progressives oder reaktionäres sein. Somit erhalten 
wir die „Intelligenz", die Lawroff als „eine Gesamtheit von in 



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— 45 — 

der Gesellschaft lebenden Individuen, die des ^geschichtlichen 
Lebens" teilhaftig sind," definiert. Diese Intelligenz steht an der 
Spitze der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Nur diejenige 
Gresellschaft hat nach Lawroff eine Geschichte, welche eine In- 
telligenz besitzt und dazu eine Gesellschaftsform, die dieser 
Intelligenz die Möglichkeit der Einwirkung auf das gesellschaft- 
liche Leben gewährt. In den „Historischen Briefen'' bezeichnet 
LawroflF den geschichtlichen Prozess als „Ueberwindung (genauer 
Ueberarbeitung) der Kultur durch den Gedanken" und sucht die 
praktischen Bedingungen der Möglichkeit desselben festzustellen. 

Die „geschichtliche Bedeutung des Individuums", dieser 
allgemeine Zug der „russischen sociologischen Schule" findet 
also in Lawroff ihren Begründer, einen systematischen und 
gründlichen Verteidiger. 

Diese Betonung der geschichtlichen Rolle des Individuums 
in Russland lässt sich leicht aus dessen geschichtlichen und 
politischen Verhältnissen erklären. Der in Russland herrschende 
Absolutismus konzentriert in einer einzigen Person eine unge- 
heure politische und historische Macht, vor der nicht nur die 
mehr als hundert Millionen zählende Bevölkerung Russlands, 
sondern sogar die fortgeschrittensten Völker Westeuropas sich 
beugen. Die geschichtliche Macht des Individuums ist also in 
einem politischen System, das das gesamte Volksleben beherrscht 
und auf dasselbe tief einwirkt, verkörpert und steht als leben-- 
diges Beispiel jederzeit vor jedermanns Augen. Anderseits 
setzen die bei der Entwicklung jedes Landes unentbehrlichen 
Freiheitsströmungen ihre ganze Hoffnung in die selbständige 
Entwicklung des Individuums, in seine Widerstandskraft, in 
seine individuelle Initiative, um eine neue Ordnung der Dinge 
herbeizuführen. So wird die Theorie der geschichtlichen Bedeu- 
tung des Individuums von dem herrschenden politischen System, 
wie von seinen entschiedensten Gegnern begünstigt. 

Schon Montesquieu nähert sich diesem Gedanken, indem 
er in seinen „Lettres Persanes" auf die Unsicherheit der öffent- 
lichen Ordnung in einer absoluten Monarchie hinweist, da die 
grösste Gewalt im Staate und mit ihr die ganze auf ihr beruhende 
Staatsordnung von jedem einzelnen Individuum, das sie mit Erfolg 
in der Person des Monarchen angreift, leicht kompromittiert werden 
kann. In einer absoluten Monarchie, für welche der blinde und 



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— 46 — 

ausnahmslose Gehorsam Aller eine Existenzbedmgung ist, erscheint 
der einzelne rebellische Wille als eine bedeutende Macht und als 
ein erschreckendes Beispiel. Daher die besondere Schonungs- 
losigkeit in der Unterdrückungjedes auch entfernten Versuches 
zur Rebellion in Monarchieen. 

Mögen die letzten Ursachen einer solchen Bedeutung des 
Individuums eine weit breitere sociale und geschichtliche Basis 
haben, und die Macht des einzelnen nur als eine Folge allge- 
meiner Verhältnisse hervortreten lassen — die Bedeutung, die 
der einzelne im Strome der Geschichte erlangt hat, bleibt fest 
stehen und desto fester, je mehr diese Bedeutung durch Zurück- 
führung derselben auf allgemein geschichtliche Verhältnisse mit 
grösserer Sicherheit als eine geschichtUche Notwendigkeit, und 
nicht nur als ein vorübergehender Zufall, sich erweist. So be- 
festigt und begründet die BedetUufig des Individuums jene 
Theorie^ welche durch ihre Zurückführung auf sociale und 
geschichtliche Ursachen sie zu erschüttern glaubt. 

Kehren wir zu Lawroif zurück. Die subjektive Richtung in 
der Sociologie, wie übrigens in jeder anderen Wissenschaft, scheint 
mit dem Prinzip der Gesetzmässigkeit schwer in Einklang gebracht 
werden zu können. Wir haben dies bei Karejeff gesehen, der 
die Geschichte zu einer Beschreibung (wenn auch möglicherweise 
pragmatischen) einzelner sich nicht wiederholender Thatsachen 
herabwürdigt. 

Peter Lawroff teilt diesen Irrtum nicht. Im Einklang mit 
seiner ganzen Geschichtsauffassung findet er neue Beweise, die 
die Möglichkeit der Gesetze in der Geschichte befestigen. So sagt 
er in seinem oben genannten Werke: „Die Formen des Zusam- 
menlebens, die bei vielen Tierarten zu treflen sind, scheinen dem 
oberflächlichen Beobachter ebenso unveränderlich, als der biolo- 
gische Bau dieser Tiere. Die moderne Naturwissenschaft aber, 
die alle Organe und Punktionen des Tierkörpers als Produkte 
der Evolution betrachtet, muss die Formen des socialen Lebens 
auch als solche Produkte ansehen. .... Wir sind also wissen- 
schaftlich berechtigt, für jedes Kulturgeschöpf die Frage über 
die Evolution der ihr angemessenen Gesellschaftsformen aufzu- 
werfen, wenn auch bei dem gegenwärtigen Zustande imserer 
Kenntnisse eine Lösung dieser Frage für die Mehrzahl der Tier- 
arten sehr schwierig oder sogar unmöglich ist. Es kann aber 



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~ 47 — 

keineswegs die Schwierigkeit der Entdeckung eines Entwicklungs- 
gesetzes uns hindern, das Vorhandensein dieses uns unbekannten 
Oesetzes als notwendig, und die Aufgabe, es zu entdecken, als 
wissenschaftlich zu betrachten." 

Je weiter die menschliche Gesellschaft sich entwickelt, je 
bedeutender der bewusst sich vollziehende Teil der Geschichte 
ist, desto näher liegt die Möglichkeit, geschichtliche Gesetze auf- 
zustellen. 

So sagt Lawroff weiter : „Das Vorhandensein des bewussten 
Entwicklungstriebes in einer bestimmten Anzahl von mensch- 
lichen Individuen verleiht der Aufgabe, die Gesetze der gesell- 
schaftlichen Evolution zu entdecken, einen bestimmten Charakter. 
Während das Milieu, in dem die gesellschaftliche Evolution statt- 
findet und die auf sie einwirkenden äussern Kräfte im höchsten 
Grade verschiedenartig sind, wirkt das wichtigste Element des 
historischen Lebens^ der Gedanke, der die Kultur infolge des 
Entwicklungstriebes umgestaltet, nach den mehr bestinmiten und 
besser bekannten Gesetzen der Psychologie und der Logik. Das 
historische Leben (im oben bezeichneten Sinne Lawroffs) ver- 
schiedenster Nationen kann daher mehr Aehnlichkeiten aufweisen, 
äIs das unhistorische. Die verschiedenen Phasen des ersteren 
folgen mit mehr Regelmässigkeit aufeinander, als diejenigen des 
letzteren. Und je höher die Entwicklimgsstufe der gesellschaft- 
lichen Evolution, desto weniger Abweichungen von dieser Regel- 
mässigkeit. Die Verbindung aller geschichtlichen Erscheinungen 
des Völkerlebens, besonders ihrer höheren Formen, lässt sich mit 
mehr Sicherheit in einem stetigen Prozesse der Entwicklung der 
Menschheit verwirkUchen, als die Unterwerfung der mannig- 
faltigen Produkte der Kultur, der Gewohnheiten, Sitten, Tradi- 
tionen und Gesellschaftsformen unter eine allgemeine Regel. Die 
Aufgabe, ein Gesetz aufzustellen, das die Reihenfolge geschicht- 
licher Phasen im Leben der Menschheit bestimmt, geht aus der 
Auffassung der Geschichte, als eines Prozesses der Entwicklung 
von Kulturformen durch die Wirkung der Gedankenarbeit, von 
selbst hervor. Ein derartiges Gesetz ist genau ebenso wissen- 
schaftlich, wie das von der Embryologie aufgestellte Gesetz der 
Entwicklung des Embryos, wie das der organischen Entwicklung 
von einer Monere bis zu einer Eiche und zum Menschen, oder 
wie die Gesetze der geologischen Formationen. ..." 



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— 48 — 

Nachdem Lawroff bemerkte, dass verschiedenen Völkern 
und Epochen verschiedene geschichtliche Gesetze entsprechen 
können, und dass aus diesen verschiedenen Gesetzen der wissen- 
schaftliche Forscher ein allgemeines Gesetz der geschichtUchen 
Entwicklung gewinnen könne, kommt er zu folgendem Schlüsse : 
„Sind diese Gesetze nur Trugbilder, so kann die Geschichte über- 
haupt nicht begriflfen werden und existiert als Wissenschaft ein- 
fach nicht. In der Wirklichkeit giebt es aber Geschichtsgesetze. 
Die Aufstellung derselben ist eine Aufgabe der Wissenschaft und 
erst wenn das geschehen ist, kann die Geschichte wissenschaft- 
lich begriffen werden." 

Kaum ist es möglich die Gesetzmässigkeit in der Geschichte 
und somit die Möglichkeit der Philosophie der Geschichte im 
allgemeinen treffender zu begründen, als es in seinem Werke 
P. Lawroff thut. 

Es bleibt ihm nur das wichtige Problem des Verhältnisses 
zwischen „Kultur" und „Geschichte", zwischen den unbewussten 
und bewussten Elementen der Greschichte nach den verschie- 
densten Beziehungen zu lösen. ^) Gelingt ihm dies, so erhalten wir 
ein grossartiges System der Philosophie der Geschichte auf 
Grundlage spezieller Forschungen aller hiezu gehörenden Wissen- 
schaften, ein System, das zur Zeit die westeuropäische Wissen- 
schaft noch nicht besitzt. 

*) Durch seine wissenschaftlichen Vorstudien, wie durch seine phi- 
losophische Denkart ist P. LawrofT, der ziigleich ein tiefsinniger Philosoph 
wie einer der gelehrtesten Männer Europas (vgl. „Neue Zeit", 1892 3, II. Bd. 
S. 325) ist, der geeignetste Mann für die Lösung dieser Aufgabe. Es bleibt 
nur zu wünschen, dass dem greisen Denker, den das zarische Russland ins 
Exil getrieben hat, auch die physische Möglichkeit geboten sei, diese ge- 
sohichtsphilosophische Aufgabe einer, wenn nicht endgültigen — die Ge- 
schichtsphilosophie kennt keine endgültigen Lösungen — so doch den 
wissenschaftlichen Forderungen unserer Zeit entsprechenden Lösung ent- 
gegenzubringen. 



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— 49 — 

in. Die Bedeutung des ludividuums in der Geschichte. 

Die Stelle des Individuums in der Geschichte bildet das 
Hauptproblem der „russischen sociologischen Schule." Dieses 
Problem kann mit einem gewissen Rechte eine dominierende 
Stellung in der Philosophie der Geschichte beanspruchen. Bei 
der Behandlung der allgemeinsten Prinzipien der Philosophie der 
Geschichte ist am Platze, diesem Problem näher zu treten. Drei 
Lösungen desselben sind möglich: 

Erstens. Das Individuum ist ein relativ selbständiges, haupt- 
sächliches Agens in der menschlichen Geschichte. Es ist der 
Ausgangspunkt, Ziel und Hebel des geschichtlichen Prozesses. 
Die Geschichte existiert für, in und durch dasselbe. Dies ist im 
wesentlichen — mit einigen Beschränkungen und Abweichungen 
nebensächlicher Natur — die Lösung, welche die oben charak- 
terisierte Richtung, die in der russischen geschichtsphilosophischen 
Litteratur sich geltend gemacht hat, gibt.^) Das natürUche wie das 
socialökonomische Milieu ist der locus ständig das Produkt oder 
Mittel, das Werkzeug oder Genussobjekt des sich bethätigenden und 
geschichtliche Werte schaffenden Individuums. Die objektiven 
Kräfte, die das Indivicjuum umgeben, müssen gewiss in Betracht 
gezogen werden und können nie straflos von dem Individuum 
ignoriert werden. Sie müssen aber nur in Bezug auf das Wohl 
und Wehe des Individuimis betrachtet werden. Das [Individuum 
unterordnet mit Notwendigkeit die Beurteilung und Betrachtung 
der Geschichte seinen eigenen Absichten, Zwecken und Idealen. 

Die zweite Lösung des Problems gehört ihrem Geiste nach 
zu der Entgegengesetzten objektiven Richtung in der Geschichts- 
philosophie, die in der neueren Zeit hauptsächlich von Hegel 
stammt, und die in unseren Tagen eine nicht nur theoretische 
Bedeutung erlangt, sondern auch im populären Marxismus einen 
praktischen Ausdruck gefunden hat. Wohl sagt Marx selbst mit 



*) Die russiBobe sooiologischo Schule ist nicht in allen ihren Ver- 
tretern durchaus homogen. So bekämpft, z. B., Michailowsky, ein äusserst 
geistreicher und glänzender Publizist und Kritiker, den Marxismus in 
Russland, während LawroflTs Stellung zu demselben uns unklar erscheint. 
So weichen auch LawrofiTs Ansichten über die Bedeutung des Indivi- 
duums von der oben skizzierten Auffassimg ab und nähern sich mehr 
der weiter unten zu entwickelnden dritten Anschauung. 

Ch. Rappoport, Die Hauptriohtungen der Philosophie. 4 



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— 50 - 

Vico, dass die Geschichte sich dadurch von der Natur unter- 
scheide, dass sie vom Menschen selbst gemacht werde. Im „18. 
Brumaire" ergänzt er diese seine Ansicht durch folgende Worte: 
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte aber sie machen 
sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern 
unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen imd überUeferten 
Umständen." (2. Aufl. 1869, pag. 1.) 

Es scheint aber, dass dieser schöne Gedanke von Karl Marx 
von den meisten seiner Nachfolger übersehen oder ignoriert 
worden ist. In der marxistischen Litteratur wird das Verhältnis 
des Individuums zum objektiven, bezw. ökonomischen Faktor, 
den sie als Hauptfaktor in der Geschichte betrachtet, derartig 
behandelt, dass man beim besten WUlen, wissenschaftlich objektiv 
zu sein, schliessen muss, die „Marxisten" betrachteten das Indi- 
viduum nur als den Geschäftsführer des ökonomischen Paktors; als 
ob für sie im geschichtlichen Bewegungsprozess die ökonomischen 
Verhältnisse alles seien, das Individuum nichts sei. Durch den 
möglichen Einwand, dass die Beschaff'enheit und die Wirkung des 
Individuums in der Geschichtsphilosophie, als eine selbstverständ- 
liche Voraussetzung der MögUchkeit aller Geschichte überhaupt, 
keiner näheren wissenschaftUchen Analyse bedürfe, wird die 
Verkennimg der Stellung des Individuums in der Geschichte 
gerade am klarsten blossgelegt. Es giebt für die Wissenschaft 
nichts selbstverständliches. Die Wissenschaft ist gerade dazu da, 
um das, was dem gemeinen Verstände als selbstverständlich er- 
scheint, als eine Quelle von Problemen und wissenschaftlichen 
Schwierigkeiten, als ein inhaltsreiches Untersuchungsobjekt dar- 
zustellen. Und das menschliche Individuum, welches als das kompli- 
zierteste System von Kräften bezeichnet werden kann, ist nichts 
weniger als einfach und selbstvertändlich. Seine Wirkungsweise 
in der Geschichte ist auch nicht als etwas ein für allemal Ge- 
gebenes zu betrachten, insofern dieselbe von seinen natürlichen 
Anlagen bestimmt wird. Das Individuum ist kein System kon- 
stanter^ sondern mannigfaltig und stetig sich entwickelnder Kräfte. 
Die genaue Untersuchung des Verhältnisses des Individuums zum 
ökonomischen Faktor selbst, diesem Dens ex machina der meisten 
Marxisten im buchstäblichen Sinne des Wortes, könnte viel 



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— 51 — 

Ueberraschendes, das mit der Theorie des absoluten Unterge- 
ordnetseins des Individuums unter die ökonomischen Verhältnisse 
keineswegs vereinbar ist, auch für dennüberzeugteste Marxisten zu 
Tage fördern. Er könnte zur Einsicht kommen, dass sich in vielen 
Fällen leicht ein Satz aufstellen liesse, etwa in folgender Form, die, 
wenn auch nicht, genau wissenschaftlich ist, doch nichtsdestoweniger 
der Wahrheit nicht allzufern steht. Verschedenei Zonen — ver- 
schiedene Rassen. Verschiedene Rassen — verschiedene Individuen. 
Verschiedene Individuen — verschiedene ökonomische Verhält- 
nisse. Stellt doch Marx, auf ökonomischem Gebiete unbestreitbar 
eine Autorität ersten Ranges, selbst fest, dass der Kapitalismus 
nicht in den tropischen, sondern nur in den gemässigten Zonen 
sich zur vollen Blüte entwickeln konnte. (Kapital, Bd. I.) 

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Geschichts- 
philosophie von Marx und Engels zu kritisieren. Vielmehr sei 
hier betont, dass die Marxistische Geschichtsphilosophie trotz 
ihrer Einseitigkeit für die Philosophie der Geschichte im grossen 
und ganzen mehr befruchtend und anregend wirken wird, als 
die gesamten zahlreichen ideologischen geschichtsphilosophischen 
Systeme, die aus allgemeinen und abstrakten Prinzipien eine 
Philosophie der Geschichte konstruieren wollen.^) Uebrigens sind 
diese letzteren Geschichtsphilosophen vorsichtig genug, sich vorher 
eine eigene, mit der wirkUchen sich kaum berührende Geschichte, 
ad majorem gloriam ihres eigenen Systems, zurecht zu machen. 
Wenn die Kritik gegen dieselben einerseits nicht streng genug 
sein kann, weil sie den Boden der Philosophie der Geschichte 
im höchten Grade unsicher gemacht haben und einen berechtigten 
Zweifel aufkommen Hessen, ob überhaupt eine Philosophie der 
Geschichte mögUch sei, so muss andererseits dieselbe Kritik ob- 
jektiv genug sein, um die gesunde Einseitigkeit des Marxismus 



*) AU objektive Würdigung des Marxismus von einem Niohtmarx- 
isten ißt ein Aufsatz von Professor Sombart zu betrachten. Er sagt da 
u. a.: 9... das Eigentümliche der marxistischen WeltaufTassung, dass sie 
die deutsche Form, wie sie der Hegelianismus bot, mit dem warmen, 
wirklichen Inhalt westeuropäischen Lebens füllte, dass ihre Schöpfer 
westeuropäisches Leben als deutsche Philosophen anschauten. In dieser 
Synthese von deutschem und westeuropäischem Leben liegt das eigent- 
liche Geheimnis des Marxismus.** (»Zukimft", Berlin, Oktober 1895.) 



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- 52 - 

als eine notwendige Reaktion gegen die abstrakt-idealistische 
Strömung zu betrachten.^) 

Die dritte mögliche Lösung des Problems der geschicht- 
lichen Bedeutung des Individuums ist eine Kombination oder 
Versöhnung der subjektiven und objektivan Standpunkte. Das 
Individuum kann zugleich als geschichtliches Agens wie als ge- 
schichtliches Produkt aufgefasst werden. — Wenn das Individuum 
einerseits seine Geschichte selbst macht, so ist es andererseits 
unzweifelhaft, dass es von den geschichtlich überlieferten Ver- 
hältnissen abhängt. Thomas Buckle in seiner „History of Civili- 
sation" behauptet mit Recht, dass die mächtigsten Individualitäten, 
mögen sie sie sich in ihrem eigenen Bewusstsein für absolut frei 
imd unabhängig halten, von der geschichtlichrn Unjgebung aufs 
Entschiedenste abhängen. Diese notwendigerweise vermittelnde 
Problemslösung betrachtet also das Individuum als aktives Sub- 
jekt und zugleich als passives Objekt, als Herrn und Sklaven 
seiner eigenen Geschichte in einer Person vereinigt. 

Diese Lösung in ihrer allgemeinen Form scheint der wissen- 
schattlichen Wahrheit am nächsten zu stehen. Sie leidet aber an 
zwei bedeutenden Mängeln. Erstens ist sie zu allgemein und kann 
darum für die konkreten Fälle und für die Mannigfaltigkeit des 
geschichtlichen Prozesses nur von methodologischer, wenn auch 



') Folgendes Beispiel dürfte zur Rechtfertigung unserei: Behaup- 
tung genügen. In seiner neuesten Schrift „Professional Institutions^ 
(VII. Judge and Lawyer) führt Herbert Spencer ^ der unbestritten bedeu- 
tendste der lebenden Vertreter der wissenschaftlichen Sociologie, das 
juristische Gesetz — und folglich das gesamte positive Recht — auf zwei 
Faktoren zurück: 1. auf die Macht der Gewohnheit („ . . . hardered form 
of custom — Law*'), 2. auf die göttliche Sanktion („the ideal of Law and 
of divine will were equivalents'^). Für dem mit geschieht sphilosophischen 
Fragen Vertrauten liegt ausser Zweifel, dass diese Erklärung, mag sie 
auch richtig sein, nur die umoeaentlichen Merkmale dieser socialen Er- 
scheinung hervorhebt. Eine Handlung bzw. Ansicht kann nur dann zu 
einer Gewohnheit „verhärtet** werden oder die göttliche Sanktion erhalten^ 
wenn gewisse reale individuelle und sociale Verhältnisse diese schon 
später hinzukommenden Merkmale zu einer individuellen und socialen 
Notwendigkeit machen. Für einen Anhänger der marxistischen Gre- 
Schichtsauffassung ist daher mit .Recht die Erforschung der realen Motive 
einer geschichtlichen Erscheinung die erste Aufgabe. Seine Erklärungen 
werden nur dann problematisch, wenn er alle realen Motive in letzter 
Instanz auf ein einziges, auf das ökonomische zurückführt. 



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- 53 - 

bei den häufigen einseitigen Verirrungen in der Philosophie der 
Geschichte von nicht zu niedrig anzuschlagender Nützlichkeit 
sein. Zweitens lässt diese Formel die wichtige Frage über die 
Wirkungsweise des Individuums offen. Sie muss, damit sie für 
die Philosophie der Geschichte ihre volle Bedeutung erlange, 
durch folgende nur auf die hauptsächlichen Momente der Wirkungs- 
sphäre des Individuums sich beziehende Sätze ergänzt werden: 

i. Das Individuum tritt im geschichtlichen Prozesse als 
aktiver^ und in seinen bedeutendsten geschichtlichen Funktionen 
als bevmsst aktiver Faktor auf y während das natürliche 
wie das socialgeschichliche Milieu passiver Natur ist. Um aktiv 
auf die geschichtliche Bewegung einzuwu-ken, muss das Objektive 
vom Individuum umgestaltet werden; es muss den Stempel des 
lebenden und aktiv wirkenden Individuums erhalten, um auf 
das geschichtliche Leben einzuwirken. 

2. Als Folge dieses Verhältnisses zwischen Individuum und 
Milieu ergiebt sich ein wichtiges unterscheidendes Merkmal der 
Wirkungsweise des objektiven Geschichtsfaktors in seinem Ver- 
hältnisse zimi subjektiven. Das objektive Milieu dient dem han- 
delnden Individuum und somit auch der geschichtlichen Bewegung 
und Weiterentwicklung als Material, Objekt, vielfach aber als 
Hemmnis und mächtiger Widerstand. Daher keine Beherrschung 
der Natur ohne den Kampf mit unzähligen Schwierigkeiten, kein 
geschichtlicher Fortschritt ohne socialen Kampf, keine individuelle 
Entwicklung ohne Kampf mit sich selbst, ohne Selbstbeherrschung 
und Selbstüberwindung. In diesem Sinne hat die russische socio- 
logische Schule vollkommen Recht, indem sie das Individuum 
zum Hauptagens des geschichtlichen Prozesses macht. Es wäre 
noch richtiger zu sagen : als bewusster und aktiver Geschichts- 
faktor ist das Individuum der einzig mögliche in der Geschichte. 
Die Individualität, die individuelle Initiative, die individuelle 
Macht erhöhen heisst daher im Sinne und zu Gunsten des ge- 
schichtlichen Fortschrittes, der geschichtlichen handeln ; dieselben 
schwächen ist ein Moment geschichtlicher Reaktion, des ge- 
schichtlichen Stillstandes, mit andern Worten, es ist der geschicht- 
liche Tod. Jede neue gesellschaftliche Ordnung enthält mehr 
geschichtlichen Wert nur insofern sie die Individualität aller ^ die 
Bewegungskraft der gesamten Gesellschaft relativ selbständiger 
Individuen fördert. 



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~ 64 ~ 

3. Die Gesamtheit der individuellen Wirkungen, die ge- 
schichtlichen Resultate individueller Thätigkeiten müssen jedem 
Einzelnen gegenüber als eine ausser ihm stehende, als objektive 
fremde Macht erscheinen. TTnd so scheint jeder Komplex indivi- 
dueller Thätigkeiten auf jedes einzelne Individuum als eine Na- 
turnotwendigkeit zu wirken, während er, in seine einfachsten 
Bestandteile zerlegt, nur eine Summe individueller Kräfte, Hand- 
lungen, Sitten undGredanken darstellt. So entsteht die sogenannte 
historische Notwendigkeit, die viele mit der Naturnotwendigkeit 
verwechseln, weil sie praktisch für das einzelne Individuum 
ebenso zwingend ist, wie eine Naturnotwendigkeit. Das einzelne 
Individuum scheint gegenüber der Gesellschaft von verschwin- 
dend geringer Kraft zu sein, und als solches fühlt es sich isoliert 
ganz ohnmächtig und ist geneigt, das von individueller Hand- 
lungsweise Abhängige auf eine Art geschichtlichen Patums auf 
„den objektiven Gang der Geschichte", auf den „mächtigen Geist 
der Zeit", auf die „geschichtliche Notwendigkeit" zurückzuführen. 
Diese geschichtliche „Objektivität" erscheint also nun als ein 
notwendiges Produkt des subjektiven Bewusstseins eines einzelnen 
Individuums, das seine eigene Ohnmacht, die Ohnmacht des 
socialen Atoms, für die Ohnmacht des Individuums überhaupt 
hält. Püt eine Philosophie der Geschichte entsteht somit die Auf- 
gabe, das scheinbar Objektive in seine subjektiven Bestandteile 
zu zerlegen, die Kompliziertheit geschichtlicher Gewebe in ihre 
feinsten und einfachsten, kaum sichtbaren Päden aufzulösen. Nur, 
nachdem diese schwierigste Analyse des Geschichtlichen voll- 
zogen ist, kann die Philosophie der Geschichte das wirklich 
Objektive des geschichtlichen Prozesses feststellen.^) 

') Die Objektivierung des Subjektiven hängt dazu mit einer ge- 
wissen psychologischen Eigenschaft des Menschen — wir möchten fast 
psychologischem Gesetze sagen — zusammen. Jede vollendete That, jede 
Handlung, die das Stadium des subjektiven Willens, Reflexion, Empfin- 
dung schon hinter sich hat, kann und wird als etwas uns Fremdes, von 
uns Unabhängiges, an sich, mit einem Worte als Objekt betrachtet werden. 
Die individuelle Handlung wird zur Thatsache und kann als solche durch 
ihre objektiven Merkmale bezeichnet und beschrieben werden. Nach der 
Vollendung hängt die Handlung nicht mehr vom Menschen ab, sondern 
umgekehrt, der Mensch hängt dann von seiner Handlung ab. Der sub- 
jektive Ursprung wird durch das objektive Resultat verdrängt. Dazu ist 
in der Geschichte diese psychologische Täuschung viel bedeutender und 
erklärlicher, weil der Urspnmg der geschichtlichen Resultate allzu wenig 
ersfchtlioh und zu kompliziert ist. 



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— 55 - 

4. Das Individuum kann nur dann eine aktive Bedeutung 
in der Geschichte beanspruchen^ wenn es in derselben Richtung 
handelt j in welcher die meisten individuelleii und socialen Kräfte 
sich bethätigenj oder mit der Zeit sich bethätigen müssen. Handelt 
es in entgegengesetzter Richtung, so ist seine Bedeutung ver- 
schwindend gering und bleibt daher ohne Belang für die 
Geschichte, wenn es sich isohert bethätigt, oder es erhebt sich 
zu einer vorübergehenden reaktionären Macht, wenn es in Ver- 
einigung eines beträchtUchen Teiles mitinteressierter und gleich- 
gesinnter Individuen auftritt. 

Dieses Gesetz, vielleicht das wichtigste von denen, die die 
geschichtliche Bedeutung des Individuums beherrschen, hat auch 
die grösste praktische Bedeutung. Daraus folgt auch die grosse 
Wichtigkeit der Philosophie der Geschichte, ja ihre absolute 
Notwendigkeit für unser praktisches Leben. Und dies zwar für 
jeden, der nicht geneigt ist, ein Spielball der Verhältnisse, ein 
blindes Werkzeug fremder Willkür und fremden Ehrgeizes zu 
werden. Denn aus diesem Gesetz ergiebt sich die praktische 
Notwendigkeit einer philosophischen Auffassung der geschicht- 
lichen Kräfte, ihres gemeinsamen Verhältnisses, wie ihrer allge- 
meinen Richtung. Nur nach Erfüllung dieser Bedingung, nur 
nachdem das Individuum mit dem geschichtlichen Prozess und 
seiner Tendenz im grossen und ganzen einigerpaassen vertraut 
ißt, kann es die wichtige Entscheidung über seine politische 
Richtung und die Berechtigung, bezw. Nichtberechtigung seiner, 
meist nicht von ihm selbst erwählten, socialen Stellung, mit Be- 
wusstsein fallen. Nur auf solche Weise kann das Individuum den 
beiden grössten Gefahren, die jeder individuellen Thätigkeit 
drohen, der Sterilität (wenn die Thätigkeit bedeutungslos für die 
Geschichte ist), und der Schädlichkeit (wenn sie reaktionär 
die geschichtliche Bewegung hemmt) glücklich entgehen. 
Aus diesem Gesetz folgt aber nicht die absolute Unterwerfung 
des Einzelnen unter die erdrückende Macht des oder der geschicht- 
lich Stärkeren, wenn ihm das bessere Gewissen und Wissen diese 
Unterwerfung verbieten. Nicht das geschichtliche Gesetz, sondern 
das moralische Postulat, das Bewusstsein des Rechtes und des Un- 
rechtes, des Richtigen und des Unrichtigen, das für uns subjektiv 
zwingend ist, müssen die endgültige Sanktion imseres Handelns 
geben. Wenn der Einzelne überzeugt ist, dass eine bestimmte 



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- 56 - 

geschichtliche Strömung, wenn auch von unbesiegbarer Macht, 
seinem bessern Wissen und Gewissen entgegengesetzt ist, so hat 
er das Rechte wenn er den Willen hat^ grundsätzlich und mit 
Bewusstsein dieser Strömung, wiewohl ohne Erfolg, entgegenzu- 
arbeiten. 

Cato und Brutus kämpfen für ihr Preiheitsideal, auch wenn 
sie ihre heilige Sache momentan oder auf immer für verloren 
halten. Aber auch in diesem Falle ist es wichtig für den Ein- 
zelnen, zu wissen, woran er mit seinem individuellen Eingreifen 
in den geschichtlichen Prozess ist. Und eine der Aufgaben der 
Philosophie der Geschiebe besteht eben darin, zu entscheiden, 
ob die Tendenz des geschichtlichen Prozesses, aus welchen Ele- 
menten er auch bestehen mag, mit dem entwickelten individuellen 
Bewusstsein, mit den moralischen wie praktischen Postulaten 
des Individuums, übereinstimmt oder nicht. Die Entscheidung über 
diese Frage bestinmit zugleich die speziellere Richtung der Phi- 
losophie der Geschichte. Je nachdem die Antwort auf diese 
Frage ausfällt, kann eine Philosophie der Geschichte pessimistisch, 
im Falle der Unmöglichkeit der Versöhnung der geschichtlichen 
Tendenz mit den individuellen Forderungen, oder optimistisch 
im entgegengesetzten Falle, oder skeptisch im Falle derUnent- 
schiedenheit, sich gestalten. Dieser geschichtliche Pessimismus, 
Optimismus oder Skepticismus kann ein endgilltiger sein, wenn 
er auf den ganzen geschichtlichen Prozess sich bezieht, oder ein 
partieller, wenn er sich nur auf eine bestimmte geschichtüche 
Bewegung oder Epoche beschränkt. 

6. Mit der Kulturentwicklung tvächst die Macht des In- 
tellekts und die geschichtliche Bedeutung des Individuums, 
dessen Träger es ist. Je weiter die Menschheit sich entwickelt, 
desto grösser ist die Herrschaft der Vernunft über die vernunft- 
lose Natur. Der Gebrauch der blossen Naturprodukte, die keiner 
künstlichen und bewussten Arbeit unterliegen, nimmt in dem- 
selben Masse^ ab, in dem das bewusste Eingreifen des Indivi- 
duums sich entfaltet und verbreitet. Durch neue Erfindungen 
besiegt es den Raum, das Entfernteste imd Verborgenste tritt 
in den Wirkungskreis des Individuums. Durch bewundernswerte 
Kombinationen mechanischer und chemischer Kräfte erhöht es 
die Produktivkraft seiner Arbeit ins UnendUche, gewinnt dadurch 
Müsse und Zeit, die Hauptbedingungen weiterer Entwicklung. 



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— 57 — 

Aus einem Sklaven der Natur, in der er nur eine geheimnisvolle 
imd unbesiegbare, ihn mit Schauer und Ehrfurcht erfüllende 
Macht erblickte, wird der Mensch durch seine entwickelte Ver- 
nunft zu deren Herr und Gebieter. Die Natur, die seine Einbil- 
dung vorher mit Dämonen und Ungeheuern bevölkerte, ist ihm 
jetzt nicht mehr eine Quelle imzähliger unbesiegbarer Gefahren 
und Leiden, sondern er sieht in ihr jetzt nur noch eine segens- 
reiche Macht, die er durch seine Ueberlegenheit bezwungen und 
•sich dienstbar gemacht hat. Auf keinem Gebiete ist die unauf- 
hörlich wachsende Macht der sich im Individuum entwickelnden 
Vernunft so sichtbar, wie auf dem der ökonomischen Thätigkeit. 
Wenn wir die ersten Werkzeuge des Urmenschen wie alle seine 
sonstigen Mittel, die ihm im Kampfe ums Dasein zu Gebote 
standen, mit unseren vom Dampfe und von der Elektrizität be- 
wegten Maschinen vergleichen, so haben wir damit nur ein 
einziges Beispiel des Triumphzuges der Vernunft durch die 
menschliche Geschichte. Kein Gebiet ist geeigneter j die Bedeu- 
tung des subjektiven Faktors^ d, h. des menschlichen Indivi- 
duums mit grösserer Sicherheit in konkreter Form darztdhun^ 
als das ökonomische. Und es muss als eine unbegreifliche Ver- 
irrung des menschlichen Verstandes betrachtet werden, wenn in 
der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung gerade 
das ökonomische Gebiet benützt wurde, um die geschichtliche 
Bedeutung der bewussten menschlichen Thätigkeit tief herabzu- 
drücken. Wäre der Mensch, wie Benjamin Franklin meinte, 
wirklich nur ein „toolmaking animal", so hätte er auch dann 
noch als ein glänzender Beweis der ungeheuer grossen Entwick- 
lungskraft, die in der Vernunft enthalten ist, angeführt werden 
können. 

6. Die geschichtliche Macht des Individuums ist eine 
Resultante von unzähligen Einzelurirkungen ^ die in jedern 
Momente des geschichtlichen Daseins sich geltend machen. 
Mit diesem Satz wird der verführerische Einwand gegen die 
geschichtliche Bedeutung des Individuums beseitigt, der aus der 
Bedeutungslosigkeit jedes einzelnen Momentes individueller 
Thätigkeit wie jedes einzelnen Individuums, auf die Unerheblich- 
keit der geschichtlichen Bedeutung des Individuiuns überhaupt, 
schliessen lassen könnte. Mag der einzelne in jedem einzelnen 
Momente auch höphst unbedeutend und machtlos scheinen, die 



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- 58 - 

Zusammensetzung einer unzähligen Menge von individuellen 
Krafteffekten muss nach den elementarsten Gesetzen der Zu- 
sammensetzung einer unendlich grossen Zahl verschiedener kleiner 
Kräfte einen bedeutenden Maohtfaktor abgeben. 

Passen wir die Ergebnisse unserer Beleuchtung des spezi- 
fischen Charakters der historischen Gesetzmässigkeit und der 
geschichtlichen Bedeutung des Individuums, wie die mit ihnen 
zu verbindenden Schlussfolgerungen kurz zusammen, so erhalten 
wir die folgenden Thesen: 

1. Die Entscheidung über die geschichtliche Gesetzmässig- 
keit kann auch unabhängig vom Preiheitsproblem gefällt werden. 
Aus wissenschaftlich-praktischen Gründen ist diese Unabhängig- 
keit auch wünschbar. 

2. Die Gesetzmässigkeit des Historischen ist sowohl durch 
seine konstanten, der Betrachtung der Naturwissenschaften 
unterliegenden Bestandteile, durch den Charakter der Zweck- 
mässigkeit des praktischen Handelns, als auch durch das be- 
stimmte Verhältnis zwischen Zweck und Mittel gegeben. Daraus 
folgt, dass die geschichtliche Gesetzmässigkeit keine metaphy- 
sische, absolute Notwendigkeit in sich einschliesst, sondern eine 
solche, die wir mit Leibnitz eine „moralische Notwendigkeit*' 
nennen können. Da wir nur empirisch feststellen können, dass 
gewisse individuelle und gesellschaftliche Zwecke dem mensch- 
lichen Handeln notwendig zukommen, so kann auch diese Not- 
wendigkeit eine empirische genannt werden. Innerhalb dieser 
Grenzen aber können die geschichtlichen Gesetze eine allgemeine 
und notwendige Gültigkeit erhalten. 

3. Mit der Kompliziertheit des Historischen ist notwendig 
die grösste Schwierigkeit der Peststellung einzelner wie allge- 
meiner geschichtlicher Gesetze verbunden. 

Mit dieser Schwierigkeit ist auch auf dem Gebiete der 
Philosophie der Geschichte wie der Philosophie überhaupt die 
Möghchkeit dreier Richtungen gegeben: der dogmatischen^ die 
die Gesetze der Geschichte feststellt, ohne ihre Möglichkeits- 
bedingungen zu untersuchen, der kritischen^ die eine Kritik der 
Möglichkeitsbedingungen der geschichtsphilosophischen Gesetze 
vor dem Versuch der PeststeUung derselben postuUert, und 
endlich der skeptischen^ die an der Möglichkeit solcher Gesetze 
mehr oder weniger zweifelt. Die Schwierigkeit der Lösung eines 



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- 59 - 

wissensohaftlichen Problems genügt aber nicht, dessen Unlös- 
barkeit zu beweisen. 

4. Eis giebt drei Hauptquellen der geschichtlichen Gesetz- 
mässigkeit: die zwei ursprünglichen, die äussere Natur und der 
menschliche Geist, und das historische Milieu, als das gemeinsame 
Produkt der Wechselwirkung beider, das aber im Laufe der Ent- 
wicklung eine selbstständige Form mit einer ihm eigentümlichen 
Wirkimgsweise annimmt. Die Haupteinteilung aller geschicht- 
lichen Paktoren ist durch ihre subjektive imd objektive Natur 
gegeben. Die Bedeutung des subjektiven- Faktors ist von der 
russischen sociologischen Schule, deren Begründer Peter Lawroff 
ist, besonders hervorgehoben und wissenschaftlich untersucht 
worden. Die Analyse des subjektiven Faktors führt uns zu der 
wichtigen Frage über die geschichtliche Bedeutung des Indivi- 
duums. 

5. Das individuelle Eingreifen in den geschichtlichen Pro- 
zess zerstört nicht dessen Gesetzmässigkeit. Vielmehr unterliegt 
der individuelle Einfluss bestimmten Gesetzen, von denen wir 
die wichtigsten aufzustellen und zu begründen versuchten. 



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- 60 - 



IV. Die Hauptepochen der Entwicklung der Philosophie 

der Geschichte. 



Wir haben als solche die providentielle, die metaphysische 
und die positiv-wissenschaftliche bezeichnet. Die geschichtliche 
und kritische Auseinandersetzung dieser drei Richtungen wird 
uns einige wichtige Ergebnisse für die allgemeinen Prinzipien 
der* Philosophie der Geschichte liefern. Das klassische Altertum 
hatte keine Philosophie der Geschichte als selbständiges wissen- 
schaftliches Gebiet. „Neither of them (Plato und Aristoteles) had 
any conception of a science or philosophy of history. No thinker 
of the Greco-Roman classical world had ; not one regarded history 
as the subject of a science as of a distinct department of philo- 
45ophy ; not one had a properly scientific or philosophical interest 
in history« (Plints Ph. of Hist., t. II, p. 136). In der umfang- 
reichen geschichtsphilosophischen Litteratur herrscht darüber nur 
«ine Meinung. 

Der eigentliche Charakter, der Grundgedanke der platoni- 
schen Philosophie ist am wenigsten geeignet, das Geschichtliche 
als Objekt der Philosophie zu betrachten. Für den platonischen 
Idealismus ist das Wesentliche — und nur das Wesentliche kann 
nach ihm Objekt der Wissenschaft sein — nicht im Veränder- 
lichen, also nicht in der Geschichte, sondern in der ewigen un- 
veränderlichen Idee enthalten. R. Mayr bezeichnet daher mit 
Recht den platonischen Idealismus als „im Grunde eine geschieh ts- 
feindliche Doktrin." Wenn in der Welt der Dinge nur die Idee 
das Ziel des wissenschaftlichen Strebens darstellen kann, so hat 
im gesellschaftlichen Leben nur das Ideal einen Wert, i) Nur 
der Idealstaat, das Abbild der Staatsidee ist der wissenschaftlichen 
Darstellung wert, und nur mit ihm befasst sich Plato. ^) Dass 



*) In meiner Schrift: „Die sociale Frage und die Ethik*, Bern 1895, 
S. 14 15, habe ich versucht, die unerwartete Beibehaltung der Sklaverei 
im Idealstaat auf Grund der antiken ethischen Auffassung zu erklären. 

') So der neueste Geschichtsschreiber des antiken Kommunismus 
Hob. Pö'hlmann: „Der platonische Idealstaat erhebt zugleich den An- 
spruch der Rechtsstaat xar" i^ox^jy, die höchste Verkörperung der Ge- 
rechtigkeit zu sein.*' Geschichte des antiken Eommimismus und Socia- 
lismus, pag. 270, München 1893. 



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- 61 - 

eine solche Anschauung einer philosophischen Betrachtung des 
Geschichtlichen, mit andern Worten, einer wissenschaftlichen 
Würdigung jedes geschichtlichen Moments, als integrierenden 
Teiles eines Ganzen, im höchsten Grade ungünstig ist und sein 
rauss, leuchtet von selbst ein. War bei Aristoteles das geschicht- 
liche Element bedeutend mehr wie bei Plato vertreten und hat 
es sich sogar als wissenschaftliche Hilfsmethode in der Darstellung 
geschichtlich überlieferter Meinimgen über zu behandelnde Pro- 
bleme geltend gemacht (vgl. Metaph. I, Kap. 5 ff.), so stimmte 
doch der „Riesendenker des Altertums*^ (K. Marx) mit Plata 
darin überein^ dass nur das allgemeine, das Ewige, die zur Voll- 
«Jdung geliemgte Form Gegenstand der Wissenschaft sein dürfen^ 
nicht ab'er das Werdende, die zur Vollendung strebende Mög- 
lichk;eit. Für ihn wie für Plato konnte daher die Geschichte nicht 
Giegeustand der Philosophie sein. Der Mangel einer Philosophie 
^er Geschichte bei Plato und Aristoteles war also durch den 
Charakter ihrer philosophischen Systeme selbst gegeben. 

Und vielleicht war für das klassische Altertum eine solche 
auch entbehrUch. 

Für den denkenden Griechen fiel das Schicksal der Mensch- 
heit mit dem des Kosmos zusammen. Die Menschen mussten nach 
Heraklit und einigen andern griechischen Denkern wie die Welt 
selbst Opfer der periodischen Weltverbrennung werden. Die 
Geschichtsphilosophie wurde bei den Griechen zur Weltphilosophie 
und daher durch dieselbe ersetzbar. 

Das Zurücktreten des geschichtsphilosophischen Denkens 
bei den Alten war auch aus andern Gründen durchaus notwendig. 
Es fehlte ihnen an den beiden notwendigen Voraussetzungen 
jeder Philosophie der Geschichte, an der Idee der Menschheit' 
wieder des kontinuierlichen Fortschrittes. Die nationale oder viel- 
mehr lokale Beschränktheit der alten Völker, die bis auf wenige 
Ausnahmen (Cyniker und Stoiker), allgemein war, musste mit 
Notwendigkeit einer grossartigen wissenschaftlichen Betrachtung 
der Schicksale der Völker ungünstig sein. 

Sogar für den Römer (vorchristlicher Epoche), den das 
Schicksal der Menschheit im grossen und ganzen doch wenigstens 
als das seines Eroberungsobjekts interessieren solltp, war seine 
„Stadt *^ (Rom) gleichbedeutend mit der ganzen Welt (urbi 
et orbi). 



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~ 62 - 

Erst der urchristliche KosmopoHtismus schuf den Boden 
für eine allgemeine Philosophie der Geschichte, indem er die 
Idee der Menschheit in den Geistern wachrief. 

Die zweite Voraussetzung jeder Geschichtsphilosophie, die 
Idee des Fortschrittes als einer allgemein notwendigen, geschicht- 
lichen Thatsache wird, wenigstens in der Form, in der sie als 
Basis für ein geschichtsphilosophisches System gebraucht werden 
kann, als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Errungen- 
schaften erst der netten Zeit allgemein betrachtet. Der zurück- 
gelegte geschichtliche Weg, der der antik«tp Geschichte als 
bekannt galt, war zu kurz, als dass die Idee deNS^ontinuität der 
Entwicklung in einer bestimmten Richtung innerhalb der Men- 
schengeschichte zur allgemeinen Geltung hätte gebra(OTt<werden 
können. 

Bei einer solchen Sachlage müssen die Tiefe imd Origir 
tat der einzelnen geschichtsphilosophischen Betrachtungen, dii 
von antiken Denkern aufgestellt worden sind, um so mehr Be- 
wunderung erregen. Hier kommen in erster Linie Plato und 
Aristoteles in Betracht. Die Betrachtungen Piatos über die Not- 
wendigkeit der Arbeitsteilung und besonders die von Aristoteles 
aufgestellten Gesetze der Entwicklung der politischen Formen^) 
haben nicht nur einen selbständigen Wert, weil sie viel treffliches 
und wahres enthalten, sondern hatten auch einen grossen Ein- 
fluss auf die spätem Geschichtsphilosophen bis in unsere Zeit. 
Es lässt sich also das charakteristische des geschichtsphilosophi- 
schen Denkens im klassischen Altertum unserer Ansicht nach 
folgendermassen bezeichnen: Die geschichtsphilosophische Be- 
trachtung der Alten war entweder zu allgemein und fiel mit 
: der kosmologischen zusammen^ oder zu speziell und bezog sich 
\ auf einzelne geschichtliche Erscheinungen^ während ihr der 
geschichtliche Prozess als ganzes verschlossen blieb und bleiben 
musste. 



*) Siehe „Politik", Buch VIII, Kap. I, wo als auf die Ursache der 
inneren Revolutionen auf eine Art »Klassenkampf" zurüchgeführt wird. 
(„Und deshalb erheben die Bürger Aufruhr, weil sie nicht so an der Re- 
gierung Teil haben, wie sie das Gleiche auffassen.") Es ist daher weder 
historisoh, noch gerecht, die „Erfindung" des Antagonismus der Klassen 
auf Conto des modernen Socialismus zu setzen. 



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- 63 - 

Erst mit der christlichen Aera sind die allgemeinsten Vor- 
aussetzungen einer einheitlichen Philosophie der Geschichte 
gegeben: Die Idee einer einheitlichen Menschheit und eines 
einheitlichen geschichtlichen Prozesses, dessen Centrum das 
Christentum bildete. 

Max Müller giebt zu, dass erst mit dem Christentum eine 
Philosophie der Geschichte möglich wurde. Denn ein Wort tritt 
jetzt hervor, welches „nimmer die Lippen des Sokrates, noch 
des Plato, noch des Aristoteles überschritten hat, die Menschheit.** 

Das christliche Mittelalter ist die Blütezeit der providentiellen 
oder theologischen Geschichtsauffassung. Die Geschichtsphilosophie 
des Mittelalters blieb ihrem religiösen Ursprung treu und wurde 
von demselben Geiste* getragen, der das gesamte Zeitalter kenn- 
zeichnete. Es war vor allem das Zeitalter der Theologie auf dem 
Gebiete der Geistesthätigkeit, das Zeitalter, das Guizot mit den 
folgenden Worten treffend charakterisiert: „Der theologische Geist 
ist das Blut in den Adern der europäischen Welt bis auf Baco 
imd Descartes." 

Schon das Hauptdogma des Christentums schliesst gewisser- 
massen ein ganzes geschichtsphilosophisches System in sich. Die 
menschgewordene Gottheit, die Erlösung der sündigen Mensch- 
heit durch den Sohn Gottes ist schon eine, auf einer religiösen 
Grundlage aufgebaute Entwicklungsgeschichte,^) die das Schicksal 
der Menschheit beherrscht. Und diese dogmatischen Kiemente 
durften natürlich in keiner theologisch-christlichen Philosophie 
der Geschichte fehlen. Dass die providentielle Geschichtsphilo- 
sophie zu einer willkürlichen, unwissenschaftlichen Konstruktion 
der Geschichte ihre Zuflught nehmen musste, um nicht mit den 
christlichen Glaubensdogmen in Widerspruch zu geraten, versteht 
sich von selbst. Ihre aprioristische Methode ist ihr durch ihren 
Ausgangspunkt und Grundcharakter schon sozusagen a priori 
vorgezeichnet. Sie wurde daher von den neuesten Schriftstellern 
sehr streng beurteilt: So sagt Vacherot (Essais 1864, pag. 412): 
^Quant k cette prötendue philosophie de l'histoire dont la theo- 



^) Wenn wir die theologisch -dogmatische Geschichtsauffassung 
„Entwicklungsgeschichte" nennen, so fassen wir den Begriff der Ent- 
wicklung nicht im modernen Sinne des Wortes, sondern in seiner all- 
gemeinsten Bedeutung auf. 



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- 64 ~ 

logie chretienne aurait fourni la donnee premiere, que Saint 
Augstin, que Sahnen aurait esquissee, que Bossuet, en dernier 
lieu, aurait d^velopp(5e dans le discours sur l'histoire, on peut y 
trouver im certain plan, ime certaine unitö de vues, mais rien 
qui ait rapport ä une theorie quelconque du progrfes. C'est dieu 
qui seul mfene le genre huraaine, et qui le mene, oü il veut et 
comrae il veut, ä travers un sörie de chutes et par une succes- 
sion de coups d'Etat.*' Vacherot scheint hier die positiven Ver- 
dienste der theologischen' Richtung um die Philosophie der 
Geschichte, auf die wir oben hinwiesen, übersehen zu haben. 

Nicht minder streng betont Jauffroy in seiner „R(5flexion& 
sur la Philosophie de l'histoire" (pag. 63) diesen Mangel an 
Wissenschaf thchkeit : „Ce qui öclate dans, Bossuet, c'est le m^- 
pris de Thistoire. Les faits plient comme Therbe sous leurs pieds, 
prennent sous' leurs mains toutes les fomies possibles et justifient 
avec une ögale coraplaisance les tht^ories les plus oppos^s." 

Indem die providentjelle Geschichtsauffassung die prinzipielle 
Forderung eines Planes in der Geschichte aufgestellt hat, hat 
sie dadurch auf das geschichtsphilosophische Denken mächtig 
eingewirkt. Nicht von geringerer geschichtücher Bedeutung für 
die Philosophie der Geschichte war die Idee des Fortschrittes^ 
' die von der providentiellen Geschichtsauffassung in dieselbe ein- 
geführt wurde, wenn auch in beschränkter dogmatischer und 
religiöser Form. 

Die providentielle Geschichtsauffassung hat zunächst den 
Fortschritt auf rehgiösem Gebiete nicht nur proklamiert, sondern 
scharf und vielfach zutreffend nachgewiesen. Die Kirchenväter 
haben mit Scharfsinn und aufrichtiger Ueberzeugung die heid- 
nischen Religionen, den Anthropomorphismus der Alten, schonungs- 
los blossgelegt. Der heilige Augustinus in seinem berühmten 
geschichtsphilosophischen Hauptwerke widmet den grossem Teil 
desselben seinen dogmatisch-religiösen Auseinandersetzungen, die 
die Vorzüge des Christentums vor andern religiösen Traditionen 
kennzeichnen sollen. Gewiss ist es übertrieben, wenn Gratry das 
Evangelium als den Codex des Fortschrittes bezeichnet („La 
morale et la loi de Thistoire" 1868). Noch unrichtiger aber ist 
die Verkennung des Verdienstes der providentiellen Geschichts- 
auffassung um die Idee des Fortschrittes, welcher Verkennung 
sich einige schuldig machen. 



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■vpr •» 



— 65 — 

Bei der relativen Leichtigkeit, mit der eine bedeutende Idee 
die zufällige geschichtliche Hülle, mit der sie ursprünglich auf- 
getreten ist, abwirft und eine ihr angemessene Form annimmt, 
ist es auch für die Idee des Portschrittes nichts Unnatürliches, 
wenn sie anfangs in einer etwas abenteuerlichen Form vor den 
menschlichen Geist tritt. 

Der bedeutendste theologische Geschichtsphilosoph nach 
dem heiligen Augustin ist Bossuet. Dass auch seine Geschichts- 
philosophie, etwa dreizehn Jahrhunderte später entstanden, den- 
selben unwissenschaftlichen Charakter trägt, und vielmehr eine 
Konstruktion, als eine philosophische Untersuchung der Geschichte 
istji) beweist, wie gering die Entwicklungsfähigkeit der reUgiös- 
dogmatischen GeschichtsauflFassung ist. 

Die Providenzialisten des XIX. Jahrhunderts sind daher so 
wenig für das Verständnis der geschichtlichen Bewegung vor- 
bereitet gewesen, dass sie ihre besten Kräfte der Reaktion 



*) Herr F, Brunetibre irrt, wenn er in seiner apologetischen Be- 
handlung Bosauets (siehe u. a. seinen Artikel in der Grande Encyclop. 
Bd. 7, pag. 476) meint, dass die Kritiker Bossuets denselben nur seines 
providentiellen Standpunktes wegen angreifen. Er vergisst dabei, dass 
ja bei aller mögliohen objektiven und geschichtlichen Betrachtung dieses 
Standpunktes doch weder der Providenz noch ihren Vertretern in Rom 
oder irgendwo das Recht zugestanden werden kann, den thatsächlichen 
Gang der Geschichte post factum zu alterieren oder zu ignorieren. 

Die modernen Providenzialisten und Theologen, durch die steigende 
Macht der wissenschaftlichen Methode in eine für sie schwierige Lage 
gesetzt, sind allzuoft geneigt, Accommodationen und Kompromisse ins 
Gebiet der Wissenschaft hineinzutragen und auch von derselben solclie 
zu verlangen. Derart handelnd bleiben sie dem Geiste ihrer Vergangenheit 
vollkommen treu. So tritt dieser Accommodationsgeist am grellsten zu 
Tage in folgendem von Bossuet gebilligten Artikel eines Versöhnungs- 
entwurfes zwischen Katholicismus und Protestantismus: 

,Art. XXV. Une partie de l'Eglise oatholique approuve la Con- 
ception immacul^e de la Sainte Vierge, et Tautre Timprouve. Toute 
TEglise protestante le rejette, 11 faut donc prier TEglise catholique 
d^entrer dans ce demier sentiment pour le hien de lapaix^ (wir citiercn 
nach F, Bruneti^re). 

Wäre die Wissenschaft von einer solchen Bereitwilligkeit, ihre 
Grundsätze den Verhältnissen zu opfern, beseelt, so würde allerdings die 
von Bruneti^re proklamierte ^Banqueroute de la science", einstweilen 
noch dessen pium desiderium, schon längst zur traurigen Wirklichkeit 
geworden sein. 

Ch. Rappoport, Die Hauptrichtungeu der Philosophie. 5 



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— 66 — 

widmeten und dem modernen Geiste einen unversöhnlichen Krieg 
erklärten. 

Die Providenzialisten des XIX. Jahrhunderts bekämpfen 
mit vollem Bewusstsein die französische Revolution, die Demo- 
kratie, die moderne Wissenschaft, die Philosophie seit Descartes. 
Sie betrachten sie als ein grosses historisches Unglück, als ein 
Ungeheuer, als einen verderblichen Irrtum. Da sie aber anderer- 
seits tiberzeugt sind (weil sie nicht einseitig genug für ihre Sache 
waren), dass dieser Gang der Geschichte notwendig sei, so 
ist ihre Kampfesweise eine im höchsten Grade erbitterte. Ihre 
Polemik ist scharf, ungerecht und übertrieben. Es ist ein Ver- 
zweiflungskampf, ohne Hoffnung je zu siegen, ein Kampf um des 
Kampfes willen. Joseph de Maistre wollte beweisen, dass der 
Mitbegründer der neuen Philosophie, Francis Bacorij nichts mehr 
als ein „wissenschaftlicher Charlatan" war, und machte sich zum 
Prinzip, dass „die Verachtimg Lackes der Anfang aller Wissen- 
schaft*' sein müsse. De Bonald sieht in der Geschichte der 
Philosophie nichts als eine Aufforderung zur Verwerfung aller 
philosophischen Systeme. Die Verachtung der neuen Philosophie 
seit Descartes, wie der Philosophie überhaupt („die Quelle alles 
Irrens, aller Unordnung" — ist die Philosophie, Bd. IV, p. 309) 
bildet den Inhalt der Schriften von Lammenais : „Essais sur 
rindifförence en matifere de la religion" (8. Aufl. 1859)^) und 
„Defense". Für Joseph de Maistre ist die französische Revolution 
„ein Werk des Satans", die Geschichte der letzten drei Jahr- 
hunderte „ eine ununterbrochene Verschwörung gegen die 
Wahrheit." 

Dass die französischen Providenzialisten in der Bekämpfung 
der neuzeitlichen Ideen gerade die rücksichtslosesten und heftigsten 
sind, ist durch die geschichtliche Entwicklung Frankreichs zu 
erklären. Frankreich ist das Vaterland des radikalsten Zweiflers, 
Renö Descartes, der den Zweifel, den Gegenpol und Todfeind 
des Glaubens, zu einem notwendigen, methodologischen Prinzip 
erhoben hat. Die Kirche hat ihn daher von Anfang an bekämpft, 
trotz seiner grossen Verdienste um den Gottesbeweis. Dasselbe 
Frankreich hat den englischen Materialismus und Sensualismus 



*) Vgl. I, 46-47 ff., 67, 70, 354, II, 20-21, 213 ff., III, 277-278, 
besonders B. IV. (, Defense de Tessai*.) 



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— 67 — 

aus einem verfeinerten Genuss aristokratischer Freidenker in ein 
Kampfmittel breiter Volksmassen verwandelt. Die schärfsten und 
geistreichsten Angriffe gegen die kirchliche Autorität haben 
sich, wie allgemein bekannt, von Frankreich aus über alle 
europäischen Staaten verbreitet. Frankreich war das Land, das 
der Kirche während der Revolution den grössten materiellen 
Schaden zugefügt und durch Konfiskation der kirchUchen Güter 
vielleicht eine tiefere und dauerndere Erbitterung hervorgerufen 
hat, als Voltaire durch seine schonungslose Verhöhnung des 
Pfaffentums und der kirchlichen Dogmen. Auch für diese ma- 
teriellen Verluste mussten die Anhänger der kirchlichen Autorität 
die gesamte philosophische Entwicklung der Zeit verantwortlich 
machen, gemäss ihrer Gewohnheit, alles in der Geschichte auf 
bloss geistige Ursachen zurückzuführen. Die Vertreter der reli- 
giösen Geschichtsauffassung der ersten Hälfte des XIX. Jahr- 
hunderts erklärten daher allen wissenschaftlichen und philoso- 
phischen Errungenschaften einen unversöhnHchen Krieg. Der 
nicht zu beseitigende prinzipielle Gegensatz zwischen dem bUnden 
kirchlichen Glauben an die Tradition imd anerkannte Autorität 
und dem grundsätzlich kritischen Geiste des profanen wissen- 
schaftlichen Denkens ist in diesem Kampfe zum schärfsten Aus- 
druck gekommen. 

Dieser Gegensatz zwischen dem starren Glauben und dem 
unaufhaltsam sich entwickelnden Wissen konnte im XIX. Jahr- 
hundert — besonders in Frankreich — auch klarer und rück- 
sichtsloser zum Ausdruck gelangen, da beiden Parteien durch 
Press- und Redefreiheit die unbeschränkte Möglichkeit gegeben 
war, für ihre Ueberzeugungen einzutreten. 

Die Macht, die Philosophie und Wissenschaft im XVIIL 
und XIX. Jahrhundert sich erkämpft haben, musste natürlich 
die Erbitterung der der Religion ergebenen Denker steigern. Sie 
konnten sich schwerlich mit der geschichtlichen Thatsache ver- 
söhnen, dass die ehemalige „Magd der Theologie" sich zu einer 
Herrin der Kulturwelt emporgeschwungen hatte. 

Nach der Wissenschaft ist die individuelle Freiheit der 
grösste Feind, den die Providenzialisten energisch bekämpfen. 
Die von der französischen Revolution proklamierten Menschen- 
rechte werden heftig angegriffen. Der extreme Individualismus 
der neuen Ordnung wird einer derben und teilweise gerechten 



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— 68 - 

Kritik unterzogen. „Nicht die Individuen," sagt de Bonaldy, 
„bestimmen die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft ist es, die 
die Individuen bestimmt, denn die Einzelnen existieren nur in 
und fiir die Gesellschaft." Für de Maistre sind Menschen nur 
„Abstraktionen." „Es giebt keinen „Mensöhen" in der Welt. Ich 
bin Franzosen, Italienern, Russen begegnet. Was einen Menschen 
anbelangt, so erkläre ich, noch nie in meinem Leben einem 
solchen begegnet zu sein." Es ist beachtenswert, dass derselbe 
Standpunkt in der Philosophie der Geschichte, wie wir weiter 
sehen werden, auch von Vertretern einer ganz andern Geschichts- 
auffassung aufgestellt wird. Die Unterdrückung der individuellen 
Freiheit, der individuellen Rechte zu gunsten der kirchlichen 
und socialen Autorität, die bei de Maistre offen und ehrlich filr 
unser höheres Wohl als notwendig betrachtet wird, ist das 
logische und geschichtlich notwendige Resultat einer An- 
schauimgs weise, der zufolge das Individuum nichts, die über 
ihm stehende Kirche, die Gesellschaft und der Staat aber alles ist. 
Die providentielle Geschichtsauffassung nimmt sich eine 
ihrer Natur nach unlösbare Aufgabe zu lösen vor — den gött- 
lichen Plan in der menschlichen Geschichte zu finden, die 
Absichten eines unendlichen Verstandes durch die endliche 
Menschen Vernunft zu erfassen, ohne die Mittel aufweisen zu 
können, durch welche dieses, alle unsere Kräfte übersteigende 
Problem gelöst werden könnte. Die providentielle Geschichts- 
auffassung ist daher notwendigerweise dogmatisch und unter- 
scheidet sich von einer kritischen Philosophie der Geschichte 
dadurch, dass sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit keiner 
Prüfung unterzieht, noch unterziehen kann, weil eine solche 
Kritik eine Selbstvernichtung wäre: es ist gegen den religiösen 
G^ist selbst, der Vernunft des irdischen Menschen eine solche Un- 
möglichkeit zuzumuten. Dieser sozusagen organische Widerspruch 
der providentiellen Geschichtsauffassung spiegelt sich, wie es 
nicht anders sein kann, in den geschichtsphilosophischen Kon- 
struktionen der Schule wieder. Sie muss nicht nur ihre eigene 
Geschichte a priori dem von ihr fingierten providentiellen 
Plane entsprechend, konstruieren, diesen Zug besitzt sie ge- 
meinsam mit der metaphysischen Geschichtsauffassung, — sondern 
sie ist auch gezwungen, über eigene „Geschichtsquellen", aus 
welchen sie ihrer Geschichte Inhalt und leitenden Gedanken 



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schöpfen könnte, zu verfügen. Es existierte daher für die provi- 
dentiellen Geschichtsauffassung von jeher ausser der profanen. 
■Geschichte eine geofTenbarte, eine göttliche, eine heilige Geschichte, 
von der sie die wissenschaftliche Kritik, die mit der Offenbarung 
nichts zu thun hat, fern halten musste. Die Bibel als Geschichts- 
quelle galt daher allen gläubigen christlichen Geschichtsschreibern 
seit Eusebius (264—340), dem Vater der kirchlichen Geschichte, 
den seine Bewunderer den „christlichen Herodot" genannt haben, 
tür das über alle Kritik erhabene Gotteswerk. Somit ist die pro- 
videntielle Geschichtsauffassung antiwissenschaftlich nicht nur 
ihren Zwecken, ihrem Wesen und Ursprung nach, wie wir ob«i 
gezeigt haben, sondern auch durch ihre geschichtlichen Hilfs- 
mittel. 

De Bonald glaubte in der Bibel eine Bestätigung seiner 
Annahme zu finden, dass Verstand, Sprache und Wissenschaft 
Offenbarungen Gottes seien. 

De Maistre begründet mit der Bibel seine Theorie von der 
ewigen Verdammnis der Menschheit, seine Rechtfertigung der In- 
<juisition und der blutigen Kriege, seine Lehre, ^dass die Erde ewig 
nach dem Blut der Menschen und Tiere schreie." ^) Das Wunder, 
das Uebematürliche, ist für den theologischen Geschichtschreiber 
-ein notwendiges Element der Geschichte. Unter den Vertretern 
der imgeheuern Masse geschichtlicher Litteratur, die das christ- 
liche Mittelalter hinterlassen hat (siehe z. B. die Sammlungen 
von Graevius, Muratori, Bouquet, Migne, Guizot, Pertz u. a.), 
«ind die gelehrtesten Kardinäle und Bischöfe, wie die unwissen- 
<ien Mönche zu treffen. (So gesteht ein Geschichtschreiber der 
Kirche — mid zwar ein Bischof — mit der Grammatik nicht 
besonders vertraut zu sein: „Veniam precor" — sagt der Autor 
der „historia Prancorum", Gregoire de Tours, „aut litteris, aut 
in syllabis grammaticam artem excessero, de qua ad plene non 
5um imbutus.**) 

In einer Zeit, wo die induktive Methode wenig oder gar 
nicht bekannt und noch weniger angewandt war, wo die Kunst 
der Beobachtung des wirklichen Thatbestandes bei den Geschicht- 
schreibern sich noch nicht entwickeln konnte, musste der Zustand 
der Geschichtswissenschaft, ohne welche eine wissenschaftliche 



Vgl. Flint., Ph. of Hist., B. IL 



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— 70 - 

Philosophie der Geschichte undenkbar ist^ ein sehr unbefriedi- 
gender sein. ^ucklCy ein gründlicher Kenner der kirchlichen 
Geschichtslitteratur, fasst sein Urteil über dieselbe in folgenden 
Worten zusammen: „Kurz nach der endlichen Auflösung de& 
römischen Reiches fiel die Litteratur Europas gänzlich in die 
Hände der Geistlichkeit, die lange als die einzigen Lehrer des 
Menschengeschlechts verehrt wurden. Mehrere Jahrhunderte war 
es sehr selten, dass ein Laie lesen und schreiben konnte, imd 
natürlich noch seltener fand sich einer, der ein Buch schreiben 
konnte. So wurde die Litteratur das Eigentum einer Klasse 
und nahm natürlich deren Eigenheiten an. Nun hat die Geist- 
lichkeit im Ganzen es immer mehr für ihre Sache angesehen,, 
den Glauben durchzusetzen, als die Untersuchung zu ermuntern ; 
daher ist es kein Wunder, wenn sie in ihren Schriften diesen Geist 
ihres Standes entfaltet hat. Und so hat, wie schon bemerkt, 
die Litteratur Jahrhunderte lang der Gesellschaft nicht genützt,, 
sondern geschadet, indem sie die Leichtgläubigkeit vermehrte 
und dadurch den Fortschritt der Wissenschaft hemmte. Man 
gewöhnte sich in der That so sehr an die Lüge, dass die Menschjeft 
bereit waren, alles zu glauben. Nichts verletzte ihre gierigen 
und leichtgläubigen Ohren, Geschichten von Vorbedeutungen,. 
Wundern, Erscheinungen, seltsamen bösen Zeichen, ungeheuem 
Schreckbildern am Himmel, die verrücktesten und abgerissensten 
Abgeschmacktheiten wurden von Mund zu Mund wiederholt und 
von Buch zu Buch abgeschrieben mit ebensoviel Sorgfalt, al& 
wenn sie die ausgesuchtesten Schätze menschlicher Weisheit 
wären^. Diese Ansicht Buckles ist durch Lecky's „History of the 
rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe** 
(4. ed. 1870), Draper's „History of the Intellectual Development 
of Europe" (London 1875, revised ed.), und Mazzarella^s „Storia 
della critica" auf die glänzendste und gründlichste Weise be- 
stätigt worden. 

Nach einer Richtung hin ist die providentielle Geschichts- 
auffassung jedoch einer Entwicklung fähig. Sie kann alle wissen-^ 
schaftlichen Elemente der Geschichte in sich aufnehmen und 
nur als letzte Ursache des geschichtlichen Seins, wie alles An- 
deren, die göttliche Providenz gelten lassen. Die providentielle- 
GeschichtsaufFassung musste dann mit der Theologie wie mit 
der theologischen traditionellen Geschichte entschieden brechea 



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— 71 — 

und nur Gott als ^suraraus rector" der Geschichte dürfte beibehalten 
werden. Eine solche Entwicklung wäre aber andererseits die gänz- 
liche Auflösung des Systems. Die Idee der Gottesregierung könnte 
dann die Geschichte ebensowenig mit positivem Material be- 
reichem, wie die Naturwissenschaften. Die geschichtliche Rolle 
Gottes wäre dann mit einem konstitutionellen Herrscher in einem 
absolut demokratischen Staate, mit einem „Roi qui rfegne, mais 
ne gouverne pas" zu vergleichen. 

Dass die Befreiung von der theologischen Tradition, we- 
nigstens in Bezug auf den faktischen Inhalt der Geschichte in 
imserer Zeit möglich geworden ist, zeigt das Beispiel des bel- 
gischen Gelehrten Laurent^ der der providentialistischen Ge- 
schichtsauffassung huldigt. 

Sehr nahe in methodologischer Hinsicht steht der provi- 
denziellen Geschichtsauffassung die metaphysische, die mit dem 
Aufschwung der Metaphysik im XVII. und XVIII. Jahrhundert 
im Zusammenhange steht. 

Der theologische Geist der christlichen Aera hat nicht so- 
fort dem streng naturwissenschaftlichen den Boden geräumt. 
Es entstand eine philosophische Bewegung, die sich von der 
alten aprioristischen und dogmatischen Methode noch nicht ganz 
befreien konnte. Es entwickelte sich auf dem Gebiete der Ge- 
schichtsphilosophie eine metaphysische Betrachtungsweise, die 
ebensowohl die positiven Elemente der vorhergegangenen Epochen 
des geschichtlichen Providentialismus, die Einheit der Menschen- 
geschichte wie die Idee des Portschrittes, als die negativen, die 
Tendenz zur willkürlichen Geschichtskonstruktion imd den Mangel 
an faktischer Grundlage, getreu aufnahm, und in einer anderen, 
höheren Form weiter entwickelte. 

Die metaphysische Epoche der Geschichtsphilosophie be- 
trachtet die Geschichte der Menschheit als Verwirklichimg meta- 
physischer Ideen oder eines einzigen metaphysischen Prinzips. 
Hegely ihr genialster und konsequentester Vertreter, fasst die 
ganze Geschichte als ein stufenweises nach bestimmten Gesetzen 
sich entwickelndes Werden, als eine Offenbarung des absoluten 
Geistes, auf. Verschiedene Zeiten, wie verschiedene Völker, 
sollen die einzelnen notwendigen Momente dieses Prozesses dar- 
stellen. Die Einheit der Geschichte, wie ihr Portschritt ergeben 
sich von selbst als Folge dieser, jedenfalls grossartigen, geschicht- 



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— 72 — 

liehen Konzeption. So sagt G. Mehring^): „Die Geschichte soll 
eine Einheit, ein Ganzes sein (eine „Begriffseinheit" an einer 
andern Stelle). Irgend ein Vieles wird aber, wie uns schon 
Plato gelehrt hat, dadurch ein Ganzes, dass ihm eine Idee 
(EUog) zu Grund liegt." 

Wird die Gescnichte a priori als Ganzes betrachtet, so 
müssen natürlicherweise die zum System fehlenden geschicht- 
lichen Elemente durch Phantasie imd dialektischen Scharfsinn 
des Philosophen ersetzt werden, Nicht die UnvoUkommenheit 
seiner geschichtlichen Auffassung wird durch diesen Mangel für 
den Philosophen bewiesen, sondern die UnvoUkommenheit der 
Geschichte. Dieser Gedanke ist in folgenden Worten des eben 
zitierten Autors enthalten: „Wenn irgend etwas, was zum Be- 
griff und Ganzen gehört, im Gang der Ereignisse unausgefüUt 
bleibt, so beweist dies das Uiw;3llendetsein der Geschichte." 

Die Kontinuität der oder einer Idee in der Gesöhichte, ihr 
Vorhandensein bei allen Völkern und in allen Zeiten ist eine 
notwendige Voraussetzung der metaphysischen Auffassungsweise. 
Herder^ der in seinen spezielleren geschichtsphilosophischen 
Untersuchungen und Betrachtungen nicht zu der metaphysi- 
schen Richtung gezählt werden darf, der aber in seinen all- 
gemeinen Prinzipien unter dem Einfluss der Metaphysik steht 
und die ganze Geschichte als die Verwirklichung der Humanitäts- 
idee a priori auffasst, spricht sich auf folgende Weise über die 
Notwendigkeit der Kontinuität dieser seiner Idee aus: „Wie 
unter uns niemand leugnen wird, dass auch in der Brust des 
Sodomiten, des Unterdrückers, des Meuchelmörders das Gebilde 
der Humanität gegraben sei, ob er's gleich durch Leidenschaften 
und freche Gewohnheit fast unkenntlich machte, so vergönne 
man mir nach allem, was ich über die Nationen der Erde gelesen 
und geprüft habe, diese innere Anlage zur Humanität so all- 
gemein als die menschliche Natur, ja eigentlich für diese Natur 
selbst, anzunehmen'. Wilhelm Humboldt behauptet geradezu, 
dass die Zurückführung der Geschichte auf eine ausserhalb der 
Geschichte liegende Idee der einzige Weg zu geschichtüchem 
Begreifen sei. Er geht von dem allgemeinen Satz aus: „Wie 

*) ,Die philosophisch-kritischen Grundsätze der Selbst- Vollendung 
als die Geschichtsphilosophie**. Stuttgart 1877. 



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— 73 — 

man es immer anfangen möge, so kann das Gebiet der Erschein 
nimgen nur von einem Punkte ausser demselben begriffen werden, 
und das begonnene Hinaustreten ist ebenso gefahrlos, als der 
Irrtum bei blindem Verschliessen gewiss ist in demselben^. 
Ferner: „Jede menschliche Individualität ist eine in der Er- 
scheinung wureelnde Idee". Er kommt daher zu einem Schluss, 
der als Grundprinzip der metaphysischen Geschichtsauffassung 
betrachtet werden kann. „Das Ziel der Geschichte kann nur 
die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellenden 
Idee sein". Ebenso entschieden spricht der Hegelianer August 
von Cieskowsky seinen Standpunkt aus: „Die Weltgeschichte 
ist der Entwicklungsprozess des Geistes der Menschheit in der 
Empfindung, im Bewusstsein und in der Bethätigung des Schönen, 
Wahren und Guten, ein Entwicklungsprozess, den wir in seiner 
Notwendigkeit, Zufälligkeit und Freiheit zu erkennen haben". 
Diese Auffassung ist der endgültige Sieg der menschlichen Ver- 
nunft in der Geschichte : „Die Menschheit hat endlich die Stufe 
ihres Selbstbewusstseins erreicht . . . : sie hat die Manifestation 
-der objektiven Vernunft in der Weltgeschichte erkannt". Wenn 
Cieskowsky seinen Meister tadelt, so geschieht es nur, weil der 
Letztere die Idee schon als etwas Fertiges in die Geschichte legt : 
^,Wir verlangen ein systematisches Suchen des Logischen in der 
Weltgeschichte, während wir bei Hegel nur ein spekulatives 
Finden derselben anerkennen". 

Am kürzesten beschreibt diese metaphysische Auffassung 
Novalis^ indem er die Natur als einen „Index des Geistes" be- 
zeichnet. Von diesem metaphysischen Gedanken wird die ganze 
metaphysische Geschichtsphilosophie getragen. Die metaphysische 
Geschichtsphilosophie hat das nicht geringe Verdienst, die Tra- 
dition des geschichtsphilosophischen Denkens weitergeführt und 
<iurch die Verbindung geschichtsphilosophischer Theorien mit 
berühmt gewordenen metaphysischen Systemen für die Philo- 
sophie der Geschichte ein neues reges Interesse, hie und da 
sogar Enthusiasmus, wachgerufen zu haben. 

Die metaphysische Geschichtsphilosophie litt aber an dem- 
selben Gründfehler, wie die theologisch-providentielle. Sie suchte 
die Geschichte a priori zu konstruieren. Die geschichtlichen 
Thatsachen mussten sich vor der Majestät der Theorie beugen. 
Als erste Opfer aprioristisch-synthetischer Methode musste die 



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— 74 — 

Chronologie, der zeitliche Zusammenhang der geschichtlichen 
Ereignisse, fallen. Die Thaisache tritt beschämt hinter die Idee 
zurück. Nicht die gewissenhafte nüchterne Kritik, die die 
dunkelsten Winkel des gegebenen geschichtlichen Materials 
durchforscht, sondern die schwungvoll begeisterte Synthese war 
die Losung der metaphysischen Geschichtsphilosophen. An diesem 
Fehler ging sie auch zu Grunde. Sie hatte aber den Vorsprung 
vor der providentiellen Geschichtsauffassung durch ihre Unab-- 
hängigkeit vom religiösen Dogmatismus und von der traditionellen 
Geschichtsmythologie. Indem sie die Geschichte rationalistisch zu 
erklären und zu konstnuren suchte, konnte sie nicht umhin,, 
einige Grundtendenzen und Grundeigenschaften des geschicht- 
lichen Prozesses zu entdecken. So verdanken wir der grossartigen 
geschichtsphilosophischen Metaphysik Hegels die energische Her- 
vorhebung der Idee der Entwicklung, die Theorie vom Kampfe 
der Gegensätze, in deren Form der geschichtliche Prozess sich 
abspiele. Die Idee der Entwicklung hat, wie allgemein bekannt 
ist, eine grosse historische Bedeutung und einen mächtigen 
Einfluss auf allen wissenschaftUchen Gebieten erlangt. Die ab- 
strakte Theorie der Hegeischen „Gegensätze*^ hat bei Karl Marx^ 
die konkrete Form des Klassenkampfes angenommen — ein 
jedenfalls wichtiges und folgenreiches, wenn nicht, wie seine 
Anhänger glauben, ein ausschliesslich massgebendes Moment 
der Geschichte — und dies ist von grosser praktisch-geschicht- 
licher Bedeutung geworden. 

Ferner erlangten bestinmite Thatsachen \md geschichtliche 
Strömungen durch ihre Verwandtschaft mit dem ganzen ge- 
schichtsphilosophischen System auch für den über die wirkliche 
Geschichte erhabenen Metaphysiker, gerade dank seiner Meta- 
physik eine besondere Bedeutung und folglich eine gründlichere 
Beleuchtung. Denn nicht i\\^ Fähigkeit^ das Geschichtliche richtig 
abzuschätzen, sondern der theoretische Wille fehlte dem meta- 
physischen Denker. Kann es aber im Interesse seiner Theorie 
geschehen, so erhalten wir auch beim letzteren die schönsten 
und tiefsten Gedanken über den geschichtlichen Gang der Dinge* 
Auch von einem Metaphysiker kann eine „plumpe Thatsache*' 
Achtung erzwingen, wenn er in ihr das irdische Kleid eines 
hinmilisch-metaphysischen Wesens erblicken will. 



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— 75 — 

Es sei hier nur auf die völkerpsychologischen und allgemeinen 
geographischen Gedanken Hegels in seiner Philosophie der Ge- 
schichte hingewiesen. 

Die grossen geschichtlichen Ereignisse des letzten Viertels 
des 18. Jahrhunderts im Bunde mit dem grossartigen Aufschwung 
der Naturwissenschafben haben der Philosophie der Geschichte 
einen mächtigen Anstoss gegeben, haben ihr neue Untersuchungs- 
methoden, eine neue Richtung aufgedrängt. Es bahnt sich 
eine neue Epoche der Philosophie der Geschichte, eine positiv- 
wissenschaftliche an. Das skrupulöse Studium der Geschichte, 
womöglich mit Hilfe der positiveren, weit reiferen Wissenschaften, 
wird zur Vorbedingung einer Philosophie der Geschichte erhoben. 
Die Vorläufer der wissenschaftUchen Philosophie der Geschichte, 
welche einzelne Bausteine für eine entstehende und noch in un- 
serer Zeit bei weitem nicht vollendete umfassende wissenschaftliche 
Theorie des geschichtlichen Prozesses liefern, sind zahlreich und 
reichen bis in die ältesten Perioden des menschlichen Denkens. 
Wir haben schon Plato und Aristoteles erwähnt. Bodin, 
Macchiavelli, Vico, Montesquieu, Voltaire, Herder und Kant 
sind die berühmtesten. Eine wenig bekannte geschichts- 
philosophische Thatsache sei hier besonders hervorgehoben. Wir 
meinen die wissenschaftliche Leistung auf dem Gebiete der 
Philosophie der Geschichte eines bedeutenden arabischen Ge- 
schichtsphilosophen und Staatsmannes, Ibn Khaldun,^) Derselbe 
hat mehr als 300 Jahre vor Vico^ der gewöhnlich als der Ur- 
heber einer neuen, wissenschaftlichen Richtung in der Philosophie 
der Geschichte gilt, weit gründlicher und vollständiger als dieser 
die Aufgabe der Geschichte aufgestellt und zu lösen gesucht. (Ibn 
Khaldun geboren 1332 in Tunis, gestorben in Cairo 1406.) Ibn 
Khaldun suchte in seinem geschichtsphilosophischen Werke 
„Prolegomena" (Mocaddemat) die Natur der Völker, hauptsäch- 
lich des arabischen Volkes, aus ihren Lebensbedingungen, wiel 
von der sie umgebenden Natur zu erklären. In seinen Ausein- 
andersetzungen erinnert er an die späteren Geschichtsphilosophen. 



') Der arabische Text seines Hauptwerkes: «Prolegom^nes^ ist in 
B. XVI der Sammlung: Notioes et extraite des manusorits^ von Quatre- 
m^e, Paris 1858 veröffentlicht. Die französische UebersetzuDg von M.' 
F. de Glane ist in derselben Sammlung, B. 14, 19 und 20 (Paris 1868) auf- 
genommen. 



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— 76 — 

» 

Manchmal glaubt man, Montesquieu oder Buckle oder sogar Karl 
Marx zu lesen. Mit vollem Bewusstsein und voller Klarheit tritt 
Ibn Khaldun für die Notwendigkeit einer Theorie der Geschichte, 
wie einer Geschichte der Civilisation ein. Er hat sich die Aufgabe 
gestellt, die Geschichte zu einer Wissenschaft zu erheben. Fol- 
gende Stelle zeigt klar, auf welcher Höhe die Geschichtsauffassung 
Ibn Khalduns stand: 

Der Gegenstand der Geschichte ist die Erklärung des ge- 
sellschaftlichen Zustandes des Menschen, d. h. der Civilisation 
und der Erscheinungen, die naturgemäss damit zusammen- 
hängen, nämlich der Wildheit, der Milderung der Sitten, des 
Familien- und Stammgeistes, verschiedener Vorzüge, deren die 
-einen Völker im Vergleich mit den andern teilhaftig geworden 
sind und die zur Gründung der Dynastien und Reichte geführt 
haben; der Rangunterschiedej der Beschäftigungen, denen 
sich die Menschen widmen, so z. B. der zur Erhaltung des 
Lebens notwendigen und Verdienst einbringenden, wie auch der 
der Wissenschaft und Kunst ; endlich sämtlicher Veränderungen, 
die die Natur der Dinge im Charakter der Gesellschaft hervor- 
bringen könnte. (Proleg. p. 71.) 

Ferner : Es ist eine Wissenschalt sui generis, da sie erstens 
ihr eigenes spezielles Objekt besitzt, ich meine die Civilisation und 
die menschliche Gesellschaft ; zweitens behandelt sie verschiedene 
Fragen, die zur Erklärung der Thatsachen dienen, welche mit 

dem Wesen selbst der Gesellschaft zusammenhängen " 

„Unsere Abhandlungen bilden eine neue Wissenschaft ^ welche 
ebensowohl durch ihre Originalität als durch den weiten Umfang 
ihrer Nützlichkeit Bedeutung erlangen wird. Wir haben sie 
entdeckt,^ Ib. pag. 77. 

Hier finden wir sogar die Bezeichnung der „neuen Wissen- 
schaft", die Vico auf Grund des Titels seines Hauptwerkes 
(^Nuova Scienza") von vielen so sehr nachgerühmt worden ist. 

„Ich habe mit grosser Sorgfalt die Fragen behandelt, die 
den Gegenstand meines Werkes bilden. Ich habe es ebensowohl 
für Gelehrte wie für Weltmänner zugänglich gemacht; bei 
dessen Verfassung und. in der Verteilung des Stoffes bin ich 
^inem originellen Plane gefolgt, indem ich mir eine neue Methode 
der Geschichtschreibung, einen Weg zu einem mir allein eigen- 
tümlichen System ausgedacht habe. Bei der Betrachtung dessen, 



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— 77 — 

4 

was sich auf die Civilisation und die Gründung der Städte be- 
zieht, habe ich alles entwickelt, was die menschliche Gesell- 
schaft an bezeichnenden Thatsachen und Verhältnissen bietet. 
Auf diese Weise erkläre ich die Ursachen der Ereignisse, die 
Mittel, durch welche die Gründer der Reiche zu ihrer Stellung^ 
gelangt sind. Der Leser wird nicht mehr gezwungen, sein, den 
ihm vorgelegten Erzählungen einen blinden Glauben zu schenken 
und wird folglich von der Geschichte der ihm vorausgegangenen 
Zeitalter und Völker gut unterrichtet sein. Er wird sogar im 
stände seirij die Ereignissej, die in der Zukunft entstehen 
können, vorauizusehen. Ib. p, 9, 

Dem Einflüsse des Klimas wird die Hautfarbe, der Charakter ' 
und die Lebensweise der Neger zugeschrieben. Der Einfluss des 
Bodens wird hervorgehoben. Den zweiten Teil der „Prolegomena^ 
fängt Ibn Khaldun mit dem Hinweise darauf an, dass verschiedene^ 
Sitten und gesellschaftliche Einrichtungen von der Art abhängen, 
wie die Menschen für ihre Existenzmittel zu sorgen haben. Der 
Unterschied zwischen städtischem und ländUchem Leben wird 
ausführlich und zutreffend geschildert. Die Stadt wird als der 
Hauptsitz der Civilisation betrachtet, da das städtische Leben 
die Energie und die Unabhängigkeit fördere. In unserer Zeit hat 
Karl Marx auf die Entwicklung der Städte und ihre bedeuten- 
den Folgen für die Geschichte besonders Gewicht gelegt. Sa 
weit und tief blickend war der arabische Geschichtsphilosoph 
des 14. Jahrhunderts. 

In dieser Hinsicht sind folgende Stellen bemerkenswert: 

Die Angehörigen der Landbevölkerung beschränken sich 
auf das absolut Notwendige und besitzen keine Mittel, dessen 
Grenze zu überschreiten, während die Städter mit der Befriedi- 
gung der Luxusbedürfnisse und Vervollkommnung alles dessen 
beschäftigt sind, was sich auf ihre Gewohnheiten und Lebens- 
weise bezieht. (Ib. p. 257.) 

Unter den Bewohnern des Landes und der Stadt, sind die- 
jenigen eher gottesfürchtig und zur Frömmigkeit geneigt, die 
Hunger zu ertragen und Vergnügungen zu entbehren gewohnt 
sind, als die im Ueberfluss und Luxus Lebenden. Die Gottes- 
fürchtigen sind in den grossen Städten wenig zahlreich, dagegen 
herrschen gewöhnlich in denselben Gefühllosigkeit und Indiffo- 



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— 78 — 

rentismus, die durch einen allzu reichlichen Gebrauch der Pleisch- 
nahrung, durch Gewürze und Mehlspeisen bedingt sind. (Ib. p. 180.) 

Die Wichtigkeit der Existenzmittel, die eine besondere 
Bedeutung in der marxistischen Geschichtsphilosophie erhalten 
haben, wird nicht minder entschieden in folgenden Stellen her- 
vorgehoben : 

Die Unterschiede der Sitten und Einrichtungen verschie- 
dener Völker hängen von der Weise abj in welcher Jedes 
derselben für seine Existenzmittel zu sorgen hat. Die Menschen 
vereinigten sich in Gesellschaften zum Zwecke der Anschaffung 
von Lebensmitteln, Auch bei Marx ruft das Bedürfnis der 
Produktion die sociale Organisation hervor. (Vergl. seine ^Misfere 
de la Philosophie.) Ib. p. 254. 

„Gott hat den Menschen mit Vernunft und — einer Hand 
beschenkt. Die Hand, der Vernunft untergeordnet ^ ist immer 
bereit Kunstwerke hervorzubringen. Die Künste verschaffen 
dem Menschen Werkzeuge, die ihm diejenigen Glieder ersetzen, 
die andere Tiere zu ihrer Verteidigung besitzen. . . . Ein isolierter 
Mensch wäre nicht im stände der Kraft, selbst eines einzigen Tieres, 
besonders aus der Klasse der fleischfressenden, zu widerstehen. 
Er wäre absolut nicht im stände sich zu verteidigen." Ib. p. 87. 

Es darf daher das folgende Urteil Flints über Ibn Khaldun 
kaum als übertrieben betrachtet werden: 

As regards the science or philpsophy of history, Arabic 
literature was adorned by one most brilliant name. Neither the 
classical nor the medieval Christian world can schow on of 
nearly the same brightness. (Phil, of Hist., B. U, p. 86, 1883. 
Vergl. P. Lawroffs citiertes Werk Bd. I, Anm. 16.) 

Und doch, trotz aller vereinzelter Versuche, bleibt es dem 
19. Jahrhunderte, dem wissenschaftlichen Jahrhunderte par ex- 
cellence vorbehalten, der wissenschaftUchen Richtung in der 
\ Philosophie der Geschichte zum endgültigen Siege zu verhelfen. 
Und dazu ist dieser Sieg mehr ein Sieg der Methode als der 
Ausführung. Niemand, der auf dem Gebiete der theoretischen 
Geschichtsforschung Bedeutung und Einfluss erlangen will, wird 
in unserer Zeit eine geschichtliche Konstruktion a priori, ver- 
suchen und noch weniger die Geschichte lediglich als die Be- 
stätigung irgend welcher Glaubensdogmen betrachten wollen. 



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— 79 — 

Die Durchführung aber bUeb weit hinter der Methode zu- 
rück. Die Geschichtsaufifassungen des 19. Jahrhunderts geraten 
vielfach in solch prinzipielle Widersprüche mit einander — wie 
wir teilweise weiter sehen werden — dass schon dieser Umstand 
allein die wissenschaftliche Objektivität aller dieser Aufifassungen, 
wenn sie auch der Haupttendenz nach insgesamt der positiv- 
wissenschaftlichen Richtung angehören, als unmöglich macht 
Weiter werden wir versuchen, die Grundursache dieser merk- 
würdigen Erscheinung von der Natur des historischen selbst ab- 
zuleiten und zu erklären. 

Die allgemeinsten Züge imd Merkmale der positiv-wissen- 
schaftlichen Philosophie der Geschichte sind nicht so leicht zu 
fassen und kurz wiederzugeben, wie diejenigen der ihr vorher- 
gegangenen und oben dargestellten beiden anderen Richtungen, 
der providentiellen und metaphysischen. Dem Grundcharakter 
des Historischen, der äussersten Kompliziertheit, mehr entsprechend 
als die beiden andern Richtungen, zerfallt sie selbst in verschie- 
dene Strömungen und Verzweigungen. Doch lassen sich zwischen 
diesen vielverzweigten geschichtsphilosophischen Richtungen 
einige natürliche Scheidelinien ziehen. 



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~ 80 - 



V. Die drei Hauptrichtungen der -wissenschaftlichen 
Philosophie der Geschichte. 



Bei der Untersuchung des spezifischen Charakters de& 
Geschichtlichen haben wir alle mögHchen Faktoren der Geschichte 
auf drei Hauptfaktoren zurückgeführt : Das natürliche (im engeren 
Sinne) Milieu, das individuell-menschliche und das geschichtliche 
Milieu. Diese drei Arten der geschichtlichen Einwirkungen er- 
schöpfen den ganzen Inhalt der Geschichte. Ausser der äussern 
Natur, der menschlichen Individualität und dem geschichtlich 
Gewordenen kann nichts auf die Geschichte des menschlichen 
Geschlechts einwirken. In diesen drei Quellen und nur in diesen 
haben wir wissenschaftliche Antworten auf jene uns oft in 
Staunen und Schrecken setzenden Rätsel der Geschichte zu 
t suchen, und in diesen drei Quellen des geschichtlichen Lebens 
können wir sie finden. Diesen drei Hauptquellen des geschicht- 
lichen Werdens entsprechen auch drei Hauptrichtungen in der 
positiv-wissenschaftlichen Geschichtsphilosophie : die physisch-- 
klimatische, die physiologisch-psychologische und die kultur- 
historische. Die verschiedensten gesohichtsphilosophischen Theo- 
rien und Tendenzen lassen sich methodologisch wie inhaltlich 
unter eine dieser drei Richtungen bringen. Die physisch-klimatische 
Richtung geht in ihrer Erklärung des geschichtlichen Prozesses 
von der äussern Natur aus, die physiologisch-psychologische von 
der Innern Natur des Menschen, die kulturhistorische sucht durch 
die verschiedenen Kultur- und Lebensformen, die sich im ge- 
schichtlichen Prozesse herangebildet haben, die geschichtliche 
Bewegung zu begründen und zu erklären. 

Die physisch-klimatische Geschichtsauffassung geht vom 
Grundsatze aus, dass der Mensch ein integrierender Teil der 
physischen Natur, ihre höchste Blüte darstelle und als solcher im 
Geschichtsprozesse betrachtet werden dürfe. So sagt Herder,, 
einer der Bahnbrecher in dieser Richtung: „Was physisch .ver- 
einigt ist, wanim sollte es nicht auch geistig und moralisch 
vereinigt sein, da Geist und Moralität auch Physik sind und 
denselben Gesetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnensystem 
abhängen, nur in einer höheren Ordnung, dienen.'' 



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~ 81 - 

Herder kommt daher zu folgendem Schlüsse : „Vom Himmel 
rauss unsere Philosophie der Geschichte des menschlichen Ge- 
schlechts anfc^ngen, wenn sie einigermassen diesen Namen ver- 
dienen soll." Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur ist 
eine so allgemeine und notwendige Thatsache, dass sie noch 
lange bevor es eine Philosophie der Geschichte, als ein abge- 
grenztes wissenschaftliches Gebiet gab, klar vor dem mensch- 
lichen Geiste lag. Plato spricht vom Einfluss des Klimas in 
seiner Republik. Besonders ist aber Aristoteles auf das Verhältnis 
zwischen dem Klima und den menschlichen Einrichtungen ein- 
gegangen. Er betrachtet die verschiedenen Völkerstämme im 
Zusammenhange mit ihrem Wohnsitze und zwar mit dessen 
klimatischen Eigenschaften. 

Im IV. Buch, Kap. VII, seiner „Politik" sagt er folgendes : 
„Die Völker in den kalten Gegenden und auf dem Festlande 
von Europa sind zwar voll Mut^ aber es fehlt ihnen an Einsicht 
und Kunstfertigkeit ; deshalb bewahren sie sich mehr ihre Frei- 
heit, sind aber ohne staatliche Verbindung und können über 
ihre Nachbarn nicht herrschen. Dagegen sind die Völker in Asien 
ihren geistigen Anlagen nach zwar einsichtig und kunstfertig, 
aber ohne Mut und deshalb befinden sie sich stets in Unter- 
werfung und Sklaverei. Der Stamm der Griechen hat, so wie er 
schon zwischen jenen die Mitte hält, auch an den Vorzügen 
jener beiden teil und ist sowohl mutig, wie einsichtig. Deshalb 
hält sich dieser Stamm immer frei, ist am besten staatlich ein- 
gerichtet und würde, wenn er in einen Staat zusammengefasst 
wäre, über alle andern Völker herrschen." 

Ausser Hippokrates ^) betont von den Aeltem Bodinus den 
Einfluss des Klimas. So schreibt Bodinus : „II y a presque autant 
de variöte au naturel des hommes, quHl y a des pays." 

Im 18. Jahrhundert haben Montesquieu und Herder, teil- 
weise auch Voltaire, die Theorie des Klimas besonders hervor- 
gehoben. Montesquieu schreibt: „Vous trouverez dans les pays 
du Nord des peuples qui ont peu de vices, assez de vertus, 
beaucoup de sincöritö et de franchise. Approchez les pays du 
Midi, vous croirez vous eloigner de la morale mfme; des pas- 
sions plus vives multiplieront les crimes; chacun cherchera ä 

Vgl. oben S. 24. 
Ch. Kappoport, Die Hauptrichtungen der Philosophie. 6 



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- 82 - 

prendre sur les autres tous les avantages qui peuvent favoriser 
ces möraes passions. Dans les pays temp^rös vous verrez les 
peuples inconstants dans leurs^maniferes, dans leurs vioes mfemes 
et dans leurs vertus; le climat n'y a pas une qualit^ assez d6- 
terminöe poiir les fixer eux-memes". Voltaire ssLgt: „Le physique 
de rinde difförant en tant d6 choses du nötre, il fallait bien que 
le moral differät aussL", 

Zu welcher Bedeutung in unserer Zeit Thomas Buckle 
diese Theorie erhoben hat, ist allgemein bekannt. Buckle hat 
zu den bedeutenden Wirkungen des Klimas die nicht minder 
mächtigen Paktoren, wie die Nahrung, den Boden imd „die 
Naturerscheinungen im ganzen" gezählt Er hat die Einwirkung 
der letzteren auf unsere Phantasie und folglich auf unsere Vor- 
stellung von der Gottheit und der Welt untersucht. Das zweite 
Kapitel seiner „History of Civilisation" ist ein Muster von klarer 
imd überzeugender Beweisführung, mit der er die zwei folgenden 
Thatsachen festgestellt wissen will: „Die erste Thatsache ist, 
dass in den aussereuropäischen Kulturländern die Naturkräfte 
viel grösser waren als in den europäischen. Die zweite Thatsache 
ist, dass diese Kräfte ungeheures Unheil angerichtet, tmd dass 
ein Teil derselben eine imgleiche Verteilung des Reichtums, ein 
anderer eine ungleiche Verwendimg der Geisteskräfte verursacht 
hat, dies letztere durch die feste Richtung der Aufmerksamkeit 
auf Gegenstände, welche die Phantasie entflammen. So weit die 
Erfahrung der Vergangenheit uns leiten kann, müssen wir sagen, 
dass in allen aussereuropäischen Kulturländern diese Hindernisse 
unübersteiglich waren, wenigstens hat sie bis jetzt noch keine 
Nation überwunden. Aber in Europa, das auf einem bescheideneren 
Pusse eingerichtet ist, als die andern Weltteile, das kälter gelegen 
war, einen weniger üppigen Boden hatte, weniger imposante 
Naturerscheinungen und überhaupt eine schwächere Natur ent- 
faltete, in Europa wurde es dem Menschen leichter, sich des 
Aberglaubens zu entschlagen, welchen die Natur seiner Phan- 
tasie entgegenbrachte ; und ebenso wurde es ihm leichter, wenn 
auch nicht gerade eine gerechte Verteilung des Reichtimis, doch 
einen Zustand zu erreichen, der ihr näher kam, als es in den 
altem Kulturländern möglich gewesen war. Daher ist im ganzen 
in Europa die Richtung der Weltgeschichte gewesen, die Natur 



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- 83 — 

dem Menschen, ausser Europa, den Menschen der Natur unter- 
zuordnen." 

Em neuerer englischer Schriftsteller geht mit Recht in 
•dieser Hinsicht noch weiter und weist auf die geologischen 
Prozesse hin, welche auf alle andern natürlichen Bedingungen 
einwirken. Freeman schreibt in seiner „Method of historical 
study": „The geological Process which called into being those 
hills by the Tiber, lower in height, nearer to each other, than 
the other hills of Latium, fixed the history of the World for 
-e^iver." Der Einfluss des physisch-klimatischen Milieus auf die 
menschliche Geschichte ist früher vor allen übrigen Paktoren 
hervorgehoben und wissenschaftlich begründet worden, da dieser 
Einfluss auf uns anschaulicher als irgend ein anderer wirkt. 
Ratzel bemerkt daher mit Recht: 

„Die äussern Verhältnisse sind hinsichtlich ihrer hemmenden 
oder fördernden Einwirkung deutlicher zu erkennen und abzu- 
schätzen, und es ist gerechter und logischer, sie zuerst zu nennen. 
Wir begreifen, warum die Wohnplätze der Naturvölker haupt- 
sächlich in den kalten und heissen Gegenden gefunden worden." 
Die physisch-klimatische Richtung vollzieht eine ganze Revolution 
in der Philosophie der Geschichte. Als das wichtigste Resultat 
dieser Richtung folgt mit Notwendigkeit die Einführung der 
Gesetzmässigkeit in die Geschichte. Die Philosophie der Ge- 
schichte erhält durch diese Richtimg einen positiven, ja noch 
mehr einen exakten Charakter. Da die meisten natürlichen Ein- 
flüsse sich auf exakte Naturgesetze zurückführen lassen und der 
Beobachtung vielfach zugänglich sind, so wird der Geschichts- 
philosoph, der diese Verhältnisse für die menschliche Geschichte 
benutzt, zur Aufstellung von Gesetzen in der Geschichte geführt. 
Die Gesetze der Natur werden in Verbindimg mit andern ge- 
schichtlichen Faktoren zu Gesetzen in der Geschichte. Schon 
durch die Voraussetzung naturwissen schal tlicher Kenntnisse bringt 
die physisch -klimatische Richtung ihre Anhänger in nähere 
Berührung mit den Naturwissenschaften imd ihren Methoden. 
Es entsteht ein enges Verhältnis zwischen Naturwissenschaft 
und Geschichte, das für die letztere besonders von grosser Trag- 
weite ist. Wir sehen daher bei den bedeutendsten Vertretern 
der physisch-klimatischen Richtung, Montesquieu, Herder imd 



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— 84 — 

Buckle, die Ueberzeugung von der Gesetzmässigkeit in der 
Geschichte in hohera Grade entwickelt. So sagt Montesquieu : 

„II y a des causes gönörales, soit morales, soit physiques, 
qui agissent dans chaque monarchie, Tölövent, la maintiennent 
ou la pröcipitent; tous les accidents sont soumis ä ses causes; 
et si le hasard d'une bataille, c'est-ä-dire une cause particulifere, 
a ruin^ un ^tat, il y avait une cause generale qui faisait que 
cet itai devait p&rir par une seule bataille, En un mot l'allure 
principale entraine avec eile tous les accidents particuliers." 
Montesquieu führt also mit dieser feinen und tiefen Bemerkung^ 
die scheinbare Macht des Zufalls in der Geschichte auf das 
allgemeine Gesetz zurück. 

Buckle erklärt als eine Hauptaufgabe seines Lebenswerkes^ 
die Erhebung der Geschichte zum Range einer exakten Wissen- 
schaft, als welche er die Naturwissenschaften betrachtet. So sagt 
er in der Einleitung zu seinem berühmten Werke: „Ich hoffe 
für die Geschichte des Menschen das, oder doch etwas ähnhches, 
zu leisten, was andern Forschem in den Naturwissenschaften ge- 
lungen ist. In der Natur sind die scheinbar unregelmässigsten und 
widersinnigsten Vorgänge erklärt und als im Einklänge mit gewissen 
unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen befindlich nachgewiesen 
worden. Dies ist gelungen, weil Männer von Talent und vor 
allem von geduldigem und unermüdlichem Geiste die Phänomene 
der Natur studiert haben mit der Absicht, ihre Gesetze zu ent- 
decken; wenn wir nun die Vorgänge der Menschenwelt einer 
ähnlichen Behandlung unterwerfen, haben wir sicher alle Aus- 
sicht auf einen ähnlichen Erfolg, denn es ist klar, dass diejenigen^ 
welche die historischen Thatsachen einer Erhebung ins Allgemeine 
für unfähig halten, die Frage ohne weiteres für ausgemacht 
ansehen. Ja sie thun noch mehr. Nicht nur nehmen sie an, was 
sie nicht beweisen können, sie nehmen auch etwas an, was bei 
dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens höchst unwahr- 
scheinlich ist. Wer überhajipt eine Kenntnis von dem hat, w^as 
während der letzten zwei Jahrhunderte geschehen ist, muss 
gewahr werden, dass jede Generation einige Begebenheiten als 
regelmässig und vorher bestimmbar nachweist, von denen die 
vorhergehende Generation behauptet hatte, sie seien unregel- 
mässig und nicht vorher zu bestimmen ; darnach ist es die offen- 
bare Richtung der fortschreitenden Civilisation, unsern Glauben 



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— 85 — 

an die Allgemeinheit der Ordnung, der Methode und der Gesetz- 
mässigkeit zn stärken. Da dies der Fall ist, so folgt, wenn 
Thatsachen oder Reihen von Thatsachen noch nicht auf ihre 
Gesetzmässigkeit zurückgeführt sind, dass wir weit entfernt sein 
sollten, dies für immöglich zu erklären; vielmehr sollten wir 
durch unsere bisherige Erfahrung geleitet, die Wahrscheinlichkeit 
zugeben, was wir jetzt unerklärlich nennen, werde sich in Zu- 
kunft erklären lassen. Dies Vertrauen auf Entdeckung von 
Gesetzmässigkeit mitten in der Verwirrung ist .wissenschaftlichen 
Forschem so geläufig, dass es bei den ausgezeichnetsten imter 
ihnen ein Glaubensartikel wird; und wenn dasselbe Vertrauen 
sich nicht allgemein unter den Geschichtsforschern findet, so 
muss man es teils dem Umstände zuschreiben, dass sie den 
Naturforschern an Geist nachstehen, teils den reicheren Be- 
ziehungen der socialen Phänomene, mit denen ihre Studien zu 
thim haben.*' 

Eine zweite Folge der physisch-klimatischen Richtimg von 
nicht mindei: grossen Tragweite als die schon erwähnte, ist die 
sich mit dieser Richtung natürlich verbindende Betonung des 
intellektuellen Faktors. Ist die äussere Natur und ihre Kräfte 
im Anfange der Geschichte das Massgebende für unser geschicht- 
liches Schicksal, so versteht es sich von selbst, dass deijenige 
Faktor, der die Herrschaft des Menschen über die Natur bedingt, 
als der wichtigste betrachtet werden darf. Der Fortschritt unserer 
Naturerkenntnis erlangt die grösste Bedeutung und mit ihr der 
Fortschritt der Wissenschaften wie der wissenschaftlichen Methode 
überhaupt. Thomas Buckle, der bedeutendste Vertreter der phy- 
sisch-klimatischen Richtung in der neuesten Zeit, ist zugleich 
ein begeisterter Anhänger des intellektuellen Faktors. Eine Stelle 
aus seiner „History of Civilisation" genügt, dies in befriedigender 
Weise zu bestätigen: „Die Thaten schlechter Menschen bringen 
nur zeitweilige Uebel hervor, die Thaten guter nur zeitweiliges 
Gutes und endlich sinkt Gut und Uebel völlig zu Boden, wird 
aufgehoben durch nachfolgende Generationen und geht in die 
unaufhörliche Bewegung folgender Jahrhunderte auf. Aber die 
wissenschaftUchen Entdeckungen grosser Männer verlassen uns 
nie, sie sind unsterbUch; sie enthalten jene ewigen Wahrheiten, 
die den Sturz von Reichen überleben, die länger dauern als die 
Kämpfe streitender ReUgionsparteien, ja eine Religion nach der 



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— 86 — 

andern in Verfall geraten sehen. Alle Religionen haben ihr 
eigenes Mass und ihre eigene Regel ; eine gewisse Meinung gilt 
für ein Zeitalter, eine andere für ein anderes. Sie schwinden 
dahin wie ein Traum, sie sind Geschöpfe der Phantasie, von 
denen selbst die Umrisse nicht stehen bleiben. Nur die Ent- 
deckungen der Wissenschaft bleiben^ ihnen allein verdanken 
wir alles^ was wir haben; sie sind für alle Zeitalter und für 
immer; nie jung und nie alt, tragen sie den Samen ihres eigenen 
Lebens; sie fliessen fort in einem ewigen unsterblichen Strome, 
sie sind wesentlich vermehrend, gebären die Portsetzungen, die 
später gemacht werden und wirken so auf die entfernteste Nach« 
kommenschaft, ja nach dem Verlaufe von Jahrhunderten wirken 
sie stärker, als sie es im Augenblicke ihres Bekanntwerdens 
vermochten.' 

Die glänzenden, rasch nach einander folgenden Erfolge der 
Naturwissenschaft, mussten diese Ueberzeugung von der geschicht- 
lichen Macht der Wissenschaft noch mehr befestigen. Besonders 
ist diese Auffassung den Repräsentanten der Naturwissenschaft 
eigen. Einer der berühmtesten Vertreter der modernen Wissen- 
schaft, Du BdS'Reymond, steht ganz auf dem Boden der Bück- 
leschen Geschichtsauffassung imd übertrifft den englischen 
G^schichtsphilosophen vielleicht noch in seinem Enthusiasmus 
für die historische Rolle der Naturwissenschaften. So sagt er in 
der Abhandlung „ Kulturgeschichte und Naturwissenschaft" : 
„Das Zurückbleiben der Alten in der Naturwissenschaft war 
verhängnisvoll für die Menschheit. In ihnen hegt einer der 
vornehmsten Gründe, aus denen die alte Kultur untergieng. 
Das grosse Unglück, welches die Menschheit traf, Ueberrennimg 
der Mittelmeerländer durch die Barbaren, blieb ihr wahrscheinUch 
erspart, hätten die Alten Naturwissenschaft in unserm Sinne 
gehabt." Ferner: „Nicht weil der Boden der Mittelmeerländer 
an Phosphorsäure und Kali verarmt war ging die alte Kultur 
unter, sondern weil sie auf dem Plugsand der Aesthetik imd 
Spekulation ruhte, den die Stxirmflut der Barbaren leicht imter 
ihr wegwusch." Und an einer weiteren Stelle: „Giebt es aber 
ein Merkmal, welches für sich allein den Portschritt der Mensch- 
heit anzeigt, so scheint dies vielmehr der erreichte Grad von 
Herrschaft über die Natur zu sein." Dass der intellektuelle Paktor 
eine der bedeutendsten Rollen in der geschichtlichen Bewegung 



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— 87 — 

spielt, liegt ausser Zweifel, und insofern ist die Betonung dieses 
Paktors als eine positive Seite der physisch-klimatischen Rich- 
tung zu bezeichnen. Diese Richtung aber, einseitig konsequent 
durchgeführt, kann auch negativ auf die Philosophie der Ge- 
schichte wirken, und das war thatsächlich teilweise der Fall. Die 
blinden Kräfte der Natur stehen vielfach vor unserm Bewusst- 
sein als eine fatale imabwendbare Macht, der man sich fügen 
muss. Die Natur erscheint als ein neues Patum, das das Völker- 
schicksal mit eherner Notwendigkeit beherrscht. So verurteilte 
Buckle die aussereuropäischen Völker zu ewiger Sklaverei unter 
der Naturherrschaffc. Laureait nennt mit Recht eine solche Ten- 
denz „le fatalisme de la nature." Und die Gegner Buckles, wie 
z. B. der Historiker Droysen^ zeigen mit Recht auf Erscheinungen 
hin, die die unbeschränkte Herrschaft der Natur zu widerlegen ge- 
eignet sind. Es werden ganze Völkerschaften aufgeführt (wie z. B. 
die Juden), die unter verschiedenen Erdstrichen ihren nationalen 
Charakter bewahrt oder solche Wandlungen durchgemacht 
haben, die durch andere als pbysisch-klimatische Ursachen 
erklärt werden müssen. 

Einer andern grossen Gefahr ist die physich-klimatische 
Richtung ausgesetzt; Es liegt ihr sehr nahe, den Unterschied 
zwischen natürUchen und geschichtlichen Gesetzen zu verkennen, 
und in der Geschichte nicht das sich entwickelnde, sich weiter 
bewegende, sondern das regelmässig sich wiederholende, das 
periodisch in derselben Form auftretende, zu suchen. Die Ge- 
schichte verwandelt sich für sie in eine Art Naturwissenschaft. 
So spielt bei Buckle die Quetelet'sche Moralstatistik eine grosse 
Rolle, und man könnte meinen, dass Buckle nur geschichtliche 
Gesetzmässigkeit da sieht, wo die geschichtlichen Erscheinungen 
sich regelmässig wiederholen. Diese Richtung zieht in die Ge- 
schichte diejenigen Erscheinimgen hinein, die eigentUch der 
Sociologie, Anthropologie oder sogar Psychologie gehören (u. a. 
hat P. Lawroff in seinen schon erwähnten „Historischen Briefen" 
darauf hingewiesen). Das Entwicklungsprinzip, das die Geschichte 
beherrscht, tritt vor den sich wiederholenden Erscheinungen in 
den Hintergrund. 

Nachdem wir die hauptsächlichen positiven und negativen 
Elemente der physisch-klimatischen Richtung in Bezug auf ihre 
Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie der Geschichte 



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^^^ 



- 88 — 

untersucht haben, bleibt uns noch die Aufgabe, das physisch- 
klimatische Milieu selbst auf seinen allgemeinen geschichtsphilo- 
sophischen Wert zu prüfen. 

Es ist nicht schwer einzusehen, dass das physisch-klimatische 
Milieu nur eine Seite, nur eine Reihe in der (Jesamtheit der 
geschichtUcben Paktoren darstellt. Wir haben alle geschichtlichen 
Einwirkungen auf drei Hauptfaktoren, äussere Natur, Mensch 
imd Kulturformen, zurückgeführt. Die physisch-klimatische 
Richtimg bezieht sich offenbar nur auf einen dieser drei Haupt- 
faktoren, auf die äussere Natiu*. Die anderen Hauptfaktoren 
bleiben ausser Betracht oder treten vor dem Einflüsse der Natur 
weit zurück. Der intellektuelle Paktor wird von dieser Richtung 
nur in bezug auf die durch ihn erlangte Herrschaft des Menschen 
über die äussere Natur gewürdigt. Dass eine solche einseitige 
Betrachtung den Anforderungen der wissenschaftlichen Philosophie 
der Geschichte nicht entspricht, versteht sich von selbst. Ist die 
physisch-klimatische Richtung auf einer bestimmten Höhe der 
geschichtsphilosophischen Entwicklung imentbehrUch und för- 
dernd, so ist und bleibt sie dessenungeachtet eine schreiende 
Einseitigkeit und insofern für die weitere Entwicklung der Phi- 
losophie der Geschichte schädlich. 

Ist das physisch-klimatische Milieu nur eine Quelle der 
geschichtlichen Einflüsse, so entsteht für uns die Aufgabe, die 
ihr eigentümliche Wirkungsweise im Vergleich mit den übrigen 
geschichtUchen Paktoren näher zu bestimmen. 

Als objektiver Paktor unterscheidet sich das physisch- 
klimatische Milieu von den subjektiven Paktoren durch seine Pas- 
sivität. Durch dasselbe werden nur die Bedingungen, der Schau- 
platz, und was nicht minder wichtig ist, die Hemmnisse der Ent- 
wicklimg gegeben. Diese letzteren müssen überwunden werden^ 
auf dass die geschichtliche Entwicklimg möglich sei. Die Prin- 
zipien der geschichtUchen Bewegung liegen unmittelbar nicht im 
physisch-klimatischen Milieu : das physisch-klimatische Milieu 
unterhält die Geschichte, bewegt sie aber keineswegs. Der aktiv- 
subjektive Paktor, der auf einer bestimmten Höhe der Entwick- 
lung stehende Mensch, muss auf der von natürlichen Kräften 
geschaffenen Bühne auftreten, und nur dann entsteht die ge- 
schichtliche Bewegung. Sehr treffend bezeichnet daher Mtxrx im 
ersten Bande seines Kapitals das physisch-klimatische Milieu 



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\*lg^i 






— 89 — 

Bur als „Möglichkeit" des geschichtlichen Portschrittes. Nur mit < 
dem Auftreten der aktiven geschichtliehen Paktoren wird die 
geschichtliche Bewegung zur Wirklichkeit. 

Past ausschliesslich mit den aktiven Paktoren befasst sich 
die zweite Hauptrichtung der wissenschaftlichen Philosophie der 
Geschichte, die physiologisch -psychologische Richtimg. Die 
menschlichen Leidenschaften, die menschlichen Ideen, die mensch- 
lichen Kräfte bedingen nach dieser Auflassung die geschichtliche 
Bewegung. So erklärt Hippolyte Taine als Objekt der gesamten 
Geschichtswissenschaft die Lösung eines psychologischen Pro-' 
blems. 1) 

Im allgemeinen ist die Erklärung der menschlichen Ge* 
schichte durch die menschliche Natur, wenn nur in der Porm 
«iner einfachen Behauptung, schon im Altertum vertreten. Wir 
finden sie hei Eucydides^) Wir finden sie in derselben allgemeinen 
Porm bei einer grossen Zahl späterer Schriftsteller, von denen 
wir nur diejenigen anzuführen gedenken, die sich spezieller mit 
der Philosophie der Geschichte befassten. 

So sagt •/. Ferguson: „Social life is the natural consequence 
of the human organism." „Philosophy of civilisation, I.** Weniger 
allgemein und mehr zutreffend ist die Betrachtung Kants, nach 
der die Geschichte die Elntwicklung aller menschlichen Anlagen 
ist („Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher 
Absicht,^ 1784). Angine Gomte findet, dass der gesamte sociale 
Bau in letzter Instanz auf Meinimgen beruhe (Gours, I, p. 41). 
Bei Mougeolle finden wir die Meinung Leonard de Vincfs 
zitiert : L'homme peu tirer de soi tout ce qu'il veut. Jouffroy 
ist geneigt, den philosophischen Ideen den entschiedensten Ein- 
fluss auf unser Schicksal zuzuschreiben. „Tous les changements 
qui s'op^rent dans la condition de l'homme, toutes les transfor- 
mations qu'elle a subies d^rivent de Tintelligence et en sont 
reffet." So auch Voltaire: „L'Europe ne serait ai\jourd'bui qu'une 
vaste cimetiäre, si la philosophie n'avait ^touff^ le fanatisme et 
Tenthousiasme." 

Dagegen ist die Bedeutung der philosophischen Ideen für 
Jouffroy nicht so gross, wie für Voltaire : „L'humanit^ ne serait 

*) „L'histoire au fond est un probl^me de psychologie*. De Tin- 
telligence. 

•) Vgl. RochoU, Philosophie der Gesohichte. 



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— 90 — 

pas immobile s'il n'y avait point de philosophes. Sans eux, le& 
r^volutions se feraient, mais ils se produiraient plus lentement.^ 
Doch hindert ihn dies nicht, den Ideen im allgemeinen den 
gründlichsten Einfluss in der Geschichte zuzuschreiben: „En 
definitive, la passion n'agit qu'ä la surface de Thistoire des 
peuples, le fond appartient aux id^es.^ Ward sieht m unserem 
innersten Streben zur Glückseligkeit den Hauptgrund der ge- 
schichtlichen Bewegung : „The whöle philosophy of human pro- 
gress, or dynamic sociology may, therefore, be briefly epitomised 
in a few words: the desire to be happy ist the fundamental 
stimuly which underlies all social movements, and has carried 
on all past moral and religions Systems." 

Taine beschränkt sich nicht auf die Hervorhebung allge-^ 
meiner psychologischer Kräfte, erfordert vielmehr das eingehendste 
Studium spezieller pathologisch-psychologischer Erscheinungen, 
die er als notwendige Vorbedingung für das Verständnis einzelner 
geschichtlicher Epochen und Völker betrachteti So sagt er: „Je- 
ne crois qu'un historien puisse avoir une id^e nette de linde 
brahmanique et boudhistique, s'il n'a pas Studie au prdalable 
Textase, la catalepsie, Thallucination et la folie raisonante." Ein 
neuester französischer Sociologe, Tarde, deduziert aus einer 
einzigen psychologischen Eigenschaft — aus der Nachahmungs- 
f&higkeit — die ganze Sociologie, die bei ihm mit der Philosophie 
der Geschichte zusammenfilllt : „L'ötre social, en tant qu'il est 
social, est imitateur par essence et l'imitation joue dans les so- 
ci^t^s un röle analogue ä celui de Thöridite dans les Organismen 
ou de Tondulation dans les corps." 

Von den Sätzen ausgehend, dass jede Aehnlichkeit eine 
Folge der Wiederholung („toutes les similitudes sont dues ä des 
r^pötitions") und dass jede Produktion eine Reproduktion dar- 
stelle („Chaque fois que produire ne signifie point reproduire^ 
tout devient tön^bres pour nous, sans nulle clarte"), sieht er im 
geschichtlichen Prozesse nichts, als einen Nachahm ungsprozesa 
und versucht die Schnelligkeit der Verbreitung — nach seiner 
Aujffassimg Nachahmung — geschichtUcher Ideen in einer ma- 
thematischen Formel auszudrücken. Diese Theorien sind zur 
Kennzeichnung der psychologischen Richtung besonders inter- 
essant, als Beweis, dass diese Richtung sich nicht notwendig 



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— 91 — 

nur auf die allgemeinen und scheinbar gut bekannten psycho- 
logischen Eigenschaften stützen kann. 

Als ein bedeutender Portschritt in der psychologischen 
Richtung; der epochemachend für die Psychologie ist, darf der 
üebergang von der Individualpsychologie zur Kollektivpsychologie 
betrachtet werden. 

Die von Lazariis 1861 begründete und sich seither ver- 
hältnismässig rasch über alle Kulturländer verbreitende Völker- 
psychologie sieht die Grundlage der Geschichte nicht in der 
Psychologie des Einzelnen, sondern in der nationalen und gesell- 
schaftlichen Gemeinschaft, In den „Einleitenden Gedanken über 
Völkerpsychologie" lesen wir Seite 19 folgendes: „Die Natur- 
iorschung hat eine doppelte Reihe von Disziplinen entwickelt, 
nämUch erstlich die beschreibende Naturgeschichte, wozu Mine- 
ralogie, Botanik und Zoologie, aber auch Astronomie und Geologie 
gehören. Neben diesen aber, parallel laufend und sie begründend, 
stehen die rationalen Disziplinen der Naturlehre, nämlich die 
Physik und Chemie, die Pflanzen- und Tier-Physiologie, und 
endlich die Mathematik. Während die erste Reihe ein natür- 
liches Leben und Sein, die vorhandenen Dinge, das Reich der 
Wirklichkeit nach den in ihm hervortretenden Formen beschreibt , 
entwickelt die andere Reihe die allgemeinen Gesetze, nach wel- 
chen diese. Formen der Wirklichkeit entstehen und vergehen, 
sucht die abstrakten Urelemente und Elementarkräfte der Natur 
auf; jene beobachtet, diese experimentiert. Die Betrachtung des 
Geistes muss notwendig eine analoge doppelte Wissenschaft er- 
zeugen. Nun entspricht aber die Geschichte der Menschheit nur 
der beschreibenden Naturgeschichte; sie ist Darstellung der 
gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes. Wird sie nun 
nicht auch eine der synthetischen Naturlehre parallel laufende 
Disziplin fordern? Wird sie nicht einer Darstellung der in der 
Geschichte waltenden Gesetze bedürfen, um synthetisch begründet 
und begriffen werden zu können? Wo ist denn aber die Phy- 
siologie des geschichtUchen Lebens der Menschheit? Wir ant- 
worten: in der Völkerpsychologie. Wie die Biographie der 
einzelnen Persönlichkeit auf den Gesetzen der individuellen 
Psychologie beruht, so hat die Geschichte, d. h. die Biographie 
der Menschheit, in der Völkerpsychologie ihre rationale Begrün- 
dimg zu erhalten. Die Psychologie in ihren beiden Zweigen hat 



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— 92 — 

also für Biographie und Geschichte zu leisten, was die Physio- 
logie für die Zoologie." 

Eine besondere Abart der physiologisch-psychologischen 
Richtung ist die Rassentheorie, auf die Geschichte angewendet, 
die in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse den Er- 
klänmgsgrund der Geschichte jedes Volkes sieht Diese 
Richtung, die für die physiologische Tendenz in der Geschichte 
besonders günstig ist, sieht in der letzteren hauptsächlich einen 
Rassen- und Nationenkampf (vgl. Gumplowicz in seinem „Rassen- 
kampf"). 

Die physiologisch-psychologische Richtung untersucht die 
Ursachen und Motive der menschlichen Handlungen, sie geht 
vom Menschen aus. Sie hat also den Vorzug vor den andern 
zwei Richtungen, dass sie den einzig aktiven Paktor in der 
Geschichte nach seinen Bewegungsgründen zu erklären sucht. 
Sie scheint auf das primum movens der Geschichte unsere Auf- 
merksamkeit zu richten : kennen wir die Bestrebungen und Ab- 
sichten des Menschen, so scheinen wir die geschichtlichen 
Handlungen, die die Verwirklichung dieser Bestrebungen dar- 
stellen, in ihrem innem kausalen Zusammenhange erkannt zu 
haben. 

Vor allem kann von zwei Seiten gegen diese Erklärungs- 
weise Einspruch erhoben werden : von der theologisch-providen- 
tiellen, wie von der metaphysischen Geschichtsauffassung. Der 
menschliche Wille, seine Bestrebungen, seine Leidenschaften und 
Ideen sind nach dieser Auffassung keine letzten Ursachen. OM 
nach der ersteren, die metaphysische Idee nach der letzteren, 
sind die Ursachen. Der menschliche Wille darf danach nur als ein 
Werkzeug dieser höhern Mächte betrachtet werden. 

Metaphysisch der Methode nach ist auch diejenige Rich- 
tung, die den gesamten geschichtlichen Prozess unter dem 
Namen „des objektiven geschichtlichen Prozesses^ hypostasiert 
und den menschlichen Willen nur als eine vollziehende Instanz 
der objektiven geschichtlichen Macht betrachtet. Mag der spe- 
ziellere Erklärungsgrund des geschichtlichen Prozesses der denk- 
bar konkreteste sein (wie zum Beispiel die Produktion imd der 
Austausch materieller Güter), eine objektive über dem mensch- 
lichen Willen stehende historische Macht, ist ein rein metaphy- 
sisches Wesen, wenn sie etwas mehr als einen konventionellen 



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— 93 — 

Namen für eine Zusammensetzung gegenwärtiger oder vergangener 
Willensäusserungen und menschlicher Kräfte darstellen soll. Wenn 
wir vom providentiellen* und metaphysischen Standpunkt absehen^ 
so bleibt uns nichts übrig, ausser dem Menschen, auf das wir in t 
letzter Instanz die geschichtUehe Bewegung zurückführen können^ 
als ihren aktiven Bewegungsgrund. 

Dadurch wird keineswegs die Willkür in die Geschichte 
hineingeführt imd die Allmacht des einzelnen zufalligen Willens 
auf den geschichtlichen Thron erhoben. Die Schranken mensch- » 
lieber Thätigkeiten, wie menschlicher Kräfte sind auch diejenigen 
der geschichtUchen Wirkimg des Individuums und der Gesell-^ 
Schaft. 

Die individuellen Kräfte des Einzelnen werden vervielfältigt 
und wachsen mit staunenerregender Schnelligkeit, durch die 
Hineinziehung dieser Kräfte in eine sociale Kombination oder 
Cooperation, durch die Anwendung objektiver Naturkräfte. Aber 
auch dieses Wachstum hat seine Gesetze, folglich seine Schran- 
ken. Diese Kräfte, wie ihre gesetzmässige Entwicklung und 
Zusammensetzung im Zusammenhang mit den geschichtlichen 
und objektiven Paktoren zu untersuchen, dürfte eine der Haupt- 
aufgaben der physiologisch-psychologischen Richtung sein. Durch 
die Lösung dieser Aufgabe wird die Philosophie der Geschichte 
um die, wie in theoretischer so auch praktischer Beziehung, 
wichtigsten Ergebnisse bereichert werden. 

Die physiologisch-psychologische Richtung in der Philoso- 
phie der Geschichte ist noch von einer andern Seite be- 
trachtet, von grossem theoretischem wie praktischem Werte. 
Diese Richtung ist mehr als irgend eine andere geeignet, die 
Interessen des Individuums nicht ausser Acht zu lassen. Indem 
die physiologisch-psychologische Richtung von Menschen aus- 
geht, muss sie auch natürlicherweise zum Menschen zurück- 
kehren, sich immer und überall die Frage stellen : inwiefern der 
gegebene geschichtliche Zusammenhang, die gegebene Kombi- 
nation individueller und socialer Kräfte, die Entwicklung der 
Menschheit begünstigt und sein irdisches Glück fördert. Der 
Geschichtsphilosoph darf nie übersehen, dass nicht der Mensch 
für die Geschichte, sondern die Geschichte für den Menschen 
da ist. Alles in der Geschichte hat für uns immer so viel 
Wert, inwiefern es menschlichen Bedürfnissen und Idealen 



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— 94 — 

entspricht. Wenn wir auch die Geschichte rein objektiv nach 
ihrem kausalen Zusammenhange betrachten, so geschieht es auch 
des Menschen wegen : erstens weil die wissenschaftliche Betrach- 
tung, seinen Wissensdrang befriedigend, das Glück des Indivi- 
duums direkt fördert ; zweitens weil wir die feste, durch Erfah- 
rung bestätigte Ueberzeugung haben, dass, je mehr wir in den 
geschichtlichen Zusammenhang eindringen und ihn kennen 
lernen, desto mehr Möglichkeit vorhanden ist, imsere geschicht- 
lichen und socialen Ziele zu erreichen oder ihre Erreichung zu 
beschleunigen. Bei dem grossen positiven geschichtsphilosophi- 
schen Werte der physiologisch-psychologischen Richtung entbehrt 
dieselbe aber nicht, wenn sie einseitig durchgeführt wird, vieler 
negativer Momente, gleich der schon von uns betrachteten phy- 
sisch-klimatischen Richtung. 

Die physiologisch-psychologische Richtung läuft Gefahr der 
Atomisieruhg des geschichtlichen Prozesses, der Zurückführung 
der grössten geschichtlichen Resultate auf die kleinsten indivi- 
duellen Gründe, anheimzufallen. So finden wir Anhänger dieser 
Richtung, die mit einer triumphierenden Selbstgefälligkeit den 
Gang der Geschichte, z. B., von der Form der Nase Cleopatras 
oder von den Magenkrämpfen eines Königs abhängig machen. 
Mag diese paradoxe Gegenüberstellung von unbedeutenden „Ur- 
sachen" und bedeutenden Polgen einen gewissen Effekt hervor- 
rufen, das Verständnis der Geschichte fördert sie keineswegs. 
Und die scharfe Kritik W. Humboldts der psychologischen 
Richtung trifft vollkommen auf diese Art psychologischer Ge- 
schichtserklärungen zu. So sagt derselbe : ,Sie ist am wenigsten 
welthistorisch, würdigt die Tragödie der Weltgeschichte zum 
Drama des Alltagslebens herab, reisst mit Leichtigkeit die ein- 
zelnen Begebenheiten aus ihrem Zusammenhange imd an Stelle 
des Weltschicksals setzt sie ein kleinliches Getriebe persönlicher 
Beweggründe.*^ Dieser Hervorhebung des Zufalls in der Geschichte 
(^Sa Majestö le Hazard" Friedrichs des Grossen) gegenüber muss 
immer die schon oben angeführte Entgegnung Montesquieu's, 
nach der der Zufall selbst nicht zufällig eine Rolle in der 
Geschichte spielen kann, geltend gemacht werden. Wenn die 
klimatisch-physiologische Richtung die Bedeutimg des Indivi- 
duums oft in den Hintergrund zurückdrängt, so begeht die phy- 
siologisch-psychologische Richtung sehr oft den entgegengesetzten 



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— 95 — 

Fehler: sie überschätzt die gescjiichtliche Bedeutung des ein- 
aebien Individuums und zwar bestimmter einflussreicher Indivi- 
duen. Wenn auch diese Ueberschätzung, msofern sie die indivi- 
duelle Thätigkeit und Initiative fördert, von grossem praktischem 
Nutzen sein kann ; wissenschaftlich aber ist sie ebenso unhaltbar, 
wie die ihr entgegengesetzte geschichtsphilosophische Tendenz. 
Zwei folgende negative Momente der physiologisch-psycho- 
logischen Richtung von der grössten Bedeutung sind zwar nickt 
mit Notwendigkeit an diese Richtung als solche gebimden, 
verdienen aber ihrer allgemeinen Bedeutung wegen die grösste 
Aufmerksamkeit. Erstens ist die physiologisch-psychologische 
Richtung geneigt, den Menschen als isoliert, selbständig und 
unabhängig zu betrachten. Sie sieht im Individuum ihrem Stand- 
punkt gemäss eine vollendete Einheit, übersieht [aber vielfach 
die unzähUgen, manchmal allzu feinen und der oberflächlichen 
Analyse schwer zugänglichen tausendfachen Fäden, die diese 
Einheit mit der sie umschUessenden Kollektivität zusammenhält 
und verknüpft. Der Staat, die Nation, die Gesellschaft scheinen 
den Vertretern dieser Richtung allzu oft blosse Abstraktionen 
3^x sein imd nichts mehr als Abstraktionen. Dieses Verkennen 
realer geschichtlicher Kräfte, die vorzugsweise von der noch zu 
betrachtenden entgegengesetzten kulturhistorischen Richtung 
hervorgehoben werden, kann und muss in der Philosophie der 
Oeschichte zu denselben Missverständnissen und groben Fehlem 
führen, wie die analogen Richtungen und Konstruktionen in der 
politischen Oekonomie, die unter dem zutreffenden Namen „Ro- 
binsonaden" bekannt sind. ^) 

^) Denselben Ursprung hat der Grundirrtura des theoretischen anar- 
ohistiscben Kommunismus wie er in den bemerkenswerten Arbeiten der 
besten und begabtesten Vertreter dieser Theorie, wie Bakunin, Jean 
Grave, Elis^e Reolus und Peter Krapotkin formuliert worden ist. Sie 
konnten alle insgesamt dem ihnen eigentümlichen Widerspruche nicht 
entgehen: die allseitige von ihnen selbst zugestandene und gewürdigte 
Abhängigkeit des Individuums von der Kollektivität einerseits imd die 
Fordenmg der allzugrossen Autonomie desselben, wie ihre besondere 
Hervorhebung des Freibeitsprincips, als absoluten Gesellsohaftsprincips 
beweist, andererseits. Schon die. Notwendigkeit der Beschränkung unserer 
Freiheit durch die unserer Mitmenschen, — eine Beschränkung, welche 
die anarchistischen Theoretiker doch zugeben, trotz vielfacher absichtlicher 
Verdrehung ihrer Gegner — dürfte uns davon abhalten, die individuelle 
Freiheit als oberstes Princip einer Gesellschaftslehre aufzustellen. 



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— 96 — 

Das zweite negative Moment der physiologisch-psycholo- 
gischen Richtung scheint uns nicht minder wichtig zu sein. 
Indem diese Richtung vom Menschen und seinen Bedürfnissen 
und Bestrebungen ausgeht, so sind ihre Vertreter oft geneigt^ 
nur die allgemeinsten menschlichen Triebe, die sie als allgemein 
bekannt voraussetzen, in Betracht zu ziehen. Ihre geschichts- 
philosophischen Betrachtungen drohen in Gemeinplätze und all- 
gemein abstrakte Auseinandersetzungen auszuarten. Es ist kaum 
notwendig, hier spezielle Beispiele anzuführen. Dem nur einiger- 
massen mit der umfangreichen geschichtsphilosophischen Litte- 
ratur Vertrauten dürfte bekannt sein, in welchem Verhältnisse 
die Quantität der geschichtsphilosophischen Schriften zu ihrer 
Qualität steht. Hätte man über die Entwicklung unseres Gebietes 
nach der qtmntitativen Masse des Geleisteten geurteilt, so würde 
die Philosophie der Geschichte als eine der fortgeschrittesten 
Disziplinen allgemein anerkannt und betrachtet werden, was, wie 
schon hervorgehoben, keineswegs der Fall ist. 

Dass diese negativen Eigenschaften nicht notwendig mit 
der Natur der physiologisch-psychologischen Richtung zusammen- 
hängen, scheint uns auf der Hand zu liegen. Nichts hindert die 
physiologisch-psychologische Richtung den Menschen in seiner 
allseitigen Abhängigkeit von dem ihn umschliessenden socialen 
wie natürlichen Milieu zu betrachten. Die Entwicklung der 
modernen Psychologie liefert dieser Richtung eine solide imd 
breite wissenschaftüche Basis auch für geschichtsphilosophische 
Untersuchungen. Die physiologisch-psychologische Richtung er- 
reicht die Höhe dieser Entwicklung, indem sie einerseits die 
Kollektivpsychologie in ihr Bereich zieht, andererseits die Re- 
sultate der psychologischen Patologie benutzend. In der völker- 
psychologischen Richtung von Lazarus und den schon erwähnten 
Arbeiten von Nicolai Michailowsky (analoge Untersuchungen 
finden wir auch in der westeuropäischen Litteratur) sehen wir 
einen glänzenden Beweis dieser Möglichkeit des Fortschrittes der 
Philosophie der Geschichte auch nach dieser Richtung. 

Nach dem oben ausgeführten fällt von selbst weg die vermemt- 
hohe Notwendigkeit für die physiologisch-psychologische Richtung 
zu allgemein abstrakten Auseinandersetzungen und allbekannten 
Gemeinplätzen ihre Zuflucht zu nehmen. Nichts ist nach der 
modernen psychologischen Aufl^assung komplizierter als gerade die 



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— 97 — 

scheinbar allgemein bekannte physiologisch-psychologische Or- 
ganisation des Menschen. Eine Theorie, die diese Organisation 
in ihrer Entioicklung und Wechselwirkung mit den objektiven 
Verhältnissen, deren Produkt und Produzent sie zugleich ist, 
zur Grundlage hat, kann gewiss nichts weniger als einfach und 
selbstverständlich sein. ^) 

Eine Reihe von Arbeiten auf diesem Gebiete, von denen 
wir nur einige erwähnt haben, beweisen es am besten. 

Leider können wir unserer allgemeinen Aufgabe gemäss hier 
auf diese Arbeiten nicht näher eingehen, wir behalten es uns 
für eine bevorstehende geschichtsphilosophische Arbeit vor. 

Allgemein betrachtöt, ist die physiologisch-psychologische 
Richtung insofern einseitig und beschränkt, als sie von einer 
Hauptquelle der geschichtlichen Paktoren, vom Menschen aus- 
geht und den andern zwei Hauptquellen der geschichtlichen 
Bewegung weniger Beachtung schenkt. 

Diese Lücke in der physiologisch-psychologischen Geschichts- 
auffassung sucht die dritte Hauptrichtung der wissenschaftlichen 
Philosophie der Geschichte, die wir als die kulturhistorische be- 
zeichneten, teilweise auszufüllen. Im Gegensatze zu der physio- 
logisch-psychologischen Richtung lenkt die kulturhistorische 
Richtung ihre ganze Aufmerksamkeit nicht auf das einzelne- 
Individuum, sondern auf die sociale Gruppe, auf die Gesamtheit, 
auf historisch überlieferte Kulturformen, und betrachtet das Indivi- 
duum ledigHch als Produkt derselben. Das Individuum als unab- 
hängiges Wesen ist für diese Richtung ein Unding. Der Mensch 
wird als Produkt seiner Zeit, als Endergebnis der geschichtlichen 
Entwicklung aufgefasst. Schärfer als irgend ein anderer spricht 
diese allgemeine Grundlage dieser Richtung der Sociologe Gum- 
plowicz aus: „Nicht der einzelne dichtet, es dichtet in ihm die' 
poetische Stimmung seiner Zeit und seiner socialen Gruppe, nicht 
der einzelne denkt, es denkt in ihm der Geist seiner Zeit und 
seiner socialen Gruppe , . . Geschichtliche Ereignisse werden nicht 
von Menschen gemacht . . . ebenso wenig, wie Naturereignisse 
von Gott. . . Geschichte und Natur sind nur in Massenwirkungen 
sichtbar.^ 



*) Als Beispiel einer Anwendung feiner psychologischer Analyse 
auf gesohiohtsphiloBophische Untersuchungen können u. a. SimmeVs 
Arbeiten dienen („Sociale Differenzierung** u. a.). 

Ch. Rappoport, Die Hauptrlchtungen der Philosophie. 7 



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— 98 — 

So auch Bastian : »Von allen Seiten, aus allen Kontinenten 
tritt uns unter gleichartigen Bedingungen ein gleichartiger 
Menschengedanke entgegen, mit eiserner Notwendigkeit, wie die 
Pflanze je nach den Phasen des Wachstums Zellgänge oder 
Milchgefässe bildet, Blätter hervortreibt etc.^ 

Auf Grund einer biologisch-organischen Auffassung der 
Gesellschaft kommt auch Schäffle zu demselben Ergebnisse. So 
sagt er in seinem „Bau und Leben des socialen Körpers": „So 
ist von Anfang, bleibt und wird immer mehr der einzelne ein von 
Natur und durch dieselbe ein gesellschaftKches Wesen. Die klare 
und wirkliche Einsicht in diese aristotelische Wahrheit wird den 
Sociologen vor der Gefahr bewahren, welche durch die natur- 
wissenschaftliche, atomistische Neigung unserer Zeit so nahe 
gelegt ist, das ganze über den einzelnen, den socialen Körper 
über der socialen Zelle zu vergessen und hiemit dem einseitig 
atomisierenden Individualismus zu huldigen. Nicht einmal das 
Individuum für sich lässt sich, losgelöst vom ganzen, vollständig 
erklären, geschweige denn das ganze aus dem abgelösten Atom. 
In der Gesellschaftswissenschaft so wenig als in der Naturwissen- 
schaft kann sich die Erklänmg mit dem Begriff des Individuums 
begnügen, vielmehr gerade die kollektivistische Anlage, Punktion 
und Erhaltung des Individuums für und durch das Gesellschafts- 
ganze stellt sich in den Vordergrund .... Der Volksgeist er- 
erscheint als ein durch die ganze geschichtliche Geistesarbeit an- 
gehäuftes, fortgesetzt überliefertes, in jeder Generation modifi- 
ziertes, vielseitig gegliedertes System geistiger Energien und 
Spannkräfte, welche über alle aktiven Elemente des Volkskörpers 
verteilt, die einzelnen zu einer geistigen Kollektivkraft vereinigen." 
Die Völkerpsychologie von Lazarus hat dieser Auffassimg des 
Individuums eine neue psychologische Basis gegeben. So sagt 
Lazarus : „Die Psychologie lehrt, dass der Mensch diu^chaus und 
seinem Wesen nach gesellschaftlich ist, d. h. dass er zum gesell- 
schaftlichen Leben bestimmt, weil er nur im Zusammenhang mit 
Seinesgleichen das leisten und werden kann, wie er zu sein und 
zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist. Auch ist in 
der That kein Mensch das, was er ist, rein aus sich geworden, 
sondern nur aus dem bestimmenden Einflüsse der Gesellschaft, 
in der er lebt. Jene unglücklichen Beispiele von Menschen, 
welche in der Einsamkeit des Waldes wild aufgewachsen waren^ 
hatten vom Menschen nichts als den Leib, dessen sie sich nicht 



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— 99 — 

einmal menschlich bedienten ; schrieen wie das Tier und giengen 
weniger als sie kletterten und krochen. So lehrt traurige Er- 
fahrung, dass wahrhaft menschliches Leben, geistige Thätigkeit 
nur möglich ist durch das Zusammen- und Ineinanderwirken der 
Menschen. Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugnis der 
menschlichen Gesellschaft. Hervorbringung des Geistes aber ist 
das wahre Leben und die Bestimmung des Menschen; also ist 
dieser zum geraeinsamen Leben bestimmt und der einzelne ist 
Mensch nur in der Gemeinsamkeit, durch die Teilnahme an dem 
Leben der Gattung." 

Diese Auffassung des Individuums bildet auch einen inte- 
grierenden Bestandteil der marxistischen Geschichtsauffassung, 
die im ganzen Geschichtsprozess das ökonomische Element für 
die über das einzelne Individuum herrschende historische Macht 
erklärt. 

Vielleicht nicht ohne den Einfluss von Marx überträgt auch 
in neuerer Zeit diesen Gedanken Fr. A. Lange auf das Gebiet 
der Geschichte der Philosophie. So heisst es in seiner „Geschichte 
des Materialismus*^ S. 42: ^Es giebt keine aus sich selbst, sei 
es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde 
Philosophie, sondern es giebt nur philosophierende Männer, welche 
mit samt ihren Lehren Kinder der Zeit sind." Von Hegel, dem 
bedeutendsten Representanten dieser Richtung, haben wir schon 
gesprochen. 

Diese Auffassung des Individuums lässt sich auf das klassische 
Altertum zurückführen, wo der Staat, die Gesamtheit, über dem 
Individuum stand. Schäffle nennt auch diese Auffassung eine 
aristotelische. 

Und der neueste Aristoteliker Adolf Trendelenburg giebt 
diesem Gedanken folgenden Ausdruck : „An dem reichen Inhalte 
der Idee gemessen, ist der einzelne nur der potentielle Mensch, 
erst der Staat in der Geschichte des Volkes ein aktueller. Dieser 
allgemeine Begriff des Staates ist die Seele des einzelnen Volkes.^ 

Erkenntnistheoretisch kann diese Auffassung des Indivi- 
duums einerseits als eine empirisch-sensualistische bezeichnet 
werden, da sie das Individuum selbst als tabula rasa betrachtet, als 
„unbeschriebenes weisses Papier**, das erst durch die geschicht- 
liche Erfahrung mit einem bestimmten Inhalt ausgefüllt wird; 
andererseits aber führt diese empirisch-sensualistische Auffassung 
des Einzelnen zur abstrakt-idealistischen oder, genauer, zur meta- 



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— 100 — 

physischen Hypostasierung der Gesamtheit, wie schon oben her- 
vorgehoben worden. 

Wenn alles auf die Gesamtheit, auf die sociale Gruppe, auf 
die geschichtlichen Kulturformen zurückgeführt wird, so liegt die 
Frage nahe, wodurch sich der Charakter der Gesamtheit, der 
socialen Gruppe, des geschichtlich Ueberlieferten selbst, erklärt 
Diese Frage bleibt von der kulturhistorischen Richtung unbe- 
antwortet. Ihre Geschichtserklärung ist streng genommen eine 
rein formale. Der innere Zusammenhang zwischen der Kollek- 
tivität und dem Individuum bleibt in tiefer Dunkelheit. Der schon 
citierte Sociologe Gumplowicz hat wenigstens das Verdienst, dieser 
Unerklärbarkeit sich bewusst zu sein. In seinem „Grundrisse der 
Sociologie" heisst es : „Nun können wir wohl den Zusammenhang 
zwischen der Gesamtheit des geistigen Lebens . . . begreifen. 
Was uns aber fehlt, das ist die mikroskopische Betrachtung, wie 
jeder einzelne mit dieser socialen Entwicklungsstufe zusammen- 
hängt und wie diese letztere das individuelle Denken, Fühlen 
und Handeln beeinflusst." 

Der Grundirrtum der kulturhistorischen Richtung besteht 
darin, dass dieselbe einen Komplex von verschiedenen Ursachen 
und Wirkungen, der erst durch Analyse seiner einfachsten Be- 
standteile und deren Zusammenhang zu erklären ist, als etwas 
Gegebenes und Bekanntes voraussetzt, und das, was diesen 
Komplex, die Gesellschaft, die Kulturformen, allein erklären kann, 
das verschiedenen Einflüssen imterliegende imd ebenso viel ver- 
schiedene Wirkungen ausübende Individuum, gleich Null setzt 
oder als selbstverständliche Voraussetzung des geschichtlichen 
Prozesses betrachtet. 

Die kulturhistorische Richtung kehrt also die natürliche 
Erklärungsweise um : Sie beginnt mit dem Kompliziertesten, mit 
der Kollektivität, um beim verhältnismässig Einfacheren, beim 
Individuum, anzulangen. Anstatt das geschichtlich Gewordene 
als Produkt einer Anzahl von gemeinsamen und aufeinanderwir- 
kenden Faktoren zu betrachten, fasst diese zur Zeit vielleicht die 
verbreitetste geschichtsphilosophische Richtung, dasselbe als Aus- 
gangspimkt aller ihrer Erklänmgen auf. Sie ist daher nicht im- 
stande, das geschichtUch Gewordene selbst zu erklären, ebensowenig 
wie die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesamtheit oder von 
den ihn umgebenden Kultur- und Lebensformen abzuleiten. Diese 



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~ 101 - 

Abhängigkeit jeder praktischen und theoretischen Wirkung vom 
socialen Milieu, wie von der ganzen geschichtlichen Vergangen- 
heit hervorgehoben und nachgewiesen zu haben, ist das nicht 
niedrig zu veranschlagende Verdienst der kulturhistorischen 
Richtung. 

Es ist nicht zu bezweifeln, was selbstverständlich ist und 
doch oft übersehen worden, dass die Philosophie, innerhalb eines 
gewissen Zeitraumes sich entwickelnd, den Einflüssen der Zeit- 
ereignisse, wie der Zeitströmimgen mit Notwendigkeit unterliegen 
muss. Dies gilt von der Philosophie wie von jeder andern Art 
theoretischer Thätigkeit. Es giebt elementarste und nicht weg- 
zuleugnende Bedingungen, die jeder dauernden imd gesicherten 
theoretischen Thätigkeit vorhergehen müssen^ dieselbe ja erst 
mögUch machen. Der römische Legionär, indem er, ohne es zu 
wissen, eines der grössten Verbrechen an der Wissenschaft be- 
gangen hat, gab dem genialen Archimedes bei Syracus den 
brutalsten Beweis, dass man nicht straflos zu jeder Zeit sich der 
Wissenschaft widmen könne. Der Friede, wie ein gewisser Grad 
materiellen Reichtums sind unerlässliche Bedingungen der Ent- 
wicklung, wie der Portexistenz wissenschaftlicher Thätigkeit. 
Schon im Altertum war dieses thatsächliche Verhältnis zwischen 
der kulturhistorischen Umgebung und der Wissenschaft klar 
begriffen und ausgesprochen worden. Die Rechtfertigung der 
Sklaverei und noch mehr der ganzen socialen Gestaltung ihrer 
Zeit durch Aristoteles und Plato ging bewusst von diesem 
Gedanken aus. In neuerer Zeit legte Th. Buckle in seiner „history 
of civilisation^ besonderes Gewicht auf dieses Verhältnis. Nur 
so weit hat die kulturhistorische Richtung Recht. Wir würden 
aber das volle und objektive Verständnis des geschichtlichen 
Prozesses uns ganz unmöglich machen, wenn wir einige elementare 
und meist selbstverständUche Bedingungen der geschichtlichen 
Entwicklung zu alleinherrschenden Faktoren derselben erhöben. 
Die natürlichen Bedingungen müssen ebenso berücksichtigt wer- 
•den, wie die kulturhistorischen. 

Dieser Satz wäre selbstverständlich und die Erinnerung an 
ihn überflüssig, wenn die zur Zeit hie und da herrschenden 
kulturhistorischen Richtungen ihn nicht so häufig zu unterschätzen 
oder sogar zu ignorieren suchten. Wenn der so tief und weit 
blickende F. A. Lange, wie die oben angeführte Stelle es be- 



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-TF^ 



— 102 — 

weist, sich dieser Einseitigkeit schuldig machen konnte, so beweist 
es eben, wie leicht dieser Irrtum sich dann erst bei mittelmässigen 
und weniger objektiv denkenden Geistern fortpflanzen kann imd 
sich wirklich fortgepflanzt hat. 

Die natürUche Reaktion gegen die vorherigen historisch- 
philosophischen Richtungen, die das kulturhistorische Moment 
übersahen, kann bis zu einem gewissen Grade diese Einseitigkeit 
in der Geschichtsauffassung entschuldigen — sie rechtfertigen 
kann sie aber ebenso wenig, wie ein Irrtum durch einen andern 
beseitigt werden kann. Die kulturhistorische Umgebung ist alles^ 
der Mensch nichts — dies ist die Tendenz der kulturhistorischen 
Richtung, wenn sie auch selten mit solcher Offenheit und Kon- 
Sequenz formuliert wird. 

Wenn zur Erklärung des Abhängigkeitsverhältnisses — imd 
dies auch nur einer Reihe geschichtlicher Einwirkungen — 
des einzelnen in der Gesellschaft diese Richtung die geeignetste 
ist, so hat sie für die Erklärung der geschichtlichen Bewegung^ 
des geschichtlichen WerdenSj mit andern Worten für die eigent- 
liche Hauptaufgabe der Philosophie der Geschichte nur einen 
negativen Wert. Sie lenkt nämlich die Aufmerksamkeit ab von 
den zwei ursprünglichen geschichtsphilosophischen, nicht weiter 
zurückzuführenden Hauptfaktoren — die wir allgemein als Natur 
und Geist bezeichneten — um es auf das gemeinsame Produkt 
beider, auf das Gewordene zu konzentrieren. Dazu nhnmt die 
kulturhistorische Richtung bisweilen Formen an, die noch aua 
andern Gründen sie für die Erklärung des thatsächlichen Ganges 
der Geschichte am wenigsten geeignet machen. Wir meinen die 
zur Gewohnheit gewordene Erklärungsform, dass diese oder jene 
geschichtliche Erscheinung; „ein Produkt ihrer Zeit" ist. Alles, 
was geschieht, geschieht notwendig innerhalb eines Zeitraumes. 
Die wirkenden Individuen machen von dieser selbstverständlichen 
Regel keine Ausnahme. Wir sind also über einen geschichtlichen 
Vorgang nach der Erklärung durch „die Zeit" so wenig ge- 
schichtsphilosophisch unterrichtet, wie vor dieser Erklärung* 
Wir können diesen Vorgang ebensowohl den wirkenden Indivi- 
duen, also den subjektiven Momenten der Geschichte, wie den 
objektiven Verhältnissen zuschreiben, da der Zeitgeist als Re- 
präsentant beider betrachtet werden kann. 



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— 103 — 

Ein wichtiges Ergebnis erhalten wir durch unsere kritische 
Abschätzung der drei Hauptrichtungen der wissenschaftlichen 
Philosophie der Geschichte, die wir nach ihren positiven wie 
negativen Seiten objektiv zu würdigen suchten. Dieses Ergebnis 
lässt sich folgendermassen kurz zusammenfassen : keine der drei 
Hauptrichtungen der wissenschaftlichen Philosophie der Geschichte 
erschöpft den geschichtUchen Prozess. Jede von diesen drei 
Richtungen ist durch ein notwendiges Element der Gesamtheit 
der geschichtlichen Einwirkungen gegeben und insofesn eben- 
sowohl wissenschaftlich gerechtfertigt, wie von grosser geschichts- 
philosophischer Bedeutung. Nur in ihrer einseitigen Ausschliess- 
lichkeit kann jede dieser gekennzeichneten Richtungen eme 
negative Bedeutung für das Verständnis des geschichtlichen 
Prozesses erhalten, indem sie eine einzige Seite desselben auf 
Kosten aller übrigen hervorhebt. Wie diese drei unentbehrlichen 
Richtungen nicht eklektisch, sondern systematisch in Einklang 
zu bringen sind, ist ein äusserst wichtiges, noch ungelöstes ge- 
schichtsphilosophisches Problem. Hier wollen wir nur auf den 
Zusammenhang hinweisen, der zwischen dem Charakter des 
geschichtlichen Prozesses selbst, und dem Vorhaudensein dieser 
<irei verschiedenen Richtungen, existiert. 

Wie verschieden auch die wissenschaftlichen Auffassungen 
4er Geschichte sein mögen, in einem Punkte stimmen sie alle 
überein, nämlich in der Anerkennung der ungemeinen Kompli- 
ziertheit gesellschaftlich-geschichtlicher Vorgänge. So erklärt zu- 
treflFend Herbert Spencer ^ dass je unwissender jemand ist, desto 
einfacher erscheinen ihm gesellschaftlichen Vorgänge. Die Kom- 
pliziertheit der gesellschaftlichen Erscheinungen folgt von selbst 
bei Auguste Comte aus seiner Klassifikation seiner Wissenschaften. 
Auch für St. Mill, wie für alle andern bedeutendsten Denker 
der neuen Zeit, ist dieser komplizierte Charakter der socialen 
Erscheinungen eine selbstverständliche, des Beweises kaum be- 
dürfende wissenschaftliche Thatsache. Wenn wir hinzufügen, 
dass die gesellschaftlichen Erscheinungen nur einen Bestandteil 
* des ungeheuren von der Philosophie der Geschichte zu beherr- 
schenden Materials bildet, so erscheint die Kompliziertheit des 
geschichtsphilosophischen Gebiets in ihrer ganzen Grossartigkeit 
und scheinbaren Unüberwindlichkeit. 



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— 104 — 

/ 

Es ist daher durch die Natur der Sache selbst erklärlich^ 
dass die Geschichtsphilosophen nicht allen Seiten des geschicht- 
lichen Prozesses die gleiche Aufmerksamkeit und Gründlichkeit 
widmen konnten. Die ausschliessliche Beschäftigung aber mit dieser 
oder jener Seite des vielseitigen geschichtlichen Prozesses musste 
mit Notwendigkeit zur Hervorhebung und Bevorzugung eine» 
einzigen, dem Forscher näher liegenden und besser bekannten 
Bestandteils des ganzen führen. Dazu kommt die individuelle^ 
Beschränkung des Forschers, die als eine Folge der in neuerer 
Zeit unentbehrlichen Spezialisierung wissenschaftlicher Thätigkeit 
sich notwendig einstellte. Wir können sogar die empirische Be- 
obachtung anstellen^ wie mit dem wissenschaftlichen Spezial- 
gebiete eines jeden Forschers sich seine Geschichtsauffassung 
ändert. So huldigt der Philosoph Hegel dem Oeist oder objektiven 
Gedanken^ als dem Hauptfaktor der Geschichte. iSfcÄiZZer erklärt die 
Kunst als einen bedeutenden geschichtlichen Faktor, der Natur- 
forscher Dubois-Reymond betrachtet die Naturwissenschaften als 
den Hauptfaktor der Geschichte, der geniale Oekonomist Marx 
macht, wie Rogers, die ökonomischen Verhältnisse, der Darwinist 
die „natural selection", der Jurist Anton Menger die juridischen 
Normen zu der treibenden Kraft in der Geschichte. Wir könnten 
diese Beispiele noch vermehren, aber die schon angeführten- 
beweisen, wie häufig die von uns hervorgehobene Erscheinung 
auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte uns entgegentritt. 

Der in hohem Grade komplizierte Charakter der Geschichte 
bringt es mit sich, dass die grössten philosophischen Probleme, 
die die Geister gegen einander in Bewegung setzen, auf diesem 
Gebiete in einer veränderten oder oft sogar in derselben Form 
auftreten und sozusagen den Kampfplatz der philosophisch ge- 
trennten Parteien erweitem. Wir haben gesehen, wie das grosse 
Freiheitsproblem für die Philosophie der Geschichte eine zer- 
setzende Bedeutung erlangen kann. So wirkt auch der philoso- 
phische Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus auf 
dem Gebiete . der Philosophie der Geschichte weiter, indem er 
den Ausgangspunkt in der Erklärung der Geschichte entsprechend 
bedingt. Der konsequente Materialist ist mehr geneigt, von den 
konkreten Faktoren der Geschichte auszugehen, während der 
Idealist unstreitig den geistigen Eigenschaften des Individuums 
den Vorzug geben muss. 



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— 105 — 

Daher das feindliche Gegenüberstehen der von uns ge- 
kennznichneten Hauptrichtungen der Philosophie der Geschichte 
auch in Fällen, wo sie einander ergänzen könnten. Wie der 
Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus auf dem Ge- 
biete der Philosophie neue Nahrung erhält, so steht es auch mit 
allen andern philosophischen Hauptrichtungen. Wir haben schon 
^angedeutet, wie der Dogmatismus, der Skepticisraus und der 
Kriticismus ihre grosse Bedeutung für die Philosophie der Ge- 
schichte erlangen. Ebensowohl wird auch der grosse Streit 
zwischen Pessimismus und Optimismus mit erneuerter Energie 
nochmals auf dem Gebiete der Philosophie der Geschichte aus- 
gefochten. Die verschiedensten philosophischen Richtungen, die 
mit den Schlagwörtern Rationalismus, Spiritualismus, Empirismus 
kurz bezeichnet werden, wie auch diejenigen, die die Namen 
Pluralismus, Atomismus, Dualismus imd Monismus tragen, be- 
gegnen sich wieder auf dem geschichtsphilosophischen Gebiete 
und mehren die schon sonst genug^ zahlreichen Schwierigkeiten 
in der wissenschaftUchen Erforschung desselben. Sogar der be- 
rühmte Streit zwischen den NominaUsten und Realisten, der im 
Mittelalter so heftig die Geister bewegte, wiederholt sich in der 
neuesten Zeit auf unserem Gebiete in einer neuen Form des 
Problems der Wechselbeziehungen zwischen Individuum und 
Gesellschaft (s. Herbert Spencer IL Bd. „Sociologie"). So bedeu- 
tend sind die objektiven Hauptschwierigkeiten, um von den sub- 
jektiven hier nicht zu sprechen. 

Die Kritik der vorhandenen geschichtsphilosophischen Rich- 
tungen, wie die allgemeine Theorie der geschichtlichen Faktoren, 
die zusammen als eine Einleitung der Theorie des geschichtlichen 
Prozesses dienen sollen, müssen sich daher zu ihrer Aufgabe 
machen, diese wissenschaftlichen Schwierigkeiten, die uns auf 
dem Gebiete der Philosophie der Geschichte entgegenstehen, 
womöglich zu vermindern oder zu beseitigen. Dieses kann erreicht 
werden durch Eliminierung der schon überlebten Forschungs- 
methoden und Ausschüessung derjenigen einseitigen Richtungen, 
die, indem sie nur eine Seite des geschichtlichen Prozesses be- 
rücksichtigen, den Gang der Geschichte von einem Prinzipe aus 
(„Archimedischer Standpunkt*) zu erklären suchen. 

Die Möglichkeit einer solchen Eliminierung hoffen wir durch 
unsere Arbeit festgestellt zu haben. Von den drei Hauptmethoden, 



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— 106 — 

auf die wir alle anderen zurückgeführt haben (der providentiellen, 
metaphysischen und positiv-wissenschaftUchen), bleibt uns nur 
eine^ die positiv- wissenschaftliche, die die Geschichte erforscht, 
anstatt sie zu konstruieren, übrig. Sie ist also die einzig berechtigte 
Methode. Dem Inhalte nach lassen sich alle bedeutenden Richtimgen 
der wissenschaftlichen Philosophie der Geschichte ebenfalls aui 
dreiltichtungen zurückführen (physisch-klimatische, physiologisch- 
psychologische und kultiu^historische), die einander einseitig 
bekämpfen. Aus der Kritik dieser drei Richtungen hat sich als 
eine Aufgabe der Philosophie der Geschichte ergeben diese drei 
berechtigten Richtungen (insofern sie einander nicht ausschliessen) 
in einem einzigen System der Philosophie der Geschichte zu 
versöhnen. Ein solches System wird freilich nur dann möglich 
sein, 1) wenn die nötigen wissenschaftlichen Spezialarbeiten be- 
reits vorhanden sind. 



^) Daduroh ist selbstverständlich die einstweilige Benutzung des 
schon vorhandenen übrigens sehr ümfangreiohen und wertvollen Materials 
zur Erklärung des gesohiohtliohen Entwioklyngsprooesses und Aufstellung 
entsprechender, wenn auoh nicht den ganzen Process erschöpfender Ent- 
wicklungsgesetze, nicht im mindesten in Abrede gestellt. 



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Seite 4, Zeile 12, statt: keiner 



zu lesen: 



13, 



8, 



13, letzte Zeile 
16, Zeüe 17, 
32, 



20, 
32, 
53, 

64, 



27, 



11, 
10, 



aus 

Alinea 

ressemble 

Gumplowitz 

Lasaux 



nicht einer. 

von, 

Axiom. 

rasaemble, 

Gumplowicz. 

Lctaault. 



der gesohiohtliohen handeln, zu lesen: 
der geschichtlichen Enttoicklung handeln. 
Jauffroy, zu lesen: Jouffroy. 
for enver „ „ for ever. 



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1^ 



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Bemer Stadien zur PMosophie und ilirer GescUchte. 

Band IT. 



Hermufgegeben von 

Dr. Ludwig Stein, 

Profeesor an der UniTerBitHt Bern. 



Der Begriff der Entficklmig 

bei 

Nikolaus von Kues. 



Von 
I>r. O. K&stnei*. 




«yr.tct« 



Beim. 

Verlag von A. Siebert. 
1896. 



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^öe^'^ 



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Disposition. 

Seite 

Prolegomena: Weltstellung und Charakter der Philosophie 

des Nikolaus von Kues, Aufstellung des Themas . 1 — 4 

I. Historiseh-kritiseher Teil. 
Die Verwendung des Entwicklungsbegriffes auf dem 
Gebiete der: 

1. Kosmogonie (Gott u. Welt, Können u. Welt) 5—24 

2. Kosmologie (Organisation des Universums) . . 24 — 26 

3. Erkenntnistheoriö (Geist und Erkenntnis) . . 26 — 36 
axif Gnmd chronologischer Betrachtungsweise der 
Schriften kritisch dargestellt. 

n. Systematischer Teil. 

1. Zusammenstellung und Vergleichung der in Teil I 

gefundenen Einzelresultate 37 — 38 

2. Versuch, die allmählich sich vollziehende Umgestal- 

tung des Begriffes innerhalb des Kusanischen Systems 

auf Grund von Teil I nachzuweisen 38—39 

3. Die Gründe für die vielfach schwankende Verwendung 

des Begriffes: 

a) Einseitiges Interesse für das Wie der explicatio 39 

b) Doppelte Wertschätzung der Wirklichkeit 40—41 

4. Verhältnis des Cusanischen zu dem modernen Ent- 

wicklungsbegrifte 41 — 43 

5. Ergänzungsbedürftigkeit beider 43 — 44 

6. Inhaltliche Vereinigung beider erforderlich ... 44 

7. Die neuzeitliche Färbung, besonders hervortretend 

in der Wertschätzung 

a) der Welt 46. 

b) des Individuums (Anhang : Erziehung !) . . 45 — 47 

c) der Geschichte 47 — 48 

8. Das ontolog. Problem im Lichte der Cusan. explic. 48 — 49 

9. Zusammenfassendes Urteil 49 — 60 



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In seinem Buche „Die Philosophie des Nik. Cusan 

Erk^inen*^ regt R. Palckenberg zu dem lohnenden Versuche an, 
auf Grund chronologischer Betrachtungsweise der Schriften des 
Cusaners nachzuweisen, wie sich in seiner Philosophie Dogma 
und freies Denken, Altes und Neues, fortwährend begegnen und 
einschränken. Zu einem solchen interessanten, aber aus mehrfachen 
Gründen schwierigen Gesamtversuche, möchte die vorliegende 
Arbeit einen bescheidenen Beitrag liefern, indem sie das Problem 
der explicatio in der Philosophie des Nikolaus von Kues nach 
dem ausgesprochenen Gesichtspunkte zu untersuchen sich vor- 
nimmt. 

Doch bevor wir uns dieser Aufgabe zuwenden, erscheint 
es geboten, die Weltstellung der Philosophie des Cusaners vor- 
erst im allgemeinen darzuthun. Zu deren Verständnis aber ist 
eine kurze Würdigung des Zustandes, in dem sich die mittel- 
alterliche Wissenschaft am Anfang des 15. Jahrhunderts befand, 
unabweisbar. 

Untrennbare Einheit von kirchlicher Theologie und Philo- 
sophie, und der letzteren durchaus nur dienendes Verhältnis zu 
ersterer, diese beiden Momente zusammen machen den Charakter 
derjenigen Geistesrichtung des Mittelalters aus, die man Scholastik 
nennt. Aristoteles vornehmlich ist ihr Held. Denn der Formen- 
reichtum seines Systems bot willkommene Bausteine zum for- 
malöti Aufbau der an sich unfehlbaren Theologie. Und nun erst, 



Dr. KUstner, Der Begriff der Entwicklung bei Nikolaus von Kues. 



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— 2 — 

da das Reich der Natur zu einem blossen Werkzeuge, zu einer 
Vorschule der Gnade degradiert war, erschien das Reich der 
•Gnade gegen alle Uebergriffe des natürlichen Wissens gesichert. 
Das Natürliche wurde somit gewissermassen einer grösseren 
Totalität eingefügt. Diesen Grundgedanken bildete in gross- 
artigster Weise der gewaltige Denker Thomas von Aquino aus. 

Ein hiergegen reagierender Skepticismus aber liess nicht 
lange auf sich warten. Schon Duns Scotus befürwortete die 
Trennung von Theologie und Philosophie, also gerade derjenigen 
Prinzipien, deren Versöhnung die Scholastik anstrebte. Damit 
war der die Selbstauflösung der Scholastik bezeichnende Pfad 
betreten. Der vollständige Bruch zwischen Theologie und Philo- 
sophie tritt aber erst bei dem Erneuerer des Nominalismus, 
Wilhelm von Occam, zu tage. Seine streng nominalistische Er- 
kenntnistheorie zeigt mit Kantischer Schärfe die Unzulänglichkeit 
der scholastischen Glaubensbeweise, freilich nur, um dem Supra- 
naturalismus eine vollkommen freie Herrschaft zu vindizieren. 
In einen harten Konflikt mit der Scholastik konnte auch leicht 
die zuerst mit ihr eng verbundene Mystik geraten. Ein neupla- 
tonisches Pfropfreis auf dem Stamme des Christentimis und 
somit Vertreterin pantheistischer Lehre und einer über den 
Dogmen erhabenen intellektuellen Anschauung des Absoluten, 
begann sie gegen die das religiöse Fühlen erstickende formal- 
theologische Begriffswissenschaft sich zu erheben und feierte ihre 
herrlichste Blütezeit unter Meister Eckhardt, 

So ungefähr sieht das Bild aus, das die Wissenschaft zu 
Anfang des 15. Jahrhunderts beim Auftreten des Cusaners bietet. 
Und wie jeder andere grosse Mann ist auch er ein Kind seiner 
Zeit. Mit gründlicher Kenntnis der scholastischen Lehrsysteme 
vereinigt er den schärfen Blick Occams für ihre Mängel, und 
die Lehren der Mystiker finden in seinen Schriften die tiefste 
Resonanz. Zugleich Repräsentant des damals neu erwachten 
Studiums der antiken Klassiker blieb Nikolaus auch von dieser 
Seite her nicht unberührt. Denn dasselbe Streben nach einer 
klaren und wohlthuenden Form, das die von Hellas befruchtete 
Kunst und Litteratur der Renaissancezeit beseelt, offenbart sich 
bei Nikolaus in einer Wissenschaftlichkeit der Darstellung, durch 
die er sich vorteilhaft vor den übrigen, eigentlichen Repräsen- 
tanten des Mystizismus mit ihrer ahnungsreichen, aber unklaren 



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- 3 — 

dunklen Spekulation auszeichnet. Zugleich ist seine Philosophie 
auch inhaltlich reich an Verwertung antiker Lehren. 

Wir kennen bisher die geistigen Kräfte, unter deren Beein- 
flussung das Lehrgebäude des Cusaners erwuchs. Nunmehr ist 
dieses selbst mit ein paar Worten zu skizzieren. Zwei Grund- 
gedanken beherrschen dasselbe: 1) Verhältnis von Gott und 
Welt ; 2) Wesen und Aufgabe der Erkenntnis. In der Schöpfung 
giebt sich das Unendliche in das Endliche, hin ; im Erkenntnis- 
prozesse kehrt es durchleuchtet wieder zu sich selbst zurück. 
Schöpfung und Erkenntnis sind daher die zwei sich ergänzenden 
Pole. Das in unserer Seele niedergelegte, unersättliche Dürsten 
nach Wissen ist somit ihr eigentliches, charakteristisches Wesen, 
ihre Bestimmung, gleichwie das Auge von Natur zur Auinahrae 
des Lichtes organisiert ist. Schon das Wissen des Sinnlichen ge- 
währt Genuss. Doch in demselben Masse, wie dieses zunimmt, 
lehrt es uns begreifen, dass diese durch die Formen des Raumes 
und der Zeit begrenzte Wirklichkeit nicht durch und für sich 
selbst da ist, sondern für ihr Dasein imd ihren Zusammenhang 
eine höhere Realität voraussetzt, deren Erforschung das höchste 
Ziel des menschlichen Geistes sein muss ; denn in ihr entspringen 
die tiefsten Wurzeln seines Wesens. 

Diese Grundgedanken an und für sich vermögen uns nun 
allerdings noch keineswegs ein anschauliches Bild von der eigen- 
artigen Grösse des Philosophen zu geben. Denn in ähnlicher 
Weise hatten ja bereits verschiedene seiner Vorgänger spekuliert, 
SQgar mit teilweiser Zeitigung derselben Resultate. Vielmehr ist 
es das ungeheuer energische und zähe Streben nach Erfassung 
des Absoluten, das unermüdliche Ringen und Tasten nach 
präziser Pormulienmg des einen Grundgedankens, was unser 
Interesse beständig fesselt. Auch von Nikolaus gilt der Satz, 
dass die Arbeit oft wertvoller ist als der Ertrag. Dieser 
rastlose Drang ist nun aber selbst nur die Folge eines heissen 
Prinzipienkampfes in dem Kopfe eines Mannes, der, zwei Kultur- 
welten angehörend und aus der einen in die andere herüber- 
ragend, Kardinal und Philosoph zugleich sein will. Von ehr- 
furchtsvoller Scheu vor der religiösen Tradition erfüllt, ist er 
vermöge seines unverwüstlichen Glaubens an die Kraft des 
menschlichen Geistes zugleich ein gutes Stück Rationalist, der 
-die kalten, trüben Nebel des Autoritätsglaubens verscheucht 



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— 4 — 

und im Gegensatz zu dem resigniertön Skepticismus eines Wil- 
helm von Occam sogar im Zweifel den Anfang der Weisheit 
sieht. So steht er auf der abschliessenden Höhe des Mittelalters 
und ist zugleich der „Bahnbrecher neuer Ideen *^ (Eucken), der 
die Aussicht über unermessliche Gebiete eröffnet, innerhalb deren 
die Philosophie der Neuzeit ihre besten Schätze erobern sollte. 

Es wäre interessant, all' die Keime des neuzeitlichen Den- 
kens aus dem Gedankengewebe des Cusaners klar herauszustellen. 
Indes soll sich die folgende Untersuchung, wie oben angezeigt,, 
auf den Entwicklungsbegriff des Nikolaus beschränken. 

Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: Der erste^ kritisch^ 
historische Teil bespricht in drei Abschnitten unter Berücksich- 
tigung der Chronologie^) der einzelnen Schriften*) die Verwendung 
des Bntwicklungsbegriffes auf den Hauptgebieten seines Umfangs. 
Der zweite, kritisch-systematische Teil fällt das abschliessende 
Gesamturteil über Bedeutung und Fruchtbarkeit desselben. 

Der Entwicklungsbegriff des Nikolaus von Kues, der Begriff^ 
der Explicatio, wird durch den der Complicatio ergänzt. Zum 
Verständnis des ersteren ist eine kurze Erörtemng zunächst dieses 
Begriffes geboten. 



^) Zur Reihenfolge der Schriften vgl. Scharpff, Falokenberg, Uebinger. 
') Der Abhandlung liegt die Pariser Ausgabe der Schriften dea 
Nikolaus zu Grunde. 



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— 5 



L Historisch-kritischer TeiL 



1. Verhältnis von Gott und Welt. 

Das Verhältnis von Gott und Welt erscheint Nikolaus unter 
dem der complicatio und explicatio; denn so lautet die Ueber- 
schrift der doct. ign, II, 3 : Quomodo maximum omnia coraplicet 
et explicet inintelligibiliter (so und nicht intellectibiliter ist unbe- 
dingt zu lesen, cf. II, 2), d. h. wie das Grösste alles in sich 
zusammenfaltet und aus sich heraus entfaltet. . . Wie diese Zu- 
sanmienfaltung von allem in dem Grössten (= Gott) zu denken 
sei, wird sogleich durch zahlreiche Beispiele verdeutlicht, be- 
sonders durch solche aus der Mathematik, cf. doct. ign. I, 11 — 15. 
Hiervon nur einige Proben : Die unendliche Linie enthält in sich 
(complicat) das grösste Dreieck, den grössten Kreis und die 
grösste Kugel. Dies nachzuweisen, fragt Nikolaus, was in der 
Potenz der endlichen Linie liege. Antwort: Die endliche Linie 
a bj um den festen Punkt a herumgeführt, ergiebt das Dreieck 
u b Cj weiterhin den Halbkreis und endUch den Kreis. Und 
durch Herumführung des Halbkreises um den festen Halbmesser 
i d entsteht die Kugel. In ihr gelangt die Potenz der endlichen, 
geraden Linie zur letzten und vollkommensten Entfaltung. Da 
nun aber die unendliche Linie alles das aktuell ist, was die 
endliche potenziell (cf. Kap. 14, 15, 16), so folgt, dass sie wirk- 
liches Dreieck, wirklicher Kreis und wirkliche Kugel in der 
Einheit zugleich ist. Analog müssen wir nun sagen: wie die 
unendliche Linie alles das aktuell ist, was die endliche potenziell, 
so ist die absolute, unendliche Einheit alles Mögliche in Wirk- 
lichkeit, mit andern Worten, jedes Ding ist in Wirklichkeit Gott 
selbst, aber natürlich nur insofern, als er in dem einen zugleich 
das andere Ding ist. In diesem Sinne ist das Absolute die com- 
plicatio alles Seins, die Form aller Formen (natürlich nicht die 
individuelle, selbsteigene, konkrete, sondern die absolute Form, 
d. h. das alle besonderen Formen in sich einfaltende und in 
sofern sie spendende, absolute Prinzip), die entitas aller Entitäten, 
die Quiddität aller Quidditäten, mit einem Worte: der actus 
omnium, cf. doct. ign. II, 5. 



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Nikolaus verweilt mit sichtbarem Interesse in den meisten 
seiner Schriften bei der Aufstellung solcher Analogien, um das 
Wesen der göttlichen Complicatio zu verdeutlichen. Uns freilich 
scheint dieses Verfahren nicht das zu leisten, was er sich von ihm 
verspricht. Denn dass das mathematisch Unendliche und das 
metaphysisch Unendliche zwei ganz verschiedene Dinge sind, 
da das erstere stets nur ein gedachtes und daher nicht mehr 
vermehrbar ist und somit in Wirklichkeit gar nicht vorkommen 
kann, dagegen das letztere wegen seiner in actu bestehenden 
Vollkommenheitsfülle weder vergrössert noch vermindert werden 
kann, darauf hat Stöckl p. 44 mit Recht hingewiesen. Zwei tota 
genere verschiedene Dinge dürfen eben nicht in Analogie mit 
einander gebracht werden. Und selbst wenn dies Zulässig wäre, 
so dürfte wohl trotzderA der Satz von dör complicatio alles Seins 
immer noch eine sehr schwer zu vollziehende Vorstellung sein. 
Denn wer begreift es, dass alles noch so verschiedenartige Sein 
eine absolute, über alle Gegensätze erhabene Einheit bilden 
könne ? 

Was nun in Gott zur absoluten Einheit kompliziert ist, das 
ist in der konkreten Welt zur Vielheit der Dinge expliziert, i) 
oder mit andern Worten : die Dinge, die alle zusammen in Gott 
imterschiedslos eine Einheit bildeten, haben sich je nach ihren 
individuellen Besonderheiten und Wesenheiten zur Vielheit aus- 
einander gelegt und von einander abgesondert, und stehen nun 



') Ueber die Geschichte der Begriffe complicatio und explicatia 
of. R. Euoken „Die Grundbegriffe der Geg.* 2. Aufl. 1893. Er weist hier 
bereite bei den lateinischen Klassikern die Verwendung der Termini auf, 
zeigt aber, dass sie dort nicht bei dem Weltproblem, sondern nur in lo- 
gischer Beziehung wissenschaftliche Verwendung finden, of. Cicero, (üebri- 
gens hat auch Nikolaus die beiden Begriffe bisweilen in logischer Ver- 
wendung, cf, fil. 77 a, de non aliud Cap. 6 ,in explioatam igitur eins de- 
finitionem intueamur . . ." u. a.) Auch im Mittelalter wendet man sie 
auf die grossen Weltfragen nur selten an. Bei Thomas von Aquino findet 
sieh weder explicatio noch complicatio. Dagegen hat sie die von Pseudo- 
Dionysius ausgehende mystische Spekulation, (cf. Scotus Erigena) in fort- 
währendem Gebrauch, und zwar für das Verhältnis von Gott und Welt. 
An diese Richtung aber knüpft auch, wie wir bereits pag. 3 sahen, der 
Cusaner an. Gleichwertig mit explicatio gebraucht er zuweilen den Begriff 
evolutio, cf. id III, 9: „evolutionem id est explicationem." 



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— 7 — 

als selbständige, für sich seiende Realitäten einander gegenüber 
(Doct. II, 3). 

Aber wie ist der Vorgang der explicatio zu verstehen ? 
Nikolaus unterlässt nicht, wie den BegriflF der pomplicatio, so 
auch den der explicatio durch eine ganze Reihe konkreter Bei- 
spiele zu verdeutlichen (doct. II, 3). Wie z. B. die Einheit die 
Zahl aus sich expliziert und in der Zahl nichts als die Einheit 
sich findet, so entfaltet Gott aus sich die Dinge, und in jedem 
findet sich immer nur die Einheit wieder. Dasselbe lehrt uns 
das Verhältnis von Punkt und Linie, Ruhe und Bewegung, 
Jetzt und Zeit. Ist der Punkt die complicatio der Linie, so ist 
die Linie die explicatio des Punktes. Daher findet sich in der 
Linie immer nur der Punkt wieder, denn sie ist nur der aus- 
einandergezogene Punkt ; aber auch die Fläche und endlich der 
Körper sind nur Explikationen des Punktes. Punkt, Linie, 
Fläche, Körper bilden eine auseinander hervorgehende Stufen- 
folge von Explikationen. Nicht anders ist es mit dem Verhältnis 
von Ruhe und Bewegung. Die Bewegung ist nur die aneinander 
gereihte, breitgezogene Ruhe (motus est quies seriatim ordinata). 
Desgleichen ist - die Zeit nichts anderes, als die explicatio des 
Jetzt, d. h. eine sich inmier weiter fortbewegende Gegenwart. 
Jeder Zeitabschnitt ist ein Jetzt. Das Jetzt ist die zusammen- 
gezogene Zeit, die Zeit das auseindergezogene Jetzt = expli- 
catio des Jetzt. 

In gleicher Weise nun ist auch die explicatio alles Seins 
aust Gott zu denken: Est omnia explicans in hoc, quia ipse in 
Omnibus (doct. II, 3). Wie jeder Zeitabschnitt nichts anderes 
ist, als das Jetzt selbst, oder die Linie u. s. w. nichts anderes 
als immer nur der eine Punkt, so ist jedes Ding nichts anderes 
als Gott selbst. Alles in Allem, Jegliches in Jeglichem. 

Die Art und Weise des Entfaltens freilich, sagt Nikolaus, 
geht, ebenso wie die des Zusammenfaltens, über unser diskursives 
Denken hinaus. Man könnte wohl die Zahl zu Hülfe rufen und 
sagen : Wie aus unserm Geiste dadurch, dass wir vieles einzelne 
als einem Gemeinsamen zugehörig erkennen, die Zahl entsteht, 
so expliziert Gott die Vielheit der Dinge dadurch aus sich, dass 
er, weil die Dinge an dem absoluten Sein nicht alle gleichmässig 
partizipieren können, das eine so, das andere anders gedacht; 



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— s — 

doch auch so, wenn wir in Gott Sein und Erkennen identifizieren, 
ist noch nichts erklärt. Auch die Zahl kann uns den Vorgang 
nur veranschaulichen, aber nicht begreiflich machen, da der 
Vergleich mit ihr den Anschein erweckt, als sei Gott in den 
Dingen vervielfältigt, was sich mit der Grundvoraussetzung von 
der absoluten Einheit nicht verträgt. „Videtur quasi deus . . . 
multiplicari.*' Doch Gott ist das „idem immultiplicabile" gen. 70 b, 
wie es später heisst. 

Wer vermag also die Explikation des näheren zu begreifen ? 
Die Dinge ohne ihn betrachtet sind nichts, und betrachtet man 
ihn, sofern er in den Dingen ist, so entsteht der falsche Anschein, 
als ob die Dinge antecedenter ein Sein besässen, dem sich das 
Göttliche nur mitteile; das Sein der Dinge ist ja aber erst das 
von Gott empfangene, es stammt ja erst von ihm, doch so, dass 
er sich in ihnen nicht erschöpft. Doct. lU, 1. Betrachtet man 
aber die Dinge, sofern sie in Gott sind, so erhält man als ur- 
sprüngliches Sein nur die absolute Einheit, und unausbleiblich 
drängt sich der Schluss auf: Gott expliziert sein Sein in das 
Nichts hinein, wodurch die Welt entsteht. Doct. I, 3. Doch, wie 
ist solches denkbar, da das Nichts kein Sein ist? 

Und führt man schliesslich die Explikation des endlichen 
Seins auf den absoluten Willensurgrund zurück, gleich wie ein 
Haus auf Befehl des Baumeisters entsteht, so hat man eben 
damit nur die Unkenntnis des Wie und nur die Thatsächlichkeit 
des Dass eingestanden. Mit Recht weist Nikolaus die Zurück- 
iührung der Explicatio auf die lockenden Auswege des Nichts 
und des absoluten Willens ausdrücklich zurück; durch beides 
hätte er ja das philosophisch begriffliche Denken der dogmatisch 
unfruchtbaren Ausflucht geopfert, er hätte den Knoten zerhauen, 
statt gelöst. 

Es ist interessant zuzusehen, wie hier ein gewaltiger Denker 
in ungeheurer Kraftanstrengung und in immer neuen Anläufen 
mit der Lösung einer der höchsten Fragen ringt. Daher kommt 
es auch, dass er bisweilen solche Ausdrücke benutzt, die er 
gewiss selbst nicht wörtlich gemeint wissen wollte (cf. doct. I, 2 : 
„opportet . . . adaptari non possunt" etc.), z. B. wenn er die 
Explikation durch den BegriflF der „Teilnahme" zu erklären sucht. 
Dass ein dem absoluten wie dem endlichen Sein relativ gemein- 



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— 9 - 

samer Inhalt anzunehmen sei, dieser Satz ist offenbar richtig, 
doch für den Vorgang der Explikation ist dieser Ausdruck un- 
präzis, da, wie Falckenberg ganz richtig gesehen hat pag. 29, 
■die Teilnahme neben einem Spender auch einen bereits vor- 
handenen Empfänger voraussetzt, der aber im vorliegenden Falle 
nicht vorhanden ist, sondern durch die Teilnahme erst entsteht. 
Daher darf die Entfaltung des Seins aus Gott nicht als Teilnahme 
bezeichnet werden. 

Auch folgender Erklärungsversuch kommt vor (doct. 11, 2): 
Non aliud videtur esse creare, quam deum omnia esse. 

Sein und Schaffen ist demnach identisch, doch sogleich 
entsteht die Antinomie, dass, während Gott ewig ist, die Dinge 
zeitlich sind, doct. II, 2 ; wer begreift also, dass Sein und Schaffen 
<5oincidieren? Unser Vorstand, sagt Nikolaus, fasst eben das 
Wesen der Explikation nicht, obwohl er weiss, dass Gott die 
Welt aus sich expliziert habe, II, 2. 

Und wenn Nikolaus endlich zu der simplex emanatio seine 
Zuflucht nimmt, um das Rätsel der explicatio zu erklären (doct. 
II, 4 : per simplicem emanationem . . . prodiit in esse), so ist er 
sich der bloss bildlichen Ausdrucksweise bewusst (Falckenberg, 
Uebinger). Denn dass Nikolaus dabei an- eine Emanation im 
Sinne Plotins keineswegs gedacht, ja eine Wesensausstrahlung 
des Absoluten sogar ausdrücklich ablehnt, beweisen die sogleich 
folgenden Worte: ex intentione cjei omnia in esse prodierunt, 
doct. II, 4. Das stimmt auch ganz zu der anderweitigen Polemik 
des Cusaners gegen die Annahme einer mittelbaren oder unmit- 
telbaren Emanation, doct. II, 4. Emanatio hatte im Mittelalter 
überhaupt nicht den engen Sinn, den \vir wohl damit verbinden. 
Darum ist es nicht wundersam, wenn selbst Thomas von Aquino 
diesen Ausdruck in seinen Schriften für das Weltproblem ver- 
wendet (Uebinger). 

Wir kommen, das ist das Resultat, über die Unbegreiflich- 
keit nicht hinaus. Eines aber steht fest : explicatio bedeutet die 
Herkunft alles Seins aus Gott. Die Dinge sind in Gott, Gott ist 
in den Dingen das, was sie absolut, nicht das, was sie konkret 
sind, auf unbegreifbare Weise. Die konkrete, endliche Form des 
Seins kann schliesslich nur aus einer gewissen „Zufälligkeit" 
stammen. Aber auch soviel ist sicher, dass Gott, obwohl er das 



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— 10 — 

absolute Wesen der Dinge ist, dennoch nicht in dieselben ein-, 
geht, II, 2. Denn zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen 
besteht keine Proportion, II, 2: „finiti et infiniti nulla fit pro- 
portio." In dem Sinne, wie die unendliche Linie der endlichen 
die konkrete individuelle Form nicht realiter mitteilt, sondern nur 
Prinzip derselben ist, so ist auch Gott nur das absolute Bildungs- 
prinzip der Dinge und insofern ist er in ihnen. Gott ist in den 
Dingen, wie die Wahrheit im Bilde, das, was sie sind. 

Unbegreifbare Herkunft des EndUchen aus dem Unendlichen, 
alles in sich komplizierenden Seins, dies als das Wesen der in 
der frühesten Hauptschrift niedergelegten Explikationsidee erkannt 
zu haben, das ist das bisher gewonnene Resultat. „Necesse igitur 
est fateri te penitus et complicationem et explicationem, quo- 
raodo fiat, ignorare," doct. II und passim. Je bewanderter in 
dieser Ignoranz, desto gelehrter (cf. Die Geschichte dieses Be- 
griffes von Uebinger, Archiv für Gesch. der Ph., Bd. 8, Heft 
1 und 2). 

Indes vermögen wir dabei nicht stehen zu bleiben ; vielmehr 
wollen wir versuchen, das zu begreifen, was Nikolaus unbegreif- 
lich schien, und somit das ganz bestimmt auszusprechen, was 
wohl auch er im tiefsten Grunde gedacht hat, ohne aber den 
Mut zu besitzen, den Gedanken der Explikation bis zu Ende 
durchzudenken. 

Die für die Lösung des Explikationsproblems entscheidende 
Frage, auf die hier alles ankommt, ist diese: Ist die bisher be- 
schriebene explicatio dualistisch oder pantheistisch zu denken? 
Ist die Welt der explicatio von der göttlichen compUcatio quali- 
tativ oder nur quantitativ, essentiell oder graduell, absolut oder 
nur relativ verschieden ? Antwort : Nikolaus lehrt beides ; er taül 
zwar Dualist im Sinne der Kirchenlehre sein, doch ist die „Docta 
ign.*^ von Wendungen voll, die nicht nur, wie Uebinger sich 
vorsichtig ausdrückt (p. 43), „Anlass zu manigfachen Miss Ver- 
ständnissen," d. h. zu pantheistischer Deutung geben (ebenso 
Ritter Gesch. d. Ph. IX, p. 165), sondern überhaupt nicht anders 
als auf pantheistischem Boden verständlich sind. Nikolaus selbst 
protestiert dagegen. 

Die 1450 entsandene „ApoL doct. ign.^ legt hiervon Zeugnis 
ab. Indem sie die von Joh. Vench erhobenen pantheistischen 



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— 11 — 

Vorwürfe zurückweist, oder vielmehr zurückzuweisen sucht, wird 
sie zur willkommenen Verteidigungsschrift des frühesten Stand- 
punktes seitens des Autors selbst. Venchs Einwurf ist im grossen 
und ganzea ein dreifacher: 

1. Er sieht durch die doct. ign. die Grenzscheide zwischen 
Gott imd Welt zerstört, fol. 35 b: „ego sum .... creatura." 
Nikolaus leugnet dies, indem er sagt : Gott ist weder dieses noch 
jenes, weder Himmel noch Erde, also kein besonderes Sein, 
sondern in ganz eigentümlicher Weise (proprie) die absolute 
Form jeder Form; in der absoluten und einfachsten Form aber 
kann kein Sein etwas anderes sein als er selbst, und weil er 
allen Dingen das Sein giebt, kann kein solches in ihm fehlen. 
Gleich wie man die mathematischen Figuren, losgelöst von ihren 
empirisch konkreten Eigenschaften und hinausgehoben über sie, 
sicherlich in einer einfachsten Einheit schaut, so muss man auch 
in analoger Weise die Dinge in Gott sehen (um zu erkennen, 
dass Gott alles in allem ist), ohne doch die Grenzscheide zwischen 
(jott und Welt zu vernichten. 

Offenbar meint Nikolaus damit den Unterschied der idealen 
und empirischen Welt; jene ist in Gott und mit ihm identisch, 
diese von ihm verschieden. 

Ist nun aber damit Venchs Einwand wirklich ad absurdum 
geführt? SchwerUch. Denn wenn das absolute, allgemeine, wahr- 
haft wirkliche Sein Gott selber ist, und nur das empirisch indi- 
viduelle, d. h. nur die endliche Form nicht Gott ist, so ist die 
Welt damit doch im Grunde genommen nur zu einer Kehrseite 
Gottes, zu einem in endlicher Maske eingehüllten Gotte gemacht. 
Die Welt ist dann das in konkrete Vielheit auseinandergelegte 
absolute Sein selbst. Etwas anderes aber behauptet auch der 
Pantheist nicht. 

2. Femer sieht Vench durch das Lehrstück von der Coin- 
cidenz der Gegensätze den Untersohied von Schöpfer und Ge- 
schöpf, von Subjekt und Objekt aufgehoben, cf. fol. 37 b : „non 
videt . . . impugnat." Auch dies leugnet Nikolaus ; „wer die 
Wahrheit lieb hat," erwidert er, „kann solches in der doct. ign. 
nicht antreffen." Nie könne das Abbild mit dem Vorbilde, nie 
die Wirkung mit der Ursache identisch sein. Auch hier gelte 
n\ir, dass Gott zwar alles in allem, aber kein bestimmtes Sein 
sei. Doch was ist Pantheismus, wenn das keiner ist? Die Ueber- 



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— 12 — 

legenheit ist also wiederum auf Venchs Seite. Nikolaus freilich 
würde uns ob dieser Entscheidung gleich Vench von Leiden- 
schaft und böser Absicht erfüllte „Fälscher" und „Zerstörer" 
seiner Schriften nennen (37 b), Ausdrücke, die übrigens zu den 
Worten „gaudeo aut quaestionibus stimulari ant objectionibus 
impelli" nicht passen. Und abgesehen davon, dass Nikolaus durch 
Hinwegdeutung der Coincidenz der Gegensätze selbst zum Fal- 
scher wird; können wir auch bei aller Berücksichtigung der doct. 
I, 2, ausgesprochenen Bitte „opportet . . . adaptari non possunt" 
mit Stöckl, Eucken, Falckenberg u. a. den Pantheismus nicht 
hinwegdeuten. 

Uebrigens hätte Venck noch eine ganze Reihe anderer 
Sätze anführen können, die offenbar nur pantheistisch verstanden 
einen Sinn geben. Freilich auch der Dualismus behauptet an- 
dererseits energisch sein Recht ; auch das ist nicht zu verkennen. 
Der stärkste hieher gehörige Satz ist der von Falckenberg mit 
Recht als Extrem bezeichnete: zwischen dem EndUchen und 
Unendlichen giebt es keine Proportion. 

3. Auch der dritte Haupteinwurf „Tolh subsistentias rerum 
in proprio genere" ist auf Grund von ähnUch lautenden Sätzen 
wie der: ^in maximitate absoluta omnia id sunt, quod sunt, quia 
est entitas absoluta, sine qua nihil est" apol. fol. 39a, vollkommen 
gerechtfertigt. Das Geschöpf ist ohne Gott nichts u. s: w. Wer 
möchte auf Grund solcher Stellen die Subsistenz der Dinge 
retten? Freilich auch hier wieder finden sich offen dualistische 
Stellen, die die Subsistenz der Dinge behaupten, cf. doct. II. 3: 
„Esse rei non est aliud, ut est diversa res". Dass denmach der 
Cusaner das Fürsichsein der Dinge keineswegs zerstören und zu 
blossem Schein herabsetzen wollte, wie Uebinger sagt, ist aller- 
dings richtig, aber eben nur relativ. Wir sehen also zwei 
Strömungen, eine pantheistische und eine dualistische, bald in 
extremster Fassung, bald in gegenseitigem Uebergang in der 
Philosophie des Nikolaus sich einander bekämpfen. Das Ver- 
hältnis von beiden scheint uns aber keineswegs ein blosses, 
gleich starkes Nebeneinander zu sein. Auch ist nicht anzu- 
nehmen, dass ein so grosser Denker sich des Contrastes voll- 
kommen bewusst gewesen sei ; denn nicht selten besteht ja eben 
die Grösse im Gegensatz. Nikolaus will Dualist sein im Sinne 
seiner Kirchenlehre, und doch — seltsam genug — drängt sich 



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'— 13 — 

die pantheistische Weltanschauung der deutschen Mystiker überall 
heissblütig hervor und hebt sie bisweilen ganz auf. OfiFenbar 
hat der feine Kenner der cusanischen Philosophie R. Palckenberg 
das entscheidende Wort auch hier gesprochen: „Der panthei- 
stische Grundgedanke tritt im cusanischen System minder be- 
wusst, aber stärker, der dualistische minder stark, aber bewusster 
auf.** Und gewiss liegt ja gerade in diesem Gegensatz das 
Kennzeichen einer Zeit, da zwei Kulturwelten im Kampfe um 
das Dasein ringen: das Alte, durch Gewohnheit und religiöse 
Tradition Geheiligte, behauptet zäh sein gutes Recht, das Neue 
erhebt sich mit jugendlicher Kraft; der seit Jahrhunderten 
glimmende patheistische Funke ^) leuchtet heller und heller auf, 
gleich wie die aufleuchtende Morgensonne langsam und ganz 
allmählich die Nebel zerreisst. 

Es ist somit nach unserer Ansicht das Bemühen Uebingers, 
Klemens u. a., die beiden Seiten des cusanischen Systems 
miteinander in Einklang bringen zu wollen und zu einer ein- 
heitlichen Auflassung zusammen zu deuten, nicht nur zwecklos, 
sondern ganz verfehlt; wer mit Uebinger behauptet: ,nur im 
äussersten Falle darf es gestattet sein, durchgehende Wider- 
sprüche zu konstatieren, wie Falckenberg thut" (pag. 67 seiner 
„Gotteslehre ..."), der hat nach unserm Dafürhalten kein rechtes 
Verständnis der eigentümlichen Bedeutung dieses Mannes, die 
eben gerade, wie die des ausgehenden Mittelalters überhaupt, in 
dem angedeuteten Principienkampfe liegt. 

Dieses Resultat ist aber für die Frage entscheidend, wie 
die Explication des Nikolaus zu denken sei?: der Theolog will 
sie dualistisch, qualitativ, der Philosoph dagegen pantheistisch, 
quantitativ verstanden wissen. Im ersten Falle ist die „Ent- 
wickelung" ein rein schöpferischer Akt, ein blosses Hervorrufen 
der Dinge zum Sein durch den Urwillen, im zweiten dagegen 
ein blosses Herabsteigen der in Gott liegenden idealen Welt zur 
Konkretheit des Seins. Das Produkt der expUcatio ist somit 



*) la Rücksicht darauf, dass der katholischea Lehre des Mittelalters 
ein namentlioh vom Neuplatonismus herübergenommenes Stück Pantheis- 
mus nicht fremd ist, darf allerdings der Pantheismus des Nikolaus weder 
als etwas specifisch Neues, noch als ein monstrum horrendum im System 
des Kardinals gelten. Die paatheistiache Mystik eines Eckhardt und 
Gerson u. a. überbietet sogar die des Nikolaus. 



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— 14 — 

in beiden Fällen eine abgeschwächte Wirklichkeit. Denn durch- 
gehends ist Gott, das absolute Princip alles Seins, als das Höchstre 
und Vollkommenste, als das Ursprüngliche, kurz als der wirk- 
lichere Zustand gedacht im Gegensatz zu allem verendlichten, 
mit dem Princip des Widerspruchs behafteten Sein. 

Zwischen die gewaltige Geistesarbeit der doct. ign, und 
die Apol. derselben fallen mehrere kleinere Abhandlungen: 
de quaer d.^ de dat,^ de fiLj de gen. Ihr Zweck ist kein an- 
derer als die Einführung in die uns bekannten Grundgedanken, 
verbunden mit teilweise näherer, ganz im Geiste der doct. ign. 
gehaltenen Ausführung und Fortbildung derselben. Wir können 
sie indess für die Intention dieses Kapitels ohne Nachteil über- 
gehen und kommen erst in der Besprechung der Erkenntnis- 
lehre auf sie zurück. Ebenso übergehen wir die beiden Dia- 
löge ^de sap,^ 1450; denn da Nikolaus, in diesem Jahre zum 
Kardinal in Rom ernannt, seiner Philosophie in der neuen Um- 
gebung nur Eingang verschaffen wollte (ScharpflF), so bieten sie 
nichts principiell Neues, sondern nur eine Rekonstruktion des 
früher Gelehrten. 

Nur das Gespräch j^de gen." aus dem Jahre 1447 ist un- 
bedingt wichtig. Gott ist nach ihm „das Selbige" (idem ipsum, 
bisweilen idem ipse), der Hervorgang der Welt aus ihm ein 
„Assimilieren". Nikolaus will damit keine neue Theorie auf- 
stellen, sondern den vielfachen bereits bekannten Erklärimgsver- 
suchen des Explikationsproblems oflenbar einen nur noch deut- 
licheren zur Seite stellen: das explicare wird durch das assimi- 
lare erläutert fol. 69b. Wie kann nun aber das absolute „Das- 
selbe", das als solches mit allem gegensatzlos geeint ist, 
Princip aller Dinge sein ? denn das absolut Dasselbe kann doch 
immer nur wieder ein Selbiges erzeugen 70a. Wie kann es also 
Dinge schaffen, die unter sich total verschieden sind? Antwort: 
Weil es sich nicht vervielfältigen lässt ; und, da es doch auch mit 
den Dingen weder identisch, noch von ihnen verschieden sein kann, 
da es sonst nicht mehr das absolute, dasselbe Princip wäre, so 
ist sein Schaffen der Dinge ein Identifizieren, näherhin ein 
Assimilieren cf. 70b: omnis identificatio reperitur in assimi- 
latione". (cf. das Beispiel der Anfertigimg von Gläsern durch 
Blasen, das des Lehrens u. a., desgleichen id. III 13). Das Selbige 
steigt zu dem nicht Selbigen herab und ruft das nicht Seiende 



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■AliJHJ 



— 15 — 

zum Sein, das non idera steigt zu dem idem ipse herauf, und 
weil es dasselbe nicht erreichen kann, so assimiliert es sich ihm 
cf. fol, 70b, „Assimitatio autem dicit quamdam coincidentiam . . . 
ad idem*^. Das Werden alles Seins, das explicare, wird also hier 
ein Assimilieren, ein Participieren an dem absoluten Sein ge- 
nannt (ebenso später ber. 15, 16 und bereits doct. I. 17, 18). 

Eine andere Frage freilich ist es, ob diese neue Definition 
nicht eher eine Verdunkelung als Verdeutlichung des früher Ge- 
lehrten bedeute. Denn wer möchte den Sinn der Worte, dass 
das Schaffen des Absoluten ein Sichverähnlichen seiner selbst 
mit den Dingen sei, wirklich verstehen? Wir unsererseits wenig- 
stens sind nicht in der Lage. 

Ebensowenig vermag das für verloren gehaltene Gespräch 
,de non aliud'^ (cf. Uebingers Abdruck) das Explikationsproblem 
plausibel zu machen. Wir greifen mit gutem Grunde in der histo- 
rischen Reihenfolge der Schriften ein Stück vor^ weil diese 
Schrift den konsequenten Abschluss des in doct. inaugurierten 
und de gen. weiter geführten Gedankenganges bildet. Hierin 
ist Gott das non aliud, cf. Cap. I, d. h. er kann nur durch sich 
selbst definiert werden, er ist das Erste und von allem spätem 
absolut freie Sein. Alles Endliche hat sein Princip ausser sich, 
nicht so Gott ; er ist Princip seiner selbst (cf. die Definition des- 
selben Cap. 6.). Wie der unsichtbare Sonnenglanz in den sicht- 
baren Regenbogenfarben, so erscheint das Nichtandere in dem 
Anderen-Endlichen. cf. Cap. 8. Wie aber schafft es dasselbe?: 
durch seinen Willen (cf. Cap. 9., ebs. später ber c. 22, 23 und 
das über doct. U. 3 Gesagte). 

Auf diese Erklärung des in Frage stehenden Problems legt 
nun Nikolaus seltsamer Weise hohen Wert, denn sie enthalte 
das, was er seit langen Jahren suche, Cap. 4. Kein anderer 
Deutungsversuch gilt ihm nach ven. 14 für deutlicher; doch 
dass sich damit das Denken in pure Wortklügelei verliere, auch 
dieses sah er bald ein. Denn absolut zufrieden ist er am Ende 
auch mit diesem Erkenntnisfunde nicht, und kehrt daher von 
seinen unfruchtbaren Streifzügen wieder zu der Grundlage der 
doct. ign. zurück. Je besser . . . desto gelehrter cf. ven. 12. 

Die folgende Schrift ,de beryllo' bietet nichts Neues. 

In der Lehre von der Koincidenz der Gegensätze begrüsste 
Nikolaus früher (cf. gen. 69b) ein fruchtbares Princip, woraus 



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— 16 — 

sich das Explikationsproblera werde lösen lassen. In dieser 
Hoffnung täuschte er sich ; ermattet sinken die Ikarusflügel aus 
den überschwenglichen mystischen Regionen auf das dem mensch- 
lichen Denken verständHchere Gebiet der doct. ign. herab. 

Parallel der die Lehre von der Koincidenz der Gegensätze 
weiterbildenden und abschliessenden Richtung läuft eine zweite, 
die, den absoluten Weltgrund hinter und über jener Koincidenz 
suchend, und, aus bereits in Conj . und Apol. vorhandenen Ansätzen 
hervorwachsend, sich in „de visione^ 1453 in extremer Weise 
geltend macht. 

Die Begriffne KompHkatio und Explikatio, die Nikolaus in 
doct. ign. Schritt auf Schritt verwendete, werden nämlich bereits 
in Konj. I. 7. 10. ü. s. w. zu bloss verstandesgemässen Annahmen 
degradiert, die im Lichte der Vernunft unhaltbar seien. Gott 
ist über jeden Begriff erhaben, über Bejahung und Verneinung,, 
sowie über beides zugleich. Weder für die Vernunft und noch 
weniger für den Verstand ist er präzis erfassbar. 

Das Ziel der konsequenten Portbildung dieses Gedankens 
bildet die Schrift de visione: Gott ist „jenseits der complikatio 
und explikatio" Cap. 11. Er schafft nicht und wird nicht ge- 
schaffen. Doch, so fragen wir, wo bleiben da die Geschöpfe? 
Ist nicht jede Beziehung zu ihnen gelöst? Nein, antwortet 
Nikolaus, Gott als der Unendliche ist auch das Ende alles End- 
lichen Cap. 13, die Eine gestaltende Form, das adäquateste Ur- 
bild alles Seins Cap. 9, freili(;h superexaltatus über Alles. Doch 
wie schuf dann Gott die Geschöpfe?: Durch sein Sehen; Gott 
sieht sie und sie sehen Gott; sein Sehen ist also sein Schaffen 
(ebenso Augustin). Doch wie ist dann das zeitliche Nach- 
einander der Dinge zu erklären?: So wie die Uhr alle Stunden 
in sich enthält, aber im zeitlichen Nacheinander anzeigt, so 
begreift und entfaltet die Ewigkeit das Nacheinander Cap. 11. 
Oder wie das Licht in Aehnlichkeit seiner selbst die Farbe 
erzeugt, in welcher alles Sichtbare enthalten ist, so schafft Gott 
die Dinge (cf. ven. 6 u. quaer deum). In Cap. 7 endlich sieht 
der Mystiker in Gott das unbegreifliche Princip aller Samen- 
keime, aus denen die Dinge geworden sind: „Ich erkenne den 
Baum als eine Entfaltung seiner Samenkraft, in der er virtua- 
liter war, und diese wiederum als die Entfaltung der allmächtig 



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— 17 — 

geeinten Kraft, ^) ebenso Kap. 14. Doch lenkt der Mystiker hier 
gleich wieder zurück und betont sogleich diß blosse Sinnbildlich- 
keit des Gesagten, das unfähig ist, die Wahrheit präzis zu er- 
fassen. Die Finsternis wird um so dichter, je näher wir dem 
unerreichbaren Lichte kommen. Das ist der herrschende Grund- 
gedanke der in der mittleren Schriftengruppe herrschenden 
Mystik. Die doct. ign. behauptet also auch hier wieder ihr Recht. 
Das Explikationsproblem aber ist seiner Lösung nur femer ge- 
rückt. Und wie wäre dies auch anders möglich, da das Absolute, 
statt es den Dingen näher zu rücken, gerade umgekehrt in uner- 
reichbarer Feme gesucht wird I So kommt der Mystiker trotz 
allem {lingen nicht über den Begriff der absoluten Ursächlichkeit 
und Urbildlichkeit hinaus. Das Produkt der explicatio muss unter 
diesen Umständen natürlich erst recht eine verringerte Wirklich- 
keit bedeuten. In dem Bewusstsein von der Unflruchtbarkeit der 
Mystik \md müde der gekünstelten Begriffsbestimmungen führt 
jetzt der Philosoph die „Gotteslehre aus der engen und düsteren 
Zelle des intrare in caliginem mitten in die weiten und lichten 
Räume des Weltalls hinaus" (Scharpff), und setzt an die Stelle 
des inhaltsleeren Begriffes der Unbegreiflichkeit den reellsten 
aller Begriffe, den des Könnens. 

Bisher suchte der Denker von allem Endlichen zu abstra- 
hieren ; ja selbst die symbolische Verwendung desselben erscheint 
der mystischen Intuition im verführerischen Lichte (doct. I, 11), 
und nur das „divinaliter intentum explicare" bleibt als einziger 
Weg übrig. 

Die visio bedeutete eben eine Ueberspannimg der mensch- 
lichen Erkemjtniskräfte, wobei die reelle Welt verloren gieng. 
Ohne diese aber hängt alle Spekulation als betrügendes Phan- 
tasma in der Luft. Die Welt darf nicht einfach (Qr die Wirk- 
lichkeit verlor^i gehen; sie ist doch einmal fQr uns da, in ihr 
lebt der unendliche wie der endliche Geist, darum muss sie für 
die Erklärung des Daseinsproblems auch gebührende Berücksich- 
tigung finden und mindestens der Ausgangspunkt des Denkens 
sein. Bin Ueberbordwerfen ist kein Erklären der Welt. Darum 
heisst jetzt der Weg: willst du das Unendliche verstehen^ so 
sieh dich nach dem Endlichen um. Das Gespräch : de sap, liefert 



*) Diese Stelle klingt bereits an die Periode des posse an. 
Dr. KttBtner, Der Begriff der BntwickluDg bei Nikolaus Ton Kuet. 2 



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— 18 — 

durch den Ausgang des Idioten vom Zählen, Messen und Wägen 
auf dem römischen Forum den Beweis hiefür. Die Frage, die wir 
aber dabei nicht aus den Augen verlieren dürfen imd auf die es 
uns lediglich ankommt, ist wiederum die: Was kommt durch 
diesen neuen Denkversuch für das Problem der explicatio 
heraus ? 

Den Mittelpunkt des neuen Versuches bildet das Gespräch 
über das ,pos8e8t^ aus dem Jahre 1454 : Auf Grimd der Römer- 
briefstelle I, 20: „das Unsichtbare , . . Gottheit" ist klar, dass 
wir das Unsichtbare nur aus dem Sichtbaren erkennen können, 
denn die Welt ist Gottes Abbild. Fol. 179 b. Dann aber fragt 
es sich, was erkennen wir als das Wesen der Kreaturen? 

Dass dieses in einer gewissen, allerdings determinierten 
Möglichkeit bestehe, im Gegensatz zu Gott als der absoluten 
Möglichkeit, wird schon an Stellen wie ign. II, 7, 8, ausgesagt, 
aber noch nicht zum Ausgangspunkt des Denkens überhaupt 
gemacht. In den Schriften der mittleren Periode wird, da das 
Endliche ,ffanz^ zurücktritt, mit dem Begriff des Könnens nur 
ganz gelegentlich operiert, z. B. id. III, 11, vis. 15 etc. Erst in 
der Schrift „de possest" tritt der Begriff des Könnens, wie bereits 
erwähnt, in exklusiver Weise als beherrschender auf, und wird 
in verschiedenen Nüancierungen zum Träger der ganzen folgen- 
den Spekulation. 

Jedes wirkliche Ding muss auch sein können^ denn ein 
unmögliches Sein, d. h. nichtseinkönnendes Sein giebt es nicht ; 
cf. fol. 175a: cum igitur actualitas . . . cum impossibile esse 
non sit. Analog gilt dasselbe von der absoluten Wirklichkeit 
und Möglichkeit; denn das absolute Seinkönnen (Seinsmöglich- 
keit) kann nicht vor seiner Wirklichkeit sein, wiewohl in der 
Welt die Möglichkeit der Wirklichkeit stets vorausgeht. 

Denn nur durch Wirklichkeit kann es zur Wirklichkeit 
geworden sein ; andernfalls müsste ja die Möglichkeit sich selbst 
in Wirklichkeit umgesetzt haben, was auf die Paradoxie hinaus- 
läuft, dass das Können (= Möglichkeit) bereits vor seiner 
Verwirklichung wirklich sei. Die absolute Möglichkeit kann also 
der absoluten Wirklichkeit nicht vorangehen, ebensowenig auch 
ihr nachfolgen; denn Aktualität ohne Potentialität ist ebenfalls 
ein Widerspruch. Beides in seiner Verbindung also bildet das 
gleichmässig ewige Sein, das einfache Prinzip der Welt (= Gott). 



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— 19 — 

In ihm sind Wirklichkeit und Möglichkeit notwendig ewig 
zusammen, in den Dingen dagegen sind sie unterschieden, d. h. 
nach einander. Die Kreatur muss wohl potentiell sein, was sie 
aktuell ist, braucht aber nicht aktuell zu sein, was sie potentiell 
ist; niir Gott ist notwendig das, was er potentiell ist, immer auch 
zugleich aktuell, d. h. das possest. 

Was leistet nun aber diese Deduktion für dib Erklärung des 
Explikationsproblems? Nach des Nikolaus Ansicht sehr viel; 
durch sie glaubt er alle Finsternis verscheucht zu haben ; cf. 
fol. 176 a. 

Das possest ist nämlich die „complicatio unmium*^. Es 
schliesst alles Können, alles Sein, in sich, fol. 176a: „omnia in 
illo utique complicantur." So wie die mit der Eigenschaft des 
possest ausgestattet gedachte Linie das zureichende Urbild für 
alle wirklichen oder möglichen Figuren ist, so kompliziert das 
possest alles aktuell wie potentiell Existierende auf wirkliche 
Weise und unterschiedslos in sich imd entfaltet es aus sich. 
Alles ist in ihm „in sua causa et ratione.*^ Doch auch der Be- 
griff des possest reicht zum Verständnis der explicatio nicht aus, 
cf. fol. 179b: „intellectus . . , non capit"; zwar nicht alles ist 
blosse Vermutung. Denn, dass das absolute Unendliche durch 
den Kenner des Endlichen erkannt werde, ist gewiss, cf. fol. 
183b: „diximus mente . . . creatum intelligit,^ daher muss Gott 
unbedingt das possest samt allem Darinliegenden sein. Wie es 
aber das Endliche aus sich entfaltet, bleibt dunkel; hierfür gilt 
immer noch die Grundlage der doct, ign. 

In der Schrift ,de ven. sap.'^^) baut der imermüdliche 
Denker unter Zugrundelegung des zuverlässigen Satzes: „Was 
Jiicht werden kann, wird nicht**, das ganze System noch ein- 
mal auf. 

Der angezogene Grundsatz lehrt, dass alles Geschehen ein 
„Werdenkönnen** vpraussetzt ; diesem aber wieder geht als Prinzip 
und Ursache ein Nichterschaffenes, Nichtgewordenes, das ewige 
Absolute voran, cf. cap. III: „omne autem . . . posse fieri.** 
Dagegen das Werdenkönnen hat, da es dem Absoluten nachfolgt, 



Weder Soharpff noch Uebinger scheint die Zeitlage der letzten 
^obriften richtig zu bestimmen. Wir ordnen aus Innern Gründen so: 
de ven., de lüde glob. II, apez tb., oompend. 



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— 20 — 

einen Anfang, cf. cap. III: ,,sed cum sit post . . . habet initium."^ 
Nur ist sein Entstehen kein Gewordensein, sondern ein Geschaffen- 
sein, da es ausser dem Absoluten nichts voraussetzt, im Gegen- 
satz zu den endlichen Dingen, die durch Gott aus ihm produziert 
sind. Der Hervorgang des Endlichen aus Gott ist demnach so 
zu denken, dass Gott zunächst das Werdenkönnen schuf und in 
dieses die Naturen, d. h. die Muster der Dinge, „wie sie nach 
der vollkommenen Entfaltung der göttlichen Vorherbestimmung 
werden müssen," versenkte („cum in . , . fieri debent"). Jene 
Muster nun ahmen die Dinge im zeitUchen Verlaufe ihrer Ent- 
faltung aus dem Werdenköunen nach: „intueor . . . imitando.*^ 
Gleichwie der Gelehrte, der eine Logik schaffen will^ zunächst 
durch Aufstellung der Schlussfiguren das Werdenkönnen der 
Wissenschaft hervorruft und dann den Schüler aus den Figuren 
Schlüsse ziehen lässt, oder wie das Licht (cap. 4), das die Welt 
erhellen wollte, zunächst die alles Sichtbare enthaltende Farbe 
schaffen müsste, um durch sie das Sichtbare aus der Potenz in 
die Wirklichkeit zu überführen (cf. vis. cap. VI), so stellte Gott 
gewissermassen dem zuvor geschaffenen Werdenkönnen die Auf- 
gabe, die in ihm komplizierten Ideen zu realisieren (cap. IV). 
Das Werdenkönnen ist daher gleichsam de( Same^^) aus dem die . 
schöne, lichtvolle Welt sich zur Wirklichkeit entwickelte. 

Doch Nikolaus ist mit dieser klaren, bündigen Gedanken- 
bewegung noch nicht zu Ende, und beginnt mit Hilfe der drei 
Begriffe : possefacere, possefieri, possefactum die Erörterung noch 
einmal. Das Dritte gieng aus dem Zweiten durch das Erste, das 
Zweite durch das Erste hervor. 

Wozu diese neue Operation? Offenbar nicht, wieUebinger 
pag. 119 meint, aus Mangel an einer einheitlichen Bezeichnung 
lür die 3 Seinsarten, sondern, wie uns scheint, zur Abwehr 
pantheistischer Folgerungen. Denn wenn Gott der einheitlich 
aktuelle, und das Werdenkönnen der potentielle Grund des zu 
explizierenden, endlichen Seins ist, so ist der qualitative Unter-^ 



') Auoh Augustin vergleicht das Hervorgehen der Welt a\is Gott 
mit der Entwicklung des Baumes aus dem Samen (de civ. dei XXII, 24). 
Natürlich ist bei beiden, bei Auguatin wie bei Nikolaus, schon v6r dem 
ETolutioDsprosees Alles ausgebildet voriianden und wird nur im seitliolMn 
Nacheinander zur concreten Wirklicfakeit expliciert. 



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— 21 — 

■schied beider nicht genügend gesichert, denn auch das ,, Schaffen ** 
des Werdenkönnens, so sehr es auch betont wird, sinkt bei dieser 
Auffassungsweise zur Bedeutung einer blossen Wesensemanation 
aus Gott herab, wenn auch Nikolaus ausdrücklich den Neupia- 
tonismus zurückweist, cf. ven. XXI. Darum betont er noch ein- 
mal ausdrücklich den quaUtativen Wesensimterschied zwischen 
dem possefacere und dem possefieri, cf, Cap. 39 : „non igitur . . . 
xlifferentia,'* Das Evolutionsproblem aber erfährt dadurch keine 
Weiterbildung. Der Grundgedanke der Entfaltung des Endlichen 
von der Potenz im Werdenkönnen zur Aktualität des Seins bleibt 
bestehen. 

Uebrigens sind, so sehr auch Nikolaus das Erschaffen des 
Werdenkönnens betont, auch so noch nicht alle Unklarheiten 
AUS dem Begriff des Werdenkönnens eliminiert. Denn was es 
eigentlich sei, bleibt unklar. Dass es nicht mit Stöckl der 
sogenannten 2. Materie der Scholastik gleichgesetzt werden 
^arf, behauptet Uebinger mit Recht. Ebenso ist die TtQunr] vlrj 
des Aristoteles nicht damit identisch, da es „die Naturen der 
einzelnen Dinge keimartig enthält,*^ während diese vielmehr das 
letzte stofflose, nur die Keimanlage zu bestimmten aktuellen 
lormen in sich tragende Prinzip alles dvvd/iuiov wie heqyeUiQv 
ist, das, was in letzter Instanz dem Unterschiede der Elemente 
zu Grunde liegt, reine Entelechie. Eher möchte man es mit dem 
dvvdjLuiov selbst zusammenstellen. Denn auch dieses ist die keim- 
artige Anlage zur Wirklichkeit. Doch auch hier gilt: onmis 
similitudo Claudicat. Denn das dvvd/Luiov hat das Bestreben zu 
bestimmten Gattungstypen in sich : der Kirschkern will Kirsch- 
baimi, das Ei Vogel werden. Nicht so das possefieri. Auch an 
den plotinischen vovg könnte man denken, denn beide Faktoren 
sind weltbildend gedacht; doch während der vovg aus Gottes 
Wesen emaniert, wird das Werdenkönnen durch Gottes Willen 
aus dem Nichts geschaffen. 

Das aber ist klar, dass das Werdenkönnen den potentiellen 
Zustand des aktuellen Seins bedeutet. 

Da dasselbe also ein unklar gedachtes MittelgUed zwischen 
<jott und Welt bedeutet, reden auch die 2 folgenden Bücher 
über das ,Globusspiel^ wenig davon und greifen vielfach wieder 
zu dem Anschauungskreise der frühesten Schriften zurück : Gott 
die alles in sich befassende und aus sich entfaltende complicatio. 



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— 22 — 

Nur Pol. 167 b heisst es zur Erläuterung des Werdenkönnens 
also: das Werdenkönnen ist nicht etwa ein stoffliches Substrat^, 
woraus die Welt gemacht worden ist, sowie die Kugel aus Holz, 
sondern besagt nur, dass die Welt aus der Seinsweise der Mög- 
lichkeit (= Werdenkönnen) in die der Wirklichkeit überge- 
gangen ist, gleich wie die Kugel im Holze möglich, durch 
Determination der Möglichkeit aber wirklick ist : „intellegisne . . . 
transivit." Der göttliche Geist wäre ja nicht allmächtig, wejift 
er nur aus Etwas etwas machen könnte, lieber die Herkunft 
des Werdenkönnens werden wir auch hier auf eme creatio ex 
nihilo verwiesen. Wir sehen, das Werdenkönnen ist auch hier 
schwerlich begriffen. 

In gewaltigem Ringen seines Geistes lässt es Nikolaus auch 
schliesslich wieder fallen und greift, um das Problem der Ent-^ 
faltung des Seins aus dem Absoluten zu lösen, zu dem einfachsten 
aller Begriffe, dem des reinen Könnens.^) Diese innere Fortbil- 
dung und definitiven Abschluss des Systems vollzieht das Ge- 
spräch über die „Krone der Erkenntnis^ (de apice theoriae). 

Unzweifelhaft giebt es ein allen Substanzen gemeinsames 
Wesen, das ist die invariabilis subsistentia (fol. 219 : „attendi . . . 
subsistentiam"), oder das einfache Können, das posse ipsum. Denn 
ohne das Können kann überhaupt Nichts sein, es ist das wahre,^ 
früheste Wesen der Dinge, fol. 218: „quare . . . quicquam." 
Denn wer kennte das Können nicht? Sagt nicht der Knabe: Ich 
kann laufen, kann sprechen etc.? Sind nicht alle Nachkommen 
Adams dessen Können? Alles Geschehen ist nichts anderes als 
das Können der ersten Ursaghe ; ja selbst der Zweifel an etwas 
setzt das Können voraus. Alles besondere, spezifische Können, 
z. B. Sein — , Erkennenkönnen etc. sind nur verschiedene Mani- 
festationen des Einen Grundkönnens. Aufsteigend vom Endlichen 
zum Unendlichen müssen wir daher sagen : das absolute Urkönnen 
ist Gott selbst (= posse) ; das ist der inhaltsvollste und zugleich 
einfachste Begriff, diese Erkenntnis die Krone alles Wissens. In 



*) Unwillkürlioh wird man hier an Sohelling erinnert; auch dieses 
gewaltige Denkerleben ist reich an tastenden V e rsuohen zur Lösung des 
Weltproblems. Und nachdem einer den andern verdrängt, greift der Phi- 
losoph nach 60jährigem Ringen schliesslich zu den positiven Religionen,, 
um an deren Hand das Daseinsrätpel zu verstehen. 



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— 23 - 

diesem göttlichen Urkönnen muss alles Seiende enthalten sein 
(fol. 219 b: „hinc posse . . . continentur** = complicantur). 

Von diesem Gesichtspunkt aus löst sich das Entwicklungs- 
problem leicht auf: alle Dinge sind nur Erscheinungsweisen des 
Einen Könnens, foL 220 a: „et non videbis modos . . . apparens/ 
Wie das Bild die Erscheinung und Offenbarung ist, so sind alle 
Dinge des Könnens Spiegelbilder, fol. 220 b: „nam in omnibus 
. . . posse ipsimi.** 

Auch in der letzten Schrift ,compend.^ ist das Grundprinzip 
alles Seienden, Gott, das reine absolute posse, cf. z. B. Kap. X : 
„ipso posse nihil prius esse potest . . . quaecunque igitur aut 
esse aut cognosci possunt, in ipso posse complicantur.*' Und 
einige Zeilen später heisst es : „posse omnia uniter complicat et 
explicat.** In fast synonymem Sinne mit posse wird im 7. Kap. 
das „Wort" eingeführt als das alles in sich befassende, alles Sein 
bestimmende Prinzip, wobei unzweifelhaft an Joh. I, 1 — 4, ge- 
dacht ist. 

So kehrt Nikolaus gleich dem grossen Schelling nach einem 
vielbewegten Geisteskampfe aus den Höhen der Spekulation zu 
dem positiven Grunde der heiligen Schrift zurück. 

Das reine Können ist also einmal an die Stelle des possest, 
sodann an die des possefacere und possefieri getreten, wodurch 
ganz unvermerkt diese beiden Begriffe (p. facere und p. fieri) 
zusammengeschmolzen sind, wiederum ein Beweis dafür, dass 
Nikolaus in der Bestimmung des ersteren hart an den Neupla- 
tonismus streift und eine prinzipielle Unklarheit verrät. Aber 
auch die Aussagen über das posse ipsum scheinen eine Wesens- 
gemeinschaft zwischen Gott und Welt zu lehren ; denn dass die 
Welt eine Erscheinung Gottes ist, ist nur im Rahmen des Pan- 
theismus verständlich. Das hebt auch Stöckl pag. 67 mit 
Recht hervor. Wenn sich trotzdem Nikolaus immer wieder da- 
gegen wehrt, so gilt auch hier wieder das bereits über den 
Lehrgehalt der doct. ign. gefällte Urteil. 

Ueberblicken wir noch einmal die ganze Denkreihe, die das 
Können in irgend einer der vorgeführten Formen zum Ausgangs- 
punkt der Spekulation macht, so schemt uns das Problem der 
explicatio trotz der jedesmaligen Nüancierung dennoch im Grunde 
genommen gleichmässig imd einheitlich gedacht zu sein: die 



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— 24 — 

Welt tritt aus der ursprünglichen Potenz in die Aktualität, aus 
der UnvoUkommenheit in die Vollkommenheit über. 

Aus der chronologisch angestellten Betrachtimg des Verhält- 
nisses von Gott und Welt gewinnen wir somit für die Bestimmung 
des EntwicklungsbegrifFes zwei Hauptresultate: 1. Die explicatio 
ist ein (dualistisch und pantheistisch zugleich gedachter) abschwä- 
chender Hervorgang aus der alles Wirkliche enthaltenden imd 
imifassenden göttlichen complicatio. 2. Die explicatio ist ein 
Aktualisieren^ d. h. ein fördernder Hervorgang aus dem po- 
tentiell alles umfassenden posse. 

2, Das Universum und seine Gliederung, 
Im Anschluss an das Verhältnis von Gott und Welt be- 
trachten wir die Verwendung des Entwicklungsbegriffes auf dem 
Gebiete der Kosmologie. Diese findet sich hauptsächlich in den 
beiden frühesten Hauptschriften: doct, ign. und conj. 

Der Stufenbau des Universums wird durch das Prinzip der 
Zahlenbildung beherrscht. Die Zahl ist das Prinzip aller Dinge ; 
nichts kann früher sein als sie. Denn alles, was aus der absoluten 
Einheit heraustritt, ist ein Zusammengesetztes. So ist z. B. den 
Ternar eine Kombination von drei aus sich selbst zusammen- 
gesetzten Einheiten (conj. I, 4). Die Zahlenprogression erschöpft 
sich in Quatemar, d. h. in der Quersumme der vier ersten Zahlen 
= Zehnzal. Diese ist somit die natürliche Entfaltung der 
einfachen Einheit und als solche die zweite Einheit. Die gleich- 
artige Progression (10 -f 20 -|- 30 -f 40) führt zur dritten (100) 
imd schliesslich zur vierten und letzten komplikativen Einheit 
(1000). Die gesamte Zahlen weit ist somit nichts anderes als die 
progressive Explikation der ersten Einheit (coi\j. I, 5). 

Mit Vorausblick auf die Zahlentheorie lehrt nun Nikolaus 
ign. II, 6 : wie der Denar, die Explikation der Einheit, die Wurzel 
des Quadrates und des Kubus bildet, so ist die aus Gott expli- 
zierte Einheit des Universums die Wurzel der dritten oder qua- 
dratischen, sowie der vierten oder kubischen Einheit, d. h. das 
Universum expliziert sich in 3 Einheiten, die je stufenmässig 
aus einander hervorgehen xmd schliesslich zum partikularen Sein 
herabsteigen: in die 10 höchsten Allgemeinheiten (= Uni- 
versalien), Gattungen und Arten. Diese 3 Stufen zusammen bilden 
die Reihen der UniversaUen, die allerdings nicht ausser, sondern 



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— 25 — 

nur in den Dingen konkret existieren. Aus dieser ihrer imma- 
nenten Natur folgt zugleich, dass die Stufen des Universums 
nicht zeitlich (wie Aviccenna u. a. lehren), sondern nur logisch 
nach einander zu denken sind, und mit dem Entstehen des Uni- 
versums alle zugleich ins Dasein getreten sind (ign. II, 4). Das 
Universum ist somit nur kojitrakte in den Dingen, oder anders 
gesagt, jedes wirkliche Ding ist ein zusammengezogenes Uni- 
versum. Nim ist aber Gott selbst in dem Universum das, was 
es seinem absoluten Wesen nach ist, daher gilt der Satz : Alles 
in Allem, Jegliches in Jeglichem, d. h. Gott entfaltet sich (ist) 
mittelst des Universums in den Dingen (ign. II, 5). 

In conj. I, 6 stellt Nikolaus unter dem gleichen Gesichts- 
punkte der Zahlenprogression folgende Stufenleiter des Alls auf: 
Gott, VemunIt, Seele, Körper. Jede der folgenden ist die jedes- 
malige Explikation der vorhergehenden (conj. I, 6 — 10). Die 
göttliche Einheit fasst alle andern in sich, die geistige ist die 
einfache imd alles Anderssein indivise atque irresolubiliter in 
sich sohliessende, die Seele, die durch den Gegensatz beherrschte 
quadratische, weiterer Entfaltung unfähige letzte Einheit. Geist, 
Seele, Körper sind somit die 3 Seinsstufen des Universums. 
Nach conj. I, 14 endlich expliziert sich das All in eine oberste, 
mittlere und untere Welt, mit Gott, Vernunft und Verstand als 
Centrum ; die Sinnlichkeit ist gewissermassen nur die grobe Rinde 
um die dritte Wfelt. Indem nun jede dieser 3 Welten je nach 
dem Vorwiegen eines der drei Faktoren sich wiederum in je drei 
andere Welten auseinander legt und sofort, s6 ensteht ein un- 
geheurer Reichtum an Explikationen, cf. I, 16. 

Eine andere Betrachtung der Stufenfolge im All ergiebt 
sich aus dem bereits bekannten Satze: die Einheit des Alls ist 
eine dreiheitliche, nämlich zusammengesetzt aus der absoluten 
Möglichkeit, Wirklichkeit und dem Bande beider; daher giebt 
es ausser Gott 3 Sein weisen: die der eingeschränkten Möglich- 
keit (= Universum), der bestimmten (= Welt) und der 
reinen Möglichkeit (= wie die Dinge sein können). Diese 3 
Weisen bilden eine imiverselle Seinsart (ign. II, 7), und zwar 
so, dass immer die niedere aus der höheren hervorgeht. Analog 
dem imiversellen Stufenbau, den wir für unsern Zweck nicht 
weiter zu verfolgen brauchen, denkt sich nun Nikolaus weiterhin 
<iie Bewegung im All, cf. ign. II, 10. Die Alten dachten sich 



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— 26 - 

die Bewegung als Produkt von Materie und Weltseele; jene 
trägt das Verlangen nach Wirklichkeit in sich, ohne durch eigene 
Kraft in der Lage zu sein, zu ihr zu gelangen. Diese trägt wie 
in einem Knäuel eingewickelt die Ideen, d. h. die Formen der 
Dinge, in sich. Indem sie diese in die verlangende Materie hin- 
einsenkt, entsteht die beide verbindende und das ganze Univer- 
simi durchdringe Bewegung = Natur. Anders Nikolaus. Er 
lehrt: Alle zeitliche Bewegung ist nur die Explikation der 
Planetenbewegung, wie diese sich wiederum aus Gott = der 
ersten Bewegung entfaltet hat. Die Planetenbewegung ist die^ 
durch das gan^e Universum gehende Gesamtbewegung und heisst 
als solche Natur. Die Natur ist also die complicatio von allem, 
was durch Bewegung entsteht. Wie diese Bewegung aus Gott 
heraus mit Beibehaltung der stufenmässigen Odnung durch das 
Allgemeine in das Partikulare herabsteige, wo sie in'zeitlich 
konkreter Gestalt erscheint, ist ungefähr so zu denken, wie der 
Vorgang der Sprache : Ich spreche zuerst die Buchstaben, dann 
die Silben, endlich die Worte und den ganzen Satz aus, wenn 
auch selbstverständlich diese Ordnung nicht physiologisch unter- 
schieden wird. Der Reichtum der universellen Entfaltungs weisen 
selbst aber ist als Ganzes die einheitUche, einmalige und plan- 
mässige explicatio des göttlichen ordo, der alles zu unauflöslicher 
Einheit und stetiger, lückenloser Kontinuität des Seins ordnet 
und einfügt (cf. Augustin — Leibniz), ign. III, 7, ven. Kap. 30 
bis 32 u. a. 

Die explicatio^ sehen wir, ist in der Kosmologie im allge- 
meinen nicht anders gedacht, als in der in den nämlichen Schriften 
vertretenen Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt. 
Sie bedeutet auch hier durchweg das Herabsteigen aus dem 
notwendigen, vollkommenen in den möglichen, unvollkammenen 
Zustand. Das zeigt sich besonders klar conj. I, 14. 

3. Geist und Erkenntnis. 

Einen breiteren Raum als die Kosmologie nimmt die Er- 
kenntnislehre in des Nikolaus Schriften ein. Sie bietet für die 
Ermittelung der Bedeutung der explicatio reiches Material. 

Die Weltstellung des Geistes ist uns aus der Stufenlehre 
des Alls bekannt. Jetzt gilt es, sein spezifisches Wesen, sowie 



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— 27 — 

sein Verhältnis zu den Erkenntnisprodukten zu beleuchten. Da- 
bei aber wird sich uns der Explikationsbegriff in teilweise ganz 
neuem Lichte zeigen. Als rationelles Wesen gehört der Mensnh 
zwei Welten zugleich an : der sinnlichen und der geistigen. Die 
höchste Stufe der ersteren föUt mit der untersten Stufe der 
letzteren in ihm zusammen. Er ist eine Welt im kleinen, ein 
kontrahiertes Universum,^) die Krone der Schöpfung (universa 
intra se constringens, ign. III, 3, ebenso später lud. fol. 167a: 
„homo perfectus mundus**). 

Alles schliesst also der menschliche Geist in sich; daher 
kann er aber auch nichts erkennen, was nicht bereits vorher 
implicite in ihm läge, cf. ign. II, 6: „nihil potest . . . explicat." 
Die schöpferische Thätigkeit der menschlichen ratio kommt also 
nicht über sich selbst hinaus, ^) sondern sie produciert, d. h. er- 
kennt nur das in ihr potentiell Präexistierende (conj. II, 14). 

Wie erkennt nun aber der menschliche Geist ? Wie kommt 
sein Erkennen zu stände? Antwort: Wie Gott die Welt schafft, 
so entfaltet der menschliche Geist, als das erhabene Ebenbild 
Gottes, in Aehnlichkeit der sinnlichen die begriffliche Welt aus 
sich, als Abbild der in den Dingen konkret existierenden Uni- 
versalien seine eigenen. Erkennt er also die Welt, so bringt er 
ein bereits in ihm konkret liegendes Bild der Welt mittelst sinn- 
bildlicher Zeichen zum Bewusstsein, d. h. zur Entfaltung (ign. 
II, 6 Ende, ebenso später ven. 29 Ende), oder, wie es conj. I, 3 
heisst: er expliziert zum Zwecke der Erkenntnis aus sich, als 
dem Bilde der allmächtigen Form, in Aehnlichkeit der wirklichen 
Dinge Verstandesdinge. Und wie Gott alles um seiner selbst 
willen wirkt, um Anfang und Ziel von allem zu sein, so ist 
auch die Auswicklung der komplizierten Begriffswelt Selbstzweck 
des Geistes. Dean je tiefer er sich in der aus sich entwickelten 
Welt erkennt, um so reicher wird er befruchtet (!). Daher sein 
natürlicher Durst nach Erkenntnis, d. h. Vervollkommnung, 



') Deutlich blickt hier der Grundgedanke der Monadologie hindurch. 
Ob freilich zwischen Nikolaus und Leibniz ein historischer Zusammen- 
hang bestehe, ist eine andere Frage. 

*) So streift hier Nikolaus hart an den Kantischen Apriorismus an, 
andererseits spricht er den Grundgedanken des Rationalismus (nur mit 
anderen Worten) aus: Die Monade hat keine Fenster, sondern .... 
of. Leibniz, nouv. ess., lib. 1. 



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— 28 — 

Bereicherung (conj. I, 3). Aehnlich heisst es Kap. 13: Je durch- 
gebildeter (formior) die Erkenntnis Gottes,' desto näher kommt 
ihre Potentialität der höchsten Aktualität, je dunkler aber, desto 
entfernter ist sie von ihr. 

Diese begrifiFebildende Verstandesthätigkeit beruht nun auf 
dem fruchtbaren Prinzipe der Zahlen. Die Zahl ist die erste Ex- 
plikation des Verstandes, sie ist gleichsam der entfaltete Grund 
der Verstandesentfaltung selbst. Ohne sie wäre nichts erkennbar 
für den Verstand. Dass er sich der Zahl bei seinen Mutmassungen 
bedient, heisst: er bedient sich seiner selbst und bildet alles in 
seiner natürlichen Aehnlichkeit, sowie Gott Alles durch Mitteilung 
seines Seins bildete. Der Mensch ist das Mass der Dinge. Nur in 
seinem Bilde, der Zahl, erkennt er seine eigne Einheit, und zwar 
als eine vierfache : Als einfachste, Wurzel der folgenden, Quadrat 
der zweiten, Kubus der zweiten. Er nennt sie der Reihe nach: 
Gott, Vernunft, Seele, Körper (cf. Stufenlehre); mit andern 
Worten: er erkennt die Dinge entweder göttlich, wie sie not- 
wendig sind, oder vernünftig, wie sie zwar nicht notwendig aber 
wahr, oder seelisch, wie sie wahrscheinlich, so oder so sind (so- 
wie die Zahl grade oder ungrade ist), oder sinnUch, wie sie 
selbst ,die Wahrscheinlichkeit verlieren und Verworrenheit an- 
nehmen, cf. coiy. I, 6. Den vier allgemeinen Seinsweisen entspricht 
also eine vierfache Erkenntnisweise des Geistes. Auf die ver- 
schieden aufgestellten Stufenreihen der Verstandeserkenntnis 
brauchen wir nicht einzugehen. Jede dieser Stufen ist, darin 
liegt für uns der springende Punkt, entsprechend der Stufenleiter 
der 4 Seinswesen : 1. Im Verhältnis zu der jedesmal vorangehen- 
den die explicatio ; 2. im Verhältnis zu ihren Produkten die 
complicatio. So ist der Intellekt die Komplikation der Prinzipien ; 
die Seele kompliziert die Begriffe, die Zahleneinheit, den Punkt etc., 
die Sinne komplizieren die Empfindungen aus sich. Die expli- 
zierten Produkte aber sind, wie gesagt, z. T. selbst wieder kompli- 
kativer Natur. So wie der Same die Explikation des gegenwärtigen 
Baumes und die complicatio des zukünftigen ist, so wächst aus 
den aus dem Verstände explizierten Begriffen als dem Samen 
der Baum der Verstandeserkenntnis hervor, der wiederum stau- 
nenswerte Früchte trägt, und so fort in infinitum. Dasselbe gilt 
von den aus der Vernunft entfalteten Prinzipien als dem Samen 
der Vemunfterkenntnis . Dutch den Senar,^ Septenar und 



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— 29 — 

Denar wird dies veranschaulicht II, 7. Nur der sensus ist zu 
weiterer Entfaltung unfähig; in ihm hat der Geist das Ende 
seines Ausströmens erreicht, darum kehrt jetzt die sinnliche Ein- 
heit nach oben zurück. Der Sinn steigt zum Verstand, dieser 
«um Intellekt, dieser zu Gk)tt, dem Anfang der Explikation, im 
Kreislaufe zurück I, 10, 16. Das Göttliche giebt sich dem End- 
lichen hin, auf dass dieses zu ihm zurückkehre, vergeistigt werde, 
II, 13, 14. Dem Nikolaus schwebt wohl dabei das Bild des Rege^- 
tropfens vor, der, aufsteigend aus dem Meere, schliesslich zu ihm 
wieder zinrückkerfH. Warum ist dieser Kreislauf aber nötig? 
Warum muss, damit das Sinnliche sich vergeistige, das Geistige 
erst in die Region des Sinnlichen herabsteigen? Antwort: Der 
Geist bedarf des Sinnlichen als Mittel zu seiner eigenen Förde- 
rung; denn der Körper muss den schlafenden Verstand durch 
ein gewisses „Staunen" erst zur Explikation seiner komplikativen 
Fülle anregen ; er ist daher das Schwungbrett, das Schiff des ins 
Ewige sich erhebenden Geistes. 

Ausgang imd Rückkehr des Geistes sind also zwei sich 
notwendig einander ergänzende, jedoch nicht zeitlich getrennte 
Akte, sondern fallen in einen zusammen. Ein Schritt des Un- 
endlichen nach unten hin bedeutet zugleich für das Endliche 
einen Schritt dem Oberen näher (II, 7, 10, 16). 

Je tiefer sich die Vernunft in die Sinnesregion versenkt, 
je mehr wird diese von ihrem Lichte absorbiert, so dass zuletzt 
das Anderssein, in der Vernunfteinheit aufgelöst, seine Ruhe 
findet; je mehr sich der Geist aber von dieser Andersheit los- 
löst (se abstrahit), desto vollkommener wird er. Schaffen und 
Erkennen ist daher identisch. Der Zweck der Schöpfimg ist die 
Erkenntnis, die Vervollkomnmung des Geistes, cf. coiy. II, 16, 17. 
Das Geistige soll aus seiner im Sinnlichen schlummernden Potenz 
geweckt werden und sich vervollkommnen.*) 

Soweit die Aussagen der doct. ign. und conj. Der Expli- 
kationsbegriff findet hier sehr reichliche Verwertung. Er beherrscht, 
'wie wir sehen, die Region der Erkenntnisstufen unter einander^ 
das Verhältnis der einzelnen Stufen zu ihren Produkten, der 
Produkte zu ihren weiteren Entfaltungen und so fort. In wie- 



') Die VerwandtBohaft mit dem plotinisohen Gedankenkreise tritt 
hier deutlioh hervor. 



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— so- 
fern freilich die Verwendung auf diesen verschiedenen Gebieten 
eine verschiedenartige Bedeutung des BegrifiFes involviert, wird 
sich bald zeigen. 

Den in coiy. und ign. aufblitzenden Gedanken von dem 
Reichtum des mikrokosmischen Individuums führt die Schrift 
de qucer! deum weiter aus : der Geist, heisst es gegen Ende, hat 
die Natur des Feuers an sich. Seine Bestimmung ist, zu brennen 
und zur Flamme anzuwachsen. Er wächst aber, wenn er durch 
Staunen angeregt wird. Denn er hat die unmerkliche Kraft des 
Senfkorns in sich, das die Potenz zum Baume und durch dessen 
Samen zu unendlich vielen Bäumen in sich trägt. Wer staunte 
nicht über solchen Reichtum? Daher kann der Geist bis ins 
UnendUche wachsen und zu immer reicherem Lebensinhalte 
fortschreiten. Doch genug! Das beunruhigt den Dogmatiker. 
Denn wo bleibt bei solcher Lehrweise der Wert des Glaubens? 
Allerdings hat die vorhergehende Partie der Schrift aus dem 
Verhältnis von Licht und Farbe bereits die Notwendigkeit des 
Glaubens zur Erkenntnis des Absoluten dargethan, doch ist in 
jenem kühnen, freudigen Anlaufe am Schlüsse nichts mehr von 
diesem beengenden Vehikel zu spüren. Darum bringt sogleich 
die folgende Schrift ,de dat patr/ Kap. I und V, die gleiche 
Beschränkung: zwar umfasst der Geist potentiell Alles, doch 
bedarf er, um zum wirklichen Erkennen vorzudringen, des Glau- 
benslichtes. Unsere geistige Kraft, heisst es, trägt unsägliche 
Schätze von Licht in sich, die wir, so lange sie nur potentiell 
da sind, nicht kennen, bis sie uns durch ein aktiv einwirkendes 
göttliches Licht eröffnet und die Art und Weise, sie hervorzu- 
locken, uns gezeigt wird. Von der gleichen Anschauimg ist die 
Schrift j,defiL^ durchtränkt: das ewige Wort hat das rationelle 
Moment in uns gelegt; lassen wir dieses durch Aufnahme des 
göttlichen Lichtes sich zur aktuellen Vernünftigkeit entfalten, 
so ensteht in dem Gläubigen die Möglichkeit der Sohnschaft 
Gottes (= Gipfel des Erkennens). Wer nun nicht glaubt, erhebt 
sich nicht zu dieser Höhe, sondern verlegt sich dazu selbst den 
Weg. Denn nichts ist ohne den Glauben erreichbar ; erst durch 
seinen Einfiuss wächst unsere vernünftige Natur zur vollkommenen 
Reife des Mannes heran. 

So wird die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis erst 
durch die Intervenienz des Glaubens möglich, ja dieser scheint 



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— 31 — 

-das erkennende Subjekt selbst zu sein, und nicht der Geist. Er 
ist daher der Anfang der Erkenntnis. So lehrt bereits auch ign. 
III, 1 1 (dieses wichtige Kap. führen wir am besten hier erst ein). 
Wer eine Wissenschaft erforschen will, rauss von einigen letzten 
Axiomen ausgehen, um aus ihnen das gesuchte Wissen zu ent- 
falten ; diese erfasst aber allein der Glaube. Glaube und Wissen- 
schaft verhalten sich zu einander wie complicatio und explicatio; 
jener enthält, wie der Keim die Blüte, komplikative das, was 
diese explikative: „fides est in se complicans . . . explicatio." 
Das Wissen erhält daher durch den Glauben seine Richtung 
^dirigitiu-), der Glaube durch das Wissen seine Entfaltimg (ex- 
tenditur). Wo daher kein gesunder Glaube, da kein gesundes 
Wissen. 

Damit aber scheint der menschliche Geist auf einmal aller 
Selbständigkeit beraubt. Er, der sonst gepriesen wird als ein 
weltimispannender, gleich Gott ebenfalls bildender Schöpfer der 
Welt, der wird jetzt zum Diener des Glaubens degradiert, er hat 
weiter nichts zu thun, als das im acceptierten Glauben Enthaltene 
auseinander zu legen, zu verdeutlichen und dann wieder zur 
Einheit des Schauens zusammen zu schliessen, damit sich ihm 
die reine Wahrheit entschleiere. Darin stimmt uns auch Stöckl 
(pag. 36) bei, wenn er sagt : „Die Tragweite des Glaubens wird 
hier weiter ausgedehnt als Recht ist.** Um nun aber ein richtiges 
Urteil von dem hier vorliegenden Entwicklungsbegriff zu erhalten, 
fragt es sich, wie sich Nikolaus einen solchen komplikativen 
Olauben, neben dem die selbständige Erkenntnisthätigkeit des 
Geistes keinen Platz mehr findet, wohl denke? Ist nämlich der 
Geist ohne den Glauben erkenntnisunfähig und erst im Besitze 
dieses ein wirklich thätigkeitskräftiger, so ist der Glaube aller- 
dings, wie Stöckl sagt, nur „eine Ergänzung der intellektuellen 
Natur des Menschen," wobei sein Charakter als übernatürliches 
Glaubenslicht verloren geht. Diesen Gedanken spricht nun Ni- 
kolaus später (poss. fol. 178b) auch aus: „lumen fidei natursB 
debitum." Dann aber ist der Glaube allerdings nur eine vorläufige 
Disposition der Vernunft zur Erkenntnis der Wahrheit (Stöckl 
pag. 36), und tritt hinsichtlich seiner komplikativen Fülle mit 
den Universalien des Verstandes in eine Reihe: hier wie dort 
findet dann die Entwicklung aus der Tiefe in die Höhe statt. 
Denn auch der Glaube kann in dieser Fassung die visio intellec- 



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— 32 — 

tualis nur zum Ziel seiner Thätigkeit haben. Mag auch Nikolaus 
selbst hierüber anders denken, mag er auch in der komplikativea 
Glaubensfiüle einen Zustand der Vollkommenheit sehen, so liegt 
doch unstreitig unsere Auffassungsweise in der Konsequenz seiner 
Aussagen. Das gilt auch gegen die Ansicht Falckenbergs, der in 
dem (jusanischen Glauben keine ,die Frucht zeitigende Blüte 
oder an der visio sterbende Mutter," sondern den unaufhörlich 
sprudelnden Quell der Erkenntnis sieht. 

Wir konunen zu dem Idioten^ von dessen 4 Büchern nur 
das dritte für ims in Betracht kommt. Dem Zweck der Schrift 
entsprechend, bildet ihr erkenntnistheoretischer Inhalt teils die 
Rekonstruktion, teils die Ergänzung des in den Ko]\jekturen 
Gelehrten: So fügt Id. III, 2 zu der aus Conj. uns bekannten 
Thätigkeit der BegrifiFsbildung des Geistes als ergänzendes Fun- 
dament derselben den Ideenbesitz hinzu. Allerdings sind die 
Namen, die der Geist aus der Uebereinstinmaung, resp. Verschie- 
denheit der Dinge bildet, blosse Gedankendinge, z. B. die Namen 
der Gattungen und Arten. Es ist daher nichts in dem Verstände^ 
was nicht vorher in den Sinnen war. Aber die Dinge haben 
noch ein anderes Sein, als das rein begrifSiohe oder gedachte^ 
(fol. 82 b), nämlich das urbildliche, das vorher weder in den 
Sinnen noch im Verstände war, sondern, wie die Wahrheit dem 
Bilde, 80 den Dingen vorangeht und in ihnen wiederleuchtet, im 
übrigen aber von ihrer konkreten Existenzweise nicht berührt 
wird. Es giebt daher univ^rsalia post und ante res. Die letzteren 
allein sind die wahren Wesensformen der Dinge, die reinen 
Entelechien, die im Geiste bereits existieren, bevor er sich ihrer 
nur bewusst wird* (Leibniz) und in Nachahmung derselben die 
Abbilder der Dinge schäm. So hat z. B. der Löffel (fol. 82 a) 
sein Urbild (idea) nur in meinem Geiste, und ist hier unabhängig 
vom empirischen Löffel, denn es gehört nicht zum Wesen des 
Urbildes, Löffel zu sein. Zerlegt man diesen daher in seine Teile^ 
so hört wohl er auf zu sein, nicht aber das Urbild (forma spe- 
cularis fol. 85), ebenso wenig wie die Wahrheit durch Zerstörung 
ihres Bildes, oder die Menschheitsidee durch Vernichtung der 
konkreten Individuen aufhört zu sein. Fol. 82 b. 

Es ist also eine dreifache Seinsweise der Dinge im Geiste 
zu unterscheiden: das urbildliche^ das konkrete, das begriffliche 
oder abbildliche Sein. Als Inbegriff der letzteren ist der Geist 



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— 33 — 

das Mass der Dinge (terminus et mensura): fol. 81 bi „mens est 
qu3e omnia terminat^" „arbitror, vim illam, quae in nobis est, 
omnia rerum exemplaria notionaliter complicantem, quam mentem 
appello/ * 

Nicht inmier ist für Nikelaus beides, urbildliches und ab- 
bildliches Sein, im Geiste bei einander; in der Regel wird nur 
das zweite in ihn verlegt, cf. conj., id. fol. 83a/b etc. Pol. 83a/b 
heisst es (si mentem divinam ... bis Ende des Kap.): nennt 
man den göttUchen Geist die universitas der Wahrheit der Dinge, 
so ist der menschliche die universitas der assimilatio derselben; 
der Inbegriff des göttlichen Geistes ist die Produktion der Dinge, 
der des unsrigen die BegriflFsbildung (notio rerum fol. 86 b), d. h. 
in Gott sind die Dinge als absolute Entitäten, in unserm Geiste 
als deren Aehnlichkeiten. Enthält sie also der göttliche Geist in 
propria et praecisa veritate, so enthält sie der unsrige nur in 
imagine et in similitudine proprise veritatis, d. h. begrifSich, und 
fol. 81a heisst der Geist geradezu die vis assimilativa (cf. ber. 
Kap. 15): „In visu se assimilat visibilibus, in auditu audibilibus, 
in gustu gustabilibus . . .^^ Auf diese Weise erreicht der Geist 
das Sein der Dinge natürlich nur in possibilitate essendi seu 
materia, und die so gewonnenen notiones sind nur conj. iucertse, 
weil sie nur „seciindum imagines rerum, non veritatis" gebildet 
sind, fol. 87 a. Bisher ist der Geist gegenüber den Dingen, die 
er begrifiBich in sich nachkonstruiert, durchaus das abgeschwächte, 
minder wahre Sei» ; doch gleich darauf heisst es : Nur gegenüber 
dem götthchen Urbild ist der Geist Abbild (und zwar prima 
imago, Viva descriptio dei fol. 84b), aber von allen andern ihm 
nachstehenden Abbildern Gottes ist er das Urbild. Diese parti- 
zipieren nur insofern an der göttlichen Wahrheit, als sie am 
menschlichen Geiste partizipieren; also ist das Sein der Dinge 
plötzUch auf wahrere Weise im Geisfe, fol. 83 b. Aber selbst 
das begriffliche Sein scheint in diesem Zusammenhang wahrer 
als das konkrete zu sein, denn fol. 89a heisst es: der mensch- 
liche Gtoist umfasst mit seiner Spannkraft (vis) die aller übrigen 
Komplikationen und ihr Sein in durchaus notwendig wahrerer 
Weise; denn das abstrakte, von der variierenden Konkretheit 
der Dinge gewissermassen als Quintessenz abgezogene Sein ist 
allein das wahrere („quia, quae vere sunt, abstracta sunt . . . 
non sunt materialiter, sed mentaliter ! I). Dass aber eine solche 

Dr. KUstoer, Dor Begriff der Bntwicklung bei Nikolftut Ton Kuet. 3 



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— 34 — 

doppelte Schätzxing der Wirklichkeit, wie sie uns die eben vor- 
geführte Ideenlehre zeigt, für die Bedeutung des Explikations- 
begriffes nachhaltige Konsequenzen hinterlassen muss, leuchtet 
ein (s, Teil 2 das nähere). 

Das Fundament aller geistigen Thätigkeit aber liegt noch 
tief unter den Begriffen und Ideen. Denn wären diese das erste, 
so wären sie angeboren. Nun ist allerdings unser Geist, da er 
nur zu seiner Förderung mit dem Körper verbunden ist, un- 
zweifelhaft mit allem dem ausgestattet, was einen Mangel an 
Vollkommenheit ausschliessen würde; doch angeborene Begriffl^ 
und Ideen sind undenkbar ; vielmehr gleicht die Seele zunächst 
dem gesunden Gesichtssinn, der in der Dxmkelheit des Lichtes 
entbehrt. Aber auch Plato^) irrte, wenn er die der Seele ange-; 
borenen Begriffe durch die Vereinigung mit dem Körper wieder 
verloren gegangen sein Hess. Denn die Seele bedarf ja des Kör- 
, pers zu ihrer Vervollkommnung. Ebenso ist der Satz des Aristoteles 
von der tabula rasa falsch, da der Geist ohne jeglichen aprio- 
rischen Besitz sich ebensowenig entwickeln könnte, als der 
Taubgeborene ein Zitherspieler werden kann. Die Wahrheit hegt 
nach Nikolaus in der Mitte: der Geist besitzt eine angeborene 
Urteilskraft (vis judiciaria), vermöge deren er Beweise billigt 
oder verwirft etc., und das alles zu seiner Vervollkommnung. 
Diese Kraft ist das Fundament aller Erkenntnis, sie ist die „forma 
substantialis sive vis in se omnia suo modo complicans,** fol. 84, 
oder : „quoddam divinum semen sua vi complicans omnium rerum 
exemplaria notionaliter," fol. 84 b. Diese vis seminaUs senkte GK)tt 
in geeigneten fruchtbaren Boden (Körper), damit sie hier durch 
begriffliche Entfaltung der Ding Früchte trüge („simul in con- 
venienti terra notionaliter explicare ... in actum prorumpendi^) 



*) Cf. Plato's Ideenlehre in den Schriften Phäd, Phädr, Menon. Nach 
Plato ist alles Erkennen nur ein sioh Wiedererinnern der Seele an die 
Ideen, die sie in ihrer Präexistenz deutlich besass, aber durch Verbindung 
mit dem Körper verlor. Sie kann aber durch Nachdenken unabhängig 
von der Erfahrung alle Yernunfterkenntnisse gewinnen, da sie ja bereits 
dunkel in ihr liegen. In dem Gespräch Menon, in welchem Sokrates einen 
Sklaven ohne vorangegangene Belehrung fern liegende Wahrheiten durch 
blosses Fragen finden lässt, zum Beispiel dass das über der Diagonale 
konstruierte Quadrat doppelt so 'j^oss als das ursprüngliche sei, giebt 
Plato die Probe. 



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— 35 — 

^und sich dadurch zur Aktualität ausgestalte.^) Der Begriff der 
Entwicklung, das ist das für uns wichtige, aus dem (besagten 
hervorgehende Resultat, bedeutet hier deutlich ein Aufsteigen 
aus dem unvollkommenen zimi vollkommenen Zustand, aus der 
bloss keimartig vorhandenen potentiellen Urteilskraft zimi ak- 
tueUen Wissen. 

Im übrigen bringt die fesselnde, interessante Darstellung 
•des Idioten nur Reminiscenzen und Anklänge aus den früheren 
Schriften. Auch ist in ihnen keine Portbildxmg des früheren 
Standpunktes bemerkbar. 

Auch die in den folgenden Schriften niedergelegten erkenntnis- 
theoretischen Erwägimgen sind nur Seitentriebe zu dem in conj. 
imd Id. III wurzelnden Grundstöcke. „De ber.^y Kap. 32, 33, 
verbreitet sich nochmals ausführlich über die Universalien und 
konmit nach Verwerfung der platonischen Ideenlehre zu dem 
Resultat, dass alle Erzeugnisse des Verstandes nur Aehnlichkeiten 
der realen Welt sind, dass allerdings die Begriffe in unserm Ver- 
stände wahrer sind als ausser ihm, nicht aber die Dinge selbst. 
Das Bild, der Begriff des Hauses, ist im Geiste des Baumeisters 
wahrer und reiner als in dem aus Holz und Stein erbauten, nicht 
aber das konkrete Haus selbst. Das hat Plato verkannt. Der 
menschliche Geist ist also der Schöpfer der Begriffe, mittelst 
deren er in seiner Weise eine Erkenntnis der Dinge zu gewinnen 
sucht. Den gleichen Gedanken finden wir ven. 29, fol. 213: Unser 
Geist, ein Abbild des göttlichen Geistes, fasst alles notionaliter, 
nicht realiter in sich ; er findet daher nicht das Wesen, sondern 
nur die Bilder der Dinge in sich, er ist ein locus specierum. 
Denn die wahre Wesenheit der Dinge liegt vor den Begriffen,- 
welche erst nach den Dingen kommen. Das Globusspiel endlich 
giebt eine interessante Beleuchtung des Geistes nach seinem 
mikrokosmischen Wesen, seiner vierfachen Erkenntnisweise der 
progressiven Zahlenentfaltung als Prinzip aller Erkenntnis etc., 
lauter Gedanken, die uns in gleicher Verwendung bereits be- 



') Indem Nikolaus somit eine bloss urteilende Grundkraft des Geistes 
als angeborenes Moment statuiert, urteilt er nach unserm Dafürhalten 
bAionnener als Leibniz (nouv. essais, lib. 1, 2), dessen Satz für die an- 
geborenen Ideen doch wohl nur teilweise, das heisst nur für die theo- 
retischen, erweisbar ist. 



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— 36 — 

kannt sind, und nur hier und da etwas ausführlicher verfolgt 
werden. So bringt z. B. fol. 164 b zu der Lehre von der Begrijffs- 
bildung und der angeborenen Urteilskraft die notwendige Kon- 
sequenz, dass der Geist alle Wissenschaften, ja das ganze 
(xedankenreich, virtualiter in sich enthalte. Er ist der Erfinder 
der Arithmetik, Geometrie, Musik u. s. w. Der Satz wird dadurch 
nicht gefährdet, dass wir manches nur unbewusst besitzen und 
erst durch Konzentration der Aufmerksamkeit Kunde davon 
erhalten; denn wenn ich auch Kenntnis von Musik habe, so 
merke ich doch, so lange ich Geometrie treibe, nicht, dass ich 
Musiker bin. Vielmehr muss die zwar latent, aber dennoch real 
besessene, Erkenntniskraft erst zu deutlichem Erkenntnisbesitze 
erhoben und entwickelt werden (cf. Leibniz). 

Der Reichtum des menschlichen Geistes ist unermesslich, 
er unterscheidet durch diese seine Kraft alle Werte. Er selbst 
ist die Komplikation aller Werte. Sie liegen sämtlich ideal in 
ihnen, sowie in der grösstbesten Münze die Werte aller andern 
(Schluss lib. 2). So tönt das Gespräch gleich dem über das Gott* 
suchen in dem Lobpreis der menschlichen Geisteskraft aus. 

Das ,compendtum^ endlich fasst noch einmal den Grund- 
gedanken der Erkenntnislehre dahin zusammen: Der Verstand 
ist artifex et causa omniura, ist aber in seiner Thätigkeit der 
Begriffisbildung an die sensible Welt gebunden. Gleich einem 
Kosmographen gehen ihm durch 5 Thore die Botschaften aus 
der ganzen Welt zu. Dagegen die Vernunft schöpft ihre Erkennt- 
nisse aus sich selbst ohne Abstraktion; sie ist nur bestrebt, die 
potentiell in ihr schlummernden Ideen (Prinzipien) zu aktuellen 
Erkenntnissen zu erheben (Kap. 11). Ausserdem bringt Kap. & 
die Ergänzung, dass die sittlichen Begriffe dem Menschen an- 
geboren sind (cf. id.?!I): ^habet cognatas species insensibiles 
virtutis, justi et aequi, ut noscat, quid justum, rectum ... et 
illorum contraria" (Leibniz!). Und so liegen ausser den theore- 
tischen (lud. glob.) auch die moralischen Erkenntnisse bereits 
potentiell im Menschen und bedürfen nur der explicatio, um sich 
zu aktuellem, vollkommenem Besitztume zu erheben. Der Be- 
griff der explicatio behält auch hier, wie wir sehen, den Sinn 
der Bewegung von der Tiefe zur Höhe, aus dem Zustand der 
Unvollkommenheit zu dem der Vollkommenheit. 



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— 37 



n, Kritisch-sjstematischer Teil. 



Der vorstehende Teil der Untersuchung konnte zwar keines- 
wegs den ganzen Umfang des EntwicklungsbegrifiFs bei Nikolaus 
in erschöpfender Weise darstellen. Eine passende Auswahl der 
geeignetsten Stellen allein war beabsichtigt. Aber auch sie ge- 
nügen, um zu zeigen, dass der Begriff der explicatio eine nicht 
minder reichlwhe als verschiedenartig gefärbte Verwendung 
«rf&hrt. 

Gott und Welt, Können (dreifach) und Welt, Welt imd 
Einzeldinge, Gott und Geist, Geist und Körper, Geist imd Er- 
kenntnismittel, Erkenntnismittel und Wissenschaft, Glaube und 
Erkenntnis, alle diese Contrapositionen bedeuten ein Verhältnis 
von complicatio und eocpUcaüo^ das aber nickt durchweg ein- 
deutig gedacht ist. Die Entfaltung der Welt aus Gott bedeutet, 
wie wir sahen, durchweg einen Akt der Abschwächung. Au^ 
der Höhe geht es zur Tiefe. Der gleiche Begriff beherrscht den 
Stufenbau der Welt. Zwar existieren die Gattungen vorerst in 
den Arten und durch diese erst in den Dingen real, doch ist 
die Gattung vollkommener als die Art, und die Art vollkonmaener 
als das Einzelding (cf. die übrigen Stufen). Dagegen geniesst die 
Welt als Entfaltung aus dem Können (in jeder seiner Schat- 
tierungen) unbedingt eine Bereicherung an Wirklichkeit: Aus 
der Potenz steigt sie zur Aktualität, aus der Tiefe zur Höhe 
«mpor. 

Wieder anders ist es in der Erkenntnislehre: der erken- 
nende Geist erfährt als ein aus dem göttlichen entfaltetes Produkt 
«ine Abschmächungy die er nun in gleicher Weise auch auf seine 
eigenen Produkte überträgt. Denn geringer als der imendliche 
ist der endliche Geist, geringer als dieser die Prinzipien, die 
Monas, der Punkt etc.; doch indem er, angefacht durch den 
Körper, aus den Prinzipien den Punkt u. s. w. . . . die Wissen- 
schaften deduziert, erfährt er eine ungeheure Vervollkommnung 
und Bereicherung seiner selbst; in senf kornartigem Wachsen 
(quaBr. deum) wird er der Herrscher der Welt durch Erkenntnis, 
die alles Dunkle erleuchtende Flamme. Somit schliesst die «e?- 
plicatio in der Erkenntnislehre beide Bewegungen in sich, die 



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— 38 — 

zur Tiefe wje zur Höhe. An der gleichen Doppelbewegung aber 
nehmen auch die Erkenntnisprodukte ihrerseits teil: Sind die 
Prinzipien, der Punkt, die Monas u. s. w. abgeschwächte Ent- 
wicklungsprodukte, so beginnt von diesen einer weiteren Ent- 
faltung und Verringerung unfähigen Elementen aus auf einmal 
eine hoffnungsfreudige Bewegjmg zur Höhe ; aus der Zahl wächst 
die Mathematik, aus dem Punkt die geometrische Raumwelt,, 
aus den Prinzipien der fruchtbare Baum der Erkenntnis hervor,, 
durch dessen Früchte wiederum eine Doppelbewegung ins Leben 
gerufen wird. Somit sehen wir den Begriff der cusanischen ex- 
plicatio durch zwei entgegengesetzte Grundanschauungen be- 
herrscht: Sie bedeutet teils eine Abschwächung , teils eine 
Vervollkommnimg; beides ist in ihr zusammen gedacht. 

Nun aber fragt es sich, ob die hervorgekehrten Kontro- 
versen ganz unbewusst neben einander, oder mit Bewusstsein 
nach einander bestehen, ob sie wirkliche, gleichzeitig bestehende 
Widersprüche, oder nicht vielmehr sich gegenseitig ablösende 
Entwicklungsphasen Eines Prozesses sein, den der Begriff inner- 
halb des Systems durchläuft? 

Innerhalb der Region der Gotteslehre liesse sich wohl auf 
Grund der Erörterungen (Teil I, Abschn. 1) eine solche Ent- 
wicklung des Begriffsinhaltes annehmen und man könnte sagen : 
neben der in den frühesten Schriften noch durchgängig als Ab- 
schwächung gedachten Entfaltung der Welt läuft in der itiittleren, 
mystischen Schriftengruppe teilweise der modern gedachte Be- 
griff der Vervollkommnung einher, um schliesslich jenen in den 
Hintergrund zu drängen und in den letzten Schriften seinerseits 
das Feld zu occupieren. Denn in welcher Nüancierung auch 
immer das Können als Prinzip der Weltentfaltung gedacht ist,, 
überall glauben wir die Bewegung von der Potenz zur Wirklich- 
keit als die eigentliche, letzte Grundanschauung des Philosophen 
mit Recht hingestellt zu haben. In der Erkenntnislehre freilich 
ist, wie oben erwähnt, eine solche Konstruktion schon nicht 
nachweisbar, denn hier gehen wirklich überall beide Begriffs- 
bestimmimgen in einander über und laufen friedlich neben ein- 
ander her. Für beide hat der Philosoph zu gleicher Zeit den 
gleichen Ausdruck, oder anders gesagt: Er unterscheidet nicht 
zwischen ursprünglichen imd abgeleiteten Explikationen der 
Seele; ebensowenig ist es für die Wahl des Ausdruckes von 



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— 39 ^ 

Belang, wenn die Seele durch Entfaltung ihrer Produkte gleich- 
zeitig einen Zuwachs an Wirklichkeit erfährt. Im Hinblick auf 
das Gesamtsystem aber könnte man auf Grund jener Erwägungen 
im grossen imd ganzen also entscheiden: Der werdende Philo- 
soph gebraucht den Ausdruck explicatio ganz im Sinne des 
Mittelalters, d. h. für die Bewegung von der Höhe zur Tiefe. 
(Gott verhält sich zur Welt wie complicatio zu explicatio, wie 
Wirklichkeit zu Möglichkeit.) Doch bereits im Gebiete der Er- 
kenntnislehre (conjectur.) bricht sich der modern gedachte Begriff 
Bahn. Der zwiespältige Begriffsinhalt beherrscht sodann die 
ganze mittlere Schriftengruppe, bis im Idiot die neue Anschauung 
die alte langsam zurückdrängt und schliesslich in den letzten 
Schriften auch auf das Problem der Weltentstehung Anwendung 
findet (cf. besonders fol. 157b: mundus de modo, quse possibilitas 
seu possefieri aut materia dicitur, ad modum, qui actu esse dici- 
tur, transivit): posse und Welt verhalten sich wie complicatio 
und explicatio, wie Möglichkeit und Wirklichkeit. Näheres wagen 
wir über die allmählich gewordene Umgestaltung des Expit- 
kationsbegriffes innerhalb des Systeme nicht auszusagen, denn 
das vielfache Schwanken bis zu den letzten Schriften hin hindert 
uns an der Erkenntnis einzelner bestimmter Entwicklimgsphasen. 
Aber gerade dieses Schwanken hinüber und herüber bedarf 
einer Erklärung. Sind einmal Widersprüche vorhanden, so gilt 
es auch, sie bis zu ihren letzten Wurzeln zu verfolgen und die 
Gründe hiefür aufzudecken : Ueberall, wo Beweg img stattfindet, 
ist ein Doppeltes zu unterscheiden, das Wie und Wohin, der 
Vorgang und das Ziel. Nikolaus schenkt nur dem ersten Moment, 
dem Wie, sein Interesse. Der Vorgang der explicatio alles Seins 
aus dem Absoluten ist ja, wie wir sahen, der eine Angelpunkt 
seines Systems. Und auch die Erkenntnislehre will nichts anderes, 
als den Weg begreifen, auf dem der endliche Geist den unend- 
lichen fassen mag. Dabei aber verliert der Philosoph das Ziel 
der explicatio, d. h. das daraus hervorgehönde Produkt, zu sehr 
aus den Augen. Ob dieses eine Pörderimg oder Abschwächung 
an Wirklichkeit, oder keines von beiden erfahre, wird als selbst- 
verständliche Folge nicht weiter erwogen. Dass z. B. die Welt 
geringer ist als Gott, dagegen wirklicher als das „Können**, wird 
daher von Nikolaus nicht als Widerspruch empfunden, eben weil 
ihn nur der Vorgang der explicatio interessiert. 



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— 40 — 

Was der raoderaen, im Zeichen der Entwicklung stehenden 
Wissenschaft als die Hauptsache gilt, nämlich die Frage nach 
dem schliesslichen Produkte des allmählichen Werdens, das ist 
hier nur Nebenerscheinung. Daher hat es für Nikolaus nichts 
Befremdendes, zwei entgegengesetzte Entwicklungsreihen unter 
einen Begriff zu subsumieren. Dies der eine Grund für die 
Doppelseitigkeit des Begriffes. Ein weiterer wichtigerer Grund 
indes ist der bereits von Palckenberg mit gutem Recht angeführte : 
die doppelte Schätzung desWirklichen. Wie jeder grosse Denker 
in seinen Ideengängen durch tiefere metaphysische Grundvoraus* 
Setzungen ganz imbewusst beeinfiusst wird, die er unbewiesen 
hinnimmt (cf. Kant: Es giebt Erfahrung I), so basiert auch das 
Denken des Nikolaus auf solchen Fundamenten, nämlich auf 
verschiedenen, ja entgegengesetzten Massstäben für die Wert- 
schätzung der Wirklichkeit; Nikolaus wägt sie bald nach dem 
Massstab der Vollkommenheit oder Konkretheit, bald nach dem 
der Feinheit oder Abstraktheit. So ergebeu sich aber die zwei 
einander ausschliessenden Behauptungen; 1. Je konkreter imd 
empirisch vollkommener, desto wirklicher. 2. Je abstrakter .und 
feiner, desto wirklicher, — zwei Sätze, die einander widersprechen 
und, unter den Gesichtspunkt der explicatio gestellt, diesem 
Begriffe einen zwiespältig gedachten Inhalt zuführen müssen. 
Vom empirischen Standpunkte aus musste unbedingt der erste 
Satz gelten, cf . fol. 140 b und andere. Die Harmonie, die Schön- 
heit und Vollkommenheit des Universums wie der einzelnen 
Dinge war zu gross, als dass Nikolaus darin eine verminderte 
WirkUchkeit hätte erbHcken können; cf. ber. Kap. 32 fol. 140b: 
Plato non videtur bene considerasse, quando mathematicalia, 
quae a sensibilibus abstracta . . . vidit veriora in mente . . . 
Karins sunt in sensibilibus quarrt in nostro intellectu, . . Da- 
gegen dem Metaphysiker kaim nur das Abstrakte die wahre 
Wirklichkeit bedeuten, cf. bes. id. III 9, fol. 139a: „. . . qu» 
vere sunt, abstracta sunt a stabilitate materiae et non sunt 
materialiteTj sed mentalüery de quo superflue dictum existimo.** 
Dieser metaphysische Gegensatz schafft aber Verwirrung und 
muss solche schaffen, sobald es sich um das Verhältnis des 
Konkreten und Gedachten, des Seins und Denkens, der Materie 
und des Geistes handelt (Materialismus oder Idealismus?). Ist 
das konkrete das wahrhaftere Sein, dann besteht das geistige 



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— 41 . — 

Sein der Dinge nur in einer gewissen verringerten Abbildlichkeit 
und Begrifflichkeit ; der ganze geistige Ueberbau der Menschheit 
ist nur die Blüte der Materie. Ist dagegen das abstrakte, das 
geistige Sein der Dinge das wahrhaftere, dann treten an die 
Stelle der Abbilder die Urbilder ; der Gteist bildet uud formt als 
freier Herr die Materie nach seinem Willen. Das Schwanken in 
der Bestimmung des Wirklichen tritt uns auch da recht deutlich 
entgegen, wo bald die Vollkommenheit, bald die Feinheit den 
Massstab bildet, cf. conj. 11 17: „habet igitur haBC intellectualis 
€ognitio (divinum) in perfectione actuali ad alias ut corpus ad 
superficiem, lineam et punctum, sed in subtilitate ut punctum 
ad lineam . . . punctualiter quidem atque subtiliter et perfecte 
simul amplectitur verum. Rationalis vero cognitio cohtractior 
atque perfectior ut superficies, subtilis ut linea. Imaginativa vero 
<50gnitio contracta magis perfecta ut linea, grossa ut superficies. 
Sensitiva . . . grossissima ut corpus." Wir sehen hier, dass der 
Auetor teils das Vollkommene, teils das Peine, als wirklich an- 
sieht. Von diesem Standpunkt aus ist z. B. die sinnliche Er- 
kenntnis hinsichtlich der Vollkommenheit wirklicher als die 
rationale, der Körper wirklicher, als der Punkt, hinsichtlich der 
Feinheit dagegen tritt umgekehrte Wertung ein. Recht deutlich 
tritt uns die doppelte Wertung an dem Beispiel des Punktes 
und der Linie entgegen ; der Punkt erscheint auf Grund jener 
Masstäbe bald als treibhausartige, zusammengezogene, jugend- 
liche Kraftfülle, die die einengenden Fesseln sprengen möchte, 
imi sich zur Linie auszuleben, bald als verkrüppelter, zurückge- 
bliebener Ansatz zur WirkHchkeit ; und der Körper gleicht bald 
der freien, ungehemmten, wahren, bald der breitgeschlagenen, 
verwässerten Wirklichkeit. Dort jugendliches Siohregen, hier 
ausgelebtes Sein, dort Frühling, hier Herbst. Dies der zweite 
Grund dafür, dass sich für Nikolaus mit dem Begriff der Ent- 
wicklung bald die Vorstellung der Verringerung, bald die der 
Förderung verbindet, dass bald die Komplikation, bald die Ex- 
plikation den Rang erhöhter Wirklichkeit einnimmt. 

So sehen wir ein stetes, tiefer begründetes Schwanken, 
das sich aber schliesslich, wie oben nachgewiesen wurde, zu 
Gunsten des modern gedachten Begriffes zu verlieren scheint. 
Nun ist allerdings der heutige Denker gern geneigt, die Ver- 
gangenheit in modernerem Lichte zu schauen, als Recht ist. 



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— 42 — 

Leicht auch könnte man den cusanischen Etitwicklungsbegriff 
in seiner fortgebildeten Bedeutung dem modernen zu nahe 
rücken, oder etwa gar beide identifizieren, während das gegen-- 
seütge Verhältnis nur das von anbrechender Dämmerung und 
hellem Tageslicht ist: die cusanische explicatio in beiderlei Be- 
deutung besagt nur ein blosses Sichauseinanderlegen gegebener 
Formen. Diese stehen schon vor dem Entfaltungsprozesse (in 
Gott, Werdenkönnen, Geist) fest und entfalten sich im Laufe 
der Geschichte in geordneter, vorherbestimmter Reihenfolge; 
der Weltprozess gleicht der Entfaltung des Baumes aus seinem 
Samen, cf. ven. III: „cum in tempore intueor omnia in succes- 
sione expUcari/ Wie im Piatonismus geht das Sein der Dinge 
ihrem Werden voraus. In einem solchen Weltprozesse aber ist 
alles Werden und Entwickeln nichts anderes, als ein immer 
erneutes Ergreifen des Stoffes durch die Form, die jenen, so oft 
er in formloses Chaos zurücksinken und ihr entweichen will, 
doch schliesslich zu bewältigen strebt. 

Die Verändermig beschränkt sich dabei nur auf die Indivi- 
duen, der Weltkeni bleibt ungeändert und unberührt von dem 
Fluss der Dinge und im letzten Grunde doch transcendent. 
Dadurch ist zugleich eine uns ganz fremdartig erscheinende 
Weltstimmung gesetzt: sie bedeutet den Zug des Lebens nicht 
in die Welt hinein, sondern aus ihr zurück (cf. Erkenntnislehre) 
zu der lauteren göttlichen Einheit und Wirklichkeit. Zwar scheint 
auf den ersten Blick die Welt etwas unendUch Wertvolles zu 
bedeuten, da ja ihr eigentlicher Kern das Absolute selber ist, 
doch nur vorübergehend darf dieser Satz im System des Nikolaus 
gelten ; denn nicht iür die Dauer senkt sich das GöttUche in die 
Materie herab, sondern durchleuchtet sucht es dieselbe der ab- 
soluten Einheit nahe zu bringen. Also geht doch im letzten 
Grunde das Streben des Weltprozesses aus der Welt zurück zu 
dem Aboluten. Je näher diesem, je mehr zieht in das Menschen- 
herz Glück und Freude ein. 

Ganz anders der naturwissenschaftlich moderne Begriff der 
Entwicklung. Ihm liegt nicht mit dem Piatonismus das Sein vor 
dem Werden, sondern das Werden vor dem Sein. Die feste, 
unveränderlich wahre Wirklichkeit soll durch den Entwicklungs- 
prozess erst gewonnen werden. Denn das Ziel aller Entwicklung 
ist eine durch den Kampf ums Dasein und die natürliche Zucht- 



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— 43 — 

wähl inaugurierte Bereicherung seil. Neubildung an Formen. 
Eine weltfreudige Stimmung liegt über dem Geschehen. Der 
Zug des Lebens führt hier in die volle Welt hinein. Nirgends 
ein fertiges Sein, das sich bloss zur Wirklichkeit auseinander 
legte (Nikolaus), sondern alles Seiende eine Zusammensetzung, 
ein Gewordenes, eine Bildung vom Unentwickelten zum Ent- 
wickelten. Die Fruchtbarkeit eines solchen Begriffes ist unbe- 
streitbar. Nur der Entwicklungsgedanke in solcher kräftigen und 
energischen Fassung verbürgt ims die allmählich fortschreitende 
Erkenntnis des endlichen (seil, des physischen) Geschehens. Nur 
so kommt das Kleine, Unscheinbare zu seinem Rechte und zu 
seiner Bedeutung. Alles Sein ein gewordenes und Begreifen des- 
selben vom Kleinen her, so lautet mit Recht die Ueberschrift 
über dem Portal der neueren Wissenschaft. 

Freilich bleibt dabei die Frage offen, ob nicht auch der 
moderne Entwicklungsbegriff einer notwendigen Ergänzung, 
und zwar von innen h^r, bedürftig sei? Zu allem Veränderlichen 
gehört doch notwendig auch ein beharrendes Moment. Entwick- 
lung setzt immer etwas voraus, was sich entwickelt, ein Sein, 
worin Inhalt imd Gesetz der Entwicklung zum voraus enthalten 
ist; dieses apriorische Prinzip der Entwicklung aber muss von 
ihrem geschichtlichen Prozesse wohl unterschieden werden. So 
ist es doch mindestens auf ethischem Gebiete. Denn wir meinen, 
dass alle empirisch vorgefundene Sittlichkeit stets nur eine je- 
weilige, zeitUche Erscheinungsform eines absolut Sittlichen sei, 
das selbst nicht wieder Produkt einer Entwicklung, sondern 
apriorisches, normatives Gesetz derselben ist. Andernfalls fehlte 
ja auch das objektive und allgemein gültige Kriterium, d. h. 
der Massstab, für die Beurteilung des konkret Sittlichen. Der 
subjektive Faktor des persönlichen Werturteils genügt dazu 
wahrlich nicht, so lange wenigstens die Metaphysik zu bestehen 
noch das Recht hat. Aber auch das geistige Leben der Mensch- 
heit überhaupt wäre undenkbar ohne Beharrung im Fluss. Die 
Geschichte ist viel zu kompliziert, als dass sie, unter das eherne 
Gesetz der Entwicklimg gebeugt, einem blossen „Aufrollen von 
bunten Bildern" (Eucken „Grundbeg. d. G.**), einem zufälligen 
Verketten von Ernst und Witz gliche. Vielmehr muss hinter der 
bunten Fülle der Erscheinungen die bewegende Kraft als Prinzip 
der Entwicklung stehen, zu dem vorzudringen des Geschichts- 



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— 44 — 

forschers letzte Aufgabe i^^t: ^Ein geistiges Selbst, das unsern 
eigenen Wesenskern bildet, muss hinter den besonderen, durch 
Lage und Umgebung bedingten Thätigkeiten stehen, er muss 
aus der Bewegung dieser Thätigkeiten einen bleibenden Kern 
herausziehen und dadurch bei sich selbst wachsen und so aller- 
erst die Höhe seines eigenen Wesens erreichen* (Eucken „Grundbeg, 
d. Geg.**, 2. Aufl. 93). ,Die Methode, ohne Ideen und Geist 
den Dingen einen Sinn abzugewinnen, soll erst noch erfunden 
werden." 

Dieses beharrliche, ursprüngliche Realleben hinter dem 
veränderlichen Sein übersieht nun oder leugnet der moderne 
EntwicklungsbegriflF, mit anderen Worten : Das Was, die eigent- 
liche Realsubstanz der zeitlichen Entwicklung geht ihm über 
aller Verwicklung verloren, selbst auf dem Gebiete des rein 
physischen Geschehens. .Was entwickelt sich denn eigentlich? 
Was ist der sich entwickelnde, die Formen der äusserlich sicht- 
baren Erscheinungsphasen bedingende Kern der Dinge? Die 
Antwort fehlt bisher noch. 

Dieses ursprünglich Beharrliche und aller Entwicklung 
immanente Moment in Gestalt des absoluten Seins selber, das 
die eigentlich treibende Kraft, das wahre Was der Dinge bildet 
(cf. bes. doct. ign.), betont nun in willkommener, freilich ein- 
seitiger Weise der cusanische Entwicklungsbegriff. Jenem geht 
das Was, diesem das Wohin der Entwicklung verloren. Beide 
Begriffe sind also zu eng gefdsst^ aber die inhaltliche Vereini- 
gung beider zusammen ergiebt den vollen, das Gesamtgeschehen 
der Welt (physisches und sittliches) umfassenden und erklären- 
den Entwicklungsbegriff. Denn es gilt weder die einseitige 
Hervorhebung und Betonung des beharrlichen, ursprünglichen, 
auf Kosten der Erklärung des empirisch vorgefundenen Seins, 
wie Nikolaus thut, noch auch eine bloss einseitige Analyse des 
letzteren mit bewusster Ablehnung eines ursprünglichen, in der 
Erscheinungen Flucht beharrenden Reallebens, wie der moderne 
Naturtorscher thut. Denn Entwicklung bedeutet im letzten 
Grunde die durch einen fortlaufenden Differenzierungsprozess 
hervorwachsende Bereicherung eines ursprünglich bereit liegen- 
den realen Seins, d. h. Entwicklung ist überall nur da mögHch, 
wo ein inneres treibendes, metaphysisches Agens die jeweiligen 
Entwicklungsphasen überragt. 



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— 45 - 

Dass der Cusaner als Kind seiner Zeit die Hauptleistung 
der modernen Entwicklungslehre, die Thatsache, dass alles Sein 
erst allmählich geworden, erst im Laufe der Zeit in die heutige 
Q-estalt, Lage etc. gebracht worden ist, noch nicht erkennt, 
erscheint vollkommen begreiflich. So viel aber steht fest, dass 
bereits in der zweiten Gestalt des Explikationsbegriffes der An- 
satz zu dem naturwissenschaftlichen Interesse der Neuzeit liegt. 
Denn wer den allmählichen Uebergang der Welt von der Potenz 
zur Aktualität behauptet, der steht dem Gedanken nicht mehr 
allzufem, dass auch alles Einzelsein als Produkt eines allmäh- 
lichen Werdens aus dem Kleinen zu fassen sei. Und das ist 
auch in der That historisch sehr wohl erweisbar. „Durch die 
spekulativ mystische Gedankenrichtung hindurch hat die Ent- 
wicklungsidee sich den Weg in das moderne Denken gebahnt" 
(Bücken). 

Aber auch sonst weist die cusanische explicatio auf den 
Oeist der Neuzeit hin: Sie zeigt uns den Wert der Welt, des 
Individuums und der Geschickte in ganz anderem Lichte als 
das Mittelalter. 

Die Welt ist, mag ihre Entfaltung im Systeme gedacht 
sein wie sie will, auf alle Fälle vom göttlichen Sein durchtränkt 
und darum imendlich wertvoll. Dass allerdings die Welt, so 
wertvoll sie auch sei, nicht das letzte ist, sondern das Denken 
vielmehr auf ein Streben nach dem Absoluten verweist, wurde 
bereits nachgewiesen. Immerhin aber erscheint sie in ganz an- 
derem Lichte als noch bei Thomas von Aquino, bei dem sie die 
untergeordnete RoUe eines niederen Seins spielt; sie ist 
ihm „die untere Welt," deren Berührung befleckt; für Nikolaus 
hingegen ist sie ein von göttlichem Leben durchfluteter Organis- 
mus, in dem alles singulare Sein dem grossen ordo eingefügt 
ist zu vollkommener, dem göttlichen Wesen selbst nachgeahmter 
Harmonie. 

Indem aber auch der Mensch diesem Organismus eingefügt ist, 
erscheint auch er in anderem Lichte. Sein Dasein darf, da es 
dem grossen Kausalnexus des Alls eingereiht ist, nicht mehr 
ausschliesslich im Dienste der Kirche stehen, sondern auf das 
Ganze der Wirklichkeit muss es gerichtet sein. Alles muss ver- 
edelt, vergeistigt, dem Absoluten näher gebracht werden. So 
nach der formalen Seite hin. Aber auch inhaltlich wächst durch 



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— 46 — 

den Explikationsbegriff die Wertschätzung des Individuums un- 
geheuer. Der einzelne, ein Mikrokosmus, findet in sich eine 
schlummernde Fülle von unbewusstem Erkenntnisbesitz, dessen 
fortlaufende Hebung die fortschreitende Bereicherung imd Ver- 
vollkommnung des menschlichen Geistes und Lebens überhaupt 
bedeutet. Der Mensch ist demnach nicht von vornherein fertig! 
Ein so recht modern klingender Gedanke. Giordano Bruno, 
Kepler und Descartes thun nach dieser Seite hin mehrfach des 
Kardinals Nikolaus Erwähnung. Die absolute Wahrheit liegt 
nicht positiv fertig da, so dass sie der einzelne sich nur anzu- 
eignen brauchte zu dauerndem Besitz (Mittelalter, cf. bes. Au- 
gustin !), sondern sie ist erst das, wenn auch nie ganz erreichbare, 
«0 doch logisch immer näher und genauer zu bestimmende 
Produkt menschlichen Ringens und Strebens. 

Die freie wissenschaftliche Prüfung ist von Arroganz, 
wie von Skepticismus gleichmässig entfernt. Dass aber hinter 
der äussern Welt des Scheines die zeitlose wahre Welt des Seins 
liegen müsse und dass diese nur durch konsequent fortschreitende^ 
ringende Geistesarbeit immer annähernder ermittelt werden könne, 
das ist mit Recht der Grundgedanke der heutigen Wissenschaft. 
Der Glaube an die stetige Approximation an die Wahrheit kann 
allein den Mut zur Forschung immer von neuem aufrecht er- 
halten und beleben. Auch ist es nur so allein möglich, in meta- 
physischen Fragen vom Bilde zur Sache, von der Hülle zur 
Wahrheit, von der Kruste zum Kerne hindurchzudringen, d. h. 
die religiöse Bildersprache (seil, für den wissenschaftlich Ge- 
schulten) zu vergeistigen und somit die Religion zur Weltan- 
schauung zu erheben, wie dies Lipsius in seinem Buch „Religion 
und Philosophie" gethan. 

Nicht ein blosses Aneignen also, sondern vielmehr die nach 
Wahrheit ringende Produktivität bildet den Mittelpimkt mensch- 
licher Geistesthätigköit. Diese freischaffende, prüfende Thätigkeit 
des Individuums aber, die zum eigentlichen Kerne des Lebens- 
prozesses wird, bildet den schroffsten Gegensatz zu der mittel- 
alterlichen Wissensvererbung. Das Wort Lessings bestätigt sich 
auch hier: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz ein Mensch ist 
oder zu sein glaubt, sondern die aufrichtige Mühe, die er ange- 
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert 
des Menschen aus. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch 




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— 47 — 

die Nachforschung der Wahrheit erweitem sich die Kräfte ; der 
Besitz macht ruhig, träge, stolz. ^ Beide, Nikolaus wie Lessing, 
ziehen das Wahrheitssuchen dem Besitzen vor, und mit Recht, 
cl ign. III 12. 

Mit dieser Selbstentwicklung aber ist zugleich die Freiheit 
und Selbständigkeit des Individuums proklamiert, ein ebenfalls 
^rst der Neuzeit angehörender Gedanke ; das Altertum sieht im 
Einzelnen nur das Glied der Gesellschaft, den nützlichen Staats- 
bürger. Als solcher allein hat er Wert. Und im Mittelalter tritt 
an die Stelle des antiken Staates die Kirche ; auch sie gewährt der 
persönlichen Bedeutung des Individuums keinen Raimi und keine 
Berechtigung. Das freie, selbständige Sichregen desselben gehört 
«rst der Neuzeit an. Sie erlaubt nicht nur, nein sie fordert von 
ihm sogar Selbständigkeit (Luther). Diesem durchbrechenden 
Individualismus aber brach somit auch Nikolaus kräftig Bahn. 

Auch auf das Gebiet der Erziehung musste von hier aus 
ein ^unverkennbarer Einfluss ausgehen. Ist das individuelle Sein 
ijin Entwickeln von Anlagen, ein Werden von kleinen, ange- 
borenen Anfängen aus, und kann somit der Erzieher nichts in 
den Zögling hineintragen, sondern nur Vorhandenes wecken imd 
grossziehen, so wird die erzieherische Aufgabe zur Aufforderung 
zur Selbstthätigkeit im Fichte'schen Sinne. Seelenleben gleich 
Selbstentfaltung, welch ungeheure Konsequenzen liegen hierin 
beschlossen ! Die Monadologie und der trangcendentale Idealismus 
liegen hier im Keime vor uns. 

Analog der individuellen gewinnt durch die cusanische 
explicatio auch die geschichtliche Oesamtentwicklung der Mensch- 
heit überhaupt eine tiefere Bedeutung als im Mittelalter. Auch 
hier heisst die Parole : Vom Unentwickelten zum Entwickelten, 
vom Unbewussten zum Bewussten. Die Wertschätzung der Ge- 
schichte steigt dann aber ungemein, denn sie wird zum stetigen 
Vervollkommnungsprozesse des Erkennens und somit der Mensch- 
heit überhaupt. " Der Schüler Plotins wird zum Vorläufer des 
HegeFschen Intellectualismus (cf. coiy. II 17, Id. III 13). Zwar 
findet auch in der imtergeistigen Welt ein Aufsteigen von der 
Möglichkeit zur Wirklichkeit statt, doch fehlt in diesem Prozesse 
das geschichtlich Stete ; das aber ist es gerade, was das Wesen 
der Geschichte der geistigen Welt ausmacht. Der geschichtliche 
Prozess gewinnt durch diese Stetigkeit eine inrnier grössere 



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— 48 — 

Spannung und Bedeutung; eine weltfreudige Stimmung beherrscht 
das Geschehen. Nirgends ein zähes Sichanklammern an geschicht- 
lich gewordene, zeitliche Formen ; Stillstand ist Rückgang, Träg- 
heit ; das gilt besonders von der Religionsgeschichte. Wahrheits- 
kerne enthält jede Religion, doch die absolute Wahrheit schliesst 
nur die christliche in sich; freilich ist auch hier kein Stillstand 
geboten; ein immer präziseres Erkennen des Absoluten bleibt 
das nie ganz erreichbare Ziel jeglichen Strebens : ein unbedingt 
wahrer Satz. 

Von dem Verhältnis der philosophisch quantitativen zu der 
theologisch dogmatischen Geschichtsauflassung war schon oben 
die Rede (I, 3); dass aber der Philosoph im Grunde genommen 
der ersten Auffassung huldigt, glauben wir unbedingt bejahen 
zu müssen. Soviel über die befruchtende Bedeutung des Expli- 
kationsbegriffes im Rahmen der Geschichtsauffassung. 

Sogar das gewaltige ontologische Problem scheint durch 
die cusanische explicatio einer befriedigenden Lösung nahe ge- 
bracht zu werden. Denn wenn ein rechtverstandener idealistischer 
Monismus das letzte Postulat alles Nachdenkens zu sein scheint, 
so iiat Nikolaus auch dazu den richtigen Ansatz versucht. Ab- 
solute Vemimft uimd Materie ursprünglich eine Einheit bildend^ 
aber die Vernunft die Grundpotenz derselben, auf die alles Streben 
des Materiellen gerichtet ist, das ist der eigentliche Kemgedanke 
seiner Philosophie überhaupt. Aber darin irrte er wohl, dass er, 
Plotin folgend, das Werdekönnen als Untergnmd der Welt aus 
Gott herausstellte, anstatt es als immanente Potenz Gottes selbst 
zu betrachten, aus dem das Endliche hervorgeht, um sich dann 
wieder, im Erkenntnisakte durchleuchtet, mit ihm zusammenzu- 
schliessen. Denn es giebt, meinen wir, keinen andern Untergrund 
der Materie, als das Absolute selbst; ist iieses allmächtig, so 
muss es auch die Potenz zur Materie in sich tragen; dann aber 
ist die Welt in der That wirklich nur eine Selbstdarstellung des 
hinter der sichtbaren Materie wirkenden und bewussten Welt- 
geistes. So wie das Leben des Saftes den materiellen Baum aus 
sich heraussetzt, so ist das Materielle nichts als das in Erschei- 
nungtreten des geistigen Seins. Hätte Nikolaus in gleicher Weise 
das Werdenkönnen, d. h. den Untergrund der Materie, in Gott 
verlegt, so hätte er den geistigen Kern der Welt noch viel 
deutlicher hervortreten lassen, und hätte in Spinozistisch-Sohel- 



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— 49 - 

lingischer Weise zugleich die Materie zur Zufriedenheit erklärt, 
ohne zum Zufall oder zur Schöpfung aus nichts retirieren zu 
müssen. 

Die Verlegung des Weltgrundes in das posse als absolute 
Möglichkeit ^ alles Seins (= Gott selbst) scheint uns daher 
die richtige Korrektur imd Portbildung des possefieri in dem 
von ims geforderten Sinne zu sein; denn so wird der Sinn der 
expUcatio überaus fruchtbar. 

Wir sind am Ende. Das Gesamtresultat der Untersuchung 
lässt sich ungefähr dahin zusammenfassen: Der cusanische Ex- 
plikationsbegriff tritt uns auf den 3, Hauptgebieten seiner Ver- 
wendung in zweifacher Gestalt entgegen : Er bedeutet teils eine 
Bewegung von oben nach unten, teils von unten nach oben. 
Die Portbildung von jener zu dieser Denkrichtung ist zwar durch 
die chronologische Betrachtungsweise der Schriften des Nikolaus 
nachweisbar, aber hinsichtlich der einzelnen Entwicklungsphasen 
nicht näher kontrollierbar. Die Gründe hiefür liegen teils in der 
doppelten Wertschätzung des Wirklichen, teils in der einseitigen 
Hervorkehrung des Vorganges der Explikation. Das Verhältnis 
zum modernen Entwicklungsbegriff ist ein doppeltes: das der 
Anbahnung und Ergänzung. Von den auf die Neuzeit hinwei- 
senden Zügen des Begriffes sind diese die wichtigsten : die Wert- 
schätzung der Welt, des Individuums imd der Geschichte. Selbst 
das ontologische Problem scheint durch den Explikationsbegriff 
in beiderlei Gestalt einer befriedigenden Lösung nahe gerückt. 
Eine Erweiterung des Gesichtskreises wird aber hauptsächlich 
durch die zweite Gestalt gewonnen : die starre Wirklichkeit wird 
mehr in Pluss gebracht als vorher. 

Ob nun allerdings die Explikation durchweg in des Nikolaus 
Sinne, oder da und dort etwa zu modern angesehen worden sei, 
dies zu entscheiden bleibt dem verehrten Kritiker überlassen, 
um dessen gütige Rücksichtnahme dieser philosophische Erstlings- 
versuch bittet. Eine Grundüberzeugung wohnt ihm aber unum- 
stösslich inne, nämlich die, dass in des Cusaners Person ein hervor- 
ragender G^ist in seltenem Wahrheitsemste sich redlich abmüht imd 
in gewaltigem Ringen versucht, das Rätsel des Daseins mittelst des 
freudig begrüssten Begriffes der explicatio irgendwie zur Zufrie- 
denheit zu erklären. Dass es hierbei ohne tiefgreifende Wider- 
sprüche nicht abgeht, ist einerseits leicht erklärlich, andererseits 

Dr. KKBtner, Der Begriff der EntwiokluDg bei Nikolaus von Kues. 4 



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'^'^5 



— 50 — 

kein Hindenmgsgrund zur Anerkennung wissenschaftlicher Grösse ; 
denn wer ein gewaltiges Problem aufwirft, mit Energie imd 
Zähigkeit allseitig durchdenkt und vorerst auf die Schwierigkeiten 
seiner Lösung aufmerksam macht, der hat dadurch schon sehr 
viel erreicht und verdient nicht, dass man ihm die gebührende 
Würdigung versage. 

Zum Schluss spricht Verfasser Herrn Geh. Hofrat Professor 
Dr. Eucken für mehrfache freundliche Anregung während der Ent- 
stehimgszeit dieser Arbeit seinen wärmsten Dank aus. 



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'■•!j!?äSi', 






Bener Stadien znr PMlosopUe und ihrer Gescliiclite. 



Band 'V. 

Heraufiffegeben von 

Dr. Ludwig Stein» 

Profeasor an der UniTersitllt Bern. 



DIs Weltanschauung Calderons. 



-5«- 

Von 
Dr. Georg Ortiz. 




t^frUH^ 



Beim« 

Verlag von Steiger & Cie. 

(TormalB A« SSebeii) 

1807. 



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Einleitung. — Geschichtliche Uebersicht des Milieu's. — Sociale 
Atmosphäre. — Cervantes und Calderon. 



In dem Augenblick, an welchen unsere Besprechung an- 
knöpft, steigt der Weg der Geschichte durch ganz neue Gebiete 
eine Höhe hinan. Europa, geschmückt mit den Strahlen einer 
neuen Glorie von Errungenschaften, erhob sich wundersam aus 
der Stille des Mittelalters und betrat den neuen Pfad in der 
Richtung einer neuen Aera. Diese Aera wurde ihm von Spanien 
vorgezeichnet und zwar durch dessen Erhebung zur Kulmination 
der Macht sowohl, wie auch durch die Ereignisse, die es von 
dieser Höhe wieder herunterrrissen und nach und nach ein 
anderes nationales Gefüge auf dem Kontinent in's Dasein riefen. — 
Ein Jahrhundert voll gewaltiger Anstrengungen und Heldenthaten, 
zu denen die Geschichte vielleicht keine Parallele darbietet; eine 
ununterbrochene Reihe glorreicher Erfolge hüben die spanische 
Nation zur höchsten Stufe der Macht und des Glanzes; in drei 
Weltteilen prangten ihre Trophäen; von Neapel und Mailand, 
Holland, den afrikanischen Küsten und dem griechischen Archipel, 
ja selbst dem Erbfeinde der Christenheit, der durch sie den 
ersten bedeutenden Schlag erhalten, ward die Ueberlegenheit 
ihrer Waffen erkannt. Jenseits des Meeres endlich waren uner- 
messliche Länderstrecken durch Unternehmungen von beispiel- 
loser Kühnheit unterworfen worden.^) — 



') Vergleiche A. J. von Sobaok, Geschichte der dramatisohen Lit- 
teratur und Kunst in Spanien, IL Bd. Berlin 1845. 



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- 4 — 

Dieses letzte Ereignis vor allem, welches von Spamen 
veranlasst wurde, war für die Geschicke der Welt von der 
grössten Wichtigkeit. Die Entdeckung Amerikas hat den grössten 
Einfluss auf die Menschheit ausgeübt ; eine neue Welt, die plötz- 
lich, wie hervorgezaubert, aus dem Schosse der Wellen empor- 
taucht; jene neue Welt, die in einer schweigsamen Ferne, der 
Phantasie wunderbar sich vormalte, mit ihren Urwäldern und 
mit ihren Prairien, mit der mysteriös sich dahin streckenden 
Kette der Anden, und durch diese Regionen wandelnd die Er- 
oberer und die neuen Gestalten der Wilden; diese Welt, mit 
all ihrem Glanz, ergoss einen belebenden Hauch auf die alte 
Welt. Es war wie ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens, 
das sich der Bevölkerung Europas bemächtigte, als sie vernahm, 
dass, jenseits des Oceans, wo die Seele bis dahin nur ein grauen- 
volles Geheimnis ahnte, die Erde eine menschliche Familie trug. 
Und der Zug der Zeit zeigt uns die selbstbewusste Haltung, mit 
der man sich an die Eroberung des Unbekannten macht; kurz 
nach Columbus entfaltet Vasco de Gama seine Segel dem Winde ; 
Amerigo Vespucci, die Holländer, die Engländer folgen ebenfalls 
nach und der flache Ocean ward mit fahrenden Karawanen 
besäet. 

Unterdessen ging Baco von Verulam, angeregt durch die 
That des genuesischen Helden, darauf aus, eine Ars inveniendi, 
die Methode des Erfindens, aufzufinden ; die Buchdruckerei leistete 
den kühnen Ideen mächtige Hülfe, während das Schiesspulver 
den geistigen Typus der Menschheit sublimierte, indem der 
Schritt von der rohen Gewalt zur Strategie gemacht wurde. 
Das politische und das sociale Leben nahmen einen neuen 
Charakter an ; der Merkantilismus entstand an Stelle der Manu- 
faktur und das Geld der Kolonien fing an, die Waren zu ver- 
treten und sich als eigene Macht aufzurichten. 

Spanien kulminierte über alles. — Seit dem Zusammen- 
schmelzen der verschiedenen Staaten auf der Halbinsel zu einer 
Monarchie hatten die Spanier sich mehr und mehr gewöhnt, sich 
als Glieder einer grossen Nation, als durch gemeinsame Inter- 
essen imd dieselbe hohe Bestimmung verbunden zu betrachten ; 
und die glänzenden Erfolge dieses Gemeingeistes gaben ihrer 
Ehrliebe und ihrem Patriotismus den höchsten Schwung. Stolzes 
Bewusstsein und kühner Unternehmungsgeist erfüllten das ganze 



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Volk. Der unruhige Sinn des Adels, der früher in Parteikämpfen 
und inneren Zwisten getobt hatte, wandte seine Kampflust jetzt 
dem Dienste des Vaterlandes zu. ^) Nach dem glorreichen Kampfe 
um Granada war zwar die Bahn geschlossen, die dem kriege- 
rischen Thatendrange im Innern des Landes offen gestanden 
hatte ; zur nämlichen Zeit aber hatte sich demselben Triebe ein 
ungleich grösseres Feld aufgethan. Die endlosen Zonen der 
neuen Welt wurden die Schauplätze von Thaten, die in ihrer 
beispiellosen Kühnheit alle Fiktionen der Ritterkühnheit zu über^ 
bieten schienen ; dorthin strömte die ritterliche Jugend, und die- 
selbe Bahn des Ruhmes, die zu königlichem Glanz führen konnte, 
«ahen, wie genug Beispiele zeigten, selbst Leute des geringsten 
Standes vor sich geöffnet. Wurden nun die edleren Motive zu 
den Thaten der unermüdlichen Conquistadores auch manigfach 
durch niedere Triebfedern und Leidenschaften verdunkelt, so 
führten diese Unternehmungen doch der castilianischen Krone 
unermessliche Hülfsquellen zu, während sie den spanischen Namen 
in den Augen von ganz Europa mit einer strahlenden Glorie 
umgaben. 

Schon unter der Regierung Ferdinands und der Isabella 
war der Wohlstand und Reichtum des Landes in wunderwürdigem 
Masse gestiegen, so dass sich, nach zuverlässigen Angaben, die 
Kroneinkünfte am Schlüsse derselben auf eine dreissigmal höhere 
Summe beliefen, als bei deren Beginn. *) Durch einen weit aus- 
gedehnten Handel wuchs der Reichtum der Nation von Jahr zu 
Jahr. Die Manufakturen und Fabriken Spaniens versorgten halb 
Europa mit Wollen- und Seidenzeugen, mit kunstreich gefertigten 
Waffen und Silberarbeiten ; in Sevilla allein waren um die Mitte 
des 16. Jahrhunderts 130,000 Menschen, mehr als jetzt seine 
ganze Bevölkenmg beträgt, mit Manufakturarbeiten beschäftigt; «) 

') Sehr oharakteristisch ist ein Gesetz Ferdinand's IV., das die 
Adeligen zum Lesen von Ritterromanen beim Mahle verpflichtet (Siehe 
Partidas, Partida II, Tit. XXI, Ley XX). 

*) Memorias de la Aoademia de la Historia, T. VI, Ilustr. 5. — 
Presoott, History of the reign of Ferdinand and Isabella^ T. III, pag. 484. 

*) Garapomäoes, Discurso sobre la Eduoation populär de los Arte- 
•anos, T. II, p. 472. — Bernardo Ward, Proyeoto economioo sobre la 
poblacion de Espafia, T. II. o. 3. — L. Marineo, Cosas Memorables, Al- 
calä 1589, pag. 11 und 19. — Navagiero, Yiaggio fatto in Spagna et in 
Franoia (Vinegia 1668) fol. 26 und 85. 



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— 6 — 

und über tausend Kauffahrteischiffe führten diese Erzeugnisse 
der Industrie nach allen Richtungen der Erde hin aus. Ein 
spanischer Agent oder Konsul fehlte auf keinem der bedeu- 
tenderen Handelsplätze des mittelländischen und der nordischen 
Meere. *) 

Infolge einer sorgfältigen Agrikultur war die Natur nicht 
minder ergiebig an Produkten, als der menschliche Kunstfleiss; 
alle Arten Getreide, Oel, Wein und Südfrüchte gediehen in 
solcher Menge, dass sie nicht allein für die Bedürfnisse der 
Landesbewohner ausreichten, sondern auch noch das Ausland 
versorgen konnten. Und ebenso wie die Felder und Aecker in 
ihren zahlreichen Weilern und Gehöften, zeugten der Glanz und 
die Pracht der spanischen Städte von der Blüte der Nation^ 
deren Gemeingeist und Schönheitssinn sich in den grossartigen 
öffentlichen Bauten, die hier zu den ehrwürdigen Monumenten 
vergangener Zeit hinzukamen, unvergängliche Denkmale setzte. 
Toledo, die alte Hauptstadt des Gothenreichs, mit dem Wunder- 
bau ihrer Kathedrale und ihren gewaltigen, noch im jetzigen 
Zustande des Verfalls Staunen erregenden Palästen ; Burgos, die 
Wiege des Cid, mit seinen gothischen Zinnen und Türmen j das 
reiche Barcelona, in dem Glanz seiner öffentlichen und Privat- 
gebäude keiner der italienischen Städte weichend; das schöne 
Valencia, auf seiner reizenden Huerta wie eine Königin auf 
Rosen gebettet; Cordova, die alte Stadt der Chalifen, das goldene 
Thor, durch das sich die Künste und der Luxus des Orients 
über das Abendland ergossen hatten ; Granada, das Zauberschloss 
der Romantik, das westliche Bagdad, mit der Glorie seines 
Alhambra, Generalife und Albaycin, und seiner herrlichen Vega, 
von eisbekrönten Bergen eingefasst wie ein kostbarer Edelstein ; 
Sevilla endlich, der Stapelplatz der amerikanischen Reichtümer, 
die erste Handelsstadt in Europa, ihre Quais von Fremden aller 
Nationen wimmelnd und unter der Wucht des Goldes seufzend, 
ihr riesiger Dom, der grossartigste Tempel der Welt, mit dem 
schlanken Turme der Giralda stolz über dem Spiegel de* 
Quadalquivir emporragend — das waren die herrlichsten unter 
den mannigfaltigen Zierden der schönen Halbinsel. 



*) Campomänes, II., 140. — Pragmatioos del Regno, fol. 14ß* — 
Turner, History of Eogland, Vol.' IV, p. 90. 



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— 7 — 

Zugleich nahmen die Künste der Architektur, Malerei und 
Skulptur einen mächtigen Aufschwung ; zahlreiche junge Spanier, 
deren einige auch in dar italienischen Kunstgeschichte genannt 
werden, wanderten in die Werkstätten des Michel Angelo, 
Leonardo und Raphael, um den dort erlernten neuen Kunststil 
in ihre Heimat zu verpflanzen; und die Schulen von Valencia, 
Sevilla und Toledo waren schon im 16. Jahrhundert reich an 
trefflichen Meistern, welche die hohe und eigentümliche Blüte 
der spanischen Kunst im Folgenden vorbereiteten. 

Zu noch höherem Flor, der sogar die Blicke des Auslandes 
auf sich zog, hatten sich Wissenschaft und Gelehrsamkeit ent- 
faltet Vorzüglich war das Studium der klassischen Sprachen 
und Litteraturen mit ungemeiner Regsamkeit gefördert und 
ausser Italien hatte kein anderes Land mehr verdienstvolle 
Gelehrte dieses Fachs aufzuweisen, als Spanien. Es genügt, die 
Namen des Anas Barbosa, Nufiez de Guzman Vives, Olivario, 
Johann imd Franz Vergara zu nennen. Der Ruf dieser Männer 
war ein europäischer und ihre Verdienste um die Altertums- 
wissenschaften allein rechtfertigte den Anspruch des Erasmus, 
der Zustand der Gelehrsamkeit und der Studien in Spanien sei 
ein so blühender, dass es den kultiviertesten Nationen in Europa 
Bewunderung einflössen und zum Vorbilde dienen könne. *) Die 
Universitäten von Salamanca, Alcald, Sevilla, Toledo und 
Granada wimmelten von lernbegierigen Jünglingen, die der 
weitverbreitete Ruf dieser Anstalten nicht allein aus allen Pro- 
vinzen Spaniens, sondern auch aus Italien, Deutschland und den 
Niederlanden herbeizog. Salamanca allein zählte siebentausend 
Studenten, Alcald kaum weniger. Die mächtig erwachte wissen- 
schaftliche Begeisterung riss sogar das andere Geschlecht mit 
sich fort; und an mehreren der genannten Hochschulen waren 
wichtige Lehrstellen von Weibern besetzt.*) Dass neben den 

') Ad Franoiscum Vergaram (1527): Hispania vestra quam semper 
et regionis amoeuitate fertilitateque, semper ingeniorum eminentium ubere 
proventu, semper bellioa laude floruerit, quid desiderari poterat ad summam 
felicitatem, nisi ut studiorum et cruditionis adjungeret Ornament a, 
quibus aspirante Deo pancis annis sie effloruit, ut osBteris regionibut 
quamlibet hoo deoorum genere, prsdcellentibus vel invidiae quse esset Tel 
exemplo. — Erasmi epistolse, pag. 977; ancl. pag. 755. 

') Memorias de la Aoademis de Historia, T. VI, Ilustr. 16. — Lam- 
pillas, Litteratura Spagnuola, T. II, p. 882 ff., 192 ff. — Marineo, Coeas 
memorables, fol. 11. — Semanario orudito, T. XYIII. 



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— 8 — 

klassischen auch die andern Studien mit Erfolg kultiviert wurden, 
kann für die Geschichte der Name des Mendoza, für die Juris- 
prudenz der des Mantalos beweisen. Um die grosse Anzahl von 
Werken, die in allen Bereichen der Litteratur hervorgebracht 
wurden, in*s Publikum zu bringen, war die Buchdruckerkunst 
ungemein thätig, und Spanien zählte im XVI. Jahrhundert mehr 
Pressen als gegenwärtig ^ 

Um den Ausgang des XVI. Jahrhunderts — gerade in der 
Zbit, in die unsere Besprechung fällt — beginnt nun freilich das 
glänzende Bild der spanischen Volkswohlfahrt, welches die Re- 
gierungen der Isabella und Karls Y. darboten, sich in mancher 
Hinsicht zu trüben. Philipp II. war der erste in jener langen 
Reihe von Monarchen, welche durch ein engherziges und ver- 
kehrtes Regierungssystem das Wohl ihres Reiches imtergruben. 
Seine unersättliche Herrschsucht lies ihn in dem Verlust eines 
der köstlichsten Edelsteine seiner Krone und in dem Untergang 
der Armada schon Vorspiele künftiger, noch tieferer Demütigungen 
der spanischen Grösse erblicken. Im Innern zertrümmerte er 
mit der Aragonischen Verfassung die letzten Reste bürgerlicher 
Freiheit. Das Werk der Unterdrückung und Entmächtigung, 
das sein unbeugsamer Willenstrotz begonnen hatte, wurde durch 
die Ohnmacht seiner Nachfolger, willenloser Spielbälle in den 
Händen treuloser Günstlinge, noch wirksamer gefördert. Die 
Verderblichkeit dieses Herrschsystems ist oft und mit den 
grellsten Farben geschildert worden, und seine zerstörenden Ein- 
flüsse liegen in dem späteren Ruin des Landes zu offen am Tage, 
als dass es sich irgend beschönigen liesse; aber man darf wohl 
vor der Uebertreibung in jenen Darstellungen warnen. Despo- 
tismus und Gewaltmissbrauch waren in jener Zeit die Seele der 
ganzen europäischen Politik, und es kann noch gezweifelt wer- 
den, ob sich die Wagschale des Uebels entschieden auf die 
Seite von Spanien neige. Die so ohne Weiteres angenommene 
Meinung, dass dies in überwiegendem Masse der Fall sei, schreibt 
sich aus einer Periode her, als die meisten europäischen Mächte 
die spanischen Monarchen mit neidischem und feindseligem Auge 
ansahen, und trägt schon hierin die Warnung zur Schau, sie 



') Glemenoin, Blogio de la Regna Isabel. — Mendez, Typografia 
Espaflola, p. 36 ff. 



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— 9 — 

wenigstens nicht ohne sorgfältige Prüfung anzunehmen. Ohne 
hier auf eine solche eingehen zu können, dürfen wir indessen 
so viel mit Bestimmtheit aussprechen, dass man sich von dem 
Despotismus der spanischen Monarchen aus dem Habsburgischen 
Hause und dessen Wirkungen einen ganz falschen Begriflf macht, 
wenn man glaubt, er habe den Staat sofort von der Höhe der 
Macht und des Glanzes herabgestürzt, alle Kraft der Nation ge- 
brochen, alles Selbstgefühl und allen Unabhängigkeitssinn in ihr 
erstickt und sie zu einer Herde zitt ender Sklaven herabgewür- 
digt. So leicht war das gewaltigste Staatsgebäude in Europa 
nicht zu zertrümmern, so leicht die Energie eines der edelsten 
Völker der Welt nicht zu überwältigen. Wie sehr auch eine 
verwerfliche, aus Tyrannei und Erbärmlichkeit gemischte Re- 
gierungsweise das Staatswohl in seinen Fundamenten unter- 
graben, den Gewerbfleiss im Innern lähmen und den Einfluss 
nach Aussen verringern mochte, Spanien behauptete sich doch 
noch während des ganzen XVH. Jahrhunderts als eine Macht 
ersten Ranges, und fuhr fort, ein bedeutendes Gewicht in den 
europäischen Angelegenheiten zu üben. Die verkehrtesten Mass- 
regeln der Regierenden waren unvermögend, den mächtigen Im- 
puls aus früherer Zeit ganz zu hemmen und das Reifen der 
Früchte, deren Saat unter einem besseren System ausgestreut 
worden war, zu hindern. So blieb auch das Nationalbewusstsein 
dasselbe, was es war; die grosse Vergangenheit warf einen 
blendenden Schimmer auf die Gegenwart, der über den heran- 
nahenden Verfall täuschte. Frei und kühn trug der Spanier 
nach wie vor das Haupt, ungebeugt durch den Druck der Um- 
stände; noch war der edle castilianische Stolz, noch das Be- 
wusstsein von dem hohen Berufe seines Volkes in ihm nicht 
erloschen; und die spanische Geschichte des XVII. Jahrhunderts 
ist noch reich an Zügen eines edlen und unabhängigen Sinnes, 
die dem nicht entgehen werden, der nur auf sie achten will. 
Die grösste geistige Herrlichkeit ist nicht notwendig an die Zeit 
des grössten materiellen Wohls gebunden; sie kann, wie auch 
andere Beispiele zeigen, dessen Verfall überleben, oder als Nach- 
blüte auf dessen Trünunern gedeihen. So scheint sich in Spanien 
die Federkraft des Geistes im Konflikt mit dem äusseren Druck 
nur gestählt und zu höherem Schwünge gekräftigt zu haben. 
Wenn Kunst und Litteratur als treue Spiegelbilder des geistigen 



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— 10 — 

Gehalts einer Nation gelten können und dieses wieder den 
höchsten Massstab ^gibt, um deren höhere oder geringere Bifite 
zu beurteilen, so muss der Zeitraum von den letzten Decennien 
des XVI. bis zu denen des XVII. Jahrhunderts für die reichste 
und glänzendste Periode des spanischen Lebens gehalten werden. 
Die Regierungen der drei Philippe umfassen das eigentlich gol- 
dene Zeitalter der spanischen Litteratur, vor allem der Poesie; 
demi was bedeuten die einzelnen, wenn auch schätzbaren Lei- 
stungen der früheren Jahre gegen die fast unübersehbare Menge 
trefflicher Werke, die zwischen den Meisterstücken des Cer- 
vantes und Calderon liegen?^) 

Der Absolutismus in Spanien, b^vor er seit Philipp IL in 
eine anmassende Vergötterung der Königsperson und der Königs- 
rechte ausartete, wird von der Geschichte bis zu einem gewissen 
Grade gerechtfertigt. Das Reich war ja hauptsächlich durch 
das Bemühen und die Verdienste seiner Könige entstanden und 
der Scharfblick imd die Grossmut derselben hatten jene Er- 
oberungen eingeleitet und jene Vorteile im politischen Leben 
errungen, welche erst das Land zu seiner vollsten Blüte und 
zum Höhepunkt der Macht gebracht. Als die politische Situation 
imd der scharfe Antagonismus in Sachen des Glaubens die Ent- 
fernung der Mauren und Juden aus dem Reiche notwendig 
machte, sah sich der Bauer und noch mehr der Kaufmann einer 
tüchtigen Stütze beraubt; er fand sich ebenfalls in der Lage, 
die Regierung um Schutz und Hilfe anzuhalten. So wurde die 
herrliche Entfaltung des Handels ganz ursprünglich zu einem 
königlichen Regal, der Mercantilismus ging schon bei seinem 
Entstehen in den landesfürstlichen Protektionismus über, mit 
dem er jetzt in der That identifiziert wurde. Auf diese Weise 
waren es die Umstände, welche die finanzielle Gewalt in den 
Händen der Regierung konzentrierte ; der despotische Charakter, 
den diese annahm, war eine natürliche Folge dieser bevorzugten 
Stellung, und die Geschichte hätte jenen Despotismus gutge- 
heissen, wäre er in deh Schranken der Gerechtigkeit und Mensch- 
lichkeit geblieben. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir meinen, 
dies sei auch in jenen Zeiten gefühlt und verstanden worden, 
wie wir in der Litteratur vornehmlich an der starken Betonung 



*) AUS dem citierten Werke von Sohaok's, B. IL, S. 4 ff. 



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— 11 — 

des autoritätischen Prinzips in einer oft auffallenden Weise er- 
sehen können. Vor Allem sehen wir die nationale Volksromanze 
eine Veränderung durchmachen, die uns einen genauen Grad- 
messer der nationalen Stimmung bietet; das Lied des Cid, dieses 
echt spanische Lied, die urtypische, alle Oharakterzüge des 
Volkes wiedergebende Erzählung, scheint sich am besten dazu 
zu eignen, das momentan herrschende Gefühl im Leben der 
Nation anzugeben. So wie in den Anfängen der spanischen Un- 
abhängigkeit der Kampf gegen die Mauren auf Schritt und 
Tritt jedem Spanier das Schwert in die Hand drückte imd dessen 
Erfolg auch von der persönlichen Tapferkeit abhängig war, er- 
scheint in jener Zeit der Cid, als Träger des Volksbewusstseins, 
als ^ein trotzig kühner, auf seine Rechte eifersüchtiger Hidalgo, 
der seinem natürlichen Lebensherm die Achtung und Treue zollt, 
die ihm vermöge dieses Verbandes gebührt; sich selbst aber 
nichts vergibt, die Ehre höher haltend als Gut und Gunst^ und 
fühlt er sich darin gekränkt oder ungerecht behandelt, so löst 
er den Verband und kündigt Treue und Lehen; denn Alles, 
was er hat, gewann er in Schlachten, gefochten mit seiner 
Lanze und unter seinem Panier."^) Später, unter der Herrschaft 
des Despotismus, stellt sich der Cid „mit der Auszeichnung der 
Unterwürfigkeit dar, als der treue Diener seines Herrn, und 
hochgeehrt durch Verbindung mit königlichen Geschlechtem; er ist 
der zahme, galante Hofritter, der sentimental-witzige Concetti 
macht, viel spricht und wenig thut."*) Wer aber glauben würde, 
dieses Gefühl der Unterwürfigkeit, mehr als das Resultat der 
Ueberlegung, sei der Ausdruck der Niedergeschlagenheit und 
Furcht vor der waltenden Regierung, der würde sich sehr 
täuschen; allerdings, irgend ein Personalinteresse, das Streben 
nach einem Amte oder einer Belohnung werden auch in manchem 
Falle die Phantasie des Litteraten bei der Umänderung dieser 
Nationalromanze beeinflusst haben; wenn man jedoch findet, 
dass nicht selten neben dieser Hochschätzung der königlichen 
Autorität, offene und direkte Mahnungen und Vorwürfe an den 
Regenten vorkommen, wie es zum Beispiel bei Calderon und 



*) Ferd. Wolf, Studien zur Gesohiohte der spanisohen und portu- 
giesischen Litteratur. Leipzig 1858. 
•) Cit. Werk von Wolf. 



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— 12 — 

Cervantes der Fall ist,^ so kann man durchaus nicht annehmen, 
dass jene Ehrerbietung blosse Speichelleckerei sei. Wie streng 
auch die Presse beaufsichtigt sein mochte, der Spanier war zu 
edel und zu stolz, um sich im freien Ausdruck seiner Gefühle 
Schranken setzen zu lassen; es ist wirklich auffallend, mit 
welcher würdevollen Selbständigkeit sogar auf der Bühne der 
Regierung und dem Könige Belehrungen gegeben und Vor- 
stellungen gemacht werden. Als sogar die Mauren vertrieben 
wurden, was in politischen Kreisen für einen endgültigen Tri- 
umph der Nation über den gefährlichen Feind betrachtet wurde, 
gab es Männer, welche diese Vertreibung offen missbilligten, 
wegen der Schäden, die daraus vorzüglich der Agrikultur er- 
wuchsen. ^) Auch schienen viele der zahlreichen Ritterromane, 
die in jener Zeit verfasst wurden, mit ihrem scharf hervor- 
tretenden individualistischen Charakter, die Macht der Persön- 
lichkeit als Kontrast oder Protestation der geschlossenen Macht 
der Regierung gegenüber zu stellen. Da aber bei allen diesen 
Versuchen, sowohl bei den Schreibern, wie auch bei den Lesern 
hauptsächlich die Phantasie zur Geltung kam und nur die Er- 
regung der Phantasie im Auge gehalten wurde, entstand bei 
der Unmenge derartiger litterarischen Produkte, die damals her- 
vorgebracht wurden, allenthalben eine krankhafte Schwärmerei, 
die einige Spuren sogar in den besten Werken jener Zeit, in 
zahllosen Liebesabenteuern palladinischer Art, zurückgelassen 
haben. 

Der mährenhafte Charakter dieser Fictionen, die Fülle der 
fabelhaften Begebenheiten, die sie darstellten, gaben dem Hange 
zum Wunderbaren, der durch die abenteuerlichen Kriege mit 
den Mauren und durch die Erlebnisse in der neuen Welt mächtig 
in der ganzen Nation angeregt war, erwünschte Nahrung. Der 
Reichtum an phantastischen Erfindungen, der uns noch heute 
in den bessern dieser Romane Erstaunen abnötigt, der blen- 
dende Glanz der Maschinerie in ihren prächtigen, von Gold und 
Edelsteinen funkelnden Palästen, ihren schwimmenden Inseln, 
geflügelten Rossen, magischen Ringen, gefeiten Waffen und ver- 



') So Bohrieb Gines Perez : yFinalmente los moriscos fueron saoadoB 
de 8U8 tierras, 7 fuera mejor qua no se ies sacara, por lo muoho que han 
perdido de ello su Majestad y todoB aus reines/ S. Wolf, e. W. S. 836. 



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— 13 — 

zauberten Schlössern, ihren Feen, Riesen und Zwergen, hätte 
selbst eine nüchternere Phantasie als die spanische mit sich fort- 
reissen können. Die übertriebene Sucht nach dem Wunderbaren, 
ausserhalb aller Natur liegenden, das Hohle und Geschraubte in 
den Affekten, der Wirrwarr in Geographie und Geschichte, die 
Weitschweifigkeit der Wortfülle in der Darstellung, diese Schatten- 
seiten der ganzen Gattung, welche das Verdammungsurteil Ein- 
sichtsvoller auf dieselbe lenkten, wurden von dem grösseren 
Publikum übersehen, das ihr bis in den Anfang des XVIL Jahr- 
hunderts seine Neigung in hohem Grade zuwandte.^) 

Auch hier können wir in der Litteratur das Bild der so- 
cialen Stimmung deutlich vor uns sehen: es herrscht allgemein 
ein sociales Fieber, eine Meinungs- und Gefühlsverworrenheit, 
eine unbestimmbare, noch gezügelte, aber schon starke Strömimg 
nach Neuerung mit einem sonderbaren Gefühl der Beklemmung. 

Die Situation richtig erkannt zu haben, ist das Verdienst 
des Cervantes^ und auch die Erklärung seiner Bedeutung und 
seines JRuhmes. Cervantes hatte die Intuition seiner Zeit und 
ist deswegen der Bahnbrecher einer glänzenden Epoche gewesen, 
welche noch lange dem Verfalle widerstand, den die engherzige 
Politik nun schon angefangen hatte. Er muss sich klar gelegt 
haben, dass nicht die Regierung, sondern nur die Gesellschaft die 
Gefahr abwenden konnte, die der Nation nahte, zumal sich 
die Regierung nichts sagen liess, und dass nicht so sehr die 
Regierung, sondern ebenfalls die Gesellschaft für die Geschicke 
der Nation in letzter Instanz entscheidend ist. Und auch die 
Art und Weise, wie man bis dahin auf die Gesellschaft einzu- 
wirken gesucht hatte, erkannte er als unrichtig ; jene Mahnungs- 
worte, welche die Litteratur ihr zuwandte, klangen mit dem 
gleichen Ton, an dem die Gesellschaft sich gewöhnt hatte und 
hatten die gleiche Farbe, wie sie; sie wurden daher entweder 
nicht verstanden, oder gar nicht beachtet. Cervantes erkannte 
wohl die Risse, welche da in der politischen Situation erschienen 
und erblickte die Kluft, die sich in der Zukunft vor der Nation 
drohend aufthat. Ein ungemein bewegtes und wechselvolles 
Leben hatte ihm durch die verschiedenartigsten Erfahrungen 
die Ueberzeugung beigebracht, dass der Mensch nur dann wirk- 



») C. W. von Sohaok's, II. B., S. 27 ff. 

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— 14 - 

lieh gross ist, wenn er natürlich ist; die Einfachheit und Be- 
scheidenheit seien die natürlichen Folgen der bewussten geistigen 
Kraft, denn sie bezeugen das richtige Walten der Vernunft und 
die innere Zufriedenheit, die in sich sein eigenes Qlück ein- 
schliesst, während der Porop und übermässige AufifäUigkeit 
das Vorherrschen der Phantasie auf Kosten der Vernunft, das 
heisst die Folge einer trügerischen Einbildung bedeuten. Diese 
Schlussfolgerung konnte im Munde keines Menschen mehr über- 
raschen und wirksamer sein, als im Munde des Cervantes, denn er 
wie kein anderer hatte alle Wechselßllle des Lebens erlebt und 
Glück und Unglück desselben in allen Stufen der socialen Glie- 
derung angesehen. Die Wirkung war daher ungeheuer, als er 
der schwärmenden und träumenden Phantasie ihr eigenes Bild 
mit allen LichteflFekten vorführte und danmter die Worte nieder- 
schrieb: Vanitas vanitatum et orania vanitasi Die Gesellschaft, 
an die er sich gewandt, fühlte die Berührung der Realität und 
musste daran Wohlgefallen empfinden, denn noch nie hat ein 
Schriftsteller einen solchen Erfolg gehabt, wie Cervantes.') Man 
kann ohne Uebertreibung sagen, Cervantes' Werk (wir reden 
von seinem Hauptwerk Don Quijote) sei ein politisches Ereignis 
gewesen; die Erfrischung, die Heilwirkung, die ihm folgte, lässt 
sich nur mit der Wirkung vergleichen, die ein errungener Sieg 
auf eine ermüdete Armee ausübt. Wie Cervantes die Intuition 
der Sachlage und der socialen Situation hatte, so musste ihm 
die Gesellschaft mit Verständnis entgegenkommen; die Masse 
verstand ihn und so brach jene Epoche an, die mit vollem 
Recht die geistig goldene der spanischen Litteratur genannt wird. 
Der höchste Glanz dieser glorreichen Epoche ist Calderon. 
Dieser Dichter hat es verstanden, die bezaubernde Anmut einer 
höchst melodischen Poesie mit der Kraft der tiefsinnigen Philo- 
sophie zu vereinigen; er hat der zarten und abgerundeten Form 
den Geist des lebendigen Gedankens eingeflösst. Calderon ist 
nicht nur einer der gewandesten Meister des Ausdrucks, sondern 



*) Naoh der Angabe der Aoa4emia espahola erlebte das Werk 
Don Quijote bis im Jahre 1657, 400 AuFgabeD in s) aniRcher Sprache, 
200 enwlisolie Ut-bcrsetzungen, 168 französische, 96 eiglische, 80 portu- 
giesische, 70 deutsche, 18 schwedische, 8 polnische, 6 dänische, 2 russische 
ur.d 1 lateinische. Das Werk wurde i604 angefangen und mit längerer 
Unterbrechimg 1615, kurz vor dem Tode des Cervantes, yullendet. 



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— 15 — 

auch einer der tiefsten und konsequentesten Denker, und seine 
Schöpfung ist eines der prachtvollsten und wertvollsten Produkte 
des Menschengeistes überhaupt. Dies müssen wir feststellen, 
obwohl wir nicht jene blinde Begeisterung teilen, die in so 
schwungvollen Worten einer der grössten Litteraturkenner unseres 
Jahrhunderts, A. W. von Schlegel, zum Ausdruck gebracht, i) 
Es scheint uns, diese Vergötterung des Dichters, wonach dieser 
allein in seiner wunderbaren Pracht da steht, wie ein grossartiges 
Monument aus glänzenden Edelsteinen, die er aus fremden und 
unerreichbaren Gegenden zusammengelesen , schade vielmehr 
seinem wirklichen Ruhme und seinen Verdiensten, als eine ge- 
rechte und massige Kritik. Denn diese allein vermag uns zu 
überzeugen, dass er sich durch die Macht des eignen Genies 
zur schwindelerregenden Höhe emporgeschwungen hat und 
hindert, dass, um ihn zu gut zu verstehen, man ihn missver- 
stehe und in Widersprüche verwickle. Calderon's Verdienst be- 
steht darin, dass er, mittelst einer Rechnung seines begnadeten 
Verstandes, in sich gesammelt und zur Vollkommenheit gebracht 
hat, was durch verschiedene Generationen an verschied(»nen Mo- 
menten und Menschen zu Tage getreten. Calderon ist nicht so 
originell, wie Cervantes und nicht so erfinderisch, wie Lope de 
Vega; aber er erhebt sich über beide, indem er das zur höchsten 
Abstraktion bringt, was jene nur erfasst, um mit einer meteo- 
rischen Farbenpracht und den magischen Strahlen des Nordlichts 
das umgibt, was jene in der idyllischen Schönheit einer süd- 
lichen Landschaft zur Abendstunde oder unter dem Trillern und 
Singen der Vög<»l in einem Urwald aufbauen. Und nicht nur 
von diesen zwei höchsten hat Calderon geschöpft, sondern wir 
könnten an der Hand seiner Werke selbst nachweisen, dass er 
die ganze vorhergehende spanische Litteratur und zweifellos auch 
die italienische beherrscht und sich beider bedient hat; von dieser 
letztern hat er vor allem die Personifikation abstrakter Ideen, 
wie sie so schön bei Dante sich findet (zum Beispiel Beatrice, 
Virgil etc.) und das theologische und didaktische Colorit vieler 
seiner Stücke übernommen. In der spanischen Litteratur fand 



^ ') A. W. Schlegel, Yorlesungen über dramatisohe Kunst und Lit- 
teratur, B. 3. 



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— le- 
er, ausser in Cervantes und Liope de Vega*), in allen bedeuten- 
deren Schriftstellern Stoff für seine Dramen, die manchmal nur 
eine Umarbeitung bereits vorgefundener scheinen. Das ist zum 
Beispiel der Fall bei der Dama duendey da er selbst dies mit 
den folgenden Worten eines anderen Stückes (Casa con dos 
puertas) andeutet: 

La dama duende sdra 

Que bolver d vivir quiere. 

(Es soll die Dama duende [Die Dame Kobold] sein, die 
wieder zu leben verlangt, wahrscheinlich weil ein anderes Stück 
ähnlichen Inhalts und Namens schon vorlag). Ausserdem ist das 
Calderon'sche Stück Encanto ein encantOy wenigstens einem be- 
deutenden Teile nach, aus dem Lustspiel Amor par senas von 
Tirso de Molina, herausgearbeitet; einige Scenen von 'der La 
devocion de la Cruz sind aus Mira de Mesena's Esclavo del 
DemoniOj und andere von dem Magico prodigioso ebenfalls aus 
Mesena's Ermitaho galan übernommen. Man erkennt sodann 
im Oalderon'schen Stück En esta vida todo es verdad y todo 
mentira die Einwirkung von Mesena's Rueda de la Fortuna, 
und in Cabellos de Absalon Tiro's Venganza de Tamar. Ana- 
loge Scenen mit einer in El mayor mostruo los zelos finden 
sich in La prospera fortuna de Ruy Lopez de Avalos von 
Damian Salustrio del Poyo und in Prudenda en la muger von 
Tirso. Calderon's Peor estd que estaba ist fast nur eme Umge- 
staltung eines gleichnamigen Stückes von Luis Alvarez, das im 
Jahre 1630 gedruckt erschien, und Medico de su honra ist sehr 



') Ein besonderes Kapitel dieser Sohrift wird den Zusammenhang 
zwischen Cervantes und Calderon darstellen; welche Bewunderung nun 
Lope de Yega Calderon eingeflösst habe, geht aus folgenden Versen 
hervor : 

Aunque la persecuoion 

De la envidia teme el sabio, 

No reoiba de ella agravio 

Que es de serlo aprobaoion: 

Los que mas presum^^n son, 

Lope, ä los que envidias da!s, 

I en SU presuncion veräs 

Lo que tus glorias mereoen 

Pues los que mas te engrdodecen 

Son los que te envidian mas. 

Obras sueltas des Lope de Vega, T. XII, p. XV. 



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- 17 — 

ähnlich mit Casarse por vengarae von Rojas. Das Stück No 
hay burlos con el amor erinnert an Lope*s Melindres de Beiisa 
und La nina de Oomez Arias an ein gleichnamiges Stück 
von Guevara; Lope hat ebenfalls ein Stück betitelt El gran 
Principe de Fez, mit welchem das gleichnamige Calderon'sche 
grosse Analogien zeigt u. s. w. 

Das Gesagte wird genügen, um die Calderon zukommende 
Stellimg zu erfassen und seinen inneren Wert, wie die Trag- 
weite imd Wichtigkeit seines Werkes im Folgenden besser be- 
urteilen zu können. Wir gehen nun auf die Besprechimg des 
grossen Dichters ohne Weiteres über. 




Ortti, Die WeltanBohanung Calderons. S 

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18 — 



n. 

Allgameina Bildung. — Speziell philosophische Bildung Calderon's. 

Ein spanischer Gelehrter unserer Tage, Menendez Pelayo, 
beurteilt die intellektuelle Bildung Calderon's in einer feinsinnigen 
Arbeit, betitelt Calderon y su teatro^ folgendermassen : „Wenn 
man sich, sagt er, nach einem Autor umsieht, der in sich die 
ganze intellektuelle und poetische Grösse unseres goldenen Zeit- 
alters einschliesse und vollende, wendet sich der Blick instinktiv 
nach Pedro Calderon de la Barca und die Lippen sprechen seinen 
Namen aus.^ Eine eingehende und aufmerksame Kritik von Oal- 
derons Werken zeigt in der That, dass dieses Urteil nicht über- 
trieben ist ; denn, obwohl Calderon, wie wir bald sehen werden, 
die wissenschaftliche Bewegung, die um seine Zeit durch Europa 
gieng, fast gänzlich übersah, so lag' der Grund hierin an den 
speziellen Verhältnissen seines Landes, welches durchweg von 
jener Bewegung nicht berührt wurde. Die politischen Fragen 
hingen so innig mit den religiösen zusammen und die Renais- 
sance zeigte eine so ausgesprochene antikirchliche Tendenz, dass 
die Sorge der spanischen Regierung, dieser neuen Bestrebung des 
menschlichen Geistes den Eingang in ihrem Lande zu versperren, 
leicht begreiflich erscheint. Abgesehen von den persönlichen An- 
schauungen der Monarchen und ihrem traditionellen religiösen 
Geist, der jedoch bei einem lasterhaften und engherzigen Handeln 
durchaus nicht ernst sein kann, lagen in der Nation selbst viel- 
fach die Gründe, die von einer Lockerung des reUgiösen Ge- 
fühls entschieden abrieten. Dieses Gefühl war es ja hauptsäch- 
lich gewesen, welches den Spanier in seinem hartnäckigen, jahr- 
hundertelangen Kampf mit den mohamedarüschen Mauren rmter- 



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— 19 — 

stützt hatte und so als einer der Grundpfeiler bei der Konstitu- 
ierung der Nation aufrecht blieb; die Religion ebenfalls hatte 
sie zum Wagnis der Entdeckung Amerikas angespornt und nicht 
selten als Beschützerin des ganzen Abendlandes hingestellt, 
wie bei Lepanto (7. Oktober 1671), wo Spanien in der That 
Europa aus der äussersten Gefahr errettete. Aber ausser diesen 
geschichtlichen Gründen kamen andere innerer rechtlicher Natur 
in Betracht. Trotz des rebellisch beanlagten Gemüts des Spaniers, 
der nicht gern einer andern obersten Autorität, als seinem eigenen 
Willen, gehorchte, hatte ihm die lange Reihe von unvergleich- 
lichen Verdiensten, welche seine Nation ihren Monarchen zu 
verdanken hatte, doch schliesslich tiefe Dankbarkeit und Ehr- 
furcht eingeflösst : eine lange und glorreiche Tradition hielt ihn 
ÄU seinem Herrn gebunden und die Erweiterung der religiösen 
Erkenntnisse hatte diesen Respekt vor der gesetzlichen Auto- 
rität sanktioniert und befestigt. Es kam noch der Umstand 
hinzu, dass, wie jene religiösen und antireligiösen Bestrebungen 
immer politische Zwecke vorhatten, wie z. B. die Reformation 
aeigte, und diese Ziele nicht selten direkt gegen Spanien, 
welches den politischen Horizont beherrschte, gewendet 
waren; so stand die spanische Nation ihnen im Voraus feind- 
lich gegenüber. Das ist der Grund, warum Spanien so ent- 
schieden und so kompakt gegen die erwachende Reaktion 
auftrat und warum der Spanier darin eine Gefahr für sein 
Vaterland erblickte und sie durch die Litteratur bekämpfte. 
So blieb der Boden Spaniens für alles unzugänglich, was 
in jenen Zeiten Richtiges und Unrichtiges hervorgebracht 
wurde und deswegen ist es nicht übertrieben, zu meinen, 
Calderon habe die Gesamtbildung seiner Nation in jener Zeit in 
sich gesammelt, trotz seiner bedenklichen Unkenntnisse in man- 
chem Wissenschaftsgebiete. 

Jedoch würden wir Calderon wegen dieser Mängel nicht 
für entschuldigt halten, wenn nicht auch seine persönliche Le- 
benslage ihre Erklärung geben würde. Mit seiner Berufung an 
den Hof (1637) war das Zeichen seiner geistigen Unfreiheit ge- 
gegeben; und zwar musste er nicht nur den Druck der vor- 
nehmen Umgebung, die ihn zu sich emporgehoben, empfinden, 
sondern sich auch bezüglich der Zeit und des Stoffes seiner Kom- 
positionen ihr zur Verfügung stellen : nicht wenige seiner Stücke 



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— 20 — 

sind auf direkte Bestellung hin gemacht. Dazu kam noch der 
Umstand, dass sein Aussichts- und Beobachtungsfeld durch die 
Sitte noch mehr beschränkt wurde, nach welcher nicht alle 
Klassen der Gesellschaft, sondern nur die vemehmeren Stände 
zu den Hof-Theatern Zutritt hatten, so dass der Dichter, schon 
der dramatischen Wirkung wegen, die Entwicklung und den 
Inhalt des Stückes diesem auserwählten Publikum anzupassen 
genötigt war. Dieser äussere Zwang lässt sich deutlich an vielen - 
der Calderonschen Stücke beobachten, welche zu sehr die Hand 
des Dichters zeigen, der die Aktion und die Personen willkürUch 
und unzusammenhängend bewegt. Oft ist die gewählte Aus- 
drucksweise, die philosophische Affektierung des Stils und 
die spekulative Form des Dialogs offenbar nur eine Folge 
der persönlichen gestachelten Eitelkeit des Dichters, der seine 
eigenen Kenntnisse zur Geltung bringen will; sowie zweifellos 
nuincher von den groben Fehlem, die in seinen Werken vor- 
kommen, der Hast zuzuschreiben sind, mit der er oft arbeiten 
musste. Wir müssen daher die Verstösse gegen die Wissenschaft 
nicht selten aus diesen Ursachen erklären, gleich wie bei 
Shakespeare gethan wurde, und nicht sofort uns von der Auf- 
fälligkeit des Irrtums überraschen lassen; Calderon's Zuhörer- 
schaft, obwohl aus den gebildetsten Männern seiner Zeit be- 
stehend, war keineswegs in jedem AugenbUcke mit ihrer Eru- 
dition bei der Hand, um die Kunst nach den genauen Gesetzen 
der Gelehrsamkeit zu beurteilen. Jene Männer entbehrten auch 
vieler Kenntnisse, die uns heute ganz geläufig sind, besassen 
aber dafür ein grösseres Verständnis und ein natürliches Gefühl 
des Grossen; sie setzten sich gerne über die historische Ge- 
nauigkeit hinweg, wenn der Dichter dadurch besser in die Lage 
versetzt wurde, den Effekt seiner dramatischen Kombinationen 
und den Plan seines Stückes zur Geltung zu bringen. Der Dichter 
seinerseits verlangte für sich diese Freiheit und es wird aus ver- 
schiedenen Stellen seiner Werke ersichtlich, dass wirklich jene 
Ungenauigkeiten oft absichtlich und ganz nach Berechnung ein- 
geflocht^i wurden, um die Gesamtwirkung des Stückes nach 
einer bestimmten Richtung hin zu lenken. Das sehen wir be- 
sooders bei den komischen Partien geschehen, wie es z. B. 
in jenen Verse» in Los dos amantes del Cielo der Fall ist: 
Un Fridle .... mas no es bueno 
Porque anu no hay en Roma Frailes. 



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— 21 — 

Unter Beachtung dieser Umstände müssen wir solche groben 
Irrtümer beurteilen, wie wenn der Dichter in En esta vida todo 
es verdad y todo es mentira^ redend von der Zeit des Byzan- 
tinischen Kaisers Phokas (7. Jahrhundert), das Schiesspulver 

erwähnt : 

Ultima razon da Reyes 

Son la polvora y las balas. 

In einem andern Stück, La Virgen del SalgrariOj sagt 
ein Bischof ebenfalls des siebenten Jahrhunderts: 

Africa, Amerika y Asia 
Son las tres de que no tengo 
Necesidad; Erodoto 
Las deserive con su ingenio, 

wonach Herodot eine Beschreibung von Amerika gemacht haben 
soll. Im gleichen Stück wird Konstantinopel in der Weise er- 
wähnt, als wäre es schon zur Zeit, als die Araber Spanien er- 
oberten, in den Händen der Ungläubigen gewesen. Was jedoch 
die geographischen Fehler betrifft, deren in den Werken Cal- 
derons noch mehrere vorkommen, müssen wir sie entschieden 
auf die mangelhaften Kenntnisse, die in jener Zeit in Spanien 
auf diesem Gebiete herrschten, zurückführen ; einige Weltkarten, 
die sich auf der Lonja und in der Columbinischen Bibliothek in 
Sevilla befinden, geben uns eine Idee von den fabelhaften Vor- 
stellungen, die man damals über ferne Gegenden, besonders des 
Nordens, hatte. Da steht Calderon nicht über dem kulturellen 
Niveau seines Landes und wenn die Verhältnisse, die wir oben 
erwähnten, derartige Unkenntnisse nicht erklären würden, 
könnten wir ihn nicht für entschuldigt halten, zumal sein Geist 
von universeller Beanlagung getragen war. 

Wir haben, um uns ein möglichst richtiges Urteil über 
die Bildung des spanischen Dichters machen zu können, als 
geraten erachtet, von allen mehr oder weniger hypothetischen 
Meinimgen der Commentatoren absehend, selber in seinen zahl- 
reichen Werken zu forschen und dieselben einem aufmerksamen 
Studium zu unterwerfen. Dabei benützten wir, was Calderons 
schönste Schöpfungen, nämlich die Atäos sacramentales, anbe- 
trifft, eine spanische Ausgabe, die in Madrid im Jahre 1769, 
Oficina de la Viuda de Don Manuel Fernandez, versehen 
mit einer Vorrede, die aus Calderons Feder stammt, erschienen 



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— 22 — 

ist. Für die Dramen bedienten wir uns einer Leipziger Ausgabe 
vom Jahre 1827 (herausgegeben von J. Jorge Keil). Diese 
Ausgabe giebt die bekannte Biographie Calderons von D. Juan 
de Vera Tasis y Villaroel, einem Schüler des grossen Dichters- 
Calderon zeigt in seinen Stücken eine grosse Vorliebe zur 
Personifikation ; sein tiefer und forschender Verstand suchte bei 
den mannigfaltigen Erscheinungen, die das Leben bietet, besonders 
in denen, die aus den Handlungen des Menschen sich ergeben, 
nicht die unmittelbaren Beweggründe zu ermitteln, welche 
jene Handlungen veranlassen, sondern das Gesetz des ganzen 
Wechselspiels des menschlichen Herzens und Willens und 
machte sich ein ganzes System von allgemeinen BegriflFen, wie 
Glaube, Liebe, Vernunft etc., durch deren Einwirken der Mensch 
angetrieben wird. Mit seinem riesigen Scharfsinn berechnete er 
die Kollisionen und Wechselwirkimgen dieser Begriffe unter sich 
und indem er sie auf den Bühnen in den mannigfaltigsten Combi- 
nationen einführte, zeigte er in einem mysteriösen Hintergrund, 
getragen von unermesslichem Glanz und bereits umgeben mit 
der Stille des Jenseits, die Bühne des menschlichen Herzens- 
Diese Personifikation, deren Durchführung eine ungeheure Be- 
rechnung erfordert und alles übertrifft, was in einer andern 
Litteratur derartiges hervorgebra3ht worden ist, wendet der 
Dichter auch in Fällen an, wo nur gewisse Kategorien der gei- 
stigen Produktion des Menschen in Frage kommen, und so finden 
wir bei ihm auf ähnliche Weise behandelt die Jurisprudenz, die 
Medizin, die Philosophie etc. Wenn aus der Konsequenz, mit 
der jene Wissenschaften in den Calderonschen Stücken sich aus- 
nehmen, auf die Kenntnisse des Dichters in jenen Wissensge- 
bieten geschlossen werden darf, so können wir annehmen, dass 
er wenigstens deren Hauptideen richtig begriff; jedoch scheint, 
uns dies zu wenige um von eigentlichem Wissen zu sprechen. 
Auch sieht man klar, dass der Dichter hier durchaus innner- 
halb der engen Grenzen der damaligen Wissenschaft steht: er 
nennt z. B. Medizin, was eigentlich Biologie ist^) und Mathe- 
matik die mathematische Physik. «) Für ihn ist noch, wie für 



') Auto saoramental A Dios por razon de Estado. 
^ Loa zu Ant. eacr. Andromeda y Pereeo, wo er die Spiegelung^ 
Reflexion eto., Mathematik nennt. 



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— 23 — 

Empedokles, der menschliche Leib ein Produkt der Elemente, 
die sich in einem Gleichgewicht zusammengefunden haben; 
diese Elemente sind Feuer, Luft, Erde, und Wasser, *) Diese Auf- 
fassung mutet unseren Dichter sehr an, obwohl man nicht ganz 
klar unterscheiden kann, ob er sie als philosophisch annehmbar, 
oder bloss als für die Poesie ungemein passend findet. Er kommt 
inmier wieder darauf zurück, als wolle er sich von der Rich- 
tigkeit derselben überzeugen, als mache ihm sein Verstand Ein- 
wendungen dagegen. Dasselbe wiederholt er, wenn er die Tiere 
und die Natur aus dieser Mischung erklärt ; so sagt er im Df ama 
En esta vtda todo es verdad y todo mentira: „Jenes Tier, 
Erde der Leib, die Seele Feuer, Wasser der Schaum (der Saft) 
und sein ganzes Wesen Wind.** Ein Pferd beschreibt er fol- 
gendermassen : „Das Pferd, in dem ein kleines Bild des Uni- 
versums zierlich sich abspiegelt, denn sein Leib ist aus Erde, 
seine Seele aus Feuer, seine Säfte aus Wasser und sein Atem 
aus Wind; in dieser Mischung bewundere ich einen Chaos, da 
es, in seiner Seele, in seinem Schaum, Leib imd Atem, ein Un- 
geheuer ist aus Feuer, Erde, Wasser, Wind.** *) So spricht er 
von den Vögeln: „Ihr Vögel, fliegend in der Luft, seid bunte 
belebte Blumensträusse, und ruhend auf den Bäumen seid ihr 
redende Blumen.** «) Das Sinnbild dieses Kreislaufes in der Natur 
ist der Phönix, „welcher Vogel, Flamme, Glut und Wurm, Urne, 
Scheiterhaufen, Stimme und Brand im Feuer, entsteht, lebt, 
dauert und vergeht.** *) Er macht sich sehr vertraut mit diesem 
Gedanken, der ihm schliesslich sehr geeignet erscheint, die or- 
ganische Entwicklung der Natur zu erklären. Ausgehend von 
der Vorstellung des Mikrokosmus, findet er den Menschen, als 



') A un tiempo, proouren 

Agna, Tierra^ Fuego, Aire, 

Que BUS esfuerzos tributen 

Para una Naturaleza, 

El fin ä que las oonduoe 

Su Jumenso Criador. 
Ant saor. La oura y la enfermedad. — Auoh A. s. A Dios por rason 
de Estado. 

*) La Vida es suefio. 

•) Eco y Naroiso. 

*) En esta vida todo es verdad y todo mentira. 



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— 24 — 

^vortrefflich dazu begabt, eine Welt im Kleinen zu sein, da er 
in sich die Eigenschaften aller Wesen fasse.*' ^) Weiter führt er 
aus : „Mit den^ Stein hat er die nämliche Ausdehnung, die kör- 
perliche Wertigkeit gemein, mit der Pflanze teilt er das vege- 
tative Leben, mit dem Tiere die freie Bewegimg und das „Le- 
bensgefühl^, mit den höheren Intelligenzen hat er das Begreifen 
und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, gemein. Und wenn ich 
weiter gehe, so finde ich, dass er mit Gott selbst das gemein 
hat, dass er ewig ist." Die Idee der Entwicklung hat keine 
Analogie mit der Idee jenen evolutiven Zustandsändenmgen 
durch Kondensation, die wir bei den alten Philosophen der mi- 
lesischen Schule, vornehmlich bei Anaximenes, vorfinden, ebenso 
wenig wie mit der Idee der biologischen Evolution Darwin's in 
unseren Tagen. Bei Calderon idealisiert sich alles, indem es 
eine allgemeine Bedeutung und einen allgemeinen Charakter an- 
nimmt. Wir werden diese seine Idee an anderm Ort wieder 
aufnehmen. 

Im Menschen ist das Blut das erhaltende Element 2) und 
das Herz das Centrum, das Königsorgan des ganzen Organismus, 
indem es das Leben reguhert.^) „Das Herz ist das erste, das lebt, 
und das letzte, welches stirbt," sagt er, „und regiert die Sirme 
und die Potenzen":*) wenn man an Stelle von Potenzen Em- 
pfindungscentren setzt, wird man in diesen Worten einen Satz 
der modernen Physiologie finden. Noch wichtiger sind die an- 
deren Worte: „Der Saft des Blutes, in unserer BeschaflFenheit, 
tritt in Beziehung zur Luft," 5) womit der Blutkreislauf, den 
Servet \md nach ihm Harvey entdeckten, angedeutet wird. Wir 
wissen nicht, ob Calderon Kenntnis von jener Entdeckung er- 
halten hat; seine Worte klingen so originell und geben auch 
so wenig Auskunft über den eigentlichen Kreislauf des Blutes, 
dass wir es sehr bezweifeln und meinen, das sei einer jener 
genialen BHcke, die Calderons Vernunft in die Natur wirft: da 
wir, um zu leben, atmen müssen, und das Blut der erhaltende 



*) A. 8. Los alimentos del hombre. 
') Loa zu A. 8. A Dios por razon de Estado. 
') Loa zu A. 8. El santo rey Don Fernando. 
*) Ebend. 

^) El aire, en nuestra composicion, toca el humor de la sangre. 
A. s. La cura 7 la enfermedad. 



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— 25 — 

Stoff des Körpers ist^ fiel ihm ein, dass das Blut den Nahrungs- 
stoff aus der Luft ziehe. Ebenso interessant ist jene andere 
Idee, womit er die Kant-Laplace'sche Theorie über die Entstehung 
der Gestirne in Umrissen formuliert; er sagt im Drama Amado 
y aborrecidOj Jornada III : „Unsere Gestirne sind eine zersplitterte 
Sonne" : ^) ein um so bedeutsamer Gedanke, wenn man bedenkt, 
wie wir bereits gesagt, dass Calderon von den wissenschaftlichen 
Entdeckungen jener Zeit, von Copernicus, Kepler, Galilei, nichts 
erfahren zu haben scheint. Es steht noch auf dem Boden der 
Ptolomäischen Lehre, obwohl er es nirgends zu erkennen geben 
will. Wir ersehen dies aus einer Stelle, in welcher er die Reise 
der Sonne von Osten durch Norden nach Westen beschreibt, 2) 
was nur möglich ist, wenn man mit Ptolomäus, das Feststehen 
der Erde und die Drehung der Sonne um sie anninunt. Nach 
dieser Ansicht erscheint Calderon Asien im Osten, Amerika im 
Westen, Afrika im Norden und Europa im Süden. Es gelingt 
ihm aber, von Jerusalem ausgehend und den Meridianen folgend, 
mit ziemlicher Genauigkeit die Staaten der Erde zu bestimmen.^) 

Was nun die philosophische Methode anbetrifft, so sehen 
wir aus Calderons Werken, dass er vornehmUch die aristotelische 
befolgt, die er gründlich kennt. Der Dichter ruft nicht selten, 
nach Art der Scholastiker, Aristoteles als Autorität an und ent- 
nimmt ihm Sätze, welche die Scholastik vor ihm bereits über- 
nommen hatte, wie: Nihil vacuum in rerum natura.*) Auch 
greift er, wenn er längere Auseinandersetzungen vermeiden will, 
zum Begriff der Endursache, zur Gaicsa caiLsarum^ um die 
Existenz Gottes zu beweisen ; *) durchweg wendet er die Formel 
„Stoff und Form" für Substanz und Erscheinung auch an.^) 

Auch andere griechische Philosophen scheint er zu kennen : 
er nennt die Stoiker als die hervorragendsten unter ihnen. ^) 



') Pues mestras luoes bellas 

Niinoa soD mas 

Que uü sol quebrado ä estrellas. 
') A. 8. La nave del Mercader. 
') Loa zu A. 8. El viatioo oordero. 
*') Loa z. A. 8. A Dio8 por razon de Estado. 
*) A. 8. A Dios por razon de Estado. 

•) ü. a. A. 8. La nave del Mercader. — Loa z. A. 8. Psiquis y Cupido. 
^) A. 8. A Dios por razon de Estado. 



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— 26 — 

Die sieben Weisen führt er ebenfalls einmal an: sie disputieren 
über die Frage: „Was ist das Kleinste, welches das Qrösste 
fcisst, und das Grösste und Kleinste gleichzeitig ist ?^ Die Ant- 
worten sind sehr verschieden: einer entscheidet sich tür das 
Gesicht, ein anderer für das Gehör, ein dritter für das Herz, ein 
vierter für den Verstand, ein fünfter für den E^ristaU.*) 

Es ist nicht sehr schwer zu erkennen, dass Calderon.alle 
diese Anführungen nicht mit der ernsten Ueberlegung des Den- 
kers, sondern bloss mit der Müsse und Gemütsruhe eines Spielers 
vorbringt : manchmal gilt es, eilig einem Dispute zu vorzukonmien, 
manchmal ist es angezeigt, mit billiger Mühe viele Kenntnisse 
zur Schau zu bringen. So sagt er uns plötzlich, nachdem er in 
den Autos anders und besser sich ausgedrückt hat, dass „Grott 
das Universum aus dem Exemplar seiner Idee hervorbrachte. ***) 
Das ist ein aus Plato übernommener Satz. In einem andern Stück 
tritt der menschliche Verstand mit den Kennzeichen der grössten 
Zahl auf, ^) was mit anderen Worten Protagoras Satz: jidncov 
XQrjjLuircov fihQov ö.v'&Qconog übersetzt. Anderswo nennt er den Leib 
„ein lebendiges gestimmtes Instrument, das innerhalb der Seele 
geräuschlose Harmonie spielt**;*) die Pylihagoreer nannten die 
Seele die Harmonie des Leibes, Mit allen diesen Anführungen 
überrascht er uns und um dieser Ueberraschungen willen, die 
er bei seinen Zuhörern hervorbringen will, hat er sie auch in 
seinen Stücken eingeflochten. Bald bricht sich seine innere Idee, 
die geheime Tendenz seiner Seele wieder Bahn und sein mäch- 
tiger Geist schwebt wieder unabhängig und glanzvoll auf der 
Bühne. 

Im übrigen bewegt sich Calderon im Fahrwasser der Scho- 
lastik. Wir lassen hier das Urteil folgen, das uns der verehrte 
Rektor der Universität zu Salamanca, Herr Lozano, in 
einem gütigen Brief vom 1. August 1895 gab, weil es von 
Bedeutung ist, zumal es von einem gründlichen Kenner Calde- 
rons kommt. Herr Lozano schreibt: „Alle diejenigen, die von 
Calderon vom philosophischen Standpunkt aus geschrieben haben, 



») Loi z. A. 8. Andromeda y Perseo. 
•) El Purgatorio de S. Patrioio. 
•) A. s. La divina Filotea. 
*) A. 8. La nave äel Meroader. 



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— 27 — 

sind darin einig, Calderon habe sich zu sehr von den philoso- 
phischen Strömungen, die damals in unserem Lande herrschten, 
beeinflussen lassen — von jenen Strömungen, die durchaus 
scholastisch waren. So sagt Menendez Pelayo in seiner Arbeit 
über Calderon („Calderon y su teatro", die wir auch oben er- 
wähnten): Zweifellos sehr hoch musste die Kultur des Volkes 
sein, welches solche Schauspiele verstand,^) nicht nur wegen der 
theologischen und philosophischen Anspielungen, die sich darin 
vorfinden, sondern wegen der oft trockenen, immer didaktischen 
Ausdrucksweise, besonders in den Zwiegesprächen, in denen oft 
jedes poetische Kolorit schwindet und an dessen Stelle das kahle, 
syllogistische Verfahren tritt . . . und die Form eine so derbe 
und decidierte Gestaltung annimmt, wie in einer scholastischen 
Argumentation. 

Und nicht nur in der Form merkt man diesen scholastischen 
Einfluss, sondern, wie der eben citierte Schriftsteller weiter sagt, 
„stammte jene ungezügelte Neigung, alles Abstrakte zu personi- 
fizieren, aus den vorherrschenden Einflüssen der scholastischen 
Philosophie im XVI. Jahrhundert.** 

Calderon steht unter der unmittelbaren Gewalt jenes Mannes, 
der im Mittelalter die philosophische Sonne, der Adler der Spe- 
kulation gewesen ist; wir meinen Thomas von Aquin. Dieser 
Mann, dessen genialer Kunstgriff darin bestand, Aristoteles zu 
christianisieren, der Geister wie Dante völlig beherrscht hat, und 
heute noch mehr Adepten zählt als irgend ein anderer Philosoph, 
als irgend ein anderes System — dieser Mann hat auch Calderon 
für sich gewonnen. Der hl. Thomas ist für^ihn die Vollendung 
jeder Philosophie; er, der wie ein Damm dagestanden, gegen 
welchen die Wogen der beginnenden Renaissance anprallten und 
der wie ein reissender Strom sich in jener Zeit den Weg bahnte, ist 
für Calderon das vollkommenste Muster. Ihm nimmt er oft ganze 
Ideen, ganze Diktionen, die ganze Art der Argumentation ab ; ') 



i) Wir zeigten an anderer Stelle, dass Galderons Stücke nicht Tor 
dem Volke, sondern im Hoftheater im Buen Retiro gespielt wurden und 
verweisen dabei auf Schaok's Geschichte der spanischen dramatifiohem 
Litteratur und Kunst, III. Bd. — Berlin 1846. 

*) Da können wir keine besonderen Stellen angeben; die entnom- 
menen Ideen schwimmen unbestimmt in den verschiedenen StUcken. 
Man lese z. B. den A. s. A Dies por razon de Estado (»Die Güte, nicht 



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— 28 — 

Tomas dijo, ^) der Meister hat gesprochen, sagt er mit Ehrfurcht, 
um eine schwierige Kontroverse zu entscheiden. 

Mit der Patristik ist Oalderon ebenfalls vertraut; nicht selten 
stützt er seine Aussagen, sofern sie in das theologische Gtebiet 
hinübergreifen, mit dem Zeugnis eines Kirchenvaters ; so z. B. in 
der Loa zu A. s. La lepra de Constantino, wo er den heiligen 
Chrysostomus anführt; in anderen Autos nennt er den heiligen 
Augustin, ^) den heiligen BasUius, ^) und führt andere Kirchen- 
väter diskutierend an, obwohl nicht in den Fragen, die jeder in 
seinen Werken erörtert.*) 

Oalderon beherrschte die lateinische und die italienische 
Sprache; er macht Andeutungen, als hätte er etwas griechisch 
und hebräisch verstanden, aber sicher ist es nicht. ^) Er hatte 
eine sehr genaue Kenntnis von der Geschichte der christUchen 
Kirche und derjenigen seines Landes; er kannte sehr gut die 
alte Mythologie und die romantischen Sagen von Spanien und 
Italien, und überhaupt alle Gebiete, die auf eine dichterische 
Thätigkeit Bezug haben. Denn vor allem war er Dichter und 
nur wenn er in seiner dichterischen Begeisterung auftritt, 
kann er der Fülle und Originalität seiner eigenen Gedanken 
Ausdruck verleihen. Diese originellen Gedanken Oalderons haben 
wir uns im folgenden bemüht zu sammeln, zu ordnen und als 
ein Ganzes darzustellen. Oalderon hat selbständige Ideen genug, 
um sich von den Fesseln der traditionellen Scholastik frei machen 
zu können, und obwohl er jene Methode so eifrig befolgt, er- 
zielte er damit nur jene geistige Gymnastik, die nur die Scho- 
lastik zu geben vermochte. „Die Scholastik, sagt Oondorset, 
verschärfte die Geister; jener Geschmack an den subtilen Unter- 
scheidungen, jenes Bedürfnis, die Ideen ohne Unterlass zu zer- 



mitgeteilt, ist unvollkommen* etc.); die Loa zu A. s. La nave del Mer- 
oader und kurzweg alle Autos, in denen ein theologisohes Argument be- 
handelt wird. 

*) Loa zu A. s. El Pintor de su deshoura. 

■) A. 8. Lo que va del hombre ä Dios. 

•) A. s. Andromeda y Perseo. 

*) A. 8. Las ordenes militares. — A. 8. El sacro Parnaso. 

*) Er pflegt die Etymologie der Fremdwörter in diesen Sprachen 
(Fines, Areopag, Moses etc.) zu erklären; so z. B. im A. S. A Dios por 
raion de Estado. — A. b. El yiatioo oordero. 



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— 29 - 

setzen, deren flüchtige Nuancen aufzufangen, sie mit neuen 
Wörtern zu repräsentieren; der ganze Apparat, der in^s Werk 
gezogen wurde, um einen Gegner in dem Dispute in Verlegenheit 
zu bringen, um seinen Fallstricken zu entgehen, war der Ur- 
sprung jener philosophischen Analysis, die nachher die fruchtbare 
Quelle unseres Portschrittes geworden ist." i) Calderon fühlt sich 
nicht selten ob diesen Uebungen müde und erhebt den Bhck in 
die freie Natur, in das von einfacher Wahrheit schimmernde Blau, 
weit über die Wälder, über die Prairie, längs den spielenden 
Bächen. Dann fühlt er in seinen innersten Pasem, wie eine 
freudige und tiefe Melancholie, eine Wärme voll Geheimnis, einen 
Ernst voll Kindlichkeit. Dann ist er ein Dichter-Philosoph, der 
^bald mit der süssen Schwärmerei eines behaghch Träumenden, 
bald mit dem erhabenen Ernste eines tiefsinnigen Mannes oder 
Greises diese glühende Pracht des Tag- und Nachthimmels, wo 
die Sterne unverwelkhche Blumen sind, diese von Farbe bren- 
nenden, von Duft berauschenden Blüten, die vergänglichen 
Sterne der Erde, die in Purpur getauchten Buchten, diese furcht- 
bar-schönen Stürme zu belächeln, oder als Offenbarungen des 
Höchsten zu belauschen." ^) 

„Alle Erscheinungen der Welt, das Kleinste wie das Grösste, 
das Lebende wie das Unbelebte, das Peme wie das Nahe, werden 
von der heiligen Begeisterung des Dichters, welche in der Natur 
das Abbild und den Schatten eines höheren Geistes feiert, zu 
einem Blumenschmuck versammelt, in dessen Tauperlen sich die 
ewige Schönheit des Jenseits spiegelt. Mit schwärmerischem 
Naturgefühle wandelt Calderon umher in dem bunten Zauber- 
garten der Schöpfung, wo ihm jede Blüte, die ihren Kelch sehn- 
süchtig dem Lichte aufschhesst, der Gesang jedes Vogels, das 
Rauschen jedes Blattes das ewige Mysterium der Liebe verkündigt. 
Und so versetzt uns seine Dichtersprache mit dem Schmelz und 
der Weichheit und zugleich der von innerer Glut leuchtenden 
Kraft ihrer Bilder in eine südliche Landschaft, unter Palmen 
imd Cypressenhaine, überwölbt von dem tiefen Blau eines ewig 
reinen Himmels; Lauben von Rosen und Jasmin prangen im 
ersten heiligen Schmucke des Frühlings, aus dem dunklen Grün 



^) Esquisse des progr^s de Tesprit humain, 7^me ^poque. 
') Friedrich Zimmermann bei Sohack's o. W. IIL Bd. S. 88. 

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^^r 



— 30 — 

glänzen goldene Früchte hervor, im Hintergrunde aber wogt das 
unendliche Meer und wiegt mit dem Steigen und Fallen seiner 
Wellen den Geist in sehnsüchtige Träume ein.** ^) 

Diese Worte geben ein treffliches Bild von Calderons Er- 
scheinung; sie ist eine machtvolle Vereinigung der orientalischen 
Phantasie und Gemütswärme mit der nüchternen abendländischen 
Intelligenz. Wir haben da die schönste und merkwürdigste Ver- 
einigung des idealistischen Sinnes, der hinter den mannigfachen 
Komplexen der Erscheinungen immer neue Proportionen und 
Figuren entdeckt und den Gedanken mit einer Fülle von Schlüssen 
überrascht, und dem ruhigen und klaren Verständnis der gemeinen 
Wirklichkeit, welches das Herz in die Labyrinthe der mensch- 
lichen Natur einführt und ihm die schönen Felder der Liebe 
entdeckt. Dicht neben dem strengen ascetischen Rigorismus 
erscheint, obwohl selten in anstössigen Worten, die Pracht der 
irdischen Herrlichkeit und neben der schmachtenden Sehnsucht 
nach himmlischer Wahrheit nehmen wir das Interesse für die 
Kleinigkeiten des Lebens wahr. Ebenso finden wir da, neben der 
ursprünglichen Freiheit und Schöpfungskraft des Geistes, eine 
berechnete Nachgiebigkeit gegen die momentanen Richtungen 
der Zeit, eine verletzende Sophistik neben der schönsten Sprache 
der Natur und Ausdrücke weltumfassender Anschauimg neben 
der Anbequemimg an die BegrifiFe und Vorstellungen einer be- 
bestimmten Menschenklasse. 

Sein Geist ist einer der edelsten und vollendetsten, welche 
die Menschheit aufzuweisen hat; er stellt sich dar wie ein nach 
allen genauen Regeln der Mathematik aufgebauter Palast, aber 
einer jener Feenpaläste der Mauren mit ihren gewundenen und 
schlängelnden Arabesken, mit ihrer wunderbaren Farbenkompo- 
sition und ihren vollen und phantastischen Formen, gesehen in 
einer hellen Nacht des südlichen Himmels, wenn der Wind die 
verborgene Melodie der trockenen Blätter hervorzaubert und 
über die ferne Wüste den Ruf des Raubtieres hindehnt. Calderon 
hat das Glück gehabt, das so wenigen grossen Männern gegönnt 
wurde, ein steter und unsterblicher Gegenstand der Bewunderung 
und der Nachahmung zu bleiben; und die immer grössere Be- 
deutung, die er in der Weltlitteratur fortwährend annimmt, zeugt 



») Friedrich Zimmermann bei Schaok's o. W. IIL B(L, S. 67. 



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— 31 - 

am besten für seine geistige Kraft. Wir haben ihn als Philosoph 
darstellen wollen, und obwohl wir uns die grösste Mühe gegeben, 
den Denker zu verstehen und zu interpretieren, sind wir weit 
entfernt zu denken, dass es uns auch immer gelungen; vielmehr 
beeilen wir ims die Befürchtung auszusprechen, dass imsere 
Arbeit nicht nur ein Versuch, sondern ein schwacher und im- 
genügender Versuch bleiben wird. 



lieber Calderon scheinen ims die besten, ausser dem bereits 
citierten Werke von Schack, folgende Schriften: 

A. W. von Schlegel : Vorlesungen über dramatische Litte- 
rfttiu" und Kunst, Bd. 3. 

Valentin Schmidt (Wiener Jahrbücher der Litteratur 1822, 
Bd. 17—19), der eine psychologische Studie über Calderon giebt. 
Trench : Essay on the life and genius of Calderon, 2. Aufl. 
London 1880. 

Pastenrat: Calderon. Leipzig 1881. 

Fastenrat: Calderon in Spanien. 

Angel Lasso de la Vega : Estudio de las obras de Calderon 
de la Barca, Madrid 1886. ' 

A. Morel-Patio: Revue critique des travaux d'örudition 
publi^s en Espagne, Paris 1881. 



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- 82 



m. 

Biographie. — CaJderons Weltanschauung. 



Es ist nicht ohne ein gewisses Interesse, wenn man sieht^ 
wie die Menschheit gewisse Daten unbeachtet lässt, die ihr irgend 
einen Vorteil gebracht haben, während sie das Datum einer 
Söhlacht oder eines sonstigen Ereignisses, das ihr grosses Unheil 
verursacht, niemals vergisst und in allen Geschichtsbtlchem mit 
Aufmerksamkeit aufzeichnet. Was die Menschheit Gutes besitzt, 
ist ihr von den Männern des Geistes erstritten worden; \md 
gerade diese Männer werden bald in die Vergessenheit zurück- 
gedrängt und bleiben der Mehrzahl der Menschen unbekannt. 
Um von den Männern zu schweigen, die der Menschheit direkt 
durch die Werke der Nächstenliebe gedient haben, wollen wir 
nur einige Beispiele von solchen erwähnen, die ihr auf dem in- 
direkten Wege der Wissenschaft Glück und Wohlfahrt brachten. 
Lange hat man sich darum gestritten, wie Humboldt uns be- 
richtet, ob Copemicus am 19. Pebmar 1473, wie McBstlin will, 
oder am 12. Februar des gleichen Jahres geboren wurde. Das 
Datum des Geburtstages von Christoph Columbus schwankte 
lange in einem Zwischenräume von 19 Jahren; Ramusio setzt 
es in das Jahr 1430 ; Bemaldes, sein persönlicher Freund, in das 
Jahr 1436; der Geschichtsschreiber Muöoz in das Jahr 1446. 
Kepler sch^3int nicht am 21. Dezember 1571 zu Weil, sondern 
in einem Dorfe in Württemberg, zu Magstat, den 27. Dezember 
1671 geboren worden zu sein. 

AehnUch ist es auch Calderon ergangen. Gewöhnlich gab 
man an, er sei im Jahre 1601, am ersten Tage des Jahres ge- 
boren worden, imd mit dieser Aussage stimmt auch die Biographie 



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— 33 — 

Vera Tasis überein. Nun scheint es aber, auch den Forschungen 
von Antonio de Iza Zamacola y Vilar und von J. E. Hartzen- 
busch festzustehen, dass er am 19. Januar 1600 zu Madrid ge- 
boren wurde^. Sein vollständiger Name lautet : Don Pepro Cal- 
deron de la Barca Barreda, Gonzales de Henao, Ruiz de Blasco 
y Rianno. Er war adelig und seine Mutter flammingischer 
Herkunft. 

Ueber diese Verwechslung der Daten vermögen wir uns 
keine genügende Erklärung zu geben. Vielleicht liegt der Gnmd 
hievon in der ungenauen Führung der amtlichen Register oder 
in der Verwechslung des Datums des Geburts- mit demjenigen 
des Tauftages. Letzteres erscheint noch plausibler, zumal damals 
das piarramtliche Register bei Eintragung von Ehen und Taufen 
die gleiche offizielle Gültigkeit hatte, wie das staatliche; und 
da nicht immer die Taufe am Geburtstag geschah, so konnten 
sich zwei Daten ergeben, die den Geschichtsschreiber leicht ver- 
wirren konnten. 

Calderon's Produktivität, obwohl lange nicht mit der des 
Lope de Vega zu vergleichen, ist sehr gross und hat sich fast 
ausschliesslich in der Poesie bethätigt. In Prosa verfasste er, 
nach der Angabe von Vera Tasis, nur eine Abhandlung in Ver- 
teidigung der Würde der Malerei und eine in Verteidigung des 
Schauspieles; ebenso ein Schriftstück über den Einzug der Kö- 
nigin Mutter. Leider ward der Ruhm, den Calderon durch seine 
Werke sich erwarb, diesen Werken selbst verhängnisvoll ; denn 
nicht selten wurden sie zu verschiedenen Anlässen zugerichtet 
und den Launen der Kopisten und unbedeutender Dichter an- 
heim gegeben. So erklären, sich die Verunstaltungen, die uns 
manches seiner Stücke fast unkenntlich machen; vielleicht ist 
auch manches Drama, dem sein Autor Ruhm verschaffen wollte, 
uns unter Calderon's Namen zugekommen, das durchaus seines 
Namens nicht würdig war. Vera Tasis gibt an, er habe mehr 
als 120 Schauspiele (von denen nur 108 uns genau, zugekommen 
sind), und mehr als 100 Autos sacramentales (von denen wir 
nur 73 mit Sicherheit kennen), ausserdem noch mehr als 200 
Loas (Vor- imd Zwischenspiele), 100 verschiedene Sonnette, eine 
Abhandlung in Oktaven über die letzten Dinge, Lieder, Romancen 



*) Siehe das schon oitierte Werk von Ferd. Wolf. 
Ortiz, Die W«ltansohauuDg Calderons. 



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— 34 — 

etc. verfasst. Diese Angabe macht Calderon selbst in einera 
Briefe vom 24. Juli 1680 an den Herzog von Veragna^ der im 
„Theatro espannol de D. Vicente Garcia de la Huerta*', IL Teil, 
in. Band wiedergegeben ist^). Die vollendetste Sammlung von 
Calderon's We^:ken findet sich in der Bibliothek des Colejio Mayor 
de Oviedo zu Salamanca. Die AtUos, religiös-moralische Stücke, 
wurden dem deutschen Kaiser und dem französischen Könige 
übersandt; ob im Original, wissen wir nicht. 

Calderon muss eine idyllische, ungemein empfindliche und 
zarte Seele besessen haben; schon bei den ersten Worten, die 
er niederschreibt, ist er feierlich und sein Geist erfasst sofort 
die Lyrik. Wie ein majestätischer Adler erhebt er sich mit aus- 
gespannten Flügeln und dreht seinen Flug in der Richtung der 
Sonne. Ohne den religiösen Gefühlen untreu zu werden, welche 
eine mystische Stimmung seiner Seele und die Erziehung seiner 
ersten Jugend ihm beigebracht und ohne sich gegen sie zu em- 
pören, erkennt man leicht an ihm eine unbezwingbare Tendenz, 
zur Lösung der verschiedenartigen und tiefen Probleme des 
Menschenlebens vorzudringen. Anstatt aber in jenem zweifel- 
vollen Schmerze, der sich der Denker bei ihren ersten Schritten 
auf dem Pfade der Erkenntnis bemächtigt, alle jenen Dogmen 
des Gedankens, welche die gewöhnliche Erfahrung lehrt, von 
sich wegzuwerfen, um sich allein' den ganzen Plan der Welt 
nach den Schlüssen seiner Vernunft zu konstruieren, behielt 
Calderon auf seiner einsamen Wanderung durch die Gefilde 
des Ungewissen eine Fackel in der Hand, die ihn vor den Trug- 
erscheinungen seines eigenen Schattens warnte. Er sagt sich 
beständig : Willst Du das Absolute finden, so bilde es nicht aus 
Dir heraus; er ahnt überall die Nähe der Wahrheit, ohne sie 
von seiner Auffassung oder von der Form seines Denkens ab- 
hängig zu machen. Das ist schon eine überaus vorsichtige Hand- 
lungsweise ; denn, wenn man bei der philosophischen Forschung 
von dem ausgeht, das in dem Denkenden selbst gegeben ist, 
ist es nicht möglich, dass andere Schlüsse gezogen werden, als 
solche, die einer besonderen AuflFassung entsprechen und die 



^) Angegeben *in der von uns benutzten Ausgabe der Schauspiele. 
Nach diesem Datum hat Calderon nooh andere Schauspiele verfasst, so 
zum Beispiel „Hado y divisa", das er im 81. Jahre schrieb. 



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— 35 — 

daher nur persönlich sein können. Calderon macht sich nicht 
an das Problem heran mit »der Pordenmg, es müsse sich an die 
Lösung halten, die er aufstelle; sondern er räumt zum Voraus 
ein, dass diese Lösung bereits existiere, und dass es nun an 
ihm stehe, sich so dem Problem gegenüber zu stellen, dass er 
dieselbe erfasse. Er nimmt von Vorneherein an, es könne wahr 
sein, was er nicht begreift, und es sei sicher und wahr, dass er 
nicht Alles begreife. Diese Selbstlosigkeit und ausserordentliche 
Klugheit, die ihm von der Religion angeraten wurde, erweitert 
seinen Blick ins UnermessUche und erfüllt ihn mit Kraft. So 
rüstete sich Calderon zu seinen Forschungen; denn schon als 
Jüngling fühlte er eine tiefe, beinahe drückende Einsamkeit, 
die Einsamkeit des Genies, die ihn leicht in das Labyrinth seines 
eigenen Ich getrieben hätte. Das Panorama, welches die Natur 
vor seinen Augen entfaltete, fesselte ihn lange Stunden, den 
jungen Busen mit geheimer Bangigkeit erfüllend, auf einer Wiese 
oder am Fenster seines Zimmers; die Somie ging unter am 
Horizont, die Hügel prangten in blühendem Grün, die Land- 
schaft duftete beim leisen Wehen des Windes, die Wellen des 
Manzanares flössen scherzend dahin; oder es war eine stembe- 
säete Nacht, der Mond lind durch den Rauni wandelnd, eine 
kärglich beleuchtete, schweigsame Ebene, ein Haufen Häuser, 
in Dunkelheit gehüllt, menschliche Wesen verbergend, und in 

der Ferne Berge, Schweigen, Geheimnis Alles dies spiegelte 

sich in seinem Innern mit einer fast beklemmenden Rührung 
ab. Alles fühlte er, aber er verstand es nicht, die Kette der 
Vorgänge, die er betrachtete, hatte sich von ihm losgelöst, er 
war ein armes Waisenkind inmitten einer fröhlichen Familie. 
„Ach, was geht mich an, wenn der Frühling so lieblich die 
rosigen Teppiche ausstreut ; wenn die lispelnden Winde duftende 
Klänge hervorzaubern, wenn die Quellen, wie schmelzende Perlen, 
anmutig der Vögel Gesänge begleiten ; was . geht mich das an, 
wenn Blumen, wenn Liebe, wenn der Wind, das Wasser das 
All mich traurig machen?" i) Ein melancholischer Zug legte 
sich über sein Antlitz nieder, ein sonderbarer Ernst, der seine 
Lehrer in Salamanca, wohin er mit 13 Jahren an die Universität 
kam und bis 1619 Theologie und Mathematik studierte (vom 



^ La Griada j la SeQora, Jörn I. 



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— 36 — 

9. Jahre an war er an einem JesuitenkoUegiura gewesen), nicht 
begreifen konnten. Er versuchte in seinem 14. Jahre seinen 
Gefühlen in einem Schauspiele Luft zu machen, das er „Der 
Himmelswagen" nannte. Mit 19 Jahren hatte er die Studien an 
der Universität absolviert. 

Die Sehnsucht, zu wissen, aufzuklären, was ihn umgab, 
trieb ihn, nach Ruhm dürstend, im Jahre 1625 nach Mailand 
und Flandern im Heere des Königs, und er blieb bis 1635 von 
seinem Vaterlande abwesend. Aber auch dann hatte sein Blick 
immer noch den Ausdruck einer quälenden Sehnsucht und sein 
Gesicht zeigte die tiefe Melancholie einer unermesslichen, un- 
erwiderten Liebe. Beim abgemessenen Schritt der Soldaten^ 
welche in einer grossen Heersäule die Ebenen Flanderns durch- 
zogen, entfernte sich seine Aufmerksamkeit von jenen glän- 
zenden Waffen, von dem Staub der Pferde, von den Ge- 
sängen, welche die Glut der Sonne seinen braunen Geföhrten 
entpresste, und versenkte sich in tiefes Forschen. Merkwürdige 
Schule und doch nicht die Bücher verstaubter Phantasien, nicht 
die Grübeleien praetentiöser Gehirne, noch die herausgeschwitzten 
Visionen verknöcherter Philosophen konnten die unbändige Kraft 
seines Geistes zur Lösung seiner wichtigen Aufgabe führen. Das 
Schlachtfeld, das Ringen und Verschwinden, eine feierliche Ruhe 
nach verzweifeltem Geheul, das waren die Augenblicke, in denen 
sein Geist die Lösungspunkte des Problems aufzeichnete. Starr 
den Ansturm einer Festung beobachtend, die Wogen der Soldaten 
hin und her geschleudert anblickend,- oder hingestreckt auf den 
Feldern Kataloniens, wo er sich (1657) Heldenruhm erwarb, er- 
griff er den Sieg seines Gedankens. Da erblickte er das Uner- 
messliche, in welches alles Geschehene sich senkt, da fühlte er 
die Nähe jener Ruhe, welche den Zuckungen aller Phänomene 
folgte, und, schwebend über dem Abgrund, erfuhr er, dass die 
Kraft aller Erscheinungen die war, ein Verhältnis, irgend welches, 
zwischen den Gedanken, dem Geist, und jenem ewigen Schweigen 
herzustellen. Jene mächtige, unbekannte Unendlichkeit hielt 
ihm auf einmal den grossen Wert des Lebens vor, und er fragte 
sich, welches seine Stellung darin sein würde. 

So ward Calderon ein Philosoph, so hatte er einen festen 
Punkt gewonnen, von welchem aus er das Universum beobachten 
konnte. Von nun an wurde er ruhiger, seine Melancholie ver- 



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— 37 — 

lor ihre quälende Gewalt und schlug in einen sanften Ernst, in 
eine mystische Selbstlosigkeit um. Er schrieb fortan mit Vor- 
liebe Stücke von rehgiös- philosophischem Inhalte. 

Im Jahre 1637 erhielt er die Auszeichnung des Santiago- 
Ordens, nachdemf er seit 1636 am Hofe die Leitung des Theaters 
geführt hatte. Im Jahre 1651 wurde er Priester und 1663 Hof- 
kaplan. Er starb am 2^. Mai 1681, am Pfingsttage. 

Sehen wir jetzt uns die philosophische Aufgabe unseres 
Dichters näher an. 

Von dem gewonnenen Ufer der etoigen Bvhe, d, h. von 
der Ueberzeugung eines beharrenden Princips aus, wagt sich 
Calderon weiter zur Erforschung der Welt. Vor ihm avan- 
cieren, von der beweglichen Unendlichkeit her, die Wellen des 
Lebens, die Erscheinungen, mit sonderbarer Klage seine Püsse 
labend; weiter hin eine endlose Unruhe, darüber ein schauer- 
liches Röcheln, düstere Einsamkeit, hie und da der liebliche An- 
blick eines Sternes oder das kalte Leichengesicht des Trabanten 
einer unbekannten Sonne. Es war furchtbar und grossartig 
zugleich; aber Alles rang. Alles wand sich in quälender Sehn- 
sucht, Alles sprach von Ruhe, Alles verlangte nach Ruhe, 
strebte nach Glück, Glück und Ruhe schienen das Gleiche zu 
sein. Hier war somit Alles einig; auch er hatte in seinem Innern 
eine solche Welt getragen und hatte sich gleichfalls nach jener 
Ruhe gesehnt; noch einmal, wimmernd wie ein Kind, blickte 
er in das Universum hinaus. 

Und das Universum wirbelte imi ihn herum; die Materie 
gestaltete sich in unendliche Formen, die eine mit den andern 
durch gegenseitige Wechselwirkung verbunden; ein unaufhör- 
liches Fluktuieren, ein Sichbilden und Verschwinden, das war 
alles, was ihm gelang, wahrzunehmen^). Aber mitten im ewigen 
Verändern bUeb doch unverändert das Ewige > auch das iort- 
während Sichbewegende war ruhig in dem Fortwährenden. Noch 
einmal trat ihm diese mysteriöse Ruhe entgegen, noch ein- 
mal führte sie ihm die ganze Natur vor die Augen, und zum 
ersten Male fühlte er bei diesem Gedanken einen Schauder von 
Furcht. 



*) Um den Satz : Alles in der Welt ist Ersoheinumg, dreht sich der 
Auto: La vida es sue&o. 



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— 38 — 

Aber was war jene Ruhe? War sie jenes eisige Pluidum 
Spinoza's, oder die Weltidee Plato's oder die formlose Substanz 
des Aristoteles? Nein; eine Gott- Welt war ihm ein Widerspruch 
und Giordano Bruno war Calderon gänzlich unbekannt (Spinoza 
war damals noch Kind); auch Descartes, der damals mehr in Hol- 
land als in Prankreich, geschweige denn in Spanien, bekannt 
wiu*, war ihm sehr wahrscheinlich fremd i), und die Gedanken 
Plato's und Aristoteles, deckten sich ebensowenig mit dem seinigen. 
Er dachte anders: Dieser Gott, den ich fühle, lagert nicht ausser« 
halb der belebten Welt, die ich sehe, denn überall sehe ich ihn 
durchscheinen: ein Gott, der ausserhalb *seiner bildet und er- 
schafft, ist kein Gott, ist ein Künstler. Was da ist, sind Er- 
scheinungen; was da erscheint, ist der Ewige; aber was sind 
die Erscheinungen? die endlosen Offenbarungen jenes ewigen 
Wesens, das sie immerwährend anzudeuten versuchen : der Ewige 
erscheint ewig sich selber! 2) 

Die Erscheinungen zeigen nur in der That, welche Macht 
der Unendliche hat, sich selber zu oflFenbaren, das heisst, sie 
zeigen mir das Bewusstsein seiner, eine Thätigkeit in sich selbst^ 
die Selbsterkenntnis jenes Unendlichen in sich, xmd die Kraft 
dieser Erkenntnis ist die Lebenskraft des AUsI 

Diese Kraft ist nicht die Erzeugung selbst, noch die leitende 
Idee der Ordnung und Klassifizierung oder absolute Erkenntnis, 
sondern sie ist das Leben des Erzeugten in der Erkenntnis; 
und ist doch mit der Erzeugung und der Erkenntnis nur Eirui^ 
weil die Schöpfung nur durch die Erhaltung besteht, und die 
Erhaltung eine ewig erneuerte Schöpfung ist. 

So stellt sich dem Dichter die Idee der Gottheit dar, ein Gott- 
Erzeugung (Poder), ein Gott-Erkenntnis (Sabiduria) und ein Gott- 
Kraft (Espiritu), der in drei Offenbarungen nur eine Wesenheit 
bildet in der fernen Zurückgezogenheit des Absoluten. Die 
Materie ist nur die Beziehung innerhalb dieses Dreieinigen Gottes.^) 



*) Wir werden diese Frage später noch ausführlicher auseinander- 
setzen. 

•) Diese Idee ist die Grundidee verschiedener Autos, u. A. des Auto : 
A Dios por razon de Estado, und Loa z. A. s. El Valle de la Zarzuela. 

•) Die Auflfassung der Materie unter diesem geometrischen Gesichts- 
punkt ist vom hl. Augustin, der sie ca pacUaa formarum nennt : Muta- 
bilitas rerum mutabilium ipsa ea pax est formarum omnium in quas mu- 



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— 39 - 

Im Mittelalter findet sich ein Philosoph; der in ganz ähn- 
licher Weise diese Idee des Höchsten und Ersten auffasst; wir 
wissen wohl, dass sie die Feststellung des christlichen Dogmas 
ist und als solche bei allen Denkern der christlichen Richtung 
sich findet. Bei diesen jedoch nimmt sie einen ausgeprägten 
theologischen Charakter an, während wir nur auf philosophischem 
Boden verweilen wollen. Daher übersehen wir alle andern imd 
erwähnen nur denjenigen, dessen Ausführungen mit den obigen 
uns übereinzustimmen scheinen. Es ist dies Nikolaus Cusanus 
(1401 — 1464), der Vorläufer des Copernicus, berühmt nicht nur 
als Philosoph, sondern auch als Astronom und Naturwissen- 
schaftler. Er fasst Gott als das Grösste, das Unendliche, das 
absolute Maximum auf, der Alles umfasst und durch nichts be- 
begrenzt wird; Zeit, Raum, Bewegimg sind nichts an ihm. Er 
ist aber gleichzeitig das Minimum, denn seine Gegenwart ist in 
Allem. Er bildet das »an den Dingen, was wirklich an ihnen 
ist; Alles hängt von ihm ab, denn er ist absolute Notwendigkeit. 
Er ist für Alles, was existiert, dreifache Ursache, denn er ist 
causa efficiens, causa formalis, causa finalis : Deus est tricausalis, 
er ist die reine Wirklichkeit, purissimus actus, infinita actualitas, 
er ist die Einheit, das gewaltige Leben des Alls, er ist das Sv, 
das ravrovf aber ohne das heQov, Er ist aber dreieinig, da er 
zugleich denkendes Subjekt, Denkobjekt und Denken ist: intelli- 
gens, intelligibile, intelligere. Er ist unitas, aequalitas et con- 
nexio. — Ab unitate gignitur unitatis aequalitas ; connexio vero 
ab unitate procedit et ab aequalitate. — Gott ist Können, 
Wissen, Wollen. 

Aber auch die Naturwelt zeigt diese Trinität, wie es nicht 
anders sein kann wegen der Beziehung, die zwischen dem Machen- 
den und dem Gemachten existiert: mundus quoque trinus. In 
der Natur finden wir eine Gewalt zu schafiFen; davon scheidet 
sich sofort das Produkt als zweite Phase, während eine gewisse 
innere Beziehung zwischen beiden das Ganze erhält. Diese drei 
Momente charakterisieren sich als fecunditas, proles, amor. Die 



tantur res mutabiles (Conf. 12, 6, 6). — Et intendi in ipsa oorpora, eo- 
ruraque mutabilitatem altius inspexi, qui desinuat esse quod fuerant et 
inoipiunt esse quod non erant, foedas et horribiles formas perturbatis 
ordinibiis volverat animus, sed formas tarnen (De Gen. c. M. I). 



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— 40 — 

Geisteswelt entzieht sich auch nicht dieser Regel, denn auch 
da waltet eine trinitas intellectualis : fecunditas, notitia seu con- 
ceptus, amplexus seu voluntas^). 

Sehr interessant ist die Uebereinstimmung in den Resultaten, 
welche die beiden Denker aus ihren Spekulationen ziehen, obwohl 
der Weg der Argumentation ein so verschiedener ist. Wir müssen 
jedoch bemerken, dass Calderon keine eigentlichen Erörtenmgen 
macht, sondern nur durch mannigfaltige Wendungen dem Ge- 
danken jene Form beibringt, die wir oben darzustellen versucht. 

Calderon scheint sofort begriffen zu haben, dass die Materie, 
als capacitas formarum, als Formenfähigkeit aufgefasst, an 
sich nichts Reelles sei und lediglich einen gewissen logischen 
Bestand habe; sie erschien ihm sogleich als die Wirkung der 
Veränderlichkeit. Es schien ihm nun, dass eine Erscheinung 
in ihm sich nicht abspiegeln könne, wenn in ihm nicht etwas 
Analoges sei, dem sie gewissermassen entspreche, wo sie sich 
gleichsam anklebe^), und dass er sie nicht aufnehmen xmd ana- 
lysieren könne, wenn sie sich in ihm nicht auflöse. Er kam so- 
mit zum Schlüsse, dass der Mensch das hergestellte Gleichge- 
wicht aller möglichen Erscheinungen sei^). Im Auto sacramental 
La nave del Mercader nennt er desshalb den Leib ein Instrument, 
dessen inneres Gesetz die Seele ist *•). Da eben, in diesem Gleich- 
gewicht, ruht die Kontrolle der Erscheinungen und hebt sich 
jede Regung der umliegenden Welt auf. Es ist nicht zu miss- 
kennen, mit welcher unendlichen Würde dieses Resultat die 
Menschheit umgab und wie eng wurde ihr Weg durch die Ge- 
schichte mit den glühenden Schranken der feierüchsten Verant- 
wortung gemacht 5)! 



*) Cueanus fasßt, wie CalderoD, den Menschen unter dem Geslohts- 
p unkte des Mikrokosmns, als parvus mundus auf. 

'') Schon Plato sagte ähnhch, das Erkennen sei ein halbes Sioh- 
erinnern. 

') Vergi. besonders Ende des A. s. La Inmunidad del Sagrario: 
Feliz. mundo, que se ve — en el hombre restaurado. — R6nan sagtauch 
ähnlich: Chaque t^te pensante a ^t^, ä sa guise, le miroir de Tunivers 
(Fragm. philosoph. pag. 287). — „Connaltre c'est oomparer un Souvenir 
ä ime Sensation*^. Guyaux, Genäse de Tid^e de temps, pag. 21. 

*) Es el euerpo — templado instrumento vivo, que interiormente 
va haoiendo — al alma harmonia sin ruido. 

') A. 8. El Gran Teatro del mundo. 



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— 41 — 

An diesem Punkt angelangt, finden wir für angemessen, 
diese antropocentrische AuflFassung Calderon's mit derjenigen 
anderer Philosophen zu vergleichen, um dadurch die originelle 
Stellung unseres Dichters besser hervorzuheben. Die mensch- 
liche Persönlichkeit hat auch für ihn einen Centralwert in der 
Schöpfung, ähnlich wie das „Ich*' bei Pichte und Schopenhauer; 
anstatt aber für ihn den Ursprung des Universums zu repräsen- 
tieren, wie bei diesen beiden Philosophen, ist sie das Resultat, 
wenigstens was ihre organische Verfassung anbelangt, von 
dessen Gesamtwirkung. Calderon rettet dadurch die unabhängige 
Existenz der Aussenwelt, ohne sie dem Subjekt einimpfen 
zu müssen, wie jene und auch Hegel gethan. Calderon's Auf- 
fassung gewinnt über die andere den Vorteil, dass sie leicht 
das selbständige Walten der Natur und ihren unabwendbaren 
Einfluss auf den Menschen erklärt, ohne dessen ausserordent- 
liche Stellung und Gewalt innerhalb derselben einzuschränken. 
Im Auto s. La cura y la enfermedad wird die Menschheit eine 
Tochter des Universums genannt; bei dieser Annahme würde 
auch die Apriorität der BegrifiFe, die Kant als unbeweisbar an- 
nimmt, nicht mehr schwer zu erklären sein. 

Die Entwicklung bis zur Bildung des Menschen ist ein 
stufenweises Fortschreiten der Formen oder der Gebilde, die 
von der einfachsten Gestalt durch Veränderung zur höchsten 
Ausbildung gelangen. Diese Veränderung geht jedoch nicht, 
wie die Evolution Darwin's, auf dem biologischen Wege der 
natürlichen Fortpflanzung vor sich, welche ja für jeden Typus 
mehr den Charakter des Beharrens als den des Veränderns trägt, 
sondern sie vollzieht sich im Gleichgewicht der Einflüsse im 
Universum, etwa durch die kosmische Kraft, die er, nach der 
damaligen astrologischen Auffassung, in den Einflüssen und Ein- 
wirkungen der Gestirne ausgedrückt findet. Er beschreibt an 
mehreren Stellen, die wir im IL Kapitel angegeben haben, den 
Uebergang z. B. einer Blume in einen Vogel, die Combination 
der vereinigten Wirkung des Wassers, des Windes, der Erde, 
der Materie in ein Pferd u. s. w. Das Sinnbild dieser Ent- 
wicklung ist der Vogel Penix, der aus der eigenen Asche weit 
schöner und verjüngt wieder ersteht i). 



S. II. Kapitel. 



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— 42 — 

Diese Entwicklung ist eine Wechselwirkung durch die 
Form der Körper bis zur Erlangung des Gleichgewichts. Die 
Form übermittelt in entsprechender Weise die Kraft der inneren 
Bestimmung des Körpers : dies lässt erkennen, dass im Universum 
die Tendenz nach der Verwirklichung eines Planes besteht, ob- 
wohl dieser nicht immer offenkundig, sondern oft durch Widerstände 
vorschreitet. Im Auto s. Los alimentos del hombre wird die Ab- 
stammung des Menschen aus dieser mannigfachen Wechselwirkung 
erörtert imd als die Synthese aller möglichen Wesen charakteri- 
siert i). Der Engländer Baco hebt auch, wo er von der Schöpfung 
spricht, die Entstehung der Formen aus der Urmaterie als die ei- 
gentliche Charakteristik der Entwicklung hervor: „In den Werken 
der Schöpfung sehen wir einen zweifachen Ausfluss der Kraft 
und Gewalt des Schöpfers : der eine bezieht sich auf seine Macht, 
der andere auf seine Weisheit. Der eine gibt sich besonders in 
der Schöpfung der Materie kund, der andere dagegen in der 
Schönheit der Form, womit die Materie nunmehr bekleidet wird. 
Während nun die Schöpfung der Materie sich als das blosse 
Werk seiner Hände hinstellt, trägt die Einführung der Gestalt 
in die Materie den Charakter eines Gesetzes oder eines Be- 
fehles«).' 

Wir entnehmen einem vor zwei Jahren in Madrid er- 
schienenen Werke von Arturo Soria, eine Illustration, welche 
diese Entfaltung und den Zusammenhang zwischen der ersten 
imd der letzten Form der Naturgebilde sehr getreu darstellt. 
Der Mensch erscheint in einem Krystall eingeschlossen, dessen 
verschiedene Flächen den verschiedenen Flächen des mensch- 
lichen Körpers und den Ausbildungen der Finger und Zehen 
entsprechen. Die Uebereinstimmung ist in der That wunderbar. ^) 



S. II. Kapitel. 

9) Das Christentum, I., S. 126—127. 

') Origen poliedrioo de las especies. 



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— 43 — 




Uebrigens ist diese Idee der geordneten Entwicklung durch 
die Wechselwirkung der Körper als solche aufeinander — eine 
Wechselwirkung, auf welcher der Satz der Erhaltimg der Energie 
beruht — gar nicht neu. Der heilige Vincentius von Lerins, 
angeführt von Brunetifere, hatte sie in folgenden Worten aus- 
gedrückt: Quod volvitur non ideo proprietate muntatur: die 
Evolution — das ist der richtige Ausdruck — hebt die Wende- 
punkte nicht auf, die ihr Fortschreiten andeuten. Dies drückt 
genau, wenn wir richtig interpretieren, Calderon's Gedanken aus. 
Aber schon im XUI. Jahrhundert hat unser Dichter bezüglich 
dieser Idee in seinem Vaterlande einen Vorgänger gehabt. Joan 



') Bruneti^re, de rAoademie frangalse : Soienoe et Religion, Paris 1895. 



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— 44 — 

Lorenzo Seguro de Astorga beschreibt in seinem Poemai de 
Alejandro verschiedene Naturgebilde, deren Entstehen in der 
gleichen Weise unter dem Einflüsse der kosmischen Kraft vor 
sich geht, wie die Thränen durch das Einwirken äusserer und 
innerer Ursachen auf den Menschen entstehen. Es handelt sich 
dabei mehr um ein Bestimmen der bestehenden Gesetze, als um 
einen Druck auf den Organismus^). 

Trotz der Verkettung der Vorgänge in der Entwicklung 
werden die Unterschiede zwischen den Genera nicht aufge- 
hoben, sondern jedes Genus gewinnt dadurch gerade eine be- 
sondere Geltung und übernimmt eine Rolle. Wir erwähnen hier 
einen sehr bekannten Gelehrten unserer Tage, der ebenfalls 
diese Ansi<jht hegt. Er sagt wörtlich in seinem Buche Die 
Philosophie im Lichte der Sprache: „Die Natur ohne Genera- 
unterschiede wäre wieder das Chaos. Es kann zwar gesagt 
werden, dass nicht die Natur, sondern wir gelb von grün, dass 
nicht die Natur, sondern wir hohe von tiefen Noten unter- 
scheiden. Dies ist in gewissem Sinne wahr, nämlich insofern 
als die Natur nur in so weit für uns existiert, als sie von uns 
begriffen wird. Aber auf der andern Seite können wir nur be- 
greifen, was begreifbar, und nur unterscheiden, was unterscheid- 
bar ist; und wenn wir auf unseren BegrifiF von den Genera die 
alte Probe von der Abstammung von gemeinsamen Eltern an- 
wenden, so muss klar werden, dass dieser generische Begriff 
der Dinge nicht vollständig subjektiv ist, obgleich er, wie unsere 
ganze Erkenntnis, auf subjektiver Wahrnehmung beruht. — 
Wenn einmal ein Genus richtig als solches anerkennt ist, scheint 
mir die Annahme, es könne je ein Genus zu einem andern 
Genus aufsteigen, ein Widerspruch in sich selbst. Man kann 
sich vorstellen, dass aus einer Urform, die weder Pflanze, noch 
Tier ist, sich möglicherweise eine Pflanze oder ein Tier ent- 
wickeln kann; aber einmal Pflanze und es werden immer nur 
Pflanzen, einmal Tier und es werden immer nur Tiere daraus 
hervorgehen. Ja, ich gehe einen Schritt weiter und sage, ein- 

') Trostbrief Alexanders an seine Mutter Olympia : Madre se alguno 
por dereoho oviesse de llorar, puese llorase el oielo por sus estrellas, 4 
loa mares por sus pescados 6 el aer por sus aves, 6 las tierras por sus 
yerbas 6 por ouanto en ello a. — S. o. Werk Ferd. Wolf: Studien zur* 
Gesohichte der spanischen und portugiesischen Nationallitteratur, Berlin 1859. 



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— 46 — 

mal Schaf immer Schaf, einmal Affe immer Affe, einmal Mensch 
immer Mensch. Ich kann mir denken, dass es vor dem Anbe- 
ginn aller Dinge ein Wesen gab, welches noch weder AflFe noch 
Mensch war und von einem derartigen Wesen kann man ver- 
muten, dass es sich zu einem AflFen oder einem Menschen ent- 
wickelt habe. Aber es scheint mir einfach vemunftswidrig nach 
einem fossilen Affen als dem Stammvater eines fossilen Menschen 
sich umzusehen.*' 

Soviel Max Müller. 

Wie lässt sich nun bei dieser Auffassung der Dinge die 
menschliche Seele definieren? Wie nimmt sie sich dabei aus? 
Das bereits Gesagte könnte uns schon auf diese Frage Antwort 
geben ; wir ziehen jedoch die Worte unseres Dichters vor. Nach 
einer Stelle vom Auto El diablo mudo erscheint der mensch- 
liche Geist als die abstrakte Conception der gesamten harmo- 
nischen Natur ^). Ebenso kann man aus den Darstellungen in 
den Autos entnehmen, dass der Gedanke der Akt des Sichbe- 
wegens unter den Erscheinungen ist, um zu urteilen 2), während 
in einem Drama die Vernunft als die Fähigkeit erscheint, die 
Erscheinungen zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen^). 
Der Geist in seiner Thätigkeit gegenüber ihrer Endbestimmung 
aufgefasst, heisst Seele ^). 

Man sieht, mit welcher Konsequenz die Schlüsse und Fol- 
genmgen gezogen werden ; es wird scharf unterschieden zwischen 
Materie und Geist, aber die zwei Substanzen bedingen einander 
dermassen, dass die eine für die andere notwendig ist. Auch im 
Falle, dass zum Beispiel die Materie einmal aufhören würde, 
würde sie doch im Geiste gewissermassen immer noch fort- 
bestehen. 

Allein auch diese Auffassung, diese scharfe und sichere 
Definition der Seele gehört Calderon nicht ausschliesslich an; 
sie findet sich beim heihgen Thomas von Aquin. Nachdem 
dieser in scholastischer Art auseinander gesetzt hat, dass ts 



'*) Naturaleza — y oonsoimiento 

son una oosa mesura, 

pero la una en oomun — el otro en partioular. 
') U. a. Auto El pleite matrimonial. 
•) Con quien vengo, vengo, II. Jörn. u. a. 
*) AutOB saoramentales. 



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TT^ 



— 46 — 

eine Unvollkommenheit sei, dass ein jedes Ding nur seine eigenen 
und nicht auch die Vollkommenheiten der andern Dinge besitze, 
führt er weiter aus: „Ut huic imperfectioni aliquod remedium 
esset, invenitur alius modus perfectionis in rebus creatis, secun- 
dum quod perfectio, quae est propria unius rei, in altera re in- 
venitur; et haec est perfectio cognoscentis in quantum est cog- 
noscens, quia secundum hoc a cognoscente aliquid cognoscitur, 
quod ipsum cognitum aliquo modo est apud cognoscentem ; et 
ideo dicitur, animara esse quodadmodo omnia, quia nata est om- 
nia cognöscere; et secundum hunc modum possibile est, ut in 
una re totius universi perfectio existat^)." 

Nun blieb noch Eines zu entscheiden. Wenn der Mensch 
das Aequilibriura der Erscheinungen war, warum war er ausser- 
halb des Laufes der Vorgänge geworfen, warum ergrifif er nicht 
die Kette der. Begebenheiten? War die ursprüngliche Stellung 
des Menschen die, welche er jetzt einnahm? Es war so' vieles, 
man musste es bekennen, in und ausser ihm, so düster, so qual- 
voll, so sinnlos 1 Und vor Allem, woher stammte diese Tendenz 
im Menschen, seine AufiFassung, seine Gesinnung, sein Ich an 
den Grund von Allem zu setzen. Alles nach sich selbst zu be- 
urteilen, Allem das beizulegen, was er selbst in sich hatte ?^) 
Dieses Anblicken der Dinge von sich selber aus, als von ihrer 
Quelle, anstatt sie in der Richtung zu betrachten, in welcher 
Alles notwendigerweise floss, das heisst in Gott; diese indivi- 
duelle Beurteilung, die der Mensch, als er aus dem Schosse der 
Natur hervorspross, unmögUch haben konnte^), da er nach den 
Gesetzen derselben gemacht war, schien ihm ein Verbrechen. Er 
sah darin in der Menschheit die Erkenntnis verdunkelt^). Die 
Erkenntnis, deren Aeusserung in der innigen Tendenz, Alles zu 



• *) Quaest. disp. q. 2. 
*) en efecto es preoiso 

Que todo estilo se extrafle 
Guando es extrafio ei estilo. 
Eoo j Naroiso. 
') Diese ist eine der Hauptideen der Autos (S. El Gran Teatro del 
mundo, La nave del meroader, Los alimentos del hombre, El Pintor de 
SU deshoura, La vida es suefio etc.). 

^) Die meisten Autos; z. B. La nave del meroader, Los alimentos 
del hombre eto. 



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- 47 — 

vereinigen und zu verschmeken^ Liebe ist, eine Liebe, die Alles 
durchdringt und durchwärmt, Alles beleuchtet und beglückt.^) 
Aus dieser Liebe leitet Calderon mit unglaublichem Scharfsinn 
alles Wissen und das Endziel von Allem in seinem Schauspiele 
De una causa dos efectos ab.*) 

Öiese Liebe, die Triebfeder unseres Erdenlebens, in ihrem 
weitesten Sinne, ist, da der Mensch dieses heiUge Gesetz auf 
sich selber, als auf seinen Erlasser bezieht, der Ursprung all 
unseres Uebels, all unseres Unglücks. In -der wahren Liebe ist 
das All ein ewiger Gesang, in der Liebe, die wir auf uns mit 
einer Art Selbstvergötterung') beziehen, liegt eine Trübung der 
ewigen Erkenntnis in uns; wir rollen um unser armseliges Ich 



*) A. s. Psiquis y Cupido etc. 
') Fed. — Pues es oienoia el aer amante? 
Fad. — De harto desvelo y ouidado; 

Porque, aunque para saberla 

No es menester estudiarla, 

Pues el mas neoio se halla 

Sin pensarlo dentro della, 

Para aproveoharla sf; 

I no solo es oienoia amor, 

Pero no hay oienoia, seflor, 

Que amor no oontenga en sf. 

La de artes, pues oada dia 

Todo silogismo es; 

De fllosofia, pues 

Natural filosofia 

Es; la de leyes tambien 

Pues para que bien se aveoga 

No hay republioa que tenga 

Mas leyes que el querer bien; 

Tambien es de astrologia 

Que es oienoia de las estrellas 

I el amor oonsiste en ellas ; 

Hasta la de Teologia 

Es pues si tiene, sefior, 

De la teologia el efeoto 

A Dios mismo por objecto, 

Tambien es Dios el amor. 

Jörn. n. 

') In Auto La cura y la enfermedad wird zur Gottheit gesprochen : 
Vete que yo aspiro — (ser) duefio de mi mismo. 



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— 48 — 

unbestimmbar dahin, es paralysieren sich an uns die Regungen 
des ewigen Lebens, es trocknen aus die wonnigen Fluten der 
Wahrheit. ^) Wir haben keine Erkenntnis mehr, sondern wir 
behaupten nur noch; wir müssen uns um unser Centrum drehen, 
wie in einem entsetzlichen Wahn; wir stürzen quer durch die Ord- 
nung der ewigen Harmonie. Wir sind als wären wir nicht. 
Unsere Sinne, krankhaft erregt, empfinden mit einer Art Phre- 
nesie, mit einer Art schmerzhafter Wollust, nicht nur mit Ge- 
fahr, sondern mit der Sicherheit, sich zu täuschen ; und mehr und 
mehr entfernt sich, wie ein Paradies, das einst war, die rosige, 
geliebte Vision des Absoluten, bis sie gänzlich verschwindet. 

Das ist der ewige Tod. 

In diesem unnatürlichen Verhältnis zwischen der schöpfe- 
rischen Gottheit und dem Menschen erblickt Calderon den Ur- 
sprung der Religion^ welche eben diesen Bruch, der zu Ungunsten 
des Menschen ausfallen muss, aufzuheben sucht. Und diese 
Erkenntnis, die im Menschen gleichsam verdunkelt erschien, die 
unmer dem Menschen gegenüber eine hoffnungsvolle, coärcitive 
Stellung eingenommen hat; diese Erkenntnis Gottes in seiner 
Schöpfung 2), aus der Alles entsprang, nach welcher die Mensch- 
heit ruhelos geblickt, gewahrte nun endlich der Mensch, be- 
kleidet mit seinem eigenen Ich und all dem beladen, was er in 
sich fühlte und dem ausser ihm Stehenden zuschreiben konnte. 
Diese Erkenntnis, die unwiderstehlich darnach strebt, das richtige 
Verhältnis zwischen Gott, und seinen Geschöpfen wieder herzu- 
stellen: diese Erkenntnis ist Christus! 3) 

So erblickte Calderon, auf dem Hügel Palästinas (welches 
eine Centralstelle für die Erdoberfläche ist) diese bebende Schnee- 
gestalt durch die Jahrhunderte hindurch; er hört mit überwäl- 
tigender Rührung das Stöhnen eines Sterbenden und sieht an- 
dächtig das wallende Banner der Weltgeschichte in der Hand 
dieses Märtyrers in Ewigkeit.^) 



*) „Die Liebe ist Wahrheit*, La dama duende, Jörn. IIL — Der Ge- 
gensatz zwisohen der wahren und der sündigen Liebe ist sehr schön im 
Sohauspiel De una oaiisa dos efeotos dargestellt. 

*) En mi vive el Alma de la Naturaleza — A. s. El diablo mudo. 

•) Vergl. A. s. t La Inmunitad del Sagrario — La oura la enfermedad 
— Psiquis y Gupido (p. Madrid); Loa z. A. El Vall© de la Zarzuela etc. 

*) Loa z. A. El Gran Teatro del mundo; A. s. La vida es suefio etc. 



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— 49 — 

Aber diese Auffassung gewinnt noch mehr Gewicht, wenn 
man ein anderes Ergebnis in's Auge fasst. Die Erklärung der 
Erscheinungen als blosser Veränderlichkeitsmomente befriedigte 
ihn zuerst nicht völlig. Er sah, dass ein Gegenstand doch nicht 
nur ein vorübergehendes Flirren, ein Hauch, eine Exhalation 
war, sondern dass er eine massive Gestaltimg, etwas Hinderndes 
annahm und die Vorstellung von Gewicht und Schwere erweckte^). 
— Wenn ich einen Gegenstand sehe, überlegte er, sehe ich nicht 
den Gegenstand wie er ist, sondern wie er nicht ist *), was setzt 
mich ausserhalb der richtigen Anschauung ? — Eben das Mich- 
setzen an die Urquelle des All; und das ist ein Geschehen, 
etwas an sichj das ich empfinde, das aber ausser mir existiert. Was 
ist dieser Betrug, diese Hemmung, dieser schweigende Wider- 
stand, diese Verneinung? — Es war eben Verneinung, es war 
das Nein gegenüber dem Ja, das rollende Nein im Schosse des 
ewigen Ja, das Seinwollende im Angesichte des Seins. Dieser 
Kontrast in dieser geistigen Gestalt ist die Form unseres Da- 
seins ; unser Denken stützt sich darauf, denn die Logik ist nichts 
anderes, als ein Unterscheiden zwischen Ja und Nein zu Gunsten 
der Affirmation. Auch die Geschichte ist nur der Kontrast zweier 
Ideen. Desshalb behauptet Calderon, dass „Alles mit seinem 



') Wunderschön ist dieser Gedanke im A. s. La Imnimidad del 
Sagrario ausgedrückt. 

') So bekennen die Sinne im A. s. El nuevo Palaoio del Retiro: 
Gusto: Jo no gusto le que gusto. 
Vista: Jo no veo lo que veo. 
Tacto: Jo no tooo lo que toco. 
Alfato: Jo no huelo lo que huelo. 
Ebenfalls wird im A. s. La vida es suefio gesagt: 
Tengo ejos y no ven; 
Tengo oidos y no esouohan; 
Tengo manos y no tocan; 
Tengo pies y no se umeven etc. 
Nur das Gehör, d. h. das Wort in gewissem Sinne, wird immer 
ausgenommen (Psiquis y Cupido, A. s. para Madrid; A. s. El nuevo Pa- 
laoio del Retiro; El Golfo de las sirenas); das Gehör soll „die Vernunft 
leiten' (Todos por el oido nuestra razon cautivemos, A. s. El nuevo Pal. 
del Retiro, durch das Gehör wird eben das Werdende und nicht, wie 
durch die andern Sinne, das Seiende wahrgenommen und dieses konnte 
desswegen durch eine einmalige Trübung nicht beeinträchtigt werden. 

Ortiz, Die Weltanschauung Galderons. 4 

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— 50 — 

Gegensätze entsteht," i) und dass ^ Alles zwöi Ansichten hat, 
wiewohl die positive eigentlich deutlicher ist.*' 2) ^Hast Du nie 
eine Rose gesehen, wie ein Stern eines grünen Himmels, welche, 
sich dem Winde königlich aufthuend, mit anmutiger Nachlässigkeit 
sich darbietend, zulässt, das die arbeitsame Biene und die giftige 
Spinne aus ihrem Schosse, die eine Honig, die andere Gift aus- 
saugt? — aus der Harmonie der Natur ebenfalls schöpft der 
eine Traurigkeit und der andere Glück.** ^) 

Diese Idee des Kontrastes, die so mächtig bei Dante, Shake- 
speare und Goethe auftritt, ist eines der deutlichsten Merkmale 
von allem, was wir erfassen. Durch die Einwilligung in die 
Negation entsteht in uns, nach dem spanischen Dichter, die 
falsche Anschauung der Dinge; die sich aufzwingende Wahr- 
nehmung lässt uns oft darin einen Druck, eine gestörte Strömung, 
einen Bruch der natürlichen Ordnung, kurz den Schmerz em- 
finden, während die successive Auffassung den BegrifiF der Zeit, 
des Vergänglichen, des Vorübergehens, des Verschwindens in's 
Grundlose wachruft. So vernichtet sich der Mensch, durch die 
Vorspiegelung der Selbstvergötterung geblendet, und stellt sich 
hin, phrenetisch verwirrt, unter den Ansturm der endlosen Chöre 
der Wesen imd tiefer unter alle Geschöpfe.*) Wozu nun diese 
Anstrengung imd dieses Streben nach Selbstvergötterung? des 
Menschen Mühe löst sich ja im ewigen Kontraste des über ihm 
Stehenden auf, und ihm bleibt nur „der verzweifelte Zwang 
seiner selbst" übrig. 5) „0 Du (es spricht der Dämon), traurige, 

^) Los dos amantes, Jörn. II. Aeholich hat auoh Sohelling gesagt: 
die Welt ist Kontrast. 

Qu6 bien de todas las cosaa 

Dijo un oelebrado injenio 
Que tenian dos semblantes, 
Uno malo y otro bueno, 
I que d la luz que le miran 
Pareoen bien. 

La se&ora 7 la oriada, Jörn. I. 

•> La seöora y la oriada, Jörn. I. 

*) ,E1 hombre en peoado no solo bruto es, que no discurre; pero 
idol inmobil, que ni hable, ni exuohe, ni vea, ni toque, ni huela, ni guste* : 
A. 8. La oura y la enfermedad; A. s. La nave del meroader; A. s. Ei 
yeneno y la Ariaca etc. 

*) El infernal abismo -- desesperado imperio de si mismo: El ma- 
gioo prodigioso. 



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— 51 — 

verhängnisvoUö, fürchterliche Herberge \ind schlummernde At- 
mosphäre des Sterblichen, der in bebender Erstarnmg in seiner 
Nichtigkeit da liegt ! du, Gefängnis der Angst, Wohnung des 
Schreckens, an deren Thor das Weinen heult; o Du, wenn ich 
Dich mit Deinem Namen nennen soll, ungeordneter Wille des 
Menschen, Mörder Deines Heims, familiärer Feind des Lebens! 
Du, tausendmal Du, denn kein Wort nennt Dich besser als 
dieses, stürze hervor aus dem Schosse Deiner Felsen, und man 
sehe, wie schnell auf den Ruf des Löwen das wilde Tier ge- 
horcht.« 

Diese absolute Wesenheit der Verneinung, welche Calderon 
wiederholt anführt imd höchst dramatisch zu schildern versteht, 
bildet bei ihm — was gewiss sehr originell ist — ein philo- 
sophisches Moment. Sie ist nicht, wie bei Goethe, „ein Teil von 
jener Kraft — die stets das Böse will imd stets das Gute schafft*, 
denn ein Teil einer ideellen Kraft ist unmöglich. Sie ist auch 
„der Geist, der stets verneint" : ihr unmittelbares Fühlen ist nicht 
ein Angriff auf die absolute Bestätigung, sondern ein Sichsetzen 
an die Stelle dieser. Mit anderen Worten, sie ist ein erklärendes 
Licht über das All, 2) welches zur zügellosen Unabhängigkeit 
strebt, gerade dieser geistigen, der Natur und dem Erschaffenen 
gegenüber bevorzugten Stellung wegen. * Sie ist das primitive 
Aufsichbeziehen aller Dinge, ein Riss in der Harmonie der 
Ewigkeit; daher sein immerwährendes Eingreifen und Einwirken 
in die Ordnung der Natur. ^) 

Durch den Kontrast zwischen diesem verneinenden Ele- 
mente gegenüber dem ewig Seienden ensteht jenes wundersame 
Phänomen von Sein und Nichtsein, das wir Erscheinung nennen. *) 
Der Mensch schreitet mitten unter diesen durch, und hat sich 
für links oder rechts zu entscheiden. Der logische Schluss ist 
die erste und wahre Form unserer Freiheit, deren vollkommenen 
Genuss wir nur in der Wahrheit haben können. Die Freiheit, 
die nicht in einem Beherrschen der Erscheinungen, sagen wir 
der äusseren Natur besteht, da deren Gesetze nicht vom Men- 



') A. 8. El Valle de la Zarzuela. 

') So el registro poderoso de esos orbes — El magico prodigioso. 
•) S. u. a. A. s. La Divina Philotea ; A. s. El veneno y la Ariaoa etc. 
^) ,Las apariencias no son ni verdad, ni mentira', en : En eeta vida 
todo es verdad y todo mentira. 



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— 52 — 

sehen ausgehen und der Mensch nicht ihr letztes und höchstes Pro* 
duktist, sondern in einer unabhängigen Stellung ihnen gegenüber; 
diese moralische Freiheit, sich selbst dem hinter den Erschei- 
nungen hindurchschimmernden Geist gegenüber zu bestinamen, 
ist eine der verfochtensten Behauptungen Calderons.^) An 
hundert Stellen beteuert pr die unumstössliche Wahrheit des 
freien Willens : ^) das ist für ihn ein Pundamentalsatz, auf den 
er nicht selten die Hauptmotive seiner Stücke stützt. Diese 
Freiheit ist mit imserer Existenz zusammengekettet. 

Wenn aber der logische Schluss die erste und wahre Form 
unserer Freiheit ist, so ergiebt sich daraus, dass der freie Wille, 
d. h. die Fähigkeit sich zu bestimmen, mit der Fähigkeit, zu 
urteilen , zusammenfällt : Wille und Verstand sind engstens 
verknüpft. Sie sind nur zwei Momente der nämUchen Po- 
tenz. *) 

So gestaltet sich die Anschauung Calderons zu einem 
Idealismus, den wir vielleicht praktischen Idealismus nennen 
können. Er ist in der That von der Praxis gegeben imd sucht 
allem einen geistigen oder ideellen Hintergrund zu geben, ohne 



>) yDer Verstand besiegt alle Einflüsse durch die freie Bestimmung^ 

Apolo y Climene. — ^Du hast gesiegt, da Du Dich nicht besiegen liessest^, 

El magico prodigioso. — Im Schauspiele „Apolo y Climene* wird der 

Verstand zweimal (Jornada I und II) Monarch aller Einflüsse genannt. 

') El hado infio 

no fuerzo el libre albedrio: 
La devocion de la Cruz. 

Sobre el libre albedrio 
No hay conjuroS) ni hay encantos: 
El magico prodigioso. 
S. auch: La yida es sueüo. 

•) Para teuer voluntad 

es menester 
teuer uno entendimiento. 

De una causa dos efectos, Jörn. III. 

Aehnlich hat auch Spinoza in seiner Ethik gesagt: Intellekt und 
Wille sind Eins. Auch Kant verknüpft den freien Willen an die Urteils- 
kraft: diese ist die Verbindung zwischen der sensiblen und der intel- 
ligiblen Welt und bildet das Mittel, wodurch in der intelligiblen Welt, 
wo keine Kausalität mehr wirkt, eine Bestimmung in Bezug auf die Er- 
Boheinungswelt möglich ist. Die moderne Psychologie hat sich mit diesem 
Satze der Analogie zwischen Verstand und Wille einverstanden erklärt. 



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— 63 — 

die materielle Wirklichkeit zu zerstören. Dieser Idealismus, 
dessen Formulierung sich der volkstümlichen Auffassung ent- 
zieht, muss jedoch im gewöhnlichen Leben stillschweigend an- 
genonmien werden, denn, anstatt sich in vanitöse Spekulationen 
zu verlieren, bleibt er auf dem Boden der uns allen gegebenen 
mittelbaren Wirklichkeit und findet darin täglich seine Ver- 
wertung. Wir empfinden, was ausser uns steht, aber wir empfin- 
den es nach unserer Beschaffenheit ; ^) wir analysieren alles „nach 
der Organisation von Potenzen und Sinnen",*) d. h. in dem 
Verhältnis zwischen einem stabilen inneren Gesetze und den 
Erscheinungen. Der Mensch geniesst sein volles Bewusstsein 
nur im Zustande der Wahrheit; aber, um zu diesem zu gelangen, 
müssen wir auf imseren Egoismus verzichten. Nur so kann die 
Seele ihren jungfräulichen Zustand wieder erlangen, in dem sie, 
den Blick auf Gott geheftet, mit kindüchem Entzücken die ewige 
Wonne, die rosigen Fluten der Liebe, die linden Winde der 
endlosen Harmonie geniesst 1 

Wenn das individualistische Moment als Grundlage unsere« 
Denkens gegeben ist, so bleibt für uns nichts so sehr der Ver- 
zerrung anheimgestellt, als die Auffassung des Absoluten. Das 
ist, glauben wir, die Ursache der unzähligen philosophischen 
Systeme, welche sich immer um die gleichen Fragen drehen, 
ohne sie je zu lösen. Dieser Titanenkampf, den die Denker 
liefern, um dem Himmel die Wahrheit zu entreissen, um das Ab- 
solute anblicken zu dürfen, ist jedoch aussichtslos. Die Mensch- 
heit ist bald dieser falschen Alarmrufe müde, welche die Philo- 
sophen, wie nächtliche Schildwachen, von Zeit zu Zeit einander 
zuwerfen. Es ist wie ein Versuch, das Absolute zu repräsentieren, 
dieses unermüdliche Philosophieren, und alle Systeme sind die 
Etappen des verzweifelten Kampfes mit dem waltenden, unfass- 
baren, unerreichbaren Absoluten. Calderon macht auch da eine 
Ausnahme: er baut kein System auf, er will nicht das All er- 
schaffen, er verschwindet ganz hinter dem Lichte der sich offen- 
barenden Thatsache. Das ist jene Klugheit, die man ihm so 



^) Gemäss dem Satze der Scholastiker: Quidquid reoipitur, ad modum 
reoipientis reoipitur. 

•) A. 8. La nave del meroader. -- Analog dem Satze des hl. Thomas : 
Assimilitatio in oognitione humana fit per aotionem rerum sensibilium in 
vires oognosoitivas humanas. Smnm. o. gent. lib. I, 65. 



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— 54 — 

sehr in der Komposition nachgerühmt. Um ihn zu begreifen, 
muss man die Erscheinungswelt nie aus den Augen verlieren, 
denn fortwährend stützt er sich auf diese. Bei anderen Philo- 
sophen ist oft genügend, um das ganze Gebäude ihrer Gedanken 
in's Auge zu fassen, dass man den Ausgangspunkt ihrer Deduk- 
tionen erfasst : alles übrige stellt sich dann leicht der Ueberlegung 
dar. Bei Calderon dagegen ist es notwendig, frei und aufmerksam 
die Natur anzublicken, aber unter der Leitung seiner Worte» 
Calderon's Geist erweitert sich so in's Unermessliche, während er 
vor unseren Augen sich zu verkleinern und zu verschwinden 
sucht. Daraus gewinnen seine Worte grössere Ueberzeugungskraft 
und der ganze Aufbau seiner Ideen erhebt sich fast unbemerkt, 
aber in riesigen Dimensionen und mit einer wunderbaren Archi- 
tektur. Der Vorteil dieser Methode vor allen Systemen und vor 
der Methode der reinen Spekulation ist offenkundig: der Philo- 
soph erreicht auf diese Weise leicht den doppelten Zweck, ver- 
standen zu werden imd zu überzeugen. 

Manchmal nehmen jene Systeme, durch die Autorität des 
Aufstellers und durch den Glauben der Adepten, einen dogma- 
tischen Charakter an und entwickeln sich, imter dem Einfluss 
besonderer Umstände, zu religiösen Konfessionen. Sie schliessen 
dann das Leben und seine Aeusserungen in gewisse Formeln 
ein und verwandebi sich so in ein stockendes Gefüge, das wie 
eine Kruste sich über den menschlichen Geist ausbreitet und ihn 
hemmt imd niederdrückt. Das, meint Calderon, sei besonders bei 
den orientalischen Völkern der Fall. ^) Eine viel grössere Kraft, 
eine der menschlichen Natur viel eher angepasste BeschaflFenheit 
besitzt das Christentum, welches, sich geschmeidig allen Forde- 
rungen des Geistes anschliessend, niemals sein Wesen ändert 
und für immer einen Richterstuhl in der Seele aufgerichtet hat. 
Von diesem Standpunkte aus übersieht wieder Calderon alle 
Probleme des Lebens und löst sie an dem Schein dieser MoraL 
Der Charakter unserer Arbeit zwingt uns, über diese Betrach- 
tungen hinwegzugehen, da dieselben, obwohl von grosser Tiefe 
und praktischem Werte, mehr theologisches Kolorit tragen. Wir 
verlassen daher dieses Gebiet und wenden uns anderen Fragen zu. 



t) El ^an principe de Fez. 



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— 55 — 

Der Mensch befindet sich, wie wir oben dargethan, in einem 
beständigen Kampfe; das Leben ist ein Ringen, ein Sturm, die 
zusanmienfliessende ewige Entscheidung. Während der Geist, in 
diesem Getümmel schweigsam aufgerichtet, die wundersame 
Phantasmagorie beschaut, sie prüft und sich neigt, fliesst der 
bebende Strom unaufhaltsam dahin. Wir haben oft nur Gefühle, 
wo wir glauben, Wahrheiten zu besitzen; wir ringen mit den 
Vorstellimgen des Fiebers, während wir meinen, die Probleme 
unserer Existenz anzusehen und ohne Zögern, ohne Schauder 
geben wir uns dem Truge und der Illusion hin. „In diesem Leben 
ist alles Trug und alles ist Wahrheit, denn bei allem, das gut 
ist, muss man zweifeln, ob es nicht schlecht sein könnte!*'^) 
Der Mensch hat nur die Möglichkeit, die Wahrheit zu gewinnen 
und zu erkennen; Positives hat er in sich nichts. Die mannig- 
faltige Scene des Lebens, in ihren engen Grenzen aufgefasst, 
verliert sich in einem aufregenden Traum, dessen phantastische 
Gestalten gegen die stille Ewigkeit emporzucken : „Der Mensch, 
wenn er lebt, träumt was er ist, bis er erwacht. Der König 
träumt, dass er ein König ist und in diesem Betrug lebt er fort, 
befehlend, ordinierend und regierend; wer möchte König sein, 
da er weiss, dass er im Schlafe des Todes erwachen wird? Der 
Reiche träimit seinen Reichtum, der ihm Sorgen macht, und der 
Arme, der leidet, träumt seine Armut und sein Elend ; es träumt 
träumt der Jüngling mit seinen Idealen, es träumt der Gedrückte, 
imd der Anspruchsvolle träumt sich seine Ansprüche ; es träumt, 
wer verletzt imd beleidigt, und in der Welt träumen alle, was 
sie sind, obwohl es niemand versteht. Was ist das Leben? 
— Phrenesie. Was ist das Leben ? Betrug, ein Schatten, Illusion. 
Das Leben ist nur ein Traum, und man träumt auch, dass man 
träumt l*' 2) 

Aehnlich wie Calderon, hat Renö Descartes, ungefähr in 
der gleichen Zeit, derartige Betrachtungen über das Leben und 
dessen Analogie mit dem Traume angestellt. ^) Auch ihm schien 



') No hay humano bien 

que no parezea verdad 
oon duda de que lo es. 

En esta vida todo es verdad j todo mentira. 

') La vida es suefio. 

') Meditationes de prima philosophia, Medit. I. 



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— Se- 
es, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen der oft illusori- 
schen Welt unserer Wahrnehmung und der Traumwelt existiere. 
Wie vieles glauben wir richtig zu sehen und imsere Wahrneh- 
mimg ist doch falsch : die Gestirne des Himmels sind nicht, wo 
wir sie sehen, denn die Lichtbrechung verschiebt uns ihre Lage ; 
das Wasser, das unter einer Brücke fliesst, von welcher aus wir 
es beobachten, scheint uns ruhig zu sein, während die Brücke 
langsam vorwärts rückt. Und wie viele andere Erlebnisse im 
Traume, welcher Zusammenhang oft zwischen den Begebenheiten 
successiver Träume, wie viele Gedanken offenbaren sich uns in 
der weihevollen Stille des Schlafes! So dachte Descartes. Ist 
diese etwaige Uebereinstimmung zwischen Calderon und Des- 
cartes in diesem Punkte rein zufällig? Kann nicht Calderon, 
der etwas jünger als sein Zeitgenosse war, dessen Wei:ke, viel- 
leicht den Discours de la mithode^ welcher im Jahre 1637 
herauskam, gelesen haben? Um diese Frage zu erörtern, schien 
uns am sichersten, da besondere Schriften über diesen Punkt 
nicht existieren, die Werke beider Philosophen einer Untersuchung 
zu unterziehen und die Stellen, die irgend welche Analogie mit 
einander aufwiesen, sorgfältig zu vergleichen und daraus ein 
Urteil zu gewinnen. Wir fanden in der That einige derartige 
Stellen in Calderon*s Werken, die mit cartesianischen sehr 
ähnlich erschienen. ^) Aus diesen ersieht man, dass für Calderon 

^) Entendimiento : el tiempo 

que yace el hombre, tambien 
estoy yo sin disourrir, 
sin peroipir, ni atender. 
Yaga mi iroaginaoion 
oonfusas visiones v6; 
y todo es tiniebla y sombras 
para mi el mundo, porque 
sin los sentidos no puedo 
aotos de razon haoer. 
A. s. Los enoantos de la culpa. 

Pues los suenos 
ouantas figuras engendran 
son disoursoB de aquella alma 
que no duerme, y oomo quedan 
entanoes de los sentidas 
las acciones imperfeotas, 
imperfectamente forman 
los disbursos, y por esta 
razon suefia el hombre cosas 
que entre si no se oonoiertan. 
El Purgatorio de S. Patrioio. 



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— 57 — 

der Traum gar nichts anderes ist, als eine Bestäubung der Seelen- 
thätigkeit in Bezug auf die Aussen weit. ^) Deswegen nehmen 
wir die Vorstellungen „ohne Cohaerenz und Ordnung" wahr und 
wegen der ursprünglichen Störung auch in der Ordnung der 
Natiu", von der wir oben gesprochen, ist auch das Leben ein 
Traum, aus dem wir „im Tode erwachen", denn der Tod ist 
imerschütterliche Wahrheit. 2) 

Für Descartes ist ebenfalls das Leben ein potenzierter 
Traum. Wir können hier nicht eine ausführliche Auseinander- 
setzung seiner Erörterungen in den Meditatianes beigeben, imd 
wir begnügen uns, zu bemerken, dass, obwohl die beiden Denker 
in dieser Idee übereinstimmen, der Weg ihrer Argumentation 
durchaus ein verschiedener ist. ^) Wir hätten daher dennoch an 
diesen Ausführungen keinen Anhaltspimkt für die Annahme 
irgend welcher Beziehung zwischen den zwei Philosophen gefun- 
den, wenn eine Stelle aus dem Auto El Pleito matrimonial uns 
nicht in der Vermutung bestärkt hätte, dass eine solche existiert 
haben müsse. Die Stelle lautet folgendermassen : „Die Seele 
und der Leib vereinigen sich, indem Gott im gleichen Augen- 
bücke aus Seele, Leib und Leben eins macht."*) Das erinnerte 
uns stark an die unio substantialis von Descartes, nach welcher 
Gott die zwei Substanzen, Geist und Materie, vereinigt imd 
daraus das Leben macht. Die Analogie ist in der That frappant, 
und wir ersuchten einen der tiefsten Kenner von Calderon's 
Werken, zur Zeit Universitätsrektor in Salamanca, von dessen 



*) In einer der oben oitierten Stellen heisst es : Alles ist im Traume 
Verwirrung, weil der Verstand ohne die Sinne keine Akte der Vernunft 
vollziehen kann. — Diese Aeusserung, die augensoheinlioh mit dem Sen- 
sualismus Looke's sich berührt (Nihil est in intelleotu, quod prius 
non fuerit in sensu), will jedooh nicht sagen, dass Sinne und Vernunft 
das Gleiche seien, sondern dass die Vernunft eng mit den Sinnen zu- 
sammenhängt, wie wir aus der Definition der Se^le gesehen haben. 

*) No es morir todo? — Gasa oon dos puertas mala es de guardar. 
*) Der Charakter dieser Schrift, sowie ihre Dimension zwingen uns, 
DesoEui^es' Philosophie als bekannt vorauszusetzen. 
*) Vida: pues 

os juntais (Alma y Cuerpo) 
haoiendo en un punto Dios 
un compuesto de los tres, 
que somos Guerpo, Alma y Vida. 



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— 58 — 

Briefe wir einiges an anderem Orte angeführt haben um Aus- 
kunft. Wir teilen hier noch den Teil des Briefes, der sich auf 
unsere Frage bezieht. 

Sehr geehrter Herr! 

Es ist mir sehr daran gelegen gewesen, den Zweifel, den 
Sie mir vorlegten, nach Möglichkeit zu lösen. Sie fragten 
mich, ob es nicht bekannt sei, dass eine Beziehung zwischen 
Calderon und Descartes existiert habe und weder im Archiv 
dieser Universität, noch bei den besten Biographien imseres 
Dichters habe ich die geringste Andeutung gefunden, als hätte 
Calderon je mit Descartes verkehrt, noch seine Werke gekannt. 

Im Gegenteil, alle stimmen darin überein, den scholastischen 
Charakter in den Werken Calderon's hervorzuheben. 

Es lagen ja zwischen der Zeit, in welcher Calderon seme 
Studien auf der Universität vollendete (1619) und der Zeit, in 
welcher Descartes das erste Mal seine Werke veröffentlichte 
(1640),^) mehr als 20 Jahre; so dass es nicht anzunehmen ist, 
dass Calderon irgend eine Kenntnis über Descartes sich angeeignet 
hätte, um so mehr, da, wie ich einem gründüchen Kenner der 
Werke Calderon's entnehme, dieser nicht der französischen Sprache 
mächtig war. Und seine litterarischen Studien, die bekanntlich 
seine Zeit gänzUch in Anspruch nahmen , hätten ihm keine 
Müsse gelassen, sich dem Studium eines neuen philosophischen 
Systems, das so verschieden war von dem, das er gelernt hatte, 
zu widmen. Man sage auch nicht, dass er irgend eine Ueber- 
Setzung in spanischer Sprache mag gelesen haben, da Descartes' 
Fehler, wenn man ihn für einen solchen halten darf, damals 
allen Spaniern eigen war, welche sich für reich genug hielten, 
um nicht vom Auslande Wissenschaft oder Litteratur erbetteln 
zu wollen. 

Was aber am meisten den anti-cartesianischen Charakter 
unseres Dichters beleuchtet, sind seine Werke selbst, und ganz 
besonders seine Autos sacramentales. In einigen von diesen 
scheint er ja als gangbare Münze- die Theorie der Existenz der 
verschiedenen Accidentien der Substanz — eine Theorie, die 



') Eigentlich 1637. 



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— 59 — 

schon allein einen Philosophen für anti-cartesianisch erklärt — 
anzunehmen. 

Er sagt im Cubo de la Almudena: Das Gesicht uhd der 
Tastsinn beziehen sich auf die Accidentien, nicht auf die 
Substanz ;i) und im El dia mayor de los dias hebt er weiter 
diese scharfe Unterscheidung hervor. *) 

Ebenso glaube ich nicht, dass die Worte, die Sie dem Auto 
El Plevto mairimonial entnommen haben, irgendwie gegen diese 
Ansicht Zeugnis ablegen. Denn, wenn Calderon das Leben sinn- 
bildlich „eine kalt brennende Flamme" genannt hat, so erregt es 
in der scholastischen Lehre keinen Anstoss, zu denken, dass im 
Augenblicke, da sich die Seele mit dem Leibe verbindet, in 
beiden das Leben entstehe, indem das intellektuelle von der 
Seele, das sensitive und vegetative aus der Zusammensetzung 
beider ausfliesst. Im gleichen Auto zeigt sich klar, dass Calderon 
eine solche innige und wesentUche Vereinigung ^zwischen Leib 
und Seele des Menschen annimmt, und diese hat nicht nur keine 
Analogie mit dem antropologischen Dualismus, der die Basis der 
cartesianischen Psychologie bildet, sondern sie steht mit ihm in 
offenem Konflikte. 

Auch dort, wo er von der Vereinigung von Seele,' Leib 
und Leben zu einem Ganzen redet, will er nicht die cartesianische 
Trilogie annehmen, bei welcher der Körper und der Geist zwei 
unabhängige und antithetische Substanzen bilden; denn der 



') A los acoidentes darn credito 

oredito la vista y taoto 
quo no ä la substanoia. 

*) I ä este Soberano imgido, 

que en aooidentes de pan 
y vioo asiste, ellos mismos 
aon cortinas soberanas 
de SU grandeza . . . 
y pues el amor ha sido 
oausa de estos aooidentes 
diga el ooro de los San tos: 
ah Jesus 1 que aooidentes 
tan soberanoB, 
pues por ellos le vimos 
saoramentado. 



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— 60 — 

Dichter sagt ja weiter unten, dass das Leben eine Flamme ist, 
welche von beiden entsteht, i) d. h. dass, nach Calderon's An- 
schauung, das Leben aus dem Menschen in dem Augenblicke 
ausfliesst, wo, durch die Vereinigung von Seele und Leib, das 
menschliche Gebilde vollkommen dasteht. 

nein, genug bewiesen ist es doch, dass imsere intell^- 
tuellen Grössen nicht der Abglanz eines französischen Philoso- 
phen sindl'^ 

So weit der Brief. 



y vida, llama enoendida 
que de las dos procedida eto. 




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— 61 - 



IV. 
Philosophischer Zusammenhang zwischen Cervantes und Calderon. 



Wir knüpfen wieder die Frage an, die wir im ersten Kapitel 
über das Verhältnis zwischen Cervantes und Calderon angedeutet 
haben. Wir bringen da ganz persönliche Ansichten vor und 
machen deswegen durchaus keinen Anspruch, bei der Schluss- 
folgerung, die sich aus ihnen ergiebt, Recht zu haben. Wir sind 
völlig überzeugt, dass diese zwei geistigen Gestalten unzertrenQ- 
lich in der Geschichte der philosophischen Ausbildung ihrer 
Epoche zusammengehören. Nach unserer Meinung bezeichnen 
sie, in der Evolution der Zeit , verschiedene Kulturmomente; 
und wenn sie auch der verschiedenen Gestaltung der Umstände 
wegen, unter denen imd für welche sie wirkten, mit verschiedener 
Klangfarbe erscheinen, so sind beide doch Träger des nämlichen 
Godankens. Beide brechen sich Bahn in der Gesellschaft mit der 
mächtigen Kraft der nämlichen Idee. Calderon setzt Cervantes 
voraus; der eine vollendet und rundet ab, was der andere zu 
einer systematischen Form in schöner Abgrenzung aufgebaut 
hatte. Wenn wir den Romantiker als den unruhigen Geist der 
beständigen Erfahrung bezeichnen würden, könnte der Dichter 
als die Spekulation der Empirik gelten; Cervantes malt die 
erscheinende Welt, die Scenerie des Lebens und deutet ihre 
geometrischen Propositionen an, während Calderon's Hand darin 
die Kurve des Gesetzes aufizeichnet. 

Cervantes war ein so unruhiges und wechselvolles Leben be- 
schieden, wie kein unruhigeres ei'nem Menschen überhaupt zufallen 
kann. Im Jahre 1547 geboren, hat er schon in seiner ersten Jugend 
von seinem Städtchen Alcalä aus die wunderbaren Thaten seiner 
Majestät Karl Y., des ersten Monarchen, der sich Mtgestät nennen 



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— 62 — 

Hess, erzählen hören und die wallenden Fahnen der einziehenden 
Plamminge erblicken können. Seine Phantasie, von Natur aus 
so blühend, trieb ihn, das Weite zu suchen und das Leben zu 
erfahren. Zuerst war er Kammerdiener bei einem Kardinal in 
Rom; er kämpfte in der Sohlacht bei Lepanto, im Jahre 1671, 
unter Don Johann von Oesterreich gegen die Türken, und erlitt 
schwere Verwundungen, die ihm einen Arm lähmten ; war Soldat 
in Sardinien, in der Lombardei, in Sicilien, wurde von Seeräubern 
gefangen genommen und als Sklave in Algier verkauft. Hier 
versucht er in der kühnsten Weise einigemale zu entfliehen, 
doch umsonst, bis er losgekauft wird. Dann kommt er nach 
Spanien zurück, von hier geht es als Soldat nach den 
Inseln Azoren und erst im Jahre 1583 erscheint er wieder 
in Spanien, wo er nun definitiv bleibt. Ein nächtlicher Streit 
gegen einige Hofleute in der Nähe seines Hauses, bei wel- 
chem Verdacht auf ihn fiel, brachte ihn, im Jahre 1604, in's 
Gefängnis. 

Da nun, im öden Dunkel eines Gefängnisses war es, wo 
seine Seele etwas Unermessliches, etwas wie die unerforschte 
Ruhe, die Gegenwart eines Schweigens, welches nach den 
Zuckungen der Welt sich einstellt, gewahrte und empfand. 
Gestützt auf das Gitter seiner Zelle, die Erlebnisse seines Lebens 
überdenkend, sah er sie wie das bittere Spiel einer unbesiegbaren 
Ironie sich entfalten. Seine Jugend, seine Kämpfe, Lepanto, 
die Gefangenschaft in Algier, die Fluchtversuche, der so oft 
herbei- und wieder hinweggeschlichene Tod, seine Gedichte, sein 
jetziger Aufenthalt: — das war die ganze Scene eines mensch- 
lichen Daseins I Wie sehr sah es einem Traume gleich, und in 
diesem Traume erkannte er das Leben: „Ich sehe jetzt ein, 
schrieb er, dass alle Genüsse des Lebens wie ein Schatten und 
ein Traum vergehen oder wie die Blume des Feldes absterben!" ^) 

In diesen Worten ist das ganze Resultat seiner grossen 
Erfahrung zusammengefasst : in diesen offenbart sich der feier- 
liche Ernst in der Fröhlichkeit und im Scherze, die seiner Natur 
so eigen waren. Und diese plötzüchen Offenbarungen grosser 
Wahrheiten in so anmutender imd überraschender Weise macht 
den Wert seines Werkes aus. 



') Don Quijote, IL Parte, Cap. XXII. 



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- 63 — 

Unter diesem Einfluss stand direkt Calderon. Wir sahen 
bereits, wie ihm das Leben unwert und wie ein Traum vor- 
kam, und wie er diese Ueberzeugung durchaus innig empfand 
und zum Ausdruck brachte ; an diesen Punkt der Cervantes'schen 
Philosophie scheint er also anzuknüpfen und seine ganze Welt- 
anschauung ist in der That von dieser Vorstellimg stark beein- 
flusst. Ein sehr inniger Zusammenhang zwischen den zwei 
grossen Männern ergab sich schon aus dem Umstände, dass 
Calderon eine Epoche vorfand, die ganz Cervantes gehörte und 
imd er sie nicht anders zu der seinigen machen konnte, als 
dadurch, dass er sie glänzender machte und weiter führte. Von 
einer Umwälzung derselben konnte, wenn auch Calderon's natür- 
liche Anlagen sich dazu hätten verwenden lassen können, bei 
dem ungeheuren Erfolge seines Vorgängers keine Rede sein. 
Wirksamer als dieser geschichtliche Zwang war die natürliche 
geistige Verwandtschaft, welche schon ursprünglich Calderon 
auf die Bahn des Cervantes lenkte. Wir lassen einen kurzen 
Vergleich folgen, um diesen Zusammenhang besser darzustellen. 

Cervantes ist von einem lebhaften Gefühl der Fröhlichkeit 
und einer warmen Strömung durchweht. Er nennt oft das Leben 
eilte Komödie] er sieht darin immer etwas Scherzhaftes, neben 
seinem Ernste, es ist für ihn, wenn uns der Ausdruck erlaubt 
ist, wie ein sauer-süsses Gemisch, in welchem keine wahre 
Genugthuung, sondern nur der Ansporn zu einer immer weiter 
entfliehenden Genugthuung ist; eine Komödie, nichts als eine 
Komödie, die uns durch Vorstellungen innerlich bestimmt. „Wie 
in der Komödie, so auch im Leben spielen einige die Rolle des 
Kaisers, andere die des Soldaten, des Kaufmanns, des Verliebten ; 
wenn aber das Ende kommt, nimmt allen der Tod die IQeider 
weg, die sie differenzierte und alle bleiben gleich im Grabe." 
„Und wenn wir diese Welt verlassen und über uns Erde ge- 
worfen wird, schreitet der Fürst auf gleich engem Pfade weiter, 
wie der Taglöhner, und der Körper des Papstes nimmt nicht 
mehr Plafz ein, als derjenige des Sigristeh, wiewohl der erstere 
höher stand als der zweite. ^) Wir haben oben gesagt, dass solche 
ernste Gedanken und Folgerungen in der scherzhaften Darstel- 



') Don Quijote, II. Teil, Kap. XII. 
») Don Quijote, II. Teil, Kap. XXXI. 



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— 64 — 

lung wie ruhige Stunden des Mondscheins in der weohselvoUen 
Scene erscheinen, welche die auf die Dauer ermüdende Span- 
nung unterbrechen. Sie deuten das Ziel an, wohin Cervantes 
steuert und zeigen, dass der kunstvolle Mechanismus, womit 
diese Gedanken begleitet sind, nur die vor den Augen der Zeit 
notwendige Apanage bildet. 

Calderon dagegen ist von Anfang an ernst und feierlich; 
er steht da, die Arme gekreuzt, die Augenbrauen zusanunen- 
gezogen imd redet mit einem etwas psalmodischen Ton. Er 
lächelt selten und nur aus Liebe zum Publikum; beständig 
beschäftigt ihn der tiefe Ernst seiner Probleme. Er wird hie 
und da so derb, dass seine Sprache mit bitterer Ironie prasselt 
„Kurz war die Komödie, aber wann war die Komödie des Lebens 
nicht kurz ? wann war sie für denjenigen nicht kurz, der bedenkt, 
wie alles nur ein Ein- und Ausgehen ist? Schon verlassen alle 
die Bühne ; die Erscheinung, die sie hatten und die sie zierte, zieht 
sich zu ihrer ursprünglichen Form zurück; als Staub sollen sie 
hinausgehen, da sie als Staub hineingekommen sind. Von allen 
sollen die Zierden zurückverlangt werden, mit denen sie die 
Vorstellung geschmückt, denn nur für diese Zeit wurden sie 
ihnen gewährt. Als Staub sollen sie hinausgehen, denn 'als 
Staub kamen sie hinein." „Und du, König, lass' die Krone hin, 
entblösse deine Majestät; nackt und bloss soll deine Person aus 
dem Possenspiel des Lebens scheiden. Der Purpur, der dich mit 
solchem Stolz erfüllte, wird die Schultern eines andern bald be- 
decken, denn weder Purpur, noch Scepter, noch Kränze wirst du 
mitnehmen dürfen: dies alles war geliehen I" „Jetzt, da der 
Spaten dem Scepter gleichgestellt ist, geht ein in das Theater 
der Wahrheit 1 euer Theater ist die Bühne der Täuschungen!" i) 

Aus diesen Beispielen sehen wir deutlich, wie die zwei 
grössten Denker der hiberischen Halbinsel von ein und demselben 
erhabenen Gefühl durchdrungen waren und wie das Genie zur 
Erfüllung seiner Aufgabe beim Wechseln der Umstände in beiden 
eine verschiedene Gestaltung annimmt. Der Uebergang von 
Cervantes zu Calderon wird von Lope de Vega, dem zartfühlen- 
den, üebUchen Lyriker, der mit Shakespeare das Theater 
schuf, hergestellt. Wie de Vega, findet Calderon sein Gefallen 



A. 8. El gran Teatro del mundo. 



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- 65 — 

an jenem abenteuerlichen Fluge durch die Regionen der Blumen 
und der Winde, an jener ungebundenen Freiheit, die seiner 
mächtigen Phantasie immer offene Wege wies. Wegen der 
unbestrittenen Superorität des Geistes stellt sich daher Oalderon 
dar, als die vollkommenste Synthese der spanischen Philosophie 
und gleichzeitig der spanischen Litteratur. Er glänzt wie ein 
Gestirn über seine Zeit nicht nur, sondern in der geistigen 
Gonstellation aller Nationen findet sich vielleicht nur ein Mann, 
dessen intellektuelles Licht dem seinigen gleich käme ; uud das 
ist Dante Alighieri. 

Weder Cervantes, noch Calderon sind Idealisten. Dies wollen 
wir hier festgestellt haben, weil manches, was wir über sie gesagt 
haben, dazu angethan erscheinen könnte, sie für solche zu halten. 
Für Beide ist nicht das reell, was uns in der Erscheinung ent- 
gegentritt, sondern nur, wir wollen uns so ausdrücken, der 
logische Bestand derselben. 

Wenn wir mm das bis jetzt Gesagte überblicken, so finden 
wir, dass die zwei Männer, von denen hier die Rede gewesen, 
mit zwei Kulturmomenten ihrer Nation, wie wir schon einmal 
gesagt, identisch sind. Wir konstatieren bloss diese Thatsache, 
ohne uns in Erörterungen über die Wechselwirkung der Um- 
stände auf den Intellekt auserwählter Geister oder umgekehrt, 
einzulassen. Cervantes erscheint in der That wie die lebendige 
Verkörperung jener Unruhe Spaniens zur Zeit seiner Weltherr- 
schaft, während Calderon die erhabene Würde in Q^enwart 
eines grossen Unglücks darstellt. Es ist bei letzterem das Gefühl 
eines Starken vorhanden, der besiegt und bedrängt, sich in seinen 
letzten Zufluchtsort, dorthin, wo nur ewiges Schweigen und 
keine Demütigimg mehr ist, flüchtet. Es ist die Ueberraschimg 
einer unerbittlichen Gefahr, die furchtbare En.ttäuschung eines, 
der nach langem und qualvollem Ringen das Nutzlose seiner 
Anstrengungen fühlt; es ist, in einem Worte, die ganze Stim- 
mung eines Volkes, die sich in ihm spiegelt. Ein Schlag nach 
dem andern hatte in der That die spanische Macht geknickt: 
im Jahre 1640 fällt Portugal ab, nachdem 1688 die spanische 
Flotte vernichtet worden war; im Jahre 1648 muss Spanien die 
Unabhängigkeit der Niederlande (im Frieden zu Münster) aner- 
kennen; 1659 muss es Roussillon und Perpignan, Dünkirchen 
und Jamaica, im Pyrenäischen Frieden, abtreten, und gegen das 

Orli£, Die Weltensohauung Oalderoiii. 5 



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— 66 - 

Ende des Lebens des Dichters steht bereits der Erbfolgekrieg 
bevor. Spanien hatte mit Italien, Prankreich, gegen die Nieder- 
lande, in Afrika, mit der Türkei, mit Deutschland, England, 
Amerika und im Innern gegen Revolten in diesem Jahrhundert 
zu kämpfen gehabt und, am Ende so vieler Kämpfe, nach so 
grossen Anstrengungen, hatte es sich ergeben, dass seine Macht 
nur trügerischer Schein gewesen. Entvölkert, verhasst, wo war 
all sein fabelhafter Reichtum hingegangen? Das prächtige Ge- 
bäude war zusammengebrochen, nur ein Haufe Trümmer war 
geblieben, umgeben mit einem Schimmer und aus seiner Mitte 
kam mystisch hergeklungen die Stimme Calderons. 

Zum Schlüsse wollen wir ein Urteil, das Calderon's Biograph 
Vera Tassis über ihn abgiebt, und eines von Goethe anführen, 
damit man sehe, wie Calderon's Grösse in allen Zeiten Aner- 
kennung gefunden. Vera Tassis drückt sich in seinem pompösen 
Stil folgendermassen aus: „Das war das Orakel unseres Hofes 
und der Neid der Fremden, der Vater der Musen, der Luchs 
der Gelehrsamkeit, das Licht der Bühnen, die Bewunderung der 
Menschen, er, der allgemeine Zufluchtsort der Bedürftigen, dessen 
Höflichkeit die aufmerksamste, dessen Umgang der zuverlässigste 
und belehrendste, dessen Sprache die harmloseste, jedem seine 
Ehre erweisende, dessen nie mit beissenden Glossen den Ruhm 
irgend eines verwundende Feder die feinste seines Jahrhunderts 
war, der die Lästerzungen weder mit Libellen befleckte, noch 
sein Ohr den boshaften Verkleinerungen des Neides lieh. Das 
endlich war der Fürst der castilianischen Dichter, welcher 
Griechen xmd Römer in seiner geweihten Poesie wieder aufleben 
Hess, denn er war im Heroischen gebildet imd erhaben, im 
Moralischen gelehrt und tiefsinnig, im Lyrischen anmutig und 
beredt, im Heiligen göttlich und sinnvoll, im Liebevollen edel 
und schonend, im Scherzhaften witzig und lebendig, im Komischen 
fein imd angemessen. Er war sanft und wohlklingend im Vers, 
gross und zierlich in der Sprache, gelehrt und feurig im Aus- 
druck, ernst und gewählt in der Sentenz, gemässigt und eigen- 
tümlich in der Metapher, scharfsinnig und vollendet in den 
Bildern, kühn und überzeugend in der Erfindung, einzig und 
ewig im Ruhm.** 

Goethe stellt Calderon in die Reihe jener Männer, die da 
auf dem Gang der Geschichte am Rande des Weges sich erheben 



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— 67 — 

und den Bataillonen der Generationen die Richtung anzeigen. . 

Wenn sie verschwinden, bleibt an ihrer Stelle ein gewaltiges 
Denkmal von Licht und von Flammen, oft auch von Rauch und 
von Asche. Er stellt Calderon unter diese Männer und giebt 
ihm einen Vorzug vor allen andern, nämlich eine überzeugende 
Konsequenz, einen systematischen Ausbau, die praktische Ver- ,. '1 

Wertung der Wahrheit, die er nicht auf eine entlegene Region, 
sondern in die Tragweite jedes Menschen stellt ; er sagt : „Calderon * ^ 

ist unendlich gross; er ist dasjenige Genie, das zugleich den 
grössten Verstand hatte." ^) 



Zu Eokermann I, S. 151. 



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