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über
wissenschaftliche und ästhetische
Naturhetrachtung.
Ein Vortrag
Leonard Nelson.
Sonderdruch aus den .^bhuidlintgn der Frin'Klin Sdink", II. Bud, 3. HefL
Göttmgen
Vandeuhoeck & Baprecht
190Ö.
Vorbemerkung.
Das hier erörterte Problem ist schon einmal in den „Abhandlungen der
Friesschen Schule** gestreift worden („Wissenschaftliche und religiöse Weltansicht**
von M. Djuyaba, im 1. Bande, S. 441 ff.), schien mir aber trotzdem noch einer
eigenen Behandlung fähig und wert zu sein« Ohne etwas von dem dort schon
Dargelegten vorauszusetzen, habe ich mich, um den allgemeinen Zusammenhang
deutlich hervortreten zu lassen, absichtlich möglichst eng an die Darstellung
Djuyabas angeschlossen, auf die ich überhaupt den Leser zur systematischen
Ergänzung des hier Gebotenen verweisen möchte.
Wer aber die hier vorgetragenen Ansichten an ihrer geschichtlichen Quelle
kennen lernen will, der lese die schönen ästhetischen Betrachtungen in Schillebs
Briefen an Eöbneb und die in Schillebs Todesjahr erschienene Schrift von
Fbies : „Wissen , Glaube und Ahndung** (neu aufgelegt 1905) , sowie die den
beiden geistig so nahe verwandten Denkern gemeinschaftlich als Ausgangspunkt
dienende KANTlsche „Kritik der ästhetischen Urteilskraft^.
't^
f:
Yergleiclit man das Bild, das die Forscherarbeit unserer Jahr-
hunderte von der Natur entworfen hat, mit der Art und Weise,
wie die Griechen die Katur betrachteten, so fällt leicht ein her-
^ vorstechender Unterschied in die Augen. Eine das Schönheits-
fl bedürfnis befriedigende innere Harmonie kennzeichnet die Natur-
^ ansieht der Griechen ebenso sehr wie sie der unsrigen fehlt. Eine
gewisse poetische Freiheit herrscht in jener, eine strenge und
prosaische Gebundenheit in dieser. Dort leiten ästhetische Ge-
< Sichtspunkte die Gestaltung des Weltgemäldes, hier ausschließlich
"^ der Gedanke einer unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeit alles Ge-
I schehens. Den Griechen waren die Dinge der Natur menschen-
ähnliche, beseelte Wesen, sie kannten noch nicht die uns so ge-
läufigen Gesetze von der Beharrlichkeit der Masse und Kraft und
von der Trägheit der Materie. Wir sind so sehr gewöhnt, nach
diesen Gesetzen zu denken und die Dinge um uns her zu betrachten,
daß wir allzuleicht vergessen, daß diese Denkweise keineswegs
selbstverständlich, sondern durch sehr künstliche wissenschaftliche
Ansbildung erworben ist.
Wenn wir diesem Gegensatz der antiken und der modernen
Naturansicht historisch nachgehen, so zeigt sieht, daß er keines-
wegs unvermittelt auftritt. Sehen wir von den dunkelen Jahr-
hunderten des Mittelalters ab, in denen überhaupt kein geistiger
Fortschritt anzutreffen ist, so finden wir eine stetige Entwicke-
lungsreihe zwischen der Pythagoreischen Lehre von der Harmonie
AbhaacUimgen der Frie8*8«h«i Sehnlo. U, B4. 22
I Z ••• •'
>• •.
■; .' ■- j
888 L. Nelson : Über wissenschaftliche und ^ästhetische Natnrbetrachtong.
der Sphären und der Mechanik des Himmels von Laplace. Je
weiter wir in dieser Entwickelungsreihe vorwärts schreiten, desto
mehr tritt die poetische Färbung des "Weltgemäldes zurück hinter
den Konstruktionen des rechnenden Verstandes, desto mehr weichen
die beweglichen Traumgestalten der Phantasie einem seelenlosen
Massensystem unter notwendigen Naturgesetzen. Eepp^eb lauschte
noch der Musik der Sphären. Aber aus den von ihm selbst ge-
fundenen Gesetzen des Planetenlaufes leitete Newton jene ge-
waltige Entdeckung ab, die den Stemenlauf an die Gesetze der
Mechanik knüpfte und auf immer die kristallnen Sphären zer-
trümmerte. Die geisterhaften Mächte, die ehemals die Sterne
durch die himmlischen Bäume geführt hatten, losten sich auf in
einen starren Mechanismus, dessen Getriebe sich selbst erhält. —
Es kann kein Zweifel sein, daß aus der Wissenschaft unserer Tage
die ästhetische Betrachtungsweise bereits gänzlich ausgeschieden
ist. Die Ideen des Schönen und Erhabenen finden keinen Raum
mehr in einem Gebiet, das es ausschließlich mit materiellen Massen
und deren rechnerisch bestimmbaren Bewegungen zu tun hat.
Vielleicht hat niemand den Konstrast dieser beiden "Weltan-
sichten ergreifender geschildert als Schilleb in seinen „Göttern
Griechenlands". In wehmütigen Versen beklagt dieses Gedicht
die schrittweise Verdrängung der ästhetischen Naturanschauung
der Griechen durch die physikalische der neueren Wissenschaft.
Hat aber der Dichter Recht, wenn er die ästhetische Welt-
ansicht als ein auf immer verlorenes Gut darstellt und ihren Unter-
gang als einen nie zu ersetzenden Verlust betrauert?
In der Tat, das Gesetz der Schwere hat die Natur entgöttert,
und die Zeit wird nicht wiederkehren,
Da der Dichtung zanberische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand.
' Kvam^^mf0i^fi^i
L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtung. 339
Ist denn aber die ästhetische Naturansicht durch die Wissen-
schaft ihrer selbständigen Bedeutung beraubt? Ist das Schöne
aus der Natur verschwunden, um fortan nur noch in dem Peen-
land der Lieder eine Scheinexistenz zu führen?
Kann, so müssen wir uns fragen, in unserer Erkenntnis restlos
Alles aus Naturgesetzen begriffen werden, oder gibt es vielleicht
eine unüberwindliche Schranke für die Erklärungen der Wissen-
schaft? Gibt es ein Gebiet, das sich den Berechnungen des Ver-
standes entzieht, das jenseits des theoretisch Erklärlichen bleibt,
wie weit auch der Bereich der Wissenschaft sich erweitem mag?
Wenn es ein solches Gebiet nicht gibt, so werden wir freilich
der naturwissenschaftlichen Weltänsicht die Alleinherrschaft ein-
räumen und alle Ansprüche der ästhetischen als Illusion preis-
geben müssen.
Ehe wir uns entschließen, einer solchen Resignation das Wort
zu reden, verlohnt es sich vielleicht einmal, die Gründe zu prüfen,
die zu einer vorurteilsfreien Entscheidung der berührten Frage
führen können. Wollen wir uns ein unparteiisches Urteil über
den Rangstreit beider Weltanschauungen bilden, so werden wir
gut tun, zunächst einmal zu versuchen, die wirklichen Grundlagen
der beiden so verschiedenen Betrachtungsweisen zu verstehen. Ich
will mich daher bemühen, diese Grundlage und ihr gegenseitiges
Verhältnis in Kürze zu charakterisieren.
Alle wissenschaftliche Naturerkenntnis geht von der sinnlichen
Anschauung aus, von der Beobachtung der vor xmseren Sinnen
sich abspielenden Erscheinungen. Aber sie bleibt nicht bei einer
bloßen Registrierung der mannigfachen Beobachtungstatsachen
stehen, sondern sucht den tieferen Zusammenhang zu ergründen,
der zwischen den Erscheinungen waltet. Denn das Grundmotiv,
das alle noch so verschiedenen Äußerungen unseres Erkenntnis-
22*
340 L. Nelson: Über wissenschaftliehe lud ästhetische Katnrbetrachtang.
Vermögens leitet, ist die Forderung nach einer Einheit in der
Mannigfaltigkeit. Diese Einheit des Geschehens liegt nns aber
nicht unmittelbar vor Angen, sie ist nicht direkt wahrnehmbar,
sondern wir können ihr nur durch mittelbare und oft sehr müh-
same Vergleichimg des Gehalts imserer Wahrnehmungen auf die
Spur kommen. Wir finden sie in den Gesetzen, durch die
allein der notwendige Zusammenhang zwischen den mannigfaltigen
Einzelerscheinungen besteht. Die Erforschung dieser notwendigen
Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens ist die ganze und einzige
Aufgabe der Wissenschaft. Die Unterordnung der Gegenstande
der sinnlichen Anschauung unter allgemeine und notwendige Ge-
setze kommt durch logische Schlußfolgerungen zu stände; und im
systematischen Aufbau solcher Schlußfolgertmgen besteht das Wesen
der Theorie. Was wir Natur nennen, ist nicht das regel-
lose Gewirr der Erscheinungen, wie sie unmittelbar an unseren
Sinnen vorüberziehen, sondern vielmehr ein nach allgemeinen Ge-
setzen geregelter Zusammenhang, den wir selbst nicht mehr an-
schauen, sondern nur noch denken können. Denn das Gesetz ist
selbst kein Gegenstand der Anschauung, obwohl es eine notwendige
Bedingung bildet, von der das Dasein der Gegenstände der An-
schauung abhängt.
Was man nun die Erklärung einer Erscheinung nennt, ist
nichts anderes als die Zurückführung derselben auf ein Gesetz.
TJnd zwar ist eine Erklärung um so vollständiger, je allgemeiner
die Gesetze sind, bis auf welche die Zurückführung gelungen ist.
Die allgemeinsten Naturgesetze sind aber die Grundgesetze der
Mechanik, d. h. der Theorie der die Bewegung der Korper be^
herrschenden Kräfte. Von der vollständigen Erklärung einer Er-
scheinung, welcher Art diese auch sein mag, werden wir also ihre
Zurückführung auf mechanische Prinzipien fordern müssen. So
!••; »s • • I i
'^:^SiM;t-:sz^iii.
L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtung. 841
erklären wir die akustischen Erscheimingen , indem wir die
Schwingangen aufweisen , die die Töne erzeugen , und indem wir
die Gesetze, nach denen diese Schwingungen erfolgen, aus den
Grundgesetzen der Mechanik ableiten.
Die Möglichkeit alles Erklärens beruht nun, was ich hier nicht
näher ausführen kann, auf der Anwendung der Begriffe des Maßes
und der Zahl. Wir müssen die Erscheinungen messen und zählen,
d. h. wir müssen die Größenverhältnisse erforschen, die sich an
ihnen finden, wenn wir sie auf ein Naturgesetz zurückführen und
dadurch theoretisch begreiflich machen wollen. Die Anwendung
der Mathematik auf die Erscheinungen ist die notwendige Be-
dingung aller wissenschaftlichen Erklärung. Aber auch umgekehrt :
Alles, worauf die Begriffe der Mathematik anwendbar sind, ist
der wissenschaftlichen Erklärung zugänglich. Was sich nach
räumlichen oder zeitlichen Größenverhältnissen messen läßt, das
ist der Herrschaft der naturwissenschaftlichen Theorie unterworfen,
das muß sich auf gesetzmäßige Weise erklären lassen. Wenn
bisher noch viele Erscheinungen unerklärt sind, so liegt dies nicht
an einer Unzulänglichkeit der naturwissenschaftlichen Methode,
sondern lediglich daran,* daß entweder die Beobachtungen noch nicht
genügen oder die vorUegenden mathematischen Verhältnisse zu
kompliziert sind.
So betrachtet also der Naturforscher seine Welt als ein System
träger Massen, in dem nach notwendigen Gesetzen jeder Zustand
durch den vorhergehenden bestimmt ist, so daß, wer den Zustand
des Systems in irgend einem beliebigen Zeitpunkte zu übersehen
im stände wäre, nach jenen Gesetzen die ganze übrige Geschichte
des Systems durch bloße Rechnung finden könnte, — durch Rech-
nung finden könnte, wie Bewegung auf Bewegung folgt, Leben
aus Leben entspringt, Gedanke aus Gedanke sich entwickelt, bis
842 L. NelBon: Über wiMenschaftliche and ästhetische Natarbetrachtttng.
zu jedem beliebigen Momente in der Zeitreihe, hinaus über alle
noch so ferne Zukunft und Vergangenheit. Ein Geist, der diese
höchste Stufe der Naturerkenntnis erreicht hatte, wäre nur dem
Grade nach der Kunst unserer Astronomen überlegen, die aus
der einen Formel des Newtonschen Gravitationsgesetzes mit
Sekundengenauigkeit die künftige und vergangene Geschichte
der planetarischen Bewegungen zu berechnen vermögen. Nach
Du Bois-Eeymonds geistvollem Ausspruch: „Wie der Astronom nur
der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen
Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob, als Perikles
nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piräus ver-
finstert ward, so konnte jener Geist durch geeignete Diskussion
seiner Weltformel uns sagen, wer die Eiserne Maske war oder
wie der ,President' zu Grunde ging. Wie der Astronom den
Tag vorhersaht, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen
des Weltraums am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse
jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das Griechische
Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da England seine
letzte Steinkohle verbrennen wird."
Betrachten wir dagegen das Charakteristische der ästhe-
tischen Naturbeurteilang. Der Gegensatz zur wissenschaftlichen
zeigt sich schon darin, daß wir hier ganz bei der Anschauung
stehen bleiben. Für den Naturforscher hat das Einzelwesen nur
insofern Interesse, als es sich zur Exemplifikation eines allgemeinen
Gesetzes eignet. Die ästhetische Betrachtung hingegen leiht dem
Einzelwesen eine selbständige Bedeutung, die ihm nach natur-
wissenschaftlicher Auffassung niemals zukommen kann. Der Phy-
siologe belehrt uns, daß das, was wir als Pflanze ansprechen, über-
haupt keine eigene Wesenheit besitzt, sondern nur die gesetzmäßige
Form fortwährend wechselnder Substanzen ist. Wenn wir aber
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L. Nelson: Über wissenschaftliche and ästhetische Natarbetrachtang. 343
die Schönlieit einer Pflanze bewundern, so fragen wir nicht nach
den chemischen Gresetzen des Stoffwechsels, so wenig wie nach
den morphologischen der Zellbildnng. Wir versenken nns in die
Gestalt, wie sie sich unmittelbar der Beschauung darbietet; wir
lösen sie gleichsam heraus aus dem naturgesetzlichen Zusammen-
hang, in welchem sie nur als ein an sich gleichgültiger Durch-
gangspunkt einer unendlichen Reihe notwendig verknüpfter Ge-
schehnisse auftritt. Nehmen wir, um ein anderes Beispiel zu haben,
an, wir befanden uns bei wolkenloser Nacht draußen im Freien
und betrachteten die Sternbilder am Himmelsgewölbe. Der er-
hebende Eindruck, den wir da erhalten, hängt auch hier nur von
dem Gehalt der unmittelbaren Anschauung ab xmd nicht von unseren
mehr oder weniger umfangreichen astronomischen Kenntnissen.
Der Astronom wird uns sagen, daß die Sterne, deren Glanz uns
erfreut, von uns so weit entfernt sind, daß das Licht, um von
ihnen bis in unser Auge zu gelangen, Jahrzehnte braucht und daß
infolgedessen der Stern zu der Zeit, wo wir ihn betrachten, längst
verloschen sein kann. Diese Belehrung mag uns sonst interessant
sein, auf unser ästhetisches Urteil hat sie keinen Einfluß. Der
astronomisch Gebildete weiß auch sehr wohl, daß die Gestirne in
der anschaulichen Anordnung, wie wir sie zu Sternbildern zu-
sammenfassen, physisch gar nicht zusammenhängen, sondern uns
nur nach den Gesetzen der Optik und der Perspektive als zu-
sammengehörig erscheinen. Aber auch dies ist auf das Ge-
fallen, das wir an dem anschaulichen Bilde finden, ohne Einfluß.
Es ist nun aber ein großer Unterschied, ob wir einem Gegen-
stande ästhetische Bedeutsamkeit beimessen oder ihn nur als an-
genehm empfinden. Wir nennen ein Ding angenehm, wenn es
unsere Sinne wohltuend berührt; seine Annehmlichkeit besteht
also jederzeit nur in der Wirkung, die es auf uns, das empfindende
,<*. •*,«• ^'
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*:M:7:
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844 L. Nelson: Über wissenschaftliche and ästhetische Naturbetrachtung.
Subjekt, ausübt. Die Schönheit eines Dinges dagegen ist von
seiner Beziehung zu dem betrachtenden Subjekt gänzlich unab-
hängig. Der Salat, den sich der eine durch Zucker versüßt, wird
dem anderen durch diese Zutat ungenießbar. Der eine verabscheut
es, eine Raupe anzufassen, und schon der bloße Anblick einer
solchen erregt ihm Ekel; der ändere tut es mit Vergnügen. In
allen derartigen Fällen ist nur von der Wirkung der Dinge auf
uns selbst die Bede, und wir bescheiden uns gern zu sagen: dies
ist mir angenehm, ohne dadurch dem Gegenstande ein Wert-
prädikat beizulegen und ohne dadurch mit anders Urteilenden in
Streit zu geraten.
Ganz anders im ästhetischen Gebiet. Wenn wir ein BACHSches
Präludium schön nennen, so verlangen wir von jedem Gebildeten,
daß er darüber ebenso urteilen solle wie wir; und zwar nicht
etwa wegen emer zufalligen Übereinstimmung des Gehörsinns der
Menschen, sondern darum, weil wir die Schönheit dem Gegenstande
als solchem zuschreiben, ganz unabhängig von seiner Wirkung auf
das Organ der empfindenden Subjekte.
Dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der das ästhetische
Urteil auszeichnet, ist eine äußerst merkwürdige Tatsache. Dieser
apodiktische Charakter des ästhetischen Urteils ist darum merk-
würdig, weil der Gegenstand, über den wir ästhetisch urteilen,
stets in der Anschauung gegeben ist, also nur ein Einzelwesen
sein kann. Nun können wir aber sonst über Einzelwesen nur
dann apodiktische Urteile fallen^ wenn uns ein allgemeines Gesetz
bekannt ist, aus dem wir auf den besonderen Fall schließen. So
können wir apodiktisch behaupten, ein geworfener Stein werde
eine Parabel beschreiben, weil wir das allgemeine Gesetz kennen,
von dem die Wurfbewegung nur einen besonderen Fall darstellt.
Ein solches Gesetz ist aber im ästhetischen Gebiet nirgend anzu-
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L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Natarbetrachtang. 845
treffen. Wir behaupten die Schönheit einer Sonate mit dem be-
stimmtesten Bewußtsein notwendiger Geltung, aber wir können
kein Gesetz angeben^ aus dem sich ihre Schönheit vermittelst eines
logischen Schlusses ableiten und begreiflich machen ließe, so wie
wir die parabolische Form der "Wurfbewegung durch einen lo-
gischen Schluß aus dem Fallgesetz ableiten und erklären können.
Wer unserem ästhetischen Urteil widersprechen sollte, den können
wir nicht durch logische Gründe belehren, sondern wir können
ihn mir an das schöne Objekt selbst verweisen und ihn auffordern,
an der Betrachtung desselben seinen Geschmack zu bilden.
Durch die eben hervorgehobene Eigenschaft unterscheidet sich
das Schöne zugleich vom Nützlichen. Wenn nach der Brauch-
barkeit eines Werkzeugs oder einer Maschine gefragt wird, so ist
nur nötig, zu vergleichen, ob das Ding zur Hervorbringung seines
Zwecks geeignet ist oder nicht, und wir werden aus der Ange-
gemessenheit oder Unangemessenheit znr Heryorbringung dieses
Zwecks auf seinen Wert oder Unwert schließen können. Bei der
Beurteilung des Schönen verhält es sich ganz anders. Denn wel-
ches wäre der Zweck einer schönen Blume, welches der Zweck
eines schönen Sternbildes, welches der Zweck einer schönen So-
nate? Schön die Frage nach einem solchen Zweck des Schönen
muß uns ungereimt erscheinen. Das Schöne dient nicht als Mittel
zu einem Zwecke, von dem es seinen Wert entlehnen könnte, es
ist so wenig ein Nützliches wie ein Angenehmes, sondern gefallt
an sich selbst, ohne alle Vergleichung ; es trägt seinen Zweck und
Wert in sich selbst.
Weder aus einem Naturgesetz noch aus einem Zweckgesetz
kann also die eigentümliche Bedeutsamkeit des Schönen begreiflich
gemacht werden. Die Pracht des Farbenspiels, die Harmonie der
Töne, die Anmut der Gestalten, — sie alle enthalten eine ge-
846 L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Natarbetracfatung.
heimnisvolle Bedentang, die wir wohl fühlen, aber nicht durch
Begriffe zu erschöpfen vermögen.
Ich habe vorhin gesagt, wir hätten unter „Natur" das Dasein
der Dinge zu verstehen, sofern es durch allgemeine und not-
wendige Gesetze bestimmt wird. Indem wir an diese Formulierung
anknüpfen, können wir nunmehr die Behauptung aufstellen, daß
die Schönheit einem Dinge niemals in seiner Bedeutung als Natur-
gegenstand zukommt. Wohl ist auch das Schöne ohne eine ge-
wisse innere Ordnung nicht vorstellbar ; aber diese Ordnung, diese
Begelmäßigkeit und Harmonie, die uns am Schönen erfreut, ist
nicht durch allgemeine Yerstandesgesetze bestimmbar, sondern sie
muß sich in der Anschauung offenbaren und läßt sich schlechter-
dings nicht auf Begriffe bringen.
Damit werden wir denn auf die anfangs aufgeworfene Frage
zurückgeführt. Wenn wir die Realität des Schönen nicht als
Schein und Trug verwerfen wollen, so scheint es, daß wir mit
den Ansprüchen der Wissenschaft in Konflikt geraten. Oder läßt
sich vielleicht irgend ein noch so entlegenes Grebiet ausfindig
machen, an das die erklärende Theorie keine Ansprüche hätte,
ein Gebiet, das sich der natarwissenschaftlichen Behandlung auf
die Dauer zu entziehen vermöchte? Wenn wir gestehen müssen,
daß wir ein solches Gebiet nicht kennen, daß uns die Hoffnung
versagt ist, es jemals zu finden, wo bleibt dann der Baum für
eine ästhetische Betrachtung der Dinge?
Die unendliche Ausdehnung und Teilbarkeit des Baumes und
der Zeit gestatten es der Wissenschaft nicht, an irgend einer
Stelle in der Erforschung der Ursachen Halt zu machen; vielmehr
stellt ihr die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen immer
neue Aufgaben. Aber gerade diese Grenzenlosigkeit in der Er-
weiterung ihres Gebiets läßt bei näherer Betrachtung eine un-
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L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtong. 347
überwindliche Schranke des menschlichen Wissens erkennen. Denn
eben die TJnvoUendbarkeit dieses Wissens bringt nns zum Bewußt-
sein, daß eine vollständige Erkenntnis der Welt für uns unmöglich
ist. Unsere Erkenntnis kann nie zu einem geschlossenen Ganzen
werden; sie bleibt insoferiTimmer Stückwerk; und zwar derart,
daß wir sie auch nicht einmal in Gredanken zu einem vollendeten
Ganzen ergänzen können. Wenn wir beispielsweise in der fort-
schreitenden Erforschung der Fixsternsysteme irgend wo an eine
Grenze des Sternenheeres kommen sollten, so könnte uns doch
das nie berechtigen, diese Grenze für mehr als eine Grenze unserer
bisherigen Erfahrung zu halten. Denn um zu wissen, daß es
außerhalb derselben keine Sterne mehr geben kann, müßten vdr
den ganzen übrigen Kaum durchforscht haben. Das schließt aber,
da derselbe unendlich ist, eine innere Unmöglichkeit ein. Eine
Ergänzung unserer beschränkten wissenschaftlichen Erkenntnis zu
einem vollendeten Ganien ist also undenkbar. Unsere Erkenntnis
ist folglich nicht nur dem Grade, sondern der Art und dem Wesen
nach beschränkt. Wir können uns eine vollkommene oder all-
wissende Erkenntnis der Welt nicht durch eine allmähliche Ver-
vollständigung der unsrigen erreichbar vorstellen, sondern wir
müssen sie als eine der Art nach von der unsrigen verschiedene
denken. Von einer solchen allwissenden Erkenntnis können wir
uns aber keine positive Vorstellung machen, der Begriff einer
solchen bleibt für uns gänzlich leer. Wir können sie nur nega-
tiv bestimmen, als eine solche, die nicht an Schranken ge-
bunden ist, sondern die Welt als ein vollständiges Ganzes zu
überschauen vermag. Als ein vollständiges Ganzes nämlich müssen
wir die Welt denken, wenn auch unsere beschränkte Erkenntnis
der Welt notwendig ein Unvollendbares ist. Von der Welt, wie
sie imabhängig von unserer beschränkten Erkenntnis besteht,
f ^
•SSri '•' t
348 L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtang.
können wir uns also nur dadurch einen Begriff machen, daß wir
die Schranken, die an unserer Erkenntnis haften, aufgehoben
denken.
Ein Ding, das unabhängig von der Art, wie wir es erkennen,
besteht, heißt ein Bing an sich. Dinge an sich können also
niemals Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis werden. —
Wir können dies dadurch ausdrücken, daß wir sagen: wir haben
von den Dingen an sich nur Ideen. Idee nämlich ist eine Vor-
stellung, deren Gregenstand in keiner bestimmten Erkenntnis an-
getroffen werden kann. Zur Bestimmtheit einer Erkenntnis gehört
zweierlei : Anschauung und Begriff. Die Anschauung^ gibt uns das
Mannigfaltige der einzelnen Erscheinungen; durch den Begriff
denken wir das Gesetz, unter dem die Einzelerscheinungen stehen.
Nur durch die Verbindung von Anschauung und Begriff findet
die Wissenschaft die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Eine Er-
scheinung, die sich nicht der Gesetzmäßigkeit des Verstandes
fügte, existiert nicht für unsere Erkenntnis; ebensowenig aber
ein Gesetz, unter dem nicht wirkliche Erscheinungen ständen.
Schon anfangs hatten wir betrachtet, wie durch diese wechsel-
seitige Bestimmung von Anschauung und Begriff, von Erscheinimg
und Gesetz, die Einheit unserer Naturerkenntnis zu stände kommt.
Jetzt sehen wir deutlich, worin diese Naturerkenntnis beschränkt
ist, worin sie notwendig unbefriedigend bleiben muß: Das Be-
dürfnis unserer Vernunft nach Einheit kann durch die Wissen-
schaft nicht vollständig befriedigt werden. Die vollendete
Einheit der Welt können wir nur in Ideen denken, der Wissen-
schaft bleibt sie unerreichbar.
Aber wie hängt dies alles mit der ästhetischen Naturbeurtei-
lung zusammen ? — Sehr nahe, wie sich sogleich zeigen wird. Ich
hatte gesagt, Idee sei eine Vorstellung, deren Gegenstand in
••-VSTÄssä
iMai^kiitHoaM
L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Natorbetrachtung. 349
keiner bestimmten Erkenntnis gegeben werden kann. Demgemäß
können wir zwei Arten von Ideen nnterscheiden. Es kann näm-
lieh einerseits Begriffe geben, die keine anschauliche Be-
stimmung zulassen, Begriffe, von deren Gregenstand wir uns keine
Anschauung verschaffen können; es kann andererseits anschau-
liche Vorstellungen geben, die keine begriffliche Bestimmung
zulassen, Anschauungen, die sich nicht auf Begriffe bringen lassen.
Von der ersten Art sind die vorhin erwähnten Begriffe von den
Dingen an sich, auf die wir durch Verneinung der Schranken
unserer Erkenntnis kamen. Zum Unterschied von der zweiten Art
der Ideen können wir diese schrankenvemeinenden Begriffe von
den Dingen an sich als logische Ideen bezeichnen. — Die Ideen
der anderen Art sind Formen der Anschauung, die sich nicht auf
Begriffe bringen lassen. Solche Formen waren es aber gerade,
die wir vorhin als die der ästhetischen Vorstellungsweise eigen-
tümlichen erkannt hatten. Wir mögen sie deshalb ästhetische
Ideen nennen.
Es hat hiernach keine Schwierigkeit mehr, die Möglichkeit
der ästhetischen Naturbeurteilung und ihr Verhältnis zur wissen-
schaftlichen aufzuklären. Wir können jetzt angeben, woran es
Uegt, daß neben der wissenschaftUchen NaturbeurteUung eine
ästhetische Eaum findet, und daß diese bestehen kann, ohne den
Ansprüchen der anderen Eintrag zu tun. Wir hatten gefunden,
daß die ästhetische Betrachtxmgsweise ihren Gregenstand nicht ^ als
Naturgegenstand beurteilt, sondern ihn gleichsam herauslöst, ihn
isoliert aus seiner Verkettung in den unendlichen Mechanismus der
Erscheinungen. Nun wohl, wenn uns die Wissenschaft den Me-
chanismus des Geschehens erklärt, was leistet sie mehr, als daß
sie uns zu jeder gegebenen Erscheinung eine andere aufweist, aus
der nach einem Gesetz die notwendige Abfolge der ersteren be-
850 L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtung.
grifPen werden kann? Diese andere Erscheinung aber kann ihrer-
seits wiederum nur erklärt werden, indem wir eine dritte auf-
weisen, in der die Notwendigkeit ihres Eintretens begründet liegt.
Jede Erklärung weist also auf ein Unerklärtes zurück, wir lösen
ein Problem, indem wir ein anderes an seine Stelle setzen. Da
wir in der Reibe der Erscheinungen an kein Ende kommen, so
kommen wir auch mit unseren Erklärungen an kein Ende. Die
Notwendigkeit des Naturgeschehens erweist sich also als eine be-
schränkte: die ursprüngliche Zufälligkeit der Erscheinungen läßt
sich nicht aufheben, sie läßt sich nur zurückschieben. Ich hatte
darauf aufmerksam gemacht, daß, wer auch nur in einem Zeit-
moment den Zustand aller Teile eines materiellen Systems kennte,
daraus die ganze übrige Geschichte desselben zu berechnen in der
Lage wäre. Wo man diesen Zeitmoment wählt, ist dabei ganz
gleichgültig ; aber es ist für die uns beschäftigende Frage wichtig,
festzustellen, daß ein solcher gesetzlich unableitbarer, also
zufälliger Zustand notwendig angenommen werden muß. Selbst
die vollendetste naturwissenschaftliche Theorie vermag diese Zu-
fälligkeit nicht aufzuheben. Der Astronom, der mit unfehlbarer
mathematischer Gewißheit für vergangene und zukünftige Zeiten
die Lage der Gestirne zu berechnen im stände ist, bedarf doch
der empirischen Kenntnis ihrer Konstellation zu irgend einem
Zeitpunkt. Wenngleich er diesen Zeitpunkt beliebig wählen kann,
so ist doch bei der jeweilig gewählten Anfangslage, die ihm als
Ausgangspunkt für seine Berechnungen dient, die geometrische
Anordnung der betrachteten Gestirne schlechthin zufällig.
Diese Zufälligkeit der ursprünglichen Zusammensetzung schafft
Eaum für die ästhetische Beurteilung der Natur. Während die
Wissenschaft den gegebenen Stoff der sinnlichen Anschauung nur
mit Bücksicht auf seine Abhängigkeit von allgemeinen Gesetzen
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L. Nelson: über wissenschaftliche und ästhetische Natarbetrachtong. 851
betrachtet, beruht die ästhetische Beurteilung gerade auf der An-
erkennung der ursprünglichen Zufälligkeit seiner anschaulichen
Zusammensetzung. Denn eben diese Zufälligkeit erlaubt es uns,
den Gegenständen der Anschauung eine eigene, von dem Mecha-
nismus, in den sie eingefügt sind, unabhängige Bedeutung zuzu-
erkennen.
Die so rätselhaft erscheinende Natur des ästhetischen Urteils
wird uns jetzt verständlich. Es wird zunächst verständlich, warum
wir gerade nur anschauliche Gregenstände ästhetisch bewerten
können. Aber die Anschaulichkeit ist nur eine notwendige Be-
dingung des Schonen; das Wesen der Schönheit macht sie noch
nicht aus. Der Gehalt der Anschauung muß zur Einheit eines
Ganzen zusammenstimmen, um ästhetische Bedeutung zu gewinnen.
Das Schöne muß die einheitliche Form eines individuellen Ganzen
haben, durch die es sich isoUert aus dem unendlichen Flusse der
Erscheinungen. Nicht jede Reihenfolge von Tönen ist schön, son-
dern nur eine solche, die so angeordnet ist, daß sie die Form einer
Melodie zeigt. Diese individuelle Form, diese innere Einheit und
Harmonie des Schönen, ist aber gerade das Unbeschreibliche und
Unaussprechliche, was sich nicht in "Worte fassen oder auf Begriffe
bringen läßt. In dieser Form liegt der wahre Zauber des Schönen.
Dieser Zauber beruht darauf, daß die Dinge dem Bedürfnis unserer
Vernunft nach Einheit da entgegenkommen, wo wir es nicht er-
warten konnten; daß sie zu diesem Bedürfnis zusammenstimmen,
ohne daß sich die Notwendigkeit eines solchen Zusammenstimmens
einsehen ließe. Die Unauflöslichkeit dieses Zaubers, d. h. die Un-
möglichkeit ihn zu erklären, verstehen wir jetzt leicht, indem wir
uns erinnern, daß das Erklären in der Ableitung aus einem Na-
turgesetz besteht, die Form des Schönen aber gerade als das
Sh2 L. Nelson: Über wissenschaftliche und ästhetische Natnrbetrachtiing.
schlechthin Zofalligei also aus Naturgesetzen IJnableitbare zu be-
trachten ist.
Wenn aber sonach die Schönheit zwar nicht theoretisch anf
ein Gresetz zurückgeführt werden kann, so verrät doch der bereits
erwogene Ansprach des ästhetischen Urteils anf apodiktische Gel-
tung, daß ihm irgend ein allgemeines Prinzip zu Grrunde liegen
muß. Es muß irgend einen, wenn auch noch so verborgenen Grund
geben, auf dem die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des
ästhetischen Urteils beruht. Da dies Prinzip in unserer Natur-
erkenntnis nicht anzutreffen ist, so werden wir es nur in Ideen
suchen können. Nun gibt es aber außer den ästhetischen Ideen
keine anderen als die logischen von den Dingen an sich. Also
werden diese letzteren der ästhetischen Naturbeurteilung in ana-
loger Weise zu Grunde liegen, wie die Yerstandesgesetze der
theoretischen Naturbeurteilung. Während aber die theoretische
Unterordnung der Erscheinungen unter ein Gesetz durch einen
Schluß vermittelt wird, vermittelt in der ästhetischen Beurteilung
ein bloßiBS Gefühl die Beziehung der Erscheinungen auf die
Ideen.
Hieraus erklärt sich die höhere Bedeutung, die wir dem
Schönen der Natur beimessen, sowie die eigenartige Wirkung, die
es auf die Gemütsstimmuug des Beschauers ausübt. Durch seine
unmittelbare Beziehung auf die Ideen ragt das Schöne gleichsam
hinaus über die Welt der Erscheinungen, hinein in die Welt der
Dinge an sich. Jeder wahrhaft schöne Gegenstand stellt gleichsam
im Bilde die Idee der vollendeten Einheit dar. In den schönen
Formen der Natur kündigt sich uns eiae höhere, geheimnisvolle
Wahrheit an, durch eine Sprache, die zwar kein Verstand je ent-
rätseln, aber jedes gebildete Gefühl vernehmen wird.
Die Besorgnis ist mithin unbegründet, daß die fortschreitende
L. Nelson: Über wUsenscIiaftliche und äsüietische Naturbetrachtung. 35B
Wissenschaft das Sckönheitsgefühl im Menschen ersticken werde.
Dies Gefühl ist seinem Tlrspmng und Wesen nach allen Er-
klärnngen der Wissenschaft überlegen und wird uns durch keine
wissenschaftliche Einsicht irgend welcher Art jemals geraubt
werden- können. Die wissenschaftliche Naturansicht und die ästhe-
tische schließen einander nicht aus, sondern sie ergänzen sich
gegenseitig. Aber freilich, dessen müssen wir wohl eingedenk
bleiben, daß eine friedliche Nebenordnung beider Ansichten nxu;
durch ihre getrennte AusbUdung mögHch ist, und daß eine jede
i^ich eines Übergriffs in das Gebiet der anderen zu enthalten hat,
wenn nicht beide Schaden nehmen sollen.
Daß diese Notwendigkeit einer getrennten Ausbildung theore^*
tischer und ästhetischer Naturansicht im Laufe der Geschichte nur
erst verhältnismäßig spät hervortreten konnte, liegt in' der Natur
der Sache begründet. Erst durch die Entdeckung des wahren
Weltsystems und der Naturgesetze mußte endgültig die Physik
mit der Ästhetik zerfallen. An die unentwickelte Wissenschaft
der Griechen konnte sich noch bis zu einem hohen Grade der
, Ideenkreis ihrer Kunst und Mythologie anschmiegen. Sie konnten
sich die Natur noch als einen Kosmos vorstellen, d. h. als ein
architektonisch angeordnetes Ganzes, nach Analogie eines Kunst-
werks. Deutlich zeigt dies das Weltbild der Pythagoreer, wo um
das heilige Feuer der Mitte sich in bestimmten Abstufungen die
himmlischen Sphären runden; zu unterst die irdische Eegion der
Wolken und Winde und der Erdbahn, darauf folgend die in ewigem
Umschwung kreisenden Sphäre^ des Mondes, der Soime und der
Planeten, bis zu der äußersten Sphäre, an der die Fixsterne be-
festigt sind und die umschlossen wird vom Olymp, dem Wohnsitz
der Götter. Dieser Kosmos zeigt in seiner architektonischen An*
Abhandlnogeii der Fries^scheii Sclinle. JL Sd. 23
S54 ti. Nelson : tfber wissehsc^aftfiehe und ftsthetiaelie Naturbeinclitang«
Ordnung eine Vielgestalt der Hinmielsraame, die doch znsanmien
ein Ganzes bilden, und die Einheit dieses Ganzen liegt in der
Anschannng. Das Weltgebäade kann sich deshalb unter der Form
einer ästhetischen Idee darstellen.
Dieser ästhetische Eeiz des astronomischen Weltbildes mußte
verschwindenj sobald durch die Entdeckung der XJnendlidikeit der
Raumwelt die Einheit des Gemäldes gesprengt wurde. Schoi^
oft ist die Bemerkung ausgesprochen worden, daß die Welt-
ansicht des Ptolem^us vor der des Eopebnieus den Vorzug habe,
der dichterischen Phantasie ein geeigneteres Betätigungsfeld zu
bieten. Man kann sich die Richtigkeit dieser Bemerkung durch
eine Vergleichung von Dantes „göttlicher Komödie^ mit Klopstocks
;, Messias^ deutlich machen. Jener läßt uns in der Wanderung
durch Hölle, Fegefeuer und Himmel gleichsam die verschiedenen
Stockwerke des Weltgebäudes vor Augen treten. Bei diesem er«-
weitert sich das Bild ins Unermeßliche, und während der eigent^
liehe Schauplatz der Handlung auf das kldne Palästina beschränkt
ist, sollen wir dem Fluge der Geister durch Fixsternweiten folg^a.
Der Versuch, Einbildungskraft und Verstand zugleich zu befrie-
digen, hat einen klaffenden Zwiespalt in der Ausfuhrung zur
Folge.
Ln Grunde ist es aber nicht eigentlicfa der Umstand, daß die
Erde aus ihrer festen Stellung gerückt und zu einem untergeord-
neten GÜede eines untergeordneten Systems geworden ist, was
dem neuen Weltbilde die ästhetische Bedeutsamkeit genommen
hat. An und für sich schließt die Ansicht des Kopemikanisdben
Systems eine dichterische Behandlung nicht 'geradezu auff. Wenn
Klopstoce, noch im Sinne dieser Ansicht, singen konnte:
Um Erden wandebi Monde,
Erden am Sonnen,
L. Nelson : Über wiBsenschaftliche and ästhetische Natorbetrachtong. 866
Aller Sonnen Heere wandeln
Um eine große Sonne —
so zeigt das in diesen Versen angedeutete Bild des Weltgebäades,
mit der proportionierten Anordnung und Gruppierung der Himmels-
körper um eine Zentralsonne, immerhin noch die architektonische
Einheit einer ästhetischen Idee. Aber eben dieses Bild entspricht
nicht mehr den Lehren unserer heutigen Astronomie. Denn einmal
braucht der Schwerpunkt des Fixsternsystems durchaus nicht in
das Innere eines Grestims zu fallen, sondern könnte sehr wohl
irgend wo im leeren Eaume liegen. Andererseits aber, und das
ist das Wesentliche , mfissen wir die Raumwelt notwendig als ein
Unvollendbares denken, und mit diesem Gredanken verliert die
Vorstellung eines räumlichen Mittelpunktes, und also auch einer
allgemeinen Zentralsonne, jede Bedeutung. Damit ist aber die
architektonische Einheit des früheren "Weltbildes endgültig zerstört.
Denn das unbegrenzt Ausgedehnte hat keine Form und Gestalt.
Die Totalität des Weltalls können wir uns nicht mehr anschaulich
vorstellen, sondern nur nach den logischen Ideen denken.
Die Versenkung in diese grenzenlose astronomische Raumwelt
läßt keinen anderen Eindruck zurück als das betäubende Grefühl
einer trostlosen Einöde, einer erstarrenden Kälte. Ein Eindruck,
der zwar mittelbar, durch das unendlich Demütigende, womit er
unsere eigene physische Existenz gleichsam vernichtet, eine hohe
ethische Bedeutung erlangen kann, ästhetisch aber bedeutungslos
bleibt. Wer durch ein tieferes Eindringen in dieses Bild die Be-
dürfioisse des Gremüts zu befriedigen hofft, der wird sich bald
genug bitter enttäuscht sehen. Seinen Erwartungen kann man
vielmehr jene Worte entgegenhalten, die den Eingang der Dante-
schen Hölle bezeichnen:
Die ihr hier eingeht, laßt die HofEnnng draußen.
23*
356 li. Ndson : Über wissenschaftliche und Ui^thetische NaturbetrachHing.
Zwar haben einige versucht dieses moderne astronomische
"Weltbild dichterisch zu beleben, indem sie sich nach Analogie
der alten Lehre von der Seelenwanderung eine Reise der abge-
schiedenen Q-eister durch den Weltraum ausmalen, wo denn die
Seele, wenn sie auf einem Weltkorper die dort erreichbare Stufe
der Vollkommenheit erlangt hat, auf einen anderen übergeht, um
dort durch höhere Stufen ihrer Vollendung immer reiner entgegen-
zugehen. Aber diese Vorstellung fuhrt nur auf einen endlosen
Portschritt, ohne uns irgend wo die Aussicht auf einen Ruheort zu
eröffnen. Sie kann uns durch das Aussichtslose dieses rastlosen
*und nie 'befriedigten Wanderlebens die Trostlosigkeit und Ge-
sclimackwidrigkeit eines solchen Gedankens nur um so eindring-
licher vor Angen fähren.
Richtiger noch werden wir aber überhaupt nicht die ver-
schiedenen astronomischen Systeme nach ihrer ästhetischen Ver-
wertbarkeit abschätzen. Ist es nun einmal unmöglich, in dieser
Hinsicht ästhetisch und wissenschaftlich gleichmäßig befriedigende
Ansichten in ein BUd zu vereinen, warum soUen wir dann nicht
für die ästhetische Betrachtung bei dem erhabenen Bilde stehen
bleiben, das das sternenbesäete Gewölbe der Nacht unsereiu Sinnen
unmittelbar darbietet? Ist nicht dieses Bild durch seinen uner-
schöpflichen Zauber allen Konstruktionen des rechnenden Ver-
standes überlegen?
Diese ästhetische Ansicht hat ihre eigene Bedeutung und
wird sie niemals einbüßen, wenn wir nur der Forderung triaü
bleiben, sie von allem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit frei zu
ialten. Es verrät jederzeit eine ebenso große wissenschaftliche
Unbildung wie Roheit des Geschmacks, wenn man versucht, die
eine Ansicht mit den Mitteln der anderen zu bearbeiten* Den-
noch hat es noch in neuerer Zeit eine ansehnliche Schule gegeben.